RICHARD WUNDERER Die Heimkehr des Kain-Bauern ROMAN
Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg, Rosenheim 1987 Die alte Dampf...
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RICHARD WUNDERER Die Heimkehr des Kain-Bauern ROMAN
Rosenheimer Verlagshaus Alfred Förg, Rosenheim 1987 Die alte Dampflok quälte sich die eingleisige Strecke den Buckel hinauf. Im Osten kündigte ein fahler Streifen am Horizont den Morgen an. Der Schaffner torkelte gleich mütig durch die zwei Wagen. Noch ein paar Stationen, dann war sein Nachtdienst zu Ende. Von den sechs Fahr gästen kannte er fünf mit Namen. Der sechste stand am Fenster und starrte regungslos hinaus. »Hock dich eine Weil zu mir«, flüsterte die alte EierThresl dem Schaffner zu. Sie hatte die Buckelkraxe mit den frischen Eiern vor sich stehen und hielt sie zwischen den Knien eingeklemmt. Noch zwei Minuten bis zur nächsten Station. Also setzte sich der Schaffner. »Was hat’s, Thresl?« »Wer ist der dort?« zischelte sie hinter der vorgehaltenen Hand und deutete mit einem Blick aus den Augenwin keln zu dem Fremden. »Den kenn ich nicht«, antwortete er gleichmütig. »Wie er
angezogen ist, kommt er von weit her, aber für einen Touristen halte ich ihn auch wieder nicht.« Das Eier-Weibl dämpfte die Stimme zu einem Flüstern, was bei dem Scheppern im Zug gar nicht notwendig ge wesen wäre. »Wenn du auf mich hörst, nachher paßt du auf deine Geldtasche auf. Es sind Leut schon wegen we niger umgebracht worden, und der schaut mir grad so aus, wie wenn er aus dem Zuchthaus kommen tät.« Flüchtig wischte sie mit der Rechten über Stirn und Mund, wobei sie sich unauffällig bekreuzigte. Nur so zum Schutz gegen das Böse. Der Eisenbahner schloß mit der Lebenserfahrung aus sei ner langen Dienstzeit: »Gut schaut er nicht aus, aber der äußere Mensch täuscht manchmal über den inneren. Hin einschauen kann man in keinen.« Als er wieder durch den Wagen ging, fragte ihn der Fremde vom Fenster her: »Die nächste Station ist . . . ?« »Siebenstein!« Seit jeher gab er Leuten, die er nicht kann te, besonders freundliche Auskunft. »Krieg ich vom Zug Anschluß an den Autobus?« Jetzt horchte der Schaffner doch überrascht auf, denn er witterte das Ungewöhnliche so sicher wie der Jagdhund die Hasenspur. Wenn ein Auswärtiger um diese Jahres zeit von Siebenstein nach Roitern hinauf wollte, war ir gendwie ein Wurm drinnen! Ein bißl zu schnell sagte er: »Der Bus wartet schon. Machen Sie gar Urlaub in Roi tern? Ein ruhiger Ort mit Herz, aber dort ist die Welt zu Ende.« Darauf antwortete der Fremde nicht mehr. Er war halt
keiner, der sich hätte ausfragen lassen. Statt dessen holte er seinen Koffer aus dem Gepäcknetz, einen ganz billi gen, der schon abgeschabt und an den Ecken abgestoßen war. Die Augen des Schaffners wurden groß vor Ehr furcht, denn wieselflink hatte er von einem der bunten Aufkleber abgelesen: Venezuela. Besonders für den Fremden rief er aus: »Nächste Station Siebenstein mit Autobusanschluß nach Roitern!« Drei Männer stiegen aus. Einer blieb in Siebenstein und stapfte mißmutig die Dorfstraße hinunter, der zweite ging ums Stationsgebäude zum Autobus. Als er an dem Fremden vorbeikam, zögerte er und sagte unsicher: »Grüß dich.« »Guten Morgen«, antwortete der Mann mit dem Koffer aus Venezuela und war beinahe sicher, daß ihn der Schwaleck-Bauer nicht erkannt hatte. Der Busfahrer schrie zu ihm her: »Wollen Sie mit nach Roitern?« Einige Augenblicke zögerte der, dann fragte er zurück: »Liegt im Teufelsgraben noch viel Schnee? Oder kommt man zu Fuß durch?« »Spinnst?« entfuhr es dem Chauffeur. »Schon noch recht viel Schnee, und für einen Auswärtigen wird das Eis ge fährlich. Aber wieso sagst du Teufelsgraben und nicht Salbach-Graben, wie’s im Büchl steht?« Der Mann ging schon davon. Während sich der Schwa leck-Bauer in den Bus hinaufzog, murmelte er: »Weil der gar kein Fremder ist. Gnad uns allen Gott! Wenn der Kain ins Dorf zurückkommt, gibt’s wieder Mord und Tot schlag. «
Der Jochen Kain ging erst gar nicht nach Siebenstein, son dern bog vorher von der Bahnhofstraße auf einen Wie senweg ab, der in den Salbach-Graben führte. Die Häuser des Dorfes blieben zurück und mit ihnen die Lichter, die schon in den Wirtschaftsgebäuden brannten. Es war die Stunde, in der das Vieh versorgt werden mußte. »Jochen, jetzt hast du nicht mehr weit bis heim«, sagte er sich und schritt kräftig aus. »Und niemand soll mehr sa gen: Kain, wo ist das Mörderzeichen an deiner Stirn? Jetzt nicht mehr, sonst . . .« Er schluckte das bittere Zeug, das ihm in den Mund aufstieg. »In der Biblischen Ge schichte steht, daß der Kain seinen Bruder Abel erschla gen hat. Aber der Jäger Rupert Feltinger ist nie mein Bru der gewesen!« Vom Dorfrand her kläfften ein paar Kettenhunde. Ihr Ge heul verfolgte den Heimkehrer bis zum Waldrand hin auf. Wenn es auch nur ein paar Augenblicke lang still ge blieben war, fing wieder einer mit seinem feindseligen Bellen an, und gleich stimmten die anderen voller Wut ein. Genau wie damals die Leute von Roitern, wo er da heim gewesen war. Der Jochen ging schnell weiter, bis er nur noch mühselig Atem kriegte und ihm das Herz arg hämmerte. Er lehnte sich für eine Weile an den nächsten Baumstamm. Mor gennebel war an der Rinde zu einer Eisschicht gefroren. Weil der Janker in fünf Jahren schleißig geworden war, kroch dem Heimkehrer bald die Kälte am Rücken hinauf. »Weiter, ich muß heim. Noch eine Stund bis Roitern, zu unserem Hof, zu den Eltern, zur Steffi. «
Im Wald schoben sich die Flecken aus Eis und Schnee zu einer mugeligen Fläche zusammen. Gefährlich für einen Fremden, der nicht genau wußte, wo der Fels zum Wild wasser hinunter abbrach. »Sollt ich mich fürchten?« lachte der Jochen leise vor sich hin. »Ich hab’ mein Lehrgeld gezahlt: Kommt einer auch nur einen kleinen Schritt vom richtigen Weg ab, so pa cken ihn alle Teufel. Nicht nur im Teufelsgraben.« Bald grollend, bald donnernd warf sich das Wasser gegen Felsblöcke, daß der Boden bebte. Der Jochen packte sei nen schäbigen Koffer fester an und hastete die Schlucht aufwärts. Wasserstaub, der zwischen den Felsen wie aus der Unterwelt aufstieg, machte ihm das Durchatmen schwer. Dafür färbte sich der schmale Streifen Himmel schon blaßgrau. In Roitern machten sich der Vater und die Mutter auf dem Kain-Hof bestimmt gerade zur Arbeit fertig. Da war noch im Schneider-Häusl die Steffi! In der Stunde vor seiner Flucht hatte sie ihm das treue Warten versprochen, seine Steffi! »Nicht zurückschauen!« befahl sich der Jochen Kain und arbeitete sich den Weg hinauf. An manchen Stellen rückten die Felswände nahe zusam men, bis man grad fürchtete, es würde nicht mehr weiter gehen. Der Weg wurde so schwierig, daß es ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Weil er aus Venezuela keine Fäustlinge mitgebracht hatte, froren ihm die Hände blau. Am liebsten hätte er den Koffer in die Schlucht geworfen. »Bist narrisch, Jochen! Da drinnen ist alles, was du dir in fünf Jahren Sklavenarbeit erspart hast. Geschenke für . . .«
Nach Luft ringend, riß er sich den Janker auf. Darunter hatte er nur ein Flanellhemd an. Als ihn die Kälte gleich durchbeutelte, machte er die Knöpfe wieder so schnell zu, wie er das mit seinen klamm gewordenen Fingern schaffte. Aber er sagte sich vor: »Ein bißl verschnaufen. Nach fünf Jahren Fortsein kommt es auf die paar Minu ten auch nicht mehr an.« Er ließ sich am nächsten Felsen niedergleiten, bis er zu sammengekrümmt dahockte. Mit aller Willenskraft hielt er die Augen offen. »Nicht einschlafen, Jochen, nur nicht einschlafen. Sterben hättest du leichter auch drüben kön nen.« Aus dem Dahindämmern kam auf ihn ein wunderschö nes Bild zu, erst verschwommen, mit der Zeit dann im mer deutlicher. Sauber, das Dirndl mit den großen brau nen Augen und der dunkelblonden Haarkrone. Noch sehr schlank, schlaksig wie ein Fohlen. Grad siebzehn ge worden. »Ist nicht wahr«, verbesserte er seine Erinnerung. Er hielt die Augen geschlossen, damit das Bild nicht gleich wie der zu Schnee und Nebel zerfloß. »Siebzehn bist du vor fünf Jahren gewesen, wie wir Abschied genommen haben in der Heuhütte. Heute bist zweiundzwanzig. Und ich bin nicht mehr einundzwanzig, sondern . . . « Er dachte angestrengt nach. »Ich bin uralt.« Die Mutter will ihn vor dem Frieren bewahren, denn sie fragt ihn allerweil wieder, ob ihm nicht kalt sei. »Über haupt nicht, Mutter.« Folgsam zog sich der Jochen seinen Janker enger, und
gleich tat ihm die Kälte nicht mehr so weh. Er konnte so gar lachen: »Mußt dich nicht allerweil so absorgen um mich, Mutter.« Sie schenkt ihm eine Biblische Geschichte, denn inzwi schen ist er ein Büberl von fünf Jahren geworden. Lesen kann er noch nicht, aber beim Kühehüten schaut er sich stundenlang die Bilder an. Vor lauter Müdigkeit zog es den Jochen Kain nieder. Mit einer schon ganz schweren Zunge lallte er: »Eh nicht ein schlafen, nur ein paar Minuten dösen.« »So ein Depp, ein depperter«, greinte der weißhaarige Mann und packte ihn am Jankerkragen. »Aufstehen sollst! Oder hörst mich gar nicht mehr?« Der Jochen ließ sich von ihm in die Höhe zerren, wie wenn er schon zu einem Scheit gefroren gewesen wäre. Aber plötzlich schlug er in panischem Entsetzen um sich und brüllte, daß ihm die starren Lippen blutig aufplatz ten: »Weg da! Ich hab keinen umgebracht, ich hab den Feltinger-Jäger nicht erschossen ! Ich hab das Jäger-Häusl nicht angezündet!« Der Alte in seinem schäbigen Hundepelz kicherte zufrie den mit einer schon wieder kindlich klingenden Stimme. Er pappte dem Erfrierenden Schnee ins Gesicht. Ver ständnislos starrte der Jochen auf den Mann, den er kannte und auch wieder nicht kannte. »Was ist mit mir? Bin ich eingeschlafen? Ich hab eine weite Reise gemacht: von Venezuela bis daher. « Der Prenner Hias rieb ihn mit Schnee ab. In seinen knochigen Händen war noch recht
viel Kraft. Er verzog die Lippen zu einem breiten Lachen und brabbelte: »Ums Haar hättest du noch eine viel wei tere Reise gemacht, Kain.« Langsam kam der Jochen ins Leben zurück, sah alles kla rer und fragte: »Du kennst mich? Wer bist nachher du? Ich bin mir nicht sicher . . .« Der Hias kicherte, dann flüsterte er: »Geh weiter, du kennst den Totengräber von Roitern nicht mehr?« Dem Jochen Kain war gar nicht fröhlich zumute, aber er sagte doch so halb im Spaß: »Ich komm nach fünf Jahren heim. Und wem verdank ich gleich mein Leben? Dem To tengräber! Es ist rein zum Totlachen.« Ärgerlich wandte sich der Mann im Hundepelz zum Ge hen. Solange er nicht wenigstens eine Maß über den Durst getrunken hatte, fand er das Witzeln über seine Ar beit grad widerlich. »Pfüat dich, Kain.« Der verstellte ihm mit einem schnellen Schritt den Weg, und weil er mit niemandem Streit kriegen wollte, sagte er: »Ehrlich, Hias, ich dank dir. Akkurat in dieser Stund wär’s mir um mein Leben leid gewesen. Ich hab noch viel vor, und es wär schon g’schert hergegangen, hätt mein Weg so kurz vor der Haustür geendet. Darauf trinken wir einmal, Totengräber!« »Das lass’ ich mir gefallen. « Die rotgeränderten kleinen Säuferaugen des Alten leuchteten glücklich auf. »Jetzt hab ich einen Weg hinunter nach Siebenstein, aber wir se hen einander bestimmt noch einmal. Wie lang wirst in Roitern bleiben?« »Wie lang?« Der Jochen meinte gleich, daß sich hinter
dieser Frage eine Hundsgemeinheit versteckte. Darum sagte er, jedes Wort betonend: »Kann ich dir auf den Tag genau festlegen, Hias: Bis du mich in die Grube legst und zuschaufelst!« Der Prenner schnitt eine schwer deutbare Grimasse und zerrte sich die Kappe aus Hundefell tiefer in die Stirn. »Bleiben willst in Roitern? Nachher wär’s vielleicht ge scheiter gewesen, ich hätt’ dich gleich erfrieren lassen.« Ohne ein Grußwort rannte der Alte den Weg durch die Schlucht hinunter. Weil dem Jochen die Wirklichkeit plötzlich auch nicht viel schöner vorkam als so ein Alp traum, ging er schnell weiter. Was kümmerte ihn mit sei nen sechsundzwanzig Jahren schon viel der Totengräber? Nicht mehr lang, und er kam zum Ende des Teufelsgra bens. Dort stürzte sich der Salbach von den ebenen Wei degründen zwischen die aufwachsenden Felsen herunter. Dort wurde auch der Weg für den Jochen Kain noch ein mal gefährlich: an der alten Holzbrücke. Daß er die ver gessen konnte! Ganze fünf Jahre hatte er nicht an sie ge dacht. Jetzt stiegen die Erinnerungsbilder ganz deutlich in ihm auf: Als Kind war er oft hergekommen und hatte im Bach gespielt. Heimlich, denn die Mutter verbot es ihm wegen der Kreuzottern. Mit der Zeit redete sie ihm eine panische Angst vor den Giftschlangen ein, die sich manchmal unter der Brücke auf dem Stein sonnten. Es hatte auch eine Stunde gegeben damals, da überwand er allen Ekel und versteckte sich bei den Kreuzottern unter der Brücke. Zu jener Zeit fürchtete er sich vor dem gifti gen Gezücht weniger als vor den Bauern von Roitern, die
ihn aufhängen, spießen oder vielleicht auch nur erschla gen wollten. Diese Holzbrücke trennte ihn jetzt noch von seinem Dorf. Er neigte sich über das Geländer. Darunter war das Eis schon aufgesprengt. Es kostete ihn alle Willenskraft, bis er sich langsam am Geländer über die Brücke ziehen konnte. »Jetzt hab ich es geschafft!« schrie er in den Morgen. Vor ihm lagen Wiesen und Felder, die sich schon aus dem schmutzigweißen Leichentuch des Winters hervorarbei teten. »Die Häuser, der Kirchturm von Roitern! Herrgott, daß ich das noch einmal erleben darf!« Tief atmete er die starke Luft ein, die nach aperer Erde und nach Frühling roch. Das Glück machte ihn grad rau schig! Er rannte los, auf das Dorf zu. Nach fünf Jahren war der Jochen Kain wieder heimgekommen. In den letzten Jahren hatte er oft geträumt, er würde über die Straße durch Roitern gehen. Jetzt schaute er sein Dorf an wie ein Fremder, und das große Glücksgefühl blieb aus. Erst kam er zu den ebenerdigen Häusern, die den Kleinbauern gehörten. Gegen die Straße zu hatten alle schmale Vorgärten, nach hinten hinaus die Felder. Die hölzernen Tore waren verschlossen. Nur eines, ein grün gestrichenes, wurde von innen aufge macht. Ein Traktor ratterte auf die Straße und zog eine blauschwarze Rauchfahne nach. Hinten dran hing ein Kesselwagen. Der Jochen sog die Luft tief ein. »Mein Gott, riecht so eine Jauche herrlich nach Stall und Vieh«, dachte er gerade noch. Dann schreckte er vor den
Augen des Fahrers zusammen: harte, feindselige Augen waren das. Aber gleich verzogen sich die Lippen des Mannes zu einem freundschaftlichen Lachen. Deshalb sagte der Jochen zu ihm hinauf: »Grüß dich, SchwaleckBauer.« Schon beim Bus in Siebenstein hatte der ihn erkannt. Jetzt winkte er herzlich dem Heimkehrer zu. Vor fünf Jahren war er mit der Meute gerannt, die den Mörder Kain ge hetzt hatte! Der Schwaleck rannte immer mit der Meute. Gegen den Hauptplatz zu kamen auf der linken Straßen seite drei recht schmucke Familienhäuser. Eines gehörte dem Matsching-Kaufmann, der reich geworden war, weil bei ihm sieben Achtel ein Liter ausmachten. Sein hagerer Kopf erinnerte an den eines Geiers. Der Jochen schreckte zusammen, denn ihm war, als hätte er den Kramer hinter einem Küchenfenster gesehen. Schnell schwabbte das Vorhangl wieder zu. Im zweiten Haus wohnte ein Reisender in Versicherun gen. Auch der Feltinger Rupert war sein Kunde gewesen. Weil der Mörder den Jäger Rupert Feltinger erst in den Kopf geschossen und dann die Leiche im Jäger-Häusl verbrannt hatte, kassierte der Bruder des Ermordeten gleich zwei saftige Prämien: Ableben und Feuerschaden. Das zahlte sich für den Ulrich Feltinger bestimmt aus ! Das dritte Haus gehörte dem Arzt. Der alte Doktor Prä bichler hatte damals den verkohlten Leichnam vom Jäger aus dem brennenden Haus ins Freie geschleppt. Er war es auch, der als erster am Brandplatz geschrien hatte: »Mörder Kain!«
Der Doktor war halt ein gebildeter Mann und hielt zu je der Gelegenheit ein Beispiel aus der Bibel bereit. Schon wollte jetzt der Jochen an dem Haus vorbeigehen, als er von einem Messingschild am Gartentürl ablas: »Dr. Fritz Mader. Alle Kassen«. Da schau ich ja! Hat den alten Prä bichler am End schon der Hias in die Grube geschaufelt? Und ich geh durch Roitern. Mein Lieber, so ist das Le ben.« Froh fühlte er sich deswegen auch noch nicht, aber es tat ihm gut, etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit zu sehen. Was seit diesem ersten Schrei »Mörder Kain!« in fünf Jahren geschehen war, hatte es ihm recht schwer ge macht, noch an irgendeine Gerechtigkeit zu glauben. In der Mitte vom Hauptplatz stand die schlichte Kirche. Schon damals hatte man davon geredet, daß der Turm frisch angeworfen werden sollte. Inzwischen waren die Risse im Verputz noch ein wenig breiter geworden. Der Jochen schaute sich auf dem Hauptplatz um, wo ihm jedes Haus etwas aus seinem früheren Leben erzählte. Da war das Pfarramt, wo er auch einmal Trost und Schutz gesucht hatte, daneben duckte sich hinter einen Vorgar ten der Eingang zur Post. Ob die alte Marie noch lebte, die ihn damals rechtzeitig vor der Polizei gewarnt hatte? Sie wußte immer alles früher als die anderen Leute von Roitern. Gemeindeamt und Polizei waren noch im selben Haus untergebracht. Der Jochen nahm sich vor: »Ich werd mich möglichst bald melden. Aber halt ein bißl spä ter. « Das nächste Haus gehörte schon zum großen, reichen
Hof des Bürgermeisters Karl Puchinger. Plötzlich kriegte der Jochen einen starren, feindseligen Blick, denn zwi schen dem Puchinger-Hof und dem Anwesen vom Gerst ner war ein Platz frei. Kein Haus, keine Hütte, nicht ein mal ein Zaun. An der Stelle war früher das Haus des Jä gers gestanden. Niemand hatte mehr dort bauen wollen. Flüchtig überlegte der Jochen: »Wo wird der Feltinger Ul rich heute wohnen?« Damit er nicht länger auf den leeren Platz schauen muß te, wandte er sich zur gegenüberliegenden Häuserzeile. Dort erhob sich neben dem Kramerladen vom Matsching das prächtigste Bauwerk von Roitern, der Gasthof »Zur goldenen Gams«. Die Leute sagten auch Gamsl-Wirt, wenn sie den Hämmerl Robert meinten. Er war über haupt ein gemütlicher Mensch. Nur zu Zechprellern konnte er grob werden. Saugrob wurde er überhaupt nie. Nur daß er damals dem Jochen mit einem Stein beinahe den Schädel eingeschlagen hätte, war schon eine ganz hinterfotzerte Gemeinheit gewesen. »Vergessen!« Aus der Erinnerung an das Böse, die seit fünf Jahren in seiner Seele wie ein Krebsgeschwür wucherte, erlöste ihn diesmal eine mächtige Stimme: »Leut, der Kain ist wieder im Dorf!« Den Jochen würgte gleich die Angst, bis er noch grad rechtzeitig begriff, daß er von nun an nicht mehr weglau fen müsse. »Grüß dich, Herr Bürgermeister!« Es wurde ein langer, freundschaftlicher Händedruck. Dazu sagte der Puchinger: »Unverändert, unser Jochen!
