Manfred Weinland
Die hermetische Galaxis Bad Earth Band 7
ZAUBERMOND VERLAG
Die RUBIKON geht durch die Portalschleu...
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Manfred Weinland
Die hermetische Galaxis Bad Earth Band 7
ZAUBERMOND VERLAG
Die RUBIKON geht durch die Portalschleuse der Andromeda-Perle. Sie wagt den Sturz in die Vergangenheit … und zurück zur heimatlichen Milchstraße. Bei der dortigen CHARDHIN-Perle hat sich die Lage in den »übersprungenen« Jahren jedoch dramatisch verändert. Die Perle ist nicht mehr allein hinter dem Ereignishorizont. Und sie scheint auch nicht länger verlassen und unbewohnt … An einem anderen Ort, in einer anderen Zeit erreicht der Hohe Mecchit indes mit seiner SESHA-Kopie die alte Heimat der Foronen – Samragh – und erkundet die dortige Lage nach dem Virgh-Niedergang. Schließlich steuert er einen ehemaligen Geheimplaneten der Foronen an, wo er den Grundstein für die Zukunft seines geschundenen Volkes legen will.
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine so genannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von Erbauer-Technik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um
sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Wo alles anders geworden zu sein scheint als noch beim letzten Besuch …
Prolog – Aufbruch in die Alte Heimat Ich bin Mecchit. Ich bin Angehöriger des Septemvirats der Foronen. Sieben sind wir allerdings nicht mehr, und das liegt nicht zuletzt an den Intrigen, die einer von uns gegen andere spinnt, weil er glaubt, dass er besser ist als wir alle zusammen. Er betrachtet sich als Anführer, und tatsächlich hat er es geschafft, sich durchzusetzen, sodass niemand mehr einen Widerspruch wagt. Sobek. Ich spucke seinen Namen aus! Möge er von den Wassern des Todes überspült und ertränkt werden, mögen seine Gebeine aufweichen und aufquellen, verrotten zu stinkendem Schleim, sich auflösen in salzigen Fluten, bis nichts mehr von ihm bleibt! Ja, ich behaupte, er hat Mont getötet, und dies vor allem aus Eifersucht, weil er Siroona für sich beansprucht. Er handelt primitiver als ein halbintelligentes Ding, ist kaum besser als ein Tier, das von Instinkten getrieben wird; so urteile ich darüber. Aber natürlich hat Sobek es auch getan, weil ihm Mont zu gefährlich wurde. Unser Gefährte initiierte einst den Bau Tova'Zarahs und verfolgte dabei eigene Pläne. Er hatte keine Furcht, sich Sobek zu stellen, ihm die Stirn zu bieten, ihn zu kritisieren. Ich werde geschickter vorgehen, gewiss. Und nicht nur, weil ich aus Monts unrühmlichem Ende gelernt habe. Ich weiß, dass man Sobek mit seinen eigenen Mitteln schlagen muss – mit Hinterlist, Tücke und Verrat. Und ich werde alles daransetzen, ihn von seinem selbstherrlichen Podest zu stoßen. Man stelle sich vor: Monts Rüstung beherbergt nun das Bewusstsein eines gezüchteten menschlichen Klons. Es ist einfach unglaublich, unvorstellbar, die Rüstung eines Hohen derart zu kontaminieren, zu entweihen, nun, da er tot ist und sie nicht mehr tragen kann. Auch dies ist Sobeks Schuld.
Sobek hat unser Volk in den Untergang geführt, anstatt es zu retten. Und schlimmer noch: Er hat unsere heilige Arche, die originale SESHA, unser einzigartiges Schiff, dieses großartige Werk, einem selbst unter seinesgleichen völlig unbedeutenden Menschen überlassen, einem niederen Wesen, das noch weit von unserer Entwicklungsstufe entfernt ist! Wie konnte Sobek das nur zulassen? Warum hat er uns nie um Rat gefragt, sondern alle Entscheidungen allein getroffen und mit unserer Erweckung aus der Stasis gewartet, bis nichts mehr zu ändern war? Möge er dafür in der Kälte erfrieren, eintrocknen und zerbrechen, zu Milliarden feiner Splitter, die der Wind forttreibt; ein Sturm, der ihn pulverisiert an harten Felswänden, bis keine Spur mehr zurückbleibt … und keine Erinnerung! Sobek hat uns verraten. In seiner unermesslichen Machtgier hat er sein eigenes Volk in den Abgrund getrieben. Ich werde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Eines Tages, wenn ich mit den Resten unseres Volkes eine neue Heimat gegründet und es zu alter Blüte zurückgeführt habe. Er wird bereuen, und er wird büßen. Und er wird nicht allein sein. Denn wenn ich erst mit Sobek fertig bin, werde ich unsere Arche zurückholen und John Cloud für seine Frevel bestrafen. Er wird leiden für seinen Hochmut und seinen Größenwahn! Dies ist mein Ziel. Die Vergangenheit auszulöschen und neu zu beginnen. Das Volk der Foronen wieder groß zu machen. Und wenn dies alles getan ist, werden wir uns auf die Suche nach dem wahren Feind machen. Derjenige, der alle gegen uns benutzt hat – Virgh, Jay'nac … Satoga. Ja, selbst die Keelon und Erinjij (die Menschen). Denn alles hängt zusammen. Dies ist gewiss! Im Hintergrund gibt es jemanden, der alles ganz genau geplant hat, mit ungeheurer Vorausschau. Wir sind noch lange nicht am Ende unseres Leidensweges angelangt. Ich weiß, dass noch viele Prüfungen auf mein Volk warten. Dass wir erst in Frieden leben können, wenn das letzte Geheimnis gelöst ist. Doch dazu brauche ich die SESHA. Und Sobeks Thron.
ERSTER TEIL
SUCHE NACH DER WAHRHEIT
1. Vor zweihundert Jahren Unterwegs nach Samragh: Zweifel an der Obrigkeit Saree weigerte sich, an die Zukunft zu glauben. Zumindest eine Zukunft, die weiterhin im Zeichen des Septemvirats stand; wobei die Bezeichnung inzwischen natürlich falsch war, aber immer noch geführt wurde. Rein aus Gewohnheit. So, wie sich aus Gewohnheit jeder Forone alles vorschreiben und sagen ließ, der nicht Sobek hieß. Wann wurde das Volk zuletzt befragt, was es wünschte? Wann wurden zuletzt aktuelle Informationen veröffentlicht, damit sich die foronische Gemeinschaft ein Bild darüber machen konnte, in welcher Lage sie sich befand? Das Erwachen war ein böses gewesen, daran bestand für Saree überhaupt kein Zweifel. Sie waren in Stasis geschickt worden unter dem Vorbehalt, dass die Wiedererweckung nur unter der Voraussetzung stattfand, dass die Virgh besiegt oder verschwunden waren und eine Rückkehr in die alte Heimat möglich war. So hatte es geheißen. Das foronische Volk sollte den Hohen Sieben vertrauen, verlautbarten die Angehörigen dieses Rates. Man würde das Beste tun und vor allem das Richtige. Es war doch schon Schande genug gewesen, aus Samragh fliehen zu müssen. Eine ganze Galaxis aufzugeben! Konnte man noch tiefer sinken? Wie sollte diese Schmach jemals wieder vergolten werden? Durch die Zeit, hieß es. Man müsse nur lange genug warten, dann würde sich alles wieder zum Guten wenden und das foronische Volk zu altem Glanz zurückkehren. Einfach dort weitermachen, wo es aufgehört hatte. Natürlich hatte es damals jede Menge kritische Fragen dazu gegeben und berechtigte Einwände. Aber das hatte keinen der Hohen in-
teressiert; selbstverständlich nicht. Sie waren der Ansicht, den größeren Weitblick zu haben und alles besser zu wissen als jeder aus dem einfachen Volk. Dabei hatten sie damals noch nicht einmal herausgefunden, wer die Virgh waren! Und welcher Hohn hinter allem steckte, denn dieser übermächtige Feind war bei weitem nicht das Ende, sondern erst der Anfang einer gewaltigen Invasion … Die Foronen hatten alles verloren. Alles, was sie noch besaßen, waren die HAKARs, Duplikate der großartigen Arche, des heiligen Symbols ihres Volkes. Das Septemvirat war nicht einmal in der Lage gewesen, das großartigste Schiff, das je gebaut wurde, gegen eine Hand voll mickriger Wesen zu verteidigen, die gerade die erste Stufe der Intelligenz erklommen hatten. Schwache, verletzliche, zerbrechliche Winzlinge waren sie. Und jetzt steuerten sie die SESHA durchs All, neuen Zielen entgegen, und die KI gehorchte ihren Befehlen! So viele Fehler. Unverzeihlich. Saree konnte nicht verstehen, dass das Volk immer noch nicht bereit war aufzubegehren. Immer noch nicht darauf beharrte, eine Abstimmung durchzuführen. Die Foronen waren stolz? Ja, anderen Völkern gegenüber vielleicht. Aber innerhalb ihrer Gemeinschaft waren sie … Wann kommst du? Saree zuckte innerlich zusammen, als er den mentalen Impuls empfing. Kariimi. Meine Schicht ist noch nicht beendet, antwortete er. Dann beende sie, kam es postwendend zurück. Ich kenne dich. Du wälzt Probleme, verfängst dich wieder in wirren Gedanken, die dir nicht zuträglich sein können. Du planst wieder einmal die Rettung des Volkes, stimmt's? Und wäre das so verkehrt? Saree, du bist ein Wassertreter. Die Dinge sind, wie sie sind. Wann wirst du das endlich begreifen? Niemals, schoss er erzürnt ab. Ich habe mich damit abgefunden, der Einzige zu sein, der denkt, aber ich werde nicht damit aufhören, nur um es euch gleichzutun. Denn ich bezweifle, dass ihr euch besser fühlt als ich, nur weil ihr euch eure Selbstlügen so lange vorsagt, bis ihr sie glaubt!
Dir ist nicht zu helfen. Kariimis wütendes Gedankenmuster wetterleuchtete durch seinen Verstand. Also dann mach deine Schicht bis zum Umfallen, ich gehe jetzt in die Regeneration. Komm nach oder nicht, mir ist es gleich. Ka-, begann er, doch er spürte gleich darauf Leere. Kariimi war durch einen Transmitter getreten und in die Regeneration gesprungen. Dort konnte er sie nicht mehr erreichen. Viel zu weit weg und zu viel abschottendes Metall dazwischen. Auch schon egal. Was kümmerte es Saree, wenn Kariimi wütend auf ihn war? Sie war nicht besser als alle anderen. Niemand hörte ihm zu. Niemand wollte seinen Gedanken folgen. Alle hatten Angst. Saree war der Einsamste seines Volkes.
Saree beendete seine Reparaturarbeit an der Schleuse. Er war einer der vielen Techniker an Bord des HAKARs. Neben den systemeigenen Diagnose- und Reparaturprogrammen und Robotern leisteten auch noch Foronen Wartungsarbeiten. Nicht alles ging vollautomatisch. Das Septemvirat hatte von Anfang an darauf bestanden, dass die Foronen geschult wurden und arbeiteten. Dies diente nicht nur als Beschäftigungstherapie, sondern war auch ständiges Training für den Notfall, sollten einmal alle Systeme versagen. Natürlich hielt man den HAKAR nicht für angreifbarer als die originale Arche. Natürlich glaubte man an perfekte Systeme. Aber das Universum war groß. Ein übermächtiger Feind in der Heimat hatte gereicht, um aus den Foronen Flüchtlinge zu machen, trotz ihrer hoch entwickelten Technik. Also war es besser, nicht alles den Maschinen zu überlassen, sondern sich auch selbst zu üben. Jedes der eintausend Besatzungsmitglieder an Bord hatte eine Aufgabe, die jeweils zu Beginn der Schicht mitgeteilt wurde. Jeder hatte seinen Platz und folgte den Anweisungen. Es musste alles störungsfrei funktionieren. Damit kein Chaos ausbricht, dachte Saree grimmig, während er eine defekte Verbindung lötete. Damit die untergebenen Foronen keine Zeit hatten, zu viel nachzudenken und einen eigenen Willen zu ent-
wickeln. So war es doch, nicht wahr? Aber Saree war noch nicht so abgestumpft. Er konnte auch während der Arbeit denken. Ja, die körperliche Betätigung regte ihn sogar an, aktivierte seine Kreativität! Ich werde nicht aufgeben. Dies sagte sich Saree jeden Tag vor. Wartend auf seine Stunde.
Es stimmte, seine Schicht war längst beendet. Aber Saree tat keine halbe Sachen. Erst wenn die Arbeit beendet war, gönnte er sich die Regeneration und die Ruhephase. Diesen Ausbruch in die Individualität konnte ihm niemand verbieten. Es war fast schon wie eine kleine Rebellion. Ob sie Saree auch befriedigte? Nein. Gewiss nicht. Diese Selbstlüge wurde aus reiner Verzweiflung geboren. Außerdem hatte er noch ein Problem: Kariimi. Je mehr er sich zu ihr hingezogen fühlte, desto mehr wich er ihr aus. Denn er wusste, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Kariimi würde ihn nie verstehen und stets seine Träume verachten. Auf so einer Basis konnte er keine Partnerschaft aufbauen, auch wenn Kariimi ihm vermittelte, dass sie einer Verbindung nicht abgeneigt wäre. Was Saree nicht so recht verstehen konnte – einerseits lachte sie ihn als Spinner aus, andererseits suchte sie seine Nähe! Früher hatte es so etwas nicht gegeben. Aber da war das foronische Volk auch noch nicht auf der Flucht gewesen. Normalerweise müsste an Bord eines Kriegsschiffes auch strenge Disziplin herrschen. Aber in dieser Zeit war alles anders, nun war das heimatlose Volk in Generationenraumschiffen unterwegs und musste für die Erhaltung sorgen. Keiner wusste, ob dieser HAKAR jemals wieder zur übrigen Flotte stoßen würde. Alles hatte sich verändert und nichts zum Guten.
Als Saree merkte, dass er sich zu sehr in seiner Frustration verstrickte, beendete er seine Arbeit und meldete das Schichtende an die KI des Schiffes. Ein hochleistungsfähiges, lernfähiges System – aber kei-
neswegs so hoch entwickelt wie Sesha, Herz und Seele der Arche. Jener Arche, die sich ein wertloser, von Wasser aufgeschwemmter Wurm widerrechtlich angeeignet hatte. Dieses Menschenwesen konnte sogar Wasser absondern. Saree hatte dies auf einer der seltenen Aufzeichnungen, die das Septemvirat der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, klar und deutlich gesehen. Wassertropfen auf der Haut und jede Menge Öffnungen im Gesicht: Zwei in klarer Flüssigkeit schwimmende Augen, eine beim Atmen Feuchtigkeit ausstoßende Nase und nicht zu vergessen der Mund, ein wahres Feuchtbiotop, mit einer nassen Zunge … Saree schüttelte sich vor Ekel, wenn er daran dachte, und verdrängte das grausige Bild schnell. Nie zuvor hatte er scheußlichere Alptraumgeschöpfe erblickt. Wie hatte Sobek es auch nur einen einzigen Moment im selben Raum mit diesem schwammigen Feuchtwesen aushalten können? Und wie ihm die Arche überlassen können? Sobek, sonst so grausam und unerbittlich, der rücksichtslos vor aller Augen einen Artgenossen tötete, wenn der es wagte, ihn zu kritisieren – wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet Sobek diesem unterlegenen Schwächling gegenüber klein beigeben musste? Was gäbe Saree darum, wenn er nur einmal wieder zurückdürfte auf die SESHA, um ihre ganz besondere Aura mit sämtlichen Sinnesrezeptoren einzufangen, die Stimme der KI zu hören. Die Arche verkörperte den Stolz und die Freiheit des foronischen Volkes. Sie war unersetzlich. Das Septemvirat, allen voran Sobek, hatte versagt. Es wurde Zeit, dass sich etwas änderte. Saree verstaute sein Werkzeug und kehrte in sein Quartier zurück. Dort befreite er sich von seinem Anzug, räumte ordentlich seine Sachen auf und tippte anschließend einen bestimmten Code neben dem Türschott. Das Schott glitt auf, und ein Flimmern zeigte an, dass der Transmitter aktiv war. Saree gab sich einen Ruck und trat hindurch.
Es war fast wie zu Hause. Heiße Luft umwallte Saree, und er atmete befreit auf. Die Illusion war perfekt; er hatte wirklich das Gefühl, auf einer Wüstenwelt zu stehen, mit tiefblauem Himmel und Sand, so weit die Sehzellen reichten. Riesige Dünenberge, die sich bis zum Horizont auftürmten. Dazwischen breite Einbuchtungen wie Täler, hart gebackener Boden oder loses Geröll. Saree kletterte auf einen Hügel, breitete die Arme aus und atmete ein. Der Wind führte Sand mit sich, doch von ganz besonderer Art. Er war die Nahrung und das Leben. Er umhüllte Saree, blieb an ihm haften, und seine Nährstoffe sickerten in ihn ein, wurden von aufnahmebereiten Rezeptoren empfangen, aufgespaltet und dem Lymphsystem zugeführt. Und von dort aus als Energie in alle Körperzellen verteilt. Saree ließ sich berieseln, hatte dabei ganz abgeschaltet, sämtliche Sinne nach innen gerichtet. Er spürte, wie sein Körper sich auftankte, regenerierte und die Kraftreserven auffüllte. Es war immer wieder von neuem ein erhabener Moment; einer der wenigen Genüsse, die sich Foronen, sonst so verstandesbewusst, gestatteten. Ganz der Nahrungsrezeption hingegeben, bemerkte Saree nichts um sich herum. In diesen Momenten vergaß er sogar seinen Zorn und fühlte sich ganz eins mit sich und dem Universum dort draußen. Er versank zufrieden in der Illusion, in der alten Heimat zu sein, auf seinem Lieblingsplatz, von dem aus eine großartige Sicht nach allen Richtungen möglich war. Das schätzten Foronen sehr; sie hatten keine Mühe, die Informationsfülle der optischen Sensoren, die um den gesamten Kopf angeordnet waren, zu einem ganzheitlichen Bild zusammenzusetzen. Auch wenn viele verschiedene Dinge rundum gleichzeitig geschahen. Und Saree erinnerte sich, wohin seine Aufmerksamkeit sich meistens gerichtet hatte; damals, als er sich noch so jung empfunden hatte, mit den Möglichkeiten eines Welteneroberers. Damals hatte es eine andere gegeben … Saree. … und heute, vollendete Saree den Gedanken, heute gab es Kariimi. Er kehrte aus seinem Inneren zurück und erblickte die Foronin,
als sie gerade den Hügel heraufkam. Alles nur Lug und Trug, wie dem Techniker jetzt wieder bewusst wurde, nur holographische Abbilder, täuschend echt der Realität nachgeformt. Nur der Nahrungsstaub war wirklich, jedoch nicht mehr als ein müder Abklatsch der Heimat. Das Septemvirat hielt das Volk kurz, zeigte sich sparsam. Zugeteilt wurden keine besonderen Genüsse, sondern lediglich das Notwendigste an Mineralund Nährstoffen. »Was kann ich für dich tun?«, fragte Saree förmlich, um Kariimi deutlich zu machen, dass er hier, in aller Öffentlichkeit, keine vertrauliche Unterhaltung wünschte. Die meisten der anwesenden Foronen waren zwar augenscheinlich ebenso versunken in die Nahrungsaufnahme wie er noch gerade eben, doch man wusste nie. Seitdem Saree eingetroffen war und seinen, wie er gehofft hatte, einsamen Platz eingenommen hatte, waren eine Menge Artgenossen hinzugekommen. Alle Hügel waren besetzt. »Wir waren verabredet«, antwortete die Foronin. Ihre Aura besaß einen leicht goldfarbenen Schimmer, ähnlich dem Sand der leuchtenden Senke im Zenit des heimatlichen Zentralgestirns. »Ich habe auf dich gewartet.« »Warum tust du das, Kariimi?«, fragte Saree müde; er war sich nicht bewusst, dass er damit dem Gespräch selbst eine allzu persönliche Note gab. »Wie soll ich das verstehen, Saree?«, fragte Kariimi. »Treffen wir uns hier nicht meistens?« Saree entschloss sich zu einem unverblümten Vorstoß. Irgendwie musste er seine Frustration loswerden, auch wenn er sich damit selbst keinen Gefallen tat. »Gewiss, ja. Aber du solltest dir keine besonderen Vorstellungen darüber machen, wie es mit uns weitergeht.« »Habe ich je eine Forderung gestellt? Außerdem leugnest du deine Empfindungen, das kann ich spüren. Wir harmonieren. Ich verstehe allerdings nicht, weshalb das für dich zusehends zu einem Problem wird.« Saree stieß ein kratzendes Geräusch durch seine Sprechmembran
aus. »Du versuchst, mich zu ändern. Du akzeptierst mich nicht so, wie ich bin. Du nimmst meine Träume und Wünsche nicht ernst. Ich sehe keinen Sinn darin, auf etwas aufzubauen, das keine gemeinsame Basis hat.« Kariimi verharrte einige Augenblicke schweigend. Dann antwortete sie: »Nicht deine Träume sind es, die mich stören. Sondern der mangelnde Wille, sie umzusetzen. Sie wahr zu machen. Offen gestanden, ich habe dein Selbstmitleid satt. Du kritisierst alles, aber du unternimmst nichts dagegen.« »Weil ich – das nicht allein kann!«, verteidigte er sich. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt und suchte nach einem Fluchtweg. Doch der nächste Türtransmitter war weit entfernt. »Wie kommst du darauf, dass du allein bist?«, erwiderte sie. »Hast du dir je die Mühe gemacht, nach Gleichgesinnten zu suchen?« »Ich verstehe nicht …« »Saree, alles was ich zu dir sagte, meinte ich ernst. Die Dinge sind, wie sie sind. Durch Hirngespinste können wir sie nicht ändern. Darüber sollst du dir klar werden, und das ist, was ich kritisiere. So wie du immer klagst, kommt es mir vor, als glaubtest du selber nicht so recht an deinen Traum.« Der Techniker war jetzt völlig verwirrt und ratlos. Von dieser Seite hatte er Kariimi noch nie erlebt. »Folge mir«, forderte sie ihn auf. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie den Hügel hinunter und steuerte eine Transmitterschleuse gegenüber des Durchgangs an, durch den Saree hereingekommen war. Verunsichert, aber neugierig, ging er ihr schließlich nach. Zu seinem Erstaunen folgten ihnen noch fünf weitere Foronen. Die übrigen kümmerten sich nicht um sie.
Kariimi führte Saree durch eine Vielzahl von Gängen. Hier war er noch nie gewesen; dieser Bereich gehörte nicht zu seinem Einsatzgebiet. Was natürlich kein Wunder war – der HAKAR besaß dieselben Dimensionen wie die SESHA; man konnte hier Millionen Foronen unterbringen, ohne dass sie sich gegenseitig auf die Füße traten, und
selbst ein langes Foronenleben reichte nicht aus, um alle Winkel zu ergründen, auch wenn man auf Regeneration und Ruhephase verzichten würde. Vor allem veränderten sich ständig Decks und Ebenen, um für bestimmte Zwecke angepasst zu werden. Aber wie war Kariimi hierher gekommen? Was wollte sie ihm zeigen? Die fünf Foronen folgten ihnen mit Abstand. Saree wurde langsam nervös. Was hatte das alles zu bedeuten? Er schwankte, ob er die Nachfolgenden fragen sollte, warum sie mitkamen, oder Kariimi zur Rede stellen. Als er mit seinen mentalen Sinnen vorsichtig nach der Frau tastete, fand er eine Sperre. Sie wünschte keine Kontaktaufnahme. Verletzt zog sich Saree zurück und verschloss sich ebenfalls. Aber er ging weiter. Schließlich erreichten sie nach einer sich vielfach verzweigenden Verteilerstelle ein massives Schott. Hier wirkte alles sehr archaisch, es gab kaum Wandverkleidungen, die meisten Rohrverbindungen lagen offen. Als wäre man noch mitten im Bau. Neben dem Schott wurde ein holografisches Feld erzeugt, als Kariimi davor verharrte. Sie legte ihre Hand in das Feld. Gleich darauf rollte das schwere Zahnrad zur Seite und gab den Weg frei. Saree fand sich in einem großen Raum wieder, in dem sich viele Terminals befanden. »Ist das eine autarke Zentrale?«, fragte er staunend. »Gewissermaßen«, antwortete Kariimi. »Allerdings nur für diese Sektion hier. Man könnte von hier aus nicht auf die KI zugreifen. Diese Zentrale hier sollte ausschließlich militärischen Operationen im Fall eines Kampfes gegen die Virgh dienen. Ich meine, auf der SESHA natürlich.« Die fünf Foronen waren inzwischen ebenfalls eingetroffen. Einer von ihnen betätigte einen Schalter, und das Schott glitt wieder zu. Saree nahm sich die Zeit, die Begleiter genauer in Augenschein zu nehmen. Drei Frauen und zwei Männer, und er kannte keinen von ihnen. Aber das war nicht ungewöhnlich; Foronen waren nicht allzu gesellig. Die tausendköpfige Mannschaft beschränkte ihre Kontakte
im Regelfall auf die Arbeit und vielleicht noch auf den Nachbarn neben der Unterkunft. Über die Arbeit hatte Saree Kariimi kennen gelernt. Aber woher kannte sie diese Leute? »Ihr kommt spät«, erklang eine Stimme aus den Tiefen des Raumes, und eine große Gestalt trat ins dämmrige Licht. Saree erkannte Horif, den Zweiten Kommandanten, Stellvertreter Mecchits, und, wenn man das so sagen konnte, sein Vertrauter.
Der Techniker brauchte eine Weile, um sich davon zu erholen. Der Schreck war ihm tief in die Glieder gefahren; bis er sich selbst zur Ordnung rief. Weswegen erschrak er? Er hatte nichts Unrechtes getan. Kritik zu üben war gemeinhin noch nicht unter Strafe gestellt – und sie hatte sich vor allem nicht gegen Mecchit persönlich gerichtet. »Was geht hier vor sich?«, stieß Saree durch die Membran. »Verzeih, dass wir so spät dran sind.« Kariimi trat vor Horif und nahm eine grüßende Haltung ein. »Mein Freund hatte heute länger Schicht, das wusste ich nicht.« Sie nannte Saree nicht beim Namen, und auch die anderen stellten sich nicht vor. Wer keinen Namen wusste, konnte auch keinen verraten. »Nun, ich werde mich kürzer fassen müssen«, versetzte der Zweite Kommandant. »Ich werde bald wieder auf der Brücke erwartet, und Mecchit wird sehr ungeduldig, wenn ich mich verspäte.« »Das verstehe ich. Aber die Zeit wird uns genügen.« Kariimi wandte sich Saree zu; es entsprach der Höflichkeit, sich einem Gesprächspartner von vorne zu zeigen, auch wenn man rundum sehen konnte. »Wir sind alle mehr oder minder Gleichgesinnte«, fuhr sie fort. »Es dauert zwar immer seine Zeit, aber schließlich findet man sich doch. Ein Wort hier, eine Bemerkung da, die Erzählung eines anderen … jedenfalls haben wir uns vor einiger Zeit gesucht und zusammengefunden.« »Kein Zufall?« »Natürlich nicht. Glaubst du, du bist der Einzige, dem die Ent-
wicklung nicht gefällt?« Saree war peinlich berührt. »Du hast mir nie offenbart …« »Du hast mich nie gefragt«, gab sie zurück. »Du hast immer nur geklagt und gejammert und nicht zugehört. Einige meiner Bemerkungen hätten dich stutzig machen müssen. Deine Ahnungslosigkeit zeigt, wie gut wir uns im Verborgenen halten.« »Mit Ausnahme von dir. Es war nicht schwierig, dich zu finden, so offen, wie du deine Gedanken darlegst«, fügte Horif hinzu. »Mecchit ist das natürlich nicht verborgen geblieben, aber das kann nur von Vorteil für uns sein. Er nimmt dich nicht allzu ernst.« »Wie ich sagte«, bemerkte Kariimi. »Du stößt viel heiße Luft aus, unternimmst aber nichts.« »Und ihr unternehmt etwas?«, fragte Saree herausfordernd. Der Zweite Kommandant hob seine Hände. »Zuerst solltest du uns sagen, was dir alles nicht gefällt, Saree. Damit wir feststellen können, ob wir tatsächlich auf einer Linie sind.« »In Ordnung.« Saree hatte keine Angst. Wenn dies eine Falle wäre, so wäre sie doch etwas zu aufwändig für einen einzigen unwichtigen Arbeiter wie ihn. Und wäre Mecchit zornig auf seine Person, wäre schon längst während einer Ruhephase in seiner Kabine ein Giftgas ausgetreten und Sarees Geist ins unbewusste Nichts verflogen. Sämtliche Angehörigen des Septemvirats waren in dieser Hinsicht nicht zimperlich. Wer im Weg stand, wurde kurzerhand beseitigt. »Mir gefällt es nicht, dass das Septemvirat alles diktiert, ohne dass wir jemals zu unserer Meinung befragt werden«, begann er unverblümt. »Immerhin sind wir die Letzten unseres Volkes, noch dazu im Exil. Die frühere Regierungsform sollte geändert werden, denn bisher hat sich unsere Lage nur stetig verschlechtert statt verbessert. Es sollte eine Grundsatzentscheidung stattfinden, wie wir weiter vorgehen wollen, was wir für die Zukunft unseres Volkes planen.« »Gibst du dem gesamten Septemvirat die Schuld?« »Natürlich. Am meisten aber Sobek, der meines Erachtens nicht einmal die Mitglieder des Septemvirats ausreichend über Entscheidungen abstimmen lässt. Oder sich berechtigten Argumenten ge-
genüber aufgeschlossen zeigt.« Saree kam allmählich in Fahrt. »Es stört mich auch, dass uns die sich selbst regenerierenden Anzüge der Hohen vorenthalten werden, dass aber ein außen stehender Minderwertiger straflos einen solchen Anzug übernehmen kann. Ebenso, dass wir nur das Nötigste an Nährstoffen filtern können. Wo wäre das Septemvirat ohne uns? Es scheint mir, dass auf unbedeutende Fremdvölker mehr eingegangen wird als auf uns.« Der Techniker hätte noch sehr viel mehr zu sagen gewusst, aber damit ließ er es gut sein. Er wollte sich nicht in unwichtigen Details verzetteln. Horif hielt die ganze Zeit sein Gesicht mit den mächtigen Augenknochenbögen auf ihn gerichtet – ein Relikt aus der Urzeit, als die Foronen noch zwei Stufen tiefer auf der Evolutionsleiter gestanden hatten. »Und was wünschst du dir?« Nun musste Saree vorsichtig sein. Kariimis Vorwürfe hallten immer noch in ihm nach. »Ich wünsche mir, dass wir eine neue Heimat für die Foronen finden«, antwortete er. »Wir sollten zuerst eine Siedlung auf einer passenden Welt gründen, eine Basis, bevor wir zu einem Rachefeldzug starten. Unsere Zukunft muss gesichert werden, und dieses Exil muss ein Ende finden. So schmerzlich der Verlust der SESHA auch sein mag, die Suche nach ihr hat derzeit keine Priorität.« »Dann willst du unsere heilige Arche aufgeben?« »Nein. Wir müssen die Arche, die uns gestohlen wurde, unter allen Umständen wieder zurückbekommen. Und wir müssen die Satoga für das bestrafen, was sie uns angetan haben. Aber alles zu seiner Zeit, eins nach dem anderen, nicht alles gleichzeitig.« »Das ist richtig, derzeit sind wir auf weiten Wegen unterwegs. Sobek ist zur Großen Sterneninsel Malragh aufgebrochen, weil unsere Berechnungen ergaben, dass die SESHA einen Transitionssprung dorthin vollzog. Unerklärlicherweise verfügen die HAKARs offenbar nicht über dieselben technischen Möglichkeiten.« Das war für Saree nichts Neues. Bis zu dem Sprung hatte keiner gewusst, dass die SESHA überhaupt über ein Transitionstriebwerk verfügte. Außerdem hatte sie sich zuvor unsichtbar gemacht, was
nach wie vor ein Rätsel war. Dieser Mensch Cloud wusste über die Arche inzwischen besser Bescheid als das Septemvirat. Aber wie war er an diese Informationen gekommen? Und vor allem: Wer hatte diese Überraschungen eingebaut, ohne sich je zu verraten? Darüber hatte es schon so manche Diskussion gegeben; ganz oben auf der Liste der Verdächtigen stand der verstorbene Mont. Saree stimmte zu. »Das ist das Problem. Meines Erachtens hat Sobek sich da in etwas verrannt. Er hat viel zu voreilig gehandelt und unsere Flotte ohne Not zerschlagen. Er wird über die Hälfte der HAKARs opfern, und dann ist es noch fraglich, ob er die Arche findet. Besser wäre es gewesen, auf ihre Rückkehr zu warten.« »Gut!« Horif wirkte zufrieden. »Wir sind uns in unserer Meinung ziemlich ähnlich. Vor allem, was die Gründung einer Basis betrifft.« Er wies auf die übrigen fünf Mit-Verschwörer. Dann aktivierte er ein Terminal, und bald darauf baute sich ein großformatiges Holo auf. »Wird das nicht angemessen?«, fragte Saree. »Sicherlich. Aber Mecchit erhält nur eine Meldung, wenn die KI es als ungewöhnliche Aktivität analysiert. Das ist aber mit meinem Zugangscode nicht der Fall.« Kariimi meinte munter: »Sesha würde nicht darauf hereinfallen und uns selbst hier bespitzeln. Schließlich besitzt sie eine biologische Komponente, die aber bei der Duplizierung nicht übertragen werden konnte.« »Als militärische Operationsbasis ist der Bereich hier autark, so einfach wäre das auch nicht für Sesha«, versetzte der Zweite Kommandant. In dem Holo war inzwischen ein ungewöhnliches stellares Objekt zu sehen, das auf Saree einen faszinierenden, zugleich aber auch geisterhaft-erschreckenden Eindruck machte. Sonnen … schwarze Sonnen … Die Messwerte zeigten ungewöhnliche Aktivitäten an und erweckten Neugier. »Der Sonnenhof«, erklärte Horif. »Eine gewaltige Raumfalle der Virgh. Sobek hat uns davor gewarnt, ihr zu nahe zu kommen. Sobald wir sie passiert haben, nehmen wir direkten Kurs auf unsere Zentralwelten.«
»Das bedeutet, wir sind angekommen?« Sarees Membranen flatterten vor Aufregung. »Wir haben Samragh erreicht?« Endlich – nach vielen tausend Jahren wieder! Einst waren sie Hals über Kopf geflüchtet, zutiefst gedemütigt und verzweifelt. Eigentlich hatten sie im Triumph zurückkehren wollen, um ganz Samragh wieder in Besitz zu nehmen, wie es den Foronen rechtmäßig zustand. Nun – Sobek und seine Gefährtin Siroona hatten die SESHA zwar schon einmal hierher gelenkt; doch das hatte sie letztendlich die Arche gekostet und keine neuen Erkenntnisse gebracht. Und jetzt kehrte nur ein einziger HAKAR zurück, viele andere waren auf der Relaisstrecke nach Malragh gebunden. Von triumphaler Heimkehr konnte also keine Rede sein. Aber trotzdem – auf einmal war Saree froh, hier an Bord und nicht Richtung Große Sterneninsel unterwegs zu sein. Etwas Gutes hatte Mecchit doch in sich, dass er hierher aufgebrochen war, um zu ergründen, welche Möglichkeiten es für die Foronen hier noch gab. Was würde sie hier erwarten? Wie würde wohl alles aussehen, nach so langer Zeit? Gab es überhaupt noch Leben? Foronische Zivilisationen? »Was genau hat Mecchit vor?«, wollte Saree wissen. »Uns wurde mitgeteilt, dass wir hier nach Überresten unseres Volkes und einem möglichen Neuanfang suchen sollen. Aber ist das wirklich alles?« »Er hat einen Geheimplan«, bestätigte Horif. »Ich kenne Mecchit inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht wegen eines Erkundungsflugs persönlich auf eine solche Reise begibt. Ich habe versucht herauszufinden, um was es geht, aber ohne Erfolg. Ich befürchte, er wird alles aufs Spiel setzen, nur um Sobek auszuschalten.« »Das ist doch gut!« Saree hatte nicht geglaubt, sich plötzlich auf Mecchits Seite zu finden. »Ich habe andere Pläne.« Endlich rückte Horif damit heraus. »Es ist naiv anzunehmen, hier Überreste unseres Volkes aufspüren zu können. Und selbst wenn, so sind sie im Laufe der Jahrtausende völlig degeneriert, wahrscheinlich auch mutiert und uns kaum mehr
von Nutzen. Es wird inzwischen ein zweites, eigenständiges Volk sein, das nur noch den Ursprung mit uns gemein hat. Wahrscheinlich wird es sich auch nicht mehr an uns erinnern und den Grund unseres Exodus. Also, wozu Zeit verschwenden? Wenn wir je wieder das foronische Volk groß machen wollen, haben wir hier nichts mehr verloren. Samragh ist zerstört und verwaist. Hier etwas aufzubauen, kostet unglaublich viel Mühe und mindestens Jahrhunderte. Bis dahin gehen die Entwicklungen dort draußen weiter, und eines Tages sehen wir uns neuen Feinden gegenüber. Und was dann?« »Das ist ein sehr düsteres Bild«, murmelte Kariimi. »Eben darum geht es mir ja. Dazu darf es einfach nicht kommen! Ihr werdet es bald sehen, dass Samragh zerstört und unbewohnbar geworden ist für uns. Nichts, worauf wir aufbauen können.« »Wie kannst du so sicher sein?«, meinte Kariimi. »Es ist eine Frage der Konsequenz«, antwortete Horif. »Ich habe alle Fakten zusammengetragen und meine Schlüsse gezogen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich irre, ist nicht sehr hoch.« Saree fühlte sich auf einmal gar nicht mehr wohl in seiner Haut. »Was willst du stattdessen tun?« »Mecchit beseitigen und das Kommando übernehmen«, antwortete der Zweite Kommandant. Das hatte Saree befürchtet. Als ob das ein Spaziergang wäre. Nach einer Pause fuhr Horif bedächtig fort: »Und dann …« Saree konnte es kaum mehr ertragen. Er blickte von Kariimi zu den anderen Foronen, doch keiner schien zu wissen, was Horif vorhatte. Und der Zweite Kommandant schien es ziemlich zu genießen, seine Mitverschwörer auf die Folter zu spannen. Saree begriff schlagartig, wie gefährlich dieser Mann war. Er zeigte einen anderen Bildausschnitt des Holos, eine Galaxis, deren einzigartig schimmernde Struktur Saree zu seinem Schrecken bekannt war, und schoss ein einziges Wort ab: »Bolcrain.«
Saree glaubte, sich verhört zu haben. »Aber … diese Galaxis ist sehr groß …«
»Natürlich will er in die Nähe der Erinjij«, unterbrach Kariimi ungehalten. »Nicht wahr? Du willst alles übernehmen, die Macht der Menschheit und deren Master zerschlagen, und dann willst du darauf warten, bis Cloud mit der SESHA aus Malragh zurückkehrt.« »Nicht ganz in der Reihenfolge, aber das trifft es ziemlich«, bestätigte Horif. »Der Dieb Cloud wird zurückkehren. Er wird es auf Dauer nicht ertragen können, im Exil leben zu müssen. Dafür ist er viel zu stark emotional verwurzelt. Irgendwann wird es ihn zurücktreiben zu seinem Volk. Es ist besser, sich auf die Lauer zu legen, als Kräfte in der sinnlosen Verfolgung und Suche zu verbrauchen. Und das Warten wird für uns nur ein kurzer Moment sein, so kurzlebig, wie Clouds Rasse ist.« »Das ist ein hohes Ziel, und sehr schwer zu erreichen«, stellte Saree fest. Horif winkte ab. »Wir haben alles, was wir brauchen. Techniker, Biogenetiker, Soldaten, Arbeiter, Wissenschaftler. Das Septemvirat – Sobek – hat unsere Geschicke lange Zeit allein gelenkt. Wir aber sind tausend! Wenn wir erst die SESHA wiederhaben, werden wir uns einen Stützpunkt suchen, von wo aus wir operieren werden. Wir werden mächtige Waffen bauen. Wir werden uns vermehren. Wir werden eine neue Heimat schaffen – und auf unsere Stunde warten. Wir haben Zeit. Und dann werden wir einen Eroberungszug starten, größer als in Samragh, und uns eine Welt nach der anderen nehmen. Dann können wir es uns vielleicht auch einmal gestatten, an Rache zu denken. Denn Rache ist Luxus, man muss sie wohl bedacht planen, wenn man Erfolg haben will.«
Saree brauchte einige Zeit, um das Gehörte zu verdauen. Die Versammlung war nach dieser Eröffnung ziemlich schnell aufgelöst worden, und jeder war seiner Wege gegangen. Horif hatte bedeutet, auf sein Zeichen zu warten, dann würde man sehr schnell handeln, um Mecchit zu beseitigen. Jeder sollte seine Aufgabe zugewiesen bekommen. Die Schnittstelle war ausschließlich Horif, die anderen sollten nichts miteinander zu tun haben – mit Ausnahme von Karii-
mi und Saree, die sich gut kannten. Es wäre auffällig gewesen, wenn sie sich plötzlich aus dem Weg gingen. Aber der Zweite Kommandant sah darin kein Problem. Aber wie stellte es sich Horif vor, Mecchit zu töten? Keine leichte Aufgabe bei der mächtigen Nanorüstung, die der Hohe trug. Außerdem war er kein Dummkopf und in Intrigen erfahren. Nicht umsonst hatte er schon lange diese hohe Position inne und behauptete sich, sogar gegen Sobek. Was den Techniker am meisten erschreckte, war die Gelassenheit, mit der seine Mitverschwörer die hochfliegenden Pläne des Zweiten Kommandanten aufgenommen hatten. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Um Mecchits Leben ging es Saree nicht, der Hohe war ihm völlig gleichgültig. Im Gegenteil, Saree konnte es nur recht sein, wenn Mecchit beseitigt wurde. Wieder einer vom Septemvirat weniger. Aber das Ziel Horifs konnte er nur als größenwahnsinnig bezeichnen! Wenn Sobek es mit der HAKAR-Flotte bisher nicht gelungen war, die SESHA zurückzubekommen, wie wollte Horif das allein schaffen? Welche List könnte Cloud dazu veranlassen, sein Schiff aufzugeben? Natürlich, jeder hatte seinen Preis. Aber was war Clouds Schwachstelle, ihn zu so etwas zu bringen? Und glaubte Horif etwa, die anderen Völker der Milchstraße würden tatenlos zusehen, wie sich die Foronen in aller Gemütsruhe zu einer Kriegsmacht entwickelten? Wo sollten sie sich verstecken, damit niemand von ihrer Anwesenheit erfuhr, und sich gleichzeitig auf die Lauer legen, um von Clouds Rückkehr zu erfahren? Vor allem: Wie wollte Horif Sobeks Zorn entkommen? Wollte er für immer abgespalten sein vom Rest des foronischen Volkes? Mit einem einzigen Schiff und tausend Mann Besatzung wollte dieser Wahnsinnige es mit dem ganzen Universum aufnehmen! Was hältst du davon? Saree hatte sich in seine Unterkunft geflüchtet, und jetzt stand Kariimi davor und wollte darüber sprechen. Er ließ sie herein. Kariimi, das kann nicht euer Ernst sein. Ich halte Horif nicht für den geeigneten Mann für derartige Pläne. Er besitzt nicht So-
beks Stärke, Durchsetzungsvermögen und Grausamkeit. Natürlich nicht, Saree. Aber Horif sitzt an der richtigen Stelle, um uns mit Informationen zu versorgen. Wir müssen in Erfahrung bringen, was Mecchit vorhat. Unter Umständen müssen wir sie beide beseitigen. Sie waren unter sich, auch bei mentaler Kommunikation. Sie konnten ihre Gedanken so steuern, dass sie nur dem gewünschten Kommunikationspartner offen, für alle anderen jedoch blockiert waren. Und was dann, Kariimi? Wie sollen wir weitermachen, ganz ohne Führung? Da haben wir es, Saree. Du hast eine neue Regierungsform verlangt, Abstimmung durch das Volk – und nun zauderst du, weil du Angst vor der Verantwortung hast. Ich sage dir was: Die meisten von uns haben die Reise durchs All satt. Wir wollen endlich eine Heimat finden und uns niederlassen. Jetzt, da wir keine Furcht vor den Virgh mehr zu haben brauchen, wollen wir nicht sofort wieder einen neuen Krieg beginnen. Besinne dich darauf, Saree, was unser Volk früher alles getan hat! Welten erobert. Sie stieß ein schnarrendes Geräusch durch die Membran aus, ein Zeichen von Belustigung. »Deswegen mag ich dich so. Du hast immer einen Scherz auf Lager. Woher hast du das nur? Dies ist keine foronische Eigenart.« »Ich meine es ernst, Kariimi«, erwiderte er. »Du hast dich da auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen. Du denkst, wenn du unsere beiden Kommandanten aufeinander hetzt, zur Freiheit zu kommen und gehen zu können, wohin es dir passt. Aber so einfach wird es nicht sein. Das ist es nie.« Sie ballte leicht die Hand zur Faust. »Dann wirst du also weiterhin nur reden und nicht handeln?« »Jedenfalls nicht so«, antwortete er. »Tut mir leid, Kariimi. Aber ich werde nicht meutern, so lange ich nicht ganz genau weiß, wofür.« »Wovor fürchtest du dich?« »Vor Sobeks Vergeltung. Er wird es nicht dulden, dass wir eigene Wege gehen und uns alle töten, sobald er uns gefunden hat. Denn wenn er diesen Alleingang einmal zulässt, wird seine Autorität zer-
brechen, und alle anderen werden es uns gleichtun wollen. Und ich bin aufrichtig, wenn ich sage, dass mir mein kümmerliches Leben wichtiger ist als meine Träume.« Dann können wir also nicht auf dich zählen, Saree? Wir sind immer noch zu wenige, Kariimi. Und ich sage dir, ihr seid auf dem falschen Weg. Mit einer Revolte werdet ihr gar nichts erreichen, nur das Volk insgesamt schwächen. Wie soll es dann weitergehen? Wirst du immer nur träumen, ohne Hoffnung? Ich weiß es auch nicht. Vielleicht finden wir eines Tages einen mächtigeren Verbündeten als Horif. Jemanden, der eine diplomatische, eine politische Lösung findet, ohne Gewalt. Siroona, kam es von Kariimi überrascht. Siroona, bestätigte Saree. Das wäre eine Möglichkeit. Ich halte es für einen Versuch wert und nicht zu aussichtslos oder gefährlich, einen nach dem anderen auf unsere Seite zu ziehen.
2. Vor zweihundert Jahren Samragh: Anfang oder Ende Mecchit ruhte im offenen Kommandosarkophag der Zentrale und beobachtete die Holosäule. In verschiedenen Ausschnitten präsentierte sich seinen optischen Rezeptoren die ehemalige Heimatgalaxis Samragh. Kein schönes Bild, das sich dort draußen bot. Nahe des Zentrums der Kleingalaxie befanden sich die wichtigsten foronischen Welten. Von hier aus waren die Foronen mit der Arche einst vor vielen tausend Jahren aufgebrochen, in eine ungewisse Zukunft und voller Sorge um das, was sie zurückließen. Die ursprüngliche Rückkehr vor verhältnismäßig kurzer Zeit war ein Desaster geworden. Wonach sollte Mecchit hier also suchen? Nach einem Wunder? Einem Transitionstriebwerk, das es Sobek ermöglichte, der SESHA ohne Zeitverlust zu folgen? Mecchit hatte Sobeks Plan, dem Dieb Cloud zu folgen, als wahnwitzig angesehen. Einerseits war er froh, dass er seinen HAKAR nicht opfern musste und außerdem außer Reichweite Sobeks war, denn die Mauer zwischen ihnen beiden war inzwischen unüberwindlich geworden. Andererseits jedoch hatte Sobek ihn damit auch aus dem Weg geräumt, um freie Hand zu haben. Mecchits Einfluss war nicht gering, und nicht einmal Sobek konnte es sich leisten, den Kritiker einfach zu beseitigen, wie er es in anderen Fällen gerne tat. Wenn Sobek im Triumph aus Malragh zurückkehrte, hatte Mecchit keine großen Zukunftsaussichten mehr. Wenn er allerdings zum Verlierer wurde, konnte Mecchit ihn erwarten und handeln. Eine Patt-Situation, für beide Seiten sehr unbefriedigend. Mecchit
wusste, dass Sobeks Entscheidung nicht zuletzt an Siroonas Einfluss gelegen hatte. Der Hohe dachte häufig an Siroona. Er war sich nicht schlüssig darüber, welche Ziele sie verfolgte. Einerseits stand sie absolut treu zu Sobek und unterstützte ihn in allem, präsentierte sich als seine Gefährtin – andererseits aber hatte sie in taktisch hinterhältiger Weise dafür gesorgt, dass Mecchits und Sobeks Wege sich trennten. Es war eine verwirrende Situation gewesen – tödlich für einen untergeordneten Foronen, der als Mittel zum Zweck gedient hatte, um Unruhe zu stiften. Dummerweise hatte Mecchit sich zu einer heftigen Reaktion hinreißen lassen und sich offen gegen Sobek gestellt. Der Machtkampf zwischen ihnen war damit eröffnet. Mecchit hatte schließlich für sich entschieden, dass Sobek ruhig gegen Wände anrennen sollte in dem Versuch, die Arche zurückzuholen. Möglicherweise erledigte auch der Dieb Cloud die Schmutzarbeit, indem er Sobek bei einer Konfrontation ohne Schutzanzug ins All beförderte … Immerhin stand Mecchit nicht allein, er hatte Verbündete – falls sie noch unentdeckt waren, hieß das. Siroona war natürlich ein Unsicherheitsfaktor; sie konnte ihm nützlich sein, ihm aber auch sehr gefährlich werden. Ihm war klar, dass sie eines Tages das Zünglein an der Waage sein würde. Dann würde sich zeigen, welche Absichten sie tatsächlich verfolgte.