Ein bißl reifer bist halt geworden, ein richtiger Mann! Aber ich hab dich auf den ersten Blick erkannt. Wenn man jahrelang an einen Menschen nicht mehr denkt . . . Das heißt, gedacht hab ich schon öfters, wie es dir gehen wird. Du weißt selbst, daß jeder einen Pinkel Sorgen schleppt. Den Hof hab ich meinem Fritz übergeben, und der macht sich gut. Aber das Leid mit meinem Weib ! Da von hast du noch gar nichts erfahren?« »Nichts.« Er hätte halt doch manchmal heimschreiben sollen. Damit er von etwas anderem redete, murmelte er: »Schön ist Roitern beisammen.« Dafür erkundigte sich der Puchinger-Bürgermeister: »Dir ist es auch allerweil gut gegangen, Kain? Bist weit genug fort gewesen!« Bereitwillig gab der Jochen Auskunft: »In Venezuela. « Gleich bewies der Karl Puchinger, daß er schon in der Schule der Gute gewesen war, und flachste: »Das taugt mir: Wir frieren uns im Winter die Hand ab, und der Herr Kain läßt unter Palmen in der Sonn den lieben Gott einen guten Mann sein!« Langsam gingen sie nebeneinander her, und zwischen ih nen war eine noch tiefere Schlucht als der Teufelsgraben. Der Puchinger wußte auch nicht recht, ob er den Heim kehrer zum Gamsl-Wirt auf eine Maß, auf einen Schop pen oder gar auf ein Essen einladen sollte. Gut, daß ihn wenigstens der Schwaleck gewarnt hatte, was da auf Roi tern zukommen würde. Inzwischen zermarterte sich der Jochen das Gehirn, aber er wagte doch nicht zu fragen, was er so gern gewußt hätte: nach dem Kain-Hof, nach
den Eltern und nach der Steffi. Ihm wurde schwarz vor den Augen. Er taumelte sogar ein bißl, weil er seit vier undzwanzig Stunden kaum mehr einen Bissen hinunter gebracht hatte. Das Vergangene würgte ihm den Hals zu, und die Angst vor dem Zukünftigen preßte sich wie eine Faust in seine Magengrube. Der Puchinger wiederholte schon recht lauernd: »Bist ’leicht unter die Goldgräber gegangen? Oder als Fallensteller? Schleppst du in deinem Koffer lauter Dollar heim?« Der Jochen verzichtete darauf, ihm zu erklären, daß es das alles in Venezuela nicht gegeben habe. Er sagte nur: »Gar so gut ist es mir auch wieder nicht ’gangen. « Das war ein Stichwort für den Bürgermeister über drei Amtsperioden. Er lachte wohlwollend und schlug den Jo chen freundschaftlich auf die Schulter. »Allerweil meine Rede: Man sollte lieber auf der heimatlichen Scholle blei ben, wo man verwurzelt ist. Nicht meinen, in der Fremde tät das Glück warten! Aber du bist davongeteufelt . . .« »Von ganz allein bin ich nicht davongelaufen. Da haben ein paar Leut aus Roitern kräftig nachgeholfen. Du auch, Herr Bürgermeister.« Also doch ein unversöhnlicher, ge hässiger Außenseiter, der nichts dazugelernt hatte! Noch im letzten Augenblick fiel dem Puchinger ein, wie er es mit dem Hämmerl-Wirt vereinbart hatte. Nur deshalb sagte er zum Jochen, als ob er sich bei diesem Habenichts und Niemand hätte entschuldigen müssen: »Als Bürger meister hab ich für die Sicherheit und Gerechtigkeit von jedem Mitbürger aus dem Dorf ... « »Ich bin auch aus Roitern, und wie hat die Gerechtigkeit
für mich ausgeschaut!« fuhr der Jochen auf, weil er sich nicht länger zurückhalten konnte. »Man möcht fast glau ben, ich hätt auch jetzt besser nicht mehr heimkommen sollen!« Die ehrliche Antwort darauf schluckte der Karl Puchin ger hinunter, weil er kein Unmensch war. Er schaute sich um, und als niemand in der Nähe war, sagte er hastig : »Ist schon recht, Jochen, daß du dein Heimatdorf in der Fremde nicht vergessen hast . . . Wie lang wirst bleiben?« Die gleiche Frage, wie sie ihm der Totengräber im Teu felsgraben gestellt hatte! Sie verletzte ihn nicht mehr, und so konnte er ruhig antworten: »Vielleicht für allerweil, Herr Bürgermeister. Ich bin und bleib mein Lebtag in Roitern daheim.« Daraufhin schloß der Puchinger das Gespräch. Er meinte halt: »Du wirst eine ganze Menge Wege haben. Wir sehen einander auf jeden Fall noch.« Als der Jochen den Kirchenplatz überquerte, fühlte er sich längst nicht mehr so versöhnlich und demütig wie noch vor einer halben Stunde. In ihm krampfte sich schon wieder eine ganze Menge Wut zusammen. Er über legte, zögerte und entschied: »Die Kirch hat noch Zeit. Der Herrgott ist bestimmt auch im Elendsviertel von Caracas bei mir gewesen. Ich geh heim.« In der letzten halben Stunde wäre ihm sein Herz beinahe wieder erfroren, aber jetzt glaubte er, die Gefahren von dem Teufelsgraben und allen anderen Teufeln wären überwunden. Ein Lächeln legte sich über sein schmal ge
wordenes Gesicht. Die Mutter und der Vater werden Au gen machen! Schneller ging er die Dorfstraße nach Nor den hinaus. Hier wurden die Höfe bald wieder kleiner, die Grundstücke schmäler. Von den meisten Fassaden bröckelte Mauerwerk ab. »Mit dem Vater werd ich zurechtkommen«, redete sich der Jochen Mut zu. Dabei bewegte er kaum die Lippen, denn er wollte nicht, daß ihn jemand auch noch für einen Narren anschaute. »Vater, werd ich sagen, da bin ich. Ab morgen kannst mit meiner Arbeit wieder rechnen. Nur heut muß ich mich noch ein bißl verschnaufen, denn der Heimweg ist weit gewesen. Und verdammt schwer!« Plötzlich schlug ihm das Herz bis an den Hals hinauf, und Schweißtropfen liefen seine Stirn hinab. Er spürte nicht einmal den eisigen Wind, der von den Feldern her zwischen den Höfen durchpfiff. Über dem Dorf hatte es zu nieseln begonnen. Höher oben, gegen die Wände des Siebenstein-Kamms zu, verschwamm die Landschaft in weißlichem Grau, als ob der aufkeimende Frühling noch einmal in Schnee ersticken sollte. »Ein gutes Wetter zum Heimkommen. Da jagt der Vater keinen Hund von der Haustür fort. Alsdann wird er auch mich nicht ... « Demütig, wie zu einem Gebet, zog er die Strickmütze vom Kopf. Den alten Koffer hielt er in der Linken. So ging er auf sein Elternhaus zu. Das Tor war noch grün gestrichen wie damals. Halt auch um fünf Jah re schäbiger. Wie im Traum griff er nach der schmiedeei sernen Klinke von der Tür. Zugesperrt! Er lächelte ver ständnisvoll. Die Eltern waren schon allerweil wegen
Dieben und Räubern ängstlich gewesen. Ihren eigenen Sohn hatte man als Mörder durch die Straßen von Roi tern gehetzt. Der Jochen schlug mit der Faust ans Holz, und das tat an den kalten Knöcheln weh. Nichts rührte sich, nur ein Hund kläffte auf, verstummte aber auch wieder. Jetzt war der Kain plötzlich am Ende und konnte nur noch stöh nen: »Um Himmels willen, macht mir niemand auf? Ich bin’s doch, der Jochen!« Und weil die Tür nicht aufging, bettelte er verzweifelt: »Mutter, wirst mich weggehen las sen? Um Himmels Barmherzigkeit!« Von Südamerika als Kohlenschaufler, Hilfsarbeiter, Bett ler und Schwarzfahrer bis ans Ende der Welt, nach Roi tern gekommen! Er rannte mit dem Kopf gegen das Tor, daß die Stirn nur so drankrachte. Der Gedanke, daß die Eltern nicht daheim sein könnten, kam ihm erst gar nicht. Dann hörte er doch drinnen auf dem Pflaster langsam schlurfende Schritte. Die Mutter! Auch fünf Jahre älter geworden! Die Tür im Tor öffnete sich einen Spalt. Das gute alte Gesicht . . . Aber das war nicht die Mutter! Si cher eine Magd, die er nicht kannte. »Hast den Verstand verloren?« keifte ihn die Alte an. »Drischt man so an fremde Türen? Wir haben nichts zum Geben!« Vor Glück wurde dem Jochen grad schwindlig, und er rief lachend: »Wenn man von weit herkommt, wird man zuletzt noch ungeduldig. Mach auf, sag ich dir!« Sie schnitt ihm das Wort mit einer bald brummenden, bald schrill kreischenden Stimme ab: »Meinetwegen ein
Stückl Brot, aber das bring ich dir heraus.« Im nächsten Augenblick hörte der Jochen eine jüngere Stimme ver schreckt flüstern: »Großmutter, was tust! Das ist doch der ... « »Ha?« gab die Alte zornig zurück. »Der Kain, der den Feltinger-Jäger . . . Daß der sich noch hertrauen tut?« »Red dich nicht um den Kopf«, warnte die Junge. Lang sam ging die Hoftür ganz auf. Ein Dirndl so um die zwanzig stand vor dem Jochen. In dem dunklen Kittel, mit einer Strickjacke und einer blaugemusterten Arbeits schürze wirkte es recht armselig. Nur die grünlich schim mernden Augen mußten einem auffallen. Unter dem Kopftuch drängten sich ein paar rötlichblonde Haarsträh ne hervor. Es sagte: »Kommst halt herein, damit du den weiten Weg nicht vergeblich gemacht hast. Steinegger Lena mein Name. Das ist meine Großmutter.« Grad andächtig machte der Jochen den ersten Schritt durch die Tür auf den elterlichen Hof. Fünf Jahre lang hatte er sich jede Nacht wenigstens eine Stunde lang heimgeträumt, und jetzt stand er da! In seiner Erinne rung war das ebenerdige Wohnhaus größer gewesen. Von Fenster- und Türstöcken blätterte die Farbe ab. Wo die Feuchtigkeit vom Pflaster in den Verputz stieg, wuch sen in die Mauer graue Flecken. Der Stall war immer der Stolz vom Vater gewesen. Darum hätte er das zerbroche ne Fenster einschneiden lassen müssen. Das Vieh mag keine Zugluft. Mitten in sein stilles Heimkommen bellte es so laut los, daß es ihn durchfuhr. Ein Poltern und ein Stöhnen! Als
der Jochen herumschreckte, sah er, wie sich ein Körper aus der Hundehütte hervorzwängte. »Jessas, mein alter Lutzl!« rief der Jochen. »Der hat mich erkannt und freut sich wie deppert. Lutzl!« Er breitete die Arme. Endlich war der Hund auf die Beine gekommen und sprang auf seinen Herrn zu. Aber noch mitten im Sprung wurde er zurückgerissen und stürzte mit einem gequälten Aufjaulen hin. Voller Wut und Mit leid schrie der Jochen die zwei Frauen an: »Der liegt ja an der Kette! Ganz kahl und wund am Hals. Mein Gott, wie mager! Kriegt er ’leicht nichts zu fressen? Wer sorgt für meinen Lutzl?« Er hatte sich neben dem Tier auf die Knie geworfen und streichelte es. Hinter ihm grollte die alte Frau: »Das langt mir bald. Sorgst du dich vielleicht darum, ob die Men schen allerweil ’was in der Schüssel haben?« Um die Worte der Großmutter zu entschärfen, sagte die rotkopferte Dirn: »Sattessen haben wir uns noch allerweil können. Kommst ins Haus?« »Ja. « Noch ein Blick in die Runde, dann ging er langsam über den Wirtschaftshof zur Haustür. Hinter sich hörte er die Alte keifen: »Ins Haus kommen? Das auch noch! Bittest ihn wie einen Grafen!« »Er kommt von weit her«, flüsterte das Dirndl beschwö rend. Und die Alte: »Wird schon der passende Ort für ihn ge wesen sein!« Diese Bosheit erreichte den Jochen nicht mehr, weil er mit jedem weiteren Schritt in eine ganze Flut von Erinnerun
gen tauchte. Durch die Haustür trat er in den kleinen Vorraum. Steinboden, weißgekalkte Wände, und daran ein Brett mit sieben Haken. Für jeden einen: Vater, Mut ter, Jochen und vier Dienstleute. Schon immer zog man im Vorhaus die Schuhe aus. Der Jochen schnürte seine auf und schlüpfte heraus. Von der Küchentür her keifte die Steineggerin: »Mach keine langen Geschichten. Wirst dich doch nicht aufs Bleiben einrichten!« Damit riß sie den Jochen schmerzhaft aus seinen schönen Träumen. Dafür fuhr er sie hart an: »Ich bleib, aber du wirst bald deinen Pinkel nehmen und von hier ver schwinden! Dich ertrag ich keinen ganzen Tag mehr um mich!« In Socken ging er über den Steinboden, drängte die Alte von der Tür weg und trat in die Küche. Eine anheimeln de Wärme hüllte ihn ein, denn im Herd knisterte das Feuer. Den Küchengeruch hatte er ganz anders in Erinne rung gehabt: nach Bratäpfeln und nach Birnen, die zu Kletzen trockneten. Jetzt roch es eher nach einer Kraut suppe. Blitzsauber war alles. Grad so, wie er es erträumt hatte während der letzten fünf Jahre, wenn er oft zwi schen Ratten und Kakerlaken im Fieber gelegen war. Eigentlich hätte er längst die wichtigste Frage stellen müssen, aber mit der Fremden wollte er nichts Persönli ches reden. Die Eltern mußten bestimmt bald heimkom men. Also sagte er zu dem jungen Dirndl: »Richt mir ein Essen her, aber ein starkes. Jetzt spür ich erst, daß ich seit Tagen nichts Gescheites mehr gehabt hab. Ich muß wie der zu Kraft kommen, denn da ist eine Menge Arbeit lie
gen geblieben.« Die Alte schnellte vor den Herd hin, als wollte sie das Es sen verteidigen. Sie keifte schrill: »Hast mich vorhin nicht verstanden? Ein Stückl Brot schlag ich keinem Bettler ab, aber für mehr reicht’s nicht!« Nur weil ihn die Steineggerin gar so wild angeflogen hat te, brachte er jetzt die Frage heraus: »Wann kommen mei ne Eltern zurück? Ihr seid doch hoffentlich nicht die ein zigen Dienstleut auf dem Hof!« Die Lena machte zur Großmutter eine bittende Geste hin, aber die sagte recht hart: »Fangen wir mit den Dienstleu ten an. Die gibt’s nämlich hier schon seit zwei Jahren nicht mehr. Und was deine Eltern betrifft ... « Schnell machte die Lena einen Schritt auf den Kain zu. Sie legte ihm sogar ihre Hand auf den Arm, und dann flüsterte sie »Tut mir weh, daß ich dir ausgerechnet in dieser Stund . Warum hast du nie heimgeschrieben? Deine Leut haben nicht gewußt, wo du bist.« Das Blut stieg ihm ins Gesicht, aber rechtfertigen mußte er sich vor der Dirn bestimmt nicht. Er sagte es auch nur zu sich selbst: »Mit dem Schreiben hab ich allerweil war ten wollen, bis es mir besser ’gangen war. Weil das nie gewesen ist, bin ich auch nicht zum Schreiben ’kommen. Dirndl, sag nur, wo sind ... « Er konnte es halt nicht erpacken. In die hellen grünen Augen der Lena trat ehrliches Mitleid. Nicht nur so eines, das man zur Schau stellt, damit man selbst besser da steht. Mitten durch die Stille kreischte plötzlich die Alte: »Mußt dich gar nicht um sie sorgen! Die sind beisammen
geblieben! An einem Tag haben sie den Bauern hinausge tragen, am nächsten die Bäuerin hinterdrein. In der Friedhofskapelle sind sie nebeneinander gelegen, wie wenn einer auf den anderen gewartet hätte. « Der Jochen taumelte zurück, tastete nach einer Stuhlleh ne und griff ins Leere. Mit einem Sprung war die Lena bei ihm. Sie erwischte ihn gerade noch um die Mitte und schob ihn auf die Ofenbank hin. Schwer fiel er darauf nieder. Ein paar Sekunden lang starrte er das Dirndl ver ständnislos an, weil er nicht begriff, was geschehen sein könnte. Als er langsam erwachte, schlug er die Fäuste vor die Augen und stöhnte: »Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt auf mich warten!« Er konnte nicht weinen. Keine Träne! Weil er sich auf bäumte, krachte er mit dem Kopf gegen den Kachelherd. Das wäre die Lösung und Erlösung gewesen: mit dem Kopf gegen eine Wand rennen! Die Steinegger-Großmut ter wollte den vorwurfsvollen Blick der Lena nicht sehen. Wenn seinetwegen das Dirndl weinte, wurde die Alte erst recht hart. Voller Feindseligkeit sprach sie aus, was andere nur umschrieben hatten: »Was hast du aber auch zurückkommen müssen!« Damit bewirkte sie, daß in der Lena das Mitleid stärker wurde als die Scheu. Sie setzte sich neben den Jochen auf die Bank und griff nach seinen Händen. Ganz still warte te sie, bis aus ihm endlich das erlösende Schluchzen brach. Sogar die Großmutter wollte ihm jetzt etwas Tröst liches sagen, aber ihre Stimme klang noch immer bösar tig: »Für deine Leut hat sich halt das Leben nicht mehr
gelohnt. So ist es einmal.« Der Jochen schaute auf. Tränen rannen ihm übers Ge sicht, dessen Züge wie leblos wirkten. »Wo?« Die Lena sagte: »An der Friedhofswand, ein Armengrab. Fragst am besten den Prenner Hias.« Ohne ein weiteres Wort ging der Jochen mit schweren, mühseligen Schritten zur Tür. Von dort aus fragte er die Steineggerin: »Hast ’leicht kein Daheim mehr?« Die schüttelte den Kopf und schaute plötzlich auch ganz wirr drein. An ihrer Stelle antwortete die Lena: »Unseren Hof hat im Dezember eine Lawine weggerissen. Wir kommen aus der Einschicht, gleich unterhalb vom Sie benstein-Kamm.« Der Jochen nickte. Leid ringsum, wohin man schaute. Zur Alten hin sagte er: »Mußt keine Angst haben, daß ich dich vor der Zeit verjagen tät. Wenn du willst, bleibst. Kannst auch mitarbeiten. Nächste Woche fang ich an.« Da schrie die alte Anna Steinegger grad verzweifelt her aus: »Sag, hast du noch allerweil nichts verstanden? Das ist nicht mehr der Kain-Hof ! Du bist niemand mehr und hast nichts! Hier bist du im . . .« Weil die Lena meinte, aus ihrem Mund würde ihm das Wort vielleicht doch ein bißl weniger weh tun, ergänzte sie schnell: »Im Armen häusl von Roitern bist, Jochen.« Wie in einem Alptraum ging er über die Dorfstraße. Nie mand kam aus seinem Haus, um ihm die Hand zu rei chen. Die Leute lauerten hinter den Vorhangln, bis er wieder sein Gelumpe packen und fortgehen würde. Nicht einmal der Bürgermeister war mehr für ihn da. Als
er auf den Feldweg zum Friedhof einbog, fing es auch noch zu regnen an. Schneepatzen mischten sich unter die Tropfen. Ein schmutziggrauer Schleier schob sich zwi schen den Kain und sein Dorf. Plötzlich schluchzte er auf: »Daheim bin ich da auch nicht mehr! Verschwinden. Fort!« Er beruhigte sich langsam wieder. Die alten Friedhofs mauern, selbst grau, tauchten aus dem Dunst auf. Oben drauf hatte man Glasscherben einbetoniert, die jedem die Hände zerschneiden sollten, der versuchte, drüberzuklettern. Fürchteten die Leute, manche Tote könnten wie der aus ihren Gräbern steigen und nach Roitern zurück kommen? So, wie der Jochen Kain! Da war das schmiedeeiserne Tor. Eine schöne Arbeit, hei mische Handwerkskunst. »Wildern ist eine Sach, einen Jäger niederschießen und seine Leich im Jäger-Häusl verbrennen, eine andere!« schreit der Jochen. Vor seinen Augen kreuzen sich die schmiedeeisernen Gitterstäbe vom Gemeindekotter. Sie haben ihn eingesperrt wie den Ochsen vor dem Schlach ten. Sinnlos, daß er am Gitter reißt und schreit: »Puchin ger, ich hab’s nicht ’tan!« Der Bürgermeister schüttelt den Kopf. »Dir hätt ich so et was nie zugetraut, aber ein Wilderer muß es getan haben. Vor einer Stund hat uns die Post-Marie einen Brief an den Feltinger gebracht. Wir haben ihn vor Zeugen amtlich ge öffnet. Drinnen steht: Du wirst zahlen, Lump! Ein anstän diger Wildschütz.« »Ich bin kein Mörder!« schreit der Jochen.
Ganz traurig schüttelt der Bürgermeister den Kopf. »Tut mir leid, Kain. Hast halt gewildert! Kleinbauern sollten lieber ein Stück ehrliches Brot essen und keinen gestohle nen Braten. Als Bürgermeister gibt es für mich keine Freundschaften mehr.« Der Jochen reißt am Gitter . . . Nur weil das plötzlich vor ihm aufging, erwachte er aus seinem grauslichen Tagtraum. Seine Fäuste umklammer ten kein Gitter vom Gemeindekotter, sondern das Fried hofstor. Aber war die Gegenwart um so viel besser als das Gewesene? Am ganzen Körper zitternd, ermahnte er sich: »Jochen, ruhig bleiben! Den Verstand klar bewah ren, denn sonst bringt dich noch einer ins Irrenhaus! Viel leicht sogar der Mörder vom Feltinger. « Er drückte das Friedhofstor ganz auf und ging zu dem großen Kreuz, das in der Mitte des Gottesackers empor ragte. Gleich in der Reihe dahinter lag der Jäger unter ei nem nicht gerade billigen Naturstein. Hier mußte der Jochen erst gar nicht nach seinen Eltern suchen, denn die Armengräber waren an der Friedhofs mauer bei den Haufen aus verwelkten, weggeworfenen Blumen. Selbst dort fand sich der Jochen nicht gleich zu recht. Ohnehin keine schlechte Gesellschaft: zwei Wild schützen und ein unbekannter Landstreicher. Das nächste Grab sah dann genau so aus, wie es Bauern gebührte, die nichts mehr besaßen als das gute Angeden ken der Leute. Ein Armengrab für den Kain-Bauern und sein Weib, die abhausten, weil sie die Arbeit ohne ihren Sohn nicht mehr erpackt hatten. Vor den Augen des Jo
chen verschwamm das Bild. Erst nach einer Weile sah er das Kreuz, das man ihnen auf Gemeindekosten hinge stellt hatte. Sie waren als gute Christen gestorben. Außer dem hatte die Polizei aus der Stadt längst die Fragereien eingestellt. Kein Beweis für die Blutschuld ihres Sohnes ! Aber halt auch keiner für seine Unschuld. »Verzeiht’s mir!« schluchzte der Jochen plötzlich auf. »Al les hab ich falsch gemacht! Angefangen hat’s mit dem Wildern. Dieb bleibt Dieb, und aus dem Dieb wird eines Tages der Mörder. Euch hab ich umgebracht, Mutter, Va ter!« Der Jochen brach in die Knie. Mit bloßen Händen scharr te er vom Elterngrab die Schneereste weg, wie wenn er ihnen damit ein bißl von der ewigen Kälte hätte ersparen können. Sinnlos! Das erkannte er und auch, daß ihn der Totengräber hätte im Teufelsgraben erfrieren lassen sol len. »Pfüat euch!« Als er durch den Friedhof zum Gittertor zurückging, war ihm noch sterbenselend zumute. Erst mit jedem Schritt vom Totenreich weg ins Leben wurde ihm klarer, daß er nicht aufgeben dürfe. Mit dem Jankerärmel wischte er sich übers Gesicht. Hin ter ihm lag jetzt das ärgste Elend im Doppelgrab. Von nun an konnte es für ihn nur noch besser werden. »Zwei Sachen muß ich in Roitern noch erledigen: meinen Koffer aus dem Armenhäusl holen und die Steffi aus dem Schneider-Häusl mitnehmen. Nachher sehen sie mich da nie mehr und können wieder ruhig schlafen. « Diesmal mußte er nicht mehr so lang an das Tor klopfen.
Man hätte meinen können, die Lena Steinegger habe hin ter der Tür auf ihn gewartet. Sie lächelte scheu und frag te: »Willst jetzt ’was essen?« Er hob abwehrend die Hand. »Keine Umständ mehr, ich bin gleich weg. « Der Hund kroch aus seiner Hütte und winselte glücklich. Leid tun konnte er einem, wie er an der Kette riß. »Kusch, Lutzl!« schrie ihn der Jochen an, weil sich einer wie er kein Mitleid mehr leisten konnte. »Ich hol meinen Koffer. Mehr hab ich im Armenhäusl nicht zu suchen. « In ihren grünen Augen stand so viel Mitgefühl, daß er sie gar nicht anschauen konnte. Sie bettelte beinahe: »Komm noch auf einen Sprung herein. Ich hab dir ein bißl Suppe heiß gemacht.« Er trat vor ihr ins Haus. Mit allem Lehm vom Friedhof an den Schuhen, ging er in die Küche. Ein paar Minuten Aufwärmen vor dem Weggehen. Er wollte die Dirn nicht kränken, aber in ihm war so viel Bitterkeit, daß er in den Kochtopf schaute, den Kohlgeruch einsog und fragte: »Ist das die Armensuppe von Roitern?« Sie ließ die Schöpfkelle sinken. Beinahe sah es aus, als würde sie es ihm endlich zornig zurückgeben, aber dann stellte sie doch ruhig den vollen Teller auf den Tisch und sagte: »Segne’s Gott!« »Vergelt’s Gott!«, dankte er. Ein paarmal löffelte er in sich hinein. Das Warme tat gut. Jetzt spürte er wieder Hunger und die Schwäche, weil er so lange nichts gegessen hatte. Er schaute zu dem Dirndl auf, das neben ihm stand und von seinem Gesicht ablesen wollte, wie es ihm schmeck te. Aus Erbarmen sagte er: »Hock dich halt her!«
Grad so, als ob er in dem Haus noch überhaupt etwas zu sagen gehabt hätte. Sie gehorchte sogar und setzte sich auf die äußerste Kante des Stuhls. Wie eine Bittstellerin vor dem Kain-Bauern! Weil er nichts weiter sagte, nur den leeren Teller zurückschob und den Löffel drauflegte, fragte sie schnell: »Willst nicht doch bleiben? Was wirst anfangen, Kain?« Was ging das die Leut vom Armenhäusl an? Er sagte frostig: »Dank für alles, ich geh jetzt.« »Schon?« Die Lena machte eine Geste, als wollte sie ihn zurückhalten. Aber er bemerkte nicht einmal, daß sie vor hin eine frische weiße Bluse und eine hübschere Strickja cke angezogen hatte. »Was ich fragen wollte . . .« Er setzte noch einmal zum Reden an, weil ihm ein Gefühl sagte, daß er zur Lena Vertrauen haben könnte. Dabei schaute er ihr nicht in die Augen, sondern starrte auf die Tischplatte. Die war noch genau so sauber gescheuert wie damals. Die Mutter plag te sich mit der Reisbürste ab, mit Soda und so heißem Wasser, daß ihre Hände allerweil rot aufgebrannt waren. »Was hast fragen wollen?« erinnerte ihn die Lena. Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Ist ohnehin alles gut so. Noch einmal: Dank für die Suppe und die freundlichen Worte. « Er nickte dem Dirndl zu und wandte sich zum Gehen. Als die Lena noch aus dem Küchenkastl einen Ranken Brot hervorholte und nach einem Stückl Käs kramte, ging er schon über den Hof. Seinen Koffer hatte er aus dem Vorhaus mitgenommen.
»Pfüat dich«, sagte ihm die Lena Steinegger von der Tür her nach. Plötzlich traute sie sich doch nicht, ihm das Brot zu geben. So jung sie war, hatte sie mit ihrer Groß mutter schon erfahren, wie verletzend sogar Hilfsbereit schaft sein konnte. Der Jochen hörte das Winseln. Zaghaft kroch der Lutzl aus seiner Hütte. Mit großen Augen bettelte er den Herrn an, den er auch nach fünf Jahren wiedererkannt hatte und den er noch immer hündisch liebte. Der Jochen wandte sich zur Lena zurück. »Liegt euch ’was an dem alten Hund? Den nimmt bestenfalls noch der Schinder, aber mir wäre er halt alles, was mir von damals geblieben ist. Von der Zeit, wie ich noch mit den Eltern auf dem Hof. . .« Die Stimme versagte ihm, so daß er nicht weiterreden konnte. Kantig drehte er sich weg und machte große Schritte zum Tor hin. Plötzlich war die Lena neben ihm. Er sah ihr rotes, an den Kopf gestecktes Haar. Weil akku rat in diesem Augenblick ein erster Sonnenstrahl durch die Wolken brach, schimmerte es goldig. Sie bat ihn: »Kain-Bauer, willst nicht deinen Hund mitnehmen? Der gehört zu dir!« Er konnte nur noch aufschluchzen: »Dalkerte Dirn!« Schon rannte sie zur Hundehütte, kettete den Lutzl ab und band ihn an einen Kälberstrick. Das andere Ende knüpfte sie zu einer Schlaufe, die sie dem Jochen in die Hand drückte. »Künftig mehr Glück in deinem Leben, Kain-Bauer. Mir tut’s nur leid, daß du von Roitern ärmer fortgehst, als du gekommen bist.«
»Was du allerweil für einen Schmarrn zusammenredest!« widersprach er ihr fast grob. »Wieso ärmer? Jetzt hab ich doch meinen Lutzl mit!« Ohne sich noch einmal umzuschauen, machte er die Hof tür auf und ging auf die Straße hinaus. Den Weg zum Schneider-Häusl war er während der letz ten fünf Jahre in seiner Sehnsucht unzählige Male gegan gen. Jeden Schritt kannte er noch. Er begann wieder zu leben und sagte sich : »Gehen wir halt zu dritt von Roi tern fort: die Steffi, der Lutzl und ich. Nur noch ein paar Minuten.« Das Haus des Schneiders Stephan Bilitsch lag ein Stück außerhalb des Dorfes, schon gegen den Waldrand zu. Weil der Bilitsch so tüchtig, fleißig und anständig war, verziehen ihm die Dorfleute seine Herkunft aus der Fremde. Seine Steffi hätte sogar einen Großbauern aus Siebenstein heiraten können! »Aber sie hat nur mich lieb, die Steffi«, sagte der Jochen grad andächtig. Als er gleich noch schneller ging, hum pelte sein Kettenhund so freudig neben ihm her, wie er das mit seinen gichtigen Beinen noch konnte. Schon tauchte aus dem Gewirr blattloser Äste das rote Ziegeldach des Schneider-Häusls auf. Aus dem Schorn stein stieg dünner weißer Rauch. In dem Augenblick ver gaß der Jochen alles Leid der letzten Stunden und Jahre. Er sagte zu seinem Hund: »Gelt, Lutzl, du mußt vordem Haus auf mich warten, damit wir keinen Schmutz hinein tragen. Die Steffi ist eine, die viel auf Ordnung und Sau berkeit hält. «
Er klopfte an die Tür und wartete, daß sie aufspringen und sich ihm die Steffi mit einem glücklichen Schrei an die Brust werfen würde. Die Tür wurde von innen her langsam aufgezogen. »Steffi!« Nach Jahren der Sehnsucht brach es wie eine Er lösung aus ihm. Auch die Steffi packte es. Sie schaute jetzt beim Wiedersehen gerade so totenblaß aus wie da mals in der Abschiedsstunde. Nicht ein Wörtl brachte sie über die Lippen, und keinen Finger konnte sie rühren. Er hielt in der einen Hand seinen schäbigen Koffer, in der anderen die Leine mit dem schäbigen Hund. Im Traum war alles anders gewesen. »Ich bin wieder da, Steffi! Grüß dich!« »Ich weiß schon, daß du . . .« Sie konnte nicht weiterre den. Bedächtig und behutsam war er bei ihr immer gewe sen. Bis auf die letzte Stunde in der Heuhütte! Damit sie sich keine falschen Hoffnungen machte, sagte er gleich: »Ich werd aber nicht in Roitern bleiben können. Die El tern auf dem Friedhof, den Hof verloren. Grad meinen Hund hab ich noch, und den nehm ich mit. Niemand in ganz Roitern hat gesagt, der Kain sollt über seine Schwel le ins Haus kommen.« Als hätte er mit diesen Worten sie gemeint, wurde ihr be wußt, daß sie noch an der offenen Tür standen, und sie sagte: »Kommst halt herein. Die Kälte zieht sich sonst ins Haus.« »Ja. « Er machte eine unsichere Geste auf seinen Hund. Weil die Steffi schon allerweil ein gutes Herz gehabt hat te, entschied sie: »Den Armen mußt nicht heraußen las
sen. Soll er halt im Vorhaus auf dich warten.« »Auf mich warten«, wiederholte der Jochen, auch wenn er noch nicht genau begriff, was ihre Worte besagten. Im Vorraum hingen ein paar Lodenmäntel. Schuhe standen auf einem Tuch zum Trocknen und waren mit Zeitungs papier ausgestopft. Der Jochen stellte seinen Koffer dazu. »Lutzl, du paßt auf!« Nie war der Kettenhund zu irgend etwas abgerichtet worden, aber mit dem Instinkt des Treuen verstand er gleich, was er tun sollte. Hoch aufgerichtet setzte er sich neben den Koffer und legte eine Pfote gerade dorthin, wo der bunte Zettel »Venezuela« klebte. »Komm in die Stube«, forderte ihn die Steffi auf, aber noch im selben Atemzug verbesserte sie sich: »Oder blei ben wir lieber in der Küche. « Sie ging voran. Schön war sie! Nicht genau so, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte, sondern weicher, fraulicher. Weil sie ihn offensichtlich erwartete, hatte sie ein hüb sches Dirndlkleid angelegt mit einer blendendweißen Bluse. Die Strickjacke darüber war nicht zugeknöpft. Un ter dem eng geschnittenen Mieder zeichneten sich rund gewordene Brüste ab, doch ihre Mitte war noch immer so schmal, wie wenn sie siebzehn und nicht schon zweiund zwanzig gewesen wäre. In der Küche schob sie ihm einen Stuhl hin, aber er setzte sich nicht, und sie machte schnell einen Schritt rück wärts. Statt daß sie sich endlich an seine Brust geworfen hätte, verrückt vor Freude, Glück und Sehnsucht! Wieder war alles ganz anders, als er es sich ausgemalt hatte.
»Ist ’leicht dein Vater daheim?« suchte er nach einer Er klärung für ihr Verhalten. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Jochen, wir sind allein im Haus, denn der . . .« Sie verstummte, und im nächsten Augenblick brach es aus ihr: »Warum hast du nie ge schrieben!« Das hatten ihn an diesem Tag schon so viele gefragt, daß er es jetzt mit einem Achselzucken abtat. Heiß war es in der Küche. Wo das silbrig angestrichene Rohr aus dem Herd kam, glühte es. Mit dem Handrücken wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Er fragte zurück: »Bist mir ’leicht deswegen bös? Gedacht hab ich an dich in jeder Stund. Es wäre für dich damals nicht gut gewe sen, hättest du eine Nachricht vom Mörder Kain ’kriegt. Damit das auch gleich gesagt ist: Ich bin ein armer Hund geblieben. Auch nicht viel besser dran als der Lutzl. Die Ketten haben mich wund gescheuert. Was hätt ich dir da schreiben sollen? Es ist mir schwer genug gefallen, an das Gericht zu schreiben. Dafür hat mir jemand fünf Zeilen mit der Maschine geschickt. Für jedes Jahr eine. Der Mordfall Feltinger ist als unaufklärbar abgelegt worden. Zumindest fällt auf mich kein Verdacht mehr. Ich könnt also heimkommen. Jetzt bin ich da.« Die Steffi war noch einen Schein bleicher geworden, und ihre Hände irrten hilflos über den Tisch, als wischte sie einen Schmutzfleck fort, der ohnehin nicht zu sehen war. Ihre Angst steigerte sich zur Panik, bis sie kaum hörbar flüsterte: »Er wird bald heimkommen.« »Dein Vater?«
Schwerfällig, als lähmte etwas ihre Lippen, sagte sie: »Der Vater kommt überhaupt nicht mehr. Wärst auf dem Friedhof ein bißl herumgegangen . . .« »Das tut mir leid, Steffi. Mein Gott, da bist du ganz allein! Das muß schwer gewesen sein in all der Zeit.« Der Jo chen duckte sich, als ahnte er schon den nächsten Schlag. Aber das mußte alles ausgeredet werden. Ruhig wollte er bleiben, um nicht auch noch die Steffi zu verlieren. Den noch klang seine Stimme vor Feindseligkeit heiser. »Wer wird kommen, Steffi? Haust bei dir vielleicht ein Schnei dergesell, der die Werkstatt von deinem Vater übernom men hat? Ich könnt’s verstehen. Alles, Steffi, wenn du nur ... « Aus seiner quälenden Ungewißheit erlöste sie ihn mit ei ner noch viel schrecklicheren Gewißheit: »Mein Mann.« »Dein . . .«Er konnte sich nicht mehr rühren. So also war das Ende! Plötzlich jagte ihr eine brennende Röte ins Gesicht. Weil sie auch noch das Ärgste sagen mußte, rechtfertigte sie sich flüsternd: »Er hat mich gern. Ein anständiger, ehrli cher Mensch. Und von dir hab ich schon vier Jahre lang nichts gehört gehabt.« Der Jochen begriff kein Wort. Das Warten hatte sie ihm versprochen und ihm dafür das größte Unterpfand gege ben: in der letzten Stunde, draußen in der Heuhütte, als sie ihn schon hetzten. Tonlos röchelte er heraus: »Wegge nommen hat er dich mir! Aber ich werd ihn mir packen, und dann können die Leut zurecht von einem Mörder Kain reden! Mir ist alles gleich!«
Da brach die Steffi zusammen. Sie sank vor, so daß er sie mit den Armen umschlingen mußte. Schon im nächsten Augenblick riß sie sich von ihm wieder los. Doch als sie seine Rechte von ihrer Mitte wegschob, zog sie seine Hand schnell an die Lippen und drückte ein unbe schreiblich liebes Bussel drauf. Nur in dieser Sekunde ahnte er, was sie gelitten haben mochte. Aber schon ihr Schritt zurück war der endgültige Schritt von ihm weg. Jetzt konnte sie sogar aussprechen, was sie vorhin nicht über die Lippen gebracht hatte: »Wenn du zu mir anständig sein willst, nachher haust du mir mein Leben nicht noch einmal zusammen.« Er fühlte, daß es in ihm kalt wurde. Wie eine Todfeindin fragte er sie: »Hab ich dir ’leicht schon einmal dein Leben zerstört?« »Ja, das hast du! Allerweil wieder!« Sie schrie es heraus, weil ihr jedes Wort half, sich gegen ihn zu wehren. »Wie du fort bist und dich nicht gestellt hast! Wie du mich jah relang ohne ein Sterbenswörtl gelassen hast! Wie die Post-Marie tausendmal für mich keinen Brief gehabt hat! Daran wär ich beinahe zugrund gegangen. Aber eines Ta ges ist er zu mir ’kommen und hat gesagt: Ich nehm dich zum Weib. « Das grausame Lachen vom Jochen schnitt der Steffi bis in die Seel. Er schrie es heraus. »So ein Glück! Bist mit ihm erst zur Gaudi in unsere Heuhütte ’gangen? Oder bist diesmal vorsichtshalber gleich ins Brautbett gesprungen?« Weil sie selbst schon so arg gelitten hatte, verstand sie
den Jochen. Nach einer kleinen Weile konnte sie sogar ru higer weiterreden. »Es ist alles nicht so gewesen, wie du meinst. Ich hab ihm gleich gesagt: Weißt eh, daß ich ein mal den Jochen Kain lieb gehabt hab. « »Lieb gehabt hab!« schrie er auf. Er lachte nicht mehr. In seinen Augen glühte plötzlich der Haß eines Hilflosen, der an diesem Tag schon mehr hatte hinnehmen müssen, als er je ertragen könnte. Dabei ahnte er noch nicht, was er noch hören würde! Die Steffi hatte damit angefangen und mußte es sich von der Seele reden. Anders hätte sie nicht mehr an der Seite von ihrem Mann weiterleben können. Sie holte tief Atem. Um alles in der Welt wollte sie weitersprechen und sich auch nicht einmal gegen Gewalt wehren. Jede Strafe wollte sie hinnehmen. Sie flüsterte, weil ihr das Geständ nis plötzlich unmenschlich grausam vorkam: »Er hat ge sagt: Steffi, hat er gesagt, ich werd dir nie einen Vorwurf machen. Der Kain ist gestorben, und auf einen Toten schmeiß ich keinen Stein. Werd mein Weib, Steffi, und ich will dich allerweil ehren.« Der Jochen war schon an der Tür zum Vorhaus, seinen Koffer und den Kettenhund nehmen! Noch einmal ver suchte er, sie zu packen. Zwar berührte er sie nicht mit der Hand, aber er beschwor sie: »Gesteh’s dir, daß du nur mich lieb hast! Komm mit mir!« Unerwartet machte er einen Schritt auf sie zu. Ein Bussel, und sie wäre mit ihm gegangen. In die Fremde, in ein wildes Zusammenleben, ins Elend, vielleicht sogar in die Schand! Sie wäre verloren gewesen. Aus panischer Angst
vor dieser Versuchung schrie sie ihm entgegen: »Rühr mich nicht an, Kain! Mein Mann tat dich umbringen! Der Ulrich! Der Bruder vom Rupert Feltinger, den du ... « Das letzte Wort erstickte ihr doch in der Seele. Er torkelte durchs Vorhaus, packte den Koffer und rannte davon. Den eisigen Wind, der ihm Regen und Schnee matsch ins Gesicht schlug, spürte er nicht. Nur weg von hier! Fort vom Dorf, von der Steffi Feltinger! Gefühllos, fast schon wie ein Toter, torkelte er weiter. Erst als er schon über die Wiesen zum Salbach hinunterkam, konnte er nicht mehr weiter. Der stechende Schmerz in der Brust ließ ihn auf die Knie fallen. Und dann schreckte er zusammen, weil etwas Nasses, Weiches seine Hand be rührte. »Hundsviech, räudiges!« schrie er auf. »Werd ich euch niemals mehr los? Renn um dein Leben, oder ich ... !« Im nächsten Augenblick schlang er die Arme um den Lutzl und vergrub sein Gesicht im Fell. Schluchzend drückte er ein Bussel auf den von Ketten schäbig ge scheuerten Hals. So also ging der Jochen Kain wieder von Roitern fort. Sei nen Hund führte er am Kälberstrick. »Das muß sein, weil uns sonst der Mann von der Steffi Feltinger mit dem Ge wehr kommt. Wildernde Hunde und wildernde Men schen müssen abgeknallt werden!« Der Köter schaute zu ihm auf, als verstünde er jedes Wort. Keine beschnittenen Ohren, und triefäugig war er auch schon. Zwischen den Weiden gluckste leise das Wasser des Salbachs. Hier schlängelte er sich über die
Wiesen hin, die einmal zum Kain-Hof gehört hatten. Im Sommer konnte man gefahrlos durchwaten, aber jetzt schmolz der Schnee sogar schon im Massiv des Sieben stein-Kamms. Der Jochen starrte ein paar Sekunden ins Wasser. Die Steffi schaut ihm entgegen, weil sie sich in dem dunklen Spiegel betrachtet. Glücklich lachend und so schön! Nicht einmal die Augenblicke des Zurückträu mens gönnte ihm das Schicksal. Akkurat jetzt brach ein Unwetter los. Der eisige Sturm jagte Wasserfetzen vom Berg herunter, in die Wälder und über das Dorf Roitern. »Komm, Lutzl! Du hast nur mehr wenig Haar, und mein Janker läßt das Wasser genauso durch. « Die nasse Kälte nahm ihm die Luft zum Reden. Er rannte los und zerrte den Hund hinter sich her. Am Wald die Hütte vom ehe maligen Kain-Hof ! Der Jochen riß den Riegel auf und ließ sich hineinfallen. Da war sogar Heu. Noch aus der Zeit der Eltern her. Oder ... ? Erst einen Augenblick zu spät dämmerte ihm, was er getan hatte. Nie mehr hätte er grad hierher kommen dürfen! Er vergrub sein Gesicht ins Heu, als müßte er dann nichts mehr sehen und hören. »Gib mir vor dem Fortgehen noch ein Bussel«, flüstert die Steffi und legt die Arme um ihn. Es ist eine warme Sommernacht, grad gemacht für die Lieb. Aber der Jochen drängt sie von sich. »Ich muß fort! Nur weil das Gitter vom Gemeindekotter so rostig ist, hab ich es aufbiegen können. Sie hetzen schon hinter mir her! Wer weiß, wann ich mich wieder heim trauen kann. « Sie verschließt ihm den Mund mit einem Bussel, wie er
noch keines bekommen hat. Als er sie sanft streichelt, spürt er die Tränen in ihrem Gesicht, und sie flüstert ihm zu: »Heut ist unsere Hochzeit. Jetzt! Wenn dich alle im Stich lassen, steh ich zu dir, Jochen. In guten und in bö sen Stunden, bis daß der Tod uns scheidet.« »Spinnertes Dirndl«, flüstert er verzweifelt, aber die schrecklichste Stunde wird zur schönsten in seinem Le ben. Dabei vergißt er ganz, daß ihm die Dorfleut voll Haß ins Gesicht geschrien haben: ›Mörder Kain!‹ Durch das Dach der Heuhütte schimmert golden das Licht von fünf Sternen. Grad so, wie wenn es auf der Welt nur Liebe und Frieden ... Er schreckt zusammen, zittert vor Angst um sein Leben und noch viel mehr um das von der Steffi. »Jochen, mein Jochen«, flüstert sie glücklich. »Mein Mann!« Als er ihr die Hand über den Mund preßt, tut er ihr weh. Heiser vor Angst, flüstert er: »Ich geh hinaus, Steffi. Wenn sie mir nachsetzen, wartest du ein paar Minuten. Nachher schlüpfst du bei dem losen Brett durch die Hüt tenwand.« Sie will ihn nicht gehen lassen, krallt sich fest. Er muß sich von ihr wegreißen. Draußen brüllen sie schon: »Mör der Kain ! Kriech aus deinem Versteck, oder wir stechen dich mit Heugabeln heraus!« »Ich hab einen Strick da! Soll ich dich aufhängen?« In den Ritzen zwischen den Hüttenbrettern wird es heller als von tausend Sternen. »Wir zünden dir die Hütte an!« Noch ein wildes Bussel. Die Steffi kann nicht fassen, daß diese Sekunden das Ende von ihrer jungen ersten Liebe
bedeuten sollen. »Jochen, hol mich nach! Ich geh mit dir überall hin, auch ins Elend.« »Ich schaff’s«, verspricht er ihr. »Und ich schreib dir be stimmt.« Männer dreschen mit Prügeln gegen die Tür. »Rauskom men, Jägermörder! Wir kriegen dich!« Wütendes Hundegekläff. Schweiß rinnt dem Jochen über die Stirn. Er schreit gellend seine Todesangst nieder, wirft sich gegen die Tür und stürzt ins Freie. Den PuchingerBürgermeister und den Gendarmen Fritz Schmiedl stößt er zur Seite, aber ein Hund springt ihn an und verbeißt sich in seinen Janker. Halb wahnsinnig, reißt der Jochen dem nächsten Bauern einen kantigen Prügel aus der Hand. Dann tut er etwas Schreckliches - Er drischt auf das Tier hin, zweimal, dreimal. Mit zerbrochenem Rücken wälzt sich der Hund vor ihm. Diese Schmerzens schreie gellen ihm in den Ohren, bis in die Fiebernächte im Dschungel. Diese grauenvollen Schreie beim Sterben! »Aufhören!« stöhnte der Jochen und packte den Hund am Hals, um ihn zu erwürgen. Nur das nicht mehr hören müssen! »Da haben wir dich!« brüllte der Bürgermeister Puchin ger und packte den Jochen an der Schulter. Wie er ihn rüttelte, tat es höllisch weh, denn der Großbauer war für seine Bärenkräfte berühmt, und der Kain hatte kein Fleisch mehr auf den Knochen. »Kommst uns doch nicht aus!« sagte das dicke Gesicht hinter ihm, das zum Gendarmen Fritz Schmiedl gehörte. »Gut, daß du deinen Köter so fest um den Hals hast,
denn der tät uns am liebsten anspringen. Ein richtiger Mörderhund!« »Depp«, knurrte der Bürgermeister. Und zum Kain vor wurfsvoll: »Das ist nicht schön von dir, daß du dich schon wieder in aller Heimlichkeit davonschleichen willst. Mach es uns nicht so schwer, Jochen ! Jeder in Roi tern hat den guten Willen, dir aus deinem Unglück zu helfen.« Eine ganze Weile fand sich der Jochen nicht zurecht. Wo hin war die Steffi verschwunden? Das Bussel mit dem großen Versprechen! Vor fünf Jahren. Um diese Stunde richtete sie ihrem Mann, dem Feltinger, grad das Essen. Und nachher das Bett. Der Jochen wachte erst ganz auf, als er merkte, wie starr ihn der Lutzl anschaute. Da murmelte er: »Um Gottes willen ! Beinahe hätt ich noch meinem einzigen Freund das Genick gebrochen.« »Wir alle sind deine Freunde!« verwies ihn der Puchinger mit einem zornigen Lachen. »Vorerst kommst zurück ins Dorf. Du mußt ’was essen und trinken, denn das hält Leib und Seele zusammen. Nachher reden wir alles in Ruhe aus.« Die zwei bärenstarken Männer nahmen ihn einfach in die Mitte und brachten ihn nach Roitern zurück. Auf der Dorfstraße hakte sich der Bürgermeister bei ihm unter, damit es alle Leute sahen. Der Schmiedl-Gendarm zerrte den widerspenstigen Lutzl am Kälberstrick mit. Beinahe so, wie wenn er einen festgenommenen Wilderer zum Gemeindekotter geschleppt hätte. Aber sein rundes Ge
sicht strahlte, und er lockte freundlich: »Weitergehen, Hunderl! Du tust grad, als ob ich dich zum Schinder füh ren wollt. Komm, es gibt ein gutes Fressi!« Den Jochen packte eine bleierne Müdigkeit. Er schwankte nur so zwischen dem Gendarmen und dem Bürgermeis ter dahin. Ein paar Dorfleute standen auf der Straße bei sammen. Gleich rief ihnen der Puchinger fröhlich zu: »Stellt euch vor, Leut, unser Kain ist heimgekommen! Der Weg hat ihn müd gemacht. Aber wenn er einmal beim Gams-Wirt über seine Erlebnisse erzählt, halt ich je den mit einer Maß Bier frei, der zuhören will!« Die Dorfleut schauten ehrlich überrascht auf. Einige winkten zur Begrüßung, wie wenn der Jochen ein Prinz gewesen wäre. Sie taten alle so, als hätten sie erst grad jetzt von seinem Heimkommen erfahren. Den Puchinger-Hof hatte er immer als den schönsten in Erinnerung behalten. Dabei war der Großbauer und Bür germeister auch gegen die kleinen Leute nie hochnasert gewesen. Im Gegenteil. Er hatte es sogar gern gesehen, wenn in alten Zeiten der Jochen als Schulbub mit seinem Sohn, dem Fritz, spielte. Sie waren fast gleichaltrig und zwei richtige Lausbuben gewesen. Als sie der Puchinger einmal beim Fischen im Salbach erwischt hatte, verzich tete er auf eine Anzeige bei der Polizei und verabreichte ihnen nur eine Tracht Prügel. Auch wieder menschlich verständlich, daß er bei seinem Buben nicht ganz so fest zudrosch wie beim Jochen vom Kleinbauern Kain. Sie traten durch das große Hoftor. Hier herrschte gedie gener Reichtum ohne Pflanz. Dem Jochen war, als dürfte
er einmal ins Paradies eines Bauern schauen. Unter ei nem Holzdach standen vier Traktoren arbeitsbereit. Aus der Scheune leuchtete das Metall eines mächtigen Mäh dreschers, und da waren noch ein paar andere Maschi nen, wie sie der Kain gar nicht kannte. »Willst in den Stall mitkommen?« fragte der Puchinger. Da achtete der Jochen überhaupt nicht mehr auf seinen Koffer, den ein Knecht ins Wohnhaus trug. An der Stall tür schlug ihm die lebendige Wärme der Tiere und der wunderbare Geruch nach Sauberkeit und Mist entgegen. »Da fühlt sich halt das Vieh wohl«, sagte er leise. Der Puchinger lachte stolz und wohlwollend. »Eh klar, Kain. So muß es sein. Zuletzt wartet doch der Schlachter, aber bis dahin ... Naja, uns Menschen geht’s auch nicht viel besser.« Der Jochen ging schon von einer Kuh zur nächsten. Sei dig glänzendes Fell, die Euter prall voll Milch. Drei Mäg de kamen mit Melkschemeln. Als sie neben ihrem Bauern den Fremden sahen, schreckten sie zurück. Der Puchin ger tätschelte das jüngste Dirndl wohlwollend auf den Hintern und erklärte augenzwinkernd: »Das Handgefühl ist wichtig! Ich will damit sagen: Auf den Puchinger-Hof kommt mir keine elektrische Melkmaschine. Verstehst, Kain? Die Berührung zwischen Mensch und Vieh ist ge nauso wichtig wie zwischen Mensch und Mensch.« »Weiß ich«, stimmte ihm der Jochen bei. Er wäre be stimmt gesprächiger gewesen, hätte seine Verbindung zu den Leuten von Roitern vor fünf Jahren kein gar so schmerzhaftes Ende gefunden.