Horif, der Zweite Kommandant, betrat die Zentrale. Mecchit war meistens allein hier, denn zur Steuerung des Schiffes benötigte er niemanden. Sobald der Sarkophag geschlossen war, stand der Hohe in direktem mentalem Kontakt mit der Schiffs-KI und konnte im Bruchteil einer Sekunde Entscheidungen treffen. Horifs Aufgabe war es, sich um interne Angelegenheiten des Schiffes zu kümmern und dafür zu sorgen, dass jedes Besatzungsmitglied entsprechend seiner Ausbildung in Topform gehalten wurde. Sie wussten nicht,
was sie erwartete; möglicherweise mussten sie sehr schnell in Alarmbereitschaft sein. »Was gibt es?«, fragte Mecchit. Zu dieser Zeit erstattete Horif gewöhnlich Bericht. »Keine besonderen Vorkommnisse«, gab der Zweite Kommandant Auskunft. »Die üblichen Beschwerden über das schlechte Nahrungsangebot. Allerdings häufen sie sich allmählich.« »In Ordnung. Geben wir ihnen ein bisschen mehr. Verkürze dafür die Freischicht und lasse sie mehr arbeiten oder an der Waffe trainieren.« Wie du wünschst, Hoher Herr. Was ist mit den Aufrührern? »Ich denke, ich habe sie alle gefunden.« Horif wirkte zufrieden. »Sie sind harmlos und feige. Keiner von ihnen könnte gefährlich werden.« Er speiste einen Datenspeicher ein, und auf der Holosäule bildete sich ein weiteres Fenster, das sieben Foronen zeigte. »Ich halte sie mit diversen Plänen beschäftigt, dann kommen sie nicht auf dumme Gedanken.« Mecchit deutete auf eines der Gesichter. »Der hier ist mir sogar bekannt. Ein notorischer Nörgler, dessen Gedanken manchmal völlig unkontrolliert durchs Schiff schallen. Saree, nicht wahr?« Ja, Hoher Herr. Ein kleiner Wichtigtuer, nur ein Techniker ohne besondere Fähigkeiten. Dennoch dürfen wir in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen, Horif. Unsere Artgenossen werden zusehends unzufriedener, und wir brauchen Loyalität bei unseren bedeutenden Vorhaben. Ebenso aber können wir auf keinen Einzigen verzichten. Momentan sind Foronen unser kostbarstes Material, das sorgsam gehütet werden muss. Also lass es nicht zu weit kommen, Horif, sondern greife rechtzeitig ein. »Selbstverständlich.« »Wir alle werden noch viele Opfer bringen müssen. Das Leid hat noch lange kein Ende. Aber wir werden unser Ziel erreichen, eines Tages. Wir werden nicht aufgeben.« Der Zweite Kommandant verneigte sich leicht und verließ die Zentrale.
Mecchit beobachtete seinen Gang, seine Haltung. Ihm war völlig klar, dass Horif unzuverlässig war und sich nur scheinbar loyal gab. Der Zweite Kommandant verfolgte ganz eigene Pläne. Ganz oben auf der Liste stand sicherlich Mecchits Tod – zumindest wäre das bei Mecchit so, würde er an Horifs Stelle stehen. Weiterkommen konnte der Zweite Kommandant nur, wenn er einen Angehörigen des Septemvirats beseitigte und das Kommando übernahm. Sobek hätte sicherlich nichts dagegen, denn auf diese Weise würde er seinen Widersacher bequem und sauber los. Vielleicht hatte er Horif sogar den Auftrag gegeben? Oder Siroona hatte es getan? Mecchit wusste, er konnte keinem trauen. Aber das bekümmerte ihn nicht im Geringsten. Seine eigenen Ziele waren so hoch gesteckt, da konnte er sich ohnehin nur auf sich selbst konzentrieren. Er brauchte auch niemanden, um ans Ziel zu kommen, höchstens kurzfristig – als Mittel zum Zweck. Horif würde noch feststellen, dass er ein Mitglied des Septemvirats besser nicht unterschätzte. So leicht würde Mecchit es ihm nicht machen. Andererseits würde er Horif auch keinesfalls vorzeitig ausschalten. So lange der Zweite Kommandant danach strebte, an Mecchits Stelle zu treten, ließ er keinen anderen nahe genug an den Hohen heran, weil er natürlich Neider und Konkurrenten fürchten musste. Im Gegenteil, Horif musste jeden potenziellen Gegner, der ihm gefährlich werden konnte, rechtzeitig entdecken und ausschalten, bevor er selbst handelte. Etwas Besseres, als den Feind zu kennen, konnte Mecchit nicht passieren. Er konnte in Ruhe abwarten, wie sich die Dinge weiter entwickelten. Und irgendwie bereitete ihm dieses Jagdspiel auch ein grimmiges Vergnügen. Es war gut, sich so einer Herausforderung zu stellen, um festzustellen, wo die eigenen Schwächen lagen. Denn gegen Sobek anzutreten, hatte eine ganz andere Klasse. Monts unrühmliches Schicksal diente Mecchit stets als Warnung, niemals in seiner Wachsamkeit nachzulassen und niemanden zu unterschätzen.
Mecchit hatte es befürchtet. Samragh befand sich in einem traurigen Zustand. Erstarrt wie in jahrtausendelanger Stasis, ein plastisches Schaubild der Vergangenheit. Nach dem Abflug der Arche hatten die Virgh die Galaxis überrannt. Überall waren die Spuren der Vernichtung heute noch zu sehen. Zerstörte, leblose Welten. Verstreut gab es noch Zivilisationen von Fremdvölkern, die auf Trümmern neu errichtet worden, aber in der Entwicklung weit zurückgeworfen waren. Es gab so gut wie keine Raumfahrt mehr. Lediglich Geisterschiffe, ausgebrannt und leer, trieben durch die Leerräume zwischen den Systemen. Meistens Schiffe der Virgh, aber auch noch manche der Foronen. Distanzscans ergaben, dass irgendwo vereinzelt Raumschiffe zwischen Systemen kreuzten; aber vermutlich mit geringer Reichweite und kaum mehr als Schrott, irgendwie zusammengeflickt. Mecchit schickte Sonden auf bewohnte Welten, nur um festzustellen, dass die Völker dort keine Erinnerung mehr an die Vergangenheit hatten. Die wenigsten schienen überhaupt zu wissen, dass es noch anderes Leben dort draußen im All gab. Diese Welten waren uninteressant für ihn, und er hielt sich nicht lange auf. Weiter ging es zu den ehemaligen foronischen Zentralwelten. Und hier wurde das Ausmaß der Verwüstung noch deutlicher. Selbst Mecchit, als Forone kaum von Emotionen beherrscht, konnte das Gefühl von Kälte nicht unterdrücken, das in ihm aufstieg. Die toten Planeten erzählten in stummer Anklage eine grausige Geschichte. Sie waren damals überrannt, infiziert und anschließend »verglast« worden, umhüllt von einer Schicht Psimaterie, unter der die Brut der Virgh heranreifte. Aus dem All sahen diese Planeten wie Glaskugeln aus, in denen sich das Licht ferner Sonnen und Sterne spiegelte. Hübsch aus der Ferne. Von nah war das Ausmaß einer unglaublichen Katastrophe ersichtlich. Nicht nur, dass das dominierende raumfahrende Volk ausgelöscht worden war; nahezu sämtliche seiner Systeme waren so nachhaltig zerstört worden, dass sich vermutlich auf Jahrmillionen
kein Leben mehr dort entwickeln konnte. Die Jay'nac hatten die Virgh nur zu diesem einen Zweck gezüchtet: Dass sie Stöcke unter der Verglasung gründeten, um Millionen und Abermillionen Nachkommen hervorzubringen und sie gegen die gleichfalls zahlreichen, sich unglaublich schnell vermehrenden Satoga antreten zu lassen. Den Anorganischen war es überhaupt nicht um die Foronen gegangen. Mecchits Volk war lediglich zwischen die Fronten geraten, als die Jay'nac ihre tödlichen Zuchtgeschöpfe nach Samragh schickten, um sie dort auf geeigneten Welten in Ruhe heranreifen zu lassen. Es war keine persönliche Fehde gegen das foronische Volk gewesen – es hatte schlicht nur im Weg gestanden, das war alles. Die Virgh fegten die Foronen weg aus ihrem Herrschaftsbereich, überrannten ihre Planeten und verglasten sie. Zogen die Brut darunter heran und legten gleichzeitig unterirdische Fabrikanlagen an, in denen über die Jahrtausende hinweg eine gigantische Flotte produziert wurde. Die von den Foronen in Samragh unterdrückten Völker hatten diesen oft vorgeworfen, dass sie grausam und gefühlskalt seien. Das hatte natürlich seinen Grund: Die Foronen wollten vermeiden, dass ein weiteres Volk so mächtig wurde wie sie. Dadurch verhinderten sie ihrer Ansicht nach Krieg und Gewalt; und es war nun einmal so, dass immer einer den Preis für den Frieden zahlen musste. Aber der Krieg zwischen den Jay'nac und den Satoga sprengte jeden Rahmen der Lebensverachtung, selbst für die distanzierten Moralbegriffe der Foronen. Schlimm genug, dass sie sich gegen den Feind nicht hatten verteidigen können. Aber nicht einmal das Ziel zu sein, sondern lediglich als lästige Insekten angesehen und dementsprechend beseitigt zu werden, war eine Demütigung, von der sich das Volk der Foronen nie mehr erholen würde. Und vor allem hatte es ja nicht einmal etwas genutzt. Die Satoga hatten sich bedeutend schneller entwickelt als die Virgh. Die Virgh waren kaum mit ihren Flottenverbänden aufgebrochen, als die Sato-
ga nahezu im Vorübergehen die Zuchtwesen ihrer anorganischen Feinde aus dem All schossen. Es war alles umsonst gewesen. Heute drohte in Samragh keine Gefahr mehr von irgendeiner Seite. Die Galaxis war uninteressant und hatte nichts mehr zu bieten. Mecchit lehnte sich in seinem Sitz zurück und dachte nach. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sollte er nach einem für Foronen geeigneten Planeten suchen und ihn in Besitz nehmen? Aber sollte er dafür von einem Ende zum anderen fliegen müssen? Die Speichersysteme des HAKARs verfügten über ein umfangreiches Archiv. Diese Daten stammten jedoch aus einer fernen Zeit, als Samragh kartographiert worden war, als es dort noch lebhaftes Treiben gegeben hatte. Mecchit hätte anhand der alten Daten einen Planeten nach dem anderen anfliegen können. Doch war es die Zeit und Mühe wert? Mecchit hatte Besseres zu tun, vor allem in seiner Position. Für die reine Erkundung hätte normalerweise eine Explorerflotte ausgeschickt werden müssen, in alle Richtungen, um Wege und Zeitaufwand möglichst kurz zu halten. Seine Besatzung würde es ebenfalls kaum mitmachen, hier vergleichsweise ziellos umherzuirren, während der Rest der Flotte anderswo gebunden war. Ganz klar, sie brauchten eine Aufgabe. Mecchit hatte in letzter Zeit die Vorgänge auf seinem Schiff sehr genau beobachtet, und er hatte festgestellt, dass sich die Fronten zusehends verhärteten. Dass so mancher anfing, über Veränderungen nachzudenken. Gerade weil es hier nichts mehr gab. Sie hatten keine Heimat mehr. Horifs aberwitziger Plan, von dem der Hohe natürlich Kenntnis hatte, ob der Zweite Kommandant ihn nun tatsächlich insgeheim durchführen wollte oder ihn nur als Ablenkungsmanöver benutzte – dieser Plan jedenfalls, nach Bolcrain zu fliegen, um dort eine neue Kernzelle zu schaffen, fiel allmählich auf fruchtbaren Boden. Immer noch waren es sieben Hauptverschwörer (sehr bezeichnend, diese Zahl, wenn man es recht bedachte!), unter der Anleitung Horifs. Aber allmählich sickerte auch etwas an andere Stellen durch. Mecchit wusste, er hatte nicht mehr viel Zeit, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten würden. Aber er wurde deswegen noch lange
nicht nervös. Schließlich hatte er noch seinen Masterplan, von dem niemand auch nur ahnte.
Die sieben trafen sich mit dem Zweiten Kommandanten an gewohnter Stelle. Sie fühlten sich einigermaßen sicher und glaubten, dass Mecchit durch die Tragödien dort draußen abgelenkt genug war. Vermutlich grübelte er die ganze Zeit über seine düstere Zukunft nach. Saree hatte ja eigentlich aussteigen wollen. Aber jetzt so einfach wieder ins »normale« Leben zurückzukehren, in dem man keine Fragen stellte, sondern das tat, was aufgetragen wurde, war nicht mehr möglich. Dazu war er schon einen Schritt zu weit gegangen. Außerdem war er jetzt Kariimi endlich so nahe, wie er es sich insgeheim gewünscht hatte. Er hatte sich geirrt, dass sie in völlig verschiedenen Welten lebten. Sie waren sich zwar über die genaue Zielsetzung nicht unbedingt einig, aber ganz sicher darüber, dass etwas verändert werden musste. Saree begann allmählich auch, Zutrauen zu sich zu fassen und daran zu glauben, dass er mehr konnte, als nur Techniker zu sein, der hier etwas verschraubte und dort etwas lötete. Seine Weltsicht hatte sich in den vergangenen Wochen erheblich erweitert und auch sein Wissen. Er erkannte nun weitaus komplexere Zusammenhänge. Doch je mehr sein Horizont sich erweiterte, desto unzufriedener wurde er auch. Er ertappte sich dabei, wie er anfing, anderen seine Gedanken mitzuteilen – auf subtile Weise, um sie nicht zu verschrecken und um sich nicht zu gefährden, etwa dass man ihn der Meuterei bezichtigte. Aber er konnte nicht mehr aufhören, an nichts anderes denken. »Ihr könnt es sehen.« Horif hatte das Holo aktiviert, das eine nahezu tote Galaxis zeigte; zumindest auf der derzeitigen Route, seit sie den Sonnenhof hinter sich gelassen hatten. »Hier gibt es einfach nichts mehr. Dies ist nicht mehr unsere Heimat.« »Es ist schrecklich. Wir haben wirklich alles verloren. Damals ha-
ben wir wenigstens noch ein bisschen Hoffnung mitgenommen, aber jetzt …« Kariimi drückte aus, was alle dachten. Jeder Einzelne wünschte sich, nie hierher geflogen zu sein. Die Trostlosigkeit wog nur umso schwerer. Zeigte, dass das foronische Volk am absoluten Tiefpunkt angekommen war. Und hier hakte auch Saree ein: »Aber tiefer können wir nicht mehr sinken. Seht es so. Es ist an der Zeit, dass wir anfangen, wieder nach oben zu gehen. Wir können es schaffen, daran müssen wir nur alle glauben. Wir sind Langlebige, die Zeit ist auch auf unserer Seite. Überlegt, was uns alles angetan worden ist, und trotzdem sind wir immer noch da.« »Wohl gesprochen«, pflichtete der Zweite Kommandant bei. »Es ist an der Zeit, dass wir Pläne schmieden und Entscheidungen fällen, wie wir weiter vorgehen werden.« »Dazu müssten wir genauere Kenntnis über Mecchits Pläne haben«, wandte Kariimi ein. »Das sollte kein Problem darstellen. Wir haben bald Starvanger erreicht, und dann wird sich zeigen, was Mecchit vorhat.«
Sie haben alle keine Ahnung, dachte Mecchit grimmig. Sie werden sich wundern. Der HAKAR hatte die ehemalige foronische Geheimwelt Starvanger erreicht – einer der wichtigsten Stützpunkte von damals, der offenbar nur deshalb nicht von den Virgh verglast wurde, weil er absolut nichts von erkennbarem Wert und kein Leben barg. Selbst nach Foronenmaßstäben war es eine allzu triste Welt. Der Weg hierher war eintönig verlaufen. Immer nur dieselben Ergebnisse. Keine Überreste foronischer Zivilisationen. Kein einziges einigermaßen intaktes Raumschiff mit foronischer Besatzung. Keine Kontaktaufnahme, gar nichts. Dennoch hatte Mecchit sich Zeit genommen; er musste einen genauen Überblick über die Lage haben. Und momentan drängte ihn nichts, außer der zunehmenden Unzufriedenheit seiner Leute. Aber das würde sich bald ändern. Starvanger war dem Augenschein nach ein wasserloser, rundum
von rostrotem Staub bedeckter Planet. Die Atmosphäre war sauerstoffreich, was eigentlich unmöglich hätte sein müssen anhand der klimatischen und geographischen Verhältnisse. Es gab nicht einmal unterirdisch auch nur das kleinste Rinnsal. Jeder Tag war wolkenlos sonnig. Der Planet wurde seit Jahrmillionen in pausenloser Gluthitze gebraten. Leben hatte sich hier nie entwickelt. Dennoch war die Welt äußerst wertvoll für die Foronen gewesen. Die ersten Messdaten lösten Zufriedenheit in Mecchit aus. Weder Jay'nac noch Satoga oder Virgh hatten die tatsächliche Bedeutung dieser Welt erkannt. Sie hatten sie einfach links liegen gelassen auf ihren Eroberungsfeldzügen und Schlachtplätzen. Nicht einmal die engsten Vertrauten des Septemvirats kannten das Geheimnis von Starvanger. Die Hohen hatten es wohl gehütet, all die Jahrtausende hindurch. Sie hatten gehofft, dass Starvanger ihnen eines Tages, wenn alles verloren schien, wieder von Nutzen sein könnte. Sie hatten den Planeten schlafen lassen, ihn weder besonders abgesichert, noch auf irgendeine Weise »unauffällig« gemacht. Er bot von sich aus schon so rein gar nichts. Weder Oberflächennoch Tiefenscans konnten besondere Aktivitäten, seien sie planetarer oder technischer Natur, anmessen. Eine große, rote und tote Staubkugel, die verloren irgendwo in einer ausgebrannten Galaxis hing und sich nicht im Geringsten von den übrigen Bildern unterschied, die sich auf dem Herflug präsentiert hatten. Mecchit legte sich in seinen Sitz zurück und schloss den Sarkophag. Augenblicklich entstand die innige Verbindung zur KI des HAKARs. Dies war einer der wenigen emotional erhebenden Momente für den Foronen. Niemand, der eine solche Verbindung eingehen konnte, wie sie nur einem akzeptierten Kommandanten möglich war, vermochte auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, was hier vor sich ging. Mecchits Bewusstsein erweiterte sich, wurde ein Teil des Schiffs, und der Hohe konnte sich auf diese Weise gewissermaßen die ge-
samte Schiffssensorik einverleiben. Kein Bereich blieb ihm verborgen, und er konnte direkt alles ansteuern, was er nur wünschte und was mit dem Zentralsystem verbunden war. Er konnte auch viel deutlicher sehen, was draußen vor sich ging. Starvanger erschien nun als großer roter Ball auf seinen optischen Rezeptoren; es war ihm fast, als könnte Mecchit ihn berühren. Als wäre er mitten darin, nicht nur darauf oder darüber im Orbit. Keine Distanz mehr, nur Nähe, das Fühlen des Einsseins. Mecchit beobachtete eine ganze Weile den Planeten von nahem. Sah den roten Staub und Sand vom Wind getragen rund um die Welt wehen. Sah, wie sich Windhosen bildeten an Stellen, wo die Luftströmungen aufeinander prallten. Woher der Sauerstoff kam? Nun, eines der vielen Rätsel dieser Welt. Einen Hauch des Geheimnis Schleiers würde Mecchit nun lüften. Würde seinen aufwieglerischen, gelangweilten und altklugen Besatzungsmitgliedern zeigen, dass das Septemvirat nichts ohne Grund tat, und dass es selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen immer noch einen Ausweg gab. Vor allem einen, der von sehr, sehr langer Hand geplant war, genau für einen Moment wie diesen. Bereit, meldete das Schiff. Gut, antwortete Mecchit. Ich gebe dir jetzt den Code ein. Alle Systeme sind auf intern geschaltet, alle Zugriffe gesperrt. Meine Gedanken sind abgeschottet. Du bist für die übrige Besatzung nicht mehr existent. Bestätigung, sobald der Code eingegeben ist. Mecchit übermittelte den Code mental, gab ihn aber auch noch zusätzlich mit der Hand in eine soeben ausgefahrene Spezialtastatur am Rande der rechten Sitzlehne ein. Code akzeptiert. Check abgeschlossen, alle Systeme bereit. Mecchit überlegte, ob er die Besatzung derweil nicht schlafen schicken sollte – ob freiwillig oder nicht. Doch dann entschied er sich anders. Was spielte es auch für eine Rolle? Er war der unangefochtene Kommandant, ein Mitglied des Septemvirats, und der HAKAR gehorchte nur ihm. Würde von nun an auf keine anderen Befehle als
auf seine reagieren, es sei denn, er gab den Widerrufscode ein. Nun waren sie ihm alle ausgeliefert, auch wenn es ihnen noch nicht nachhaltig bewusst war. Gleich würde alles vorbei sein. Bereit für den Abstrahlcode. Mecchit gab den Code ein. Das Schiff strahlte einen nur Mecchit als Angehörigem des Septemvirats bekannten Impuls ab. Die Wartezeit war sehr kurz. Schon nach wenigen Augenblicken zeigte sich die Veränderung. Zuerst konnte man es für einen gewaltigen Sturm halten, der Staub und Sand hoch in den Äther blies. Doch dann wurde immer deutlicher, dass ein System dahintersteckte. Dass der Staub gezielt eine Richtung einschlug, in die er wehte und sich dabei immer enger zusammenschloss, zu einer homogenen Masse, die … ja, nunmehr Starvanger umfloss. Es waren Nanopartikel. Das konnte nun auch der unbedarfteste, ungebildetste Forone an Bord dieses Schiffes erkennen. Mecchit gönnte ihnen das Vergnügen, dieses Schauspiels teilhaftig zu werden. Gönnte es sich selbst, um ein für alle Mal seine Position deutlich zu machen. Der ganze, den Planeten umspannende Staub bestand aus Nanopartikeln, wahrscheinlich nahezu so zahlreich wie Sterne im All. Er sprudelte und strudelte, wirbelte auf und zog sich immer mehr zusammen. Begann, das Gesicht der Welt umzuformen. Mecchit beobachtete diesen Akt der Genese erwartungsvoll und mit grimmiger Genugtuung. Es dauerte viele Stunden, bis alles dort unten wieder zur Ruhe kam. Aber das Geduldspiel hatte sich gelohnt. Der Planet Starvanger war nun das, was er immer hatte werden sollen. Und Mecchit gab den Landebefehl. Der HAKAR schwebte majestätisch durch die immer dichter unter seine Schwingen greifende Atmosphäre und kam erst wieder auf ei-
nem der gewaltigen Landetürme der planetenumspannenden gewaltigen Stadt zum Halten. Zum ersten Mal, seit Mecchit die alte Heimat Samragh durchstreift hatte, hatte er wirklich das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Nun würde sich alles zum Guten wenden, das schwor er sich. Den Foronen stand eine goldene Zukunft bevor – jedenfalls denen, die sich vorbehaltlos zu Mecchit bekannten. Und das waren beileibe nicht alle …
3. Heute RUBIKON/SESHA »Ich bleibe einfach hier, dann gehen wir überhaupt kein Risiko ein«, sagte Prosper Mérimée. Es sollte tapfer klingen, aber die Verzweiflung konnte damit nicht übertüncht werden. »Diese Entscheidung sollte nicht aus dem Bauch heraus gefällt werden«, bemerkte der Commander ruhig. John Cloud hatte zur Besprechung in den Konferenzraum nahe der Zentrale eingeladen. Ein Raum, der bisher selten genutzt worden war und nun innerhalb weniger Tage gleich mehrmals. Spinnenroboter schwirrten umher und sorgten für Getränke und Knabberzeug; dies sollte die angespannte Stimmung ein wenig auflockern. Sesha hatte dazu rundum an die Wände ein Holo projiziert, das eine blühende Waldwiesenlandschaft zeigte. Sogar leise Hintergrundgeräusche wie sanftes Windgesäusel in den Blättern oder Vogelgezwitscher wurden als nicht störende Untermalung geboten. Es war beinahe, als säßen sie mit dem Tisch im Freien, auf einer frühlingshaft warmen Welt. Fontarayn, der in goldfarbener, humanoider Gestalt auftretende Gloride, war davon natürlich unberührt. Aber auf die Menschen zeigte es Wirkung – vor allem auf jene, die wie Prosper Mérimée und Sarah Cuthbert Asyl auf der RUBIKON gefunden hatten. Diese Vertriebenen hatten keine andere Heimat, keine andere Zukunft mehr als die RUBIKON. Cloud hoffte, dass sie dieses Trugbild wenigstens einigermaßen tröstete. Allerdings konnte es irgendwann auch genau das Gegenteil bewirken – dass die Heimwehkranken dadurch erst recht demoralisiert wurden, weil sie so eine Landschaft vielleicht niemals mehr in der
Realität durchstreifen durften. Doch für den Moment sollte es ein wenig aufbauen, von bedrückenden Gedanken ablenken und helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Grund der Zusammenkunft war die Entscheidung, ob die RUBIKON nun den Sprung durch die Portalschleuse der AndromedaPerle wagen sollte oder nicht. Die hiesigen Gloriden hatten den Vorschlag unterbreitet, einen Sprung durch Raum und Zeit zu vollziehen, um zu verhindern, dass die Satoga Andromeda überrennen und hoch entwickelte Zivilisationen auslöschen konnten. Cloud wusste bis heute nicht, ob Artas für den furchtbaren Krieg verantwortlich war oder nicht. Ihm fehlten zweihundert Jahre und eine Spur, die aktuell zu den Satoga geführt hätte. Die RUBIKON hatte seinerzeit infolge der Flucht vor den Foronen, allen voran Sobek, dank Fontarayns und Ovayrans Eingreifen einen Transitionssprung zur Nachbargalaxis der Milchstraße vollzogen. Aber dabei hatten sie nicht nur Millionen Lichtjahre zurückgelegt, sondern auch ungewollt einen Sprung durch die Zeit gemacht. Zweihundert Jahre in die Zukunft. »Schuld« daran hatte Prosper Mérimée, in dessen Gehirn irgendetwas verankert war, das bei bestimmten Anlässen eine Zeitanomalie auslöste. Offensichtlich hatte die gewaltige Energieentladung bei dem Sprung diesen Defekt – oder die Mutation, was auch immer – aktiviert. Die medizinischen Systeme des Schiffes hatten bisher keine Anomalie in Prospers Gehirn lokalisieren können. Es war unbekannt, ob »Faktor T«, wie jemand sarkastisch dem Mysterium einen Namen gegeben hatte, auf synaptischen Verbindungen beruhte – oder einem tief in den Windungen versteckten Tumor. Prospers Gehirn war in den vergangenen Tagen wieder und wieder eingehend durchleuchtet worden, getestet, gemessen und gewogen. Sesha, die außergewöhnliche KI des Rochenschiffs, schien jedoch überfordert mit dieser Aufgabe. Auch Ovayran hatte zu Beginn der Untersuchungen nicht präzi-
sieren können, was genau mit dem ehemaligen Zirkusdirektor los war. Er hatte lediglich herausgefunden, dass da etwas »nicht stimmte« und dass genau diese Veränderung zu der Katastrophe geführt hatte. Für die Gloriden war der Zeitsprung nicht weiter von Bedeutung; sie waren Energiewesen und nahezu unsterblich. Aber für die Menschen und die anderen stofflichen Lebensformen an Bord bedeutete dies, nicht nur räumlich, sondern wahrscheinlich auch zeitlich für immer von der Heimat abgeschnitten zu sein. Cloud hatte eigentlich erwartet, dass einige durchdrehen würden, was verständlich gewesen wäre. Doch sie waren alle ruhig geblieben. Cloud vermutete, dass dies nicht zuletzt an Sarah Cuthbert lag, der ehemaligen Präsidentin, die hinreichend Erfahrung in Menschenführung hatte und als Autorität anerkannt war. Cloud konnte nicht umhin, diese Frau zu bewundern, für ihre Anpassungsfähigkeit und ihren scharfen Verstand. Sie würde nicht so leicht aufgeben. Ich sollte sie mehr in alles einbeziehen, erkannte er. Durch ihre diplomatischen Fähigkeiten konnte sie eine wertvolle Hilfe sein. Und … es war auch wichtig, dass er ihr eine Aufgabe zuwies, damit sie sich nicht nutzlos, vielleicht sogar wertlos vorkam. Ich vernachlässige alle viel zu sehr, stellte er für sich fest und nahm sich das Versprechen ab, das zu ändern. Das war seine Verantwortung als Commander; diese Menschen hatten ein Anrecht darauf, mehr in alles einbezogen zu werden. Und vor allem – sie alle miteinander hatten nur noch einander, niemanden sonst. Sie mussten eine Gemeinschaft bilden, die nicht nur dem Zweck diente, sondern sich auch gegenseitig Halt gab. Sarah Cuthbert war heute natürlich anwesend, ebenso wie der unglückliche Mérimée, dazu Clouds Vertraute und Fontarayn. Lediglich Scobee und Ovayran fehlten. Sie waren mit einem Gloridenschiff Richtung Milchstraße unterwegs, um dort nachzusehen, was in den vergangenen 200 Jahren geschehen war. Dorthin war auch Cloud wahrscheinlich bald unterwegs, allerdings aus anderen Gründen und auf andere Weise. Die Milchstra-
ßen-Perle war als Einzige von Andromeda aus noch anwählbar. Die Portalschleuse bot, wie der Name schon andeutete, die Möglichkeit, Objekte durch die Zeit zu schleusen – leider aber gegenwärtig nur hundert und nicht zweihundert Jahre weit in die Vergangenheit. Doch das war besser als nichts, vielleicht gab es auch in dieser Epoche noch Möglichkeiten, den Satoga Einhalt zu gebieten oder überhaupt mehr über die Ursachen der Schädigung der EWIGEN KETTE – wie das Netzwerk der CHARDHIN-Perlen von den Gloriden auch genannt wurde – in Erfahrung zu bringen. Scobee war mit diesem Plan ganz und gar nicht einverstanden gewesen. Sie hatte Cloud gefragt, ob er noch nie etwas von einem Zeitparadoxon gehört habe und ihm diverse Argumente gegen diesen Einsatz an den Kopf geworfen, die alle stichhaltig gewesen waren. Und trotzdem hatten beide gewusst, dass Cloud es tun würde, schon allein deshalb, weil er keinen anderen Ausweg sah. Cloud vermisste Scobee schmerzlich. Sie war seine engste Vertraute, hatte schon so viel mit ihm durchgestanden und ihm stets Rat und Unterstützung geboten. Natürlich waren da noch Jarvis, Cy, Algorian, Jelto, Jiim und Aylea. Aber … zum Teil waren sie keine Menschen und konnten ihm nicht so nahe stehen, und die anderen waren zu jung oder zu unerfahren. Und … ja, Scobee und ihn verband noch etwas anderes, eine tiefer gehende Freundschaft. Cloud wusste, dass Scobee auf sich selbst aufpassen konnte. Dennoch machte er sich Sorgen um sie. Er hatte Angst, sie zu verlieren, denn bald würden sie hundert Jahre trennen. Und es war nicht gesagt, dass er je wieder in dieselbe Zeit zurückkehren konnte, in der auch sie sich befand. »Dein Angebot«, erklärte Fontarayn zu Prosper Mérimées Vorschlag, in der Andromeda-Perle zu bleiben, »wäre natürlich eine einfache Lösung. Aber ich glaube nicht, dass eine Gefahr besteht, wenn du an Bord bleibst. Der Transport durch die Portalschleuse erfolgt auf anderem technischem Wege als ein Transitionssprung.« Der goldene Humanoide besaß kein Mienenspiel und war auch nicht zu besonderen Emotionen fähig, außer vielleicht Neugier oder Erwartung. Alles andere nahm er mit ziemlich stoischer Gelassen-
heit hin, auch wenn er sich manchmal den Anschein gab, als ginge ihm etwas nahe. Wobei – die Sache mit den Satoga in Andromeda musste ihm zwangsläufig nahe gehen. Wenn auch auf eine für Cloud nicht ganz nachvollziehbare Weise. »Aber es bleibt doch ein Sicherheitsrisiko?«, raschelte das Pflanzenwesen Cy. »Immerhin habt ihr beide, du und Ovayran, euch bereits mit dem Sprung hierher vertan.« Fontarayn musste einräumen: »Mit absoluter Sicherheit kann ich es nicht garantieren.« »Und da wären wir wieder am Punkt«, warf der ehemalige Zirkusdirektor ein. »Wenn ich gar nicht erst mitfliege, gibt es keinen Anlass zur Beunruhigung, keinen Unsicherheitsfaktor.« Der Commander musste unwillkürlich lächeln. »So einfach ist es nicht, Prosper.« Inzwischen waren sie alle miteinander per Du, denn durch die vielen verschiedenen Wesen an Bord, die alle eine unterschiedliche Anrede benutzten, war ein ziemliches Durcheinander entstanden. So hatte Cloud per Durchsage erklärt, dass ab sofort das »Du« gängige Anrede für alle war. »Allerdings«, stimmte Fontarayn zu. »Die Perle CHARDHIN wird evakuiert. Bald werden die Gloriden in einen der Andromeda vorgelagerten Kugelsternhaufen aufbrechen. Es wird nicht leicht sein, dort in Kürze einen Aufenthaltsort für dich zu finden, der angemessen ist. Außerdem wärst du sehr einsam.« Das war etwas, was die Energiewesen nachvollziehen konnten. Denn sie standen einander alle sehr nahe, waren eine geschlossene Einheit, in der die einzelnen Individuen sogar zeitweise zum Gedankenaustausch miteinander verschmolzen. Ein Prozess, der sicherlich intimer war als ein menschlicher Austausch von Körpersekreten. »Vor zweihundert Jahren«, fuhr Cloud fort, »war die Milchstraßenperle nicht mehr erreichbar. Das war der Auslöser für Fontarayns Reise gewesen. Nun ist sie wieder zugänglich – und diesmal kurioserweise die Einzige, die von hier aus angewählt werden kann. Das ist mit ein Grund, weswegen wir die Sache untersuchen sollten.« Er blickte zu Fontarayn. »Bedauerlicherweise seid ihr an
der Aufklärung inzwischen nicht mehr interessiert.« »Es ist die Entscheidung des Perlenweisesten«, verteidigte der Goldene sein Volk. »Er trägt immerhin die Verantwortung für alle Gloriden und will sie in Sicherheit wissen.« Der Commander winkte ab. »Schon gut. Es ist immer noch unsere Entscheidung, das hat nichts mit euch zu tun.« »Richtig«, fügte Sarah Cuthbert an. »Denn für uns stellt sich die Frage, welchen Sinn es hat, dass wir hier durch die Zukunft streifen, in einer fremden Galaxis, deren Zivilisationen durch einen Krieg größtenteils ausgelöscht wurden. Dies kann nicht unsere Aufgabe sein. Selbst wenn wir einen für uns passenden Planeten finden würden, so könnten wir doch nie sicher sein, ob die Satoga nicht eines Tages zurückkommen und ihr Zerstörungswerk vollenden.« Sie hob leicht die Hände. »Zusammengefasst heißt das, wir sollten es versuchen. Und zwar mit dir, Prosper. Es mag sich vielleicht pathetisch anhören, aber entweder alle oder keiner. Wir lassen niemanden zurück.« Cloud nickte ihr anerkennend zu. Sosehr sie in der Vergangenheit auch Differenzen ausgetragen haben mochten, inzwischen imponierte diese Frau ihm immer mehr. Er war dankbar um ihre Unterstützung. Doch damit war es noch nicht entschieden. »Ich danke euch allen«, sagte der ehemalige Zirkusdirektor und wirkte gerührt. »Aber wir müssen Vernunft walten lassen, nicht Gefühle.« »Unsinn«, schmetterte Cloud ihn ab. »Gerade, weil wir Gefühle besitzen, sollten wir sie auch berücksichtigen. Wir sind nicht wie die Satoga, die Foronen oder die Jay'nac.« »Mir ist es gleich, wo wir hingehen«, bemerkte das Mädchen Aylea. »Hauptsache, wir tun etwas. Selbst in diesem Schiff kann es einem irgendwann zu eng werden. Jedes Risiko ist mir lieber als der Gedanke, hier herumzugondeln, ohne zu wissen, wohin.« Algorian hüpfte auf seinem Stuhl herum. »Ich glaube, da sprichst du uns allen aus der Seele!« »Fakt ist«, betonte die Ex-Präsidentin, »dass wir derzeit hier festsitzen und nach einer Möglichkeit suchen müssen, um in unsere Zeit
zurückzugelangen. Außerdem müssen wir in Erfahrung bringen, was in den vergangenen zweihundert Jahren geschehen ist. Deshalb befürworte ich ausdrücklich den Durchgang durch die Portalschleuse.« Auffordernd blickte sie in die Runde. Zustimmendes Gemurmel machte sich breit. Lediglich Fontarayn gab sich zurückhaltend. »Also gut.« Cloud faltete die Hände. »In meiner Eigenschaft als Commander könnte ich die Entscheidung einfach treffen. Doch es geht hier nicht um einen militärischen Einsatz gegen einen Feind, deswegen werde ich jetzt Folgendes tun …« In den Raum gerichtet sagte er: »Sesha?« »Ich höre, Commander«, antwortete die KI unverzüglich. »Öffne einen Bordkanal zu allen bewohnten Bereichen des Schiffes, damit ich jeden erreichen kann.« »Bereit. Du kannst sprechen.« »Achtung, hier spricht der Commander«, begann Cloud. »Wie ihr alle mitbekommen habt, stehen wir vor einer entscheidenden Frage.« Er fasste zur Verdeutlichung die Vorgänge seit dem Sprung nach Andromeda zusammen und forderte dann zur Entscheidung auf: »Wir schreiten nun zur Abstimmung. Erstens: Wer für den Durchgang durch die Portalschleuse ist, soll an einem Terminal den Code ›1‹ eingeben, wer dagegen, den Code ›2‹. Zweitens: Wer dafür ist, dass Prosper Mérimée uns begleitet, gibt Code ›3‹ ein, wer dagegen, Code ›4‹. Bordzeit: 14 Uhr irdischer Zeitrechnung. Ich bitte um Stimmabgabe bis 18 Uhr. Danke.« Nachdem Sesha den Bordkanal geschlossen hatte, lehnte Cloud sich zurück. »Nun heißt es abwarten. Wir werden die Zeit für die weitere Planung und Aufgabenverteilung nutzen.« Doch dazu kam es gar nicht. In weniger als fünfzehn Minuten lag das vollständige Abstimmungsergebnis vor, mit hundert Prozent für »Ja« zu beiden Entscheidungen. »Gut!« Cloud fühlte plötzlich neue Energien in sich. Nun hatten sie ein Ziel, alle standen geschlossen hinter ihm. Es war Zeit zu handeln. »Verschieben wir diese Besprechung auf später und bereiten alles für den Transfer vor. Wir starten in vier Stunden. Wenn etwas ist – ich bin in der Zentrale zu finden.« Er stand auf und nickte allen
Anwesenden zu. »Entschuldigt mich jetzt bitte.« Dann verließ er den Raum.
Cloud blieb nicht lange allein. Er hatte sich kaum in seinem Sarkophagsitz niedergelassen und wollte ihn schließen, als ein flimmerndes Feld neben ihm entstand und sich zu Fontarayns goldenem Körper verdichtete. »Ich komme nicht mit«, erklärte der Gloride ohne Umschweife. Cloud nickte. »Ja, etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Fontarayn führte die Gründe aus: »Ich möchte nicht, dass die Perle unbesetzt ist, wenn der Perlenweiseste die Evakuierung abgeschlossen und sie ebenfalls verlassen hat. Jemand sollte hier bleiben und eure Rückkehr erwarten. Außerdem werde ich nach Informationen forschen.« »Ein guter Vorschlag«, musste der Commander zugeben. »Ich danke dir, dass du diese Aufgabe übernehmen willst.« Fontarayn schwieg, verharrte jedoch. Offenbar war noch nicht alles gesagt. Cloud zögerte, obwohl er allmählich ungeduldig wurde. Aber was hatte er sich vorhin geschworen? Sich um seine Leute zu kümmern. Und irgendwie gehörten die Gloriden nun auch dazu, allen voran Fontarayn, den er immerhin aus dem All gefischt und ihm damit die Existenz gerettet hatte. Natürlich war er weit davon entfernt, freundschaftliche Gefühle zu dem Energiewesen zu hegen; ebenso wenig vertraute er ihm vollends. Aber es hatte sich gezeigt, dass die Gloriden trotz ihrer Macht verletzlich waren und genauso wie Menschen Angst vor einer ungewissen Zukunft hatten. »Da ist noch etwas …?«, ermunterte er Fontarayn, mit der Sprache herauszurücken. Der Gloride nickte langsam. Er hatte sich inzwischen viele menschliche Verhaltensweisen abgeschaut. Cloud merkte, dass es mehr als nur einen Anstoß brauchte, um den Gloriden zum Reden zu bringen. Was beschäftigte ihn derart, dass er es loswerden wollte, aber nicht den Mut dazu aufbrachte? Er
wagte einen Schuss ins Blaue: »Du hast wegen etwas Sorge?« »Angst«, flüsterte Fontarayn. »Ich befürchte, in der Milchstraßenperle lauert wieder eine Falle auf meinesgleichen. So wie damals, als ich zur ersten Erkundung aufgebrochen war …« Cloud erinnerte sich nur zu gut. Während er, Algorian und Jarvis sich, von Halluzinationen und Desorientierung geplagt, durch die Perle CHARDHIN kämpften, war Fontarayn in einer Falle gefangen gewesen, aus der er sich aus eigener Kraft niemals hätte befreien können. Auch ihnen war es nur mit äußerster Kraftanstrengung und dank Jarvis' überragendem Nanokörper gelungen, Fontarayn zu retten. »Ja, es könnte sein, dass in der Zwischenzeit wieder eine Falle installiert wurde«, räumte er ein. »Und dann wahrscheinlich eine Bessere als zuvor. Wer auch immer die erste Falle errichtet hat, hat sicher aus den Fehlern gelernt und eine modifizierte Version eingesetzt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sicher nicht gering.« Er hob rasch die Hand, als Fontarayn zum Sprechen ansetzte: Vermutlich hatte er den Quotienten bereits durchgerechnet. »Es ist nicht von Bedeutung.« »Dieses Risiko möchte ich nicht eingehen«, sagte der Gloride stattdessen. »Schon gut, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.« Cloud winkte ab. »Ich an deiner Stelle würde nicht anders entscheiden.« Er wollte nicht darauf verweisen, dass sie mit einem Führer deutlich besser gefahren wären. Fontarayn hätte sich moralisch vielleicht unter Druck gesetzt gefühlt, und das wollte der Commander vermeiden. Es war tatsächlich besser, wenn der Gloride hier blieb. Als hätte er seine Gedanken gelesen, fuhr Fontarayn fort: »Aber ich lasse euch natürlich nicht ohne Informationen ziehen. Da ich nicht als Lotse dabei sein werde, stelle ich dir wenigstens einen Bauplan der Perle zur Verfügung. Ich habe mit dem Perlenweisesten bereits darüber gesprochen, und er ist einverstanden, diese Daten in Sesha einzuspeichern.« »Das ist eine wertvolle Hilfe!«, sagte Cloud erfreut. »Wann kannst du das tun?« »Ist schon erledigt«, meinte der Gloride. »Du weißt, ich …«
»Ja, natürlich, du kannst dich jederzeit in Sesha einspeisen und sie mani… äh, steuern.« Cloud gefiel dieser Gedanke nach wie vor nicht, aber bisher hatten die Gloriden diese Fähigkeit nicht zum Nachteil der Besatzung ausgeübt. »Wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen, das führt zu weit«, setzte Fontarayn fort. »Ihr werdet bald aufbrechen, und ich will dich nicht zu lange aufhalten. Du wirst keine Schwierigkeiten haben, die Pläne zu lesen. Und du wirst feststellen, dass einige Stellen dunkel markiert sind. Dies sind Bereiche, die auch wir Gloriden nicht betreten können.« »Ach?« Cloud setzte sich interessiert auf. »Euch ist etwas verschlossen?« »Ja. Wir vermuten, dies sind Bereiche der ERBAUER, haben aber keine Erklärung, wieso sie für uns nicht zugänglich sind. Diese Abschnitte befinden sich vor allem im Bereich der oberen Polkappe.« »Hat jede Perle Baupläne der anderen?« »Nein, aber sie sind unserem Kenntnisstand zufolge alle identisch im Aufbau. Insofern sollte euch der Plan dienlich sein.« »Damit sind wir auf alle Fälle besser gerüstet als beim letzten Mal«, bemerkte Cloud. »Wie ist es mit der Desorientierung? Laufen wir wieder Gefahr …« »Nein, wie ich euch schon unterwegs hierher sagte: Ihr seid inzwischen angepasst. Außerdem ist der Durchgang durch die Schleuse ein ganz anderer Vorgang. Ihr werdet es feststellen.« Fontarayn wollte wieder einmal nicht mehr preisgeben. Daran war Cloud schon beinahe gewöhnt, und er hakte nicht weiter nach. Er wusste, dass der Gloride nichts Bedeutendes mehr verraten würde, wenn er einmal so zu formulieren anfing. Warum auch immer er dies tat. »Gut.« Cloud nickte. »Dann danke ich dir und wünsche dir alles Gute, während du hier auf uns wartest. Ich hoffe, wir schaffen den Sprung in diese Zeit zurück. Wobei … vielleicht ist das auch Makulatur, wenn wir unseren Auftrag in der Vergangenheit erledigt haben …« »Ich werde es mitkriegen«, versetzte der Gloride, »und mich entsprechend anpassen. Wir werden uns wiedersehen, Cloud, sei des-
sen gewiss, egal, in welcher Zeit.« Das war ein gutes Schlusswort, auch wenn Cloud einmal mehr himmelangst wurde bei dem Gedanken an das zu erwartende Zeitparadoxon. Aber Fontarayn würde schon wissen, wovon er sprach. Zumindest war dies zu hoffen. Sie verabschiedeten sich auf kurze, höfliche Weise, dann löste der Gloride sich in seine Energieform auf und verließ die RUBIKON.
Cloud unternahm den nächsten Versuch, den Sarkophag zu schließen, als Sarah Cuthbert kam. »Störe ich?« »Aber nein, natürlich nicht.« Selbst schuld, dass er aufgefordert hatte, bei Fragen zu ihm zu kommen. Vielleicht sollte er das nächste Mal präzisieren, wie er das meinte. Sie näherte sich seinem Sitz, die linke Augenbraue leicht hochgezogen. Er merkte ihr an, dass sie sich nichts vormachen ließ, rieb sich das Gesicht und grinste verlegen. Sie ging darüber hinweg. »Was du vorhin angesprochen hast …«, begann sie langsam. Die unkonventionelle Anrede schien ihr noch schwer zu fallen. Cloud konnte es ihr nachfühlen, denn damit war eine Distanzhürde gefallen, die man gerne als Schutz vor sich hertrug. »Das mit der Aufgabenverteilung: War das ernst gemeint?« »Hundertprozentig«, antwortete er, ohne zu zögern. »Ich kann natürlich keinen von euch zum derzeitigen Zeitpunkt zu meinem Stellvertreter machen, wie es Scobee war. Aber ich glaube schon, dass es für jeden von euch eine Möglichkeit gibt, irgendwann seinen Fähigkeiten entsprechend eingesetzt zu werden. Natürlich auf freiwilliger Basis.« Sie nickte. »Das klingt gut.« »Mir ist bewusst, dass jeder ein Ziel braucht oder zumindest etwas, das ihm einen Grund gibt, weiterzumachen. Ich weiß, es ist sehr schwer, Sarah. Vielleicht sollten wir doch zuerst nach einem geeigneten Planeten zur Ansiedlung für euch suchen …« »Nein, nicht jetzt, nicht hier.« Sarah fuhr sich mit einer Hand
durchs Haar. »Das wäre … verfrüht. Aber nichts hindert uns daran, uns nützlich zu machen. Wir sollten uns gegenseitig Halt geben, denn wir sind das Einzige, was wir noch haben.« »So ähnlich habe ich auch gedacht.« Cloud lächelte. »Und Verstärkung kann ich immer brauchen.« Er sah auf die Uhr. »Aber die Details sollten wir …« »Ich verstehe schon, du hast jetzt mit dem Transfer zu tun. Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, worauf ich mich da einlasse.« Sie ging zum Ausgang. »Und auch du solltest das tun, für einen kurzen Moment zwischendurch.« Cloud stutzte. »Wie meinst du das?« »Komm irgendwann zu uns runter«, antwortete sie. Das Deck der Gäste befand sich unterhalb der Kommandozentrale. »Du würdest staunen, was wir inzwischen geschaffen haben. Vielleicht lädt es dich sogar einmal zur Entspannung ein.« Sie hat Recht, ich weiß viel zu wenig, was auf diesem Schiff vor sich geht, dachte Cloud. Er wartete noch zwei Minuten, aber als sich nichts rührte, schloss er endlich den Sitz und entspannte sich. Dann nahm er Kontakt mit Sesha auf.
Zur verabredeten Zeit flog die RUBIKON durch die Portalschleuse, folgte dabei genau den Anweisungen der Gloriden. Cloud war jetzt nicht mehr allein in der Zentrale; seine engsten Vertrauten hatten sich ebenfalls eingefunden: Jarvis, Jiim, Aylea, Jelto, Cy und Algorian. Alle beobachteten intensiv die Holosäule, um nichts zu verpassen. »Eintritt«, verkündete Sesha in diesem Moment. Cloud hielt den Atem an. Die RUBIKON passierte die Portalschleuse. Nichts geschah. »Sind wir schon durch?«, fragte Aylea mit einem Anflug von Enttäuschung. »Hat nicht geklappt, stimmt's?«, fügte Jelto hinzu.