Sie gingen durch die sieben größten Ställe. Auf dem Rückweg zum Wohnhaus sagte der Puchinger zu allen Dienstleuten, denen sie begegneten: »Das ist der KainBauer, mein alter Freund!« Wie in jedem Bauernhaus, gab es auch hier einen Vor raum. Da hingen aber gute alte Bilder neben großartigen Trophäen aus der Gemeindejagd. Selbstverständlich schlüpfte der Jochen gleich aus seinen verlatschten, durchnäßten Schuhen. Dafür lobte ihn der Bürgermeis ter: »Recht so. Fühl dich wie daheim! Für wenigstens eine Woche bleibst du mein Gast. Bis dahin werden wir das Wichtigste geregelt haben.« Und weil der Jochen unent schlossen vor ihm dastand, ermahnte er ihn väterlich: »Was schaust du mich so verdattert an, wie wenn dir die Hendl das Brot weggefressen hätten? Ich weiß noch nicht, wie ich das deichseln soll, aber alles wird ein gutes Ende finden.« Für ein paar flüchtige Sekunden glaubte der Jochen sogar an Wunder. Dann fiel sein Blick in den alten Bauernspie gel, der an der Wand hing. Aus dem schönen, handbe malten Rahmen starrte ihm ein abgezehrtes Gesicht ent gegen. Das war kein Bauer mehr. Bestenfalls einer, der froh sein mußte, wenn er irgendwo als Taglöhner unter kriechen konnte. Leise bat er: »Puchinger, mach mich nicht narrisch. Das Beten und das Glauben hab ich ver lernt.« Bevor ihm noch der Bürgermeister versichern konnte, daß er seine Wahlversprechen noch immer gehalten habe, tauchte im Spiegel ein zweites Gesicht auf: jung, strah
lend fröhlich, voller Lebenskraft. « Ja, grüß dich, Jochen! Schön, daß du wieder daheim bist!« Zum ersten Mal, daß der Kain an die Ehrlichkeit solcher Worte glaubte. Er wandte sich nach dem Sprecher um. »Fritz! Alsdann, dich hätt ich überall auf der Welt sofort erkannt, denn du hast dich nicht ein bißl verändert. « Der Sohn vom Bürgermeister wollte nicht sehen, wie elend sein bester Schulfreund aussah. Während sie einan der die Hände schüttelten, sagte er: »Wir zwei verändern uns höchstens äußerlich. Im Grund bleiben wir allerweil dieselben Lotter. Weißt noch, wie wir miteinander die Kirschen vom Lehrer-Häusl gestohlen haben?« Der Jochen lachte, und das fiel ihm auf, wie wenn er einen Fremden gehört hätte. Ja, er lachte und sagte: »Wir sind schon richtige Malefizbuben gewesen! Essen haben wir das unreife Zeug nicht können, aber wir haben es halt ausgerechnet aus dem Schulgarten geholt. « Der Fritz nickte versonnen und wurde recht ernst. »Er hätt aber auch mit dem Staberl nicht gar so grob zudre schen müssen. Ein Roß, das man haut, schlägt aus.« Auch das bißl Glück im Gesicht des Jochen fror schnell wieder ein. »Ja, Fritz. Wer allerweil g’haut wird, kann leicht ein schlechter Kerl werden.« Der Puchinger-Vater legte einen Arm um die Schultern vom Fritz, den andern auf die vom Jochen. Zu seinem Buben sagte er: »Ich habe ihm schon ’was vom Hof ge zeigt, und da hat es ihn grad umg’haut vor Staunen. Er weiß auch schon, daß ich an dich übergeben hab.« Bescheiden wehrte der Fritz gleich im vorhinein ab:
»Wenn ich aber auch vom Vater einen so gesunden Hof übernommen hab! Da müßt einer schon ein Riesendepp sein, wenn er abhaust.« Der Jochen hörte den jungen Puchinger-Bauern wie von weit her reden. Er sah nur wieder im Spiegel die zwei Gesichter: das zuversichtlich strahlende vom Fritz und daneben das seine, das fast schon an eine Mumie erinner te. Mitten drein in seine Verzweiflung hörte er den Bür germeister väterlich gütig sagen: »Ich seh halt schon wie der bald einen Kain-Bauern auf seinem Hof hausen!« Als der Jochen in dieser Nacht aufwachte, fand er sich überhaupt nicht mehr zurecht. Weder in der Kammer noch in seinem Leben. Mit soviel Hoffnung war er heim gekommen. Aber: die Eltern auf dem Friedhof, die Steffi im Ehebett vom Jäger, und auf seinem Hof machte sich eine zänkische alte Vettel mit ihrer rothaarigen Enkelin breit! Hatte nicht trotzdem der Bürgermeister Karl Puchinger ihm versprochen, daß er alles wieder in Ordnung brin gen wollte? In die Dunkelheit hinein sagte der Jochen: »Vorsichtig sein! Nicht gleich den Köder schnappen, denn an jeder Angelschnur sitzt auch ein Haken!« Viel weiter kam er mit seinem Denken nicht, weil plötz lich neben ihm jemand ganz fürchterlich schnarchte. Ein Knecht? Er griff seitlich aus dem Bett. Eines der Schlappohren vom Lutzl! Er zog daran, und das Schnar chen verstummte. Jetzt hätte der Jochen weiterschlafen können, aber da hockte ihm ein Angstteufel schwer auf der Brust. Der
marterte ihn ab, bis er ins Schwitzen kam. »Ich muß neh men, was sich mir bietet. Viel wird es ohnehin nicht mehr sein in meinem Leben.« Bevor es noch draußen grau wurde, erwachte der Pu chinger-Hof zum Leben. Dienstleute polterten durchs Haus, und da stieg auch der Jochen aus der Bettstatt. Er wusch und rasierte sich und riß mit dem Kamm durch sein struppig gewordenes Haar. Nachdem er das Bett ge macht hatte, ging er die Holztreppe hinunter. Vor der Küchentür kriegte er wieder Hemmungen. In den letzten fünf Jahren hatte er sich oft genug durchbet teln müssen, aber was gab ihm das Recht, hier ein Früh stück zu erwarten? Nur weil der Bürgermeister etwas gutmachen wollte? Da ging die Tür auf. Der Puchinger Fritz schaute ganz er staunt drein. »Morgen, Jochen! Du hättest nicht gleich am ersten Tag so zeitig aus den Federn kriechen müssen. « »Ein altes Kavallerieroß rennt auch beim ersten Trompe tenton los«, gab der Jochen zurück. »Warum sollt das bei einem ehemaligen Bauern anders sein?« Diese Antwort gefiel offensichtlich dem Fritz. Er bat mehr, als daß er befahl: »Gelt, bleibst nicht in der Kuchl, denn es müssen nicht alle zuhören. Der Vater wartet auf dich in der Stube. Er wird mit dir reden. Keine Angst, Jo chen, er hat ’was für dich.« »Ja, Fritz.« In der Küche sagte er dann recht unsicher: »Guten Morgen, alle miteinander.« Die Knechte waren schon auf dem Feld, weil sie an die sem Vorfrühlingstag Jauche führen und Mist breiten soll
ten. Vier Mägde werkten in der Küche herum, als gäbe es dort für sie genug Arbeit. Sie räumten Kastl aus, polier ten den Kochkessel glänzend und schrubbten den Tisch. »Guten Morgen, Jochen«, kam es vierfach zurück. Eine fünfte Dirn, eine ganz junge, streckte ihren Kopf aus der Speisekammer und lachte dem Neuen besonders lieb zu. Sie kannte ihn nur aus den grauslichen Geschichten, die man über ihn flüsternd erzählte. »Vielleicht kommst bald herein!« donnerte der Karl Puchinger durch die zuge machte Tür. Der Jochen klopfte und trat schnell in die Stube. »Guten Morgen, Herr Bürgermeister.« Der paffte den Rauch aus einer Zigarre heraus und warf ihm einen scharfen Blick zu. Auf die gleiche Weise schätzte er Menschen und Vieh ab. Noch nie hatte ihn ei ner täuschen können: kein Knecht, kein Kornaufkäufer, nicht einmal der Roßhändler. Schon nach kurzer Zeit sag te er: »Alsdann, steh nicht wie ein Bittsteller da, sondern hock dich.« Dann brüllte er: »Nannerl, das Frühstück für den Kain! Aber ein starkes mit ein paar Eiern und Speck, damit er mir wieder zu Kräften kommt!« »Geh, Bürgermeister, das wär doch nicht notwendig und ... « »Still bist, solang ich nicht ausgeredet hab!« wies ihn der Puchinger zurecht. Als im nächsten Augenblick die ganz junge Dirn das längst vorbereitete Frühstück herein brachte, scherzte der Puchinger: »Fang ruhig mit dem Es sen an, Kain. Mich stört’s nicht beim Rauchen.« »Vergelt’s Gott!«, sagte der Jochen, wie er sich das in fünf
Jahren so angewöhnt hatte. Gleich erschrak er, weil diese Worte wieder ganz nach einem Bettelmann geklungen hatten. Zum Glück schien der Bürgermeister gar nicht zugehört zu haben. Der paffte mit aufgeblasenen Wangen den Rauch heraus, bis er nach einer Weile sagte: »Als dann, Jochen, ich hab darüber nachgedacht, wie man dir am besten helfen könnte. Mit dem Kain-Hof geht im Au genblick noch nichts. Ein Hof wird bald zum Ar men-häusl, aber es dauert seine Weil, bis man aus einem Ar-menhäusl wieder einen lebensfähigen Hof macht. Ich hab beschlossen : Die nächsten Monate wirst du beim Fritz arbeiten. Essen und Lohn wie jeder andere Knecht auch. Schlafen wirst du schon im Armenhäusl ... Nicht bös sein, wenn ich mich versprech. In den letzten Jahren haben wir allerweil nur so gesagt, und da gewöhnt man sich nicht so bald wieder um. Alsdann, wie ich meinen Fritz kenn, wird er dich mit der Arbeit hier nicht zu Tode schinden. Bestimmt bleibt dir genug Zeit und Kraft, daß du nebenbei den Kain-Hof neu aufbaust. Bis auf weiteres gehört er noch der Gemeinde, weil ich ihn für sie erstei gert hab. Sei froh, daß ich für die abgewirtschaftete Keu schen nicht viel gezahlt hab. Dafür können wir dir den Hof ebenso billig zurückverkaufen. Vorerst verpachtet ihn dir die Gemeinde. Zeitgerecht verschaff ich dir einen Bankkredit für Saatgut und Vieh.« Wieder einmal meinte der Jochen zu träumen. Vergessen war, was er alles verloren hatte. Er sah nur mehr vor sich, was er schaffen könnte. »Ich werd mich abrackern bis zum Umfallen! Auch auf deinem Hof, Bürgermeister!«
»Auf dem Hof vom Fritz«, verbesserte ihn der. Mit sich selbst zufrieden, schloß er: »Allerweil schön, wenn man jemandem beistehen kann.« Eine Viertelstunde später ging der Puchinger mit dem Kain zu den Ställen hinunter. Beim Brunnen begegneten sie einem blutjungen Dirndl. Der Jochen dachte gleich, daß es nicht so recht hierher paßte. Für ein Landmädel war es zu blaß und auch zu schwächlich. Weißblondes Haar, hellgraue Augen und keine Bräune von der Feldar beit im Gesicht. Farblos, konnte man sagen, aber es nickte freundlich: »Grüß dich, Jochen.« Das klang so schüchtern, als müßte es für sein Hiersein um Verzeihung bitten. Der Jochen fühlte sich nicht weni ger befangen und grüßte zurück: »Guten Morgen. Gelt, ich weiß nur nicht, wohin ich dich tun soll.« Während sie ihm die Hand nach der Art von einem Stadtfräulein reichte, erklärte der Karl Puchinger eine Spur gering schätzig: »Du wirst doch meine Tochter kennen, die Su sann. Ich weiß allerdings auch nicht, wo ich sie hintun soll. Den Hof hat der Fritz bekommen, da hat’s nichts. Alsdann soll meine Susann eine Lehrerin werden.« »Ich hab noch eine Arbeit«, sagte die Puchinger-Tochter und entschuldigte sich schon wieder mit einem Lächeln. Sie ging zum Wohnhaus hinüber. Hinter ihr grollte der Vater nach: »Auch eine, die nicht einsieht, daß ich es gut mit ihr mein. Wie die Susann ausschaut... Mein Grund satz als Bürgermeister: Ehrlich alles heraussagen, auch wenn die Wahrheit einmal weh tut. Ein richtiger Bauer tät sie höchstens wegen der Mitgift nehmen, aber mit
Geld allein kann man sich kein ganzes Lebensglück kau fen. Für eine gute Lehrerin langt’s bei ihr, aber eine gute Bäuerin war sie nie!« Der Jochen Kain nickte. Damit gab er dem Bürgermeister recht. Was hätte er anderes tun sollen? Inzwischen war der Puchinger schon weitergegangen. Unvermittelt sagte er: »Ich wohn nicht mehr auf dem Hof.« »Wo nachher?« Der Jochen erschrak, weil er im Bürger meister seine letzte Hoffnung auf eine bessere Zukunft sah. »Im Ausgeding-Häusl, wie es einem Bauern zusteht, der an seinen Sohn übergeben hat.« Der Puchinger konnte gut lachen, denn sein Altenteil war immer noch schöner als mancher Hof in Roitern. Es klang ein bißl traurig, als er weiterredete. »Ich war auf dem Hof zu nichts mehr gut. Die Pflichten als Bürgermeister zum Wohl für alle haben mich schon damals mehr in Anspruch genommen ... Und da ist noch sie!« Als der Jochen zum Ausgeding-Häusl hinüberschaute, sah er am Fenster ein Frauengesicht. Das reiche, hochgesteckte Haar schimmer te silbrigweiß. Sogar die strengen, verhärmten Gesichts züge verrieten noch Schönheit. Jetzt waren die Mund winkel verächtlich oder feindselig abwärts gezogen. Die großen, dunkel brennenden Augen starrten auf den Jo chen. Dem wurde es ganz unheimlich. Leise fragte er: »Bürgermeister, wer?« Der fragte bitter zurück: »Kennst sie nimmer, die Afra? Mein Weib.« Noch rechtzeitig verbarg der Jochen sein Erschrecken. Er
machte eine Verbeugung zu dem Fenster hin und schrie: »Grüß dich, Frau Bürgermeister!« Das Gesicht blieb regungslos wie eine Totenmaske. Has tig zog ihn der Puchinger weiter. Erst als sie außer Hör weite waren, sagte er: »Wart auf keine Antwort. Sehr bald nach ... nach deiner Flucht ist die Afra krank geworden. Das hat mit Fieber angefangen, und eine Woche später ist die Lähmung dazugekommen. Mit der Zeit ist das so schlecht geworden, daß sie sich kaum mehr bewegen und nicht mehr sprechen kann. Zur Not kritzelt sie ’was auf ein Papierl. Sie hat damals vom Fenster aus mit ansehen müssen, wie das Jäger-Häusl abgebrannt ist und sie die halbverkohlte Leich vom Feltinger Rupert herausgezogen haben. Da hat’s ihr die Nerven durchgeschlagen, meinen die Doktoren.« »Schrecklich.« Dem Jochen krampfte sich vor Mitleid das Herz zusammen. So leise, als könnte ihn die unglückliche Afra hören, sagte der Karl Puchinger: »Jetzt siehst, Kain, daß nicht nur du unschuldig einen Pinkel Leid aufgepackt bekommen hast. Jeder muß mit seinem Schicksal fertigwerden und sich damit abfinden. Wir können nur zusammenhalten und einer dem anderen nach Möglichkeit helfen. « Von der ersten Stunde an waren die Dorfleute dem Heimkehrer gut. Sie zeigten ihm damit, daß sie ihm nach fünf Jahren alles verziehen, was er ihnen damals angetan hatte. Eigentlich meinte der Jochen, eher müßte er ihnen etwas vergessen: die haßerfüllten Verfolgungen, die Be drohung, die blutigen Schläge. Aber der Hämmerl-Wirt
sah das anders und sagte geradeheraus: »Spinn dich aus, Jochen! Meinen Stein am Schädel hast du dir ehrlich ver dient.« »Das sagst du mir nicht!« Der Jochen fuhr mehr schmerz lich als zornig auf. Um seinen guten Willen zu beweisen, stellte der GamslWirt zwei Maß Bier auf den Tisch. Es war am Sonntag noch früh am Morgen, aber er sagte mit einem freundli chen Grinsen: »Zum Saufen ist es nie zu zeitig. Ein Wirt braucht jede Mark. Alsdann: Wie damals so ein dreckiger Lump den Jäger in den Kopf geschossen und nachher die Leich verbrannt hat ...« Der Hämmerl Robert neigte sich zum Kain und flüsterte vertraulich wie zum besten Freund: »Du hast uns ’was ein’brockt!« »Hämmerl! Denk nach, was du redest!« Dem Jochen brach der Schweiß aus, aber der Wirt redete ungerührt weiter: »Nur weil du nach dem Mord davon’teufelt bist, haben die Polizisten im Dorf umgerührt! Gefunden haben sie nichts. Überhaupt nichts. Ich sag al lerweil: Was ein echter Wildschütz ist, der hat in den Ha xen mehr Hirn als die anderen ...« Jetzt unterbrach ihn der Jochen schon voller Wut: »Du, ich bin nie ein Wilderer gewesen! Mein Vater hat manch mal etwas Stärkeres auf den Tisch kriegen müssen als al lerweil nur Erdäpfel und Bohnen. Manchmal hat er sogar den Bluthusten gehabt! Ihm zuliebe hab ich ab und zu ein Bratl geholt. Aber aus Leidenschaft bin ich nie in den Wald ’gangen, weil mir das Umbringen gar keine Freude macht!«
»Ist gut, ist gut«, besänftigte ihn der Hämmerl und klopf te ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Mir mußt du das alles nicht erzählen. Aber damals haben sie wie die Bluthund das ganze Dorf nach Beweisen für deinen Mord abgestiert. « »Es ist nicht mein Mord gewesen!« schrie der Jochen auf, weil er das Gesüßel mit den vielen versteckten Anspie lungen nicht länger anhören konnte. Gleich kriegte auch der Wirt zornige Augen und kannte keinen Spaß mehr. »Mein Rat, Kain: Spiel dich im Dorf lieber nicht groß auf! Sei froh, wenn die Leut vergessen, was sie deinetwegen durchgemacht haben. Daß einer den Jäger erschossen hat, kratzt heute niemanden mehr. Aber daß der Mörder noch allerweil unerkannt unter uns lebt, ist nicht zuletzt deine Schuld ! Weil du davongerannt bist, haben die Polizisten erst gar keine andere Spur ver folgt. Jetzt streichelt der Verbrecher vielleicht den Schul kindern über den Kopf und hat sogar selbst Kinder. « Dem Jochen lief es eiskalt über den Rücken. Er stand so brüsk auf, daß er dabei fast das Freibier umgestoßen hät te. Der Hämmerl Robert zog ihn noch einmal auf die Bank zurück. Mit einer eher traurig klingenden Stimme warnte er ihn: »Mach um dein Schicksal nicht so viel Wind, Jochen. Ich will dir am Beispiel von meinem Leben zeigen, wie’s traurig hergehen kann. Du mußt wissen, daß nach dem Mord die Sommergäste ausgeblieben sind. Nur ein paar alte Leut sind immer wieder gekommen, aber die haben keine g’scheite Zech gemacht. Außerdem hat doch neben dem Friedhof der Metzer Karl sein Wirts
haus, eine schäbige Keuschen, die sich mit meiner ›Gol denen Gams‹ nicht vergleichen kann. Aber nach einer Leich schauen die Leut nicht, wo sie den Leichenschmaus nehmen. So hat mir der Friedhofs-Wirt das beste Ge schäft weggenommen, weil noch allerweil mehr Leut sterben als heiraten. Ich bin vor dem Zusperren gestan den! Eines Abends kommt meine Erna mit einer tief aus geschnittenen Bluse in die Gaststube. Mich hat fast der Schlag getroffen. Sie ist überhaupt ein lebensfrohes Weib, und nach der Sperrstund ist der Wirt meistens müder als die Wirtin. Mich hat die Eifersucht grauslich ’packt. Da bei kann ich mich darauf verlassen, daß bei meiner Erna keiner hinlangen darf. Die Gäste sind wiederkommen. Jetzt geht das Geschäft! Eine richtige Goldgrube!« Der Jochen dachte nach und fragte dann: »Und an der tief ausgeschnittenen Bluse von deiner Erna bin ich auch schuld?« Weil sich diesmal der Jochen das Schmunzeln nicht ver beißen konnte, fuhr ihn der Wirt beleidigt an: »Mußt gar nicht so schadenfroh lachen! Seit damals ist unsere Ehe nicht mehr so wie vorher.« Ganz rasch hellte sich seine Miene wieder auf. »Eines Tages bin ich auf eine herrliche Idee gekommen. Ich hab eine Kellnerin eingestellt, bei der die Mannsbilder narrisch werden. Die Marisa. Jetzt martert sich die Erna auch mit der Eifersucht ab. Siehst, so ist das Leben! So muß man es meistern.« Der Jochen trank sein Bier in einem Zug aus. Da er kein Bier mehr gewohnt war, wurde ihm schwindlig. Er stand auf und bedankte sich für die Einladung.
Als er schon zur Tür ging, rannte ihm der Wirt nach. Weil sich in dem Augenblick die Marisa-Kellnerin grad über den Schanktisch herüberneigte, befahl ihr der Häm-merl: »Gib uns zwei Bierbrezen!« Und zum Jochen: »Sollst es versuchen! Frisch und knusprig!« Mit der einen Hand brach er die Brezen, mit der anderen kniff er genießerisch seine Kellnerin. Tagsüber arbeitete der Kain als Knecht auf dem Puchinger-Hof. Er spürte bald, daß er in fünf Jahren das richtige Anpacken verlernt hatte, denn schon nach ein paar Stun den tat ihm jeder Muskel seines abgemagerten Körpers weh. Der Fritz kam zu ihm und sagte: »Mußt nicht gar so hackeln, Jochen. Du bist noch nicht wieder ganz in Ord nung. Es wird schon werden.« »Dank dir, Bauer«, gab der Kain zurück. Von der Überan strengung legten sich tiefe Schatten unter seine Augen. »Ich weiß schon, was ich für meinen Lohn schaffen muß: genausoviel, wie ich von einem Knecht erwarten tät. « Kurz entschlossen nahm ihm der Fritz das Werkzeug aus der Hand. »Jochen, vernünftig sein! Du kannst nicht alles an einem Tag aufbauen, was dir das Schicksal in Jahren zusammengeschlagen hat. Für mich bist du gar kein Knecht, sondern ein Freund, dem man über schlechte Zeiten helfen muß. Weil du es anders nicht angenommen hättest, bietet dir der Vater so die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Verstehst? Außerdem mag ich es nicht, wenn du mich mit ›Bauer‹ ansprichst. « Davon ließ sich der Jochen aber nicht abbringen. »Dein
Vater hat es von mir so verlangt, und ich find’s richtig.« Es klang respektlos, beinahe aufsässig, wie der Fritz la chend sagte: »Nachher tu nur allerweil, was dir mein Va ter anschafft. « Die Nannerl war als jüngste Dirn vom Hof erst siebzehn, aber sie packte bei der Arbeit ordent lich zu. Dafür konnte sie auch für drei essen, bis der Bep po, der Großknecht, sie aufzog: »Iß nicht gar so wild, Nannerl! Man sieht eh schon, daß du dir ins Mieder zwei dicke Knödel gestopft hast!« »Nicht wahr!« verteidigte sie sich erst zornig, lief rot an und schimpfte zuletzt los: »Du Schandmaul, du aus -g’schamtes!« Sie lachte ein bißl gar viel. Besonders fröhlich war sie, wenn sie ihren Arbeitsplatz neben dem vom Jochen er kämpft hatte. Beim Heimfahren vom Feld setzte sie sich auf dem Leiterwagen immer neben ihn. Hatte sie Kü chendienst, so ging es dem Jochen gut, denn sie legte ihm das größte Stück Fleisch auf den Teller. Aber so lieb sie ihn auch anschaute, er merkte das gar nicht. Dafür na melten sie die Mägde mit dem losen Mundwerk »KainBäuerin«. Von der Stund an hielt sie sich zurück. Am Abend, wenn sich die Dienstleute vom Puchin ger-Hof im Waschhaus oder gleich beim Brunnen ab duschten, ging der Jochen schon ins Armenhäusl zurück. Dann fingen seine Schwierigkeiten meistens erst richtig an. Die Tür im Hoftor war immer vor ihm versperrt, als ob es da drinnen überhaupt kein Leben mehr gegeben hätte. Erst als er den Schlüssel ansteckte, brach ein schrilles
Heulen los. Das war der Lutzl. Der Jochen sperrte auf. »Teufel, sakra nochmal! Diese Weiber!« schrie er zornig auf, weil er sah, wie sich der Hund abwürgte. »Ich hab bestimmt, daß der Lutzl nicht mehr an die Kette kommen darf! Auf dem Hof wird endlich geschehen, was ich sag!« Die alte Steinegger kam so schnell aus dem Wohnhaus geschossen, wie man ihr das längst nicht mehr zugetraut hätte. Sie kniff die Augen so böse zu, daß sich rundum zwei dicke Faltenkränze bildeten, aber sie drohte nur ganz leise : »Spiel nicht den Bauern, Kain ! Im Armen häusl hast du weniger zu reden als wir, und dein Hof ist das noch lange nicht wieder. Da gehen vorher noch ich und die Lena zurück auf unseren, wo man frei leben und atmen kann! Hast mich, Kain?« Weil er einsah, daß er mit Schreien und Schimpfen das Hausen zu dritt nur noch schwerer machte, erklärte er ruhig: »Tagsüber bin ich der Knecht vom Puchinger Fritz, aber nach Feierabend arbeit ich schon für meinen Hof. Mit der Hilfe vom Bürgermeister könnt’s in drei Monaten soweit sein, daß ich wieder wirtschaften kann.« Auch die Alte steckte zurück, aber ihr Ton blieb feindse lig. »Mußt dich nicht sorgen, Kain, wir werden unser Zeug rechtzeitig packen. Besser in der Ruine vom Steinegger-Hof hausen, als von der Gnad eines Wildfremden abhängig sein!« Inzwischen hatte er den Lutzl abgekettet. Voll Mitleid streichelte er ihm über den Hals. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Steineggerin, eines sollst wissen: Wenn du den Hund noch einmal an die Kette legst, schmeiß ich dich in
derselben Stund hinaus! Ob das hier noch Armenhäusl oder schon Kain-Hof heißt, ist mir dann ein Ding!« Das Weibl richtete sich so stolz auf, daß es im krummen Rücken krachte. Die Worte klangen schon eher traurig als zornig: »Gelt, bei dir gelten halt die Viecher mehr als die Menschen?« »Erfahrungssache!« schnitt er alles weitere Reden ab und ging schon mit dem Lutzl ins Wohnhaus. So war es ein geteilt: Die Küche durften die Steineggerischen und er gemeinsam benützen. Ihm war noch die Stube und seine Schlafkammer zugesprochen. Die Großmutter hauste mit der Lena im ehemaligen Zimmer der Kain-Eltern. Frei willig hatte ihnen der Jochen eine weitere Kammer zuge standen. Jetzt brachte er den Lutzl in die Stube. Als er nachher in die Küche kam, sah er die Lena am Herd stehen. Sie rührte so eifrig in einem Hafen um, daß er gleich wußte, sie wollte ihm nur nicht ins Gesicht schauen. Müde und zerschlagen ließ er sich auf die Herdbank fallen. Nach ei ner Weile hielt die Lena das Stillsein nicht mehr aus und fragte traurig: »Hat’s schon wieder ’was mit der Groß mutter ’geben? Sie ist ein seelenguter Mensch, aber man che Leut kann sie halt nicht... « Sie verstummte erschrocken, denn sie hatte nichts gegen den Jochen sagen wollen. Der gab ziemlich barsch zu rück: »Ob mich deine Großmutter mag, ist mir weiter nicht wichtig. Im Grund versteh ich sie sogar. Wer noch eine Spur Stolz hat, wird bockig, wenn er allerweil auf fremde Hilfe angewiesen ist. Nur den Hund soll sie mir
nicht wieder an die Kette legen ! Lena, dir zuliebe tat’s mir leid ...« Darauf antwortete sie nicht, aber nach einer Weile fragte sie ihn: »Willst Eiernocken?« Er ging in die Stube, sagte aber durch die offene Tür her aus: »Lieber nicht. Ich krieg auf dem Puchinger-Hof ge nug und will euch nichts wegessen.« Die Lena stand in der Türfüllung und sagte so befangen, als müßte sie sich für ihre Zudringlichkeit entschuldigen: »Geh, Kain-Bauer, ich hab schon ein bißl mehr gemacht.« Weil er sie nicht kränken wollte, gab er schließlich nach. Aus der Tischlade in der Stube holte er ein Stück Wurst, das ihm die Nannerl zugesteckt hatte. »Alsdann meinet wegen. Aber nur, wenn ich auch ’was beisteuern darf. Das kannst du dazu braten.« Sie stellte die schmiedeeiserne Pfanne aufs Feuer. Um ihre Lippen spielte ein schönes, versonnenes Lächeln, aber als sich der Jochen neben sie stellte, schreckte sie zu sammen. Seit die Lawine den Steinegger-Hof und damit fast ihr ganzes bisheriges Leben weggerissen hatte, war sie recht ängstlich. Er aber wollte ihr nur vorschlagen: »Sag Jochen zu mir! Noch bin ich nicht wieder der Bauer auf dem Hof. Grad vorhin hat mich deine Großmutter recht energisch daran erinnert. Eigentlich hat sie damit recht. Wer weiß, ob solch ein Wunder überhaupt noch einmal geschieht?« Wie vom Duft der bratenden Wurst angelockt, kam die Alte in die Küche gehumpelt. Mit einem schnellen, feind seligen Blick schätzte sie ab, was sich am Herd abspielte.