4. Jahr: 2352 Ankunft Die goldene Perle hing im Nichts, das zugleich sehr viel mehr als ein Nichts war. Umwallt von Schlieren und farbenprächtigen Schleiern; alles inzwischen vertraut, doch nicht weniger faszinierend. Matt glänzend, schimmernd, ein gigantisches Wunder der Baukunst – hundert Kilometer Durchmesser, fugenlos glatt. Verankert in einer im Grunde unmöglich scheinenden Dimensionsebene, von deren Existenz nur wenige wussten. Dieser Anblick unterschied sich in nichts von Andromeda. Und doch … Cloud fuhr aus seinem Sitz hoch. »Moment«, sagte er und deutete auf den rechten Ausschnitt des Holos. »Was ist das?« Soeben schob sich etwas ins Bild. »Sieht aus wie ein Kristall«, bemerkte Jarvis. »Genauer gesagt«, meldete sich Sesha zu Wort, »handelt es sich um einen Tetrakishexaeder.« »Als ob ein Würfel und ein Oktaeder zusammengesetzt wären«, brummte Jiim. »Und da, seht mal!« Aylea wippte in ihrem Sitz auf und ab und fuchtelte aufgeregt mit dem Zeigefinger. »Das ist ein Triakisoktaeder. Ich werd verrückt, wie gibt es das …« Die Stimme des Mädchens überschlug sich fast vor Begeisterung. Mit einer Selbstverständlichkeit warf sie Wörter in den Raum, die die anderen nicht einmal auf Anhieb aussprechen konnten: »Deltoidikositetraeder … Pentagondodekaeder … Deltoiddodekaeder … und … wow, die Krönung des Ganzen, eine Hemimorphie-Struktur! Unglaublich!« Sprachlos starrte Cloud das Mädchen an.
Unterdessen füllte sich die Holosäule mit immer mehr dieser merkwürdigen Kristallformen, die die Perle CHARDHIN wie Satelliten umschwirrten. Manche maßen nur wenige Meter im Durchmesser, andere mehrere Kilometer. Aus welchem Material diese Gebilde waren, konnte Sesha offensichtlich nicht analysieren, denn weder korrigierte sie Ayleas Ausführungen, noch fügte sie etwas hinzu. Optisch wirkten viele Gebilde fragil, ähnlich den Fraktalen bei ihrem ersten Ausflug hinter den Horizont; andere aber schienen kompakt und fest zu sein. Allen gemeinsam war ein Schimmer, wie eine Aura oder ein Schutzschirm, der sie umhüllte. Zudem schienen sie von innen heraus in allen möglichen Farben zu glühen. Die Farben der Gebilde wechselten auf ihrem Weg um die Perle, während sie sich zusätzlich um ihre eigene Achse drehten. »Ist was?«, fragte Aylea, als sie Clouds entgeisterten Blick bemerkte. »Na ja … ich meine … was du da von dir gibst …«, stammelte er verstört. Das Mädchen lachte. »Jetzt konnte ich dich endlich mal mit meinem Intellekt beeindrucken, was? Für mich ist das nichts Besonderes. Auf der Schule gehörte die anmutige Geometrie der Kristallstrukturen zu meinem Spezialgebiet.« Sie hob die Schultern. »Bin eben gut in Mathe. Allerdings kann ich dir nicht sagen, was diese Gebilde darstellen sollen, falls das deine nächste Frage wäre. Da musst du schon Sesha fragen.« »Tut mir Leid«, meldete sich die Schiffs-KI prompt. »Ich kann keinerlei Messdaten empfangen. Ich kann weder die Oberfläche scannen, noch in die Tiefe vordringen. Allerdings kann ich zweifelsfrei bestätigen, dass diese Gebilde dort draußen nicht nur optisch, sondern auch physikalisch vorhanden sind.« Die Fraktale letztes Mal waren Auswirkungen des Mediums gewesen, in dem sie sich befanden – Formationen, ähnlich wie Wolken, die sich zusammenfanden und wieder auseinander strebten, nicht von fester Konsistenz und für die Bord-KI nicht messbar. »Dann sind wir also tatsächlich in der Milchstraße angekommen?«, fragte der Commander.
»Allerdings. Ich habe jedoch keinen Anhaltspunkt, festzustellen, in welcher Zeit wir uns befinden. Wenn die Koordinaten richtig eingestellt waren, müssten wir uns jetzt im Jahr 2352 befinden. Aufschluss darüber gibt es erst dann, wenn wir den Ereignishorizont verlassen und in den Normalraum zurückkehren. Anhand der Sternenkonstellationen kann ich dann das Jahr ermitteln.« »Fontarayn sagte ja, dass diese Reise anders verlaufen würde«, meinte Cloud und wischte sich unwillkürlich über die kalte Stirn. »Dieser Übergang war überhaupt nicht spürbar … als hätten wir gar nichts zurückgelegt, außer vielleicht einen Schritt – in übertragenem Sinne natürlich.« »Die Portalschleuse funktioniert nach denselben Prinzipien wie ein Transmitter, nur dass sie zusätzlich die Zeitachse anpeilen kann«, bestätigte Sesha. Aylea legte die Stirn in kritische Falten. »Was gibt dir die Gewissheit, dass es sich um die Milchstraßenperle handelt, Sesha?« »Sie war als Einzige noch anwählbar.« »Oh. Mit anderen Worten, du weißt es nicht sicher. Wir könnten in jeder anderen Galaxie herausgekommen sein.« »Es ist die logische Schlussfolgerung.« »Kein Beweis«, machte Aylea deutlich und blickte Cloud fest an. »Fonti hätte doch lieber mitkommen sollen.« Daran hatte der Commander auch gedacht. Obwohl er bezweifelte, dass Fontarayn in der Lage gewesen wäre, eine Perle von der anderen zu unterscheiden, weil sie alle baugleich waren und im selben Medium verankert. Es hätte also vermutlich nicht zur Beruhigung beigetragen, wenn der Gloride versichert hätte, dass alles nach Plan geklappt habe. Weil es nicht das erste Mal war, dass sich seine Zuversicht als Irrtum herausgestellt hatte. »Eines ist deutlich«, fasste er zusammen. »Wir befinden uns nicht mehr in Andromeda. Und wenn wir uns in der Milchstraße befinden sollten, dann jedenfalls in einer anderen Zeit, denn diese Gebilde gab es damals bei unserem ersten Besuch noch nicht.« Er fixierte die Holosäule. »Sesha, wie viele von den Objekten sind dort draußen?«
»Mindestens einhunderttausend«, gab die KI Auskunft. »Ihre Zahl variiert, offensichtlich kann ich nicht gleichzeitig alle erfassen.« Zwischendurch gab es auch immer wieder Lücken, wo optisch überhaupt keines der Objekte zu sehen war; wenngleich auch nur für kurze Zeit. »Wir fliegen näher heran«, befahl Cloud. »So dicht wie möglich.« Er schaute seine Freunde der Reihe nach an. »Mal sehen, ob wir von irgendjemandem bemerkt werden.«
Es tat sich rein gar nichts. Die Objekte umschwirrten die Perle weiter, wichen allerdings der RUBIKON aus. Auch bei näherem Hinsehen, in der Vergrößerung, war nicht ersichtlich, ob es sich um Raumschiffe, Stationen oder Sonden handelte. Zwischen der Perle und den Gebilden war kein energetischer Fluss messbar, keine Verbindung, nichts. »Das ist alles schon reichlich merkwürdig«, stellte Algorian, der spindeldürre Aorii, fest. »Ich kann übrigens mit meinen paramentalen Sinnen nichts empfangen, falls es jemanden interessiert.« Cloud fiel daraufhin siedend heiß etwas ein. »Algorian, wir haben vergessen, dich –« Der Aorii-Zweitling winkte ab. »Keine Sorge, John. Diesmal geschieht mir nichts. Die Stürme, die mir damals so zu schaffen gemacht haben, sind nicht mehr da. Es ist alles still und friedlich. Windstill, könnte man sagen.« »Sesha, kannst du ebenfalls keine energetischen Entladungen auf 5-D-Basis empfangen?« »Negativ, Commander.« Cloud rieb sich grübelnd das Kinn. »Vielleicht ist das der Grund, weswegen die Station wieder anwählbar ist.« »Also, wenn ihr mich fragt: Ich habe so den Eindruck, als hätten die Gloriden gar nichts im Griff. Seit Jahrmillionen waren sie zwar mit der Wartung der Perlen beschäftigt, aber das ist auch schon alles.« Algorian stach mit seinem Spinnenfinger Löcher in die Luft, wohl zur Verdeutlichung. »Oder habt ihr eine bessere Erklärung,
dass wir nie Antworten bekommen und sich immer noch mehr Rätsel auftun?« Cy bewegte seine Knospenarme. »Vielleicht sind sie nicht so ausgelegt«, raschelte er. »Du meinst, sie sind nur für diesen einen Zweck erschaffen oder gezüchtet worden, wie die Virgh?« Jelto starrte ihn aus leuchtend grünen Augen an. »Oder … wie ich?« Cloud tippte mit dem Zeigefinger auf die Armlehne. »Durchaus möglich. Dass ihnen dies nicht bewusst ist, halte ich nicht für unwahrscheinlich. Immerhin haben sie keine Kenntnis, wer die ERBAUER der Perlen sind. In den Perlen gibt es für Gloriden unzugängliche Bereiche. Und sie können sich nicht mehr erinnern, wann und warum sie mit ihrer Arbeit begonnen haben – und was sie vorher taten.« »Nicht zu vergessen, dass sie es in all den Jahrmillionen nicht geschafft haben, in die verbotenen Bereiche vorzudringen«, ergänzte Aylea. »Im Vergleich zu uns sind die Gloriden sehr mächtige Geschöpfe, auf deren Goodwill wir angewiesen sind. Aber sie haben sich wohl in der ganzen Zeit nicht weiterentwickelt, sondern sind in der Evolution stehen geblieben.« »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Jiim düster. »Ich glaube, wir kratzen da an der Oberfläche von etwas, dessen Ausmaße wir nicht einmal ansatzweise erfassen können.« »Deswegen«, sagte Cloud laut und deutlich, »werden wir uns jetzt auf unseren Plan konzentrieren, Anhaltspunkte für den Krieg der Satoga in Andromeda zu finden, herauszubekommen, was in der Zwischenzeit hier in der Milchstraße geschehen ist, und irgendwie dafür sorgen, dass wir Scobee wieder irgendwann auflesen und alle zusammen in die richtige Zeit zurückkehren können.« »… ohne uns dabei zwei- bis achtmal zu begegnen«, fügte Aylea mit einem frechen, breiten Grinsen an, was den Ernst der Situation zwar nicht milderte, aber wenigstens die Spannung ein wenig lockerte. Aber was rede ich denn da, schoss es Cloud durch den Kopf. »Richtige Zeit«, was für ein Unsinn! Wenn wir jetzt in der von unserem neuen
Ansatzpunkt aus betrachteten Vergangenheit herumpfuschen, können wir überhaupt nicht mehr in unsere ursprüngliche Zeit zurück. Denn dann beginnt ja alles noch einmal von vorn, oder? Wir können nicht ständig hin und her, wie es uns beliebt. Und wie Aylea es richtig bemerkt hat: Wir dürfen uns keinesfalls selbst begegnen. Das heißt, wir werden uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, die zweihundert Jahre für immer verloren zu haben. Ich bin sicher, die anderen haben längst dieselben Gedankengänge gehabt wie ich – und sie ganz schnell von sich geschoben. So, wie ich es jetzt auch tue … Nicht nachdenken, handeln. Was bleibt uns anderes übrig? Cloud überließ Sesha die Steuerung der RUBIKON, schloss aber seinen Sarkophag, um »hautnah« mitzuerleben, wie sie sich der Perle CHARDHIN näherten. Die KI schien Fontarayns letztes Andockmanöver noch im Speicher zu haben, denn sie nahm Kurs auf die obere Polkappe und bremste dann stark ab. Die umherfliegenden Objekte nahmen weiterhin keine Notiz von ihnen. Cloud spürte, dass Sesha einen kurzen Impuls abstrahlte. Gleich darauf kam Bewegung in das Gold, als ob es abfließen würde. Und schon konnte das Rochenschiff an den Andockklammern festmachen. Cloud gab über den Bordkanal das erfolgreiche Manöver durch und erläuterte die geplante Vorgehensweise. Zuerst wollten sie sich die Baupläne ansehen und dann auf Erkundung gehen. Sarah Cuthbert und Prosper Mérimée wurden eingeladen, sich die Pläne mit anzusehen. Die beiden kamen dem Vorschlag unverzüglich nach und erschienen in der Zentrale. Der ehemalige Zirkusdirektor wirkte sehr erleichtert, dass alles so glatt gegangen war und es zu keiner weiteren Katastrophe gekommen war. »Aber das wissen wir doch gar nicht.« Jelto konnte es nicht lassen, den Mann auf den Arm zu nehmen. »Möglicherweise hat es uns um ein paar tausend Jahre in die Zukunft geschleudert – das können wir nämlich nicht feststellen, weil wir keine Fixpunkte haben.« Als Prosper erbleichte, klopfte der Pflanzenhüter ihm lachend auf
die Schulter. »Keine Sorge, es ist alles in Ordnung! Ich konnte wieder mal den Mund nicht halten. Aber sei versichert, von Technik verstehen die Gloriden was. Wenn sie sagen, dass sie die Schleuse auf 100 Jahre zurück eingestellt haben, dann ist das auch so.« »Fein«, flüsterte der ehemalige Zirkusdirektor, und seine Nasenspitze zitterte. Er fand Jeltos Scherz wohl nicht besonders lustig. Auch Cloud fühlte ein eisiges Kribbeln in seinen Nackenwirbeln; er fand Jeltos Bemerkung ebenfalls keineswegs so witzig, wie er sie gemeint hatte. Denn – was wäre, wenn …? Lieber nicht darüber nachdenken, entschied er ein zweites Mal in dieser Stunde. Auf das Wesentliche konzentrieren. Sesha projizierte derweil in die Holosäule den eingespeicherten Bauplan. Es war tatsächlich nicht schwer, sich zurechtzufinden. Die Perle war strukturiert aufgebaut, Deck für Deck. Aufzugschächte und zu Fuß erreichbare Zugänge waren deutlich abgegrenzt. Wie schon beim letzten Besuch festgestellt, gab es mehrere Zentralschächte, mit denen man die gesamte Perle vertikal und auch horizontal durchqueren konnte. Der Antigravlift, den die drei Kundschafter damals gefunden hatten, hatte eine aktive Steuertafel besessen, deren Symbolik Cloud, Jarvis und Algorian geholfen hatte, sich zurechtzufinden. Wie von Fontarayn bereits angekündigt, waren nicht zugängliche Bereiche dunkel eingefärbt und mit einem Symbol versehen, das eine Warnung ausdrücken sollte. Sie verteilten sich über die ganze Perle; die meisten waren aber im oberen Polkappensegment zu finden und nahmen dort große Bereiche ein. Cloud betrachtete den Plan einige Minuten lang schweigend; auch die anderen äußerten sich nicht. Schließlich sagte er: »Irgendetwas muss damals vorgefallen sein, denn der Innenbereich«, er deutete auf einen der vier großen Kernschächte, die sich ohne Abzweigungen von Pol zu Pol zogen, »wies damals einige Beschädigungen auf. Den Abständen nach zu urteilen hätten wir auf diesen Schacht hier treffen müssen.« »Es ist erstaunlich, wie viele Leerräume es da drin gibt«, bemerkte
die Ex-Präsidentin. »Wäre es nicht sinnvoller gewesen, diese Bereiche auszusparen und die Perle kleiner anzulegen?« »Dort gibt es mechanische Müllvögel«, erinnerte sich Algorian lebhaft. »Und noch andere seltsame Dinge oder Wesen. Es ist wie eine Welt, die irgendwann eine Eigendynamik entwickelt und ihre ökologischen Nischen besetzt, ob es auf Beobachter sinnvoll erscheinen mag oder nicht. Ich glaube, das ist hier auch so. Vielleicht hat es einmal wichtige Arbeitsstätten in diesem Bereich gegeben, doch im Lauf der Zeit sind sie eben verfallen oder abgebaut worden.« Die Ex-Präsidentin nickte. »Es fällt mir schwer, in diesen zeitlichen Dimensionen zu denken. Und vor allem zu begreifen, dass diese Perlen permanent sein sollen.« »Die Gloriden sind es jedenfalls nicht«, versetzte Cloud. »Nach wie vor ist diese Perle völlig verlassen – so, wie es auch in Andromeda bald der Fall sein wird. Andernfalls hätten wir schon längst Besuch bekommen.« Er stand auf und ging einmal um die Holosäule herum. Er deckte den oberen Polbereich mit der Handfläche ab. »Dies ist unser Einsatzgebiet. Hier befindet sich die Zentrale, wo wir uns umsehen werden. Anschließend werden wir nachschauen, was es mit diesen Sperrgebieten auf sich hat.« Er nickte Jarvis zu. »Wir zwei werden die Erkundung übernehmen. Den Bauplan sollten wir beide abspeichern, ich in meinem Anzug und du in deinen kleinen schlauen Nanoteilchen.« Jarvis nickte. »Ich bin bereit.« Wie Cloud erwartet hatte, hagelte von allen Seiten Protest auf ihn ein. »Warum gerade ihr?« – »Wir können das ebenso gut tun! Der Plan ist idiotensicher!« – »Ich möchte auch mal in so ein Ding!« Und noch so einiges mehr. Der Commander hob die Hände. »Wir beide werden deswegen gehen, weil wir schon einmal innerhalb der Station waren –« »Ich auch!«, unterbrach Algorian empört. »Ein Telepath kann euch von großem Nutzen sein! Immerhin habe ich euch letztes Mal zu Fontarayns Falle geführt!« »Eben deswegen bleibst du diesmal zum Schutz der Besatzung
hier«, antwortete Cloud mild. »Du wirst die Wache in der Zentrale hier übernehmen. Sesha, du wirst mit Algorian zusammenarbeiten.« »Verstanden, Commander.« »Du gibst mir das Kommando?«, fragte Algorian verblüfft. Cloud grinste. »Nicht ganz.« Sein Blick richtete sich auf Sarah Cuthbert. »Du wirst Algorian und Sesha unterstützen und notfalls Entscheidungen treffen.« Er drückte es nicht als Frage aus. Auch nicht als Bitte. Die Ex-Präsidentin war nicht minder überrascht als alle anderen. »Du hast betont, dass ich kein Militär bin, John.« »Du warst Präsidentin, Sarah. Ich vertraue deinen intuitiven Fähigkeiten, die dich neben anderen Qualifikationen in das Amt gebracht haben.« »Ich möchte dennoch meinen Protest zu Protokoll geben, dass ich es für keine kluge Entscheidung halte, dass der Commander selbst zur Erkundung mit ungewissem Ausgang aufbricht.« »Hinweis gehört und gespeichert. Trotzdem werden wir so verfahren.« Sarah hob eine Braue in der für sie unverwechselbaren Weise. »So viel verstehe ich vom Militär, dass dies unüblich ist. Denke noch einmal darüber nach, John.« »Das tut der doch nie!«, platzte Aylea heraus. »John ist immer der Erste, außer wenn Scobee sich durchsetzen kann. Aber sie ist nicht da, und da kann ihn nichts und niemand hindern zu gehen.« »Danke, Aylea«, bemerkte der Commander. »Um die Diskussion abzukürzen: Ich werde gehen. Unanfechtbare Entscheidung des Commanders. Haben wir uns alle verstanden?« Damit mussten sich die anderen notgedrungen abfinden. Lediglich Algorian beschwerte sich weiterhin bitterlich, dass er nicht mitdurfte. Doch letztendlich fügte auch er sich. »Wie halten wir Kontakt?«, erkundigte sich Sarah. »Wahrscheinlich wird die Verbindung abbrechen, sobald wir drin sind«, antwortete Cloud. »Leider werdet ihr dann hier im Ungewissen bleiben müssen, bis wir zurückkehren.« »Dann müssen wir eine Frist bestimmen.«
Cloud lächelte insgeheim. Er hatte Sarah genau richtig eingeschätzt. Sie stellte sich sofort den Anforderungen und ging mit kühlem Kopf an die Arbeit. Sie war genau die Richtige für den Job, auch wenn sie nichts von der Schiffsführung an sich verstand. Aber das brauchte sie auch nicht, sie hatte dafür Sesha und Algorian. Der Rest war nichts anderes als Politik. »Wenn ihr gestattet, würde ich trotzdem gern mitkommen«, begann Jiim auf einmal wieder. »Bei den großen Leerräumen dort drin könnt ihr einen Geflügelten bestimmt gut brauchen.« Cloud zögerte tatsächlich einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich will das Risiko so gering wie möglich halten. Bleibe du mit Algorian in der Reserve, Jiim, falls ihr zu unserer Rettung aufbrechen müsst.« Die ehemalige Präsidentin nickte. Ausnahmsweise stimmte sie zu. »Unbedingt. Ich werde hier keinesfalls auf alle verzichten.« Sie blickte Cloud auffordernd an. »Was ist jetzt mit dem Uhrenvergleich?« »Ich kann nicht versprechen, dass der Zeitmesser dort drin korrekt funktioniert«, sagte der Commander. »Letztes Mal spielte alles verrückt.« »Wie steht's mit dir?« Sarah Cuthbert wandte sich an Jarvis. »Befindet sich in deinem fabelhaften Körper nicht auch so etwas wie eine innere Uhr?« Der ehemalige Klon, dessen Bewusstsein sich nun in der von ihm neu strukturierten ehemaligen Rüstung des verstorbenen Foronenführers Mont verankert hatte, nickte. Sein aus Nanoteilchen gebildetes Gesicht wirkte überrascht. Jarvis wurde immer mehr zu sichtbaren menschlichen Regungen fähig, je länger er darin steckte und lernte, die neue Hülle zu handhaben. Er schien zusehends zu vergessen, dass er einst einen Körper aus Fleisch und Blut besessen hatte. Was sicherlich das Beste für ihn war. »Ja, so ungefähr kann ich die Zeit abschätzen«, gab der ehemalige GenTec zu. »Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es nicht an«, erwiderte Sarah. »Aber wir müssen wissen, ab wann wir einschrei-
ten müssen, das ist entscheidend.« Cloud musste ihr Recht geben. »Wir haben das letzte Mal ziemlich lange gebraucht. Sagen wir, acht Stunden ab dem Zeitpunkt, wenn wir drin sind und der Kontakt abgebrochen ist.« Sarah blies kurz ihre Lippen auf. »Das wird harte Disziplin erfordern.« »Die Perle hat hundert Kilometer Durchmesser«, gab Cloud zu bedenken. »Eine verhältnismäßig kurze Zeit, die ich nur deswegen akzeptiere, weil wir uns ausschließlich auf den oberen Bereich beschränken wollen und die Karte nutzen können. Ansonsten hätte ich mindestens drei Tage vorgeschlagen.« »Acht Stunden«, sagte Sarah bestimmt. Er wies mit einladender Geste auf seinen Sitz. »Er gehört dir für die Dauer meiner Abwesenheit.« »Mal sehen, ob ich ihn brauche«, meinte sie ausweichend. Der foronische Sarkophag schien ihr nicht geheuer zu sein. »Gewöhne dich besser daran«, meinte er leichthin. »Es wird ab sofort sicher öfter vorkommen, dass du mich vertreten musst.« Da lächelte Sarah zum ersten Mal. »Erst einmal muss ich das in mich gesetzte Vertrauen rechtfertigen. Dann sehen wir weiter.«
Wie schon einmal stapften Cloud und Jarvis über die fugenlose Oberfläche der CHARDHIN-Perle. Laut Plan gab es tatsächlich von außen keinen Öffnungsmechanismus, um ins Innere zu gelangen. Kein Wunder: Die Gloriden brauchten keine Türen, Schotte oder Schleusen. Sie sickerten in ihrer Energieform einfach durch alles hindurch. Lediglich für die Schiffe in den Hangars konnten Schleusen geöffnet werden, aber nicht von außen. Dass die Perle dereinst unbesetzt sein und nicht von innen geöffnet würde, damit hätten die Gloriden wohl nie gerechnet. »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben«, meinte Jarvis, »als es wieder genau so wie beim letzten Mal zu machen.« Cloud war das auch schon klar geworden. Aber ihm behagte die Vorstellung ganz und gar nicht.
Jarvis war damals »diffundiert«, wie er es genannt hatte. Ähnlich wie die goldenen Energiewesen hatte er sich aufgelöst und war durch die Hülle ins Innere der Perle gesickert. Und nicht nur das: Er hatte nacheinander Algorian und Cloud bei dieser Prozedur mitgenommen … »Ich weiß, das gefällt dir nicht«, fuhr der ehemalige GenTec fort. »Aber welche Wahl haben wir denn? Wir können keine Öffnung hineinbrennen. Das Material ist mit unseren Mitteln nicht angreifbar. Wir haben es ja noch nicht einmal analysieren können.« »Ist mir schon klar«, brummte Cloud. »Aber ich habe gehofft, dass sich einiges geändert hat; immerhin schwirren jetzt haufenweise kristallartige Dinger um uns herum. Da habe ich gedacht, dass es vielleicht neue Besitzer gibt, die genauso wie wir die Türklinke runterdrücken müssen.« »Ich probiere es erst mal allein, um die Lage innen zu sondieren. Dann hole ich dich nach.« Cloud runzelte die Stirn. »Ich gebe dir zwei Minuten. Also keine ausführlichen Erkundungstouren, verstanden?« Er war sich bewusst, dass eine Menge Augen in der RUBIKON jetzt auf ihnen ruhten. Aylea und die anderen machten sich bestimmt eine Menge Sorgen, denn sie erinnerten sich schließlich noch gut daran, was letztes Mal hier alles geschehen war. Sarah Cuthbert und der Rest der Truppe erlebten den Besuch in der Milchstraßenperle zum ersten Mal an vorderster Front mit. Zusätzlich hatte Sarah die Verantwortung übertragen bekommen. Cloud konnte sich vorstellen, was in der Frau vorging; er wollte nicht an ihrer Stelle sein. Er hatte sie sprichwörtlich ins kalte Wasser geworfen, ohne Vorbereitung. Nun erlebte sie das Weltraumabenteuer live mit, nicht via Holoübertragung in ihrer Unterkunft. »Natürlich, ich bin schließlich Profi.« Jarvis ging ein wenig abseits, und Cloud verhielt sich ruhig, um ihn in seiner Konzentration nicht zu stören. Schließlich zerlief Jarvis zur Pfütze – jedes Mal ein äußerst irritierender Anblick –, und Cloud wartete darauf, dass er durch die Außenhülle sickerte und verschwand.
Laut Plan befanden sie sich an dieser Stelle in der Nähe eines Antigravlifts, von dem aus sie direkt zur Zentrale gelangen konnten. In der Nähe der Zentrale lag der Bereich des Perlenweisesten, gleich neben der Sperrzone. Das war ihr Ziel. Cloud blickte auf die Uhr. Fünf Minuten waren vergangen, und Jarvis lag immer noch als unregelmäßige, flache Pfütze auf der goldenen Oberfläche. Zwei weitere Minuten vergingen. Genug, entschied der Commander. »Jarvis, ist alles in Ordnung mit dir?« »Bestens«, lautete die kurz angebundene Antwort. Der Voice-Modulator gab eine leichte Gereiztheit wieder. Cloud verharrte zehn Sekunden in höflicher Geduld. Dann drängte er: »Und?« »Nichts und.« »Jarvis!« »Es klappt nicht, okay? Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du ständig nervös auf und ab rennst und mich mit Kommentaren nervst!« Cloud stand kurz davor zu explodieren, aber er blieb ruhig. Immerhin hatte er seinen Funk auf Empfang geschaltet, sodass jeder mithören konnte. Das ersparte langwierige Wiederholungen und Berichte. »Jarvis«, sagte er freundlich, »warum gibst du nicht einfach zu, dass du es nicht schaffst?« Der Nanokörper zog sich zusammen und richtete sich auf. Zuerst bildeten sich Arme und Beine, dann der Kopf, das Gesicht, erkennbar als Jarvis – oder vielmehr wie eine Maske von ihm. »Ich schaffe es nicht.« »Und warum nicht?« Cloud hob die Hände, als er sah, dass Jarvis' Körper sich leicht in die Länge zog, ein Zeichen deutlicher Erregung. »Schon gut, es war kein Vorwurf! Ich möchte nur wissen, ob du den Grund dafür kennst.« »Nein.« Jarvis klang ziemlich übellaunig. »Ich habe alles versucht, John! Zuerst dachte ich, ich hab's verlernt. Aber ich habe alles richtig gemacht. Dann versuchte ich es mit verschiedenen Entspannungsübungen. Ich konnte das Innere schon fast sehen – aber ich komme
einfach nicht durch. Ich weiß nicht, wieso.« Cloud drehte sich zur wartenden RUBIKON und winkte. »Habt ihr das alle mitbekommen?« »Klar und deutlich«, drang Sarah Cuthberts Stimme gedämpft in sein Ohr. »Was nun?« »Ich bin ratlos«, gestand Cloud. »Wie wir alle«, bemerkte die Ex-Präsidentin. »Algorian läuft wie von der Tarantel gestochen herum und grübelt, woran es liegen kann. Aber er ist sicher, dass Jarvis alles richtig macht – also alles genau so wie beim letzten Mal.« »Eine Möglichkeit haben wir noch«, meldete sich der ehemalige GenTec wieder zu Wort. Cloud wusste sofort, worauf er ansprach. »Nein.« »Rede keinen Unsinn, John, du weißt ganz genau, dass wir nichts anderes tun können.« Jarvis hob seine Arme. »Sollen wir unverrichteter Dinge wieder abziehen?« Cloud nickte. »Ja, darüber denke ich gerade nach. Fontarayn hat behauptet, dass wir, wenn wir jetzt durch die Portalschleuse wieder zurückfliegen, automatisch wieder in der Zeit unseres Aufbruchs und in Andromeda landen. Eine Einstellung von hier aus ist nicht notwendig. Sozusagen ein Return-Ticket, das wir gelöst haben.« »Und dann?« »Dann können wir Fontarayn in seinen Bemühungen leider nicht unterstützen. Die Satoga haben gesiegt, die Gloriden verlassen ihre Perle, und wir werden Scobees Spur in die Milchstraße folgen. Dort wird es genug für uns zu tun geben. Denk nur an die Treymor und daran, was die in zweihundert Jährchen alles angestellt haben können.« Jarvis schüttelte langsam den Kopf. »Und dann wäre das hier völlig umsonst gewesen? Dann hätten wir gleich alle zusammen in die Milchstraße fliegen können! Nein, wir haben es begonnen, und es gibt noch einen Ausweg – genau den werden wir jetzt nehmen.« »Jarvis«, sagte Cloud eindringlich, »hier in diesem Medium gelten nicht die gewohnten Naturgesetze. Möglicherweise funktioniert es nur einfach nicht, so wie dein Diffundieren. Sehr viel höher aber
schätze ich das Risiko ein, dass etwas gefährlich und lebensbedrohlich schief geht.« »Würde uns bitte einer von euch erklären, wovon ihr sprecht?«, erklang Sarahs Stimme streng in den Empfängern. »Jarvis kann teleportieren«, antwortete Cloud. »Er kann was?« »Der Anzug ermöglicht es ihm. Wirklich ein phänomenales Teil.« »Verstehe. Und wenn er es hier unter dem Ereignishorizont versucht …« »Wir befinden uns außerhalb des Einstein'schen Raums«, verdeutlichte Cloud. »Der Sprung wird mit ziemlicher Sicherheit fehlschlagen. Jarvis könnte in einer Wand herauskommen. Oder in einer Maschine. Oder …« »Danke, ich kann es mir vorstellen!«, unterbrach Sarah Cuthbert hastig. »Ich werde es nicht zulassen, dass Jarvis sich nur wegen einer Erkundung, über deren erfolgreichen Ausgang wir noch nicht einmal sicher sein können, umbringt – und zwar endgültig.« »Du hast gar keine andere Wahl, John«, sprach Jarvis dazwischen. »Sei doch vernünftig.« Cloud dachte nach. »Ich bin dagegen, das Leben eines Besatzungsmitglieds derart leichtfertig aufs Spiel zu setzen«, erklärte Sarah Cuthbert. »Andererseits gilt es natürlich zu berücksichtigen, dass Jarvis mit seinem neuen Körper bereits erstaunliche Leistungen vollbracht hat. Wir wissen nicht genug über die foronische Nanotechnologie, um den Erfolg eines Teleportationsversuchs unter den herrschenden Bedingungen kategorisch ausschließen zu können.« »Und außerdem ist es mein Job, Risiken einzugehen«, pflichtete Jarvis bei. »Dafür wurde ich gezüchtet. Und ich finde, wir sollten unser Vorhaben weiterverfolgen. Wir müssen einfach mehr über die Perlen und ihre Erbauer herauskriegen, denn ich glaube, wir sehen uns einer Bedrohung gegenüber, die sich nicht nur auf eine Galaxie beschränkt. Immerhin können die anderen Perlen nicht mehr angewählt werden.«
»Siehst du das auch so, Sarah?«, fragte Cloud. »Algorian, Jiim, Cy, Jelto? Prosper, Aylea?« Die Gefährten stimmten zu. Schließlich sagte Jiim stellvertretend für alle: »Wir sollten an diesem Punkt nicht aufgeben. Es kann kein Zufall sein, dass wir so unmittelbar in diese Ereignisse verstrickt wurden. Also müssen wir auch alle Möglichkeiten ausschöpfen.« »Du stehst allein, John.« Jarvis klang seltsam vergnügt. »Nein.« Cloud schüttelte den Kopf. »Wenn dieses Risiko eingegangen wird, dann von uns beiden. Keinesfalls werde ich erlauben, dass du allein gehst.« »Ich sollte zuerst einen Testsprung unternehmen!«, widersprach Jarvis entrüstet. »Ich bin Kanonenfutter, du aber der Commander!« »Mit viel Verantwortung, ich weiß.« Auch von der RUBIKON kamen Proteste: So habe man nicht abgestimmt! »Wir haben vielleicht nur diesen einen Sprung«, erklärte der Commander ruhig. »Und Jarvis sollte auf keinen Fall allein da reingehen. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, wie gefährlich das ist – tödlich, um es genau zu sagen. Wir werden reinspringen, direkt zum Ziel, uns umsehen und wieder zurückteleportieren.« »Dann braucht ihr vielleicht keine acht Stunden?«, wollte Sarah hoffnungsvoll wissen. »Ich bin geneigt, auf mindestens zehn Stunden zu erweitern«, versetzte Cloud. »Dort drin erwarten uns Schwierigkeiten, wahrscheinlich nicht zu knapp. Wenn wir schon daran scheitern, auf vergleichsweise normalem Weg ins Innere zu gelangen …« »Das sollte mich eigentlich veranlassen, meine Meinung zu ändern«, kam es prompt aus dem Empfänger. Cloud hatte fast erwartet, dass Jarvis einfach springen würde. Aber das wagte er denn doch nicht. Dein Glück, dachte er grimmig. Jedoch versuchte er es mit Überredung. »John, ich weiß, es gelten nur noch die Vorschriften, die wir aufstellen – aber sei nicht unvernünftig, ich kann es nur wiederholen. Es ist meine Aufgabe, nicht
deine.« »Jarvis, ich lasse nicht mit mir reden«, erwiderte Cloud. »Wir müssen beide gemeinsam und gleichzeitig rein. Ich habe noch sehr gut im Gedächtnis, was letztes Mal geschehen ist. Und diesmal wird es noch weniger ein Spaziergang, sondern weitaus gefährlicher. Das ist eine Schlussfolgerung, die ich aus allen bisherigen Ereignissen ziehe.« Er deutete auf die kreisenden Objekte. »Es scheint so, als ob sie uns ignorieren. Aber das wissen wir nicht, weil unsere Messgeräte diesem Medium nicht angepasst sind. Möglicherweise agieren sie längst gegen uns, nur auf einer Ebene, wo wir es nicht so schnell merken. Vielleicht hindern sie dich auch am Diffundieren, Jarvis. Wie auch immer: Verlieren wir keine Zeit.« »Aber …« »Jarvis, ich sage es jetzt zum letzten Mal: Dies ist ein Befehl. Willst du dich dem widersetzen? Ihn auch nur in Frage stellen?« Jarvis wurde ein wenig kleiner. »Nein.« »Gut.« Cloud atmete durch. »Sarah, wahrscheinlich werden wir jetzt den Kontakt verlieren, bis wir wieder an die Oberfläche zurückgekehrt sind. Haltet die Ohren steif, werdet nicht nervös, wartet die abgesprochene Zeit ab und unternehmt vorher nichts. Sollte euch Gefahr drohen, werdet ihr augenblicklich starten und durch die Portalschleuse zurückspringen. Dies ist ein ausdrücklicher und unmissverständlicher, nicht auszulegender oder zu dehnender Befehl. Schiff und verbleibende Besatzung gehen vor. Haben wir uns verstanden?« Sarah Cuthberts Seufzen war deutlich zu hören. »Ja, John.« »Ich verlasse mich auf dich. Auf euch alle.« »Das kannst du. Aber ebenso verlassen wir uns auf dich, dass du keine unnötigen Risiken eingehst.« »Dafür bin ich ja da«, meinte Jarvis beinahe gut gelaunt. Er ging auf Cloud zu. »Gib mir deine Hand.« »Passt auf euch auf«, schloss Cloud. »Ich meine es ernst. Wir sehen uns bald wieder.« Er checkte noch einmal alle Anzugsysteme auf Funktionsfähigkeit und gab Jarvis seine Hand.
Gleich darauf verspürte er ein unangenehmes Ziehen, als würde er über Gebühr in die Länge gedehnt, und dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Cloud wusste ein wenig Bescheid über Teleportsprünge. Es war nicht der erste seines Lebens. Er ging also davon aus, dass es so schnell ablaufen würde, dass er davon so gut wie nichts mitbekam, höchstens im Nachhinein. Dass ihm beispielsweise übel wurde, er für einen kurzen Moment desorientiert war, aus dem Gleichgewicht gebracht. So etwas in der Art war zu erwarten. Aber diese absolute Dunkelheit hielt bereits mindestens zwei Sekunden an, und der Entzerrungsschmerz hörte einfach nicht auf. Cloud hatte das Gefühl, »nicht ganz da« zu sein. Er wusste, dass er nicht mehr stofflich war, dass er sich gleichzeitig an mehreren Orten befand, ohne wirklich irgendwo zu sein. Verschoben zwischen den Realitäten. Er glaubte, den Mund zu öffnen. Sein Bewusstsein gaukelte es ihm vor, obwohl er weder Mund noch Stimmbänder, geschweige denn Luft für eine Lautübertragung hatte. Trotzdem hörte er jemanden schreien. In höchster Not und Qual. Verdammt, dachte er, und es war sein letzter Gedanke vor dem großen Nichts, da ist doch wohl was gewaltig daneben gegangen …!
5. »Heute«: 2453 Schiff der Jay'nac Also dann, dachte Scobee, während sie sich auf dem Platz in der Aussichtskanzel niederließ, auf in die Milchstraße. Durch das Wurmloch, das die Felorer hüten wie ein Drache seinen Schatz. Sie hatte gefragt, ob das Schiff über so etwas wie ein Aussichtsdeck verfüge. Tormeister Felvert, der absonderlich aussehende Felorer, der wie aus ineinander verzahnten Achten zusammengefügt wirkte, hatte dies bejaht: Eine Art Kanzel, mit ein paar Sitzgelegenheiten, einem echten und einem Holofenster nebeneinander. Das Holofenster war frei programmierbar, welche Aussicht man wünschte, ob Unterteilungen oder nicht, ob Datenanzeige an den Seiten oder nicht. Eine praktische Sache, die zeigte, dass die Felorer so ganz gleichgültig nicht waren. Eben doch Wesen aus Fleisch und Blut. Anders als die Jay'nac, die Anorganischen. Scobee hatte bisher nicht herausgefunden, in welchem Verhältnis die beiden Völker genau zueinander standen. Die Felorer waren kein Gezücht und sehr fremdartig, was aber nicht allein an ihrem bizarren Aussehen lag. Eine Ausstrahlung ging von ihnen aus, die Scobee irritierte und sie unwillkürlich in Abwehrhaltung drängte, auch wenn ihr Verstand sich dagegen sträubte. Felorer und Jay'nac hatten gemeinsam einen gestrandeten HAKAR im Leerraum zwischen den beiden Galaxien Andromeda und Milchstraße verankert und in der Nähe ein kleines Wurmloch erschaffen, das sie als Transportmittel nutzten. Viel mehr war Felvert und Porlac bisher nicht zu entlocken gewesen. Ja, richtig, Porlac. Es war genau der Anorganische, der entschei-
dend bei den Friedensverhandlungen mitgewirkt hatte. Das unerwartete Wiedersehen hatte auf beiden Seiten Überraschung ausgelöst. Umso mehr bei Scobee, denn Porlac wirkte geistig verwirrt, was kaum an den zweihundert Jahren Zeitunterschied seit der letzten Begegnung liegen konnte. Scobee hatte es momentan aufgegeben, weitere Informationen erhalten zu wollen. Sie hatte auf dem Flug durch das Wurmloch genug nachzudenken. Warum Felvert sie in die Milchstraße bringen wollte, wo alles im Sterben lag, war der GenTec ebenso wenig bekannt. Er wollte ihr etwas zeigen – und auch Siroona, die ebenfalls mit von der Partie war. Ja, diese Reise hatte sich zu einer einzigen Überraschung entwickelt. Denn die Hohe aus dem foronischen Septemvirat hatte rund zweihundert Jahre in Stasis zugebracht, in der Erwartung, eines Tages von ihrem aus Andromeda zurückkehrenden Partner Sobek befreit zu werden. Die zweihundert Jahre hatten ihr aber nicht gut getan – Siroona war stark gealtert, trotz Stasis und Langlebigkeit. Natürlich war es für die Foronin ein Schock gewesen, dass vor zweihundert Jahren in der Milchstraße praktisch die gesamte Energie explodiert war: Raumschiffe, irdische Technik, einfach alles. Das konnte bedeuten, dass viele, wenn nicht gar alle des foronischen Volkes tot waren. Und so war Siroona verständlicherweise daran interessiert gewesen, die Reise in die Milchstraße mitzumachen. Um Klarheit zu gewinnen. Momentan hatte sie sich irgendwohin zurückgezogen. Scobee hatte die vorzeitig gealterte Foronin seit Betreten des Jay'nac-Schiffes nicht mehr gesehen. Und Ovayran, Scobees eigentlicher Begleiter, hing wie versteinert in seinem gloridischen Schiff mit dem stolzen Namen AUGE DES PERIGOR an dem foronisch/anorganischen Konstrukt fest, das um das künstliche Schwarze Loch kreiste. Irgendetwas hatte sämtliche Gloriden an Bord des goldenen Schiffes regelrecht eingefroren, gebannt. Warum und wie lange dieser Zustand anhalten sollte, darüber
wollte Felvert wieder einmal keine Auskunft geben. Und Porlac war dazu nicht in der Lage; er hatte nur selten »lichte« Momente, in diesen aber Scobee seine Unterstützung zugesichert. So hatte Scobee sich ihre Reise ganz und gar nicht vorgestellt. Bereits auf der Hälfte des Weges nach Hause war sie gescheitert und nunmehr auf andere angewiesen. Andere, deren genaue Herkunft und Absichten sie nicht einmal ahnen konnte, und die sie im Ungewissen ließen, obwohl sie bedeutende Informationen besitzen mussten. Diese Geheimniskrämerei hatte Scobee schon bei den Gloriden auf die Palme gebracht. Sie hielt es für Angeberei, ein Sich-wichtig-machen, um einen möglichst tollen Knalleffekt zu erzeugen. Aber Scobee wollte einfach nur Antworten, keine Spannung. Sie fühlte sich müde und war voller Sorge, was in der Heimatgalaxis in den vergangenen zweihundert Jahren passiert sein mochte. Von heute auf morgen schien es zur großen Explosion gekommen zu sein. Möglicherweise war es wie in Andromeda: Nichts existierte mehr, nur noch ein paar in der Entwicklung um Jahrtausende zurückgeworfene kleine Zivilisationen auf abgelegenen Planeten … Aber was war mit den Erinjij, die zu den Bösewichten der Galaxis mutiert waren. Natürlich machte Scobee sich auch Gedanken um Cloud und die Freunde auf der RUBIKON. Ob ihnen der Sprung in die Vergangenheit geglückt war? Wo mochten sie jetzt sein? Mussten sie demnächst eine Entscheidung fällen, die Scobees Dasein gefährden konnte? Und ein Zeitparadoxon herbeiführte? Dies ist ein ganz entscheidender Wendepunkt meines Lebens, dachte Scobee. Und zum ersten Mal … bin ich wirklich allein. Tormeister Felvert machte eine Durchsage. »Achtung, wir passieren gleich den Durchgang. Unsere Gäste mögen keine Irritationen empfinden, es entspricht alles der Ordnung und hat seine Richtigkeit. Bitte Ruhe bewahren. Wir werden einige Zeit für die Passage benötigen, da wir eine nicht unbeträchtliche Entfernung zurückzulegen haben.« Gäste, dachte Scobee. So hatte sie es nicht empfunden, als sie von
mehreren Jay'nac umringt an Bord geleitet wurde. Es war mehr eine Gefangennahme gewesen. Ganz sicher geschah dieser Transport nicht aus reiner Hilfsbereitschaft. Die Felorer oder die Jay'nac – oder beide zusammen – benötigten offenbar die Dienste Scobees und Siroonas – wofür auch immer. Und um Konflikte zu vermeiden, hielten sie die Gloriden weiter in Starre. Vielleicht hätte Ovayran erkannt, worum es ging. Wie auch immer. Jetzt fing es an.
Das aus anorganischer, lebender Materie bestehende Schiff steuerte langsam ins tiefe Schwarz hinein. Scobee hatte einen Logenplatz in ihrer Aussichtskanzel, und sie war ganz allein. Dieses technische Wunder wollte sie um nichts in der Welt verpassen und dafür gern alle Fragen für einige Zeit beiseite schieben. Im Innern des Wurmlochs schien trotz der absoluten Schwärze, auf unnennbare Weise optisch sichtbar, ein Mahlstrom zu kreisen, der nur darauf wartete, alles zu verschlingen. Die Schwärze nahm bereits das gesamte Fenster formatfüllend ein und breitete sich immer weiter aus, wie von der Außenperspektive auf dem Holorama deutlich sichtbar war. Dann wurden sie tatsächlich verschluckt. Das Licht ging aus, und Scobee hockte in einer Finsternis, die sie schon einmal erlebt hatte – damals, auf dem ersten Flug hinter den Ereignishorizont. Aber da schien alles viel schneller gegangen zu sein, und sie war zudem von Halluzinationen geplagt gewesen. Inzwischen, hatte Fontarayn behauptet, wären sie alle miteinander angepasst; und der Flug zur Andromeda-Perle schien dies auch zu bestätigen. Aber wie war es hier? Wie viel relative Zeit würde vergehen, während die Lichtjahre an ihnen vorbeibrausten? Scobee regte sich nicht in der Finsternis. Sie hatte auch keine Angst. Sie wusste, ihr würde nichts geschehen; ausgerechnet auf diesem Schiff fühlte sie sich absolut sicher und in guten Händen. Kein anderes ihr bekanntes, hoch entwickeltes Volk verstand sich so
auf Technik wie die Felorer (zumindest behaupteten sie das), und die Jay'nac waren durch ihre anorganische Beschaffenheit, durch ihre einzigartige Existenzform, die erstaunliche, kommunikative Intelligenz hervorgebracht hatte, ohnehin über nahezu alles erhaben. Wenn man bedachte, dass dieses Schiff hier aus zusammengeschlossenen Jay'nac bestand … nicht einfach nur ein Haufen Metall war, sondern auf mysteriöse Weise belebt, konnte einem schon ganz anders werden. Dennoch, Scobee vertraute diesen Fremdwesen, deren Gedankengänge sie niemals würde ergründen können. Ebenso wenig, ob sie so etwas wie Emotionen besaßen, einen Sinn für Liebe, für Freundschaft, das Füreinander. Selbst auf einem so phänomenalen Schiff wie der RUBIKON hatte Scobee immer ein unbestimmtes mulmiges Gefühl gehabt, ob auch alles gut ginge. Doch jetzt – gar nichts. Nicht einmal diese absolute Schwärze lähmte sie, obwohl sie für Menschen äußerst unangenehm war. Für normale Menschen. Wozu sie sich seit jeher nicht zählte. Und Dunkelheit … war schon immer relativ für sie gewesen … Da ging auch schon die Notbeleuchtung an und tauchte den Raum in ein diffuses, leicht orangenes Schimmern. Nur draußen war weiterhin eine schwarze Wand. Nein … Scobee riss die Augen auf und blinzelte. Als wäre plötzlich ein undurchdringlicher, schwerer Vorhang von einem Fenster fortgezogen, wurde es draußen hell. Und … einzigartig. Als ob das ganze Universum an ihr vorbeizöge. Scobee konnte es kaum fassen. Plötzlich war das Universum nicht mehr kalt, schwarz und leer, von gelegentlichen Punkten durchsetzt. Nein, es bestand aus Licht und Farben, aus wehenden Schleiern und Wolken. Aus fernen Galaxien, nahen Sonnen und Sternsystemen, die allesamt kohlschwarz waren, jedoch von einem schmalen, leuchtenden Lichtstreif umgeben. Wie die feurige Korona bei einer totalen Sonnenfinsternis auf der Erde. Es war … alles umgekehrt.