Aber die Lena und der Kain standen ohnehin zwei Schritte auseinander und machten harmlose Gesichter. Da setzte sich die Steineggerin breit an den Tisch und holte aus der Lade ihr Besteck: einen Löffel. Inzwischen deckte die Lena schön auf, mit tiefen Tellern, Gabeln und Messern. Plötzlich kriegte die Großmutter den starren Blick. Vor Aufregung verhaspelte sie sich beim Reden. »Kannst nicht mehr zählen, Lena? Wir sind allerweil erst zwei Leut beim Tisch!« Aus Mitleid nahm der Jochen dem Dirndl das Antworten ab. »Sie hat mich eingeladen, ich soll mit euch essen. « »Den Teufel holt man nicht in die Kirch!« schrie die Stei neggerin auf. »Und manche Leut nicht zum Tisch!« Das wollte nicht einmal mehr die Lena hinnehmen. Em pört und beschämt sagte sie : »Der Jochen hat uns eine Wurst geschenkt. « Die Alte schüttelte fassungslos den Kopf. »Kann mir ei ner nachsagen, daß ich jemals neidig oder ungastlich ge wesen war? Wie wir noch unseren schönen Hof gehabt haben ... Aber jetzt!« Sie kniff die Augen zusammen und fragte ganz leise: »Jochen? Hast vorhin Jochen gesagt, Lena?« Weil das Dirndl vor lauter Verlegenheit rot anlief, neigte es sich beim Austeilen weit über den Tisch nieder. »Groß mutter, warum sollt ich nicht Jochen sagen? Das ist der Brauch bei uns.« »Für dich ist er noch allerweil der Kain !« Giftig patschte die Alte ihre Nocken auf dem Teller mit dem Löffel glatt. Weil der Jochen merkte, wie seine Geduld zu Ende ging,
half er dem Dirndl noch ein letztes Mal. »Steineggerin, dir kann es niemand recht machen. Noch vorhin hast du mir unter die Nase geschmiert, daß ich noch lange nicht wieder der Kain-Bauer bin. Nur deshalb hab ich ihr ge sagt, sie soll mich Jochen nennen! Und jetzt einen guten Hunger!« »Gesegnete Mahlzeit!«, sagte die Lena und stellte die Pfanne mit der abgebratenen Wurst auf den Tisch. Gleich keifte die Alte wieder los : »Mir keine Wurst von dem! Die tät mir grad im Magen liegen bleiben. Höchs tens ein bißl Saft für den Geschmack.« Bei dem köstlichen Geruch spürte der Jochen plötzlich einen argen Hunger. Er und die Lena hauten ordentlich ein, denn Wurst zu Eiernocken konnte man sich im Armenhäusl nicht alle Tage leisten. Nur die Alte saß da und stocherte lustlos auf ihrem Teller herum. Weil sie nie mand mehr beachtete, greinte sie: »Mit so wenig Zähn kann ich die Wurst eh nicht gut beißen!« Da machte ihr der Jochen den erlösenden Vorschlag: »Soll sie dir halt die Lena in ganz kleine Stückl schnei den.« Die Großmutter schaute ihr dabei genau auf die Finger. Unvermittelt sagte sie: »Wenn wir noch die nächs ten zwei, drei Wochen unter einem Dach hausen müssen, sag ich halt auch zu dir Jochen. Du kannst mich mit An na-Mahm anreden. Gilt’s?« »Gilt, Anna-Mahm.« Von diesem Abend an hatte er mit der Anna Steinegger bis auf weiteres keine Schwierigkeiten mehr. Die Stunde, in der sie einander bis auf den Tod hassen sollten, würde
aber auch einmal kommen. In seiner reichen, prächtigen Stube sagte der Bürgermeis ter zum Jochen: »Im Juni krieg ich die Verhandlungen über den Pachtvertrag im Gemeinderat durch. Bis dahin muß der Kain-Hof tadellos dastehen, weil ich mich bei meiner Fürsprach nur auf eine gute Sache einlass’.« Vor lauter Freude brachte der Jochen kaum ein Wort her aus, aber ausgerechnet in dem Augenblick erkannte er auch, daß alles am Wohlwollen vom Puchinger lag. Ein Fingerschnalzer vom Bürgermeister, und alles stürzte wieder in sich zusammen ! Nur ganz leise getraute sich der Jochen zu sagen: »Am Arbeiten wird es nicht schei tern. Ich bin zäh, und schlafen muß ich auch nicht viel. Bei dem starken Essen auf eurem Hof hab ich schnell wieder meine Kraft ’kriegt. Aber ich frag mich nur, wo von ich mir Vieh anschaffen sollt. Mit dem Lohn von ei nem Knecht... « Der Puchinger hatte leicht lachen. Scherzend drohte er dem Jochen mit dem Finger: »Nur nichts aus dem Wald schießen! Gelt, auf die Gemeindejagd bin ich heikel, und du hast dich schon einmal mit der Wilderei in die Nes seln gesetzt. Alsdann, Spaß beiseite. Kleinweis mußt du dich hinaufwirtschaften. Für den ersten Kredit geh ich dir persönlich als Bürge.« »Das willst wirklich?« Weil der Jochen verlernt hatte, an Versprechungen zu glauben, drückte ihm jetzt die Aufre gung die Stimme ab. Halb unwillig, halb gönnerhaft wies ihn der Bürgermeis ter zurecht: »Fang mir nicht noch zu flennen an wie ein
Dirndl! Du mußt das so sehen: Ich helf auf diese Weise nicht nur dir, sondern uns allen. Wir haben dich damals falsch verdächtigt, und daran erinnert sich keiner mehr gern. Ich aber sag’s offen: Wir müssen an dir ’was gutma chen!« In den nächsten Wochen spürte der Jochen, daß er im Dorf nur Freunde hatte. Eine Welle von Hilfsbereitschaft kam auf ihn zu und machte ihn grad ratlos. »Mein Gott, wie soll ich euch das jemals vergelten?« Der Schmied Berti Moser schenkte ihm Ersatzteile für sei ne alten Maschinen, so daß er sie herrichten konnte; die Hämmerl Erna, die Frau vom Gamsl-Wirt, suchte ihn am Abend auf. Mit einem unwilligen Blick verjagte sie die Lena ins Haus. Erst nachher machte sie einen Sack auf. Eines nach dem anderen kamen fünf Hendl herausgekro chen, schüttelten sich die Federn glatt und gackerten auf geregt. Zuletzt stolzierte ein Hahn nach. »Mein erstes Vieh auf dem Hof«, sagte der Jochen beinahe andächtig. »Der Anfang!« Mit ihren großen, blauen Augen lachte ihn die Wirtin an. »Wirst sehen, Kain, in ein paar Jahren hast du eine ganz Schar Hendl. Wichtig ist nur, daß der Gickl fleißig arbei tet!« »Erna!« Mehr kriegte er nicht heraus. Bestimmt war sie kein leichtfertiges Frauenzimmer, aber man merkte ihr an daß sie sich über seine verschämt bewundernden Bücke freute. Als sie sich auch noch zu ihm herunterneigte, wurde ihm heiß. Sie aber lachte ganz unbefangen. »Schaust halt, daß du bald der reiche Kain-Bauer bist,
und nachher bringst du alles Geld zu uns in die ›Goldene Gams‹. Viel Glück, Jochen!« Alle kamen der Reihe nach, und jeder brachte ein Ge schenk zum Einstand: einen Hafen, ein Stück Speck, Re chen und Spaten. Sogar ein Paar Kaninchen. Recht rüh rend war auch die alte Mesnerin. Sie drückte ihm ein Heiligenbildl in die Hand und lispelte: »Das hängst du dir über die Tür, damit das Böse nicht über deine Staffel kommt. « »Dank dir, Mesner-Fanni«, sagte der Jochen. »Wer sollt mir in Roitern schon einen bösen Faden spinnen? Schau dort hin: Den ganzen Haufen Zeug haben sie mir ge schenkt.« Mit so etwas konnte er die alte Frau noch lang nicht über zeugen. Beinahe so herrisch, wie sie das vom Herrn Pfar rer hörte, befahl sie: »Gleich hängst du das Heiligenbild auf! Fühl dich nicht so sicher, Kain, denn das Böse ist überall!« Nach der Sonntagsmesse winkte ihn sogar der Pfarrer selbst an die Seite. Weil der Jochen zwar nichts wußte, aber etwas Unangenehmes ahnte, sagte er ausweichend: »Eigentlich müßt ich gleich auf den Hof ...« Der geistliche Herr ging ihn ohne Sanftmut an : »Nichts da! Ein paar Minuten wirst du dir für mich Zeit nehmen! Ich komm gleich in die Sakristei.« Das Warten wurde dem Jochen besonders lang. Aus dem strengen Ton des Pfarrers schloß er, daß es um das sechs te Gebot und somit um die Lena gehen würde. Bei allem guten Gewissen wäre ihm das peinlich gewesen. Ihm
blieb aber keine Wahl. Er mußte warten, bis der Hoch würden sein goldbesticktes Gewand abgelegt und sich wieder in einen schlichten Mann aus Roitern zurückver wandelt hatte. »Setz dich, Kain«, sagte er dann. Der Jochen hockte sich grad nur auf die äußerste Kante der Bank. Eben wollte der Pfarrer zu reden anfangen, da stürmten Buben in ih ren Ministrantengewändern herein. Weil sie beinahe den Pfarrer umgerannt hätten, grinsten sie verlegen und zo gen behutsamer wieder ab. Der geistliche Herr schaute eine Weile wohlwollend auf den jungen Bauern, dann sagte er: »Freut mich, daß du dich gut eingewöhnt hast.« Der traute dem Frieden noch nicht und erinnerte ihn vor sichtig: »Ich gehör nach Roitern. Jetzt bin ich halt wieder richtig daheim.« Der Pfarrer nickte sanft wie allerweil, bevor er von der Kanzel herunter sein Donnerwetter losließ. Auch jetzt fragte er plötzlich beinhart: »Hast du noch immer nichts aus deinem bisherigen Unglück gelernt?« Weil es halt sein mußte, widersprach ihm der Jochen: »Freilich, Hochwürden. Ich bild mir ein, das Lehrgeld wär hoch genug gewesen. Da müßte einer schon ein har tes Brett vor dem Schädel haben, wenn er die Welt noch nicht kennt.« Aus Klugheit überhörte der geistliche Herr Hochmut und Überheblichkeit in diesen Worten. Ihm ging es um viel, um Menschenleben und Seelenheil! Deshalb hielt er es für seine Pflicht, den Kain zu warnen: »Bleib wachsam und hüte dich vor dem Versucher! Er wird ganz be
stimmt eines Tages an dich herantreten.« Also doch wegen der Lena! Weil er das Dirndl mit kei nem Schatten eines Verdachtes ins Gerede bringen woll te, fuhr er ungebührlich auf: »Ich weiß, worauf du an spielst, Hochwürden. Aber ich hab noch nie viel von ei ner leichtfertigen Liebschaft gehalten. Jetzt erst recht nicht, denn ich hab meine Sorgen.« Der Pfarrer schaute überrascht auf. »Davon will ich gar nicht reden.« »Davon nicht?« Von da an verzichtete der Seelenhirt von Roitern auf schöne Umschreibungen oder Andeutungen. Geradeher aus sagte er: »Ich verletz kein Beichtgeheimnis, wenn ich dir sag, daß mir in den letzten Jahren noch keiner einen Mord gebeichtet hat. « Vor so viel Direktheit erschrak der Jochen, doch plötzlich machten ihn die Freude und die Hoffnung ganz schwindlig. »Hochwürden, das bedeutet vielleicht, daß es doch keiner aus Roitern getan hat! Ein Fremder, der längst davon’teufelt ist, und ich hab noch allerweil meine Angstträume!« Schon mit einem Kopfschütteln zerstörte ihm der Pfarrer solche Hoffnung und sagte: »Ich erkenne daraus eher, daß der Mörder seine Schuld weder einsieht noch bereut. Seit damals hockt er unauffällig in unserem Dorf und wartet darauf, daß man sein Verbrechen vergessen soll. Deine Eltern tot, der Kain-Hof das Armenhäusl, und du hast in all den Jahren nichts von dir hören lassen. Da hat er doch annehmen müssen, daß auch du für immer ver
schwunden bleibst. Dann hätten die Leut gedacht: Wahr scheinlich ist er es doch gewesen, der Jochen Kain, der Wildschütz! Beinahe wär es ihm gelungen.« So hatte der Jochen das noch nie überdacht, sondern im mer nur von seiner Seite her zurückgeschaut. Es fiel ihm recht schwer zu sagen: »Hochwürden, nachher bin ich grad recht heim’kommen, damit mich der Mörder ... « Weil er vor Angst verstummte, vollendete der Pfarrer den Gedanken: »Er wird es versuchen. Er wird versuchen, dich auszulöschen, weil ihm gar keine andere Wahl bleibt. Du mußt fort aus Roitern, so oder so!« Dem Jochen lief es kalt über den Rücken. »So oder so?« »Wie er das anstellen wird, weiß ich nicht. Nur eines ist mir gewiß: Er wird alles tun und vor nichts zurückschre cken, damit er sich weiterhin der Strafe entzieht und einen Sündenbock für sich büßen läßt. Wenn du nicht Tag und Nacht aufpaßt, Kain, so wird es dich erwischen.« Als der Jochen ein paar Minuten später noch ganz be nommen aus dem Pfarrhof ins Freie taumelte, blendete ihn die Sonne. Aber das Licht kam ihm längst nicht mehr so golden vor wie am Morgen. Von allen Seiten her grüß ten ihn freundlich die Dorfleute, und er schaute sich je den auf eine ganz besondere Weise an: Welcher von ih nen? »Hab ich wieder notwendig gehabt«, murmelte er. In die sen Sekunden dachte er im Ernst daran, ob es nicht am gescheitesten wäre, den Pinkel zu packen und für alle Zeiten aus Roitern zu verschwinden. Nie wieder durch
machen müssen, was er damals erlebt hatte! Mancher war sein Todfeind, auch wenn sie ihm jetzt alle schönta ten! »Mein Gott, Jochen, ist dir nicht gut?« fragte neben ihm tief besorgt eine Stimme. Aus ihren hellgrünen Augen schaute die Lena Steinegger recht lieb auf ihn. Sonnen strahlen brachten das Haar zum Leuchten. Wieso hatte sich eigentlich die Lena mit ihrer Großmutter in seinen Hof gehockt? Sie sagte leise: »Was hat’s, Jochen? Wenn du krank bist, kannst du am nächsten Sonntag mit mir nicht auf den Tanzboden gehen. Kränk dich nicht so herunter. Gib’s auf!« »Ich aufgeben?« So genau wußte er nicht, wovon sie re dete, aber die Worte fuhren ihm wie ein Stachelstock ins Fleisch. »Jetzt erst recht nicht, Lena! Damit du’s weißt!« Am nächsten Sonntag war in Roitern Kirtag. Die Männer im Sonntagsanzug gingen mit den neuen Schuhen ein bißl steifbeinig über den Kirchplatz. Echte alte Trachten besaßen nur die reichsten Bäuerinnen. Die anderen kauf ten im Laden der Matsching Martha eine fertige Ware, und nur die ganz Geschickten konnten sich selbst schöne Dirndlkleider nähen. Schneider gab es nämlich nach dem Tod vom Bilitsch Stephan in Roitern keinen mehr. In der ersten Zeit nach seiner Heimkehr hatten die Wei berleut vom Dorf nur sehr scheu über den Kain Jochen geredet. Nach ein paar Wochen ratschten sie schon, er würde bestimmt auch etwas fürs Herz brauchen. Einmal nutzte die Matsching-Kramerin den günstigen
Augenblick, als sie mit dem Jochen allein im Laden war. Sie neigte sich vertraulich zu ihm über den Verkaufstisch und fragte: »Brauchst vielleicht ein schönes Geschenk für ein Schatzl? Ein preisgünstiges Busentüchl!« Sie trug keines. Der Jochen wehrte lachend ab: »Ich hab kein Schatzl und kein Geld für so ein Tüchl. Bei meinen Sorgen! Da lad ich mir nicht noch Kummer mit einem Frauenzimmer auf!« Um diese Zeit sah man ihn schon öfters mit der Steineg ger Lena beisammen. Auch am Kirtag von Roitern, denn sie hatten halt denselben Weg zur Kirche. Aber die Mat sching Martha flüsterte ihrem Mann zu: »Schau gut hin, Alex: Der Fremde und das Bettelmensch! Ausgerechnet mit so einer gibt er sich ab. Aber wer sonst tät sich schon mit ihm einlassen?« Der Jochen Kain fühlte sich gar nicht sehr wohl in seinem Sonntagsgewand, weil das an manchen Stellen auch schon so kahlgescheuert war wie der Hals vom Lutzl. Er brummte unwillig: »Was soll ich überhaupt auf der Fest wiese?« Diesmal ließ die Lena keinen Widerspruch gelten. Nach dem Gottesdienst hätte sie sich beinahe an seinen Arm gehängt und ihn zur »Goldenen Gams« hinübergezogen. »Du arbeitest sieben Tage in der Woche. Heute mußt auch du dir ein wenig Freude gönnen.« »Woher willst du wissen, was mir Freud macht?« Es ging ihm nicht nur um ein paar Markl, die auch der Sparsams te auf einem Kirtag ausgeben mußte. Grad als sein Wi derstand ohnehin schon schwächer wurde, fuhr es ihm
noch heraus: »Herumhupfen, saufen und raufen! Sogar bei soviel falscher Fröhlichkeit wartet vielleicht irgendwo einer mit der Sense auf einen!« Zu spät fuchste er sich, daß er etwas von seiner Sorge verraten hatte. Die Vorstellung, in der lachenden Men schenmenge könnte einer mit blutigen Händen auf ihn lauern, verdarb ihm alles. Schon wandte er sich zum Ge hen, als er das Dirndl an seiner Seite ganz leise sagen hörte: »Ich hätt mich halt so aufs Tanzen mit dir gefreut. « In ihrer Stimme klang etwas mit, das ihm ans Herz ging. Sie stand fast ebenso allein da wie er. Als er sie unent schlossen anschaute, legte sich gleich ein schüchternes Lächeln um ihre Lippen. Erst jetzt bemerkte er, daß sie an diesem Tag ihr Haar nicht ganz so streng an den Kopf ge steckt trug. Weil ihre Augen gar so um ein bißl Glück bet telten, entschied er großartig: »Alsdann, einmal können wir tanzen, aber dann verschwind ich lieber, bevor mir der Wirt wegen der Bestellung nachrennt. Ich hab keinen Pfennig zum Rausschmeißen.« »Dank dir, Jochen«, flüsterte sie selig. Auf dem Kirchenplatz hatten sie vor der »Goldenen Gams« ein Bierzelt, den Tanzboden und eine ganze Reihe von Tischen und Bänken aufgebaut. Sobald sich einer hinsetzte, wurde er von einer Kellnerin gefragt, was er trinken wolle. Der Hämmerl-Wirt kam gleich hintennach, im blauen Schurz, das weiße Tuch unter dem linken Arm, und nahm Bestellungen fürs Essen auf. Vorsichtshalber drängten sich der Jochen und die Lena
von der Kirchenseite her zum Tanzboden durch. Als sie die drei Stufen zum Podium hinaufstiegen, war gerade wieder ein Stückl zu Ende. Paare wollten herunter, ande re strebten hinauf. Dadurch entstand ein heilloses Durch einander, das ein paar Lotter dazu mißbrauchten, um sich fest an ihre Dirndl zu patzen. Die lachten und wehr ten sich recht halbherzig gegen die ärgsten Frechheiten. »Geschafft«, sagte der Jochen. »Beinahe hätten dich die Narrischen erdrückt.« Er hielt die Lena an der Hand, schaute über den Festplatz hin und wartete darauf, daß die Musik wieder losschmet terte. Der Hochwürden kam gerade aus dem Pfarrhaus herüber, um das Weihfest seiner Kirche beim Gamsl-Wirt mitzufeiern. Außerdem gehörte es zu seinen Hirten pflichten, Kellnerinnen und andere Weiberleut vor unge wollten Zudringlichkeiten zu schützen und die wildesten Raufhanseln niederzudämpfen. Dazu genügte fast immer schon seine Anwesenheit. Der Jochen schaute weiter in die Runde. Neben dem Pfarrhaus leuchtete gelb das Ge meindeamt aus dem Vorgarten, im ersten Stock, über eine ausgetretene Holztreppe erreichbar, die Post. Daran schloß sich der Puchinger-Hof. Und nachher ... der leere Platz, wo damals das Jäger-Häusl mit der Leiche vom Rupert Feltinger verbrannt war. Wozu es noch einmal aufbauen, wenn es der Ulrich Feltinger ohnehin so schön im ehemaligen Schneider-Häusl hatte! Mit der Steffi! »Ist dir nicht gut?« sorgte sich die Lena. Er entsetzte sich über seine Gedanken, weil da zuletzt ein ganz böser, grad mörderischer dabei gewesen war. »Be
lauere mich nicht allerweil. Ich bin, wie ich bin!« Sie versuchten es mit einem Landler und einem G’ stampften. Der Jochen tanzte nicht gut, denn auch das hatte er schon verlernt. Darum sagte er: »Das langt. Tut mir leid für dich, aber in mir ist keine Fröhlichkeit mehr. « »Wie du willst. « Sie zeigte ihm nicht ihre Enttäuschung und kam hinter ihm nach. Der Jochen hielt erst dort, wo einmal das Jäger-Häusl stand. Er drehte sich um und be merkte voll Erstaunen die Lena. »Was hat’s? Ich hab nach deinem Willen mit dir getanzt, und damit ist für mich das Fest vorbei.« Er redete eintö nig und abgehackt, als ob er nicht anders könnte. Viel leicht hatte ihn von irgendwoher der böse Blick getroffen! Und plötzlich fuhr er die Lena unfreundlich, fast feindse lig an: »Was rennst du mir überallhin nach? Such dir einen guten Tänzer: den Bäcker-Buben oder den Roß knecht vom Seegruber-Bauern!« Sie schaute ihn ungläubig an. Leise, so daß er sie kaum verstand, fragte sie ihn: »Was hab ich dir ’tan, Jochen, daß du so grauslich zu mir bist?« Weil sie gar so armselig vor ihm stand und demütig um ein gutes Wort bettelte, wurde er noch zorniger. Er zi schelte ihr zu: »Ich mein doch nur, du mußt nicht auch heimgehen, weil ich zum Feiern keine Lust hab. Schau nicht so traurig drein. Da kommt die Matsching-Kra me-rin, und wenn die dich trenzen sieht, spinnt sie sich gleich eine ganze Schauergeschichte zusammen!« »Grüß euch«, sagte die Kramerin lieb und sog das Bild in
sich auf. Wenn es der Kain unbedingt mit so einer armse ligen Dirn halten wollte, kümmerte sie das nicht mehr. Nur unbewußt drehte sie beim Gehen ihr Hinterteil so, daß der reiche Brokatrock um ihre noch immer recht schönen Beine schwang. Im nächsten Augenblick drängte sich ohnehin der Matsching Alex aus der Menge hervor. »Martha! Da kann ich dich freilich lang suchen!« Weil er einen giftigen Blick auf den Kain warf, hängte sich die Kramerin schnell an den Arm von ihrem Mann und süßelte anzüglich: »Überall hab ich nach dir ge schaut, nur nicht in den Kammern von den Kellnerinnen. « Er ließ sich scheinbar beruhigen und gab im gleichen Ton zurück: »Und ob ich bei den Kellnerinnen gewesen bin! Im Bierzelt.« Vor dem Weggehen versetzte er noch dem Jochen einen Hieb. Hinterfotzert freundlich schrie er so laut, daß man ihn über den halben Platz hören mußte: »Kommst du mit uns ins Bierzelt, Kain? Bei mir ist es Brauch, daß ich am Kirtag einen aus dem Armenhäusl freihalt. Eine Maß bist du mir noch allerweil wert !« Grad wollte der Jochen auffahrend zurückschlagen, als ihn noch rechtzeitig ein ungutes Gefühl warnte. Einmal tief durchatmen, dann konnte er ruhig und kalt sagen: »Dank dir, Matsching, aber ich trink nie gern bei so ei nem Gedränge. Da kann man sich nicht aussuchen, wer neben einem stehen wird.« Der Kramer dämpfte auch gleich das verräterisch zornige Funkeln in seinen Augen, aber er flachste noch boshaft:
»Hast recht, Kain. Ich hab’s nur gut gemeint, damit du dir nicht vielleicht akkurat von deinem Dirndl eine Mark ausborgen mußt. « »Ich verdurst!« stöhnte die Martha und zerrte ihren Mann in Richtung Bierzelt weiter. Nur weil der Jochen noch wie gelähmt dastand, hörte er die Kramerin keifen: »Bist ganz spinnert ’worden, du eifersüchtiger Depp! Legst du dich mit dem an? Das könnt noch gefährlich werden!« Als sich eine Hand in die seine schob, schreckte er aus seinen Gedanken und hörte die Lena flüstern: »Komm weiter. Nimmst du so etwas noch schwer?« Zwischen Leid und Wut schwankend, gestand er ihr: »Ich weiß es nicht, Lena. Gar nichts mehr weiß ich, aber mir ist richtig ungut. « Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn aus dem Ge dränge weg. »Willst heimgehen?« »Ja.« Langsam gingen sie die Dorfstraße weiter. Nach einer Weile ertrug die Lena das Stillsein nicht länger und sagte: »Mach dir nichts draus. Die meisten Leut sind gut. Sogar wenn sie grauslich reden, meinen sie es nicht so arg.« Er schaute flüchtig auf sie hinunter, und da war ihm, als hätte er sie noch nie so genau angesehen. Eigentlich war sie gar nicht so unhübsch. Das rotgoldene Haar glänzte, wie wenn darin Metallfäden gewesen wären. Hinter ihrer hohen, reinen Stirn versteckten sich bestimmt keine bö sen Gedanken. Oder doch? Das Schimmern in ihren grü nen Augen konnte sich von einer Sekunde zur anderen
ändern: vom sanften Leuchten bis zum zornigen Fun keln. Das war dem Jochen bisher schon ein paarmal auf gefallen. Grad weil die Nase ein bißl frech wirkte, paßte sie so gut in ihr Gesicht. Drei oder vier Sommersprossen saßen drauf. So genau hatte er die kleinen Punkte bisher noch nicht gezählt. Am liebsten aber war ihr Mund. Selbst nach all dem Schrecken, den sie in ihren jungen Jahren schon hatte mitmachen müssen, waren die Mund winkel noch immer aufwärts gezogen. Ihre Lippen erin nerten an Waldbeeren, frisch, wie noch von Tau benetzt. Der Jochen fragte sich in dieser Stunde ganz ernsthaft, ob da schon einer davon gekostet haben mochte. Gleich war in ihm ein Neid. Kein Eifern, sondern einfach die Feind schaft gegen einen Glücklicheren auf dieser Welt. Als sein Blick dem ihren begegnete, überlegte er nicht lang, sondern sagte: »Komm, Lena, ich kauf dir ein Leb zelterherz.« »Nein!« wehrte sie erschrocken ab. »Wenn das die Leut sehen, bin ich im Gerede. Mit dir unter einem Dach... « »Im Armenhäusl!« ergänzte er, aber zum erstenmal konn te er dabei sogar lachen. Sie blieb hartnäckig. »Sogar die Großmutter meint, ich wär so eine. Die denkt sich mehr!« »Was könnt die sich denken?« fragte er scheinheilig. Er fühlte, wie akkurat in dieser Stund in ihm wieder die Le bensfreude größer wurde. Unwillig schüttelte sie den Kopf und wollte überhaupt nichts mehr sagen, weil er sie allerweil noch mehr in Verlegenheit gebracht hätte. Einer wie der andere ein Lotter!
Der Jochen ging schon auf eines der nächsten Standl zu. Ein dickes Weib sprang vom Hocker auf wie ein Gummi ball. »Grüß dich, grüß dich! Der Herr ein Herz für sein Schatzl? Das hier tat gut zur Farbe vom Mieder passen. « Die Alte hechelte gierig wie ein Jagdhund vor dem Fuchsbau und fischte das größte Herz von der Stange. Als er den Preis hörte, griff er gleich nach einem anderen Herz. Weil er das billigste erwischte, keppelte die Standlerin: »Geh, Bua, so einem sauberen Dirndl kannst du doch nicht so ein kleines, verrecktes Herzl schenken! Da tat das Bussel zum Dank auch armselig ausfallen. Aber für so ein großes ... !« Die Alte zwinkerte dem Jochen zu, denn sie kannte ihre Kundschaft und wußte, was sie hören wollte. Um ein Haar wäre der Jochen noch umgefallen, aber da machte ihr die Lena einen Strich durch die Rechnung. Sie sagte nämlich betont lieb: »Grad das kleine tät mir gefallen. Wenn du mir die Freud machen willst, Jochen, nimmst du’s.« Als sie schon weggingen, hörten sie noch eine Weile die Standlerin über die depperte Dirn greinen. Die Lena aber sagte: »Das ist lieb von dir, Jochen.« »Nicht der Rede wert. Hängst es halt in deine Samm lung.« Er bewunderte sich selbst für seine geschickte Art, sie auszufragen. Sehr viel lag ihm ohnehin nicht an der Antwort, aber wenn er schon mit ihr auf dem Kirtag ge tanzt und ihr ein Herzl gekauft hatte, stand ihm eine ge wisse Neugierde zu. »Sammlung?« Gleich kriegte sie wieder einmal vor Zorn
schillernd grüne Augen. »Wenn du’s genau wissen willst: Das ist mein erstes!« Er versteckte seine Freude hinter einem Lacher und for derte sie zu weiteren Geständnissen heraus: »Erzähl das deiner Großmutter oder sonst einem gutgläubigen Gim pel! Eine wie du, die wird schon einen Schatz gehabt ha ben.« »Eine wie ich? Was meinst du damit?« Sie hatte einen Schritt zurück gemacht und tastete nach dem Lebkuchen herz, wie wenn sie es ihm hinschmeißen wollte. Weil er seine Worte gar nicht grauslich gemeint hatte, be ruhigte er sie schnell: »Was gehst gleich so fuchtig in die Höhe? Ich hab nur gesagt, daß du halt sauber bist, und das sehen andere bestimmt auch. « Sie waren schon in die Nähe vom Kain-Hof gekommen. Auf der Straße kam gerade niemand, der sich um sie gekümmert hätte. Des halb getraute sich die Lena leise zu fragen: »Andere auch?« Darauf hätte er etwas recht Liebes antworten können, aber er zögerte. Wieder einmal verpaßte er im Leben einen wichtigen Augenblick, denn schon im nächsten gellte Schreien über die Straße, daß es einem das Herz zusam-menkrampfen mußte. Der Jochen aber lächelte versonnen. »Hörst, Lena? Der Lutzl hat schon gemerkt, daß ich heimkomm. Wie der sich freut!« Sie nickte. »Ja, der freut sich jeden Tag, wenn du zu ihm heimkommst. « Nicht alle Leut in Roitern freuten sich ehrlich darüber, daß der Kain-Bauer in sein Dorf zurückgekommen war.
Den Mord am Jäger-Rupert traute ihm zwar fast niemand mehr so recht zu, aber mit Sicherheit konnten das nur zwei wissen: der Jochen und derjenige, der es damals ge tan hatte. Oder diejenige. Der Bürgermeister sagte: »Wirst sehen, Kain, sie haben ein gutes Herz, die Leut im Dorf. Von denen haut dir keiner mehr einen Prügel zwi schen die Fuß.« Solche Worte beruhigten den Jochen für eine Weile, aber wenn er allein bei der Nacht vom Puchinger-Hof über die Wiesen heimging, kroch ihm die Angst auf. Immer wie der zermarterte er sich den Kopf, was er in der Vergan genheit falsch gemacht habe. Davonrennen hätte er halt nicht dürfen, aber wer läßt sich schon freiwillig hängen, verbrennen oder erschlagen? Am zweiten Samstag nach dem Kirchweihfest wurde es wieder einmal recht spät, weil der Puchinger Fritz keine Arbeit über den Sonntag liegen lassen wollte. Dafür drückte er nach Feierabend jedem zusätzlich einen Zeh ner in die Hand. Zum Kain sagte er außerdem leise in ei nem grad herzlichen Ton: »Mach dir auch einen schönen Tag, Jochen, und gönn dir eine Freud. »Du weißt nie, wann dir die Stunde schlägt. « »Dank dir, Bauer«, murmelte der Jochen. Als er bald darauf vom Puchinger-Hof über die Wiesen heimwärts ging, war er recht froh über das zusätzlich verdiente Geld. Einen Teil der Freude hatten die Worte vom Fritz abgedämpft. Es störte ihn halt, daß allerweil und überall etwas an die Vergänglichkeit von allem Schö nen erinnerte. Grad so, wie wenn er sich nicht endlich
auch über sein Leben freuen dürfte! Je weiter er die Lichter des Dorfes hinter sich ließ, desto unangenehmer wurde ihm zumute. Über den Nachthim mel schoben sich dunkle Wolkentürme herauf. Vom Sal bach her krochen Nebel über den Wiesenboden, und die Luft war feuchtkalt, so daß sich der Jochen den Janker kragen aufstellte. Das Leben ist kurz, und man weiß nie ... So ähnlich hatte der Puchinger Fritz gesagt. Ein paarmal schaute sich der Jochen schnell um, weil er meinte, es könnte sich einer von hinten her an ihn schlei chen und ihn anspringen. Aber dann stand plötzlich einer vor ihm, der ihn bis auf den Tod haßte. Die zwei Männer erkannten einander schon an der dro henden Haltung. Ihr heftiges Atmen wurde zum Keu chen, und der Haß brannte zwischen ihnen, noch bevor einer das erste Wort gesagt hatte. Der andere drohte dem Jochen aus der Dunkelheit her aus: »Gut, daß du zurückgekommen bist! Knechtl kannst du hinters Licht führen, du Knecht! Aber auf die Dauer versteckst du dich auch nicht hinter den Weiberröcken. Wenn ich dich erst einmal im Visier hab, gibt’s einen Blattschuß!« Den Jochen quälte eine Wunde, der Ulrich Feltinger blu tete gleich aus zweien. Das machte den Kain so großzü gig, daß er alle Beleidigungen überhörte und recht ruhig sagen konnte: »Feltinger, laß gescheit mit dir reden!« »Lump! Wilddieb! Mordbub!« Vorsichtig machte der Jochen einen Schritt auf den Jäger
zu. Der hatte das Gewehr so über die rechte Schulter ge hängt, daß er den Abzug hätte schnell genug erwischen können. Der Lauf schimmerte dunkel und zielte nach vorn. Deswegen verlangte der Jochen schon entschiede ner: »Tu deinen Schießprügel weg! So ein Schuß kann los gehen, und ein Unglück ist schnell geschehen.« »Und schon!« lachte der Ulrich bösartig auf. »Wenn ich jetzt abzieh, glaubt mir jeder die Notwehr gegen den Mörder Kain. Auf diese Weise könnt ich mir die Gerech tigkeit verschaffen, die ich bei keinem Gericht find!« Die letzten Worte gingen in ein vom Haß ersticktes Rö cheln über. Ohne dem Kain den Rücken zuzuwenden, machte der Feltinger ein paar Schritte rückwärts und ver schwand im Dunkel der Nacht. Der Sommer kam mit seiner ganzen fruchtbaren Kraft ins Land. Bauern und Dienstleute begannen ihr Tagwerk vor Sonnenaufgang und gönnten erst den Feierabend sich, wenn es dunkel geworden war. Als der Puchinger Fritz seinen Knecht in die Stube rief, brannte in der Zuglampe oberhalb vom Tisch schon Licht. »Eh klar, daß wir Puchinger uns nicht am Unglück eines anderen bereichern wollen. Jochen, hat dir mein Vater auf der Gemeinde gezeigt, daß er eure Gründe damals ord nungsgemäß gekauft hat? Bei der Versteigerung mit dem Höchstangebot.« Das bestätigte der Jochen, aber er sagte doch auch: »Es sind halt nur drei Leut bei der Versteigerung gewesen,
hab ich gehört. « Der Fritz saß auf der Eckbank, und der Kain stand vor ihm, die Kappe in den Händen. Er schaute erstaunt auf. »Hetzt da jemand gegen uns?« Gleich beteuerte der Jochen: »Gar nie, Bauer! Alles hat seine Richtigkeit.« Weil er das Gefühl hatte, daß schon wieder etwas Ungutes auf ihn zukommen könnte, sagte er noch schnell dazu: »Kein Wörtl gegen deinen Vater! Nur er hat mir geholfen, wie ich heimgekommen bin. « Von langen Reden hielt der junge Puchinger nichts. Des halb schnitt er seinem ehemaligen Freund das Wort ab. »Ich will nur sagen, daß wir deine Gründe gar nicht brauchen. Der Vater und ich wollen, daß du möglichst bald wieder auf deinem Hof wirtschaften kannst. Darum überlassen wir dir dieses Land einstweilen auch ohne Rückkauf für eine symbolische Pacht von einer Mark im Jahr.« »Dank dir schön, Bauer«, stammelte der Jochen. Und noch einmal: »Vergelt’s dir und deinem Vater Gott! Mein Dank ... « »Bedank dich nicht hundertmal am Tag!« fuhr ihn der Fritz an. Dann lächelte er so herzlich wie zur Schulzeit und sagte: »Ich bin allerweil dein Freund gewesen, das weißt du. Mein Vater hat eingesehen, daß er dir damals schwer unrecht getan hat. Deshalb will er dir helfen, so viel er kann. Laß ihm das, denn es hilft ihm über sein schlechtes Gewissen. Glaub mir, Jochen: In seinem gan zen Leben hat er niemandem unrecht ’tan, nur dir. Das ist sein Seelenwurm. Gelt, mit niemandem darüber reden!«
»Versteht sich, Fritz. Ich dank ...« »Raus mit dir!« schrie ihn der Fritz lachend an. »Geh heim und schlaf dich aus, denn morgen haben wir wie der einen schweren Tag!« Diesmal rannte der Kain gleich über die Dorfstraße, weil das der kürzeste Weg war. Die Leute schauten ihm er staunt nach, beinahe ängstlich. An diesem Tag war er so schnell, daß er sogar den Lutzl überrumpelte. Der Hund jaulte erst, als sein Herr schon die Tür aufgerissen hatte und über den Hof stürmte. Voller Glück warf sich der Jo chen auf die Knie, umarmte den Lutzl und busselte ihn ab. »Das räudige Vieh! Dem graust vor nichts!« greinte die alte Steineggerin. Mißtrauisch beobachtete sie, wie die Lena aus dem Haus trat. Als er sie sah, schrie er: »Lena, ich erpack’s! Bald fängt das neue Leben an, denn die Puchinger-Bauern überlas sen mir meine Gründe in Pacht! Richtig wirtschaften und mir Vieh einstellen, dann bin ich wieder der KainBauer !« Er rannte auf sie zu. Unwillkürlich breitete sie vor ihm die Arme, so daß er sie packen und im Kreis umherwir beln konnte. Das Gesicht der Alten wurde aschfahl. Sie murmelte vor sich hin: »Jetzt täten sie rauschig werden, die jungen Leut. Da kommt’s nur noch auf mich an.« Und giftig schrie sie ihrer Enkelin zu: »Was freust du dich, dumme Urschel! Pack lieber rechtzeitig deinen Kram, denn wir verschwinden, bevor uns der großartige Bauer hinausschmeißt!«
An diesem herrlichen Abend konnte dem Jochen nicht einmal die Steinegger-Mahm das Glücklichsein verder ben. Die Lena machte sich von ihm los. Bei dem Elend, das ihr aus den alten, guten Augen der Großmutter ent gegenklagte, wurde sie unsicher. »Laß sie reden«, riet ihr der Jochen leise. »Sie meint es gut mit dir, aber ich ... « Beinahe hätte er ihr schon in dieser Stunde gesagt, was er sich unter einem zukünftigen Glück vorstellte. »Da gehst her!« kommandierte die Anna Steinegger mit dem Starrsinn einer, die das Leben hart gemacht hatte. Weil ihr keine andere Möglichkeit blieb, gehorchte die Lena, und die Alte zog sie ins Haus. Erst als sie beim Abendbrot wieder gemeinsam in der Küche saßen, kam ihm die Steineggerin nicht mehr aus. Sie machte ihm sogar das Zugeständnis: »Ich glaub dir, daß du ein guter Bauer sein wirst. « »Und ihr ... « Gleich schnitt sie ihm das Wort ab, sagte aber recht ver nünftig: »Hart genug, daß uns das Schicksal ins Ar men-häusl gebracht hat, aber auf dem Kain-Hof wird für uns einmal bestimmt kein Platz sein. Du wirst schauen müssen, wie du selbst durchkommst, Jochen. Almosen täten wir grad von dir keine wollen. « Der Jochen wußte nur zu gut, wie hart einem manchmal das Annehmen von Bettelgeschenken ankam. Darum rechnete er ihr ganz nüchtern vor: »Halt einmal die Luft an, Anna-Mahm, und horch, was ich dir sag: Ich hab mir nicht erst einmal mein Leben neu aufbauen wollen. Al lein erpack ich das nie. Alsdann denk ich mir, wir sollten
zusammenhelfen. Die Lena tät ich für den Stall und als Hilfe bei der Feldarbeit brauchen. Du könntest... « »Gern, Jochen«, flüsterte das Dirndl überglücklich. Um so giftiger keppelte die Großmutter los: »Ja, gibt’s das auch! Auf unsere Kosten will sich der Bettelmann als Bauer aufspielen! Hof und Grund gehören ihm nicht, Vieh und Saatgut auf Kredit, aber schon ist er ein großer Herr, der Kain-Bauer!« Es war so die Art vom Jochen, daß er jedes Wort lang überlegte. Diesmal zögerte er beson ders, bis er sagte: »Bist nicht ganz daneben, Anna-Mahm. Recht viel könnt ich euch wirklich nicht zahlen. Aber für soviel, wie ihr jetzt habt, tät’s reichen.« »Hörst es!« keifte die Alte. Man konnte meinen, ihre See lenruhe hänge davon ab, daß sie das gutgläubige Dirndl vor dem Bleiben bewahrte. »Lebenslang sollst wie im Ar menhaus leben! Dafür müßten wir uns bucklert arbeiten. Nein, Jochen! Vielleicht fällt dir die Lena auf dein treu herziges G’schau herein, aber ich hab entschieden: Wir ziehen zurück auf unseren Hof!« »Großmutter!« bettelte die Lena. Ausgerechnet in dieser Stunde, in der sie hätte glücklich sein können, sollte sie etwas so Grausames tun? Die Alte ließ ihr keine Wahl, denn sie kreischte und groll te weiterhin mit ihrer gebrochenen Greisenstimme: »Ste hen wir auf so eine abgewirtschaftete Keuschen an? Un ter dem Siebenstein-Kamm hat die Sonn das Eis schon weggebrannt, und da können wir längst auf unseren Hof heimgehen!« »Wach auf, Großmutter!« Die Lena weinte verzweifelt.
»Wach besser du auf und fall dem Kain nicht auf sein Ge süßel herein!« schrie die Steineggerin bösartig. »Hast noch nicht gehört, wie der lügt? Weißt du überhaupt, was damals mit dem Feltinger ...« »Großmutter, jetzt langt’s!« Endlich war die Lena ent schlossen, auch um ihr Glück zu kämpfen. Sie sagte, je des Wort betonend: »Lüg dir nichts mehr vor, Großmut ter! Bleib hocken, Jochen, denn du mußt auch einmal die Wahrheit über mich anhören! Der Steinegger-Hof ist nie reich und prächtig gewesen. Eher eine Steinhütte dort, wo nicht einmal mehr die Schafe genug zu fressen gefun den haben. Mit der goldenen Sonn ist es bei uns nie weit her gewesen, denn uns hat das Schicksal auf die Schat tenseite vom Leben gestellt.« »Lena, still bist!« kreischte die Alte und hielt sich die Oh ren zu. Aber diesmal ließ sich das Dirndl nicht mehr nie derdämpfen. »Ist gar nicht wahr, daß wir zwölf Dienstleut gehabt hät ten! Nur ein alter Knecht hat es so hoch am Berg mit uns ausgehalten, und ihn hat die Lawine samt unserem arm seligen Häusl weggerissen. Unser ganzes Vieh ist dabei zugrund gegangen, fünf Schafe und zwei Ziegen! Mehr haben wir nicht gehabt.« »Jetzt bist spinnert ’worden!« stöhnte die Großmutter verzweifelt. Die Lena aber begeisterte sich grad an der Wahrheit. Zum Jochen sagte sie: »Kein Wunder, daß nicht einmal du als Einheimischer den großartigen Steinegger-Hof un terhalb der Siebenstein-Wände gekannt hast. An der arm
seligen Keuschen bist du wahrscheinlich oft genug vor beigegangen, aber nie hättest du angenommen, daß dort drinnen Menschen hausen könnten. So, jetzt ist mir leich ter. Und die Großmutter kann sich nichts mehr von ei nem schöneren Leben vorlügen! Wir leben heute und hier. Mehr haben wir nicht, mehr sind wir nicht.« Plötzlich wurde die Lena leichenblaß. Sie drehte sich vom Jochen weg und lehnte sich mit der Stirn gegen die Herdkacheln. Die Mahm rührte sich nicht, wie wenn sie an der Wahrheit aus dem Mund ihrer Enkelin gestorben wäre. Nur der Jochen murmelte: »Geh weiter, Lena, so hättest du das auch wieder nicht sagen müssen. Jeder will von etwas träumen, damit er die Wirklichkeit besser packt.« Er stand auf. Die Stube war ihm allein zugespro chen. Da konnte er vom neuen, glücklicheren Leben träu men. Träumen, selbst wenn es später vielleicht gar nicht so schön werden sollte. Im nächsten Augenblick rappelte sich auch das alte Weibl in die Höhe. Es schaute zum Kain-Bauern hinauf, der es um mehr als einen Kopf über ragte, und zum ersten Mal nach langer Zeit sagte es wie der mit einer Spur Freundlichkeit: »Hätt ich nicht ge glaubt, Jochen, daß grad du mich verstehen könntest. « Er nickte. »Einer, den das Unglück schon so oft gebrannt hat, der weiß, wie weh auch einem anderen das Brandei sen tut.« Er ging in den Stall hinüber, und gleich trottete der Lutzl hinter ihm nach. Der künftige Kain-Bauer stellte sich an die Box fürs Roß. Und dort würden einmal die Kühe ste hen! Es roch gut nach Heu und Vieh. Die Kaninchen
klopften mit den Hinterbeinen gegen ihre Stallungen, die Hühner der Gamsl-Wirtin gackerten leise. Ein glückliches Lächeln trat auf seine Lippen. Von Roß, Kühen und Scha fen konnte er einstweilen nur träumen, aber Kaninchen und Hühner waren schon wirklich da! Und der Lutzl! Als sich bald darauf die Stalltür leise in den Angeln be wegte, wußte er, daß es nur die Lena sein konnte. Sie kam zu ihm. Ihr Gesicht war eine Spur blasser als sonst, aber das rote Haar schimmerte in der schwachen Stallbe leuchtung wie pures Gold. Aus ihren hellgrünen Augen strahlte ihm eine Sehnsucht entgegen, die sie nicht ein mal sich selbst eingestehen wollte. Ohne daß sie ein Wort herausgebracht hätte, öffneten sich ihre Lippen zu einer Bitte. Da konnte der Jochen nicht mehr anders und legte seine Arme behutsam um das Dirndl. Aber noch immer busselte er sie nicht, sondern fragte sie zuerst: »Wolltest du dir mit mir ein Leben aufbauen? Akkurat mit einem, den das Unheil schon rund um die Welt gehetzt hat?« Ihre Augen schimmerten vor Seligkeit. Flüsternd fragte sie zurück: »Wenn du eine nimmst, der ein Steinschlag auch noch das letzte bißl Mitgift weggerissen hat?« Er nickte ernst und bedächtig. »Leicht wirst du’s mit mir nicht haben, denn für mich steht an erster Stelle die Ar beit. « Eigentlich fand sie, er hätte nicht mehr soviel reden müs sen. Geduld mit ihm haben! Sie streichelte scheu über sein Gesicht und sagte lächelnd: »Ich weiß, Jochen. Erst der Hof, dann dein Hund. Solltest du zuletzt in deinem Herzen noch ein Platzl frei haben, so hätt ich es gern für
mich. Aber frühestens nach dem ersten Bussel!« Am liebsten hätte er vorher noch einen Juchzer losgelas sen, doch so viel Zeit wollte er auch wieder nicht verlie ren. Er zog die Lena an sich. Erst kam sein Mund behut sam dem ihren näher, bis es zuletzt ein Bussel voll Glück wurde. Für ihn sollte das Versprechen lebenslang halten! So zittrig sich die Lena in den Knien fühlte, wagte sie doch nicht den Vorschlag, sie könnten sich ins Heu set zen. Der Jochen hätte ihn falsch verstanden. Wenn er ihr sogar ihre Leidenschaft und Zärtlichkeit schlecht dankte: Mitten im Schöntun schaute er ihr ins Gesicht und sagte mißtrauisch: »Dafür, daß du allerweil in der Einschicht gewesen bist, verstehst du eine ganze Menge davon.« Sie lehnte sich in seinen Armen so weit zurück, daß sie in seine Augen schauen konnte. Eifern sollte er nicht! Sie schluckte die Kränkung hinunter und beruhigte ihn recht lieb: »Gelebt hab ich allerweil einsam, aber träumen wird man doch dürfen. Jochen, ich hab dich lieb!« Jetzt mußte es keiner mehr vorschlagen. Sie sanken auf den großen Heuhaufen nieder, den er für sein künftiges Vieh vorbereitet hatte. Nur noch ein bißl näher wollten sie einander sein. Er streichelte über ihr Haar, das zwi schen seinen Fingern wie Feuer und Gold glänzte. Ihre Wangen fühlten sich an wie Pfirsiche, zart und fest. Als er mit den Fingerspitzen über ihre Lippen fuhr, drückte sie ihm ein Bussel drauf. Beide schwebten sie in einem Meer von Seligkeit, denn genauso hatten sie sich die Lieb er träumt in zahllosen einsamen und schlaflosen Nächten. Sie vergrub ihr brennheißes Gesicht an seiner Brust und
flüsterte: »Alles will ich dir sein, Jochen. Tagsüber arbei ten, in der Nacht dich liebhaben. Nur eines fleh ich dich an: Belüg mich nie! Sag mir allerweil die Wahrheit, auch wenn sie weh tut. Ich kann mit allem fertig werden, aber an einer Lüge tät für mich die Welt zusammenbrechen.« Zart streichelte er über ihren Hals, bis zu den Schultern. Weiter wagte er sich nicht. Er sagte: »Du redest noch wie ein Kind. Aber ich hab schon erfahren, daß die Welt nicht so schnell zusammenbricht. Schon gar nicht wegen einer Lüge! Und der Mensch hält viel mehr aus, als er meint. Aber ich werd dich nie anlügen.« Seine Stimme klang so gut und ehrlich, daß ihm die Lena glaubte. Im nächsten Augenblick schreckten sie auseinan der. Das Dirndl sprang auf und zupfte sich ein paar Heu halme aus dem Haar. »Die Großmutter?« Der Jochen horchte hinaus auf den Wirtschaftshof. Er wollte sie beruhigen: »Vielleicht lauert der Lutzl vor der Stalltür. « Aber die Lena schüttelte den Kopf. »Ich hab genau die Schritte gehört. Komm, ich hab Angst. Angst um die Großmutter. « Sie suchten die alte Frau im ganzen Haus und in den lee ren Scheunen. Heimlich schaute der Jochen im Stadl so gar hinauf, ob sie vielleicht irgendwo im Dachstuhl hin ge. Zuletzt gingen sie miteinander in den Obstgarten. Dort hockte sie zusammengekrümmt bei den Johannis beeren und grub in der Erde unter den Sträuchern. Sie hörte die beiden nicht kommen. Nicht daß sie schwerhö rig gewesen wäre, aber wie soviele alte Leut horchte sie