Scobee staunte. Die Sterne, sonst das trostspendende Licht, waren nur ein Abdruck auf einem Negativstreifen wie aus einer längst vergangenen irdischen Epoche, als man Filme noch entwickeln musste. Scobee, im 21. Jahrhundert geboren, kannte diese veraltete fotomechanische Wiedergabe aus Geschichtsbänden und Museen. Darüber war sie nun froh, denn so hatte sie einen Vergleich zu dem, was sie sah. Hell wurde, was ewig dunkel schien. Dunkel wurde, was sonst freundlich leuchtete und wärmte. Aber es war nicht nur das. Das Universum schien auch näher zusammengerückt, als wären die Wege gar nicht mehr weit. Als könne man fast dorthin springen, aus eigener Kraft, von einer Galaxie zur nächsten … Irritierend war auch die Fortbewegungsweise. Minutenlang schien das Schiff stillzustehen, dann rasten plötzlich im Verlauf einer einzigen Sekunde Hunderte Sonnen und Planetensysteme am Fenster vorbei, nicht mehr als ein dunkler Streifen, ein in die Länge gezogener Punkt, der gleich darauf verschwunden war. Scobee glaubte, inzwischen alles gesehen zu haben, was es mit einer Reise von Stern zu Stern, oder auch Galaxie zu Galaxie, auf sich hatte. Sie hatte den konventionellen Flug mitgemacht, eine aberwitzige Überlichtgeschwindigkeit, von Fontarayn verursacht, einen Transitionssprung … nichts von alledem ließ sich miteinander vergleichen. Und jedes neue Erlebnis schien das vorherige in den Schatten zu stellen. So wie jetzt der Flug durch das Wurmloch, durch eine inverse Welt, die wahrhaft zeigte, wie sehr das Universum in sich gedreht war und dass alle Entfernungen eben doch relativ waren. Man benötigte nur die richtige Technik, um die physikalischen Eigenschaften des Einstein'schen Raums bis ins Letzte ausschöpfen zu können. »Wow«, gab Scobee anerkennend zu, ohne sich daran zu stören, dass sie zu sich selbst redete. Aber das war in einem solchen Moment auch angebracht. »Das habe ich noch nie gesehen. Es ist alles so vertraut … und doch ganz fremd. Ein Universum in meiner Hand, meiner Tasche. Es hat alles Platz in diesem Gebilde, das man
Wurmloch nennt.« Und was sie nicht als falsche Bezeichnung empfand, denn es war wirklich ein Schlauch, durch den sie rasten. Sie konnte die Verengung an den Bildrändern des Holoramas sehen. Und er war gekrümmt, in ständiger, sich windender Bewegung – wie ein Wurm.
Stundenlang saß Scobee ganz allein in der Kanzel und schaute den Wundern dort draußen zu. Sie wurde es nicht müde, denn das Bild änderte sich ständig. Zum ersten Mal in ihrem Leben erwachte in ihr der Wunsch, diese Eindrücke auf einem Bild festzuhalten. Und nicht einmal mit Lasertechnik angefertigt, sondern auf ganz konventionelle Weise, mit Hand und Pinsel, um wirklich die inneren Eindrücke durch die Fingerspitzen auf die Leinwand strömen zu lassen. Sich selbst zuzusehen, wie sich ein Bild unter der Bewegung ihrer Hand entwickelte, zuerst aus wenigen, scheinbar unzusammenhängenden Punkten und Farbklecksen, die sich langsam harmonisch zusammenfügten. Scobee zweifelte nicht daran, dass die langwierige Reise innerhalb kurzer Zeit bewältigt werden konnte. Und wahrscheinlich auch ziemlich material- und antriebssparend. Scobee hätte ja gern in Erfahrung gebracht, woher das Schiff seine Energie bezog, über welchen Antrieb es verfügte. Aber natürlich würde sie keine Antwort darauf erhalten. Allerdings wollte sie nun einige andere Antworten, und dazu war es jetzt an der Zeit, fand sie. Scobee erhob sich und verließ die Kanzel, um Tormeister Felvert aufzusuchen. Den Weg zur Zentrale, wo der Tormeister sich vermutlich aufhielt, war Scobee noch bekannt, sie hatte ihn sich genau eingeprägt. Obwohl das nicht ganz einfach war, denn das Innere des Jay'nac-Schiffes war völlig schmucklos gehalten, rein zweckmäßig und überall genau gleich. Doch der untrügliche Orientierungssinn und ein hervorragendes Gedächtnis waren zwei von Scobees hervorstechenden Eigenschaf-
ten. Dafür war sie schließlich erschaffen worden – eine perfekte Kriegerin und Strategin zu sein, ein »besserer Mensch«. Ausgestattet mit hochsensiblen Sinnen, zuschaltbarer Infrarotsicht, schnellem Reaktionsvermögen, übermenschlicher Stärke und Ausdauer und hoher Intelligenz. Aber sie besaß auch Gefühle, und sie litt darunter, wenn jemand über sie als »Klon« sprach. Sie bevorzugte den Ausdruck »in vitro geboren«, was zwar auch nicht viel besser klang, aber wenigstens nicht so deutlich machte, dass für jede »ausgeschiedene« Scobee Ersatz beschafft werden konnte. Das heißt, damals natürlich, als man die GenTecs züchtete. Heutzutage war sie wirklich einzigartig. Und die letzte Überlebende ihrer Spezies; mit Ausnahme von Jarvis vielleicht, der sich jedoch immer mehr von seinem ursprünglichen Ich entfernte und keinen ursprünglichen Körper mehr besaß. Umso mehr konnte Scobee nachfühlen, was in Siroona vorgehen mochte. Die Foronin war im Augenblick die Letzte ihres Volkes, wie es aussah. Über das Schicksal ihrer Gefährten war nichts bekannt. Und – sie war alt geworden. Wie auch immer das geschehen konnte; zusätzlich hatte sie auch noch ihre ursprüngliche große Stärke, Ausstrahlung und Autorität weitgehend eingebüßt. Sie war nur noch ein jämmerlicher Schatten ihrer Selbst. Aber deswegen natürlich nicht zu unterschätzen, sondern im Grunde nur noch gefährlicher. Denn jetzt konnte Scobee überhaupt nicht mehr abschätzen, welche Ziele Siroona tatsächlich verfolgte und wie sie sie zu erreichen suchte. Derzeit konnte sie das nur auf ganz verborgenen, hinterlistigen Wegen – und an Einfällen, was Intrigen betraf, mangelte es Foronen nicht. Obwohl sie sonst als so fantasielos galten. Scobee empfand allerdings so etwas wie Schadenfreude, weil von Siroonas überheblicher Gelassenheit eine Menge abgebröckelt war. Die Foronen hatten die Menschen stets als minderwertig erachtet und auch nie einen Hehl aus ihrer Meinung gemacht. Nun hatte Scobee der Hohen einiges voraus: Sie war immer noch jung und
schön, ihr Verstand klar und scharf, und sie hatte noch eine Menge Zeit vor sich. Wie viel Zeit Siroona noch blieb, konnte nicht einmal geschätzt werden. Vielleicht schritt ihr Zellverfall rapide voran, und sie erreichte nicht einmal mehr die Milchstraße lebend. Scobee war unschlüssig, ob ihr das recht wäre oder nicht. Einerseits musste sie ständig über ihre Schulter schauen, solange Siroona am Leben war. Andererseits verfügte die Foronin über hochwertige Fähigkeiten, allen voran ihre Telepathie. Auch ihr Anzug, der wie der von Jarvis aus Nanotechnologie bestand, war besser als jeder Schutzschirm. Der Anzug konnte in gewissem Sinn selbstständig agieren und Entscheidungen treffen, wenn sein Träger ausfiel. Er war nahezu unüberwindbar, unempfindlich gegen Angriffe, und er versorgte seinen foronischen Träger mit allem Lebensnotwendigen, sodass eine Nahrungsaufnahme, wie bei den Menschen üblich, für Siroona nicht notwendig war. Ach ja, erinnerte sich Scobee an diesem Punkt ihrer Gedanken. Da war ja noch etwas! Ich muss mir ebenfalls Energie zuführen, solange ich aufrecht herumlaufen und Fragen beantwortet haben will. Das ist dann gleich meine erste Frage an Felvert. Und dann sehen wir weiter. Scobee wurde nicht daran gehindert, die Zentrale zu betreten. Weshalb auch – auf dem Schiff hier hatte sie keine Chance, etwas zu unternehmen. Die Jay'nac würden es nicht zulassen, und die Felorer waren in der Überzahl und schwer auffindbar. Außerdem, weshalb sollte Scobee auch etwas unternehmen? Sie war ja genau dorthin unterwegs, wohin sie wollte. Wie sie es erwartet hatte, war Tormeister Felvert anwesend und ebenso Porlac, der jedoch in sich versunken irgendwo am Rand kauerte und trübe vor sich hinstarrte. Auch er hatte wie Siroona in den vergangenen zweihundert Jahren einen beträchtlichen Verfall durchgemacht, allerdings bei seiner Zusammensetzung in erster Linie geistiger Natur. »Kann ich etwas für dich tun?«, erkundigte sich Felvert, ohne von seinem Terminal aufzusehen. »Ja, ich wollte fragen, ob es hier an Bord irgendwelche Möglichkei-
ten gibt, Nahrung zu sich zu nehmen«, antwortete Scobee. »Da ihr ebenso wie ich organisch seid, nehme ich an, müsst auch ihr essen und trinken und vielleicht gelegentlich schlafen.« »Gewiss«, antwortete Felvert auf seine typisch einsilbige Weise. Nicht wirklich ablehnend, aber auch nicht allzu höflich oder zuvorkommend. »Benötigst du sofort Ruhe?« »Nein«, antwortete Scobee. »Aber eine Mahlzeit wäre nicht schlecht.« »Mahlzeit?« »Ja. Feste und flüssige Nahrung. Proteine, Ballaststoffe, Kohlenhydrate. Diese Sachen eben. Mein etwas bodenständigerer Freund Cloud würde jetzt sagen: Ein saftiger Braten, dazu in Butter gegartes Gemüse und ein gutes Bier.« Was rede ich denn da?, dachte sie verdutzt, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief. So etwas haben wir doch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gegessen. Aber davon träumen durfte man doch. Vor allem, wenn man so, wie sie gerade feststellte, ausgehungert war. Felvert warf ihr einen deutlich irritierten Blick zu. »Ich verstehe kein Wort davon, mit Ausnahme der Proteine und so weiter. Natürlich haben wir so etwas an Bord. Allerdings vielleicht nicht ganz in der von dir gewohnten, blumig beschriebenen, für mich aber leider unverständlichen Darreichungsweise.« »Herrje, irgendetwas, das meinem Körper zuträglich ist«, meinte Scobee genervt. Gestellter Heini, dachte sie wütend. Aber sie durfte nicht so voreingenommen sein. Ein Felorer war nun einmal kein Mensch. Er war überhaupt ganz anders als alle Außerirdischen, die die GenTec bisher kennen gelernt hatte. Nicht einmal Cy, der eigentlich nichts anderes als ein wandelnder Busch war, wirkte derart fremd auf sie. Musste an dieser unangenehmen Ausstrahlung liegen, die sich wie Juckreiz auf ihre Haut legte. Scobee kratzte sich den Arm und lächelte höflich, auch wenn das überflüssig war, denn Felvert würde es sowieso nicht verstehen. Ebenso wenig wie ihren barschen Ton gerade eben. »Kein Problem«, versicherte der Tormeister. »Das können wir
gleich hier erledigen. Bitte, nimm Platz.« Scobee sah sich um. Keine der Sitzgelegenheiten schien für einen Menschen ausgelegt zu sein. Eher für wurmige, ineinander verschlungene Vielachter. Doch auch das war kein Problem. Plötzlich bildete sich in der Nähe von Felverts Terminal und des großen Holowürfels in der Mitte der Zentrale eine Art Sessel, der auf den ersten Blick sogar bequem wirkte. Scobee hoffte, dass er aus Formenergie bestand. Die Vorstellung, sich auf einen Jay'nac zu setzen, behagte ihr wenig, und sie schob sie weit weg. Sie ließ sich in dem Sessel nieder. Kurz darauf summte so etwas wie ein Roboter herbei. »Verhalte dich ganz ruhig«, merkte Tormeister Felvert an. »Er will dir nichts tun. Du wirst gar nichts spüren.« Gleich darauf wusste Scobee, warum Felvert sie darauf hingewiesen hatte. Denn der Roboter zerfiel in Tausende wimmelnde Teilchen, die sich sämtlich über ihren Körper legten und alles bedeckten, selbst das Gesicht – Augen, Mund und Nase. »Ich krieg keine …«, wollte sie anfangen, aber der Mund wurde ihr verschlossen. Für einen kurzen Moment geriet sie in Panik, wollte aufspringen, die Teilchen abstreifen, abschütteln, mit ihrem Blaster pulverisieren und sich zum Fasten entschließen, bis sie irgendwann wieder handfeste, einigermaßen appetitlich aussehende Nahrung zwischen die Zähne bekam … Doch zu ihrem Erstaunen merkte sie, dass sie atmen konnte. Sie verspürte ein Kribbeln auf der Haut, wie schwache Stromstöße, was aber überhaupt nicht unangenehm war. Im Gegenteil. Sie fühlte sich plötzlich viel leichter werden, als würden neue Energien sie durchströmen, und zwar auf sehr positive Weise. Ihr gesamter Körper wurde auf eine Weise stimuliert, die sie so noch nie erlebt hatte. Wohlbehagen – und ein Sättigungsgefühl stellten sich ein. Scobee hatte keine Ahnung, wie lange die Prozedur dauerte. Aber als sie zu Ende war, fühlte sie sich erfrischt und tatendurstig, als hätte sie lange geruht, ausgiebig geschlafen und gut gegessen. »Danke!«, sagte sie überrascht. Sie war allerhand gewöhnt, diese
positive Erfahrung hätte sie gerade hier auf diesem Schiff am wenigsten vermutet. »Der Versorger analysiert zuerst genau, was dein Körper benötigt und führt es dir dann exakt in der Zusammensetzung und dem Umfang zu, dass du mit deiner Energieversorgung, dem Immunsystem und dem Säure-Basen-Haushalt harmonisch im Gleichgewicht bist.« Zum ersten Mal wurde Felvert gesprächig. »Der Versorger stellt auch Entzündungen oder Schwächen fest und merzt sie aus. Fühlst du dich besser?« »Ausgezeichnet«, gestand Scobee. »Wie neugeboren, und das meine ich ganz wörtlich.« »Der Versorger weiß ebenfalls, wann du deinen nächsten Schub benötigst, und wird dich rechtzeitig darauf hinweisen. Bis dahin wirst du keinen Mangel leiden.« Scobee erhob sich; sie fühlte sich fast versöhnt. Auf diese Weise konnte sie es bald mit dem ganzen Universum aufnehmen, empfand sie. Und als Erster hatte Felvert ihre neu erwachte Vitalität auszubaden. »Jetzt«, sagte sie, »will ich Antworten.«
6. Im Wurmloch: Fragen, Antworten und noch mehr Fragen ohne Antworten Scobee überlegte für einen Moment, ob sie Siroona kommen lassen sollte. Doch vielleicht würde die Foronin mittels ihrer mentalen Fähigkeiten ohnehin alles mithören und somit stets auf dem Laufenden sein. Das war zwar keine angenehme Vorstellung, aber Scobee dachte bei sich, dass es der Foronin nur recht geschah, wenn sie dabei auch einige unangenehme Meinungen über sich erfuhr. Wenn es sie überhaupt kümmerte. Dann konnte es Scobee aber erst recht egal sein. Sie kehrte auf ihren Sitz zurück und machte es sich bequem, wobei sie mit ihrer Haltung deutlich machte, dass sie sich nicht mehr mit windigen Ausreden abspeisen lassen würde. »Also, Tormeister Felvert«, fuhr sie fort und hielt seinen Blick mit grünen Augen fest. »Was meintest du damit, die Milchstraße liege im Sterben? Was ist passiert?« Felvert zögerte sichtlich. »Sag's ihr«, erklang Porlacs schwache Stimme aus dem Hintergrund. »Wir haben Zeit genug.« Felvert gab nach. Was sollte auch diese ewige Geheimnistuerei und Verzögerung? Immerhin waren sie ja unterwegs in die Milchstraße, weil er Scobee zeigen wollte, was dort geschehen war. »Um Zeit geht es hier auch«, begann der Tormeister. »Wir haben damit nichts zu tun, sondern sind lediglich die Beobachter; deshalb verfügen auch wir nicht über alle Informationen.« »Sag mir einfach nur, was du weißt«, forderte Scobee ihn ungeduldig auf.
Und dann berichtete der Felorer von etwas, das nach und nach die gesamte Milchstraße vereinnahmt und den Zeitablauf um den Faktor 100 beschleunigt hatte. In der Folge war es offenbar zum Kollaps aller technischen Systeme gekommen, die höherdimensionale Energien verwerteten. Scobee war schockiert, so fassungslos, dass sie für einen Moment nicht sprechen konnte. Mit zitternder Hand wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn das wahr ist, bin ich später dran als ich dachte … als ich mir je ausmalen konnte. Alles war umsonst, keiner von denen, die ich kannte, kann mehr am Leben sein, wenn er sich in der Milchstraße aufhielt …« Oder in sie zurückgekehrt ist – durch eine Portalschleuse beispielsweise, fügte sie in Gedanken hinzu, blass bis in die Lippen. »Der Faktor 100«, bestätigte Felvert ihre Befürchtungen, »bedeutet, dass in einem Jahr, das außerhalb der Grenzen der Spiralgalaxie verstrich, drinnen einhundert vergingen.« Scobee überschlug das Gehörte für sich, und erneut stockte ihr der Atem, als ihr klar wurde, dass sie die bei der Fehltransition verlorenen zweihundert Jahre nunmehr mit 100 multiplizieren musste – was zwanzigtausend Jahre ergab. 20.000 Jahre, die seit ihrem Verlassen der Milchstraße vergangen waren? »Das ist – blanker Irrsinn! Das kann nicht wahr sein!« »Niemand wünschte es mehr als wir, dass es nicht so wäre. Aber wir hatten viel Gelegenheit, unsere Beobachtungen zu prüfen. Sie sind verlässlich. Doch höre weiter. Auf konventionelle Weise kommt kein Schiff mehr in die Galaxis. Sie ist durch besagtes Zeitfeld, das jeden bekannten Antrieb zerstört, hermetisch abgeriegelt.« »Wunderbar«, schnaubte Scobee und hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, sich selbst zuzuhören. »Und weiter? Dein Verweis auf konventionelle Antriebe impliziert, dass ihr einen Weg gefunden habt, dieses Feld zu überlisten. Wie? Was wisst ihr überhaupt über die Ursache dieses Zeitfeldes? Wer erzeugt es? Wer ist für all das verantwortlich?« Felvert antwortete nicht. Und Scobees Misstrauen wuchs ins Unermessliche. Aber sie wuss-
te inzwischen, es hatte keinen Sinn zu insistieren. Wenn der Tormeister nicht bereit war, Informationen preiszugeben, konnte nichts ihn dazu bringen. Er präsentierte alles häppchenweise. Weil er Dreck am Stecken hat, dachte Scobee. Weil er sich schämt und sich erst nach einiger Zeit überwinden kann, nach und nach ein Geständnis abzulegen. Nicht wahr? Ich glaube, ich muss gleich kotzen. Reiß dich zusammen, erklang eine andere Stimme in ihrem Kopf. Siroona. Wie vermutet, hörte sie die ganze Zeit mit. Es war doch von Anfang an offensichtlich, dass die Felorer, wahrscheinlich zusammen mit den Jay'nac, etwas damit zu tun haben. Deswegen auch sein Hinweis zu Beginn, nicht der Verursacher zu sein. Wahrscheinlich haben sie völlig versagt und etwas in Gang gesetzt, das sie nicht beherrschen können. Und jetzt klammern sie sich an uns als ihre Rettung, wie auch immer die aussehen soll. Und du weißt jetzt, warum du alt geworden bist, nicht wahr? Ich weiß jetzt, dass es mein Volk nicht mehr gibt. Und das muss ich ver hindern. Scobee gefiel diese Ausdrucksweise ganz und gar nicht. Sie erinnerte sehr stark an das, was Fontarayn und Cloud in der letzten Zeit besprochen hatten. Wie es aussah, konnte Scobee trotz aller Unternehmungen einer weiteren Zeitreise nicht entgehen. Denn welchen Weg sollte es sonst geben, diese sterbende Galaxis zu retten? »Noch mal: Was ich nicht verstehe«, sagte Scobee laut, »wieso könnt ihr hinein? Warum kollabieren eure Systeme nicht? Vermögen die Jay'nac nur aus sich selbst heraus von Stern zu Stern zu reisen?« »Nein, sondern weil wir einen Schutz entwickelt haben, der uns die Zeitbeschleunigung und all ihre verheerenden Auswirkungen vom Leibe hält«, antwortete in diesem Moment Porlac. Bewegung kam in ihn, er näherte sich dem riesigen Holowürfel, isolierte ein Segment und präsentierte Scobee etwas, das sie fast genauso schockierte wie zuvor Felverts Eröffnungen. »Das hier!« Sie erkannte, was sich da auf dem Bild zeigte, dieses Wesen, das offenbar isoliert irgendwo tief verborgen in diesem Schiff hauste. »Ein … Keelon!«, hauchte sie.
So also schützten sich die Jay'nac mit ihren Verbündeten vor der entstandenen Zeitentartung: mittels der Keelon und deren Magoo! Scobees Fragen prasselten abwechselnd auf Porlac und Felvert ein. Sie verlangte mehr Daten, Hintergründe. Gab es jemanden, der das Zeitfeld absichtlich installiert hatte? Was bezweckte er mit einer solchen grausamen Tat? Sie erhielt keine Antworten mehr. Porlac gab sich wiederum geistesabwesend – in diesem Fall wahrscheinlich ein reines Ausweichmanöver –, und Felvert machte einfach den Mund nicht mehr auf und tat so, als wäre Scobee gar nicht mehr da. Gib dir keine Mühe, meldete sich Siroona telepathisch zu Wort. Sie werden nichts mehr preisgeben, sie haben sich vollkommen verschlossen. Ich kann nicht einmal ansatzweise zu ihnen durchdringen. Irgendwie sind sie in diese Geschichte verwickelt, und das hat Porlac möglicherweise wahnsinnig gemacht. Wir werden es herausfinden, zu einem späteren Zeitpunkt. Das Wort Zeit wird derzeit ziemlich abgenutzt, stellte Scobee fest. Ihr war schwindlig, und sie fühlte sich körperlich völlig ausgelaugt. Alles schmerzte, Leib und Seele. Haben wir überhaupt noch Hoffnung?, fragte sie traurig. So schnell gibst du auf, kleiner Mensch? Ach, halt die Klappe, alte Schachtel. Scobee fuhr sich frustriert durch die violettschwarzen, schulterlangen Haare. Siroona und sie – ein wunderbares Paar. Nun waren sie mehr denn je aufeinander angewiesen. Allmählich begriff Scobee, welches Verhältnis Cloud und Sobek seinerzeit gehabt haben mussten. Aber sie würde das durchstehen, ebenso wie Siroona. Jetzt waren Feindschaften und Überheblichkeiten nicht angebracht. Sie mussten herausfinden, was und warum es geschehen war – und es beenden. Scobee fuhr aus dem Schlaf hoch, als sie von einer Stimme geweckt wurde. In ihrem Kopf! Natürlich Siroona. Steh schon endlich auf! Wir haben unser Ziel erreicht, wie es aussieht. Nach all den Eröffnungen hatte die GenTec entschieden, dass sie
nun den lange versäumten Schlaf nachholen musste, um neue Kräfte zu sammeln. Sie wusste nicht, was bevorstand. Ein paar Stunden Ruhe würden ihr gut tun, und sie stellte keine hohen Ansprüche an Bequemlichkeit. Aber tatsächlich bekam sie ähnlich wie bei dem Sessel eine speziell geformte Liege nach ihren Angaben in einer kleinen Kabine. Sogar eine Nasszelle stellte man ihr zur Verfügung, mit der sie einigermaßen zurechtkam. Sie hatte tief und traumlos geschlafen. Als Siroona sie herausriss, fühlte sie sich augenblicklich munter und erholt. Hastig machte sie sich fertig und auf den Weg in die Zentrale. Felvert hatte keine Auskünfte über das Ziel gegeben. Scobee hatte angenommen, dass sie die Erde ansteuern würden. Immerhin hatten sie einen Keelon an Bord, die dort als Master über die Neue Menschheit geherrscht hatten. Doch weit gefehlt! Als Scobee die Zentrale erreichte, war Siroona bereits dort und beobachtete mit verschränkten Armen den Holowürfel. Dort zeigte sich ein Planet, der nicht im mindesten der Erde ähnelte, geschweige denn, dass es sich um das Solare System handelte. Dennoch kam Scobee der Planet vage bekannt vor. Dann schlug die Erleuchtung wie ein Blitz in sie ein, und sie starrte Porlac an. »Das ist Nar'gog, nicht wahr? Eure Heimatwelt!« Sie war schon einmal dort gewesen, um Cy nach Nar'gog zu bringen. »So ist es«, bestätigte der Jay'nac. »Nar'gog wurde vernichtet, genau wie Roogal, die Heimatwelt unseres Keelons hier an Bord. Vor rund zweihundert Jahren deiner Zeitrechnung wurde all das hier völlig vernichtet, ausgelöscht.« »Aber … wie wäre das möglich?«, fragte Scobee völlig entgeistert. »Ich meine … wie könnte Nar'gog dann noch existieren? Jetzt? Hier?« »Nur deshalb, weil ich es ungeschehen machte – in einem gewaltigen Kraftakt, der meinem Geist Schaden zufügte«, erklärte Porlac. »Aber was zählt mein Geist, wenn ich dafür meine Art retten konnte?« Er schwieg kurz, dann fuhr er fort: »Du sollst alles erfahren. Ich
will es so. Ich fühle mich gut momentan. Aber ich will das Granogk nicht übergehen. Es soll dem zustimmen. Danach … wartet das auf dich, wonach dich schon seit unserer Begegnung in der Leere dürstet.« »Antworten?«, fragte Scobee, ohne ihre Erregung völlig unterdrücken zu können. »Antworten«, versprach Porlac. »So das Granogk, die höchste Instanz meiner Art, sie dir gewährt.«
ZWEITER TEIL
DAS GEHEIMNIS DER PERLE
7. Böses Erwachen Cloud bereute es, zu sich zu kommen. Eigentlich war es ganz einfach zu sterben – man wusste nichts mehr, war einfach weg, und Schmerzen hatte man auch keine mehr. Der einzige Nachteil war, es gab kein Zurück, war die Grenze erst einmal überschritten. Aber einen Vorteil konnte Cloud derzeit auch nicht erkennen. Zumindest war der Zustand vorher angenehmer gewesen als der jetzige. Immerhin – er wusste nun, dass er noch lebte. Cloud versuchte die Augen zu öffnen, doch sie waren dick mit Sekret verklebt. Als er den Mund aufmachte, brachte er nur ein trockenes Krächzen heraus, keinen einzigen verständlichen Ton. Vorsichtig bewegte er Arme und Beine und konnte zufrieden sein: Erstens waren sie noch da und zweitens in der Lage, sie zu steuern. Also immerhin etwas. Ernsthaft verletzt schien er nicht zu sein; der Schmerz war diffus, er saß überall, tief im Inneren, als müsste sich erst alles wieder richtig zusammenfügen. Als wäre ich überall verstreut gewesen, und es hätte sich jetzt erst alles wiedergefunden und müsste nur noch den richtigen Platz einnehmen, wo es hingehört. Cloud schüttelte es vor Grauen bei diesem Gedanken, und er schwor sich, sich niemals wieder teleportieren zu lassen, selbst in höchster Gefahr nicht – lieber ließ er sich erschießen, abfackeln oder auffressen. So ein grässliches Erlebnis wünschte er seinem schlimmsten Feind nicht. Er tastete nach dem Codearmband und aktivierte mit einem Tastendruck den Systemrechner. »Check«, krächzte er. »Umgebung. Akustische Wiedergabe.« »Für Menschen atembare Atmosphäre«, erhielt er gleich darauf die Antwort. »Lufttemperatur einundzwanzig Grad, Schwerkraftverhältnisse eins Komma null eins g. Keine Schadstoffe oder Erreger messbar.«
Das war alles, was Cloud hören wollte. Er tastete zu den Verschlüssen des Helms und öffnete sie. Er klappte den Helm zurück, der sich in seinem Nacken zusammenfaltete. Dann rieb er sich sorgfältig die verkrusteten, schmerzenden Augen und schlug sie zaghaft auf. Und schloss sie gleich wieder. Behutsam, um keine Erschütterung hervorzurufen, drehte er sich auf die Seite. Öffnete noch einmal die Augen. Gewiss, es könnte schlimmer sein. Aber nicht viel. Bis jetzt hatte er lediglich Glück gehabt, sich nicht zu viel bewegt zu haben. Er räusperte sich. »Jarvis«, flüsterte er. »Bist du hier irgendwo?« Keine Antwort. Ich weiß nicht, ob es hinter dem Horizont Götter gibt. Aber wenn ja: Bitte macht, dass er nicht dort unten ist. Cloud befand sich auf einer schmalen, löchrigen Hängebrücke, deren Seilhalterungen so aussahen, als warteten sie seit hundert Jahren auf die Auflösung. Unter ihm, mindestens achtzig Meter tief, toste Wasser zwischen zwei Felsabhängen hindurch. Wenn Jarvis' amorpher Körper zerfallen war, war er wahrscheinlich längst zwischen den Bohlen hindurch nach unten getropft, von dem mächtigen Strom mitgerissen und in seine winzigsten Nanobausteine verteilt worden. Das darf nicht sein, dachte Cloud voller Bitterkeit. Langsam richtete er sich auf, den tobenden Schmerz und die Schwäche seines Körpers ignorierend. »Jarvis!«, rief er lauter. »Wo bist du?« Er schüttelte den Kopf und stand schwankend auf. Die Brücke geriet augenblicklich in Schwingungen, und er musste sich an den brüchigen Seilen festhalten. »Das gibt es doch gar nicht!«, rief er fassungslos. »Wie ist es möglich, dass wir auf einem Planeten sind? Ich sehe blauen Himmel, die Luft ist frisch, und ich höre und sehe das Wasser unter mir … ich fühle diese Taue … was ist nur passiert?« Halluzinierte er etwa wieder, wie beim ersten Mal? War dieser Sprung über seine Kräfte gegangen, hatte sein Verstand einfach abgeschaltet? Oder bewirkten diese Satelliten draußen dieses Trugbild? Hatten sie ihn inzwischen gefangen und erforschten seinen
Geist anhand virtueller Studien? Er konnte nicht einmal in seinem Plan nachschauen, denn er hatte keinerlei Anhaltspunkt, wo er herausgekommen war – falls er sich überhaupt innerhalb der Perle befand. Die Richtung, die er einschlagen sollte, war ihm klar: immer nach oben. Und da Wasser normalerweise nach unten floss, solange Schwerkraftverhältnisse wie hier herrschten, wusste er auch, wo »oben« war. Aber zuerst musste er herausfinden, was mit Jarvis passiert war. Cloud aktivierte den Funk, aber wie befürchtet funktionierte er nicht. Er konnte auch seinen Freunden auf der RUBIKON nicht mitteilen, dass er noch am Leben war. War vielleicht auch besser so, solange er nicht genau wusste, wie viel Glück Jarvis gehabt hatte. Auch der Zeitmesser war ausgefallen. Dies alles sprach dafür, dass sich Cloud tatsächlich im Inneren der Perle befand. Wenn auch nicht dort, wo er hingewollt hatte. Es war nicht anzunehmen, dass die Zentrale inzwischen zu einem Abenteuerspielplatz umfunktioniert worden war. Es ist eine Illusion, sagte er sich. Ich bin wieder einmal in eine Falle getappt. Um genau dies zu vermeiden, hatte er Jarvis nicht alleine vorgehen lassen wollen: Hier irgendwo allein agieren zu müssen und dadurch zusehends den Bezug zur Realität zu verlieren. Keine Orientierung, keine Anhaltspunkte mehr zu haben. Nicht zu wissen, wie man aus dieser Falle herauskam. Und irgendwann zu vergessen, dass es nur Illusion war. Angestrengt blickte Cloud von einem Ende zum anderen. Er stand ziemlich in der Mitte über dem Abgrund, und beide Richtungen unterschieden sich kaum voneinander. Auf jeder Seite wand sich ein Pfad zwischen Felsen hindurch und verschwand um die Kurve. Felswände versperrten die Sicht auf das, was dahinter lag. Es wäre eigentlich ein idyllischer Ort gewesen, der einlud zum Wandern. Viel zu vertraut, viel zu … irdisch. Gerade deswegen konnte Cloud nicht glauben, was er da sah. »Jarvis!« Immer wieder rief er nach dem Freund. Sondierte beide Richtungen, in die er gehen sollte. Auf einmal bemerkte er auf einer
Seite einen dunklen Fleck. Er schloss den Helm wieder und schaltete das Visier auf Zoom. Auch bei starker Vergrößerung und automatischer Schärfeeinstellung konnte er nur einen verwaschenen, dunklen Haufen ausmachen. Der sich auf der gegenüberliegenden Seite nicht befand. Clouds Herz schlug Purzelbäume in der Brust; jedenfalls fühlte es sich so an. Er vergaß sogar seinen Schmerz. »Jarvis, bist du das? Halte durch!« Er ergriff jeweils ein Tau rechts und links und tastete sich auf der schwankenden Brücke vorwärts. Die immer kräftiger hin- und herschwang, auf und ab. Vereinzelt lösten sich Bretter und stürzten in die Tiefe, wo sie augenblicklich von den tosenden Wassern zerfetzt wurden. Cloud prüfte bei jedem Schritt das nächste Brett auf Trittfestigkeit, aber einmal brach sein Fuß doch durch, und er musste nach vorn hechten. Durch die Wucht des Aufpralls durchschlug er gleich zwei weitere Bretter und rutschte ab. Gerade noch im letzten Moment bekam er mit der zweiten Hand die Stützleine zu fassen und klammerte sich daran, während seine Beine frei in der Luft pendelten. Für einen Moment war sich Cloud seiner Sterblichkeit mehr denn je bewusst, und er fluchte lauthals wie ein Marktschreier. Mühsam hangelte er sich wieder nach oben, darauf wartend, dass auch noch die Taue nachgaben. Aber sie hielten freundlicherweise, und so kroch er ein Stück weit auf allen vieren, bis die Abstände durch die Lücken so groß wurden, dass er aufstehen und hinüberbalancieren musste. Sein Magen machte sich allmählich bemerkbar; dieses ständige Pendeln und Schwanken machte ihm zu schaffen. Für eine Illusion ist es reichlich realistisch, dachte Cloud grimmig. Warum sind Fallen eigentlich immer so fies? Es könnte doch auch mal eine richtig angenehme Illusion sein, so wie bei Circe. Ich meine, wenn Odysseus keine Hummeln unterm Hintern gehabt hätte, hätten es sich seine Männer noch ewig auf der Insel gut gehen lassen können, ohne in Schweine verwandelt werden zu müssen. Oder so. Andererseits, so richtig fies war es ja noch nicht, da gab es schon
Schlimmeres. Dies hier war mehr ein Warm-up, eine kleine Herausforderung, die man sich im Urlaub genehmigte, um sich nicht zu sehr zu langweilen. Noch zehn Meter. Cloud atmete auf. Das Schwanken ließ sichtlich nach, und hier schien die Brücke auch stabiler zu sein. »Ich bin bald da, Jarvis«, murmelte er, wurde jedoch nicht leichtsinnig auf den letzten Metern. Ohne dem Abgrund noch einen weiteren Blick zu schenken, übersprang er die letzten beiden Bretter und atmete auf, als er endlich festen Boden unter den Füßen spürte. Doch seine Beine waren noch nicht darauf eingestellt, und er verlor das Gleichgewicht, stolperte und stürzte mit einem weiteren Fluch. Zwei Meter von ihm entfernt kauerte eine amorphe, schwarze Masse, leicht schwabbelnd wie Götterspeise. Es war tatsächlich Jarvis. Cloud kroch auf den Freund zu. Er deutete den bebenden Zustand von dessen Körper so, dass Jarvis in Agonie lag – völlig im Schmerz gefangen, unfähig, seine Umgebung wahrzunehmen. Dass er es überhaupt bis hierher geschafft hatte, ohne auseinander zu fallen, war ein Wunder. Auch jetzt hielt die Masse zusammen, was vielleicht ein gutes Zeichen war. Cloud mochte sich nicht ausmalen, was Jarvis gerade durchmachte. Er hatte in seinem Gehörgang immer noch den Nachhall von Jarvis' furchtbarem Schrei während der Teleportation. Vorsichtig stieß er die zitternde Masse an. »Jarvis, he, alter Kumpel, kannst du mich hören?«, flüsterte er. »Es ist alles in Ordnung, du bist noch in einem Stück, und ich glaube, es fehlt auch nichts. Du kannst wieder rauskommen, wo auch immer du dich gerade versteckt hältst.« Keine Reaktion, aber das hatte Cloud auch nicht sofort erwartet. Einen feststofflichen Körper hätte er in den Arm nehmen und beruhigen können. Durch Wärme und Nähe mitteilen können, dass alles in Ordnung war. Aber wie sollte er Jarvis da rausholen? Vielleicht durch elektrische Stimulation? Er entschloss sich, zunächst keine Experimente zu unternehmen,
sondern eine Weile still abzuwarten und immer wieder mit dem Freund zu reden. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seit dem Teleportsprung vergangen war. Möglicherweise waren die Wartenden in der RUBIKON schon in heller Aufregung und dabei, den ersten Rettungstrupp loszuschicken. Zum ersten Mal war Cloud froh, dass man nicht auf konventionelle Weise in die Perle gelangen konnte. Das hielt seine Freunde draußen und brachte sie nicht auch noch in Gefahr. Genau wie beim letzten Mal auch hätten sie keine Möglichkeit gehabt, Jarvis und ihn zu finden. Der Plan war momentan völlig nutzlos. Der Commander zog einen Energieriegel aus dem Notfallset und knabberte daran. »Weißt du, Kumpel, alleine will ich eigentlich nicht weitergehen«, erklärte er. »Du solltest wenigstens mal einen Blick riskieren. Es ist nicht übel hier, und vielleicht finden wir ja ziemlich schnell den Weg nach oben. Ich glaube, dass die Zeit einigermaßen drängt. Also werde ich bald vor der Entscheidung stehen, was ich tun soll: Warten, bis du dich entschließt, am weltlichen Leben wieder teilzunehmen – oder alleine weitergehen und dir wie bei Hänsel und Gretel eine Brotkrumenspur hinterlassen, der du irgendwann folgen kannst. Ehrlich gesagt, will ich mich dieser Zwickmühle nicht stellen müssen. Fest steht, zurück kann ich nicht. Raus geht es genauso schwierig wie rein, zumindest von hier aus betrachtet. Oben in der Sektion des Perlenweisesten sieht es vielleicht anders aus. Aber da muss man erst mal hinkommen. Du verstehst?« Cloud unterbrach für einen Moment seinen Monolog, um sich dem Rest des Riegels zu widmen. Dann setzte er fort: »Wo war ich? Ach ja: Du kommst aus deinem Schneckenhaus und begleitest mich. Zu zweit ist es nun mal leichter. Außerdem brauche ich dich, ganz ehrlich. Du bist besser als jeder Leibwächter. Ist ja auch deine Aufgabe, wenn ich es recht bedenke. Also, auf die Beine, Soldat, Hacken zusammen und stillgestanden! Hör gefälligst auf deinen Commander, und was er dir sagt!« Einige Zeit lauschte er dem Nachhall seiner Stimme und dachte bei sich, dass er ziemlich viel Unsinn redete bei dem ziemlich klägli-
chen Versuch, seinen Freund aus dem Irgendwo zu sich zu holen. Er fühlte sich ein wenig hilflos. Ein Psychologe hätte sicher gewusst, welche Worte man wählen musste. Aber … ganz so falsch war es wohl doch nicht. In die Masse kam Bewegung, sie veränderte sich. Etwas streckte und dehnte sich … formte sich … eine kleine, zierliche Hand. Unsicher pendelte sie hin und her. Dann streckte sie sich Richtung Cloud aus. Er griff zu. Berührte die Pseudopodie, spürte ein seltsames Kribbeln an der Innenfläche seiner Hand, ignorierte das unangenehme Gefühl, dass es keine echte, warme und menschliche Hand mit Haut war, sondern ein kühles, glattes und lebloses Nanoding … und drückte behutsam. Hielt die Hand fest, wie er damals Ayleas Hand gehalten hatte, als er dem kleinen Mädchen zum ersten Mal begegnet war. Im Getto auf der Erde, wohin ihre eigenen Eltern sie deportieren ließen, weil sie als entartet galt. Wo sie sterben sollte. Und vermutlich auch gestorben wäre, wäre sie nicht zufällig auf ihrer Flucht mit Cloud zusammengestoßen. Cloud schüttelte die Erinnerung ab. »Alles in Ordnung, Junge«, murmelte er. »Deine Hand zu halten, das ist schon ein guter Anfang. Jetzt haben wir eine Verbindung hergestellt. Mach weiter so!« Weitere Minuten vergingen. Cloud saß neben einer dunklen, schwabbelnden Masse und hielt eine Hand, die sich daraus geformt hatte. Er sprach jetzt nicht mehr viel, sondern wartete zumeist schweigend. Dann entglitt die kleine Hand ihm plötzlich, rann einfach durch seine Fingern hindurch, zurück in die Masse. Gleich darauf veränderte sich das amorphe Etwas, wuchs in die Höhe, wurde schlanker. Bildete Extremitäten aus, einen Kopf, ein Gesicht. Vertraute Formen, der Ausdruck des Erstaunens. »Uff«, stieß Cloud erleichtert hervor und grinste breit. »Diesmal war es aber wirklich knapp, was?«
»Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte Jarvis wissen. Vorsichtig bewegte er seinen Kunstkörper.
»Ich dachte, das würdest du mir sagen können«, meinte Cloud. »Wir teleportierten, dann hörte ich deinen Schrei. Dort, mitten im Nichts …« Er deutete auf die Hängebrücke. »… bin ich zu mir gekommen. Keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war. Seitdem habe ich das Gefühl, noch nicht wieder ein homogenes Ganzes zu sein.« »Da geht's dir ähnlich wie mir.« Jarvis drehte sich unruhig. »Langsam erinnere ich mich wieder … richtig, wir wollten teleportieren. Nein, wir sind es. Ich habe mich an den Plan gehalten und wollte direkt in die Ebene des Perlenweisesten springen. Aber dann … es war wie eine schwarze Mauer. Ich prallte davon ab, wurde zurückgeschleudert. Aber anstatt wieder auf der Oberfläche herauszukommen, genau an der Stelle unseres Absprungs, sind wir irgendwo im Inneren gelandet. Mir war, als würden wir abgelenkt, als würde uns der Weg zurück genauso versperrt wie der Weg vorwärts. Es tat entsetzlich weh. Einen so tiefen körperlichen Schmerz habe ich in meinem ganzen Leben nie empfunden, auch nicht, als ich noch … du weißt schon.« »Ich hörte dich schreien.« »Das glaube ich gern. Ich höre mich jetzt noch schreien. Ich war nicht mehr zum Denken fähig. Das Einzige, was ich noch zustande brachte, war das permanente Einbläuen, dass ich auf keinen Fall die Form verlieren durfte. Das ist mir nämlich das letzte Mal hier drin passiert, und ich tropfte von einem Leitungsrohr herunter.« Jarvis schüttelte sich in Erinnerung an dieses Entsetzen. »Algorian fand mich zum Glück und schöpfte mich in eine schmutzige Ölwanne, schob mich durch die Gegend, bis ich mich wieder zusammengesetzt hatte. Mit ein paar Verlusten, natürlich.« Cloud hob eine Hand. »Erspar mir Details, bitte … das kannst du irgendwann an einem Lagerfeuer nachholen.« Jarvis tastete seine Arme ab und blickte an sich hinunter. »Diesmal blieb ich tatsächlich zusammen. Ich glaube, es fehlt nichts.« »Und das war dein Glück, Freund, denn da geht es achtzig Meter runter, hinein ins Wasser. Du hättest dich sicher nie mehr zusammengefunden.«
Cloud sah, wie eine Welle über Jarvis' Gesicht glitt. Wahrscheinlich das Äquivalent zu menschlicher Leichenblässe. »Ich wäre endgültig tot gewesen …«, stieß Jarvis hervor, und echtes Grauen lag in seiner künstlichen Stimme. »Gerade noch mal Glück gehabt … aber das war mir überhaupt nicht bewusst. Ich rollte wie eine Kugel über die Brücke, hierher. Der Schwung reichte aus, um mich über die letzte Steigung zu tragen und hierher zu schubsen, wo ich einfach liegen blieb. Da war nur noch Schmerz – mentaler Schmerz … ich war gefangen darin …« »Es ist vorbei«, meinte Cloud. »Denke nicht mehr darüber nach. Du hast zurückgefunden, und jetzt können wir zusammen weitermachen, wie es geplant war.« »Du hast Recht, vergessen wir diese Scheiße. Wo sind wir?« »Wenn ich das wüsste. Ich habe keinen Anhaltspunkt, um mit dem Plan zu arbeiten.« »Lass mich mal sehen, ich habe ihn ja auch gespeichert.« Jarvis ging an den Rand des Abgrunds und drehte sich langsam einmal um die eigene Achse. Dann stieß er einen Fluch aus. »Hat absolut keinen Nutzen, das Teil! Na, dem werd ich was erzählen, wenn ich zurück bin!« Cloud wusste, wen er meinte. »Fontarayn hätte sicher keine Ahnung gehabt, was hier vor sich geht. Ich bezweifle, dass er sich besser zurechtfände.« »Okay, dann lass uns einfach irgendwohin gehen, nur weg von dieser Stelle, die uns nicht weiterbringt. So weit liegen die Antigravschächte hier nicht auseinander. Wenn wir immer in eine Richtung gehen, sollten wir auf einen treffen.« Cloud nickte. »Kommt es dir eigentlich nicht auch merkwürdig vor, dass die Gloriden einfach durch die Außenhülle der Perle sickern können, hier drin aber Antigravlifte, Treppen, Rutschen und so weiter haben, die sie auch benutzen?« »Nee«, antwortete Jarvis. »Den Großteil ihres Daseins verbringen sie in nachgebildeter stofflicher Form, die den Menschen ähnlich ist. Das finde ich merkwürdig – die humanoide Gestalt, meine ich –, ansonsten können sie ihre Aufgabe in reiner Energieform wohl nicht
ausreichend erfüllen. Und ich bin sicher, dass sie hier drin Roboter hatten. Vielleicht im Lauf der Zeit auch ab und zu einmal das eine oder andere Hilfsvolk. Ich meine, das wäre nur logisch angesichts der Größe dieses Bauwerks und der hohen technischen Anforderungen.« »Es ist müßig, darüber nachzudenken«, sagte Cloud. »Sehen wir lieber zu, dass wir einen Bereich finden, den wir auf der Karte markieren können, um uns zu orientieren.« »Ich bin bereit«, sagte Jarvis. Sie folgten dem Pfad, der sich zwischen den Felsen hindurchschlängelte. Wie sie jemals wieder die Perle verlassen wollten, daran wollte keiner von beiden derzeit denken oder darüber sprechen. Hauptsache, sie erreichten wenigstens ihr Ziel. Alles Weitere würde sich dann – hoffentlich – finden.
8. Neue Welten Als würden sie durch einen Transmitter gehen, hörte der Schotterweg plötzlich auf und ging von einem Schritt zum nächsten übergangslos in einen glatten, fugenlosen, künstlich angelegten Gang über. Als sich Cloud umdrehte, konnte er die Landschaft hinter sich sehen, mit blauem Himmel und moosbewachsenen Felsen; in der Ferne hörte er das Dröhnen des Wassers durch die Schlucht. Vor ihm lag ein schnurgerader, matt erleuchteter Korridor, etwa vier Meter breit, dessen Ende im Dunkel lag. Als er sich nach zwei weiteren Schritten noch einmal umdrehte, war nichts mehr von der Felsenlandschaft zu sehen. Genau der selbe Korridor zeigte sich jetzt, mit einer Sichtweite von etwa dreißig Metern bis zur Dunkelheit. Cloud nahm seine Messgeräte in Anspruch, aber wie er erwartet hatte, konnten sie keine Auskunft geben. Hier in der Perle versagte die konventionelle Technik des Einsteinraums – wie offenbar überall in diesem Medium. Erstaunlicherweise funktionierte der Nanokörper von Jarvis aber nach wie vor, wenn auch mit Einschränkungen, die ihn seines sonst üblichen Arsenals von Möglichkeiten beraubten. Aber immerhin – er war im Stande zu agieren und nicht wie ein seines Zusammenhalts beraubter Torso zu einer Pfütze aus mikroskopisch winzigen Teilchen zusammengesunken. »Und wieder lassen wir etwas hinter uns, von dem wir keine Ahnung haben, ob wir es erlebt haben oder nicht«, meinte Jarvis, der sich über seine persönliche Situation gewiss schon eigene Gedanken gemacht hatte, lakonisch. Cloud sagte nachdenklich: »Ich glaube schon, dass es real war. Wir … nun, durchschreiten hier dimensionale Grenzen, Jarvis. Ich glaube, durch ihre ganz besondere Verankerung in der Zeit, aber außerhalb des Raums, stehen die Perlen in Verbindung zum ganzen Uni-
versum. Und je nachdem, wie funktionstüchtig die von den Gloriden gewartete Technik ist, machen sich diese Verbindungen bemerkbar. Man kann sie betreten, durchschreiten und wieder verlassen.« »Ziemlich kühne Theorie.« »Aber wenigstens eine Erklärung für das Ganze. Diese Perle ist seit langer Zeit verlassen. In den letzten hundert Jahren hat es einige Veränderungen gegeben – denke nur an die Kristallsatelliten dort draußen. Wir befinden uns hier in einem Bereich, den wir mit unserem beschränkten Verstand nicht erfassen können.« »Das gefällt mir nicht«, tat Jarvis kund. »Nicht im Geringsten. Ich will gern wissen, worauf ich mich einlasse.« Cloud grinste. »Dann hättest du dich nicht freiwillig für diese Expedition melden dürfen, Freund. Also, lass uns weitergehen, irgendwohin muss dieser Gang ja führen.« Sie folgten dem Korridor, doch lange Zeit gab es keine Veränderung. Keine Abzweigung, keine Türen, nichts. Cloud hatte auf einmal das Gefühl eines Déjà-vu, versuchte es aber zu ignorieren. Immer wieder zogen er und Jarvis den Bauplan zu Rate, ohne einen Hinweis zu finden, der ihnen die Orientierung ermöglicht hätte. Keine Markierungen, keine Symbole, einfach gar nichts. Der mit Metall ausgekleidete Gang war schmucklos und einheitlich mattsilbern. Es gab nicht einmal Staub. Clouds Nackenhaare stellten sich auf, als sie schließlich eine Tür mit einer ganz normalen Klinke erreichten. All dies hatte er schon einmal erlebt, im Traum und in … tja, visionärer Wirklichkeit? Fing jetzt wieder alles von vorne an? Jarvis verhielt vor der Tür. »Soll ich …?« Cloud verschloss den Helm. Nach einem kurzen Blick auf die Anzeige nickte er. Der ehemalige GenTec drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Dahinter lag alles in diffusem Nebel, den die beiden Gefährten, ohne zu zögern, betraten. Schon nach wenigen Schritten wurde es lichter und heller.