schon mehr in sich hinein als in die Welt. »Großmutter«, redete die Lena sie leise an, »willst mir ’leicht Angst machen?« Die Steinegger Anna schüttelte den Kopf, so daß ihr silb rigweißes Haar im Mondschein schimmerte. Ohne aufzu schauen, sagte sie: »Gut, Kindl, daß du mir heut die Au gen so richtig aufgerissen hast! Den schönen Hof an der Felswand hab ich mir so oft vorgelogen, bis ich selbst daran geglaubt habe. Aber nicht einmal in unser Steinhäusl werden wir noch jemals heimkommen können.« Vor Aufregung schluchzte sie einmal auf, dann konnte sie recht ruhig sagen: »Keine Sorg um mich, denn ich brauch mein Haus nur einsfünfzig lang und fünfzig breit. Und so tief muß mich der Prenner Hias eingraben, daß mich bei der Nacht die Hund nicht ’rauskratzen können. Du, Lena ... « »Wir müssen alle zwei nie mehr fort!« beschwor sie ihre Großmutter. »Warum hockst du da und jätest bei der Nacht das Unkraut?« Die Anna-Mahm schaute nicht auf, aber plötzlich weinte sie leise vor sich hin und klagte: »Wie sollt ich sonst dem Kain danken? Er ist ein recht guter Mensch, und ich hab ihm manchmal das Leben sauer gemacht. Weil ich halt so gern wieder mit dir in die Einschicht ’gangen wär. Auf keinen großen Hof, sondern in unser Steinhäusl.« Als die Lena ein paar Augenblicke lang ganz unentschlossen war, schob sie der Jochen an die Seite und sagte : »Stei negger-Mahm, ich tät dich halt recht schön bitten, daß du mit der Lena bei mir bleibst. Du auch, denn ich brauch
euch alle zwei.« Die Alte schnellte so rasch auf, wie man ihr das nicht mehr zugetraut hätte. Sie reckte sich in die Höhe, damit sie zum Kain nicht gar so hoch hinaufschauen mußte. Prüfend kniff sie die Augen zusammen. Tief grollte sie: »Daß die Lena und du einander lieb habt, ist mir früher klar geworden als euch.« Und dann schrill hoch: »Mich tätest behalten wollen? Auch wirklich brauchen?« Der Jochen begriff nicht, warum sich plötzlich alles so gut auflöste. Mit einem Juchzer packte er die alte Mahm um die Mitte, hob sie auf und wirbelte sie übermütig im Kreis. Er ließ sie ruhig kreischen. Glücklich lachend, schrie er: »Und ob ich dich brauch! Niemand macht so gute Schmalzkrapfen wie du!« »Der Kain wirtschaftet wieder auf«, flüsterten einander die Dorfleute zu. Die g’standenen Bauern von Roitern glaubten nicht recht daran, weil sie wußten, daß es mit einem Hof viel schneller hinunter als hinauf ging. Der Puchinger wollte auch seine Hilfsbereitschaft nicht an die große Glocke hängen lassen. Er verlangte vom Jochen: »Mußt die gewissen Neuigkeiten nicht austrommeln ge hen! Die zwei Weiber im Armenhäusl sollen auch nicht alles wissen. Tät mir grad noch fehlen, daß so ein Neid hammel von der Opposition ausstreuen würde, ich tät dir was aus der Gemeindekassa geben.« Um diese Zeit kam der Jochen mit der Arbeit auf dem Puchinger-Hof ordentlich dran. Grad weil der Fritz merkte, wieviel er von der Bauernarbeit verstand, ver
langte er von ihm mehr als von jedem Knecht. Dafür sag te er an einem Donnerstag: »Jochen, ich hab einen heiklen Auftrag für dich, aber du hast mich noch nie enttäuscht. Alsdann: Morgen ist in Siebenstein Viehmarkt. Ich komm vom Hof nicht weg, und der Vater muß wegen einer An gelegenheit als Bürgermeister in die Stadt. Wir könnten noch zwei erstklassige Milchkühe zur Zucht einstellen. Du verstehst ’was, und ich geb dir dazu ein paar Richtli nien. Bei der Gelegenheit solltest du dir auch etwas für den Stall aussuchen. Ich tät mit einer Kuh, Schweindln und ein paar Schafen anfangen. Dafür aber gutes Vieh, denn du mußt auf die Zucht hinarbeiten.« Das kostete den Jochen einen bitteren Lacher. »Richtig wär’s freilich, aber ...« Der Fritz warf ihm ein grünes Büchl auf den Tisch. »Das hat mir heute früh der Simmerauer von der Bauernbank für dich gegeben. Du kannst jederzeit über den ganzen Kredit verfügen. Der Vater hat die Bürgschaft übernom men. Alsdann, tust mir den Gefallen und schaust dich morgen für mich auf dem Viehmarkt um?« Wieder einmal verschlug es dem Jochen die Rede, bis er stammeln konnte: »Fritz, ich weiß wirklich nicht... « Der junge Puchinger stellte sein Danken gleich ab. Ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen, riet er ihm: »Du solltest dir jemanden mitnehmen, der auf dich aufpaßt. Von jetzt an hast du einen Patzen Geld, und darauf flie gen die Wirt nicht weniger als die Weiber. Ich tät dir zur Oberaufsicht die Steinegger Lena vorschlagen. Die ver jagt dir bestimmt alle schlechten Dirndl, und im Wirts
haus wird sie dich auch nicht versumpfen lassen. « »Recht hast, Fritz!« schrie der Jochen glücklich heraus. Dann flüsterte er noch: »Dürft ich dich am End gar ein mal zum Trauzeugen bitten?« Den Dorfratschen blieb so viel Glück nicht verborgen. Wenn der Jochen nach der schweren Arbeit auch noch wie ein Wilder heimstürmte, ging das Schnattern hinter ihm los. Die Matsching Kra merin sagte zur Seegruber-Tochter: »’bald ein Mannsbild so dahinteufelt, ist es entweder hinter einem Weiberrock her, oder es rennt vor einem davon.« Die Susi Seegruber lächelte bittersüß, denn ihr waren bis her noch alle so schnell davongerannt, daß sie keinen er wischt hatte. Auf den Jochen Kain sagte sie: »Könnt wahr sein, was man so hört. Nur im Vertrauen, wenn du nichts weitersagst!« »Ehrenwort!« »Er soll ’was mit der Steinegger Lena haben. Wenn eine im Armenhäusl sitzt, kann sie halt nicht die Zimperliche spielen. Vielleicht wird man’s bald unter ihrem Rock wachsen sehen.« »Geh, Susi, red nicht so grauslich!« Die Augen der Kra merin funkelten aber mehr aus Lüsternheit als aus Zorn. Von solchem Gerede ahnte der Jochen nicht einmal et was. Er rannte bis zu seinem Hof und warf sich gegen die Tür, die nun nicht mehr versperrt, sondern nur noch zu gemacht war, damit der Lutzl nicht ausrücken und sich schon tagsüber an den Janker von seinem Herrn hängen konnte. Die Lena setzte sich gerade mit dem großen Weitling auf
die Hausbank, weil sie beim Kartoffelschälen noch die letzten Sonnenstrahlen genießen wollte. Sie schrie auf: »Bist ganz spinnert ’worden?« Er busselte sie wild ab, streichelte und drückte sie voller Liebe. Bevor er noch etwas erklären konnte, stürzte die Anna-Mahm aus dem Haus und greinte: »Mein Gott, Kindl, du schreist, daß es einem das Herz abreißt! Was hat’s?« »Morgen geht’s an!« Der Jochen keuchte noch vom Ren nen. Jaulend drängte sich der Lutzl zwischen ihn und die Lena, bis er den Köter tätschelte. »Ja, Lutzl, wir haben es geschafft! Morgen kauf ich auf dem Markt von Sieben stein mein erstes Vieh. Von der Stund an ist das nicht mehr das Armenhäusl, sondern wieder der Kain-Hof !« Sie setzten sich zum Abendessen. In der Mitte vom Tisch stand die große Rein mit dem Kartoffelschmarren, und zur Feier des Tages hatte die Lena geröstete Speckwürfel samt dem Fett darübergeschüttet. Jeder langte mit sei nem Löffel hinein, wobei die Mahm nicht viel langsamer war als der Jochen. Der tischte zuletzt noch eine Neuig keit auf: »Der Puchinger Fritz verlangt, daß ich mir mor gen eine Aufpasserin mitnehm. Er sagt, auf soviel Geld wären die schlechten Leut ganz gierig. Lena, du sollst mit mir fahren, meint der Puchinger-Fritz.« Ihre Wangen färbten sich vor Freude, aber sie wollte noch etwas hören: »Was denkst du, Jochen?« In seinem Glück vergaß er ganz, daß mit ihnen die Stei neggerin am Tisch hockte und sie mißtrauisch beobachte te. Es brach aus ihm: »Mitkommen sollst, wohin ich auch
geh!« In das stille Glück der zwei jungen Leut flüsterte die Mahm: »Tätest sie auch ins Elend mitnehmen?« Sie machte das eiserne Ofentürl einen Spalt auf, damit das Feuer nicht zu zeitig erstickte. Regungslos schaute sie in die verglimmende Glut, als könnte sie darin etwas über ihr verglimmendes Leben ablesen. Plötzlich sagte die Lena: »Ich tät mit ihm überallhin gehen, Großmutter. Das ist die Lieb.« Mit ungewohnt weicher Stimme erwiderte die Steinegge rin: »Geh weiter, Dirndl. Es gibt manchmal eine Lieb von den Eltern zu den Kindern; schon seltener zwischen Ehe leuten, die miteinander alt geworden sind. Lieb ist, wenn man alles hergibt und nicht einmal auf ein Dankeschön wartet. « Nach einer Weile stand die Lena auf und trug den leeren Hafen vom Tisch weg. Als sie an der Großmutter vorbei ging, konnte sie nicht anders und streichelte ihr über das silbrige Haar. In dieser Stunde fühlte sogar der Jochen im Herzen ein bißl Wärme für die sonderbare Alte aufstei gen. Als sie kurz nach vier Uhr früh vom Hof weggingen, fragte die Lena: »Was willst schon um diese Zeit? Der erste Autobus ... « Er schritt kräftig aus und drängte sie: »Geh halt weiter, Dirndl! Ich hab noch eine Menge zu erledigen und will vor den anderen Leuten nach Siebenstein kommen. Weißt eh: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich lass’ mir doch nicht von den Großkopferten das schönste Vieh weg
schnappen!« Ihr wurde ängstlich zumute. »Willst gar zu Fuß durch den Teufelsgraben? Es ist noch nicht einmal ganz hell.« Schon sein Lachen klang in ihren Ohren, wie wenn er das Schicksal lästerlich herausfordern wollte. Er ging dann nicht gleich den Wiesenweg hinunter, sondern bog au ßerhalb vom Dorf nach rechts ab und bestimmte: »Soviel Zeit muß allerweil bleiben. « »Das kann noch lustig werden«, klagte die Lena leise hin ter ihm her. Seit die Lawine sie im Keller des SteineggerHäusls eingeschlossen hatte, litt sie unter panischer Angst vor dem Sterben. Der Tod würde auch so sein: stockfinster und mit zuwenig Luft. Das Gittertor kreisch te arg in den Angeln. Als der Jochen zwischen den Grä bern ging, sagte er zur Lena zurück: »Das wirst du doch verstehen? Stell dir vor, wie sich meine Leut beim Abhau sen heruntergekränkt haben! Ich sag ihnen, daß es den Kain-Hof wieder gibt.« Das sah die Lena ein. Dafür wartete er beim nächsten Quergang auf sie, schob seine Hand in ihre und führte sie zum Armengrab an der Friedhofsmauer. Er sagte: »Vater, Mutter. Heut ist es soweit. Alles wird wieder gut. Wenn die Leut ›Kain‹ hören, denken sie nicht mehr an den grauslichen Mörder aus der Bibel, sondern wissen, daß der Bauer vom Kain-Hof gemeint ist. Das hab ich euch sagen müssen. « Vor der Lena fühlte er sich doch ein bißl gehemmt. Deshalb schloß er ziemlich bald : »Und die an meiner Seite ist die Steinegger Lena, die ich lieb hab ... Alsdann, pfüat euch!«
Er verneigte sich wie früher als Bub, wenn er als Minis trant gegangen war. Die Lena bekreuzigte sich schwei gend. Nur in Gedanken hatte sie zu den Kain-Eltern ge sagt: »Laßt mich mit dem Jochen glücklich werden, denn ich hab ihn ehrlich lieb.« »Gehen wir!« riß er sie aus ihrem wortlosen Beten. »Höchste Zeit, wenn wir durch den Teufelsgraben schneller sein wollen als die Leut mit dem Bus.« Bald hinter dem Friedhof wurde die Wirtschaftsstraße schmal, fiel ab und zwängte sich durch den Eingang in den Salbach-Graben. Donnernd stürzte sich das Wasser zwischen den Felsen in die Tiefe. Von der Mitte der Holz brücke aus schaute der Jochen hinunter. Jetzt gab es kein Eis mehr, aber dafür waren bestimmt die Kreuzottern aus ihrer Starre erwacht. »Komm weiter«, bettelte die Lena, weil er so regungslos hinunterstarrte. Aus dem Teufelsgraben lockten zu viele Gefahren ! Grad weil man die Felsen unter dem Wasser, die Wirbel und die Giftschlangen nicht so deutlich er kannte. Die Lena und der Jochen nahmen einander an den Hän den. So kamen sie durch die Schlucht, und der Teufels graben zeigte ihnen all seine Schönheit. Unzählige winzi ge Pflanzen bauten Polster auf, in denen silbrige Wasser tropfen glitzerten. Rote und weiße Blumensterne blühten aus Ritzen und Steinen hervor. An manchen Stellen, wo zwischen den aufstrebenden Felsen der blaue Himmel zu sehen war, brachen die ersten Sonnenstrahlen durch und ließen den Berg aufleuchten wie den unterirdischen Pa
last eines Märchenkönigs. Die zwei jungen Leute redeten nichts, grad andächtig gingen sie den Weg weiter. Als sie aus dem Teufelsgraben kamen, lag das Dorf Sie benstein im saftigen Grün der Wiesen und Felder vor ih nen. Ein Windhauch trieb fröhliche Musik bis hinauf an den Waldrand. »Die haben schon angefangen!« schrie der Jochen auf. »Komm, Dirndl, wir dürfen keine Zeit verlieren!« Ein bißl enttäuscht war sie schon, denn sie hatte auf we nigstens ein Bussel gewartet. Ringsum duftete das Gras nach Liebe und nach Zärtlichkeit, und die Junisonne schmeichelte über ihre Haut. Aber der Jochen hatte sie ohnehin gewarnt, daß bei ihm die Arbeit immer an erster Stelle stehen werde. Er packte die Lena an der Hand und rannte mit ihr den Wiesenweg weiter, bis sie mitten auf dem Viehmarkt von Siebenstein standen. Der Jochen schaute mit einem stillen, andächtigen Glück um sich. Gleich an der Straße hockten die Weiber und bo ten, einander überschreiend, Hühner an: weiße, braune und buntgefiederte. Aber der Kain sagte lachend zu sei nem Dirndl: »Hab ich schon. Die Hendl von der Wirtin sollen fleißig legen und brüten, denn sonst landen sie in der Pfanne!« Zielstrebig ging er zum Standplatz der Schweinehändler. Seine Augen leuchteten, als er das runde Hinterteil einer rosa Sau tätschelte. »Die wär schon gut für den Anfang zur Zucht«, sagte er und vergaß, daß er nicht allein auf der Welt war. Er zähl te und rechnete: »Zehn Ferkl auf einen Wurf. Die
schwarz-weiße tät mir auch nicht schlecht taugen. Dazu der Eber. « Schon hatte der Händler mit seinen kleinen Schweins-äu gerln die zwei jungen Leute entdeckt und kam auf sie zu. Junge Bauern, die ihren Hof auf- oder ausbauten, waren immer gute Käufer! Deshalb riet er ihnen väterlich: »Leutln, nicht am falschen Fleck sparen, sondern gleich eine Sau fürs Fleisch und eine fürs Fett einstellen! Das wäre heut mein erstes Geschäft. Ich geb’s besonders bil lig, weil die jungen Leut von heute die reiche Kundschaft von morgen sind. Das kostet zusammen... « »Wär das nichts, Jochen? Ich tät sagen ...« Die Lena ver stummte unter seinem Blick. Zum Viehhändler warf der Jochen noch recht großspurig hin: »Billig ist nicht allerweil preiswert! Erst muß ich schauen, ob’s auf dem Markt nicht noch etwas Besseres gibt. Zur Zucht stellt man sich nur erstklassiges Vieh in den Stall!« Schon zog er die Lena weiter, und die gestand ihm leise : »Ich versteh dich nicht mehr, Jochen. « Wie halt ein erfahrener Bauer so ein junges Dirndl be lehrt, sagte er: »Wirst es auch noch lernen. Einstweilen verstehst du nicht viel vom Handeln. Ich hab in der Welt dafür einen ordentlichen Batzen Lehrgeld gezahlt. Merk dir: Gegen Mittag fallen die Preise, weil auch so ein Vieh handler ein Mensch ist, dem’s am besten schmeckt, wenn er vorher ein Geschäft gemacht hat. Sobald einer am Zu sammenpacken ist, gibt er auch gute Ware zum günstigs ten Preis. Ich muß den Hof vom Grund her aufbauen,
und da rechne ich mit jedem Zerquetschten!« Er zog die Lena weiter. »Keine Angst, wir kriegen alles. Das Schöns te am Kaufen ist noch allerweil das Auswählen und das Handeln!« »Was ich sag! Das ist meine Red!« Ein dröhnendes La chen ließ sie herumfahren. Hinter ihnen stand der Schwa leck-Bauer. Mit listigen Augen musterte er den Kain und seine Dirn, so daß die Lena ganz verlegen wurde und ihre Hand aus der des Jochen zog. Dem Schwaleck ent ging auch das nicht, und er flachste gleich: »Mit der Lieb ist es nicht viel anders. Am schönsten ist das Herumsu chen und das Ausprobieren! Nachher geht das Schachern um die Mitgift an, und wenn man so ein Weiberl erst ein paar Jahre hat... « »Ist gut, Schwaleck«, unterbrach ihn der Jochen, weil er merkte, daß sich die Lena bei solchen Reden gar nicht gut fühlte. »Es kann immer geschehen, daß man daneben tappt, aber ich tät meinen, grad Leichtfertigkeit und Schachern bringt in der Lieb kein Glück. Gelt, jetzt muß ich mich weiter umschauen. « »Hast eh recht«, stimmte ihm der Schwaleck-Bauer noch zu, weil der sein Lebtag immer mit jedem derselben Mei nung war. Mit einem fast schon lüsternen Blick auf die Lena murmelte er: »Was muß einer wie du noch viel her umsuchen? Wenn du ein so bildsauberes Schatzl hast. Und so angenehm: gleich im Haus !« Der Schwaleck ging mit einem lustigen, tatsächlich un -froh klingenden Lachen davon, aber in Lenas Augen standen kleine Tränen. Längst wußte sie, wie manche
Leute in Roitern über sie flüsterten, doch ins Gesicht hat te ihr bisher noch keiner so schlecht geredet. Als der Jo chen merkte, daß sie sich kränkte, schob er seinen Arm unter ihren, und als sie sich losreißen wollte, hielt er sie fest. Um sie zu beruhigen, sagte er: »Gibst du etwas auf das, was ein Schwaleck redet? Der meint es gar nicht bös, weil er keine Meinung hat. Und in einem geb ich ihm so gar recht: Du bist bildsauber, Lena! Jetzt ärgere dich nicht mehr, sondern denk dir wie ich: Manche Menschen ha ben im Kopf weniger Hirn als ein Ochs. Jessas, schau dir dort die Rinder an! Echte Simmentaler! Oder nehmen wir das rotscheckige Schwarzwälder?« Sie riet ihm : »Pinzgauer, tät ich sagen. « »Ich hab auch allerweil schon Pinzgauer haben wollen!« Auf die Wangen des Jochen Kain traten vor Aufregung rote Flecken. Wie wenn er Fieber gehabt hätte. »Bei dem nehmen wir auch die Rinder für den Puchinger. Dafür handeln wir einen guten Preis aus, wirst sehen, Dirndl!« Sein Gesicht war von Seligkeit übersonnt und hatte alle harten, scharfen Züge verloren. So wäre die Lena auch gern einmal gewesen, denn das Glücklichsein machte die Menschen nicht nur schöner, sondern auch gut. Noch immer kaufte der Jochen nichts, sondern er be stimmte: »Erst wird gegessen.« Dazu durchstreifte er den Marktplatz von einem Ende zum anderen, bis er bei der alten Bäuerin einen Laib Brot vom Holzkohlenofen kaufte. Bei einer anderen erstand er eine Dürre und ein Stückl Speck. Als besonderen Luxus gönnte er sich vom Bäckerweibl zwei große Bierbrezen,
und dann sagte er zur Lena: »Jetzt hätten wir’s. Wir ge hen essen. Die Viehhändler sollen ruhig noch ein Stündl im eigenen Saft schmoren. Nachher sind sie reif und batzweich. Willst dich in einen Wirtshausgarten setzen, oder... « »Oder?« fragte sie, weil er nicht weiterredete. Ein bißl g’schamig murmelte er : »Wir könnten auch ein Stück außerhalb vom Dorf auf einer Wiese ... Ich mein’, viel Zeit haben wir ohnehin nicht, denn die beste Ware lass’ ich mir nicht wegschnappen. « »Nicht in eine Wirtschaft gehen! Mit dir allein auf einer Wiese«, bat sie, und ihre Augen glänzten vor Glück. »Vielleicht dort drüben beim Waldrand?« »Warum nicht.« Nur flüchtig dachte er daran, wie er aus der Ferne heimgekommen und diesen Weg gegangen war. Vom Waldrand her hatte er noch einmal zurückge schaut nach Siebenstein. Inzwischen war in seinem Leben alles anders geworden! Wozu noch zurückschauen, wenn doch vor ihm ein so wunderschönes Leben lag! Der nächste Tag begann für ihn mit einem großartigen Glücksgefühl. Lang vor dem ersten Morgenschein im Os ten sprang der Jochen aus seiner Bettstatt. Auf Zehenspit zen schlich er die Treppe von seiner Dachkammer hinun ter, aber akkurat die vierte Stufe knarrte wieder. Der Lutzl hörte ihn bis zur Hundehütte, die er als Sommer quartier bezogen hatte. Er streckte die Nase heraus, blin zelte nach seinem Herrn und schlief weiter den Schlaf des gerechten Wachhundes.