Sie blickten auf einen dicht bewachsenen Dschungel, der sich ausbreitete, so weit das Auge reichte, bis hinauf in luftige Höhen. Halbhohe Büsche mit dicken fleischigen, rotgeränderten Blättern, so groß wie ein Pferd, verdeckten die Sicht auf das Innere. Dazwischen wuchsen zierliche Bäumchen, die Cloud mit seinen Armen umfassen konnte, kerzengerade nach oben. Die Stämme waren blaugeädert; in regelmäßigen Abständen zweigten Äste ab, mit langen, fein befiederten weißen Blättern. Der Boden war mit veilchenblauem Moos bedeckt, weich und nachgiebig. Sie hinterließen keine Abdrücke und Spuren, als sie sich in den Dschungel hineinwagten. Das Polster richtete sich sofort wieder auf. Cloud konnte den Helm öffnen, und ihm schlug schwülwarme Luft ins Gesicht, die ihm augenblicklich den Schweiß aus den Poren trieb. Durch den Dschungel führten einige Pfade. Jarvis machte sich so lang wie nur möglich, um einen Überblick zu erhalten, aber das Baumwerk war zu hoch für ihn. Sie entschieden sich, die Richtung beizubehalten, wobei Cloud sich vorwiegend auf Jarvis' Orientierungssinn verlassen musste, denn nach einigen Biegungen und Abzweigungen hatte er die Richtung bald aus den Augen verloren. Es sah überall gleich aus. Cloud zuckte zusammen, als plötzlich über ihm von einem dichten Laubbaum herab ein schauerlicher, knarzender Schrei ertönte. Er blickte nach oben und sah einen Vogel mit großen, blau glänzenden Federn und riesigem, rotem Schnabel, der aus gelben Augen zu ihm herabschielte. Der Vogel schrie ein zweites Mal, dann stieß er plötzlich mit aufgerissenem Schnabel in die Tiefe. Cloud sprang erschrocken zurück, als der Vogel vor ihm auf dem Boden landete und den Schnabel ins weiche Moos schlug. Nur eine Sekunde später zappelte ein etwa kaninchengroßes Schalentier, einer Krabbe nicht unähnlich, in dem roten Schnabel. Allerdings war das noch nicht alles. Ohne sich um Cloud oder Jarvis zu kümmern, hüpfte der Vogel rückwärts, zog und zerrte – und zum Vorschein kamen zwei gut eineinhalb Meter lange, mit messerscharfen »Zäh-
nen« bewehrte Greifzangen. Mit diesen Greifzangen schlug das Krabbentier wild um sich und versuchte, den Vogel zu erwischen, doch dieser schüttelte heftig den Kopf, schleuderte seine Beute schließlich nach unten, trat mit einem Fuß auf den Schalenkörper und zwickte die beiden Zangen blitzschnell mit dem Schnabel ab. Die zappelnden Bewegungen erstarben augenblicklich. Der Vogel drehte den Kopf zu Cloud und blinzelte ihn an. »Giftig«, flötete er. »Aufpassen.« Dann ließ er den Schnabel krachend auf die Schale fallen, knackte sie und widmete sich dem weichen Inneren. Cloud war so verblüfft, dass er keinen Ton herausbrachte. Nicht nur, dass er ahnungslos beinahe in eine tödliche Falle getappt wäre – wieso konnte er den Vogel verstehen? »Ich gehe voraus«, erklärte Jarvis, nüchtern wie stets. Oder zumindest, wie er es seit dem Übertritt in den Kunstkörper foronischer Bauart häufig demonstrierte. Das brachte Cloud auf den Boden der Tatsachen zurück. Er widersprach nicht und nahm sich vor, aufmerksamer auf die Umwelt zu achten. An den hauchfeinen Enden der befiederten Bäume hingen oft winzige Geschöpfe, vielleicht Käfer, die sich von einer sanften Brise hin und her schaukeln ließen. Jedes Mal, wenn zwei oder mehrere von ihnen aneinander stießen, gab es einen hohen, klingenden Ton, als ob eine zarte Glocke läutete. Wobei kein Ton dem anderen glich. Je mehr sich berührten, desto vielstimmiger wurde es. Auf den riesigen fleischigen Blättern der Büsche saßen oft hauchdünne, langgliedrige Spinnen, die klebrige Fäden nach vorbeifliegenden Insekten warfen und sie damit fingen. Die beiden Pflanzenarten waren dominierend in diesem Dschungel und am auffälligsten. Tiere musste es noch mehr geben, denn Cloud hörte öfter Flügelschlag oder ein Prasseln durchs Dickicht. Er wollte es allerdings auf keine Begegnung ankommen lassen. Stellenweise war das Gestrüpp so dicht, dass sie sich durchkämpfen mussten. Obwohl es ihm unangenehm war, hatte Cloud den
Helm wieder verschlossen, um auf alle Überraschungen gefasst zu sein. Und das war nicht falsch, denn plötzlich war Jarvis vor ihm verschwunden, und im nächsten Moment gab der Boden auch unter dem Commander nach. Er stürzte in die Tiefe eines Schachtes.
Jarvis dehnte seine Arme, bekam einen Vorsprung zu fassen, streckte gleichzeitig seine Beine, deren Enden er zu greifvogelartigen Klauen umwandelte, packte Cloud gerade noch rechtzeitig und zog ihn mit, während er sich auf den Vorsprung hangelte. Sobald Cloud in Sicherheit war, sprang Jarvis auf und sah sich um. »Dies ist ein Transportlift«, sagte er. »Das erkenne ich am Durchmesser und der groben Struktur der Wände. Leider ist der Antigrav abgeschaltet, sonst hätten wir ein gutes Stück nach oben zurücklegen können.« »So einfach wird es uns nicht gemacht«, meinte Cloud und projizierte den Bauplan in ein Holo vor seinem Gesicht. »Das glaube ich allmählich auch«, brummte Jarvis. »Hier kann ich leider keine Symbole oder ähnliches entdecken. Also wieder nichts mit Standortbestimmung.« »Nicht ganz«, widersprach Cloud. »Transportschächte gibt es insgesamt nur sechs – sehr wenige im Vergleich zum Durchmesser der Perle.« »Ja, aber mehr haben sie wahrscheinlich nicht gebraucht.« Jarvis deutete auf die untere Hälfte der holographisch dargestellten CHARDHIN-Station. »Hier unten befinden sich hauptsächlich Materiallager, Rohrleitungen, Versorgungssysteme. Einen Teil davon haben wir ja schon beim ersten Besuch kennen gelernt. Die sechs Schächte führen ausschließlich vertikal bis fast zur Ebene mit der Zentrale und dem Bezirk des Perlenweisesten. Insofern spielt es eigentlich keine Rolle, in welchem wir uns befinden, da sie alle nach oben zum selben Deck führen.« »Ich hätte ganz gern gewusst, in welcher Höhe wir uns befinden, um abzuschätzen, wie viel noch vor uns liegt«, meinte Cloud. »Wie
auch immer: Wenn wir bis zum letzten erreichbaren Deck kommen, können wir von dort aus einen der Zentralschächte suchen. So weit sind die Wege dann von keinem Transportschacht aus mehr, weil wir uns schon ziemlich in der oberen Krümmung befinden.« »Dich schreckt wohl der Gedanke einer ausgiebigen Kletterpartie?«, versetzte Jarvis munter. »Keine Sorge: Du hängst dich einfach bei mir an, und ich verfrachte uns beide nach oben. Für meine tollen ›Muskeln‹ kein Problem.« Cloud vergaß es immer wieder. »Ich wusste ja, warum ich dich als Begleiter nehme.« Er legte seine Arme um Jarvis' Hals; Angst, ihm die Luft abzudrücken, brauchte er nicht zu haben. Jarvis modellierte noch eine Stütze für Clouds Beine aus dem Wadenbereich, dann konnte es losgehen. Zum Glück war der Transportschacht nicht gänzlich glatt, es gab genügend Fugen und Querstreben, die sicher irgendwann einmal einen Zweck erfüllt hatten. Teilweise waren die Abstände etwas weit, aber der amorphe Körper war höchst dehnbar. »Allein wäre ich da nie und nimmer raufgekommen«, stellte Cloud lakonisch fest. Ab und zu schaute er nach unten. Der Schacht war wie die meisten andere Bereiche der Perle matt erleuchtet, von indirekten Lichtquellen. Dennoch verlor sich der Abgrund irgendwann in Düsternis. Der Entfernungsmesser seines Anzugs gab an, dass der Schacht über dreißig Kilometer lang sein musste; darüber hinaus wurden die Messungen nämlich ungenau, aus irgendwelchen unbekannten Gründen. Aber das war ja nichts Neues. Das wäre ein langer, tiefer Fall geworden; da wurde ihm im Nachhinein noch einmal schwindlig. Andererseits machte es Cloud Hoffnung, dass sie durch den Fehlsprung nur etwa zwanzig Decks unterhalb des Ziels herausgekommen waren. Also nur noch etwa zehn Kilometer zur Überbrückung, statt sechzig oder siebzig. »Schön gleichmäßig und aufpassen«, murmelte er, aber mehr zur Beruhigung für sich selbst. Auf Jarvis konnte er sich verlassen, wie sich bereits mehrfach gezeigt hatte. »Alles in Ordnung da hinten?«, fragte der ehemalige GenTec.
»Bestens. Ich habe es durchaus gemütlich, nur die Aussicht ist ein wenig eintönig.« Jarvis kletterte in gleichmäßigem Tempo immer weiter nach oben. Cloud konnte manchmal gar nicht hinsehen, wenn er sich besonders dehnen musste – oder sogar »um die Ecke« hangeln. Es kam ihm schon wie eine Ewigkeit vor. Aber eines hatte er aus dem Besuch vom letzten Mal gelernt: Dass die Zeit hier drinnen einen anderen Verlauf hatte als draußen. Möglicherweise befanden sie sich schon mindestens einen Tag hier, während draußen vielleicht gerade eine Stunde vergangen war. Die Gesetze von Zeit und Raum galten hier nicht, deswegen hatte ein Uhrenvergleich auch keinen Sinn. Er hatte die Zeit mit Sarah nur deswegen abgesprochen, um sie zu beruhigen. Aber inzwischen hatte sie wahrscheinlich festgestellt, dass Sesha die ablaufende Zeit zusehends schätzte. Bestimmt hatte die KI inzwischen auch schon ein paar Lücken im Gedächtnis. Dem Rochenschiff setzte dieses Medium fast mehr zu als den rein biologischen Lebenseinheiten. Seine komplizierte Struktur aus Nanotechnologie und Biokomponenten war den fremden Einflüssen schutzlos ausgesetzt. Und Jarvis? Cloud wollte lieber nicht daran denken, ob nicht auch der Freund unter Langzeitfolgen seines Aufenthalts in diesem abstrusen Medium zu leiden haben würde – irgendwann. Aylea wird es Sarah erklären, lenkte er sich ab. Das kann sie besser als jeder von uns, und vor allem kann sie sich gut Gehör verschaffen. Sie wird Sarah schon beruhigen. Und Sarah wird lernen müssen, einfach zu vertrauen und abzuwarten. Eine harte Bewährungsprobe, aber notwendig. Ich brauche einen mental starken Vertreter, der gut Leute führen kann, jedem von uns kann etwas zustoßen, und dann muss einer einen kühlen Kopf bewahren. »Spürst du eigentlich so etwas wie körperliche Anstrengung?«, wollte Cloud wissen. »Nein«, antwortete Jarvis. »Solange ich über genug Energiereserven verfüge – und ich habe noch reichlich, falls es dich beruhigt –, bleibe ich stets gleichbleibend einsatzfähig. Ich kann nicht außer
Atem kommen, schwitzen und keine Krämpfe kriegen.« »Fehlt es dir manchmal?« »Manchmal, ja. Aber mehr aus nostalgischen Gründen, glaube ich. Ich versuche, nicht zu oft an die Vergangenheit zu denken. Und … diese Hülle gibt mir … ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Zufriedenheit? Etwas in der Art. Ich bin sehr viel ausgeglichener als früher. Und die Erinnerungen an meinen biologischen Körper schwinden mehr und mehr. Inzwischen weiß ich kaum noch, wie ich ausgesehen habe. Ich forme mich ganz intuitiv, wie es in meinem Bewusstsein verankert ist.« Eine Weile schwiegen sie. Dann fügte Jarvis hinzu: »Falls es dich interessiert: Am faszinierendsten ist für mich die neue Wahrnehmung. Meine über den ganzen Körper verteilten Sinnesrezeptoren empfangen alle gleichermaßen Impulse von außen: optische, akustische, sensorische Reize. Ich kann sogar riechen, wenngleich auf ganz andere Weise als früher. Es ist mehr ein zusätzliches Fühlen. Was bedeutet: Ich kann nahezu alles analysieren und könnte dir sagen, woraus sich ein Getränk, das man dir reicht, zusammensetzt. Und dazu kann ich meinen rechten großen Zeh ebenso verwenden wie mein Ohr. Ich sehe den Boden unter meinen Füßen, auf dem ich gehe und erkenne seine Zusammensetzung. Ich kann das Knicken eines Grashalms mit meiner Fußsohle hören, wenn ich darauf trete. Es ist eine fantastische Bewusstseinserweiterung, die alles aufwiegt, was ich verloren haben mag.« »Dadurch fühlst du weiterhin, wenngleich auch auf ganz neue Weise«, vermutete Cloud. »O ja. Ich fühle und empfinde sehr viel. Mehr als früher; schließlich wurden Emotionen für die mir ursprünglich in den Labors auf der Erde zugedachte Aufgabe ziemlich rausgezüchtet. Im Grunde genommen bin ich jetzt mehr Mensch als früher … und mein Geist erweitert sich zunehmend. Ich glaube, ich bin mit meiner Entwicklung noch lange nicht am Schlusspunkt angekommen.« »Klingt fast, als müsste ich dich beneiden.« »Ich wollte nur deutlich machen, dass es mir gut geht, dass mir nichts fehlt, und dass ich nicht unglücklich bin. Ich weiß, wie be-
fremdlich ich nach wie vor auf euch wirken muss. Gerade deswegen bemühe ich mich ja so, mich möglichst naturgetreu nachzubilden. Und es macht mir auch Freude, in der humanoiden Gestalt aufzutreten. Vielleicht ist das bei den Gloriden auch so. Wie auch immer: Ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen oder zu glauben, Rücksicht auf mich nehmen zu müssen.« Cloud verlagerte sein Gewicht. »Jarvis, langsam machst du mir Angst. Ich kenne dich gar nicht wieder …« »Veränderungen bringt das Leben so mit sich, John. Ich habe es gut getroffen. Und ich bin gespannt darauf, was mich noch erwartet.« Jarvis verharrte. »Hier, beispielsweise, erwartet uns eine Barriere.« Cloud blickte an ihm vorbei nach oben und erkannte, was der ehemalige GenTec meinte. Es hatte irgendeinen Unfall gegeben, denn ein gewaltiges, nicht erkennbares Metallstück versperrte den weiteren Aufstieg. Das Teil hatte sich hoffnungslos zwischen den Wänden verkeilt. Dem Zustand des Schachtes nach zu urteilen, war das prismenartige, mit spitzen Ausläufern versehene Aggregat – oder die Maschine – mit gewaltiger Wucht heruntergekracht, gegen die Wände gedonnert und hatte schließlich einige der vorstehenden spitzen Kanten in das normalerweise widerstandsfähige Material hineingerammt. Dadurch war das Teil zum Stillstand gekommen, aber um es wieder freizubekommen, wäre ein erheblicher Aufwand notwendig. »Kein Vorbeikommen?«, fragte Cloud. »Ausgeschlossen«, antwortete Jarvis. »Ich könnte mich ja vielleicht durchquetschen, wenn ich mich ganz dünn mache – etwa wie Papier. Aber bei dir kriegen wir das nicht hin, fürchte ich.« »Ich fürchte auch. Also, dann müssen wir den nächsten Ausstieg suchen und zusehen, dass wir einen anderen Lift finden. Oder einen konventionellen Aufstieg.« Für Jarvis war es keine Mühe, wieder nach unten zu klettern, da er ja nicht den Kopf bewegen musste, um hinzusehen, wohin er trat. Außerdem hatte er die Reihenfolge der Griffe noch ganz genau im Gedächtnis.
Sie kletterten wieder ein Stück weit nach unten, bis Jarvis einen Ausstieg entdeckte; vermutlich für Wartungsarbeiten, da einige Leitern und Stützgestänge bereitlagen oder an der Wand verankert waren. Zusammen mit Cloud schwang der ehemalige GenTec sich in den Zugangsschacht. Cloud war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. »Hoffentlich ist das Schott nicht codeverriegelt.« »Warum sollte es?«, erwiderte Jarvis. »Hier in der Perle waren keine Feinde oder Spione zu fürchten. Selbst den Aufstand eines Hilfsvolkes konnten die Gloriden schnell beenden, wenn sie Energieform annahmen. Wir haben noch nicht mal ansatzweise mitbekommen, wozu sie fähig sind.« »Und trotzdem sind sie beschränkt, da auch sie das Geheimnis der Perlen nicht kennen und nicht alles betreten dürfen.« »Es ist eben alles relativ.« Jarvis' künstlicher Mund formte ein Grinsen. Cloud konnte sogar Zähne sehen. Nach kurzem Suchen fanden sie einen Sperrriegel. Wie Jarvis vermutet hatte, konnten sie ihn einfach umklappen, und eine Tür schwang nach innen auf.
Sie standen auf einem Plateau hoch über einer Savanne. Vereinzelte, über hundertfünfzig Meter hohe und im Durchmesser etwa zwanzig Meter dicke Bäume warfen mit riesigen, schirmartig ausladenden Kronen gewaltige Schatten auf eine goldgelbe, von struppigem Kraut und magerem Gras überzogene Ebene. Der Himmel war violett. Obwohl auch hier keine Sonne zu sehen war, war es taghell, mit fast dreißig Grad ziemlich heiß und trocken. Als Cloud einen Schritt vorwärts machte, wäre er fast gestolpert. Die Schwerkraft war hier geringer als 1 g, ebenso schien der Sauerstoffgehalt der Luft reduziert zu sein. Es war angebracht, den Helm geschlossen zu halten. Tiere von bizarrem Aussehen, die an urzeitliche Riesensäugetiere erinnerten, zogen durch die Savanne. Die meisten waren haarlos
und bewegten sich in gemächlichem Schritt auf säulenartigen Beinen. An ihnen vorbei zogen flinke zweibeinige, teils mit Federn bedeckte Läufer. Jarvis stupste Cloud leicht an und wies in die Ferne. Dort, mitten aus der Savanne, wuchs eine dunkle Säule empor bis in den Himmel. Ihre Höhe war nicht bestimmbar, da sie sich in der Weite verlor. »Der nächste Lift, wetten?« Cloud nickte. Das bedeutete jetzt Fußarbeit – zuerst hinunter in die Ebene und dann flott zu der dunklen Säule. Aber bei der geringeren Schwerkraft dürfte es nicht allzu anstrengend werden. Und notfalls konnte Jarvis ihn ja tragen. »Darauf warst du gar nicht eingestellt, was?« Jarvis grinste noch breiter als zuvor. »Vorsicht, sonst geht dein Grinsen rundum«, bemerkte Cloud. Er trat bis an die Kante und sondierte das Gelände. Es gab keinen Weg, aber ausreichend Vorsprünge. Er überlegte, den Vorteil der geringen Schwerkraft zu nutzen und sich springend nach unten zu bewegen, anstatt mühsam zu klettern. »Lass mich zuerst«, bat Jarvis. »Ich kann dich auffangen, wenn es sein muss.« Cloud, der keine Lust auf ewige Diskussionen um das gleiche Thema hatte, gab nach und nickte stumm. Es war bizarr, wie Jarvis sprang. Zuerst schwebte er in der Luft, und es schien fast so, als würde er jetzt für immer dort hängen. Dann zog sich sein Körper plötzlich in die Länge nach unten, bis er den ersten Vorsprung fast erreicht hatte, nun folgte der Rest nach. Kurz darauf stand eine menschliche Gestalt unten auf dem Vorsprung und winkte. Cloud stieß sich ab. Durch sein früheres Astronautentraining in der Schwerelosigkeit wusste er, wie er sich verhalten musste, um nicht in unkontrollierte Drehung zu geraten und womöglich mit dem Rücken nach unten zu stürzen. Tatsächlich hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl der Schwerelosigkeit, bevor es dann doch nach unten ging. Zuerst langsam, dann etwas schneller, als er sein Gewicht gezielt durch die
richtige Haltung einsetzte. Schließlich landete er neben Jarvis und federte sich ab. Er wartete nicht ab, sondern suchte sich gleich den nächsten Vorsprung aus, und so ging es flott nach unten, kreuz und quer, wie Steinböcke im Gebirge. Cloud wollte es sich nicht eingestehen, aber es machte ihm gehörigen Spaß, und er musste sich zusammennehmen, um nicht laut zu lachen. Allerdings war er wohl wieder einmal nicht aufmerksam genug. Obwohl er stets das Gelände beobachtete. Denn plötzlich rammte Jarvis ihn und riss ihn mit sich. Ehe Cloud sich versah, drückte der Freund ihn in eine Felsspalte. Gleich darauf erkannte er den Grund: Ein Schatten fiel über den Felsen. Ein riesiger Vogel mit Flügeln wie Tragflächen – mit einer Spannweite von mehr als vierzig Metern – zog in zehn Metern Höhe über ihn hinweg … wo Cloud gerade eben noch gewesen war. Um Haaresbreite. Er hatte keinen Flügelschlag gehört, keine Annäherung gespürt. Der Vogel war urplötzlich aufgetaucht, wer weiß woher, und auf Beutefang gegangen. Cloud sah rasiermesserscharfe Klauen, groß wie sein Brustkorb, und hörte das scharfe Klicken, als sie nichts als Luft griffen und zusammenschlugen. Der lange, spitze Schnabel streifte beinahe den Felsen, als der Vogel den hornigen Schädel beugte. Er stieß einen hohen, spitzen Schrei aus, der nicht einmal von den Anzugsystemen ausreichend kompensiert werden konnte. Cloud klingelten die Ohren, und für einen Moment konnte er außer Summen und Pfeifen nichts mehr hören. »… knapp«, bekam er undeutlich mit, als Jarvis ihn anredete. Er nickte und beobachtete, wie der Vogel rasch wieder an Höhe gewann und weiterzog, Richtung Savanne, wo reichlich Beute unterwegs war. »Ich habe ihn nicht bemerkt«, gestand Cloud, als er wieder hören konnte. »Er war auch absolut lautlos«, sagte Jarvis. »Ich habe seine Annäherung ebenfalls nicht bemerkt. Plötzlich war er da, und weil ich, wie vorhin erwähnt, überall Augen habe, konnte ich ihn auf einmal
sehen – aber beinahe zu spät. Mich hätte er wahrscheinlich als unverdaulich wieder ausgespuckt, aber wir wollen nicht drüber nachdenken, was er mit dir angestellt hätte.« »Ich wäre ein viel zu kleiner Happen für den gewesen, wahrscheinlich hätte er mich in sein Nest mitgenommen, für seine Jungen«, meinte Cloud mit Galgenhumor. Der Schrecken war schnell überwunden, und es ging weiter. Unten in der Savanne war inzwischen Panik ausgebrochen, als der Schatten des Vogels auf eine Herde Pflanzenfresser herabfiel. Die Tiere, die so behäbig gewirkt hatten, stoben erstaunlich flink nach allen Richtungen davon. Sie gerieten dabei zwischen andere Herden und Läufer auf zwei Beinen, sodass ein ziemliches Durcheinander entstand. Der Vogel aber hatte seine Beute längst erspäht und ging auf Sinkflug. Obwohl er langsam war, mehr ein Gleiter denn ein Flieger, hatte das Opfer keine Chance. Er sank bis auf wenige Meter Bodenhöhe und rauschte knapp über die fliehenden Herdenverbände hinweg. Dann stach er mit dem spitzen Schnabel zu, spießte das mindestens zwei Tonnen schwere Tier auf, schleuderte es kraftvoll hoch und packte zielsicher mit den mächtigen Klauen zu. Cloud schluckte trocken. Er achtete darauf, dass er bei seinen nächsten Sprüngen immer genug Deckung hatte. Und er beglückwünschte sich einmal mehr dazu, Jarvis als Begleiter zu haben.
Auf dem Weg durch die Savanne lief und sprang Cloud abwechselnd. Die schwarze Säule rückte langsam näher. Er hoffte, dass es wirklich ein weiterer Antigravlift war, denn eine andere Möglichkeit, nach oben zu gelangen, sah er weit und breit nicht. Behelligt wurden sie nicht; es ließen sich keine Tiere in der Nähe blicken. Aber sie kamen an einem der Riesenbäume vorbei; vielmehr, sie gerieten in seinen Schatten, lange bevor deutlich wurde, wie gewaltig diese Pflanzen waren. Ihre teils oberirdischen Wurzeln krallten sich wie Finger in den Boden, hatten ihn an manchen Stellen aufgerissen und sich durch das Erdreich gewühlt. Cloud unterließ
es, zum Stamm vorstoßen zu wollen, den die Wurzeln bewachten, indem sie jede Menge Hindernisse bildeten, über die Cloud hätte klettern müssen. Oder tückische Löcher und Gruben überspringen. Aus der Entfernung wirkte die silbrig-graue Borke faserig und – feucht. Entweder war es Harz oder tatsächlich Wasser, was da in kleinen Rinnsalen den Stamm hinunterlief. Abgesehen von der Krone gab es keine Äste und Verzweigungen. Und die Krone war so hoch, dass sie aussah, als wäre sie an den Himmel geklebt. Trotz der Höhe waren ihre gewaltigen Ausmaße immer noch deutlich zu sehen. »Interessant«, stellte Cloud fest. »Auf so einer Welt könnte es mir schon gefallen.« »Ja, wenn hinter dem nächsten Hügel eine High-Tech-City und ein Raumhafen wären«, spottete Jarvis. »Du bist doch überhaupt nicht der ländliche Typ! Oder denkst du dabei an jemand anderen?« »Wen sollte ich da meinen?« »Das musst du besser wissen.« »Du spinnst doch.« »Und warum hat sich deine Atemfrequenz beschleunigt?« »Wegen des Lifts, der schon fast greifbar nahe ist, schau doch!« Cloud erhöhte das Tempo und hielt auf das seltsam verwaschen wirkende, wie von schwarzen Schleiern umwallte Gebilde zu, das sich senkrecht in den Himmel schraubte. Er sah aber auch ein Rudel Raubtiere, das auf der anderen Seite des Baumes gedöst hatte und nun munter wurde. Hyänenartige, bärengroße Kreaturen, die sich erhoben, lässig schüttelten, den beeindruckenden Rachen zu einem Gähnen öffneten und sich dann langsam in Bewegung setzten. »Ich kann sie aufhalten, lauf du nur weiter!«, rief Jarvis und bog bereits ab, mit Kurs auf die Tiere. »Jarvis, mach keinen Blödsinn, wir sind vor denen am Lift!«, rief Cloud und zog vorsichtshalber seinen Blaster. Er wollte jedoch nicht schießen; diese Kreaturen folgten nur ihrem Instinkt, mehr nicht. »Lass sie in Frieden, hauen wir lieber ab!« »Was fürchtest du?«
»Wir befinden uns nicht wirklich auf einem Planeten, Jarvis, sondern immer noch in der Perle. Ich habe keine Ahnung, was es für Auswirkungen hat, wenn wir uns den Weg mit Gewalt bahnen! Wir wissen ja noch nicht einmal, welchen Sinn das alles hat!« »Du hast Recht.« Jarvis drehte um und holte zu Cloud auf. Allerdings hatten sie sich verschätzt, was den Vorsprung betraf. Diese massigen Kreaturen waren schnell. Zu schnell. Nacheinander bliesen sie mit heulenden Lauten zum vielstimmigen Halali. Mit einem einzigen Sprung legten sie fünfzehn Meter zurück. »Wir schaffen es doch nicht rechtzeitig«, keuchte Cloud. »Aber … ich habe das Gefühl, dass wir nicht schießen dürfen oder angreifen … Was sollen wir tun?« »Das Einzige, was bleibt.« Jarvis sprang den Commander an, riss ihn mit sich zu Boden und stülpte sich wie ein Schutzpanzer über ihn. Das passierte mit Cloud nicht zum ersten Mal, aber deswegen hasste er es nicht weniger. Obwohl der Nanokörper ihn nicht berührte und er seinen Raumanzug mit geschlossenem Helm trug, kribbelte es ihn überall, und er hatte das Gefühl, als würden Tausende winziger Ameisen unter den Anzug und über ihn krabbeln. Zudem konnte er nichts sehen. Alles in Ordnung. Er spürte Jarvis' Stimme mehr, als dass er sie wirklich hörte. Sie sind jetzt da, und ich glaube, ein bisschen sauer, weil sie dich nicht finden. Sie können dich überall riechen, schnüren schnuppernd umher, aber sie wissen nicht, wo du bist. Einer hat mich jetzt entdeckt. Er schnüffelt und kratzt an mir und weiß nichts mit mir anzufangen. Er fängt an zu heulen. Zwei andere knurren sich an und stehen kurz vor einem Kampf. Vielleicht machen sie sich gerade gegenseitig Vorwürfe, wer versagt hat. Jetzt kommt einer von denen zu mir her und … was ist das? Der will doch nicht etwa sein Bein heben? Das geht zu weit! Warte, du, dir zeig ich's. Ha! Da rennt er, mit eingekniffenem Schwanz! Sehr gut. Die anderen folgen ihm. Anscheinend habe ich das Leittier erwischt. Nur noch einer ist da. Er schnuppert ständig an mir, versucht sogar, mich anzuknabbern. Ich
glaube, er vermutet etwas. Aber da rufen ihn die anderen. Er zögert … jault ihnen was zu … jetzt folgt er ihnen. Cloud wartete geduldig. Ihm war klar, dass Jarvis ihn nicht freigeben würde, solange die Raubtiere noch in Sicht waren. Doch dann zog sich der schwarze Schleier um ihn zurück, und er hatte wieder freie Sicht. Von den Raubtieren keine Spur mehr. »Was hast du mit demjenigen gemacht, der dich anpinkeln wollte?« Jarvis grinste. »Ich habe ihn ein bisschen mit Strom gekitzelt. Fand er wohl unangenehm.« Cloud schüttelte den Kopf. »Das würde dir an seiner Stelle auch nicht gefallen.« »Apropos gefallen – bist du immer noch so begeistert von dieser Welt?« »Nicht mehr ganz so, zugegeben.« Sie liefen weiter auf die Säule zu. Je näher sie kamen, desto mehr zweifelte Cloud daran, dass es sich tatsächlich um einen Antigravlift handelte. Oder um sonst irgendetwas, das sie weiter nach oben bringen würde. Es sah so aus, als bestünde es ganz und gar aus schwarzen, wallenden Nebelschleiern ohne feste Materie. Wie bei einem Tornado kreisten die Schleier um das Zentrum, auf ewiger Reise. Von weitem hatten die Wirbel wie festes Material ausgesehen. Allerdings bewegte sich »der Tornado« selbst nicht, als wäre er fest im Boden verankert. »Ich glaube, wir sind gekniffen«, bemerkte Jarvis. »Ist mir auch aufgefallen«, knurrte Cloud. Was nun? Die Frage wurde wenige Sekunden später beantwortet. Offensichtlich war Cloud dem Ding zu nahe gekommen, denn plötzlich spürte er einen heftigen Zug an sich. Er wollte stehen bleiben, umkehren, was auch immer – aber das schaffte er nicht mehr. Bei der geringen Schwerkraft brachte er nicht genug Hebelwirkung auf, um sich gegen den Sog, der immer stärker an ihm zerrte, zur Wehr zu setzen.
»Jarvis!«, rief er. »Ich kann mich nicht mehr halten!« Der ehemalige GenTec ächzte, und Cloud sah erschrocken, wie sich seine Gestalt verformte und … auflöste. »Ich komme auch nicht dagegen an!«, rief Jarvis. »Es reißt mich auseinander, ich …« »Wehr dich nicht!«, schrie Cloud. »Lass dich einsaugen, wir schaffen es ohnehin nicht zu entkommen! Vertrauen wir darauf, dass es wieder gut gehen wird …« Schwupp. Weg war Jarvis. Cloud verlor den Boden unter den Füßen. Dann war auch er in den schwarzen Schleiern.
Immerhin – es ging nach oben. Ein kleiner Trost. So rasend schnell nach oben, dass Cloud keine Zeit hatte, nachzudenken. Er wurde steil emporgerissen, mit einer Geschwindigkeit, dass er keine Chance hatte, sich zu bewegen, dagegen zu steuern, was auch immer. Ebenso schnell, wie er eingesaugt worden war, wurde er wieder ausgespuckt. Hinausgeschleudert aus dem wirbelnden Tornado, und es wurde dunkel, gleich darauf wieder hell, und Cloud sah eine neue Welt … und spürte schmerzlich sein Gewicht. Es zog ihn nach unten, mit Urgewalt, und ohne seinen Raumanzug, der automatisch ein Prallfeld errichtete, hätte er sich jeden einzelnen Knochen gebrochen. Das Prallfeld erlosch gleich darauf wieder, und der Raumanzug gab einen Warnton von sich, der nachlassende Energie bedeutete. Bis auf die Luftversorgung wurde alles abgeschaltet, damit sich die Systeme wieder einigermaßen regenerieren konnten. Normalerweise wäre dieser Ausfall unmöglich gewesen, und Cloud fragte sich, welchen Gewalten sein Anzug ausgesetzt gewesen war, dass er bei der Errichtung des Prallfeldes so viel Energie hatte verbrauchen können. Gleich darauf begriff er es. Er lag flach auf dem Rücken und fühlte ein Tonnengewicht auf der Brust. Seine Lungen drohten zu kollabieren, obwohl der Anzug sein Bestes gab. Als er versuchte, einen Arm
zu bewegen, konnte er kaum den kleinen Finger heben. Das müssen mindestens 3 g sein, dachte er panisch. Es dauerte qualvolle Minuten, bis er sich endlich auf die Seite drehen konnte. Um ihn herum war eine steinige, flache Einöde. Zwischendurch wuchsen Büsche in horizontaler Ebene, mit dicken knorrigen, weit verzweigten Ästen und großen flachen, hauchdünnen Blättern. Auf dem Boden bewegten sich in verschiedenen Größen flache Tiere, ähnlich wie Flundern und Rochen in Wellenbewegungen, mit Tausenden winzigen Beinchen an den Rändern. Die größten, die Cloud sehen konnte, hatten einen Durchmesser von einem Meter und waren gepanzert, mit langen Stacheln und blitzschnell vorschießenden Spießwaffen. Die kleinsten waren nur wenige Millimeter groß und kämpften sich über das Hindernis seines Armes. Eine nahezu zweidimensionale Welt. Hier drohte sicher keine Gefahr aus der Luft. Dennoch hatte sich Leben entwickelt, das ihm gefährlich werden konnte. Cloud hoffte inständig, dass keine der großen Flundern in seine Nähe kam und versuchte, ihn anzubohren. Er hätte sich nicht zur Wehr setzen können. Der Himmel war trüb und gelb. Eine Wolke zog langsam über Cloud hinweg, und er betete darum, dass es nicht regnete. Das hätte ihn wahrscheinlich erschlagen. Aus dem Augenwinkel sah Cloud, wie etwas Dunkles auf ihn zukam: Jarvis, ebenfalls kaum höher als eine Flunder, kompakt zusammengepresst zu einem Oval. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Seine Stimme klang merkwürdig, wie gequetscht. »Bestens«, ächzte der Commander. »Ich ruhe mich nur ein wenig aus. Ich habe wohl etwas Schweres gegessen …« »Kannst du dich bewegen?« Cloud schaffte es, einen Meter vorwärts zu kriechen. Seine Rippen knackten bedenklich. »Wie viele g sind das?« »Einige. Selbst für mich ist es schwere Kost.« »Was jetzt?« »Ich habe mich schon ein wenig umgesehen. Ich glaube, da hinten
gibt es einen Lift – aber diesmal wirklich, denn kein Wirbel könnte sich hier halten.« »Wie weit, schätzt du?« »Auf einer Welt mit normalen Bedingungen ein Katzensprung. Hier würde ich sagen: zwei, drei Stunden. Außerdem muss ich dich ja irgendwie mitschleppen.« »Wie willst du das anstellen?« »Ich spiele Raupenfahrzeug. Pass auf, ich krieche als Erstes unter dich, denn auf mich zu klettern wirst du wahrscheinlich nicht schaffen.« Cloud regte sich nicht, als Jarvis immer flacher und dünner wurde. Er konnte sich nicht vorstellen, wie der Freund das schaffen wollte – aber tatsächlich war er irgendwann so dünn, dass er zwischen Clouds Körper und den Boden passte. Er war inzwischen geradezu zu einer Pfütze zerflossen. Doch kaum unter Cloud, schob er seine Gestalt wieder zusammen. Cloud merkte, wie er leicht angehoben wurde. »Bist ja schwerer als 'ne Tonne«, ächzte Jarvis. »Kostet mich eine Menge Energie, möchte ich dir nur sagen.« »Ich weiß. Die von meinem Anzug steht kurz vorm Kollaps.« »Dann werde ich mich besser beeilen.« Mit Cloud auf dem »Rücken« wibbelte Jarvis langsam über den unwegsamen Boden. Er hielt die Oberfläche möglichst stabil, um den Freund nicht zu sehr zu belasten, während die Unterseite sich eifrig voranwälzte, tatsächlich ähnlich wie ein Raupenfahrzeug. Cloud verlor zwischendurch das Bewusstsein, aber immer nur kurzzeitig. Die Schmerzen in seinem Körper wurden allmählich unerträglich. Wahrscheinlich waren seine Organe inzwischen total zusammengequetscht und sich gegenseitig im Weg. Jarvis sprach die ganze Zeit kein Wort. Auch er wurde wohl an die Grenze seiner Belastbarkeit gebracht, als er sich unaufhaltsam über den Erdboden wälzte. Schließlich rückte tatsächlich so etwas wie ein Schacht in Clouds Sichtbereich, mit einem ganz normalen Eingang. »Wir schaffen das«, behauptete Jarvis mit aufgesetzter Munterkeit.
»Vielleicht noch fünfzig Meter. Ein Klacks.« Cloud enthielt sich jeglichen Kommentars. Er rang nach Atem, kämpfte um jedes Sauerstoffmolekül, das er mühsam in seine kollabierenden Lungen einsog. Nicht mehr lange, das wusste er, dann würde sein Körper der Belastung nicht mehr standhalten können und in sich zusammenfallen. Seine Knochen würden in tausend Teile zerbrechen, und übrig bleiben würde nur ein nasser Sack, gehüllt in einen Anzug, den man einfach aufheben und sich über die Schulter werfen konnte. Erneut verlor er das Bewusstsein, und jetzt dauerte es schon länger, bis er sich des Schmerzes wieder bewusst wurde. »… durch!«, hörte er wie durch Watte die eindringliche Stimme des Freundes. »Nicht mehr weit. Nur noch ein bisschen, John. Halt durch.« Er versuchte ja alles, aber er wusste nicht, wie. Es war unerträglich. Unter normalen Umständen würde er jetzt schreien, was seine Lungen und Stimmbänder hergaben. Aber er konnte nichts anderes mehr tun als jämmerlich daliegen und spüren, wie er zugrunde ging. Da erreichte Jarvis endlich den Zugang. Irgendwie schaffte er es, eine Pseudopodie auszubilden und den Öffnungsmechanismus zu betätigen. Dann schleppte er sich und Cloud ins Innere des Schachtes und verschloss die Tür von innen. Jetzt war es absolut finster. »Geduld«, wisperte Jarvis. »Muss nur den Aktivierungsknopf finden. Ich weiß noch vom letzten Mal …« In diesem Moment wurde es dämmrig hell, und Cloud, der sich nur noch mühsam wach halten konnte, hörte ein leises Summen. Jarvis kroch noch ein Stück weiter. Dann wurde plötzlich alles ganz leicht.
9. Gebrochene Flügel Leicht wie eine Feder schwebte Cloud aufwärts, aber er merkte es kaum. Die Nachwirkungen der hohen Schwerkraft waren unverändert spürbar. Aus seinen Ohren rann Blut, und er konnte mit den Augen nichts fixieren, sie rollten ziellos in ihren Höhlen, wie bei einem Blinden. Jarvis hielt ihn immer noch fest. »Bevor wir weitermachen, musst du dich zuerst erholen«, stellte er fest. »Ich nehme den nächsten Ausgang.« Aus Clouds Kehle drang ein Gurgeln. »Und wenn … das wieder …« »Nein, das glaube ich nicht. Außerdem vertraue ich nach wie vor auf unser Glück. Und ich werde erst mal einen Blick nach draußen riskieren, sodass wir notfalls gleich wieder zurückkönnen.« Cloud war alles recht. Er konnte nicht mehr denken, nicht mehr entscheiden. Er wollte nur noch schlafen … »Wach bleiben!« Jarvis schüttelte ihn. »Reiß dich zusammen! Du hast doch schon alles überstanden, also mach jetzt nicht schlapp!« Cloud seufzte und hustete. Sein Helm wurde innen rot gesprenkelt. »Hoffentlich hast du keine Rippen gebrochen, oder sonst was!« Jarvis' Stimme klang sehr besorgt. »Ah, sieh mal, da ist ja schon unsere Station.« Er zerrte Cloud aus dem schwerelosen Strom und legte ihn behutsam ab. »Ganz kurz, rühr dich nicht. Ich sehe nach, ob wir hier richtig sind.« Cloud regte sich nicht. Er hatte die Augen geschlossen. Innerlich fühlte er sich immer noch am Sterben. Dann spürte er zwei Hände, die ihn packten und hochhoben. »Wir haben Glück, Mann! Da draußen ist es angenehm wie im
Sommer.« Cloud blinzelte, als Helligkeit in seine Augen stach. Sein Kopf sank kraftlos nach unten. Jarvis legte ihn vorsichtig auf den Boden, dann öffnete er den Helm. Mit einem pfeifenden Geräusch atmete Cloud ein. Dann begann er zu würgen. Jarvis drehte ihn auf die Seite und hielt ihn, während Cloud wimmernd Blut spuckte und immer wieder hustete. Als der Anfall vorbei war, holte Jarvis das Medset, öffnete den Anzug und klebte dem Commander und Freund diverse Injektionspflaster auf: Schmerzmittel, Kreislaufmittel, Stimulanzien für den Heilprozess bei inneren Verletzungen und einen starken Vitamincocktail. Er reinigte den Helm und wischte sorgfältig Clouds Gesicht ab, der das alles im Halbdämmerschlaf mit sich geschehen ließ.
Als Cloud zu sich kam, fühlte er sich bedeutend besser. Um nicht zu sagen, beinahe wieder normal, nur noch ein wenig erschöpft und atemlos. Langsam setzte er sich auf. Wieder einmal befand er sich auf einem Plateau, hoch oben in den Felsen. Der Himmel über ihm war von einem zarten Rosa. Die Luft war angenehm mild und roch würzig. Die Schwerkraft lag unter einem g, was unter diesen Umständen mehr als angenehm war. Felsen versperrten den Blick nach unten, doch das hatte Zeit. »Wie lange war ich weg?« »Nicht lange. Ein paar Minuten vielleicht. Du weißt, hier drin zählt Zeit nicht viel.« Jarvis kauerte in seiner pseudomenschlichen Gestalt neben ihm. »Das Universum kompakt«, brummte Cloud und massierte sich die Schläfen, fuhr sich durch das verschwitzte blonde Haar. »In Segmenten untergebracht im Museum CHARDHIN-Perle. Dioramen, ganz in echt, mit Abenteuer- und Spannungsgarantie. Öffnungszeiten von null bis vierundzwanzig Uhr, kein Ruhetag. Besuchen Sie unsere Sonderausstellungen ›Leben unter härtesten Bedingungen‹, aber auf eigenes Risiko. Wir übernehmen keine Haftung für Un-
glücks- oder Todesfälle.« »Deinen Humor hast du jedenfalls wieder«, meinte Jarvis. »Für einen Moment habe ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht.« »Unkraut vergeht nicht«, bemerkte Cloud. »Vor allem, wenn dieses Unkraut Jarvis heißt.« Sie grinsten einander an. Cloud holte den zweiten Energieriegel aus dem Vorrat, dazu einen Wasserbeutel. Dann aß und trank er gierig. »Jetzt mal ernsthaft«, begann er, als er sich schon fast wieder »ganz wie der Alte« fühlte. »Das hier hat doch alles irgendwie Museumscharakter, findest du nicht? Ich meine, welchen Sinn sollen alle diese Weltenausschnitte in den Sektoren haben? Warum wurden sie in den letzten hundert Jahren installiert?« »Vielleicht ist es auch eine Art Transmitterunfall, wie du anfangs mal vermutet hast«, überlegte Jarvis. »Denk mal an die RUBIKON, auf der es massenweise Türtransmitter gibt, um die Entfernungen auf dem Riesenschiff zu überbrücken. Vielleicht gab es das hier auch, und nun sind Verbindungen zu Welten permanent offen. Das alles könnte nicht nur hierher geholt und en miniature nachgebildet, sondern tatsächlich von planetaren Ausmaßen sein.« Cloud schüttelte den Kopf. »Von dieser Überlegung bin ich inzwischen wieder abgekommen. Wie soll die Verbindung denn unterhalb des Ereignishorizonts nach draußen hergestellt werden? Mit einfachen Transmittern funktioniert das nicht, dazu bräuchte man eine ganz andere Art von … Mathematik.« »Die Perlen sind permanent, und sie existieren gleichzeitig zu allen Zeiten, warum nicht auch übergreifend im Universum?«, wandte Jarvis ein. »Ein Raum mit Zigmilliarden Fenstern, die gerade alle offen stehen.« »Nein, ich glaube, da steckt eine ganz andere Absicht dahinter.« Cloud hob die Schultern. »Ich kann es leider nicht präzisieren. Es ist nach wie vor nur so ein Gefühl. Deshalb werden wir uns auch weiterhin äußerst zurückhaltend geben und keine aggressive Handlung vornehmen.« »Du meinst, es ist so eine Art Prüfung?«
»Keine Ahnung. Klingt ziemlich weit hergeholt, oder?« »Dann lass uns mal lieber hoffen, dass wir bald die Antworten finden.« Sie drehten sich beide um, als sie das Schluchzen hörten.
Cloud legte den Finger an die Lippen. Jarvis nickte. Leise standen sie auf und folgten dem Geräusch, das von rechts hinter einer Felsengruppe kam. Sie schlichen um die Ecke. Am Rand eines Felsvorsprungs saß ein Wesen von annähernd menschlicher Gestalt – zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf. Und ein riesiges Paar Flügel auf dem Rücken. Das Wesen trug nicht mehr als einen grob gewebten Kittel; es war sehr schmal und zierlich und schien weiblich zu sein, wenn Cloud die beiden kleinen Wölbungen auf der Brust vorn richtig deutete. Die Füße waren befiedert, mit langen, kräftigen Zehen. Der Kopf war von langen, dünnen und feinen Federn bedeckt. Unter einem knochigen Augenwulst lagen zwei große runde, leuchtend blaue Augen. Die Nase war leicht gekrümmt, wie ein Adlerschnabel. Der Mund war klein und ein wenig spitz. Dieses Geschöpf war … wunderschön, ein ätherisches Wesen, das Cloud unwillkürlich berührte. Das geflügelte Wesen fuhr herum, als es Clouds und Jarvis' Anwesenheit bemerkte. »Tut mir nichts!«, bat es mit glockenheller Stimme. Auf dem Gesicht lag deutlich erkennbar Furcht. Cloud hob beschwichtigend seine Hände. »Wir tun dir nichts, hab keine Angst«, sagte er sanft. »Bestimmt nicht?« »Ganz bestimmt. Außerdem könntest du leicht fliehen, wir dir aber nicht folgen.« Das Mädchen legte den Kopf leicht schief. »Du … bist flügellos …«, flüsterte es dann. »Verzeih mir, armer Mann, der du ein viel schrecklicheres Schicksal erdulden musst als ich.« Cloud bedeutete Jarvis, im Hintergrund zu bleiben. »Darf ich mich
zu dir setzen?« »Natürlich. Wenn es dich nicht schreckt, nach unten zu sehen. Es muss entsetzlich auf dich wirken.« Das Mädchen wies neben sich. Cloud setzte sich zu ihr und ließ seine Beine über den Rand baumeln. Unter ihm breitete sich eine sanfte Hügellandschaft aus, Wiesen und Wälder, eine Idylle wie zu Hause. Als die Erde noch sein Zuhause gewesen war. Das Mädchen berührte zaghaft seinen Rücken. »Wie kannst du damit leben? Wie konntest du überleben?« »Ich komme von weit her«, antwortete Cloud. »Meine Art hat keine Flügel, wir leben unten auf der Erde.« Er deutete nach unten. Dann lächelte er das Flügelwesen an. »Ich bin John.« Das Mädchen lächelte zaghaft zurück. »Ich bin Morgenwind.« Dann brach es wieder in Tränen aus. »Ein stolzer Name, viel zu stolz für jemanden, der so wertlos ist wie ich!« »Nicht weinen«, bat Cloud sanft. »Erzähl mir deine Geschichte.« »Das kann ich nicht. Und … sie wird dich nicht interessieren.« »Oh, aber doch. Es tut dir bestimmt gut, darüber zu sprechen. Und es ist auch nichts Schlimmes dabei, Morgenwind, denn ich gehöre ja nicht zu deiner Art. Was du mir anvertraust, kann ich nicht weitergeben.« Morgenwind blickte ihn an und schien langsam Vertrauen zu fassen. Dann erzählte sie, dass sie vom Volk der Freien sei. Die Freien lebten in diesem wunderschönen Land, und sie bauten ihre Nester aus Lehm und Holz in luftigen Höhen – Bäumen, Felsen, an sicheren Orten. Sie waren gesellig; immer mehrere Familien lebten zusammen. Sie gingen gemeinsam auf die Jagd, sammelten Früchte und Blüten, teilten alles. »Die Freien dienen keinem Herrn, so wie die Tiefenländer dort unten«, erklärte Morgenwind. »Wir befolgen nur unsere Gesetze. Selten begeben wir uns unter andere, die so sind wie du oder noch fremder. Doch nie wagt sich einer ungefragt in unser Reich, es sei denn, er hat böse Absichten. Deswegen hatte ich vorhin Angst, verstehst du?« »Ich hege bestimmt keine bösen Absichten«, beteuerte Cloud.
»Aber nun sag mir, warum ein liebliches Wesen wie du weint.« »Nun, es ist –« Morgenwind schluckte und zögerte. Es fiel ihr sehr schwer, weiterzusprechen. »Heute ist mein fünfzehnter Geburtstag«, rückte sie dann mit der Sprache heraus. »Ich werde erwachsen und gelte als vollwertiges Mitglied, kann mir einen Partner suchen und mein eigenes Nest gründen.« »Das ist doch ein Tag der Freude!«, rief Cloud aus. Morgenwind fing wieder an zu schluchzen. »Sie warten bereits mit dem Fest auf mich. Aber ich kann erst feiern, wenn ich den Flugtanz absolviert habe!« »Den Flugtanz?« »Ja, den freien Flug! So hoch hinaufsteigen wie nur möglich und dann zum Feierplatz fliegen, mit möglichst vielen Figuren. Und dazu muss ich singen. Es klingt einfach, aber es ist eine sehr schwierige Aufgabe. Denn die Figuren sind vorgeschrieben: Pirouetten, Loopings, Schrauben … ich muss eine bestimmte Anzahl erreichen, sonst muss ich ein weiteres Jahr warten. Wenn ich darüber hinauskomme, erhöht sich mein Status.« »Verstehe. Bei uns nennt man das Initiationsritus.« Morgenwind nickte schüchtern. »Darf ich dir eine Frage stellen?« »Natürlich, nur zu«, ermunterte er sie. »Wieso sprichst du meine Sprache? Ich dachte immer, Tiefenländer können das nicht, weil ihr Kehlkopf mangelhaft ausgebildet ist.« »Seltsam«, sagte er erstaunt. »Und ich dachte, du sprichst meine Sprache.« »Nein, ganz bestimmt nicht«, wehrte sie ab. »Die Freien reden nur in ihrer Sprache, sie lernen keine andere, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Aber ich habe noch nie etwas anderes gehört.« Cloud war verwundert, aber sich darüber den Kopf zu zerbrechen, würde wohl kaum weiterführen, da keiner von beiden die richtige Antwort finden konnte. Besser war es, sich wieder auf das Mädchen zu konzentrieren. »Du sitzt also hier oben, weil du Angst vor dem Flug hast«, vermutete er. Morgenwind schüttelte den Kopf. »Nein«, wisperte sie, und die
nächsten Tränen rollten. »Was ist es dann?«, fragte Cloud ratlos. »Ich kann es nicht«, klagte sie. »Du … kannst es nicht?« Sie sah ihn so herzzerreißend traurig an, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Dieses wundervolle Wesen litt tatsächlich, hatte nicht einfach nur Lampenfieber. Dann bewegte sie ihre Flügel, und er verstand endlich. Einer der Flügel war verkrüppelt und nicht zum Fliegen geeignet. »Er war schon gebrochen, als ich geboren wurde«, schluchzte Morgenwind. »Der Schamane meinte, man könne es richten, und meine Mutter gab mir trotzdem den Namen, weil sie an mich glaubte. Aber … es wuchs nicht richtig zusammen, und jetzt …« Cloud empfand tiefes Mitgefühl für das bedauernswerte Geschöpf. »Verstehst du?«, fuhr sie fort. »Es ist auch sehr wichtig für meine Familie, dass ich fliege. Denn … sie könnten aus dem Nest geworfen werden, an den Rand gedrängt, vielleicht sogar vertrieben. Krüppel … so wie ich … werden normalerweise nicht aufgezogen. Wer nicht fliegen kann, gehört nicht mehr zu den Freien und hat keinen Wert. Aber sie haben mich trotzdem aufgezogen, gegen alle Widerstände … und jetzt enttäusche ich sie so sehr … Ich bringe Schande über uns alle …« Cloud empfand Wut. Was wurde diesem armen Kind da aufgebürdet, das ohnehin schwer an seiner Behinderung zu tragen hatte? Einem Volk anzugehören, das fliegen konnte, aber selbst nicht dazu in der Lage zu sein … immer den anderen neidvoll zusehen zu müssen … immer Außenseiter zu sein, nie einen Partner zu finden … Das ging zu weit. Aber was konnte er da schon machen? Als Flügelloser hatte er für die Freien überhaupt keinen Wert. Außerdem konnte er nicht einfach aus dem Nichts auftauchen und die Gesellschaft dieses Volkes auf den Kopf stellen. Es musste eine andere Lösung geben. Cloud drehte sich leicht und warf Jarvis einen Blick zu. Können wir
da was machen?, bedeutete dieser Blick. Und der GenTec, der im Schatten eines Felsens kauerte, nickte langsam. »Sag mal, Morgenwind, was hattest du eigentlich vor?«, fuhr Cloud fort. »Ich meine, du kletterst hier herauf, was bestimmt sehr mühsam und anstrengend war, obwohl du weißt, dass du nicht fliegen kannst?« »Ich werde fliegen, John«, antwortete das Mädchen leise. »Du hast also vor, dich in die Tiefe zu stürzen und umzubringen?« Hatte er es sich doch gedacht. »Was bleibt mir anderes übrig? Dann können meine Eltern im Nest bleiben, und der Makel ist von ihnen genommen.« »Haben sie das von dir verlangt?« Erschrocken sah sie ihn an. »Das würden sie nie tun! Sie haben mich sogar angefleht, nicht zu gehen. Sie wollten alles auf sich nehmen, nur damit ich bei ihnen bleibe. Aber ich kann das einfach nicht, ich könnte nicht damit leben, mit dieser Schuld. Und … ich will auch kein Mitleid mehr, keine schiefen Blicke. Ich will, dass alles hinter mir liegt.« Cloud nickte. Er konnte sie gut verstehen. »Aber wenn du diesen Flugtanz vorführen würdest … nur dieses eine Mal … wäre dann alles in Ordnung?« Sie starrte ihn an, als wäre sein Gesicht voller Warzen. »So einen Unsinn kann nur ein Flügelloser reden!« »Ich spreche von einem Wunder«, erwiderte Cloud. »Einem einmaligen, nicht mehr wiederholbaren Wunder. Könntest du mit deiner Familie dann im Nest bleiben, wenn du fliegst? Nur dieses eine Mal?« Sie nickte langsam, rückte aber ein wenig von ihm ab. Ihr neuer Freund schien ihr auf einmal nicht mehr geheuer. Wahrscheinlich stimmten die Geschichten über die flügellosen Tiefenländer doch! Cloud kannte diesen Blick und das Abrücken, und es bereitete ihm Vergnügen. Der Lebenswille des Mädchens war wieder erwacht, und darauf kam es an. Er winkte. »Jarvis, komm doch mal.« »Was hast du vor?« Die Augen des Mädchens wurden noch
runder, als sie den seltsamen Begleiter ihres neuen Freundes näher kommen sah. »Was … was ist denn das für einer?« »Ein ganz Besonderer«, sagte Cloud vergnügt. »Er ist ein Gestaltwandler. Und er wird dafür sorgen, dass du fliegst, und dass alle es sehen und dich feiern werden. Man wird dich für deine Tapferkeit und deinen Mut rühmen und ehren. Du wirst es sehen!« »Aber ich … das geht doch nicht!« »Ich sehe das so, Morgenwind: Du wolltest dich sowieso zu Tode stürzen. Also, wenn ich mich irre und es nicht klappt, wirst du zumindest diesen Teil deines Vorhabens erfüllen. Wenn es aber klappt, wirst du fliegen und weiterleben.« »Natürlich musst du ein bisschen mithelfen«, sagte Jarvis. »Du musst mit deinen Flügeln so kräftig schlagen, wie du nur kannst. Ich kann dich lediglich unterstützen und deinen verkrüppelten Flügel so hinbiegen, dass er schlagen kann.« In den Augen des Mädchens glomm ein Funke Hoffnung auf. »Ich habe nichts zu verlieren, nicht wahr?« »Aber alles zu gewinnen«, meinte Cloud lächelnd.
Morgenwind war sehr aufgeregt und konnte kaum stillstehen, als Jarvis ihr den Rücken hinaufkroch und sich langsam unter den Flügeln ausbreitete. Es könnte klappen. Und wenn nicht … Cloud schob den Gedanken energisch weg. Jarvis würde nichts passieren, er war zäh. Und bei den geringen Schwerkraftverhältnissen schaffte er es wahrscheinlich noch, das Mädchen zu retten. Doch davon wollte er nicht ausgehen. Sie mussten es schaffen! Jarvis schien nicht zu zweifeln, aber das tat er ja nie. Und bestimmt machte es ihm einen Heidenspaß. Sie kletterten noch ein gutes Stück höher, um die richtige Thermik zu finden für den benötigten Auftrieb. »Hoffentlich sehen sie dich auch wirklich!«, rief Cloud zu ihr hinauf.
»Ganz bestimmt!«, gab sie zurück. »Ich danke dir, lieber Freund John! Lebe wohl, und mögen die günstigen Aufwinde mit dir sein!« Er winkte. »Lebe wohl, Morgenwind, und fliege gut!« Dann stieß das Mädchen sich ab, breitete die Schwingen aus – und flog! Zunächst war es mehr ein Gleiten, aber das war auch gut so. Schließlich flog sie zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie musste erst ein Gefühl für diese Freiheit bekommen, lernen, die Muskeln richtig einzusetzen, die Aufwinde für sich arbeiten zu lassen … aber bestimmt lag es ihr im Blut, sie brauchte sicher nicht viel Übung. Und wenn sie eine oder zwei Figuren ausließ, was machte es schon? Es war ein Wunder, und das würde ihre Sippe bestimmt honorieren. Morgenwinds Kreise wurden größer, und Cloud merkte, dass sie einen bestimmten Punkt ansteuerte – vermutlich dorthin, wo das Nest ihrer Familie lag. Cloud konnte es von hier aus nicht sehen. Aber er konnte Morgenwind sehen, und im Stillen feuerte er sie an. Langsam schraubte sie sich höher und höher, bis sie nur noch ein kleiner Punkt dort oben war. Und dann fing sie wirklich an zu fliegen. Als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan. Todesmutig wagte sie sich an die Figuren, eine nach der anderen, und es sah wirklich aus wie ein Tanz. Manchmal schien sie ein wenig zu schwanken. Sie flatterte hektisch mit den Flügeln und schien die Balance zu verlieren, doch dann fing sie sich wieder und setzte ihren anmutigen Flugtanz fort. Immerhin war sie vernünftig genug, es nicht zu übertreiben. Nach wenigen Minuten landete sie sicher auf einem Felsen, ein gutes Stück unterhalb von Clouds Aussichtspunkt. Er sah, wie sich eine dunkle Masse von ihr löste und eilig über die Felsen davonfloss. Kurz darauf kamen zwei weitere Geflügelte, augenscheinlich Morgenwinds Eltern, auf den Felsen geflogen. Sie umarmten die Tochter stürmisch, zerdrückten sie halb zwischen sich. Dann nahmen sie sie in die Mitte und starteten von dem Felsen. Bald waren sie außer Sicht. Cloud setzte sich zufrieden auf einen losen Felsbrocken und wartete auf Jarvis, der bald darauf über die Kante heraufkam.
»Das war eine gute Tat«, bemerkte Jarvis. »Ich habe noch nie jemanden so glücklich lachen gehört. Das wird sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen und alle anderen auch nicht. Ihre Eltern waren völlig außer sich. Bestimmt hat sie jetzt eine Menge zu erzählen dort unten. Am liebsten würde ich heimlich mithören, was sie sich für eine Geschichte ausdenkt.« »Jedenfalls kann sie weiterleben als Mitglied ihrer Sippe, und sie wird sicher eine Menge Veränderungen herbeiführen«, meinte Cloud. »Vorausgesetzt natürlich, dies ist wirklich passiert und nicht irgendeine Holoaufzeichnung.« »Ich fühle mich trotzdem gut«, sagte Jarvis. »Ob es nun Illusion war oder nicht: Wir haben es getan und Glück geschenkt, und sei es, uns selbst.« »Wie ist es eigentlich so zu fliegen?« Cloud erhob sich und klopfte sich den Staub ab. Er verschloss den Helm, während sie zurück zum Lift gingen. »Ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern, weil ich allerhand zu tun hatte, uns beide irgendwie in der Luft zu halten. Die Kleine hat natürlich schon einiges geleistet mit ihrem einen Flügel, aber unter irdischen Verhältnissen möchte ich das lieber nicht ausprobieren.« Jarvis klopfte Cloud leicht auf die Schulter. »Dir wäre wahrscheinlich speiübel geworden, du verweichlichter Erdenmensch.« Der Lift stand noch da, wo sie ihn verlassen hatten. Es ging weiter nach oben.
10. Weißes Nichts und Glücksspiel »Schade, dass sich kein Holo aufbaut wie beim letzten Besuch«, bemerkte Jarvis, als sie weiter nach oben schwebten. Der ehemalige Klon hatte getestet, ob es auch abwärts ging. Aber diesmal nicht. Cloud hatte seine Verwunderung darüber geäußert; das letzte Mal hatte es zwei Wege gegeben. Aber im Grunde war es müßig, sich überhaupt über irgendetwas in dieser Station zu wundern. Mehrfach hatten sie festgestellt, dass diese ganzen Verteilersysteme keinen eigentlichen Sinn ergaben, wenn sich nur Gloriden hier aufgehalten haben sollten. Nun war die Station schon seit langem leer und verlassen, und die Lifte funktionierten trotzdem, und zwar auf unterschiedliche Weise, als würden sie nach wie vor gesteuert. Ebenso wie die Atmosphäre, Schwerkraft … und diese seltsamen Ausschnitte von Welten, die in die Decks eingepflanzt worden waren. Oder die tatsächlich per Dauer-Transmitterverbindung einen Realausschnitt zeigten …? Die beiden konnten nur hoffen, dass sie irgendwann oben ankamen, wo sie hinwollten, und Antworten fanden. Aber Cloud zweifelte immer mehr daran, dass es je dazu kam. Fontarayns Idee war wohl doch nur Wunschdenken gewesen. Am besten sollten sie so schnell wie möglich in die RUBIKON zurückkehren, Gas geben und durch die Portalschleuse zurückfliegen. Doch auch da gab es schon wieder eine Einschränkung: Hoffentlich stimmte das nämlich mit dem »Return-Ticket« – und vor allem, hoffentlich war Fontarayn tatsächlich wie verabredet noch auf der anderen Seite, um sie aus dem Andromeda-Horizont ins Normaluniversum zurückzubringen. Und dann? Scobee suchen, einsammeln, und … vielleicht doch irgendwo einen Planeten ausfindig machen und eine neue Zivilisation grün-
den. Was hatte er, Cloud, sich eigentlich darüber aufgeregt, zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert zu werden? Schon der erste Zeitsprung hatte ihn doch von seinem Leben, seiner Familie, seiner Heimat getrennt. Er hatte gerade erst angefangen, sich mit dem Gedanken anzufreunden, für immer in der Zukunft festzusitzen, als er auch schon von der neuen Erde verbannt wurde. Natürlich gab er nicht viel auf, denn die Entwicklung der Menschheit zu den Erinjij war mehr als negativ, mit ihnen fühlte er sich nicht verbunden. Aber die Erde … war noch da. Sie würde auch jetzt noch da sein. Scobee hatte Recht gehabt, er hätte mit ihr zusammen in die Milchstraße zurückfliegen sollen und nachsehen, was inzwischen aus der Erde geworden war. Ob die Master noch herrschten und die Erinjij noch immer auf Eroberungsfeldzug waren. Oder ob vielleicht inzwischen nicht alles ganz anders war und vor allem die Verbannung nur noch eine Marginalie. Vielleicht war es sogar gut, noch einmal einen Sprung gemacht zu haben, um all den Ballast endgültig abzuwerfen und ganz neu anzufangen. Mit den Freunden, die er jetzt hatte, und einem phänomenalen Schiff. In diesem Jahrhundert wurde er vielleicht sogar nicht einmal mehr von Sobek gejagt. (Wie hoch war eigentlich die Lebenserwartung eines Foronen?) Und was gingen ihn auch die Satoga an – oder Andromeda? Er musste irgendwann Grenzen ziehen, er konnte nicht als Retter des Universums auftreten. Er konnte doch nicht die Verantwortung für alles Schlechte auf sich nehmen, oder? Es wurde Zeit, realistisch und vernünftig zu werden und den Dingen ins Auge zu sehen. Eine Entscheidung zu treffen.
»John!« Jarvis rüttelte Cloud sanft an der Schulter. Der Commander merkte jetzt erst, dass sie vor einem Ausgang standen. »Was ist?«, fragte er ungehalten. »Ich mache mir Sorgen um dich«, antwortete der Gefährte. »Du entfernst dich immer mehr. Ich glaube, du verkraftest dieses Medi-
um hier immer noch nicht so gut, wie Fontarayn behauptet hat. Oder … kehren deine alten Gespenster zurück, die Fremdbewusstseinssplitter?« »Blödsinn«, knurrte Cloud. »Mit mir ist alles in bester Ordnung. Mir geht nur dieses ständige Gehopse von Irrwitz zu Aberwitz in dieser Kapsel hier allmählich auf den Geist, das ist alles. Können wir nicht mal ein Ziel auf ganz normalem Wege erreichen?« »Tja, sieht nicht so aus«, gab Jarvis zu. »Wir könnten natürlich noch einmal versuchen zu teleportieren.« »Auf keinen Fall«, lehnte Cloud ab. »Diese Tortur machen wir nicht noch mal durch – und vor allem du nicht. Überleg doch mal: Was, wenn wir wieder genau da herauskommen, wo wir das letzte Mal schon waren? Sollen wir wieder ganz von vorn anfangen, wie bei einem Computerspiel, wenn der Avatar umgebracht wurde?« »Das erinnert alles irgendwie daran, stimmt«, sagte Jarvis nachdenklich. »Das Spielfeld eines Kindes, über das wir uns bewegen. Dann ergäbe das Ganze allmählich einen Sinn.« Cloud wurde blass. »Wie das Packa-Netz, von dem Aylea erzählte …« »Dann müssen wir trotzdem weiter, John. Wir können nicht einfach aussteigen. Das Ziel muss erreicht werden.« »Übrigens, warum haben wir hier angehalten?« »Es geht nicht mehr weiter.« Cloud ging zum Rand des Schachtes und blickte nach oben. Dort lag alles in tiefer Dunkelheit. Jarvis erklärte, dass der Weitertransport für den oberen Bereich deaktiviert wurde. »Das darf doch nicht wahr sein! Also müssen wir uns der nächsten Herausforderung stellen, ob wir wollen oder nicht.« Cloud seufzte. »Also dann, auf ein Neues.« »Fühlst du dich besser?« »Ja. Tut mir Leid, dass ich vorhin so gereizt war. Du hast schon Recht, ich fange wieder an, mich zu verlieren; genau wie beim letzten Mal. Ich versuche, mich jetzt besser zu konzentrieren, versprochen!« Jarvis öffnete den Zugang.
Als er eine ganze Weile nichts sagte, fragte Cloud: »Was siehst du?« »Nichts«, antwortete sein Begleiter. »Scheint nur ein Durchgang zu sein, es ist alles weiß. Keine Ahnung, ob da ein Boden ist.« »Probieren wir es aus«, forderte Cloud auf. »Wir haben keine Wahl.« Schon gewohnheitsmäßig kontrollierte er seine Lebenserhaltungssysteme und die Energiereserven. Der Anzug hatte sich wieder einigermaßen erholt. Vielleicht konnte er noch einmal ein Prallfeld aufbauen, wenn es erforderlich war. Cloud hoffte, dass es nicht dazu kommen musste. Er verließ hinter Jarvis den Liftbereich und verschloss die Tür. Tatsächlich sah er sich nur Weiß gegenüber. Keine Wände, keine Grenzlinien, nichts. Jarvis tastete mit seinem Fuß in das Weiß hinein. »Wir können stehen. Keine Ahnung, worauf, aber da ist Widerstand. Vielleicht ein Prallfeld, das sich automatisch errichtet, sobald man den Fuß niedersetzt.« »Kannst du denn Energie messen?« »Gar nichts, John, so wie du. Manches funktioniert hier drin, wie deine Lebenserhaltung, Schutzfeld und so weiter. Aber alles, was mit Messungen innerhalb der Perle zu tun hat, geht nicht oder ist mit höchster Skepsis zu genießen. So kann man es sich auch leicht machen, möglichst geheimnisvoll zu wirken, nicht wahr?« »Mir ist der Sinn nach Spekulationen vergangen«, brummte Cloud. »Ein Problem sehe ich, Jarvis: Selbst mit deinem phänomenalen Orientierungssinn – wie wollen wir uns hier drin zurechtfinden, wo es überhaupt keine Fixpunkte gibt? Wie wollen wir eine Richtung einhalten?« »Wenn du mir genau folgst, müsste es klappen, dass wir exakt geradeaus gehen«, antwortete Jarvis. »Ich belaste meine Extremitäten genau gleich.« Das war der Grund, warum sich Menschen in eintönigen Gegenden wie einer Wüste ohne Orientierungspunkte verirrten: Sie konnten nicht exakt geradeaus gehen, da ein Fuß immer stärker auftrat als der andere. Dadurch entstand, je nachdem, welcher Fuß der stär-
kere war, ein Links- oder Rechtsdrall, der unwillkürlich in einem großen Kreisbogen endete. Man kam irgendwann wieder da heraus, von wo man aufgebrochen war. Auch der Sonnenstand erlaubte immer nur eine ungefähre Richtungsweisung; etwa, dass die Sonne, wenn man nach Westen ging, am Abend nicht ins Gesicht scheinen durfte. Aber das war nur eine ganz grobe Messung. Die archaische Segelschifffahrt hatte gezeigt, dass eine Abweichung vom Kurs von nur einem Grad verheerende Folgen haben konnte – man konnte die Küstenlinie eines Kontinents komplett verfehlen, indem man durch die scheinbar kleine Kursabweichung immer daran vorbeisegelte, knapp außer Sichtweite. »Dies hier fällt aber völlig aus dem Rahmen«, bemerkte Cloud nach einer Weile, als sie sich in Bewegung gesetzt hatten. Der ursprüngliche Liftschacht war natürlich bereits außer Sichtweite. »So eine Welt gibt es doch gar nicht.« »Ich glaube auch nicht, dass es eine Welt ist, sondern eine Baustelle. Dies hier wurde noch nicht fertig gestellt.« Jarvis schritt munter aus, und Cloud hoffte, dass er wirklich immer geradeaus gehen konnte. Diese weiße Endlosigkeit bedrückte ihn bereits jetzt, nach wenigen Minuten. Aber es war auch nicht anders, als im Leerraum zwischen den Galaxien herumzugondeln, wo man am weitesten entfernt von allem war und keine Sterne mehr sehen konnte. Da konnte man sich nur darauf verlassen, dass der einprogrammierte Kurs stimmte und das Schiff den Weg hinaus fand. Immerhin gab es hier Schwerkraft, und zwar genau 1 g, aber so gut wie keine Atmosphäre. Wozu auch? Es war niemand da. Nach Stunden, so kam es Cloud zumindest vor, war er sicher, dass sie nie wieder herausfinden würden. Es nahm und nahm kein Ende. Vielleicht waren sie inzwischen aus der Perle hinausgewandert und stapften jetzt durch das merkwürdige Kontinuum hinter dem Ereignishorizont. »Hundert Kilometer Durchmesser sind schon eine ganze Menge«, versuchte Jarvis zu trösten, dem Clouds wachsende Frustration nicht entging. »Da ist man schon eine Weile unterwegs, um nur eine Halle zu durchqueren, die kann ja schon einige Quadratkilometer
umfassen.« »Schon gut.« Cloud winkte ab. »Zur Abwechslung ist es halt mal Agoraphobie statt Klaustrophobie. Bist du dagegen etwa gefeit?« »Natürlich nicht. Wäre ziemlich langweilig, auf Dauer ganz allein hier mit einem Körper aus Nanogewebe. Man könnte sich glatt irgendwann selbst vergessen und auseinander fallen.« Sie gingen weiter. Abwechselnd stieg Wut, Hass, Frustration in Cloud hoch. Irgendwann wollte er nur noch schreien und rennen, irgendwohin. Die anderen warteten im Schiff auf die Erfüllung seines Auftrags, und er lief hier wie ein Idiot durch das Nichts. Zeitverschwendung, und was nicht noch alles. Er wurde zusehends nervöser, als er merkte, dass Jarvis immer öfter stehen blieb und augenscheinlich versuchte, sich zu orientieren. Wahrscheinlich rief er sich den Bauplan ins Gedächtnis und versuchte herauszufinden, wo in der Perle sich so ein Gebiet befinden konnte. Auch Cloud hatte schon mehrmals versucht, den Plan zu aktivieren, in der Hoffnung, zwei kleine leuchtende Punkte zu entdecken, die markierten: Sie befinden sich hier. Fontarayn hatte behauptet, dass man mit dem Plan jederzeit anmessen konnte, wo man war, durch Aussenden und Empfangen eines Signals. Wenn es funktionierte, sicher keine schlechte Sache. Aber hier funktionierte eben gar nichts mehr. Vielleicht war die Station längst in fremder Hand. Ein Spielplatz für die lieben Kleinen, während die Eltern auf der Arbeit waren … Ich muss hier raus, sonst drehe ich durch, stellte Cloud für sich fest. Endlich stieß Jarvis einen erleichterten Ruf aus. »Sieh mal, da vorne – sieht das nicht aus wie eine Treppe?« Tatsächlich. Eine gewundene Metalltreppe schlängelte sich nach oben. Cloud war alles recht. Hauptsache, er kam endlich von hier weg. Die Treppe erwies sich nicht als Illusion. Nacheinander stiegen sie hinauf, eine Windung nach der anderen. Genauso gut hätte es auch abwärts sein können, wie in einem Escher-Bild. Cloud machte sich von vornherein nicht die Mühe, die einzelnen Stufen zu zählen. Ir-
gendwann würden sie enden, dessen war er sicher. Erschrocken merkte er, dass Jarvis schon ein gutes Stück voraus war. »Jarvis?«, rief er. »He, mach ein bisschen langsamer, Kumpel! Ich komme nicht so schnell hinterher!« Aber Jarvis schien ihn nicht zu hören. Er stieg immer weiter und weiter, und irgendwann … war er außer Sicht. Cloud fluchte und beeilte sich, nachzusetzen. Das hatte er schon einmal erlebt, er wollte keine Wiederholung! Immer wieder rief er nach dem Freund, aber der blieb verschwunden. Dann fand die Treppe ein Ende. Mitten im Nichts war ein Türrahmen mit einer geschlossenen Tür. Sie besaß nur einen Knauf, sonst nichts. Cloud drehte den Knauf und hörte es leise klicken. Die Tür schwang auf, und er trat hindurch. Noch bevor er sich orientieren konnte, wurde Cloud am Arm gepackt, durch die entstandene Öffnung gerissen und die Tür hinter ihm zugeschmettert. Nach der ersten Schrecksekunde griff er nach dem Arm, der ihn festhielt, setzte gleichzeitig das Bein vor und hebelte sein Gegenüber aus. Mit einem ächzenden Laut klatschte es auf den Boden und hob abwehrend die Hände, als Cloud sich darüber beugte. Er sah aus wie ein Mensch … beinahe. Seine Stirn hatte Rillen, die Augenbrauen waren überdimensional lang und ebenso die buschig behaarten Ohren. Er mochte einen halben Kopf kleiner sein als Cloud und mindestens fünfzehn Kilo leichter – was aber nicht an der Schwerkraft lag, die wieder einmal höher war als 1 g, wenn auch nur geringfügig. Cloud starrte in zwei große blaue, furchtsame Augen. Die spitze Nase des augenscheinlich jungen Mannes zuckte nervös, und er hatte Hasenzähne. Wohl auch ein Hasenherz. »Sch-schon gut, ich tu dir ja nichts«, stotterte der Unbekannte. »Sind sie noch da?«
»Wer?«, gab Cloud zurück. »Ich bin auf der Suche nach meinem Freund. Ein großer, schwarzgrauer, etwas ungewöhnlich aussehender Kerl.« »Nee«, sagte der Junge. »Den hab ich nich' gesehen, und den mein ich auch nich'. Die Spielkommission! Die is' hinter mir her!« Cloud half dem Jungen auf die Beine und klopfte ihm den Staub ab. »Ich bin John.« »Harrimik«, stellte sich der Junge vor und machte eine leichte Verbeugung. »Zu deinen Diensten.« »Das wird sich noch rausstellen«, versetzte Cloud. »Wir sollten aber jetzt machen, dass wir wegkommen«, schlug Harrimik vor. »Wennse uns erwischen, gibt's kein Erbarmen.« »Wieso? Hinter mir sind die doch nicht her.« »Du bis' aber in meiner Begleitung, da machen die nich' viel Unterschied. Komm ersma mit zu mir, dann könnenwa über alles reden, auch über deinen Freund.« Harrimik winkte Cloud, ihm zu folgen. Der Gang, in dem sie sich befanden, war in jämmerlichem Zustand. Überall Staub und Dreck, altes Mobiliar. Flackerndes Licht aus trüben Funzeln und nicht selten Geschrei aus den Wohnungstüren, an denen sie vorbeikamen. »Sehr feudal wohnst du ja nicht«, stellte Cloud fest, während er den Helm in den Nacken schob. Was er sofort bereute. Angewidert rümpfte er die Nase. »Habt ihr hier tote Katzen, oder was?« »Kannich nix für«, erklärte Harrimik. »Bin noch nich' lange hier, weißte. Gestern Morgen gelandet. Kann keine Ansprüche stellen, von wegen die Heuer, weil der Käppn hat mich b'schissn um ein Drittel oder so.« Er fummelte umständlich an einem Türschloss herum und fluchte ordentlich, als er es nicht aufbekam. Cloud hörte aufmerksam zu, vielleicht konnte er etwas lernen. Schließlich trat Harrimik mit Schwung gegen die Tür, woraufhin sie aufschwang, und wies mit einladender Geste nach innen. Drinnen sah es kaum besser aus als draußen. Immerhin kam ein wenig Tageslicht durch das milchige Fensterglas. Cloud wagte sich trotzdem in das kleine Zimmer und suchte sich einen einigermaßen stabil wirkenden Sitz.
»Willste 'n Tee oder so was?«, fragte Harrimik, während er geschäftig herumeilte und den vergeblichen Versuch unternahm, ein wenig Ordnung zu schaffen. »Nein, danke. Und ich bleibe auch nicht lang. Jetzt setz dich hin und erzähl mir, was los ist.« »Warum willstn das so genau wissen?« »Damit ich weiß, worauf ich mich einlasse, wenn ich meinen Freund suche.« »Ah so. Dein Freund und du, seid ihr …?« Harrimik wedelte mit der Hand. »Irgendwie liiert, oder so?« Cloud hätte beinahe gelacht. »Nein, er ist wirklich nur ein Freund. Wir reisen gemeinsam, haben uns aber irgendwie aus den Augen verloren.« »Kein Wunder nich', wenn ihr das erste Mal hier seid.« Harrimik kauerte sich umständlich auf ein schäbiges Sofa. »Wahrscheinlich isser irgendwo innem Casino versumpft. Den siehste erst wieder, wenn er zu viel verliert und öffentlich angeprangert wird. So machen die das hier mit Zahlungssäumenden, weißte.« »Und das droht dir wohl auch?«, erkundigte sich Cloud. »Mir? Nee. So 'n Scheiß mach ich nich'. Ich spiel Triforfeivschach. Das is' 'ne Herausforderung! Nur leider darfste nich' verlieren, verstehste.« Harrimik kratzte sich geräuschvoll hinter einem Ohr. »Der Einsatz is' alles oder nix. Und nix meinen die ganz wörtlich, du bist dann nämlich ein Nix, wennste verlierst. Wenn dich keiner auslöst, wirste eliminiert! Wie deine Figuren aufm Brett.« Raue Sitten, dachte Cloud. Glücklicherweise war er kein Spieler und Jarvis auch nicht. In Versuchung würden sie daher kaum geraten und sich stattdessen wieder auf die Suche nach dem nächsten Lift machen können – vorausgesetzt, er fand Jarvis irgendwo. »Ist das hier so eine Spielerstadt, oder wie?« Harrimik glotzte ihn aus hervorquellenden Augen an. »Wo bist'n du her? Der ganze Planet is' nix anderes! Hier kann man nur spielen – um die Arbeit, die Heuer, die Heirat, Geld und 's Leben. Der ganze Kram halt.« Oje, dachte Cloud. Er erhob sich. »Na, dann mache ich mich mal
wieder auf den Weg. Ich denke, es ist genug Zeit verstrichen. Danke für deine Freundlichkeit, Harrimik. Man sieht sich.« »Du willst gehen? Echt? Aber … kennste dich denn aus? Du wirst 'n Führer brauchen, sonst zocken die dich doch gleich ab!« »Ich schaff das schon. Sag mal, gibt's hier irgendwo in der Nähe einen Antigravlift?« »Was für 'n Zeug?« »Ein Aufzug, mit dem man rauf und runter fahren kann zu den Etagen.« »Ach so! Ja, da musste dich schon perpeddess bemühn, so 'n Luxus hamwa hier nich'.« Cloud wandte sich schon zum Gehen, da fiel Harrimik noch etwas ein. »Warte mal, ich glaub, da gibt's tatsächlich so 'n Ding, hab ich läuten hören beim Spielen. Drüben im Hauptcasino, so 'ne schwarze Röhre. Wird abba meistens bewacht, weil da nur die Oberfuzzys mit fahren dürfen.« »Okay. Danke. Das sehe ich mir an.« Cloud wollte gerade die Tür öffnen, als sie von außen eingetreten wurde. Drei große, schwer gebaute Männer mit grobschlächtigen Gesichtern und tiefen Stirnrillen drängten in das Zimmer. Cloud schoben sie achtlos beiseite; ihre Aufmerksamkeit galt nur Harrimik. Der stieß ein jämmerliches Fiepen aus und versuchte, sich hinter dem Sofa zu verstecken. Einer der Männer stampfte zu dem Sofa, langte drüber, packte zu und zog den schreienden Harrimik mit einer Hand im Genick hervor. »Was geht hier vor?«, verlangte Cloud zu wissen. »Geht dich nix an, Opa. Mach, dass du weg kommst.« Einer der Männer wollte ihn beiseite schieben, dann blieb sein Blick allerdings an ihm hängen. »Was bist denn du für 'ne Missgeburt?« Er lachte dröhnend. »Guckt euch den Hanswurst an! Den sollten wir als Joker nehmen, macht sich bestimmt gut!« Ein zweiter Mann fixierte Cloud aus verengten Augen. »Der hätte gute Chancen, ja«, stimmte er zu. »Was ist, Alter? Wir bieten dir 'nen guten Job mit Gewinnbeteiligung und nur wenig Auspeitschung, wenn dein Einsatz verliert.«
»Danke, ich brauche keinen Job«, lehnte Cloud freundlich ab. »Ich bin nur auf der Durchreise.« Harrimik, der in der eisernen Umklammerung des Dritten zappelte, stieß mit gequetschter Stimme hervor: »Nimm ihn an! Nimm ihn an!« »Der Kleine ist vernünftig«, grinste der Anführer der Schar. »Schade, dass wir ihn eliminieren müssen, eigentlich gefällt er mir ganz gut. Aber Spiel ist Spiel.« Cloud überlegte. Er musste irgendwie in das Casino hineinkommen. Warum nicht so? Er steckte ohnehin schon in der Klemme, denn an diesem Ort schien man ein »Nein« zu einem Angebot nicht zu akzeptieren. »Richtig«, sagte er. »Aber ist nicht die Regel, dass er ausgelöst werden kann?« Ein Glitzern trat in die Augen des Mannes. »Allerdings. Der Auslösende muss jedoch vorher offen legen, dass er flüssig ist. Schutz des Verbrauchers, du verstehst? Eine Menge Leute setzen bei diesem Spiel.« »Selbstverständlich. Spielschulden sind Ehrenschulden, sie haben Vorrang vor allem anderen.« Cloud hustete, als der Mann seine Pranke dröhnend auf seine Schulter krachen ließ. »Du gefällst mir! Hast das Herz auf dem richtigen Fleck, Missgeburt hin oder her! Also, was bietest du mir?« »Gibt es eine Möglichkeit, alles auf einmal zu setzen?«, ächzte Cloud. »Ich habe nämlich nicht viel Zeit.« Harrimiks Ohren sanken bis auf die Schultern herab. Seine Knie schlotterten. »Der is' verrückt«, lispelte er verzweifelt. »Ehrlich, ich hab keine Ahnung, wer das is', der is' mir einfach so zugelaufen …« »Schnauze, Harri, du kommst nachher dran.« Die buschigen Brauen des Mannes stellten sich auf und verliehen ihm ein finsteres Aussehen. »Du kannst auf Blindchange gehen. Was bedeutet, du setzt alles ein, wählst deine Strategie, und dann entscheidet sich das Spiel. Du hast keinen Einfluss mehr drauf. Ein sehr hohes Risiko.« »Ist ja auch ein hoher Einsatz«, meinte Cloud. »Gut, ich akzeptiere.
Wenn ich gewinne, ist der Kleine frei, und ihr gebt ihm einen Job, wenn er einen will, oder lasst ihn gehen, wenn ihm das lieber ist. Außerdem möchte ich gern mit eurem Lift fahren.« Der Mann blinzelte. »Mit dem Lift?« »Ja, das ist mein Kindheitstraum seit jeher«, flunkerte Cloud. »Einmal nach oben, um freie Sicht zu haben. Nur deshalb bin ich eigentlich hier.« Die drei Männer sahen einander an, dann lachten sie schallend. »Wenn das kein Glücksbringer ist!«, rief der Anführer. »Also schön, ich bin dabei, denn die Wetten für dieses Spiel werden in astronomische Höhen steigen. Und was ist, wenn du verlierst?« »Dann verliert der Junge seine hübschen Ohren, und ich werde euer Joker – kostenlos für zwei Jahre; was die Gewinnbeteiligung betrifft, natürlich.« Cloud war innerlich nicht annähernd so gefasst, wie er sich nach außen hin gab. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich da einließ. Aber er wollte Zeit gewinnen, in die Nähe des Lifts und darauf hoffen, dass Jarvis von irgendwoher plötzlich auftauchte. Der Mann grinste sadistisch. »Wir werden viel Freude an dir haben, mein Freund. Komm, wir schließen einen Kontrakt, und dann kann das Spiel losgehen.«
Harrimik flüsterte Cloud unterwegs zu: »Ich hab keine Ahnung, warum du das tust, aber mir wäre lieber gewesen, die hätten mich einfach eliminiert, und Schlussausbasta. Du hast überhaupt keine Chance nich', Kumpel. Das Blindchange hat noch nie einer gewonnen, weil da spielste gegen den Computer, kapierste? Nix Pokerface und den annern austricksen. Da biste echt am Arsch, kann ich dir sagen.« »Dann wird's Zeit, dass mal einer Glück hat«, meinte Cloud munter und fühlte, wie ihm der kalte Schweiß den Rücken hinunterrann. Ohne Umweg über eine Straße ging es von dieser Etage aus gleich hinüber ins Casino. Der schäbige, muffige, enge Gang erweiterte sich bald zu einem prächtig ausstaffierten Korridor mit viel Glitzer-
tand und Talmi und Teppichboden. Das Casino selbst entfaltete sich unter einem riesigen, zirkuszeltähnlichen Dach mit mehreren Etagen in luftige Höhen, einer Unmenge Spieltische und viel, viel Publikum. Der Geräuschpegel schmerzte in Clouds Ohren, daran war er schon lange nicht mehr gewöhnt. Überall wurde gezockt, gesetzt, gebettelt und gewürfelt. An den Wänden liefen Laufbänder entlang, die über die Entwicklungen an den wichtigsten Tischen berichteten, wo man zusätzlich mitwetten konnte, wer der Gewinner des Abends sein würde, oder dergleichen. Wetthändler vergaben Tipps und Quoten. Was die Tageswette sein würde, ging bald wie ein Lauffeuer herum und versetzte das gesamte Casino in helle Aufregung. Cloud wurde betrachtet, beäugt, beschnuppert und betastet, als wäre er Teil einer Kuriositätenshow. Die Wetthändler hatten bald alle Hände voll damit zu tun, nur noch eine einzige Wette anzunehmen. Cloud fühlte sich immer unwohler, und er wünschte sich Jarvis sehnlicher denn je herbei. Aber da hatte er wohl keine guten Aussichten. Da musste er jetzt also durch. Fezzick, so hieß der Mann, mit dem er den Kontrakt geschlossen hatte, führte Cloud herum und zeigte ihm auch den Lift, der sich wie eine schwarze Säule mitten im Gebäude erhob, ohne sichtbares Ende. »Benutzt ihr den Lift öfter?«, fragte er harmlos. »Nie«, gestand Fezzick. »Er lässt uns nämlich nicht rein. Die Türen sind verschlossen. Aber vielleicht hast du ja Glück, Freund. Falls du vorher nicht schon alles verbraucht hast.« Er grinste breit. »Schade, dass wir uns nur so kurz kennen, ich habe eine Schwäche für Irre wie dich. Sind gut fürs Geschäft. Aber sehen wir mal, vielleicht schaffst du es ja noch bis zum Joker.« Das hatte Cloud nämlich keiner gesagt, dass es nicht nur zwei, sondern drei Chancen gab: Je nachdem, wie schnell er verlor und wie viele Punkte dabei dem Gegner zugesprochen wurden, erlitt er nämlich eventuell dasselbe Schicksal wie Harrimik. So war es bisher jedem ergangen, der sich auf dieses Spiel einge-
lassen hatte. Aber, so versicherte Fezzick, es würde eine tolle Party werden, und sie könnten versichert sein, dass alle Scheinwerfer nur auf sie gerichtet wären, wenn ihre Köpfe dann rollten. Und bestimmt würden eine Menge Wetten darauf abgeschlossen, ob die Köpfe mit dem Gesicht nach oben, zur Seite oder nach unten zum Stillstand kämen. Etwa ab da entschloss sich Cloud, nicht mehr zuzuhören. Er ließ sich zeigen, wo er spielen würde und schätzte die Entfernung zum Lift ab. Für ihn mussten sich die Türen einfach öffnen, anders ging es gar nicht. Es war unmöglich, dass Cloud hier für immer festsitzen würde. Niemals. Wahrscheinlich war ein Sensor eingebaut, der die Bewohner dieser Ebene nicht durchließ, Besucher wie Cloud aber schon. Hoffte er zumindest.
Schließlich musste er Platz nehmen an seinem Spieltisch. Er erfuhr, dass eine Schalttafel hochgefahren würde und ein Pult am Tisch. Innerhalb von einer Minute musste Cloud sich eine Strategie ausdenken und eingeben. Danach ging nichts mehr, und das Spiel begann – gegen den Computer. Cloud fragte, wie denn garantiert werde, dass der Computer nicht manipuliert sei? Das sei gar nicht notwendig, wurde ihm versichert, der Computer sei nämlich ziemlich schlau. Von dem Spiel selbst hatte Cloud nicht die geringste Ahnung, und ihm war auch nicht klar, wie er innerhalb einer Minute eine Strategie entwickeln und eingeben sollte. Was er so mitbekam, war es wohl eine Mischung aus Schiffchen versenken, klassischem Schach und Halma. Der Tisch war von jeder Menge Kiebitze umgeben, selbst in den hinteren Reihen drängten sie sich und hüpften auf und ab, um einen Blick auf den wagemutigen Spieler zu erhaschen. Harrimik stand an der Seite, flankiert von den zwei Wächtern. Sei-
ne Nase vibrierte vor Angst und Nervosität. Cloud musste stillsitzen, die Hände auf den Armlehnen. Zum Glück wurde er nicht an den Stuhl gefesselt, was er für eine kurze Schrecksekunde befürchtet hatte. Aber hier gab es nur Spielernaturen, sie ließen es darauf ankommen. Und niemand rechnete mit seiner Flucht – wer gab schon so ein Spiel auf? Der Countdown begann. Während der Spielmeister – in schwerer Brokatrobe mit hohem, spitzem Hut – laut zählte, wurde es zusehends stiller im Casino. Angespannte Erwartung machte sich breit; Cloud konnte die Vibrationen um sich herum nur zu deutlich spüren. Er selbst war einer Panik nahe. Wie sollte er gegen eine Maschine bestehen? In einer Minute eine erfolgreiche Strategie entwerfen, die ihm den Sieg einbrachte? »Kann eigentlich jeder sehen, welche Strategie ich eingebe?«, fragte er in die Zählung hinein. »Natürlich nicht!«, antwortete Fezzick entrüstet. »Das ist streng geheim.« Klar. Damit niemand die Strategien aufzeichnen konnte, um in Ruhe die richtige zu entwickeln – oder, falls es doch mal einen Gewinner geben sollte, damit sie keiner nachspielen konnte. Cloud war zufrieden. Er hatte in den letzten fünf Sekunden nämlich einen Einfall gehabt, wie er seine Haut vielleicht retten konnte. Und da fuhr plötzlich aus der Tischmitte eine gläserne Scheibe hoch, die sich augenblicklich aktivierte und ein 76-teiliges Spielfeld zeigte, mit vielen leuchtenden roten, gelben, blauen und grünen Punkten. Dazu gab es ein paar Linien und Diagramme, Spielfiguren am Rand, diverse Symbole, deren Sinn Cloud völlig verborgen blieb, und sein eigenes Profilbild mit grüner Lebensleiste. Das Publikum jubelte und johlte, feuerte Cloud an und forderte ein blutiges Massaker. Die Tischplatte klappte um und förderte ein buntes Schaltpult zutage, mit vielen Knöpfen, Leisten, Sensorfeldern, Tasten und Lichtern. Als er nach Aufforderung die Hände über das Pult legte, schob
sich automatisch ein Schutzfeld darüber, das alles für das Publikum unsichtbar machte; nur noch Cloud selbst konnte aus seinem Blickwinkel heraus das Pult sehen. Rasch verschaffte er sich einen Überblick über die verschiedenen Symboliken, und er begriff, was wohin gehörte – es war gar nicht so schwer. Aufwändiger gestaltet als notwendig. »Schlage dich gut, Junge!«, spornte Fezzick ihn an. »Die Wetten stehen fünfzigtausend zu eins!« »Dass ich verliere?« »Dass du gewinnst natürlich, Blödmann! Das heißt, das Casino kriegt alles!« Das begriff Cloud nicht so ganz. Es hatte noch nie einer gewonnen, warum … oh, aber natürlich. Es ging einfach nur um das Spiel. Irgendwann musste man doch gewinnen … Schon begann die Zählung von vorne, und Cloud bearbeitete das Pult hektisch. Die Minute verging sehr schnell, aber das war ihm klar. Als die Zeit abgelaufen war, drängten sich die Leute noch näher an den Tisch und warteten auf das Ergebnis. Das war genau, was Cloud gehofft hatte. Er warf die Hände hoch und brüllte: »Betrug! Manipulation! Die Wetten sind getürkt! Das Casino kann gar nicht auszahlen, weil keine Reserven mehr da sind!« Gleichzeitig trat er heimlich einem Zuschauer gegen das Schienbein, der daraufhin versehentlich beim Zurückspringen einem anderen auf den Fuß trat, was dieser mit Schubsen beantwortete – und schon entstand genau der Tumult, den Cloud beabsichtigt und gewünscht hatte. Die einen umdrängten Fezzick und wollten wissen, was der Fremde da von sich gegeben hatte, die anderen fingen eine Schlägerei wegen Belästigung an. Cloud musste sich gar nicht erst ducken, die Menge wogte gegen ihn, und er wurde von seinem Stuhl gedrängt. Fezzicks Leute mussten sich um ihren Herrn kümmern, um ihn vor einem zusehends wütender werdenden Mob zu schützen. Keiner hatte mehr Zeit, auf Cloud zu achten. Er ging auf Tauchstation und kroch zwischen den Beinen hin-
durch, entdeckte Harrimiks dürre Waden in Kniebundhosen, packte den Jungen und zerrte ihn mit sich. »John, du Wahnsinniger, was machst du denn?«, fistelte der Junge erschrocken. »So was hat's noch nie nich' gegeben, das is' 'n totales Foul!« »Weiß ich«, stieß Cloud hervor und wieselte mit Harrimik im Schlepptau um alle Hindernisse herum. Die Leute achteten nicht auf ihn, alle wandten sich dem Tumult am großen Schachtisch zu. »Aber damit rette ich dir das Leben, kleiner Mann.« Er stürmte auf den Lift zu, wo sich derzeit niemand aufhielt. Das ganze Casino war inzwischen zu dem Durcheinander unterwegs, um zu fragen, was los war – oder um mitzumischen. Kurz vor der Tür hielt Cloud an. »Hör zu, Junge«, sagte er eindringlich zu Harrimik. »Du rennst jetzt sofort runter zum Hafen und heuerst auf dem ersten Schiff an, das ablegt. Verschwinde von hier und versuche woanders dein Glück! Du schaffst das schon.« »Aber … aber …«, stammelte Harrimik entgeistert. Cloud schubste ihn Richtung Ausgang. »Nun lauf schon, eine zweite Chance kriegst du nicht! Alles oder nichts!« Der Junge begriff endlich, nahm die Beine in die Hand und rannte mit flatternden Ohren davon. Cloud grinste zufrieden und wandte sich dem Lift zu, dessen Türen auch für ihn geschlossen blieben. Er wollte schon einen wütenden Aufschrei anstimmen … dann hätte er aber beinahe gelacht. Diese Dummköpfe – sie hätten einfach nur den Entriegelungsschalter herunterdrücken müssen. Auf die Idee war anscheinend nie einer gekommen, weil es hier nichts zu gewinnen gab. Sie hatten sich nie für den Lift interessiert, wussten nur, dass er da war. Aber keiner wollte das Spiel verlassen … Cloud drückte den Hebel nach unten, und die Schiebetüren glitten sanft auf. Hastig trat er ins Innere, suchte nach dem Innenriegel und wandte sich dann zum Schacht. Er hörte das vertraute Summen und spürte den Luftzug. Na also. Allmählich hatte er den Dreh raus. Cloud verschloss den Helm, überprüfte wie gewohnt die Systeme
und trat dann in den Aufwärtskanal. Er erfuhr nie, ob er gewonnen hatte.
11. Labyrinth und Hölle Es ging eine ganze Weile aufwärts, und Cloud schöpfte schon Hoffnung, dass er endlich ans Ziel käme. Dann aber kam eine Abzweigung, und ohne dass er es beabsichtigt hätte, schubste ihn der Auftrieb genau dort hinein und beförderte ihn horizontal weiter. Der Schacht endete ohne weitere Verzweigung. Cloud wurde sanft abgesetzt, und er musste sich nicht einmal bemühen, die Tür aufzumachen. Automatisch glitt sie leise summend zur Seite, und Cloud betrat eine Aussichtsplattform. »Das glaub ich jetzt nicht«, sagte er. Er blickte auf ein Labyrinth herab. Ein Labyrinth aus Mauern und Hecken, und in der Mitte ragte wie gewohnt der Lift zur nächsten Etage empor. Über all dem spannte sich ein mattgrauer Himmel. Hoch oben kreisten dunkle Punkte, einsame Schreie ausstoßend. Ansonsten rührte sich hier nichts. Die Temperatur lag bei etwa fünfzehn Grad, und die Schwerkraft war passabel. Allmählich hatte er es satt. Was fiel dem heimlichen Regisseur denn noch alles ein? Wem diente der Commander hier zur Unterhaltung? Cloud glaubte nicht mehr, dass es sich um Auswirkungen der Beschädigungen handelte, die die Perle schon vor langer Zeit in Mitleidenschaft gezogen hatten. Damals hatten Cloud, Jarvis und Algorian im oberen Segment Hangars gefunden, zum Teil verwüstet, mit schwer beschädigten Gloridenschiffen. Es hatte ausgesehen, als ob eine fremde Macht versucht hätte, eine Invasion der Perle zu starten. Aber die Gefährten hatten nicht herausfinden können, ob sie erfolgreich gewesen war, denn es war niemand mehr anwesend. Weitere hundert Jahre war die Perle seit diesem letzten Besuch sich selbst überlassen gewesen – scheinbar. Was ging hier nur vor? Welchen Sinn hatte das alles?
Natürlich verstand Cloud, dass sein Geist nicht weit genug entwickelt war, um die Hintergründe erfassen zu können. Vielleicht war es auch tatsächlich nur eine Reise durch sein eigenes Gehirn, während er irgendwo im Koma lag, vielleicht nach dem missglückten Teleportsprung. Dafür würde sprechen, dass Jarvis spurlos verschwunden war. Und Labyrinthe standen ja gern als Synonym für die Verwirrung des Geistes. Um zu sich selbst zu finden, musste man diese Hürde überwinden, sich durch alle Windungen des Gehirns kämpfen, bis man den Weg zurück fand – aus dem Koma. Cloud seufzte. Hatte er eine Wahl? Nein. Denn wieder einmal war der Lift hinter ihm verschwunden, lag hinter irgendeinem Tarnfeld verborgen oder war von seinem Verstand ausgelöscht worden. Er musste weiter, zum nächsten Lift. Blieb nur zu hoffen, dass dies die letzte Hürde war. Jetzt wäre es schön gewesen, Jiim an der Seite zu haben. Der Narge hätte das Labyrinth einfach überflogen und ihnen den richtigen Weg gewiesen. So aber musste Cloud sich selbst einen Überblick verschaffen, sich das Bild sehr gut einprägen und dann zusehen, dass er sich nicht verirrte. Sollte er es riskieren, den Helm zu öffnen? Er sollte besser Sauerstoff sparen, außerdem konnte er sich so auf angenehmere Weise fortbewegen. Nach kurzem Abwägen öffnete Cloud die Verschlüsse und schob sich den Helm in den Nacken. Die kühle Luft war angenehm und gut mit Sauerstoff angereichert. Cloud leerte den nächsten Wasserbeutel, warf ihn weg und machte sich über eine Metallleiter auf den Weg nach unten.
Am Anfang war es leicht: Es ging hinein – eine Möglichkeit, außen herum zu gehen, gab es nicht –, und dann nach rechts und schließlich schnurgerade. Dann links. Und schließlich stand Cloud vor der ersten Abzweigung. Ein Weg
geradeaus, einer links, einer rechts. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es weitergehen musste. Von der Richtung her war es noch einfach, da sollte er den Weg geradeaus nehmen. Aber das bedeutete nicht, dass dieser Weg nicht in eine Sackgasse führen würde oder plötzlich abbog. Es konnte auch einer der beiden anderen Wege richtig sein. Cloud schloss die Augen, rekapitulierte, wo er gerade entlanggegangen war. Rief sich wieder und wieder das Bild des Labyrinths ins Gedächtnis. Natürlich hatte er daran gedacht, mit dem anzuginternen System eine Aufnahme zu machen, die er dann vor sich projizieren und gemütlich hindurchspazieren konnte. Aber ebenso natürlich hatte die Optik versagt. Das Bild war vollkommen verwaschen und verwackelt und konnte nicht aufbereitet werden. Es war nichts darauf erkennbar. Hatte er etwas anderes erwartet? Allerdings sollte er wohl am Leben bleiben (wenn es nicht die besagte Reise durch sein eigenes Gehirn war), denn nach wie vor funktionierten Lebenserhaltungssysteme und Schutzfunktionen. Eben alles, was mit seinen persönlichen Bedürfnissen zusammenhing. Aber alles andere, was das Ambiente betraf, war nicht anzumessen; irgendetwas funkte gewaltig hinein. Schließlich entschied Cloud sich doch für den geraden Weg. Er suchte nach einer Möglichkeit, eine Markierung zu hinterlassen, denn hier bestanden die Hindernisse aus dicht bewachsenen Hecken. Er wollte nicht einfach ein Loch in das Gebüsch schneiden; aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Cloud zog ein Messer aus einer Seitentasche des Anzugs und fing an zu schneiden. Bald darauf gab er wieder auf. Trotz der Schärfe musste er unendlich säbeln, um einen dünnen Zweig durchzuschneiden. Das Zeug war äußerst widerstandsfähig. Es würde ihn zu lange aufhalten, zu viele Kräfte rauben und keinen Schritt weiterbringen. Also sammelte er ein paar herumliegende Blätter und Zweige und legte sie zu einem Pfeil zusammen, der in die Richtung wies, in die
er gehen wollte. Weiter. Der Pfad war wie mit dem Lineal gezogen. Cloud ging und ging, ohne je ein Ende zu finden. Er hatte bald kein Gefühl mehr dafür, wie viel Weg er schon zurückgelegt hatte. Als er sich umdrehte, sah er denselben langen Pfad hinter sich, wie er auch vor ihm lag. Sollte er tatsächlich im Kreis geführt werden, musste die Krümmung so geschickt ausgelegt sein, dass sie ihm optisch nicht auffiel. Es war verdammt still hier drin. In all den anderen Welten hatte es immer Geräusche gegeben, Bewegung, Leben. Doch hier … abgesehen vom optischen Reiz gab es keinen Unterschied zu dem weißen Nichts, das er noch mit Jarvis gemeinsam durchwandert hatte. Es existierte keine Luftbewegung, die Blätter zum Rascheln gebracht hätte. Einfach gar nichts. Still und tot und leer. Cloud ging weiter. Irgendwann war er sicher, sich in einer Spirale zu befinden; möglicherweise wurde ihm die gerade Linie mit einfacher Spiegeltechnik vorgegaukelt. Es hatte keinen so langen, geraden Weg durch das Labyrinth gegeben. Und er hätte das Zentrum längst erreichen müssen. Was nun? Umkehren? Es hatte keine Abzweigung gegeben, also musste es möglich sein. Aber wenn er sich doch täuschte? Wenn er bald an eine weitere Abzweigung käme? Unschlüssig verharrte Cloud. Er hatte keine Geduld für diese Spielchen. Wut kroch in ihm hoch, und er war versucht, seinen Blaster herauszunehmen und sich den Weg einfach freizubrennen. Mitten hindurch, bis er beim Lift angekommen war. Vielleicht nicht die feine Art, aber effektiv. Hatte es nicht Alexander so gehalten, mit dem gordischen Knoten? Manchmal war rohe Gewalt doch von Nutzen. Genug jetzt. Cloud zog den Blaster hervor, aktivierte ihn und zielte vor sich. Ein Weg war so gut wie der andere. Er würde sich so lange durchbrennen, bis er das Ziel vor sich sah.
Die Hecke war zäh. Aber irgendwann fing sie doch Feuer. Schwarzer, stinkender Qualm stieg auf. Nach und nach wurde ein Loch sichtbar. Als es groß genug war, nahm Cloud Anlauf und hechtete hindurch, sorgsam darauf bedacht, den glühenden Zweigen nicht zu nahe zu kommen. Und so verfuhr er weiter, Hecke um Hecke, bis er an die erste Mauer stieß. Zufrieden registrierte Cloud, dass er sich auf dem richtigen Weg befand. Hier begann der wohl ältere Teil des Labyrinths, genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Und wenn nun jemand glaubte, dass Cloud sich von einer Mauer aufhalten lassen würde, so hatte er sich getäuscht. Der Commander schätzte, dass die Mauer etwa drei Meter vierzig oder drei Meter fünfzig hoch war. Sie war alt, rissig und spröde. Jede Menge Efeu und Flechtwerk hatte sich im Laufe der Zeit emporgearbeitet, sich hineingekrallt und war über die Kante gewachsen. Unten schoben sich kräftigere Zweige und Äste nach. Wie Romeo sich zu dem Balkon seiner Liebsten, Julia, hochgearbeitet hatte, so würde auch Cloud jetzt hinaufklettern. Wäre nicht das erste Mal; er hatte sich schon öfter an Steilhängen versucht. Mit den Handschuhen des Anzugs hatte er einen guten Halt und Fingerspitzengefühl. Sollte also ein Leichtes sein. Cloud suchte sich eine günstige Stelle aus, sprang hoch, hielt sich an einem dicken Efeuast fest und fing an, sich hochzuziehen. Seine größte Sorge löste sich bald in Erleichterung auf: Das Flechtwerk hielt. Bald würde er die erste Hürde genommen haben, dann konnte er sich einen Überblick verschaffen und flugs den Lift erreichen. Da sah er schon die Kante über sich, konnte fast danach greifen … in diesem Moment hatte er das Gefühl, abzurutschen. Er wollte hastig nach dem nächsten Ast greifen, aber da ging es schon nach unten. Glücklicherweise musste er nicht wieder ganz von vorn anfangen. Ungefähr bei der Hälfte des zurückgelegten Weges hörte es auf, er hing zwischen Himmel und Erde und suchte nach einem Halt.
Es wurde doch anstrengender und schweißtreibender als vermutet. Cloud kletterte jetzt seitwärts, um zu einer anderen Stelle zu gelangen, die mehr Halt bot. Als er glaubte, sie gefunden zu haben, beeilte er sich. Diesmal kam er der Kante wiederum ein Stück näher – doch da ging es schon wieder abwärts, wenngleich nicht ganz so weit wie beim letzten Mal. Cloud fluchte lauthals. Das konnte doch nur ein übler Scherz sein! Also wieder die Seitwärtstour und dann mit frischem Mut weiter nach oben. Der Schweiß rann ihm in Strömen über Gesicht, Hals und Nacken. Die Finger taten ihm schon weh, sie wurden taub und gefühllos. Er wusste nicht, wie lange er das noch durchhalten konnte. Die Kante war schon so nah … wie die Mohrrübe vor der Nase des Esels. Cloud versuchte danach zu greifen (nach der Kante, nicht der Mohrrübe, obwohl sich auch langsam ein dumpfes Hungergefühl im Magen ausbreitete), doch er spürte schon, wie die tückischen Pflanzen unter seinen Stiefeln nachzugeben begannen. Hilflos klammerte er sich fest, verhielt sich ganz still, klebte sich regelrecht ans Mauerwerk und hoffte, dass es vorüberginge. In dieser frustrierenden Lage sah er den Mann oben auf der Mauerkante spazieren gehen. »Hallo?«, rief er. »Ähm … ich könnte ein wenig Hilfe brauchen! Wäre das möglich?« Der Mann blieb stehen und schaute überrascht zu ihm herab. Er hatte hüftlange, weiße und strähnige Haare und einen ebenso langen, zerrupften Bart. Sein Gesicht war über und über mit Falten überzogen. Er trug einen langen, schmutzig grauen Überwurf und Sandalen. »Ich bin Pilger«, sagte der Mann. »Freut mich«, antwortete Cloud. »Ich bin John, und ich könnte wirklich eine helfende Hand brauchen. Nur ein bisschen, damit ich mich irgendwo halten kann, während ich mich auf die Kante schwinge. Das wäre fast kein Gewicht, ich verspreche es!«
Der Pilger verharrte mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »So eine merkwürdige Begegnung hatte ich noch nie«, gestand er. »Ich wusste nicht, dass welche von unten heraufkommen können.« »Nun ja, ich erlebe täglich solche Überraschungen. Und ich würde ganz gewiss niemanden im Stich lassen, der in Not ist. Und ehrlich gesagt, ich kann mich bald nicht mehr halten.« Der Schmerz in den Fingern war inzwischen unerträglich. Sie waren so steif verkrümmt in die Mauer verkrallt, dass er die Hände wahrscheinlich nie wieder würde benutzen können. »Ich möchte dich etwas fragen«, fuhr der Pilger fort. »Eine mathematische Frage, die mich schon seit vielen Jahren beschäftigt.« »Nur zu!«, stieß Cloud wütend hervor. »Mache ich doch gern. Und ich kann die Frage bestimmt beantworten, während du mir heraufhilfst. Andernfalls werde ich nämlich abstürzen, und du musst dich bis an dein Lebensende fragen, ob ich die Antwort gewusst und dich erlöst hätte.« »Sag mir«, fuhr der Pilger ungerührt fort, »wenn eine Schnecke eine Mauer hinaufkriecht … Sie schafft es am ersten Tag bis zur Hälfte. Am nächsten Tag schafft sie wieder die Hälfte des verbliebenen Weges, sodass sie der Kante der Mauer schon ein ganzes Stück näher ist. So geht es täglich weiter. Wie viele Tage braucht sie, bis sie oben ankommt?« Cloud glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Machte der Typ sich über ihn lustig? Fand er es erheiternd, einem an einer Mauer herumhängenden Idioten noch ein paar Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben? »Das ist alles? Das willst du wissen?«, rief er. »Ich bitte darum«, sagte der Pilger aufrichtig und mit erwartungsvollem Gesicht. »So viele Tage gibt es im ganzen Universum nicht, dass sie das jemals schaffen würde, du hirnverblödeter Idiot!«, schrie Cloud am Ende seiner Geduld, seiner Kräfte und seiner Nerven. »Weil es immer noch eine Hälfte zurückzulegen gilt, egal, wie gering der Abstand wird! Es hört nie auf, kapiert? Sie schafft immer nur die Hälfte von jedem Stück, das noch vor ihr liegt, bis ans Ende aller Zeit!«
Die Augen des Pilgers wurden groß und rund. »Dies ist die Lösung? Und ich suche all die Jahre über nach einer Formel?« »Weil dein Denkansatz falsch ist, Hirni! Es ist eine philosophische, keine mathematische Frage, das ist alles!« Cloud blinzelte den Schweiß aus den Augen. »Es bedeutet, dass immer noch ein letztes Stück Weg bleibt, egal wie nahe man dem Ziel ist, weil der Weg bereits das Ziel ist.« »Du bist sehr weise, mein junger Freund. Ich danke dir für die Erleuchtung meines Alters«, sagte der Pilger ergriffen und ging weiter. Bald war er aus Clouds Sichtfeld verschwunden. »Schon gut«, murmelte der Commander erschöpft. »Ich hab's auch kapiert. Hier oben wird das Flechtwerk einfach zu dünn und kann mich nicht mehr tragen.« Er ließ sich einfach fallen, es ging ja nicht weit nach unten. Am liebsten wäre er liegen geblieben und hätte geschlafen, eine halbe Ewigkeit lang. Aber er rappelte sich auf, rieb sich die schmerzenden Glieder und machte sich dann weiter auf den Weg, einfach immer an der Mauer entlang. Er wählte bei den Abzweigungen die Seite, wo das meiste Flechtwerk war und hielt Ausschau nach einer weiteren Möglichkeit, den Weg abzukürzen. Philosophie hin oder her, seine Geduld war endgültig verbraucht. Schließlich blieb er stehen, zog den Blaster hervor, stellte ihn auf volle Leistung und sprengte ein Loch in die Mauer. Es war ihm gleichgültig, ob er dabei wertvolle Munition verschwendete. Noch ein Loch. Das dritte. Dann sah er den Lift.
Nur noch ein paar kleine Hindernisse und Umwege lagen vor ihm. Aber Mauer und Gebüsch waren nun nicht mehr hoch, sondern gaben den Blick frei auf das Ziel, das wie ein Fanal in der Mitte prangte. Erleichtert, ohne weitere Schwierigkeiten, kam Cloud dort an. Er hoffte inständig, dass er nun endlich das Ziel fand. Von den Perlen der Ewigkeit hatte er ein für alle Mal genug. Nie wieder würde er
eine freiwillig betreten, nahm er sich vor. Er aktivierte den Antigrav und ließ sich nach oben tragen. Doch dann ging es wieder nicht weiter. Die nächste Hürde. Was denn noch alles?, dachte Cloud verzweifelt. Müde schleppte er sich zum Ausgang und dachte gerade noch daran, den Helm zu schließen und den Systemcheck durchzuführen. Und diesmal wäre es wirklich böse ausgegangen, wenn er es vergessen hätte. Eine Höllenwelt lag vor ihm. Die Systeme des Anzugs mussten sofort auf volle Leistung gehen. Eine Wasserstoff-Methanwelt, glühend heiß, verborgen unter ewigen dicken Wolken, von gnadenlosen Stürmen durchtost. Cloud konnte sich kaum aufrecht halten. Die Kontrollanzeigen überschlugen sich mit Warnungen. Lange würde er diesem Inferno nicht standhalten können. Er wollte umkehren, aber da war kein Lift mehr. Verzweifelt sah er sich um. Er befand sich in einer von aktiven Vulkanen umgebenen Ebene. Abwechselnd stießen die Vulkane Rauchwolken und Magma aus, das sich in einem unaufhörlichen Strom wie Wasserfälle über Kanten und durch Rinnen hinab ergoss. Schwere dickflüssige, schwarze Lava wälzte sich in breiten Flüssen herab, darüber rauschte gelb heißes, funkensprühendes Magma. Ein gigantisches Netzwerk, ein weitverzweigtes Aderngeflecht. Die kochend heiße Luft war zum Schneiden dick, durchzogen von giftigen Schleiern. Alle paar Minuten wurde der Boden von Erdbeben erschüttert. An vielen Stellen riss die Kruste auf, krachte an anderen Stellen wieder zusammen. Cloud stolperte orientierungslos durch diese Gluthölle, stemmte sich gegen die donnernden Sturmböen. Jetzt ist es wirklich aus, war er überzeugt. Hier gab es kein Entrinnen mehr. Der Computer im Anzug machte ihm deutlich, dass er noch zehn Minuten Zeit hatte, dann war es vorbei. Die Klimaregelung würde ausfallen, der Schutzschirm, die Sauerstoffversorgung, einfach alles. Der Anzug würde Feuer fangen, angefangen bei den
Füßen, und Cloud in eine Fackel verwandeln, bevor er zu Asche verpuffte und von den Stürmen über die Welt verteilt wurde. Wie sollte es hier noch einen Lift geben? Wie sollte er ihn finden? Nun war es auch schon gleich, er brauchte keinen Atem mehr zu sparen. Cloud legte den Kopf in den Nacken und brüllte seine Verzweiflung hinaus. Er wollte nicht aufgeben, aber er würde es müssen. Trotzdem taumelte er weiter, weil er den Tod so lange wie möglich hinauszögern wollte. Weil er einfach immer noch hoffte, dass er es rechtzeitig schaffen würde. So konnte es doch nicht enden! Nicht in dieser bescheuerten Perle im Auftrag eines undurchsichtigen Wesens, irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft gefangen. Wenn ich hier rauskomme, schwor er sich, egal, wem ich das zu verdanken habe, ich bringe ihn um. Und anschließend bringe ich Fontarayn um. Und dann sprenge ich diese ganzen Scheiß-Perlen in die Luft, und dann ist Ruhe! Eines stand fest: Cloud wollte nicht heulend und zähneklappernd sterben. Er würde bis zum letzten Atemzug kämpfen! Doch irgendwann konnte er nicht mehr weiter. Die Systeme des Anzugs brachten nur noch mangelhafte Leistung. Die Innentemperatur betrug bereits über fünfzig Grad. Cloud hatte viel zu wenig getrunken, er fing schon an, auszutrocknen. Seine Haut bildete zu wenig Schweiß, und damit gab es keine Linderung durch Verdunstungskälte. Mit trübem Blick sah er eine Felsengruppe vor sich, die sich schwarz gegen das um ihn tobende Inferno erhob. Kein Vulkan, kein Magma. Sollte es hier so etwas wie Deckung geben? Vielleicht sogar … den Lift?
12. RUBIKON »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sich Sarah Cuthbert nicht zum ersten Mal. Nervös lief sie in der Zentrale auf und ab. Die Frist war längst abgelaufen und von Cloud oder Jarvis gab es keine Spur. Jiim und Algorian hatten schon versucht, in die Perle zu kommen, aber vergeblich. Es gab absolut kein Durchkommen. Sie wurden nicht akzeptiert. »Ich bin sicher, dass sich eine Öffnung auftäte, wenn uns da drin jemand bemerken würde«, setzte die Ex-Präsidentin ihr Selbstgespräch fort. »Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass jemand zu Besuch kommt, und es ist kein Gloride.« Allerdings war das letzte Mal niemand in der Perle gewesen – oder er hatte sich einfach nicht gezeigt. Doch in den vergangenen hundert Jahren hatte sich viel verändert. Sesha war nach wie vor nicht in der Lage, mehr über die geheimnisvollen Satelliten herauszufinden, die die Station umkreisten. Sarah hatte schließlich eine Sonde ausgeschickt, die tatsächlich an eines der Konstrukte andocken konnte. Dann aber war die Sonde explodiert. Also wieder nichts. Schließlich hatte sie genug. »Sesha, ich gehe jetzt ins Arboretum. Dort kannst du mich erreichen, sollte sich eine Veränderung ergeben.« »Selbstverständlich«, antwortete die allgegenwärtige KI. »Meine Messungen ergeben ohnehin, dass du deinen körperlichen Grenzen gefährlich nahe bist. Du musst Nahrung zu dir nehmen, und du brauchst Erholung.« »Ja, ja.« Schlimmer als meine Mutter. Sarah verließ die Zentrale und transmittierte zu Jeltos Garten. Erschrocken stand sie da. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist …« Der Florenhüter kam auf sie zu. Seine sonst so leuchtend grünen
Augen waren matt und müde. »Der Zeitsprung hat sie kaputtgemacht, glaube ich«, sagte er leise. »Es wird Monate brauchen, bis es wieder einigermaßen grün wird. Wie steht es bei euch?« »Ähnlich«, gestand Sarah. »Wir haben ja angefangen, Wohnelemente mit Pflanzen zu verbinden, um eine grüne Einheit zu schaffen. Sehr kreative Ideen waren dabei, viele Häuser aus Holz, mit einem Baum in der Mitte oder einem Bach durchs Innere. Aber auch diese Träume haben sich erst einmal zerschlagen.« »Immerhin ist die Saat nicht gänzlich verdorben, sonst hätten wir wirklich ein Problem.« Jelto machte eine einladende Geste. »Geh ruhig ein wenig spazieren, wenn dich die Verwüstung nicht zu sehr deprimiert. Mich entschuldigst du bitte, ich muss wieder an die Arbeit.« Sarah sah ihn zu einem Feld zurückkehren, das er mit einer kleinen Hacke bearbeitete, Samen einpflanzte und goss. Der junge Mann mit der Kirlianhaut war genau für diesen Zweck in vitro gezeugt worden. Damals auf der Erde. Er würde es schaffen. Ja, Aufgaben gab es an Bord im Grunde genommen genug. Es gab jede Menge Möglichkeiten, annehmbaren Lebensraum zu schaffen, die grünen Bereiche zu erweitern, damit eine kleine Welt in der Welt entstand. Schließlich konnte keiner von ihnen wissen, wann sie jemals wieder den Boden eines Planeten betraten, der irdischen Verhältnissen ähnelte. Wie sollte es weitergehen? Darüber sprach man hier an Bord nicht. Man ergriff jede sich bietende Gelegenheit, um sich zu beschäftigen, nützlich zu machen, scheinbar bedeutende Dinge zu erschaffen. Sarah setzte sich auf eine Bank und blickte ins Leere. Sie konnte nicht vergessen, was sie alles zurückgelassen hatte. Es war sehr freundlich von Cloud, sie auf einmal in alles einzubinden und ihr Verantwortung zu übertragen. Aber das konnte den Schmerz der ausgerissenen Wurzeln nicht nehmen. Gewiss, Menschen waren anpassungsfähig. Sie kamen nahezu überall zurecht, darin waren sie den Ratten, Flöhen und Läusen ganz ähnlich. (Sie musste schmunzeln.) Aber es gab auch Grenzen. »Hallo.«
Aylea stand vor ihr und lächelte sie schüchtern an. »Störe ich?« »Natürlich nicht. Ich freue mich, nicht allein herumsitzen zu müssen.« Sarah wies neben sich. Aylea setzte sich und nickte. »Ja, die Warterei macht einen immer verrückt. Ich weiß, wie das ist.« »Vermisst du deine Eltern?« »Jeden Tag. Ich hasse sie für das, was sie mir angetan haben. Ich kann ihnen das nie verzeihen, auch wenn sie jetzt längst tot sind. Aber sie fehlen mir so sehr. Alles fehlt mir, mein altes Leben, die Schule … es war alles so einfach. Ich wünschte mir, ich wäre ewig unwissend geblieben.« Sarah lächelte und legte einen Arm um die schmächtigen Schultern des Mädchens. »Du bist noch viel zu jung für solche Gedanken. Manchmal können wir uns nicht aussuchen, wie es kommt, aber wir können das Beste daraus machen.« »Das klingt alles so einfach.« »Das ist es auch. Andere an Bord hat es schlimmer getroffen als uns, denn wir haben immer noch uns als Menschen. Aber was ist mit Algorian? Jiim? Cy?« Aylea seufzte. »Ich weiß, ich sollte nicht undankbar sein.« Dann sah sie Sarah an. »Hast du eigentlich Hunger?« »Und ob«, gestand die Ex-Präsidentin. »Dann komm mal mit, wir wollten es nämlich mal ausprobieren.« Gespannt folgte Sarah dem Mädchen durch das Arboretum in eine kleine Halle nebenan. Staunend verharrte sie. Tische und Stühle waren auf verschiedene Bereiche eines liebevoll arrangierten Gartens verteilt. Es gab unterschiedliche Bereiche: Felsenregion, nördlicher Wald, Dschungel, Gebirge. Alles in Miniatur, aber sehr anschaulich. Natürlich hatten die Pflanzen auch hier gelitten, aber man konnte trotzdem die detaillierte Gestaltung bewundern. »Was soll das werden, ein Restaurant?« Aylea nickte vergnügt. »Diese Kantinen hier sind doch total langweilig. Jeder mampft irgendwas, meistens für sich allein. Glücklicherweise haben wir schon kleine Ernten ergattern können und das
Zeug rechtzeitig schockgefrostet. Die Proteine und Kohlenhydrate muss natürlich weiterhin Sesha liefern, aber mit ein paar Sachen können wir uns schon selber versorgen, um die Vitaminversorgung möglichst naturgetreu zu erhalten.« Das Mädchen forderte Sarah auf, sich an einen Tisch zu setzen und tippte dann Befehle in ein Terminal ein; offensichtlich plante sie eine Überraschung. Und die gelang auch tatsächlich. Spinnenroboter brachten nach einiger Zeit ein komplettes Menü – das Übliche aus der Bordküche, aber auch frisch gepresste, eisgekühlte Fruchtsäfte, ein wenig Obst und etwas kurz gegartes Gemüse. Sarah verschlang das Essen schon mit den Augen, dann auch mit dem Mund. Voller Genuss. »Weiß John davon?« »Noch nicht«, gestand Aylea. »Offen gestanden, du bist unsere erste Testperson. Wir können das auch noch nicht oft genug machen, weil ja alles kaputtgegangen ist, und so viele Vorräte haben wir noch nicht angelegt. Aber für ein kleines Fest sollte es schon mal reichen.« Sarah lehnte sich seufzend zurück und hielt sich den Bauch. »So gut und vor allem mit Freude habe ich schon lange nicht mehr gespeist. Ja, ein Fest … aber davon können wir vorerst nur träumen. Sobald John zurück ist, wird es gleich weitergehen. Er ist kein Freund von Ruhepausen.« Aylea grinste. »Weil er Angst hat, dass er dann irgendwann zu gar nichts mehr nütze ist. Ich bin froh, dass es dir geschmeckt hat. Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Und wir werden weitermachen. Dieses Schiff werden wir nie mehr hergeben, Sobek hin oder her.«
Sarah kehrte anschließend in ihre Wohnsiedlung zurück, gönnte sich eine ausgiebige Dusche und legte sich für eine halbe Stunde aufs Ohr. Sesha würde schon rechtzeitig melden, wenn sich etwas Besonderes tat. Als sie wieder aufstand, fühlte sie sich deutlich erholter, und sie
schaute nach ihren Leuten. Ein paar hingen lustlos herum, aber die meisten beschäftigten sich wie immer: bauten neue Gebäude für bestimmte Zwecke, fertigten Kleidung an, erweiterten technische Kenntnisse. Die Stimmung war ausgeglichen. Die Gruppe der ehemaligen Zirkusleute lebte hier so abgeschieden, dass sie allmählich keinen Anteil mehr an den Vorgängen draußen nahm, sondern sich ihr Leben so einrichtete, wie es ihren Mitgliedern gefiel. Längst waren auch erste zarte Bande geknüpft worden, die berechtigte Hoffnungen machten, dass sie weiterleben würden, egal wohin es sie auch verschlagen sollte. Sarah blieb stehen, als ihr eine junge Frau, Jade, über den Weg lief. Sie war eine Schlangenfrau, unglaublich biegsam und gelenkig. »Ich habe dich gesucht, Sarah«, sagte sie aufgeregt. »Bitte, komm mit, ich muss mit dir reden!« Sarah folgte ihr verwundert zu ihrer Unterkunft. Jade schloss das Schott und ergriff aufgeregt Sarahs Hände. »Du erfährst es als Erste. Ich … ich bin schwanger!« »Du … wirklich?« Sarah war so konsterniert, dass sie für einen Moment nicht wusste, was sie fühlen und wie sie sich verhalten sollte. Natürlich musste das eines Tages passieren, aber so richtig daran geglaubt hatte keiner. Auf einem Schiff, unterwegs im Weltraum … so einfach war das nicht. »Ganz sicher?« Jade nickte. »Aber bitte, behalte es vorerst für dich. Ich will zuerst sichergehen, dass das Kind auch gesund und lebensfähig ist, und das weiß ich erst in einigen Wochen. Bis dahin mache ich wie gewohnt weiter.« »Aber was sagt Peter dazu?« Sarah wusste, dass die beiden seit einiger Zeit ein Paar waren. Jade errötete. »Zunächst mal gar nichts, denn er ist nicht der Vater«, gestand sie. »Das ist die zweite Sache, weswegen ich noch nicht will, dass es bekannt wird. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich Peter die Wahrheit sagen werde oder nicht.« »Aber das musst du!«, verlangte Sarah. »Wir leben hier auf engstem Raum, diese Lüge kann nicht auf Dauer gehalten werden, und
was dann?« »Einen Konflikt gibt es so oder so«, wehrte Jade ab. »Und ich allein werde die Entscheidung treffen, was das Beste für mein Kind ist. Vielleicht wird mir die Entscheidung ja aber auch von der Natur abgenommen, wer weiß?« Sarah musste sich setzen. »Dann sind wir also jetzt ein echtes Generationenschiff«, murmelte sie. »Natürlich hat es eines Tages so kommen müssen. Aber … verzeih, Jade, ich freue mich sehr für dich, habe jedoch Angst vor Komplikationen …« »Denkst du, ich nicht?« Jade kam zu ihr und sah sie beschwörend an. »Was glaubst du, welche Gedanken ich mir mache? Niemand weiß, wie sich diese Umgebung auf die Entwicklung eines Fötus auswirkt. Und erst später, wenn das Kind dann heranwächst! Vor allem, wenn es allein ist. Obwohl, Aylea ist da, sie wäre natürlich eine große Hilfe. Und Jelto. Doch … wie viel anders als wir wird das Kind sein? Wie wird sich dies auf die Entwicklung unserer Gemeinschaft auswirken? Können wir es schaffen, so wenige Leute auf so engem Raum, ohne Gewalt und Streit? Natürlich ist Platz genug da, um sich auszubreiten, aber wir brauchen einander, zu Einsiedlern sind wir nicht geschaffen! Keiner darf sich ausgrenzen und den Eigenbrötler spielen, nicht an Bord eines Schiffes.« »Und dann hat das Kind unter Umständen zwei Väter, wenn du mit Peter zusammenbleiben willst und er sich überwinden kann, das Kind zu akzeptieren. Und wenn der Erzeuger dabei mitmacht.« Sarah fuhr sich durch die Haare. »Da wird einiges auf uns zukommen, Jade. Ich verstehe natürlich, dass du mit jemandem reden musstest, aber eine Freude hast du mir damit nicht gemacht.« »Dabei sollte es doch ein freudiges Ereignis sein, nicht wahr?«, flüsterte Jade, und ihre Augen wurden feucht. »In Wirklichkeit aber wird jetzt alles noch komplizierter.« Sarah nickte. Sie erhob sich. »Ich gehe jetzt wieder in die Zentrale, Jade. Ich verspreche dir, dass ich schweigen werde. Zumindest, bis wir sicher sein können, dass du das Kind austragen wirst; vielleicht haben sich bis dahin auch unsere anderen Probleme ein wenig gelöst. Aber eine Entscheidung müssen wir finden.«
»Ja, natürlich. Danke, Sarah.« »Schon gut.« Bei der Tür verhielt die Ex-Präsidentin noch einmal. »Suche in den nächsten Tagen mal Aylea auf und sag ihr, ich habe dich geschickt. Sag ihr, dass bei dir einige Mangelerscheinungen festgestellt wurden und du unbedingt Frischkost brauchst. Wenn sie etwas entbehren kann, soll sie es dir geben.« »Ich verstehe kein Wort«, gestand Jade perplex. »Das wirst du schon. Aylea weiß es jedenfalls sofort. Lass dich überraschen!« Sarah nickte ihr lächelnd zu.
Zurück in der Zentrale ließ sich Sarah Cuthbert den Statusbericht geben. Keine Neuigkeiten, natürlich nicht. Keine Veränderung, alles wie gehabt. Also ging es mit dem Nägelkauen weiter. John, dachte sie, ich hoffe, bei euch da drin ist alles in Ordnung, und es geht dir gut. Sieh zu, dass ihr bald wieder zurückkommt. Du hast natürlich genau gewusst, dass es so kommen wird, und dass ich nichts unternehmen kann. Das werde ich dir nicht verzeihen, obwohl ich es mir selbst hätte denken können. Aber das gehört wohl zur Führung eines Schiffes, insofern lerne ich dazu. Bei uns ist alles wie gehabt. Die Zeitmessungen sind inzwischen sehr ungenau, aber auch das wirst du gewusst haben. Wir wissen also nicht, wie lange ihr tatsächlich schon da drin unterwegs seid und wie derweil die Zeit bei uns vergeht. So lange keine Gefahr droht, werden wir also hier ausharren, und sei es bis zum jüngsten Tag. Das war eine einfache Entscheidung. Aber was, wenn tatsächlich plötzlich Gefahr drohen sollte? Würde sie wie befohlen einfach abfliegen und die beiden Freunde mit einem ungewissen Schicksal zurücklassen? Davor fürchtete sich Sarah Cuthbert am meisten.
Prosper Mérimée blieb für sich allein. Immer wieder dachte er darüber nach, was sich in seinem Kopf befinden und diese unglaubliche
Mutation ausgelöst haben mochte. Heute noch galt der Grundsatz, dass Zeit relativ war und von verschiedenen Beobachtungspunkten aus verschieden ablief. Er selbst war eine Zeitbombe, wenn man es genau nahm; alles, was relativ war, machte er noch ein bisschen relativer. Unkontrolliert, nicht steuerbar. Damit stellte er permanent eine latente Gefahr für seine Umwelt dar. Natürlich hatte er sich gefreut, dass die gesamte Besatzung sich für ihn ausgesprochen hatte. Aber er wusste trotzdem, dass ein gewisses Gefühl der Unsicherheit blieb, aus dem eines Tages Vorbehalte erwachsen würden. Schon jetzt bildete er sich ein, mit anderen Augen betrachtet zu werden. Dass man ihm zurückhaltender begegnete – mit Ausnahme vielleicht der Stammbesatzung um Cloud, und mit Ausnahme von Sarah. Aber alle anderen, obwohl selber auf irgendeine Weise Freaks, würden ihre Meinung über ihn vielleicht noch ändern. »Mach dir keine Sorgen«, hatte Sarah erst vor kurzem bei einer Stippvisite gesagt, als ihr die Wände in der Zentrale zu eng geworden waren und sie ein wenig Abwechslung brauchte. »John ist sich dessen genau bewusst, und er wird dich bald mit einer Aufgabe betrauen, du wirst sehen. Gerade, weil dieses Potenzial in dir steckt, wirst du wertvolle Dienste leisten können, da bin ich mir ganz sicher. Also grüble nicht zu viel, du bist immer noch derselbe Mensch wie vorher; nur dass du jetzt weißt, was mit dir los ist.« Prosper Mérimée hatte dieses Vertrauen in andere noch nicht. Das musste er erst lernen. In seinem ganzen Leben war ihm nichts geschenkt worden, alles hatte er sich hart erkämpfen müssen. Und er hatte immer versucht, sich als »normalen Menschen« zu sehen, auch dann noch, als sich die Hinweise mehrten, dass etwas mit ihm nicht stimmte – damals noch im Getto. Dass es nun ausgerechnet ihn so krass traf und die Anomalie, die irgendein falscher Schritt auf dem Boden des ehemaligen Peking ihm eingeimpft hatte, zu einem derartigen Problem erwachsen war, das stellte sein ganzes Denken auf den Kopf, seine gesamte Lebenseinstellung. Ihm war klar, dass er nie wieder so wie früher würde leben kön-
nen. Und wahrscheinlich würde Cloud ihn tatsächlich fordern wollen. Aber was konnte Prosper tun? Er wusste ja nichts weiter über seine Fähigkeiten, nichts, was sie hätte nutzbar machen können, jedenfalls. Ovayran und Fontarayn hatten sich nicht weiter dazu geäußert. Sie waren Zwitterwesen, die nach Belieben in einen rein energetischen Zustand wechseln konnten … und damit Lichtjahre weit von jemandem entfernt, der sich in einen Menschen hätte hineinversetzen können; dass Prosper vor Schrecken und Zukunftsangst halb wahnsinnig wurde, kümmerte sie herzlich wenig. Obwohl sie alle hier an Bord einsame Menschen waren – und noch einsamere Außerirdische –, empfand er sich momentan als der Geplagteste von allen. Diese Bürde konnte niemand mit ihm teilen. Sie ihm nicht einmal erleichtern. Prosper Mérimée seufzte. Was zerbrach er sich den Kopf? Er musste es auf sich zukommen lassen. Sich dem Schicksal ergeben. Lernen, wie Cloud zu leben. Und zu vertrauen, dass es alles für etwas gut war. Auch ein Sprung in die Zukunft um zweihundert Jahre. Vielleicht, um davon wieder hundert Jahre zurückzugelangen? »Genug jetzt!«, ermahnte der ehemalige Zirkusdirektor sich. »Du schaffst das. Kümmere dich jetzt um die wirklich wichtigen, weil aktuellen Dinge: deine Leute. Zeig ihnen, dass du keine Angst hast. Dass du ihnen vertraust. Dann werden sie dir auch vertrauen.«
Jiim, Algorian und Cy saßen zusammen in einer Messe mit richtigen Fenstern. Sie lag in der Nähe der Zentrale und war als Gemeinschaftsaufenthaltsraum gedacht, mit gemütlicher Einrichtung, Versorgungsautomaten … und Ausblick. Wobei die Aussicht nach draußen derzeit niemanden aufheiterte. Für die farbenfrohen, wallenden Schlieren und Schleier hatte längst keiner mehr einen Blick übrig, erst recht nicht für plötzlich auftauchende fraktale Ungetüme, die genauso schnell wieder verschwanden. Und die bizarren Satelliten, die die Perle umkreisten, lockten nicht einmal mehr ein Gähnen – oder Blätterrascheln – hervor.
Jiim war mit der Pflege seiner Flügel beschäftigt. Algorian tat so, als würde er dösen, und Cy … nun, Cy gab sich wohl einer Meditation nach Art der Aurigen hin. Irgendwann hatte der Narge es satt und platzte heraus: »Die hätten mich bestimmt gebraucht! Bei so vielen Leerräumen wäre ein Flugfähiger von großem Wert gewesen!« Algorian öffnete ein Auge. »Ich habe das letzte Mal dank meiner telepathischen Kräfte alle zusammengehalten, was glaubst du denn? Das ist überhaupt das Wichtigste!« »Stattdessen müssen wir hier Wurzeln schlagen«, raschelte Cy trübsinnig. »Allerdings, wir dürfen nicht ungerecht sein: Mehr als einen hätte Jarvis nicht mitnehmen können. Und das Diffundieren hat ja nicht geklappt, wie wir mitbekommen haben.« »Na und? Dann hätte er eben einen nach dem anderen geholt!«, beschwerte sich Jiim. »Mein lieber Jiim.« Algorian hob mahnend einen Finger. »Du weißt ja gar nicht, wovon du da sprichst. Erstens kostet schon eine Teleportation den Teleportierenden allein haufenweise Energie; das zehrt an den Kräften, selbst bei unserem Protoklumpen. Zweitens: Wer weiß, wo die beiden rausgekommen sind. Und wenn Jarvis zurückgesprungen wäre, um den Nächsten zu holen, wer weiß, ob er noch mal dieselben Zielkoordinaten träfe!« Der Narge schüttelte die Flügel und beugte sich vor. »Ist es denn wirklich so bizarr da drin?« »Und ob.« Der Aorii setzte eine wichtige Miene auf. »Du machst dir keine Begriffe! Hier draußen ist schon alles auf den Kopf gestellt, aber da drin noch zusätzlich ineinander gewunden. Nichts ist so, wie es scheint. Völlig verrückt, das Ganze.« »Aber war das denn in der Andromeda-Perle genauso?« »Ich glaube nicht. Zumindest hat John nichts Besonderes berichtet, als er von dem Perlenweisesten zurückkehrte.« »Das ist auch so ein Unsinn«, schnarrte Cy. »Perlenweisester! Dabei weiß er gar nichts, nicht mal ein bisschen mehr als die anderen. Was haben die Gloriden überhaupt für eine Hierarchie? Vor allem: Wozu? Durch die einzigartige Verbindung, die sie schaffen können,
ist doch jeder auf demselben Wissensstand wie der andere. Im Grunde genommen sind sie auch keine echten Individuen, da sie ohne einander kaum existieren können.« »Ja, und dann kneifen sie einfach und verlassen ihre Perle, obwohl keine echte Notwendigkeit dazu besteht«, stimmte Algorian zu. »Kein Wunder, dass sie nichts Ordentliches auf die Beine stellen und gegen die Satoga nichts ausrichten konnten!« »Wahrscheinlich hat Fonti inzwischen auch das Weite gesucht, weil er sich verlassen fühlt, so allein in der riesigen Station«, spöttelte Jiim. Er faltete die Hände und blickte seine Freunde auffordernd an. »Wie auch immer, was tun wir jetzt? Sollen wir einen erneuten Versuch wagen? Die Perle irgendwie anbohren, mit Beschwörungstänzen zum Öffnen bringen? Irgendwas?« Er deutete zum Fenster hinaus. »Ich könnte mein Nabiss anlegen und eine Runde um die Station drehen, genauso wie die Dinger da draußen. Vielleicht fällt mir irgendwas auf. Lasst mich was tun, ich bitte euch!« »Du wirst genau dasselbe tun wie wir, nämlich gar nichts«, sagte Algorian streng. »Sarah hat's verboten.« »Na und? Sie …« »Hat das Kommando«, unterbrach Cy und wedelte mit einem Knospenarm vor Jiims Gesicht. »Sie hat das Sagen hier, und wir werden uns danach richten.« »Warum ausgerechnet sie?«, maulte Jiim. »Weil John es so verfügt hat, und weil sie die Beste dafür ist, Hitzkopf«, mahnte der Aurige. »Genau darum geht es ja. Sie behält den Überblick und wägt alles ab. Und Algorian hat es oft genug betont: Wenn die Perle uns nicht reinlässt, können wir gar nichts tun außer Warten. Dies gehört zu Expeditionen nun einmal dazu.« Jiim schwieg. Er starrte zum Fenster hinaus. Was hätte er auch noch sagen sollen?
13. Begegnung der wundersamen Art Die Hitze zerrte an Cloud. Seine Beine waren schwer wie Blei. Sein Atem ging stockend. Er taumelte um die Felsen herum, in der Hoffnung, dort den Lift zu finden. Es konnte einfach nicht anders sein! Er stolperte und sank auf die Knie. Aus. Durch das Tosen in seinem Kopf glaubte er, eine Stimme zu hören und hob blinzelnd den Blick. Er erinnerte sich. Er war damals erst ein paar Jahre alt gewesen. Sein Vater war mit ihm auf den Rummelplatz gegangen, und er durfte das abgefahrenste Karussell fahren, bei dem die Leute sich die Seele aus dem Leib schrien, und die ganz steile, ganz hohe Achterbahn mit dem Rückwärtsgang oder Geisterbahn mit vielen 3D-Effekten. Ihm konnte es gar nicht schnell genug gehen, mit engen Loopings und Durchschütteln, mit einem Katapult in einem Ball nach oben geschossen zu werden, für einen kurzen Moment in der Schwerelosigkeit zu verharren und dann dem Erdboden entgegenzurasen, wobei die Kugel sich schlingernd um ihre eigene Achse drehte. Er wollte sie alle ausprobieren, und sein Vater war geduldig und großzügig und ließ ihn gewähren. »Papa«, erklärte der kleine John, als er in einer Pause zuerst Zuckerwatte, dann gebrannte Mandeln und als Nachtisch Eis in sich hineinfutterte, »ich will mal Raumfahrer werden!« Sein Vater hatte gelächelt. »Wie kommst du denn da drauf, Sohn? Meinetwegen?« »Nee. Na ja, vielleicht auch. Aber … ich mag diese Beschleunigungen und das Schweben, und was man dabei sieht, wenn man dem Himmel so nah ist.« »Wenn du dich gern in Abenteuer stürzt, dann kannst du auch Stuntman werden. Beim Film zum Beispiel.« »Das ist doch doof, alles nur Illusion«, sagte der kleine John altklug. »Aber wir sollten doch rausfinden, was da draußen ist, oder?
Du willst das, und ich will es auch.« Sein Vater nickte. »Und du glaubst, da draußen gibt es noch mehr? Leute wie uns?« Der kleine John prustete Zuckerwatte. »Ganz bestimmt nicht! Da wird's Welten geben mit Bäumen, die bis in den Himmel wachsen und ganz stürmische, wo es nur Pilze gibt, und die Leute werden grünlila Haut mit blauen Punkten haben und einen Saugrüssel und Insektenaugen! Ja, wirklich!« Sein Vater lachte. »Na, mal sehen, ob wir das jemals herausfinden. Bis jetzt können wir froh sein, wenn wir bis zum Mars kommen, und das wird schon eine ziemlich weite und anstrengende Reise.« »Wirst du dabei sein?« »Vielleicht.« »Dann musst du unbedingt das Marsgesicht fotografieren! Und vielleicht findest du ja irgendwelche Ruinen oder Maschinen oder sogar ein altes Raumschiff!« »Ich glaube nicht.« Sein Vater strich ihm über den Kopf. »Wir sind ziemlich sicher, dass es da oben kein Leben gibt. Es ist nur ein Märchen.« Der kleine John war verdutzt. »Aber warum erfinden Menschen so was?« »Weil sie nicht gern allein sind, Sohn«, antwortete der Vater. »Weil sie Angst vor der Dunkelheit haben und vor der Verantwortung. Deshalb machen sie Gott für alles verantwortlich.« »Das kapier ich nicht.« »Eines Tages wirst du. Hör zu, John, was ich dir sage: Wenn du jemals zufrieden sein willst, darfst du dich nicht zurückziehen. Teile dein Leben mit anderen. Und wenn du die Verantwortung über sie hast, lass sie nicht im Stich. Lass niemanden je allein. Denn selbst wenn wir tausend bewohnte Planeten finden, bleibt immer noch so viel Leere um uns rum, die uns bedroht.« »Alles klar«, sagte der kleine John eifrig, obwohl er nicht ein einziges Wort verstand. Aber eines wusste er in diesem Moment: Er würde Raumfahrer werden und nachschauen, ob das Universum wirklich so leer war, wie sein Vater behauptete. Er wollte alles entdecken
und alles herausfinden, was es an Rätseln gab, und ein Held wollte er auch sein, denn das war nie schlecht. Das machte einen zu etwas Besonderem, und außerdem war man dann nie allein. Und hatte bestimmt auch keine Angst mehr vor der Dunkelheit oder dem blöden Vieh da unterm Bett, das in der Nacht immer so komische Kratzgeräusche machte. Und dann war es passiert. Mitten im Gedränge verlor John seinen Vater aus den Augen. Er wusste auch nicht, wie es geschah, auf einmal war er weg. Und da waren so viele Leute, alle wollten irgendwohin, und sie schoben John in der Gegend rum, obwohl er sich mit aller Macht dagegen stemmte, dem einen oder anderen gegen das Schienbein trat. Aber er wurde gar nicht bemerkt. Die Leute lachten und schwatzten, grölten und sangen. Sie waren unglaublich miteinander beschäftigt, keiner war allein. Nur John. Trotz der vielen Leute um sich herum war er allein. Genauso gut hätte er in der Wüste sein können. Oder im finsteren Schrank eingesperrt (was die fiesen Zehnjährigen in der Schule mindestens einmal monatlich mit ihm machten). Aber das hätte ihm vielleicht weniger ausgemacht, denn da wusste er, dass ihn niemand hören konnte. Aber hier … hätte man ihn hören müssen. Der kleine John lief durch die Menge und rief nach seinem Vater. Er hielt Paare auf, die Kinder dabei hatten. Die mussten doch wissen, wie das ist. Zupfte die Frau an der Jacke und sagte: »Bitte, ich suche meinen Dad!« Wenn er überhaupt eine Antwort erhielt, dann lediglich ein flüchtiges, gleichgültiges Kopfstreicheln und die Bemerkung: »Ich weiß auch nicht, wo dein Papa ist, Schätzchen. Schau doch einfach mal nach, wo du mit ihm gewesen bist, bestimmt wartet er da auf dich! So groß ist der Rummel ja nicht, da kann man sich nicht verlieren.« Konnte man doch. John lief kreuz und quer über den Rummelplatz. Allmählich wurde es schon dunkel, und er begann zu weinen. Das Personal der Achterbahnen scheuchte ihn weg, weil er angeblich das Geschäft schädigen würde. Kaum zu glauben, aber niemand half ihm. Es war, als wäre er gar nicht wirklich da, nur ein umherirrender
Schatten. So musste sich wahrscheinlich ein streunendes Tier fühlen, das den Heimweg nicht fand. Als es dunkel wurde und die Lichter angingen, lichtete sich der Trubel etwas. Die Eltern waren mit ihren Kindern heimgegangen. Um Abendessen zu machen und über den gelungenen Tag zu schwatzen. Sie waren alle zusammen. John blieb beim Katapult stehen, er konnte nicht mehr. Er war müde und hungrig, das Gesicht tränenverschmiert. »John.« »Dad!« Heulend flog der kleine John seinem Vater in die Arme, der ebenfalls weinte. »Es tut mir so Leid, Dad, ich konnte dich nirgends finden …«
»John, verdammt noch mal, reiß dich am Riemen, du Jammerlappen!« Cloud spürte, dass er über den Boden geschleift wurde. »Dad?«, murmelte er. »Jetzt bist du schon im Delirium, oder? Nein, ich bin's doch, Jarvis! Hast du so schnell deinen Kumpel vergessen?« Nein. Verflixt. Jetzt wusste er es wieder. »Komm schon! Ich habe keine Lust, dich dauernd tragen zu müssen. Also beweg endlich deine Beine und hilf mir!« Cloud ruderte mit dem freien Arm und versuchte, sein Gewicht auf seine Füße zu verlagern und ein paar Schritte zu gehen. »Der Lift«, krächzte er. »Ja. Genau. Da ist er, als wäre er nie woanders gewesen. So, wir sind jetzt da.« Jarvis öffnete das schwere Schott und bugsierte Cloud hinein. Er war kaum durch, als sich das Schott bereits wieder schloss. »Das ist alles Absicht«, erklärte der ehemalige Klon. »Hast du gesehen, wie schwer die Tür war? Da hat sich jemand hier wirklich eine Spielwiese gebaut und amüsiert sich auf unsere Kosten. Es geht aufwärts.« Er stützte Cloud und stieg mit ihm zusammen in den Strom.
»Luft«, keuchte Cloud. Sein Atem rasselte. »Ich muss … raus aus dem Anzug, ich halte es nicht mehr aus …« »Ich sehe beim nächsten Ausstieg nach, ob ich dir helfen kann.« Jarvis hielt Cloud fest. »Nur noch ein paar Minuten, Kumpel.« Gleich darauf fand er einen Ausstieg, legte Cloud ab und sah sich um. Rasch kam er zurück und hob den Commander auf seine Arme. »Ein wohltuender Anblick, das wirst du gleich sehen.« Er trug ihn nach draußen, und in seinem Halbdämmerschlaf sah Cloud, dass es diesmal keine Welt – sondern endlich ein ganz normal aussehendes Deck der Station. Sie standen auf einer Galerie, über die eine Wendeltreppe hinabführte auf verschiedene Ebenen in einer großen, hell leuchtenden Halle. Auf den Ebenen standen unterschiedlich aussehende Maschinen und kuriose Gerätschaften, überall lagen Werkzeuge verstreut sowie einige Bauteile auf Arbeitstischen. Wahrscheinlich eine Halle für neue Entwicklungen. »Die Atmosphäre ist etwas dünn, aber atembar«, erläuterte Jarvis. Cloud rutschte an der Wand hinab zu Boden. »Die Schwerkraft kommt dir in deiner Verfassung entgegen, höchstens 0,8 g. Ich glaube, wir sind endlich auf dem richtigen Weg, Commander.« Er öffnete die Verschlüsse des Helms und klappte ihn nach hinten. Clouds Gesicht war puterrot und zerfurcht von getrocknetem, klebrigem Schweiß. Er hyperventilierte. Jarvis zog zwei Wasserbeutel aus dem Set, schüttete den Inhalt eines der beiden in Clouds Gesicht, den anderen flößte er ihm ein. »Allmählich sollten wir das Ziel erreichen«, murmelte er. »Deine Vorräte gehen zur Neige, ebenso die Medizin.« Wie schon einmal klebte er dem Commander mehrere Injektionspflaster auf und zwang ihn, einen Energieriegel zu essen – den letzten. Zuletzt flößte er ihm auch noch den letzten Wasserbeutel ein. »Hoffentlich bist du nicht schon zu stark dehydriert.« Cloud war nicht in der Lage zu antworten. Er nahm alles um sich herum wie durch Watte wahr und gleichzeitig so, als stünde er neben sich und wäre ein Beobachter. »Der Anzug ist gerade auf Interncheck gegangen«, fuhr Jarvis fort. »Ich glaube, zumindest die Versorgungssysteme dürften wieder auf
Touren kommen. Aber allzu viele Abenteuer sollten wir uns nicht mehr leisten.« »Du weißt doch«, krächzte Cloud, »genug ist nie genug …« Er bemühte sich, wach zu bleiben, aber er schaffte es nicht mehr. Sein Geist versank in tiefer Dunkelheit, während sein Körper die Zeit nutzte, um sich zu erholen.
Als Cloud wieder zu sich kam, war alles unverändert. Jarvis hockte neben ihm, anscheinend in sich selbst versunken. Der Commander setzte sich auf und fuhr sich durch die Haare, die an seinem Kopf klebten. Er fühlte sich sehr viel besser und war jetzt auch sicher zu überleben. Durst quälte ihn, aber damit konnte er leben. Die Gefahr der Dehydrierung war vorerst gebannt. Es tat gut, einfach mal nur das zu sehen, was man innerhalb einer Station erwartete. Und noch besser, dass es Luft und Schwerkraft gab. Der Anblick war Cloud fast vertraut; auf einer ähnlichen Galerie war er beim ersten Besuch herausgekommen, und durch ähnliche Hallen war er schon gewandert. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Jarvis. Cloud nickte. »Und mit dir?«, gab er zurück. »Was ist passiert, auf der Treppe?« »Ich habe keine Ahnung, John. Ich bin ganz langsam hinaufgestiegen, irgendwann bin ich sogar stehen geblieben. Trotzdem bist du immer weiter unten geblieben. Ich habe nach dir gerufen, aber du konntest mich nicht hören. Und dann warst du verschwunden.« »So ähnlich habe ich es auch erlebt«, bekannte Cloud. »Ich halte das für einen Beweis, dass wir hier beobachtet und geprüft werden.« »Aber warum?« »Warum wird man schon getestet? Jemand will etwas von uns. Das bedeutet, wir sind nicht allein hier.« »Wenn ich diesen Jemand in meine Finger kriege, werde ich ihm zuallererst deutlich machen, was ich davon halte, bevor ich ihm den Hals umdrehe – vorausgesetzt, er hat einen«, erklärte Jarvis grimmig. »Ich habe diese ganze Farce hier gehörig satt.«
»So nah und doch so fern«, murmelte Cloud. »Du hast Recht, wir hätten nicht herkommen sollen. Das bringt uns keinen Schritt weiter. Aber jetzt haben wir keine Wahl mehr. Ich hoffe nur, die anderen draußen drehen inzwischen nicht durch.« »Wahrscheinlich sind sie sich alle längst an die Gurgel gegangen oder wieder nach Andromeda zurückgeflogen.« Jarvis grinste bizarr, denn beiden war klar, dass keines von beidem der Fall sein würde. Sarah und die anderen würden wahrscheinlich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten und die Hoffnung nie aufgeben. »Wahrscheinlich beißen sie sich gerade die Zähne an der Oberfläche der Perle aus«, vermutete Cloud. »Und Jiim fliegt mit seinem Nabiss kreuz und quer durch den Raum. Immerhin hat er einiges nachzuholen. Das letzte Mal hat er den Flug hierher ja verpasst.« »Ja, weil ein gewisser Ovayran ihn dazu benutzt hat, um von der Saskanenwelt wegzukommen.« Jarvis formte ein Fragezeichen in der Luft. »Wie es Scobee wohl ergeht? Ob sie sich einigermaßen mit Ovayran arrangiert hat? Die beiden waren sich ja überhaupt nicht grün, deswegen hat es mich gewundert, dass sie gemeinsam losgezogen sind.« »Gerade das ist eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Expedition.« Cloud stand langsam auf und machte ein paar Dehnungsübungen. »Wo warst du eigentlich die ganze Zeit? Ich hoffte, dich irgendwo im Casino zu finden.« »Ach, da …« Jarvis bewegte wiegend die Hand. »Offen gestanden, da habe ich mich dünne gemacht und bin ganz schnell durch. Ich dachte mir, dass wir beide unweigerlich auffallen würden. Zuerst wollte ich auf dich warten, aber dann dachte ich mir, dass du allein gut zurechtkommst. Ich wollte lieber nachsehen, was als Nächstes kommt.« Jarvis unterstrich seine Erzählung mit Gesten. »Ich habe mich also ganz flach gemacht und bin die Wände entlang durchs Casino geflossen, bis zum Lift. Niemand hat mich bemerkt. Damit sich keiner Gedanken macht, weil sich die Türen wie von Geisterhand bewegen, bin ich zwischen den beiden Türen durch den Schlitz gedrungen. War nicht ganz einfach, denn sie haben sehr gut geschlossen, aber eine kleine Lücke findet sich immer.«
Cloud lachte. »Ich kann da mit einem ganz anderen Abenteuer aufwarten«, sagte er und berichtete von Harrimik und dem Spiel. »Bei der Quote hättest du abwarten sollen«, meinte Jarvis ironisch. »Ja, ich wäre als Spielgeldmillionär weitergereist. Warst du dann auch im Labyrinth?« »Labyrinth? Nein. Ich kam direkt auf dem Höllenplaneten heraus. Ursprünglich wollte ich beim Ausstieg auf dich warten, aber das war nicht möglich. Also suchte ich den nächsten Lift und blieb dort. Mir war klar, dass du Hilfe brauchen würdest. Aber du hast dir ganz schön Zeit gelassen.« »Ich war noch in einer Zwischenstation.« Cloud berichtete von seinem Abenteuer im Labyrinth, und Jarvis wunderte sich, warum er nicht dort gelandet war. »Unser geheimnisvoller Beobachter ist vielleicht doch nicht so perfekt, wie er glaubt. Er macht Fehler.« »Jeder macht Fehler, irgendwann. Aber das könnte ein erster Ansatz sein, einen Hebel anzusetzen.« »Was glaubst du, wo er sitzt?« »Ganz oben, natürlich. Vielleicht sogar in einem abgeriegelten Bereich.« Jarvis nickte. Er stellte sich vor den Zugang zum Lift und betrachtete ihn eingehend, tastete ihn ab. Plötzlich sagte er: »Ich glaube, wir können rauskriegen, wo wir sind.« Cloud war wie elektrisiert. »Wirklich?« Er stellte sich neben Jarvis; und tatsächlich, da waren neben der Einfassung endlich einmal Symbole zu erkennen. Der Commander bearbeitete sein Armband. Das Anzugsystem hatte seinen Check wohl gerade beendet, denn es meldete sich schließlich bereit. Kurz darauf projizierte es den Plan zwischen Cloud und Jarvis. Etwas schwach und flackernd; offenbar ging die Energie tatsächlich bald zur Neige, aber es reichte aus. »Gibt es da eine Suchfunktion?«, fragte Jarvis. Cloud nickte. »Ja, Fontarayn hat mir erklärt, wie ich sie benutzen kann.« Er nahm einige Eingaben vor, dann ließ er sich eine Liste der Symbole geben. Gemeinsam arbeiteten sie sich von oben nach unten
durch. Es waren Hunderte Symbole, und viele waren einander sehr ähnlich. Aber schließlich fanden sie eins nach dem anderen heraus, selektierten es und aktivierten es im Plan. Zuerst waren es gut achtzig Punkte, dann fünfzig, fünfundzwanzig … bis nur noch fünf Standorte übrig blieben, als alle Symbole gefunden waren. »Jetzt geben wir die Beschreibung der Halle ein«, setzte Cloud fort. »Wie viele Ebenen sind es? Was schätzt du, wie hoch sie insgesamt ist?« Jarvis lehnte sich weit über das Geländer. »Achtundvierzig«, sagte er schließlich. »Die Höhe dürfte etwa hundertvierzig Meter betragen, die Breite … keine Ahnung. Ist nicht ersichtlich von hier aus. Die Stockwerke sind allesamt offen, ohne Wände, und zumeist über Treppen verbunden. Wichtig ist vielleicht auch das Vorhandensein von Atmosphäre und Schwerkraft …« »Reicht schon«, unterbrach Cloud. »Ich habe es, schau.« Jarvis walzte eilig heran. Nur noch ein einziger Punkt leuchtete auf dem dreidimensionalen Holobild. »Endlich wissen wir, wo wir sind«, stellte Jarvis fast andächtig fest. Sie befanden sich bereits im oberen Polkappenbereich, nur noch wenige Decks von der Zentrale entfernt, die sie damals auch entdeckt hatten auf der Suche nach Fontarayn. »Wir haben uns ordentlich nach oben gearbeitet«, bemerkte Cloud zufrieden. »Sieh mal, mit dem Lift hier kommen wir schnurstracks zur Zentrale. Und von dort aus müssen wir nur noch den Zugang zum Bereich des Perlenweisesten finden.« Er deutete auf eine Sektion oberhalb der Zentrale. »So weit sind wir damals nicht gekommen.« »Werden dir deine Kenntnisse der Andromeda-Perle etwas nützen?«, wollte Jarvis wissen. »Immerhin hat dich der Perlenweiseste einmal empfangen.« »Ja, aber nicht in seinem Bereich. Außerdem hat Fontarayn mich über einen Zentrallift direkt dorthin gebracht. Der Besuch war sowieso sinnlos – viel Geschwafel um nichts. Ich war ziemlich ent-
täuscht, weil ich mir mehr erwartet hatte. Ich wurde auch nicht herumgeführt, sondern bekam nur eine Art Konferenzraum zu Gesicht, und dann wurde ich auch schon wieder hinauskomplimentiert.« »Ein Wunder ist es nicht, wenn man bedenkt, wie wenig erfreut Fontarayns Kollegen auf seine Rückkehr reagierten. Diese Gloriden sind mir völlig unbegreiflich.« »Tja, da kristallisiert sich immer mehr heraus, nicht wahr? Zuerst erschienen sie uns als faszinierende, mächtige Geschöpfe; jetzt bröckelt aber immer mehr von ihrer Fassade ab.« »Weil sie auch nicht bereit sind, Informationen weiterzugeben. Sie wollen uns be- und ausnutzen, aber mehr wie ein Hilfsvolk, nicht wie gleichberechtigte Partner«, stellte Jarvis fest. »Irgendwann sollten wir denen einen Tritt in den Energiehintern geben.« »Wenn wir dazu in der Lage sind«, wandte Cloud ein. »Sie können mit uns machen, was sie wollen – beziehungsweise, mit unserem Schiff.« Dann schloss er den Helm. Die Systeme meldeten Betriebsbereitschaft, die Energie war auf einem akzeptablen Niveau. »Also, dann wollen wir mal. Bringen wir die letzte Etappe hinter uns.« »Falls der Bereich zugänglich ist«, orakelte Jarvis. Cloud meinte munter: »Dann werden wir uns mit der Frage auseinander setzen, wie wir hier wieder rauskommen. Vielleicht kann uns der phänomenale Plan eine Auskunft erteilen.« »Ansonsten hätte ich da schon eine Idee«, behauptete der ehemalige GenTec. Cloud begriff es im selben Moment. »Über die Hangars.« »Genau. Dort muss es ja irgendeine Öffnung geben, schließlich sind Schiffe ein- und ausgeflogen. Und selbst wenn alle Terminals deaktiviert sind, muss es dennoch einen manuellen Mechanismus geben. Wenn wir den gefunden haben, sind wir auch schon draußen. Und wir sollten vielleicht überlegen, es so zu arrangieren, dass wir auch jederzeit wieder reinkönnen.« »Wozu? Wenn wir die Informationen kriegen, die wir wollen, gut. Wenn nicht, auch gut. Wir packen zusammen und hauen ab. Und, das schwöre ich dir, wir kommen garantiert nie mehr hierher zurück.«
Jarvis grinste. »Na ja, vielleicht sollten wir doch eine Option offen halten. Man weiß nie, wofür es gut ist. Wenn noch ein intaktes von den gloridischen Schiffen da wäre, hätte ich sogar vorgeschlagen, dass wir das mitnehmen. Und auf Herz und Nieren prüfen.« »Jetzt müssen wir erst mal zusehen, dass wir dorthin kommen, wohin wir wollen«, dämpfte Cloud den Überschwang des Gefährten. Es stimmte schon, auch er war erleichtert, endlich »normale« Verhältnisse vorzufinden und nicht mehr weit vom Ziel entfernt zu sein. Aber es konnte immer noch eine ganze Menge passieren. Ihr geheimnisvoller »Gegner«, wie er ihn inzwischen bezeichnete, ließ sich nach wie vor nicht blicken. Es gab auch keinen Beweis für seine Anwesenheit, aber Cloud klammerte sich daran. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass derjenige, der die »neue Einrichtung« gestaltet hatte und der vielleicht auch etwas mit den Satelliten draußen zu tun hatte, inzwischen wieder abgereist war. Vielleicht war dies alles auch eine groß angelegte Falle für einen bestimmten »Gast«, auf den man lange gewartet hatte. Es konnte sein, dass Cloud und Jarvis in dem Fall einfach Glück gehabt hatten, wie Mäuse durch ein Labyrinth getappt zu sein, relativ unbehelligt und unbeachtet, weil der Fallensteller ein viel hochkarätigeres Wesen erwartet hatte. Immer nur Fragen und so gut wie keine Antworten. Cloud nahm es allmählich mit Fatalismus hin, er hatte ja auch keine andere Wahl. Wir sind nur Spielbälle der Mächte, dachte er, während sie den Lift betraten. Cloud nahm wieder die Suchfunktion des Plans in Anspruch und fand einen Weg, eine holographische Schalttafel im Lift zu aktivieren und den gewünschten Ausstieg einzuprogrammieren. Wenn alles klappte, sollten sie beim richtigen Ausstieg einen Hinweis erhalten. Dann waren sie auch schon wieder auf Schwebekurs, und Cloud setzte seine Grübeleien fort. Wir haben auch die Foronen für mächtige Geschöpfe gehalten, und im Vergleich zu uns sind sie das. Und trotzdem sind auch sie lediglich zwischen die Fronten zweier anderer Mächte geraten, die ihre Streitigkeiten galaxisübergreifend austrugen.
Inzwischen haben wir nur noch Feinde um uns herum, selbst die Satoga. Die sogar am allermeisten. Ich hätte nie geglaubt, dass Artas uns so belügen und verarschen könnte, dass auch er uns nur benutzt hat. Nichts hat sich geändert, lediglich der Kriegsschauplatz verlagert. Mit den Jay'nac wurde Frieden geschlossen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass die Satoga deswegen abzogen, weil sie ein neues Leben beginnen wollten. Sondern, weil sie ihr altes fortzusetzen gedachten, nur eben woanders, wo man sie noch nicht kannte, keine Waffen gegen sie besaß. Wo sie leichtes Spiel hatten. Sie haben Andromeda überrannt und gnadenlos Genozid begangen. Und wir setzen derweil unsere Auseinandersetzungen fort – Sobek und die gesamte foronische Flotte sind hinter uns her, um ihre Arche wiederzubekommen, die Gloriden verlangen von uns Unterstützung; und so geht es munter weiter. Ich hoffe nur, dass Scobee bessere Nachrichten hat, wenn wir uns wiedersehen. Falls wir uns wiedersehen. Denn da haben wir ja noch das Problem des Zeitunterschieds. Derzeit trennt uns zwar keine so große räumliche Distanz, aber dafür gut hundert Jahre in der Zeit! Ich hoffe, ich habe mich nicht in meiner eigenen Falle gefangen. Er seufzte. Er sprang dauernd von einer Epoche in die nächste, und die Gloriden waren durch das Netzsystem der permanent existierenden Perlen ohnehin ständig durch alle Zeiten gereist, wenn er alles auch nur annähernd richtig verstand (woran er immer öfter zweifelte). Die von ihnen ausgelösten Paradoxe mochten inzwischen mehrdimensionale Auswüchse angenommen haben; und sicherlich waren sie sich selbst auch schon mehrfach begegnet. Aber bei Energiewesen spielte das wohl keine weitere Rolle. Vielleicht, hatte Cloud auf einmal einen ganz kühnen Gedanken, vielleicht gab es in Wirklichkeit auch gar nicht so viele »Individuen« der Gloriden, sondern eher vieltausendfache Kopien einer einzigen Form, die sich in verschiedenen Zeitepochen gebildet hatten und irgendwann mal alle gleichzeitig auf einer Perlenstation ihren Dienst verrichteten. Nun, diese Gedanken führten zu nichts, dienten lediglich dazu, sich die Zeit zu vertreiben, während der gewünschte Ausstieg angesteuert wurde. Die Wege waren hier sehr weit, auch wenn es auf
dem Plan nicht so ausgesehen hatte.
Da, endlich, kam der Ausgang. Kurz bevor sie ihn erreichten, leuchtete eine Holotafel auf und listete Informationen auf, die hier zu finden waren. »Jetzt bin ich gespannt«, sagte Jarvis. Das war Cloud auch. Was mochte sich seit dem letzten Besuch hier geändert haben? Bald darauf wussten sie es, denn sie kamen diesmal mitten in der Zentrale heraus. Offensichtlich hatten sie einen anderen Lift erwischt als beim letzten Mal. Schon nach wenigen Schritten erreichten sie den »Wald« aus filigranen Glasbäumen. Und sie erinnerten sich an die gerade mal armdicken säulenartigen Stämme von etwa zehn Metern Höhe. Die Bäume verteilten sich auf eine große Fläche und verschwanden ohne sichtbare Verankerung im goldenen Boden. Ab vier Metern verzweigten sie sich mit feinen, rechtwinklig geknickten Ästen. Wie beim letzten Mal auch trugen einige der Kronen hauchfeine, kristallklare Zapfen, die leise klirrten. Ansonsten hatte sich eine Menge verändert. Nicht mehr nur vereinzelte Astenden glühten in einem zauberisch funkelnden Licht, sondern jetzt schienen sie alle aktiviert zu sein, denn die Stämme glühten von innen heraus in einem gelblichen Licht, die Äste in Rot und die Zapfen in Grün, Blau und Violett. Es war mehr denn je ein Zauberwald, mit blinkenden, heller und dunkler strahlenden Lichtern, die ein vielfarbiges Licht in der Halle verbreiteten und teils von den goldenen Wänden reflektiert wurden. Vom letzten Mal her wussten Cloud und Jarvis, dass der Sektor insgesamt etwa zwei Quadratkilometer umfasste. Fontarayn hatte ihnen erzählt, dass es sich bei den Kristallbäumen um ein gewaltiges Archiv handelte, in dem alles Wissen der Gloriden gespeichert war. Alles, was sie je auf ihren Reisen entdeckt und erlebt hatten, auch ihre täglichen Arbeiten hier in der Station; was ihnen über die Perlen
und die ERBAUER bekannt war … und dann teilweise noch die Wissensinhalte von Völkern, die sie besucht hatten. Deren Historie und Bedeutung im universellen Entwicklungsprozess – und so weiter. Eine Menge Wissen komprimiert auf einen stetig wachsenden Wald. Eine schöne Darstellungsweise eines Archivs, ein ganz besonderes Museum, wie Cloud damals empfunden hatte. Man konnte durch einen Hain des Wissens wandeln. Und nun schien ein anderer auf diese kostbare Quelle gestoßen zu sein, da das Archiv aktiviert worden war. Das bedeutete, dass dieser »Jemand« tatsächlich immer noch hier war und die Datenspeicher anzapfte. Jarvis, der wohl denselben Gedanken hatte, sagte: »Irgendwo sitzt er, wie eine Spinne in ihrem Netz, und wartet auf uns. Er will, dass wir ihn finden. Und dann wird er uns ziemlich schnell deutlich machen, was er von uns will.« »Na, was schon«, brummte Cloud. »Sklavendienste, was sonst? Man fragt sich bloß immer, wieso derart mächtige Wesen vergleichsweise unterentwickelte Handlanger wie uns brauchen.« »Um sich die Pseudopodien nicht schmutzig zu machen und von sich ablenken zu können, natürlich«, versetzte Jarvis. Sie wanderten durch den Wald, um weiterzukommen. Die Säulen standen so dicht, dass kein direkter Blick hindurch möglich war. Jarvis kramte in seinem Gedächtnis. Algorian hatte sie damals, telepathisch von dem gefangenen Fontarayn geleitet, kreuz und quer durch das Archiv geführt. Er versuchte, den Weg nachzuvollziehen, wobei er berücksichtigen musste, dass sie das Museum von einer anderen Stelle aus betreten hatten. Der Bauplan gab jedenfalls nur ungenügend Auskunft; offensichtlich war er in dieser Hinsicht nicht regelmäßig aktualisiert worden. Oder es war ein Unterscheidungsmerkmal der Perlen. Schließlich hatte Cloud aber doch ihren Standpunkt lokalisiert und wies die Richtung. Nach einiger Zeit erreichten sie die Kommandozentrale, die optisch durch halbrunde Wände vom Rest der Halle abgetrennt wur-
de. Zudem besaß sie ein gläsernes, mattgolden schimmerndes Kuppeldach. »Sehen wir es uns an?«, fragte Jarvis. Cloud nickte. Sie betraten die Zentrale, und tatsächlich, dort stand der drei mal drei mal drei Meter umfassende Kubus, der Fontarayn in sich eingesogen und gefangen gehalten hatte. Cloud schluckte trocken, als er unwillkürlich an seinen schrecklichen Alptraum erinnert wurde, der ihn damals ebenfalls zu einem Gefangenen eines Kubus gemacht hatte. Obwohl es nur ein Traum gewesen war, konnte er diese Eindrücke niemals vergessen. Manchmal schreckte er noch heute aus dem Schlaf hoch, wenn ein Traum drohte, in diese Gefilde der Folter und Pein abzudriften. Der ganze Weg durch die Perle war damals mit Fallen gepflastert gewesen, doch wie heute auch waren sie hauptsächlich gegen Energiewesen gerichtet. Trotz aller Abenteuer waren Jarvis und er unbeschadet durch alle Ebenen gekommen und sogar ganz ohne Gewalttätigkeit. Na ja, fast. Mit Ausnahme der Labyrinthmauern eben, die Cloud niedergemäht hatte. Allerdings ohne spürbare Auswirkungen. Jarvis' Nanokörper schien jedenfalls in kein Raster zu passen, das abgewehrt werden sollte. »Was hast du damals eigentlich da drin abgelegt?«, fragte Cloud neugierig. »Von außen sieht der Kubus ganz unbeschadet aus.« Jarvis grinste. »Innen war er mit allerlei technischem Gerät ausgestattet, das ein Energiewesen praktisch an sich binden konnte. Ich habe ein paar Nanoteilchen ummoduliert zu gefräßigen kleinen Biestern, die sich über Energie und Materie hermachten. Hat sicher eine Weile gedauert, aber jetzt dürfte das Werk vollendet sein.« »Oder inzwischen neu aufgebaut und modifiziert.« Cloud musterte Jarvis von der Seite. »Wenn du jedes Mal auf deinen Reisen was von dir zurücklässt, dürftest du irgendwann abnehmen, oder?« »Ach nein«, erwiderte Jarvis lässig. »Was ich verliere, reproduziert sich ja wieder. Dauert ein bisschen, aber es wächst alles nach. Wie Zellen in deinem Körper.« Cloud blieb stehen und runzelte die Stirn. »Freund, du bist …« »Fantastisch? Einzigartig? Großartig?«
»Vergiss es. Konzentrieren wir uns lieber auf unser Ziel. Hast du den Eindruck, als ob hier einer am Werk wäre?« Jarvis schüttelte den Kopf. Die Zentrale sah genauso aus wie beim letzten Mal. Fehlende Maschinen, deaktivierte Technikteile, Staub und Gerumpel. »Soll ich mal im Kubus nachschauen?« »Keinesfalls«, lehnte Cloud ab. »Gloridenfallen gehen uns nichts mehr an.« Er blickte auf den Plan und deutete dann in eine Richtung aus der Zentrale. »Hier entlang.« Sie verließen die Zentrale, ließen das farbenprächtige Archiv hinter sich und gingen weiter durch den riesigen Sektor, den sie letztes Mal nicht mehr weiter erforscht hatten. Das Gebiet war in einzelne Segmente unterteilt, in denen die Gloriden am Werk gewesen waren. Zum Großteil war alles ausgeräumt worden, sodass es kaum etwas von Interesse gab. Wie überall in der oberen Polkuppel herrschte ein angenehm weiches Licht, die Wände waren goldfarben ausgekleidet, teils strukturiert und verziert. Die Gloriden hatten durchaus einen gewissen Sinn fürs Schöne gehabt und sich ihren Arbeitsbereich angenehmer gestaltet, als es die funktionalen technischen Decks weit unten waren. Falls es die Gloriden gewesen waren. Alles war offen und großzügig gestaltet, teilweise von Galerien durchsetzt und vereinzelten Kristallbaumgruppen. Sie waren allerdings nicht aktiviert, und an den Zweigen hingen auch keine Zapfen. Schließlich blieb Cloud stehen. »Hier«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger nach oben. »Und was?«, wollte Jarvis wissen. »Genau über uns befindet sich das Deck des Perlenweisesten.« »Toll. Und?« »Fällt dir nichts auf?« »Was sollte mir denn auffallen?« »Kein Lift.« »Oh …«
Sie studierten gemeinsam den Plan, immer und immer wieder. In Vergrößerungen, nach Suchbegriffen. Doch es gab keinen Zugang zur Ebene des Perlenweisesten. »Ein kleines, unbedeutendes Detail, das Fontarayn uns wieder einmal vorenthalten hat!«, tobte Jarvis. »Er hat nicht dran gedacht.« Cloud lag es fern, den Androgynen zu verteidigen. Doch es gab ein Argument für diese Nachlässigkeit. »Die Sektion des Perlenweisesten stand nicht jedem offen. Wer zu ihm wollte, durfte wahrscheinlich nur auf Einladung nach oben kommen. Und nicht in stofflicher Form.« Cloud hob die Arme. »Sie sind Energiewesen, Jarvis! Sie brauchen keine Türen und Treppen, Lifte und sonstigen Öffnungen oder Zugänge. Sie gehen einfach hindurch!« »Dann warst du also auch nicht in seinem Bereich in Andromeda.« »Sieht nicht so aus, nein. Vielleicht gibt es auch ein paar Abweichungen. Aber mir erscheint es schon logisch, dass der Bereich des Perlenweisesten von vornherein nur der eigenen Art zugänglich ist, sollte die Station beispielsweise jemals angegriffen werden. Wie ja bereits geschehen, wenn du dich erinnerst, was wir damals in den Hangars entdeckt haben.« »Dann sind wir also schon wieder gekniffen? Alles umsonst?« Jarvis' Körper verlor seine Form, so wütend war er. »Wahrscheinlich wurde deshalb mein Teleportsprung abgeschmettert! Das heißt, wir können nicht mal das ausprobieren! Und was jetzt?« »Ich weiß auch nicht«, gestand Cloud ratlos.
Sie wanderten die ganze Halle ab auf der Suche nach einer Möglichkeit, nach oben zu gelangen. Es war ein langer, langweiliger Marsch. Cloud wartete darauf, dass vielleicht etwas passieren würde – dass sich derjenige, der sich hier eingenistet hatte, endlich zeigte. Dass sie angegriffen oder gefangen würden … irgendetwas in der Art. Aber gar nichts. »Das muss doch unbefriedigend für unseren Voyeur sein«, meinte der Commander frustriert. »Jetzt sind wir so weit gekommen und
scheitern an der letzten Hürde. Sollte er nicht irgendetwas unternehmen, dass wir doch noch ans Ziel kommen? Ich meine, wozu dann das Ganze?« »Ich habe schon lange aufgehört, über die Logik von all dem nachzudenken«, erwiderte Jarvis. »Ich bin dafür, wir gehen zu den Hangars und hauen ab. Soll der Kerl doch verrotten in seinem Spinnennetz.« »So kurz vor dem Ziel willst du aufgeben?« »Gerade deswegen. Das erwartet doch keiner. Zeigen wir ihnen den Stinkefinger und gehen einfach. Beweisen wir ihnen, dass man uns nicht wie Marionetten herumhampeln lassen kann. Es muss doch nicht jede Mission zu einem Erfolg führen, oder? Wir haben es versucht, fehlgeschlagen, also gut! Ich werde mich deswegen bestimmt nicht selbst zerfleischen.« Cloud zögerte. Er war halbwegs geneigt, Jarvis nachzugeben. Das hier brachte einfach nichts mehr. Sie waren die ganze Zeit an der Nase herumgeführt worden. Gut, sie hatten im Grunde keine Wahl gehabt, weil Jarvis sie beide nicht einfach wieder hinausteleportieren konnte. Fontarayn hatte ihnen ja das richtige Ziel genannt, und genau dorthin hatten sie auch springen wollen. Aber was nun? Plötzlich sahen sie einander an. »Denkst du dasselbe, was ich denke?« »Unbedingt!« »Was auf der Außenhaut nicht funktioniert hat …«, begann Cloud. Jarvis führte fort: »… kann hier durchaus klappen, da nicht dieselben Schutzmaßnahmen notwendig sind.« »Draußen hat es möglicherweise deswegen nicht funktioniert, weil die Perle automatisch einen bestimmten Schutzmechanismus aktiviert hat, als die merkwürdigen Gebilde draußen aufgetaucht sind.« »Die Steuerung dafür ist wahrscheinlich innerhalb der Hülle untergebracht und von der Energieversorgung her autark.« »Das hat dich abgewehrt, wie es wahrscheinlich auch Fontarayn abgewehrt hätte. Die Perle hat sich verriegelt, nur leider kann sie von innen keiner mehr entriegeln.«
»Bis auf unseren unbekannten Freund«, sagte Cloud. »Und der denkt gar nicht daran, diesen Mechanismus zu deaktivieren, weil er selbst dadurch hier ja sicher wie in Abrahams Schoß sitzt.« Jarvis nickte. »Aber an Teleportation hat keiner gedacht, deswegen konnten wir hinein …« »… aber der Nestbeschmutzer hat lichtschnell reagiert und dich abgeschmettert wie einen Tennisball. Spiel, Satz und Sieg.« »Weil wir aber beide überlebt haben, konnte er sich gemütlich zurücklehnen, eine Tüte Chips futtern und uns dabei zusehen, wie wir uns langsam emporquälen.« Clouds Brauen zogen sich düster zusammen. »Er wartet auf uns, denn er hätte uns schon längst vernichten können, wenn er das wirklich beabsichtigt hätte. Also wird er keine weiteren Schutzmaßnahmen für sich mehr getroffen haben. Er weiß jetzt ganz genau, wozu wir in der Lage sind und wozu nicht. Dass wir keine Wölfe im Schafspelz sind, sondern …« »Wölfe im Wolfspelz«, ergänzte Jarvis und grinste plötzlich sardonisch. »Also, worauf warten wir?« »Ich wünschte, wir hätten eine andere Lösung«, sagte Cloud unglücklich. »Haben wir nicht.« Jarvis stapfte vorwärts. »Los, suchen wir eine Wand, die direkt an den Bereich des Perlenweisesten grenzt.« Der Commander folgte langsam und bereitete sich mental auf die unangenehme Prozedur vor. Sie mussten aber noch ein ganzes Stück weit gehen, bis sie endlich das Ende des Sektors erreichten. Die Höhe betrug an dieser Stelle »nur« vierzig Meter. Darüber lag die Grenze des Bereichs des Perlenweisesten. Dahinter begann die Sperrzone. »Passt doch prima«, meinte Jarvis. »Fonti hat erzählt, dass es Türen zu den Verbotenen Bereichen gibt. Wozu auch immer, die ERBAUER werden sich schon was dabei gedacht haben.« Cloud lachte. »Ich dachte, über Logik machst du dir keine Gedanken mehr?« »Was wäre, wenn diese Türen deshalb da sind, weil sie genau für einen von uns gedacht sind?«, spekulierte Jarvis weiter. »Ich meine,
von den ERBAUERN gibt es zwar angeblich keine Spuren mehr. Wie das sein kann, wenn sie außerhalb von Zeit und Raum agieren können, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie weiter in ein anderes Universum gezogen und richten dort Unheil mit ihren dummen Perlen an. Aber was ist, wenn sie genau dies vorhergesehen haben und hinter so einer Tür hocken und auf uns warten? Dass all dies nur geschehen ist, um uns genau an diesen Punkt zu bringen?« »Da müssten sie aber einige gute Erklärungen für all das abgeben«, meinte Cloud. »Wie auch immer, jetzt müssen wir erst mal da oben reinkommen – dann sehen wir weiter.« »Für dich wird es ein wenig komisch sein, seitlich in die Wand zu diffundieren, und dann nach oben zu fließen«, warnte Jarvis. »Für mich macht es keinen Unterschied. Also entspanne dich und beweg dich möglichst nicht.« Cloud wusste, dass er sich ganz fallen lassen und das bewusste Denken ausschalten musste. Er sah Jarvis dabei zu, wie er seinen Nanokörper an die Wand presste, als ob er lauschte. »Ich muss die richtige Frequenz herausfinden«, flüsterte er. »Ja … da ist etwas. Ich glaube, es klappt.« Damit war der Moment für den Commander gekommen, sich an der Mauer langzulegen, die Augen zu schließen und vollends zu entspannen. Eine Meditationsübung, die man ihm einst beigebracht hatte, um in einer Druckkammer auszuharren, half ihm dabei. Außerdem war er tatsächlich ziemlich erschöpft. Sein Geist freute sich wohl über die unerwartete Entspannung. Die Versenkung ging ziemlich schnell, und Cloud trat in einen tranceähnlichen Zustand über, der ihn miterleben ließ, was geschah, aber eher als unbeteiligter Beobachter denn bewusst. Jarvis hatte ihm noch einmal deutlich gemacht, dass er Cloud mit seinem Körper komplett einhüllen und mit sich ziehen würde. Er wollte seine energetischen Schwingungen auf dasselbe Level bringen wie das Material der Perle; so ähnlich machten es die Energiewesen auch, wenn sie durch Materie sickerten. Sie wären nichts weiter als Moleküle, die durch einen Strom anderer Moleküle schwammen. Im übertragenen Sinne natürlich.
So genau hatte es Cloud gar nicht wissen wollen. Jetzt spürte er, dass etwas mit ihm geschah. Er schien sich zu bewegen. Die Richtung konnte er nicht ausmachen, aber er wusste, zuerst ging es horizontal, dann vertikal. Auf dem kürzestmöglichen Weg hinauf zur Ebene des Perlenweisesten. Vierzig Meter waren ziemlich viel, plus die unbekannte Dicke der Decke. Cloud hatte vorher Befürchtungen geäußert, dass Jarvis sich verirren könnte, doch der hatte lässig abgewinkt. Völlig unmöglich, meinte er, er habe die Koordinaten fest gespeichert, und die Schwingungen würden ihm schon den Weg weisen …
Es dauerte nicht halb so lang, wie Cloud angenommen hatte. Er hatte das Gefühl, gerade erst in Trance gefallen zu sein, als Helligkeit auf seine Augen fiel und ihn jemand an der Schulter rüttelte. Eine vertraute Stimme sagte: »Aufwachen! Wir sind da.« Der Commander richtete sich auf und öffnete die Augen. »Wir haben es tatsächlich geschafft?« »Natürlich. Alles kein Problem. Sei aber jetzt nicht enttäuscht.« Cloud stand auf, sah sich um und verstand, was Jarvis meinte. Es war total leer hier. Noch verlassener als verlassen. Klinisch rein – kahle, goldene Wände. Keinerlei Schmuck, Zierrat, nichts. Nichts, was darauf schließen ließ, dass hier jemals ein so genannter Perlenweisester gelebt hatte. Eine Weile durchwanderten sie die Gänge, die Sperrzone hinter sich lassend. Wenn es Türen zu anderen Bereichen gab, so standen sie offen. Überall war es völlig still und leer. Eine hohle Blase inmitten der Station. »Aha«, machte Jarvis schließlich. »Ja«, sagte Cloud. Was auch immer hier in diesem Sektor unzugänglich und für niemanden erreichbar gehalten werden sollte, es war verschwunden. Wahrscheinlich schon vor langer Zeit. Wenn überhaupt jemals etwas von besonderer Bedeutung hier gewesen war. Jedenfalls konnten sie hier sicherlich keine Aufschlüsse darüber
finden, was einst mit der Milchstraßenperle geschehen war, warum die Gloriden ihre Station evakuiert hatten – oder ausgelöscht wurden. Noch weniger wurde begreiflich, wieso die Perle wieder angewählt werden konnte. Dies alles war mehr als unbefriedigend. Wie auf ein verabredetes Zeichen hin drehten die beiden um und machten sich auf den Weg zur Verbotenen Zone. Doch so weit kamen sie nicht mehr. Abrupt blieb Cloud stehen. »Verdammt …«, stöhnte er. »Nicht nur du …«, seufzte Jarvis. Eine Vision stürmte auf Cloud ein. So schmerzhaft deutlich und stark, dass er in die Knie sank. Er konnte nichts dagegen tun, sie überflutete sein Gehirn, und er starrte blind ins Leere, die Augen geweitet von dem, was der Geist plötzlich sah. Die Perle – und zwar die Sektionen, in denen sie gerade gewesen waren. Durch die sie sich gekämpft hatten. Cloud sah die Hängebrücke und den Wasserfall und dann, genau zuordnend, wo sie als Nächstes gewesen waren, in der Savanne mit dem Riesenvogel und den Hyänen. Als würde sich der Plan endlich zusammensetzen, sich das Liniengerüst mit Bildern füllen, Puzzlestück für Puzzlestück. Dort waren Harrimik, das Casino. Die weiße Leere, die Höllenwelt. Das Paradies der geflügelten Freien. Das Labyrinth. Alles bildete plötzlich ein homogenes Ganzes, zeichnete genau den Weg nach, den Cloud und Jarvis zurückgelegt hatten. Zeigte, welche Abkürzungen sie hätten nehmen können, wenn sie von ihnen gewusst hätten. Und alles war so real, so greifbar, so nah … fast wollte Cloud Harrimik einen Gruß zurufen, und er hielt auch Ausschau nach der lieblichen Morgenwind. Doch damit nicht genug. Ein Sog entstand, der nicht an Clouds Körper, sondern an seinem Verstand rüttelte, an seiner Vision. Wie ein riesiger Strudel, ein Hurrikan, der durch alle diese Ebenen fegte und sie mit sich riss. Zog sie
einfach hinaus aus der scheinbaren Realität. Zog sie in die Länge, bildete Stränge auf allen Ebenen, die er langsam zusammenführte und wirbelnd mit sich nahm, über alle Stockwerke hinauf, als wäre nichts von all dem jemals stofflich gewesen. Cloud starrte auf die rasend wirbelnde Kugel, in der sich alles miteinander zu einem einzigen farbigen Durcheinander vermengt hatte, und die sich jetzt vor seinen Augen bildete, und zwar nicht in seinem Kopf, sondern hier, real im Bereich des Perlenweisesten. Eine Gestalt formte sich allmählich aus dem Wirbel, ungefähr so groß wie Jarvis. Cloud fühlte sich erschrocken an ein riesiges irdisches Insekt erinnert, eine Gottesanbeterin. Ihr Panzer schillerte wie mit unzähligen Diamanten besetzt, in denen sich das indirekte Licht brach. Cloud fühlte, wie sein Hals trocken wurde. Er versuchte zu schlucken, doch seine Zunge lag wie gelähmt in seinem Mund. Er konnte nicht erfassen, was hier soeben geschehen war. Scheu blickte er dieses gleißende Wesen an, das eine nahezu göttliche Ausstrahlung hatte. Er konnte es nicht anders beschreiben. War dies etwa … einer der lang Gesuchten? Ein … Erbauer? ENDE
Glossar John Cloud
Scobee
Jarvis
Siroona
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert, Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Angehörige der Führungsriege der Foronen und Sobeks Gefährtin. Während Sobek zur AndromedaGalaxie startete, um die »heilige Arche« seines Volkes (John Clouds RUBIKON) zurückzuerobern, blieb Siroona im Leerraum zwischen Milchstraße
und Andromeda zurück, um die dortige Kette von RUDIMENT-Stationen zu kontrollieren … und Sobek so überhaupt erst die Rückkehr aus der Nachbargalaxie zu ermöglichen. Doch Sobek kehrte nie zurück – aus bislang völlig ungeklärten Gründen. Siroona sah nur noch die Möglichkeit, in die Stasis zu gehen, woraus sie zweihundert Jahre später ausgerechnet von Scobee auf deren Weg zurück zur Milchstraße erweckt wurde. Doch irgendetwas ist schief gegangen: Offenbar konnte die Technik der Foronen Siroona nicht davor bewahren, selbst im sonst so bewährten Staseschlaf enorm zu altern … Porlac Der Jay'nac, der schon maßgeblich am erfolgreichen Friedensschluss zwischen seinem Volk und dem Erzfeind, den Satoga, beteiligt war. Aber Porlac ist nicht mehr der Alte – obwohl ihm zweihundert Jahre, wie sie seit der letzten Begegnung mit ihm vergingen, eigentlich nichts anhaben dürften. Aber sein Geist scheint phasenweise stark verwirrt. Die Dinge, über die er spricht, klingen noch viel wahnsinniger, erweisen sich aber als bittere Wahrheit. Tormeister Felvert Ein wurmartiger Außerirdischer, dessen Körper sich aus unzähligen Achten zusammenzusetzen scheint. Gehört dem mit den Jay'nac verbündeten Volk der Felorer an. Offenbar sind die Jay'nac nur mit Hilfe dieser Verbündeten in der Lage, künstliche Wurmlöcher zu erzeugen und als Reisewege über kosmische Entfernungen zu nutzen. Die Felorer sind Meister der Dimensionen. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das
»Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert.
Vorschau Entartete Zeit von Manfred Weinland Ist es wirklich ein ERBAUER, dem sich Cloud und Jarvis in der CHARDHIN-Perle gegenübersehen? Und wenn ja, was will er von den beiden Menschen? Warum all die Prüfungen, denen sie von ihm unterzogen wurden? Und was ist mit Nar'gog? Was verbirgt sich hinter Porlacs Andeutung, er ganz allein habe die Vernichtung des Planeten »ungeschehen« gemacht? Der kommende Band gibt Aufschluss darüber, wie es zur hermetischen Galaxis Milchstraße überhaupt kommen konnte. Und welche Aufgabe die geheimnisvolle Entität im Innern der CHARDHIN-Perle für John Cloud bereithält. Es kommt zum finalen Konflikt, zur Konfrontation mit dem Verursacher der Zeitentartung, die nicht nur Tod und Verderben über die Völker der Milchstraße gebracht hat …