Der Jochen duschte sich das Wasser aus dem Brunntrog über den bloßen Oberkörper und über den Kopf. Nach diesem guten Anfang ging er so vorsichtig, daß seine Holzschlapfen keinen Lärm machten, auf den Stall zu. Voller Andacht drückte er die Türklinke nieder. Im nächsten Augenblick prallte er zurück, denn da stand eine menschliche Gestalt vor ihm. Er konnte nur noch schnaufen: »Grad daß einen nicht der Schlag trifft! Du bist schon auf?« In ihrem Arbeitsgewand mit dem ein bißl knapp gewor denen Mieder schaute sie bildsauber aus. Recht breite Hüften hatte sie, eben recht für eine junge Bäuerin. Unter dem Kopftuch drängte sich rotblondes Haar hervor, und aus den grünen Augen strahlte ihm das Glück entgegen. Leise fragte sie. »Was schaust du mich so an, Jochen?« »Ich werd dich grad noch anschauen dürfen! Wenn du mir doch so narrisch gut gefällst!« Ein paar Sekunden lang ließ sie seine zärtliche Stimme in ihrer Seele nachklingen, dann mahnte sie ihn: »Heute geht die Arbeit auf dem Kain-Hof richtig los ! « Schnell machte er einen Schritt auf sie zu und gab ihr ein Bussel. Herrgott, wie war das Leben schön! Wie er es sich einst erträumt hatte! Auch wenn er immer meinte, die Steffi ... Daß er ausgerechnet in dieser Stunde an die den ken mußte ! Er kriegte der Lena gegenüber beinahe ein schlechtes Gewissen, als ob er sie in Gedanken betrogen hätte. Darum gab er ihr noch ein Bussel und befahl als der Kain-Bauer: »Auf geht’s! Packen wir’s!« Er stieß die Gabel ins Heu und schleppte ganze Ballen
davon heran. Eine Kuh und fünf Schafe! Grunzend schmatzten die Schweine ihren Trank aus dem Trog. Der Jochen stutzte. »Woher haben sie schon ... « Die Lena freute sich wie ein Kind über die gelungene Überraschung. »Gelt, Jochen, da schaust! Ich hab den Sautrank gestern bei der Nacht in der Waschküche ge kocht. « Daraufhin war er noch stolzer auf das Dirndl, das einmal seine Frau und die Bäuerin auf dem Kain-Hof werden sollte. Zur Gaudi grollte er: »Ein Glück, daß du ihn we nigstens nicht in der Küche gemacht hast. Stell dir vor, durch einen Irrtum hätten die Schweindl unser Mittages sen ’kriegt. Was wär nachher für uns ’blieben?« Sie lachte, erinnerte ihn aber doch: »Arbeiten! Du gackerst beinahe mehr als die Hendl von deiner schönen Wirtin ! Ja, ihr bekommt schon ’was ... pipipi ! « In einer Stunde war alle Arbeit im Stall getan. Der Jochen fand nachher gerade noch Zeit, sich in der Küche an den Frühstückstisch zu setzen. Dort lachte ihm die Stein-eg ger-Mahm ungewohnt sonnig entgegen. Nicht zum Er kennen war sie! Ohne einen Tropfen zu verschütten, schöpfte sie den Milchkaffee in die Schalen und schnitt vom Brotlaib kräftige Ranken. »Schon alles fertig, Bauer.« Wie flink der Alten die Hausarbeit von der Hand ging! Sie war halt auch glücklich, daß sie noch zu etwas taugen durfte. An diesem Morgen hätte der Jochen am liebsten die ganze Welt umarmt, aber recht bald sagte er: »Ich muß rennen. Der Puchinger füttert mich nicht für mein schönes Gesicht durch!«
Die Mahm am Herd hob die Hand. »Pfüat dich, Bub!« Das hatte sie lieb gesagt. Als er schon an der Tür war, flüsterte ihm die Lena noch zu: »Gib auf dich acht, Jochen. Grad heute. Immer, wenn das Leben so schön ist...« Mehr sagte sie nicht, aber er hatte sie verstanden. Die Hauptstraße hinunter zum Kirchenplatz und zum Puchinger-Hof rannte er. Alle Leute, die er grüßte, dank ten ihm freundlich. Vor dem Wirtshaus »Zur goldenen Gams« kehrte die Hämmerl Erna ein paar Lindenblätter vom Gehsteig und machte von außen her die hölzernen Fensterladen auf. »Grüß dich, Wirtin!« »Grüß dich, Kain.« Ihre Stimme klang eine Spur hochna serter als sonst, aber dann siegte ihre Neugierde. »Ich hab gehört, du hast so schönes Vieh gekauft. Da fühlen sich künftig die Hendl von mir nicht mehr einsam.« Die Uhr auf dem Kirchturm schlug an. Ohne sich viel zu denken, schrie der Jochen: »Kommst halt einmal und schaust dir meinen Stall an!« Er war schon am Weitergehen und hörte hinter sich die Wirtin jammern: »Tät ich sogar gern. Aber dann erschlägt mich der Hämmerl, und so ein Sauweibl ratscht, ich wür de dir nachrennen!« Akkurat an diesem schönen Tag, mitten in seiner glückli chen Stimmung, holte ihn wieder die Vergangenheit ein. Der Puchinger Fritz sagte nämlich: »Komm auf ein paar Minuten mit!« Sie gingen ins Ausgedinghäusl hinüber. Noch immer
dachte sich der Jochen nichts, bis der Fritz die Stubentür aufgemacht hatte. Dort sah er die Bürgermeisterin im Rollstuhl sitzen. Sie schaute auf ihren Sohn, und ein Lä cheln wie ein schwacher Kerzenschein huschte über ihre blutleeren Lippen. Der Fritz sagte: »Schau, Mutter, wen ich dir mitbring! Du kennst noch den Jochen, meinen ehemaligen Schulfreund? Den Kain. Kennst ihn doch!« Jetzt machte der einen Schritt vor ins Licht und sagte recht befangen: »Grüß dich, Frau Puchinger. Ich wär schon früher gekommen, aber weil du ... « Er verstummte. Im nächsten Augenblick krümmte sich die Kranke auf. Mit starren Augen schaute sie auf den Kain, der Schritt für Schritt zurückwich. Aus der Afra Pu chinger quälte sich ein Schrei, nicht laut, aber so arg, daß er einen durch Mark und Bein schnitt. Ein Röcheln wie beim Ersticken! Plötzlich war der Bürgermeister da, packte den Jochen und zog ihn aus dem Raum. Eine Tür schlug zu. Der Fritz war bei seiner Mutter geblieben. Noch ganz erschüttert stand der Kain im Vorhaus. Tonlos flüsterte er dem Bürgermeister zu: »Mein Gott, wie sie mich angeschaut hat. Wie wenn sie herausschreien wollt: Mörder!« Damit machte er den Puchinger so fuchtig, daß der dro hend grollte: »Werd mir nicht auch noch spinnert! Das Unglück langt! Ich hab dir doch erzählt, daß meine Afra wenige Tage nach dem Jägermord die ersten Anzeichen von Lähmung gezeigt hat. Reden hat sie bald auch nicht mehr richtig können. Du weißt doch ... ? Einen Schmar
ren weißt du, weil du damals davon’teufelt bist und uns im Elend hast hocken lassen! Die Leut sind über mich hergefallen und haben mir vorgeworfen, ich hätt dich ab sichtlich entwischen lassen. Bei so vielen Aufregungen ist mir die Afra zerbrochen. Das mußt du verstehen, Jochen. Sie hält dich halt noch allerweil für den ... « »Nein!« Dem Jochen brach Schweiß auf der Stirn aus. Gleich legte ihm der Bürgermeister beruhigend die Hand auf den Arm. »Nimm’s nicht schwer! Jeder weiß, daß sie im Kopf nicht mehr richtig ist. Einer, die so arg beisam men ist, glaubt im Dorf ohnehin keiner.« »Ja, Herr Bürgermeister, wirst schon recht haben«, fügte sich der Jochen, aber so schnell konnte er sich nicht wie der erfangen. Als er schon mit den anderen Dienstleuten vom Pu-chin ger-Hof auf dem Feld arbeitete, beschwor er sich lautlos: »Nicht wieder zurückschauen! Nur noch die Afra Pu chinger weiß, daß ich damals doch beim Jäger-Häusl ge wesen bin. Anflehen hab ich den Feltinger Rupert wollen, daß er mich nicht anzeigen soll. Er hat mich mit dem Ha sen im Rucksack erwischt, aber der Vater hat das Fleisch gebraucht. Auf Knien hätt ich ihm versprochen, dem Jä ger... Aber er hat sich aufs Klopfen nicht gemeldet. Wie hab ich wissen können, daß er schon als Leich drinnen gelegen ist!« »Jochen!« riß ihn die Stimme vom Großknecht aus seinen Gedanken. »Du arbeitest wie ein Ochs! Mußt du dem Bauern beweisen, daß du um so viel besser bist als wir? Man könnt’ grad meinen, du wolltest vor etwas davon
rennen!« Je lieber ihn die Lena gewann, desto mehr wollte sie von ihm wissen. Es war gar nicht leicht, sie mit Busseln oder einem lieben Streicheln zu beruhigen. Als er an einem der nächsten Tage zum Frühstück in die Küche kam, drehte sie sich schnell zum Herd und rührte wie wild im großen Milchhafen herum. Schnell, bevor noch die Anna-Mahm aus ihrer Kammer herhumpelte, drückte er ihr von hinten ein Bussel auf die Wange. Dabei spürte er die Tränenspuren in ihrem Gesicht. Sicher hatte sie wieder Tratsch gehört, denn die Leute redeten zuviel über ihn und die Steffi! Deshalb bat er recht lieb: »Halt mit mir durch, Lena! Manchmal spielt das Gewesene in unsere Zeit herein, aber ich werd alles tun, damit uns das Unglück von damals das Glück von heute nicht um bringt. Wenn du nur zu mir stehst!« »Wenn du mich nie anlügst!« verlangte sie heftig, bussel te aber gleich darauf die Hand, die sie streichelte. Weil Sonntag war, gingen sie über die Wiesen hinauf zum Waldrand. Die Vormittagssonne war gut, denn sie stach und brannte noch nicht. Sie kannten schon viele schöne Platzl. Auf eines setzten sie sich. Es roch köstlich nach Sommerwärme, Moos und Kräutern. Der Jochen busselte die Lena, und die gab ihm jede Zärtlichkeit viel fach zurück. Grad verzweifelt klammerte sie sich an ihn, denn keinen Augenblick lang konnte sie ohne Angst glücklich sein. Immer wieder versuchte sie, von seinen Augen die Wahrheit abzulesen. Weil sie ihm so leid tat,
bat er sie noch einmal: »Was immer auch geschieht, Lena: Ung’schaut mußt du mir vertrauen! Ich werd dich nie aus Bösartigkeit täuschen. Hilf mir! Man tut sich schwer ge nug, wenn man sich gegen sein Schicksal auflehnt!« »Freilich glaub ich dir«, versprach sie ihm. Dafür zog er sie in die Arme und busselte sie voller Zärtlichkeit. Sie redeten nicht mehr viel. Ganz still träumten sie vor sich hin und hielten einander an den Händen. Ab und zu sagte ein Blick mehr als alle Worte. Dennoch hatten sie selten zuvor so deutlich gefühlt, wie sehr sie zusammen gehörten. Es war alles längst ihre Bestimmung. Was im mer kommen mochte, sie würden sich dreinfinden müs sen. Eine Stimme, die sich gleich zweifach überschlug, schreckte sie auseinander: »Schau sich einer die jungen Leut an! Busseln, wo ihnen jeder zuschaut! Das sind die Unsitten, die der Kain von draußen heimgebracht hat!« »Was hat’s, Mahm?« fragte er recht verlegen. »Ist was geschehen, Großmutter?« Die Alte schrie auf: »Was geschehen ist? Eh nur, daß mir das Essen verbrennt! Ich altes Weib muß euch bis auf die Wiese nachrennen und euch zum Futtertrog schleifen!« Gut kochen konnte sie, die Anna-Mahm. Jedes Lob wehr te sie keifend ab, doch ihre Augen leuchteten besonders bei anerkennenden Worten vom Jochen. Gleich nach dem Essen stand der auf und sagte: »Ich hab noch eine Arbeit im Stall.« »Wart, ich helf dir«, schloß sich ihm die Lena an. Die Mahm spülte schon das Geschirr und keppelte giftig her :
»Nicht daß ich euch wieder holen muß ! Hochzeit wird noch lang nicht gefeiert.« Dafür hatte der Jochen nur einen glücklichen Lacher. Im Vorbeigehen drückte er der Steineggerin ein Bussel auf die verwelkte Wange. Dazu sagte er: »Sorg dich nicht al lerweil, du böse Zangen! Eine Weile wart ich noch zu, aber dann schaff ich es Zug um Zug: Segen, Ringl, Lieb und Kindl!« »Daß du dich halt nicht in der Reihenfolge irrst!« schrie ihm die Alte nach. Jeden Tag mehr glaubte der Jochen wieder an sein Glück. Er wachte nur noch selten schweißgebadet in der Nacht auf. Auch bei Tag wurde er ruhiger, ja überhaupt fühlte er sich sicher, zu sicher. Er sah die warnenden Vorzeichen nicht mehr, weil er sie nicht sehen wollte. Auch für ihn sollte endlich einmal die Welt gut sein und bleiben. Ende Juli wurde die Arbeit immer schwerer. Vieh und Mensch mußten geben, was sie an Kraft aufbrachten. Den Bauern saß die Angst vor Unwettern wie ein Stachel im Fleisch, so daß sie ihre Dienstleute bis in die späten Abendstunden antrieben. Immer häufiger griffen die Knechte zur Peitsche, auch wenn ein Ochs oder ein Pferd kaum mehr weiterkam. »Geh, laß das«, sagte der Jochen und ging auf den Sepp zu. »Was haust du das Roß? Das packt’s einfach nicht.« Gleich wichen die anderen Dienstleute zurück, denn sie wußten, daß der Sepp der einzige auf dem Hof war, mit dem der Kain immer wieder zusammenkrachte. Der Sepp schüttelte ungläubig den Kopf und grollte: »Geh
weg da, von d’Roß versteh ich mehr als du! Wenn’s nicht im guten geht, nachher ...« »Meinst?« Der Jochen schaute hilfesuchend in die Runde. Besonders aus den Augen der Dirndl las er Zustimmung, aber keine Stimme gab ihm recht. Wie damals! Plötzlich brüllte der Sepp auf: »Von dir laß ich mir über haupt nichts sagen! Grad du solltest dich nicht so auf spielen!« »Ich will doch nur ...« Wie zu einer Bitte hob der Jochen die Hände. »Gut«, fügte sich der Sepp mit einem versöhnlichen La cher. »Ich versprech, daß ich’s Roß nicht mehr peitsch. « Aufatmend gab ihm der Jochen den Weg frei. Mit einem hinterfotzert freundlichen Grinsen ging der Sepp an ihm vorbei zum Pferd und versetzte dem Roß einen Fußtritt in die Weichen, daß es vor Schreck und Schmerz gellend aufschrie. Fast im selben Augenblick verlor der Jochen die Beherrschung. Er packte den Sepp, würgte ihn und prügelte blindlings zu. Nach den ersten Hieben taumelte der, aber dann schlug er zurück. Knechte rissen die zwei Kämpfenden mit Mühe auseinander. »Bist deppert worden!« schrie der Lois den Jochen an. »Der Sepp ist vielleicht ein Roßschinder, aber ihn deswe gen umbringen? Wach auf, du Narr!« Der Kain zitterte noch am ganzen Körper. Er ließ die Fäuste sinken, doch viel Reue stand nicht in seinem Ge sicht. Ein Dirndl flüsterte: »So packt nur ein Mörder zu!« Das gellte in seinen Ohren. Er schaute sich entsetzt um, wie wenn sie schon wieder hinter ihm her gewesen wä
ren: der Bürgermeister, der Gendarm, der Wirt, der Schwaleck-Bauer und noch ein Dutzend andere. Keiner da. Aber dafür hockte der Sepp auf dem Boden und preß te sich das Schneuztüchl vors Gesicht. Erst nach einer Weile konnte der Jochen recht ruhig sagen: »Leut, helfen wir alle dem Roß! Es tut ohnehin, was es kann.« Ein Knecht nickte und packte zu. Das war das Zeichen für alle. Der Jochen führte das Pferd, und weil es ohnehin noch an einer panischen Angst vor Peitschenhieben litt, warf es sich mit ganzer Kraft ins Geschirr. Eine Viertel stunde später schwankte der hochbeladene Wagen zum Stadel des Puchinger-Hofs. Die Rampe hinauf griffen die Knechte noch einmal in die Speichen. Für diesen Tag hat te das Roß sein Martyrium ausgestanden. Für den Jochen war es noch nicht vorbei. Nach Feier abend sagte der Fritz zu ihm: »Ich muß mit dir reden.« »Kann mir’s denken, Bauer.« Der Jochen nickte und nahm sein Hemd vom Brunntrog. »Ich bin eh schon fertig mit dem Waschen.« Sie setzten sich auf die Hausbank. Es kam, wie es der Jo chen erwartet hatte. Im Grund gab ihm der Fritz recht, aber er meinte: »Wer nicht will, daß ein Roß geschunden wird, darf auch einen Menschen nicht so schlagen. Du hast den Sepp zugerichtet, daß er morgen nicht aufs Feld kommen kann. Der Doktor ist dagewesen und hat ihn viermal genäht. Grad von dir ist es nicht gescheit...« Da fuhr der Jochen unbeherrscht mittendrein: »Freilich, grad von mir nicht! Sogar du willst damit sagen, daß ich meinen richtigen Mörderinstinkt nicht verraten sollt! Ich
hab schon flüstern gehört: Wer dem Tierquäler eine wischt, muß auch gleich der Jäger-Mörder sein!« »Red keinen Schmarren«, bat ihn der Fritz. »Ich red als dein Freund. Vorsichtiger sollst du sein.« Die Antwort des Jochen klang eisig: »Dank dir für die Warnung. Aber davonrennen werd ich deswegen nicht mehr. Und wenn ich einen erschlagen hätt!« »Recht so!« kam im nächsten Augenblick eine mächtige Stimme aus der Abenddämmerung. Die zwei Jungen schreckten zusammen, weil sie den Alt-Bauern nicht hat ten kommen gehört. Gleich stand der Jochen von der Bank auf wie ein Schulbub vor dem Lehrer, aber der Puchinger Karl drückte ihn wieder nieder und sagte: »Ich hock mich zu euch.« Dann donnerte er wie vor dem Ge meinderat los: »Alsdann, Jochen, ich steh voll auf deiner Seite, weil ich es auch nicht ausstehen kann, wenn man allerweil auf die Wehrlosen hinhaut. Wir müssen die Pro bleme lösen und nicht fortprügeln wollen. Das heißt, daß ich meine vierte Zugmaschine wieder brauch. Bei der hat’s ’was.« »Die Zugmaschin?« Der Jochen war schon am Überlegen. Damit konnte er den Pferden wirklich helfen. »Steht sie schon lang?« Der Alt-Bauer zuckte die Achseln. »Im letzten Winter ist sie beim Holzschleppen noch recht gut gelaufen, und im Frühjahr hat mir das Klumpert gleich beim ersten Starten seine Faxen gemacht: verreckt und nicht wieder ange sprungen! Der Moser-Schmied hat’s versucht wie der Sepp mit dem Roß: hingedroschen! Damit ist nichts bes
ser geworden.« Dem Jochen fiel ein, wie er in Südamerika vier Monate lang in einer Werkstätte gearbeitet hatte. Auch nur mit ei nem Hammer, einem Schraubenzieher und vier Schrau benschlüsseln. Er fragte: »Bauer, laßt mich einmal das Werkl anschauen? Vielleicht schaff ich es mit Streicheln. Wenn die Maschin morgen in der Früh läuft... « Da schrie der Bürgermeister: »Das wär mir glatt fünf Hunderter wert!« Zu dritt gingen sie hinüber in den Schuppen. Einige Male versuchte der Jochen, den Motor anzuwerfen, aber so leicht ging es auch wieder nicht. Er kriegte ein gutes Ar beitslicht, eine Kiste Werkzeug und wollte gerade anfan gen, als ihm noch im rechten Augenblick einfiel: »Vorher muß ich noch einen Sprung heim machen. Die Lena war tet sonst vergeblich mit Blutwurst, Kartoffeln und Sauer kraut.« Gleich ging das übliche Flachsen los. Auch der Bürger meister frotzelte ihn bei bester Laune: »Mein Lieber, du verwöhnst die Weiber! Ein Nachtmahl könntest du bei uns auch noch grad kriegen, aber ich weiß nicht, ob sich die Nannerl schon auf die gewissen Schmankerl versteht!« In seiner Verlegenheit redete sich der Jochen immer tiefer hinein. »Die Lena tät sich sorgen, wenn sie nicht wüßt, wo ich bin. Die denkt halt gleich allerweil an das ärgste Unglück.« Der Puchinger Karl schaute flüchtig seiner Tochter nach. Still und farblos ging die Susanne über den Wirtschafts
hof zum Ausgeding-Häusl. In zwei Reindln trug sie das Abendessen für die gelähmte Mutter hinüber. Der Fritz ging in die Küche zu seinen Dienstleuten. Bevor auch der Alt-Bauer den Maschinenstadl verließ, sagte er zum Jo chen halb scherzend, halb ernst: »Ich könnt noch verste hen, wenn du die Tochter von einem Großbauern ver wöhnen tätest. Du eignest dich nicht schlecht zum Ehe krüppel. Aber die Dirn aus dem Armenhäusel darfst nicht verziehen!« »So, wie du sagst, Bürgermeister, ist es auch wieder nicht«, verteidigte er sich. »Die Lena wohnt mit ihrer Großmutter nicht mehr im Armenhäusl, sondern auf dem Kain-Hof !« Der Bürgermeister fürchtete für seinen Traktor, verzog scherzhaft wehleidig das Gesicht und stöhnte: »Bub, jetzt hab ich wieder mein Schmalz ’kriegt!« Es war gut, daß der Jochen noch schnell auf seinen Hof heimkam. Die Lena wartete schon unruhig am Tor und holte sich ein Bussel, bevor der Lutzl jaulend aus seiner Hütte hervorstürzte. Als der junge Bauer in die Küche trat, greinte die Anna-Mahm von der Herdbank her: »So ein Glück, daß du überhaupt noch daherkommst! Nicht ums Verhungern hätt ich inzwischen mit dem Essen an fangen dürfen. Auf einmal wird die Lena mit ihrer alten Großmutter streng!« Der Tisch war so schön gedeckt, wie das sonst eher die Stadtleute machten. Auf dem sauber geplätteten Tisch tuch standen Holzteller, weil von ihnen die Blutwurst noch allerweil am besten schmeckte. Messer und Gabel
lagen sorgfältig ausgerichtet daneben. In der Mitte des Tisches wuchs aus einem Gurkenglas ein strahlendbun ter Strauß Feldblumen. »Mei, Dirndl, hast du das schön gemacht«, sagte der Jo chen ganz gerührt. Die Lena verteilte schon das Essen. Erst kriegte der Bauer vom Kain-Hof. Dann lud sie den Teller für die Mahm voll, und die Alte verlangte halb ernst, halb spaßig: »Gelt, nicht knausrig sein. Allerweil auf die eigenen Leut schau en ! Das Brat von der Blutwurst kann sogar ich beißen, und die Erdäpfel auch. Wenn nur das Kraut nicht hart ist!« Beim Essen erzählte die Lena, was sie tagsüber auf dem Hof gearbeitet hatte. Gleich keppelte die Alte los: »Du hast halt eine billige Dirn, Jochen: für Gotteslohn!« Erst einmal lachte die Lena zu solchen Worten, aber dann erinnerte sie die Großmutter im Ernst : »Für ein sehr gu tes Essen und für die Unterkunft. Später einmal fürs Bei sammenbleiben. « Der Jochen erzählte der Reihe nach, was sich an diesem Tag zugetragen hatte. Erst vom Streit und der Rauferei mit dem Sepp. Erschrocken vergewisserte sich die Lena: »Bist aber nicht verletzt?« Die Großmutter schrie fuchtig: »Der doch nicht, aber den Sepp hat er fast zum Krüppel geschlagen!« Weil der Jochen wieder einmal fühlte, daß sogar seine Gutmütigkeit schon schleißig wurde, stellte er die Alte zur Rede: »Du weißt allerweil sehr genau über mich Be scheid!«
Sie wischte sich mit dem Handrücken die letzten Fet t-patzl von den Lippen. »Mein lieber Jochen, merk dir, die Steineggerin weiß immer alles, denn die hört durch Mauern und schaut durch den Berg. Vor mir kannst nichts verbergen!« »Ich hab’ gar nichts zu verheimlichen«, ärgerte sich der Jochen. »Dann wirst du aber auch wissen, daß ich heut noch einmal weggehen werd.« »Da hast du’s!« kreischte die Mahm, die wirklich einen schlechten Tag hatte. »Das Wirtshausrennen hebt schon an.« Der Lena erzählte er weiter: »Fünfhundert hat mir der Bürgermeister versprochen, wenn ich ihm die Zugmaschine bis morgen in Gang bring. Das werd ich schaffen, auch wenn ich die ganze Nacht durcharbeiten müßt. « Es war ein Arbeitstag, der nicht enden wollte, von einem Morgen bis zum nächsten. Geduldig schraubte der Jo chen immer wieder alle Leitungen vom Motor ab, wusch sie durch und verfolgte genau den Lauf des Treibstoffs. Als er zwei verstopfte Filter gefunden hatte, meinte er schon, das wären die Fehler gewesen. »Aber das Klum pert springt mir nicht an!« Als der Morgen längst heraufdämmerte, war er nahe am Aufgeben, bis er zuletzt noch einen Wackelkontakt beim Vorglühen behob. Mit dem ersten Hahnenschrei brumm te plötzlich auch der Motor los, ruhig und stark. »Geschafft!« Daß er es noch erpackt hatte, war ihm fast wichtiger als die fünfhundert Mark, an die er ohnehin
nicht mehr glaubte. »Großartig!« hörte er hinter sich eine Stimme, die den Motorenlärm noch mühelos übertönte. »Jochen, du hast Gold in den Fingern!« Als der Kain den Motor abstellte, sank damit auch sein Hochgefühl ab. Plötzlich spürte er die bleierne Müdig keit. Der Puchinger Karl merkte das auch und bestimmte: »Jetzt legst du dich erst daheim hin und kommst nach dem Mittagessen zur Arbeit. Mit der Zugmaschin hast du uns mehr geholfen, als wenn du eine ganze Woche lang gehackelt hättest. Ich red schon mit dem Fritz. « Als der Kain zehn Minuten später daheim aus dem Jan ker schlüpfte, spürte er in der rechten Tasche Papierl. Da knisterten fünf Scheine, die ihm der Bürgermeister unbe merkt zugesteckt hatte. Wieder fünf Bausteine für den Hof! Wirtshausgeher war der Jochen keiner. Er hielt sein Geld zusammen, weil er jeden Pfennig für etwas Besseres brauchte als zum Versaufen. Außerdem packte ihn seit damals in einer größeren Menschenmenge manchmal eine arge Angst. Sogar am Sonntag setzte er sich wäh rend der Messe in keine Bank, sondern blieb möglichst nahe am Kirchentor stehen. In der vierten Reihe vorne saß der Ulrich Feltinger, breit, selbstbewußt und selbstgerecht. Neben ihm duckte sich die Steffi in die Kirchenbank. Der Jochen konnte nicht hinschauen und nicht wegschauen, denn es krampfte ihm das Herz zusammen. Kaum jemals hob sie ihren Blick aus dem Gebetbüchl, und nur einmal schaute sie
sich suchend um. Als ihr Blick dem seinen begegnete, durchfuhr es ihn heiß, aber das war nur noch Mitleid. In der einen Sekunde las er aus ihren Augen Trauer und Hoffnungslosigkeit. Gleich darauf drehte sich der Feltinger-Jäger um. Er fand den, zu dem sein Weib hingeschaut hatte, und seine Augen wurden kalt vor Haß. Nach dem Gottesdienst schrie der Bürgermeister Puchinger dem Jochen mitten auf dem Kirchenplatz zu: »Rennst schon wieder davon? Komm mit zum Früh schoppen! Darfst dich zu uns an den Stammtisch hocken, und gleich bist wer!« Aus Höflichkeit stimmte der Jochen in das Lachen ein, aber er sagte: »Dank dir für die Freundlichkeit. Doch seit ich deinen Traktor wieder laufend gemacht hab, komm’ ich mit der Arbeit nicht mehr nach.« Der Puchinger scherzte lauthals: »Knecht auf unserem Hof, Bauer auf seinem. Dazu noch Mechaniker für alles: vom Mähdrescher bis zum Kühlschrank von allen Haus frauen! Bub, das mag ich: mit einem Hintern auf drei Kirtag’! Und dann drehen sich noch so viele Weiberleut nach dir um ! Eh klar, daß du nicht nachkommst... mit der Ar beit!« Die Umstehenden lachten zu den Scherzen ihres Bürger meisters. Nur die Susanne, seine Tochter, schaute sich ängstlich um. Am anderen Ende der Straße zog der Ul rich Feltinger sein Weib so schnell weiter wie der Schlachter das Kalb am Strick. Auch wenn sich der Jochen mit den Dorfleuten nicht beim Gamsl-Wirt zusammenhockte, lag ihm viel an ihrer
Freundschaft. Mehr sogar, als er sich eingestehen wollte. Die Menschen von Roitern bildeten einen wichtigen Teil von seiner Welt. Keinem trug er mehr nach, was sie ihm vor fünf Jahren angetan hatten, denn er wollte zu inne rem Frieden finden. Darum kränkte er sich ehrlich, als er nach ein paar weite ren Wochen merkte, daß sie zu ihm von Tag zu Tag wie der kälter wurden. Da spann sich gegen ihn ein böser Fa den; er wußte nur nicht, von wo her. Kleine Warnzeichen des Schicksals hatten ihn doch hellsichtig gemacht. Wenn er bei der Kramerin rasch ein Brot, Zucker oder ein Stückl Wurst kaufte, lachte sie ihm nicht mehr so freund lich zu. Der Herr Oberlehrer beantwortete seinen Gruß mit einem knappen Kopfnicken. Einmal sah er vor dem Wirtshaus die Erna Hämmerl einen Handwagen ziehen. Offensichtlich hatte sie vom Bahnhof ein paar Kisten ab geholt. Sie hielt sich stramm aufrecht, weil ihr das eine gute Figur machte. Fröhlich schaute sie um sich. Aus Freundlichkeit sagte der Jochen: »Erna, du wirst doch das Zeug nicht allein ins Haus schleppen wollen?« »Warum nicht? Meinst, daß ich vielleicht schwach g’stellt bin?« gab sie lachend zurück und reckte sich noch höher auf. Das war die Gamsl-Wirtin, wie man sie im Dorf mochte: ein bißl frech und herausfordernd, aber deswe gen noch lang nicht unanständig. Der Jochen ging zum Karren. »Ich helf dir, Wirtin.« »Mußt aber ordentlich zupacken«, forderte sie ihn auf. Im nächsten Augenblick verdüsterte sich ihr Gesicht, wie wenn sie erst jetzt bemerkt hätte, mit wem sie sich da ein
lassen wollte. Sie sagte kalt: »Im Ernst, meinst vielleicht, ich werd das Zeug selbst schleppen? Wozu hab ich mei nen Knecht!« »Pfüat dich, Erna«, rief er ihr noch zu. In ihm blieb ein ungutes Gefühl zurück. Vor fünf Jahren hatte ihm ihr Mann mit einem Stein auf den Kopf gedroschen. Irrte der Bürgermeister Puchinger, wenn er meinte, die Dorfleute hätten es dem Kain längst verziehen, daß sie ihn damals für einen Mörder halten mußten? Bei der Nacht träumte er mit offenen Augen, etwas Dunkles, Böses würde wieder auf ihn zukommen. So ge nau erkannte er es auch nicht, aber manchmal nahm es die Gestalt einer jungen Frau an. Seit er die Lena liebgewonnen hatte, tat ihm der Gedanke an die Steffi nicht mehr weh. Er konnte ohne Bitterkeit an sie denken. Das Vergangene sollte vergangen bleiben, wie auch die Toten nie wieder aus dem Armengrab zu rückkommen würden. Jeden Tag arbeitete er bis zum Umfallen: erst als Knecht auf dem Puchinger-Hof, dann als Bauer auf seinem eige nen. Felder, Wiesen und das Vieh brauchten schon recht viel Zeit und Kraft. Oft holten ihn noch spät nach Feier abend Bauern, damit er an ihren Maschinen richten soll te, was tagsüber bei der Arbeit gebrochen war. Eines Abends schickte der Seegruber-Bauer seinen Bu ben, den Hansl. Der kam atemlos und recht verlegen auf den Kain-Hof. »Der Vater tät deine Hilf brauchen. Du sollst gleich zu uns hinauskommen«, ratschte er herunter, wie wenn er
es unterwegs wörtlich eingelernt gehabt hätte. »Aus der Egge fehlen einige Zähne. Ich und die Susi haben sie auf dem Feld hinter dem Vater eingeklaubt.« Die Susi Seegruber war die Schwester vom Bauern, mit ihren dreißig schon recht überstandig und hinter einem jeden Mannsbild her wie der Teufel hinter der frommen Seel. Nicht nur deshalb zögerte der Jochen ein bißl. Erwar vor lauter Müdigkeit schon beim Nachtmahl am Tisch eingeschlafen. Die Lena aber meinte: »Da mußt du schon hinausgehen, wenn dich der Seegruber Hannes braucht. « Er nickte halbmunter. »Es ist neun. Spätestens um Mit ternacht bin ich daheim. Gehst ruhig schlafen. « »Ruhig schlafen?« greinte anstelle der Lena die Mahm los. »Schlafen? Daß ich nicht lach! Wenn du heim kommst, plärrt der Lutzl, daß es einen aus der Bettstatt hebt! Da soll ein armes Weib zur Ruhe kommen!« Nach einem lieben, heimlichen Bussel von der Lena ging er mit dem Seegruber-Buben in die Au hinaus. Weil er schon wieder ans Heimkommen dachte, schritt er so kräftig aus, daß der Hansl kaum nachkam. Der Seegruber Hannes bewirtschaftete einen recht stattli chen Hof weit draußen, wo der Salbach aus dem Wald heraustrat. Das Land ringsum war sanft hügelig und auch mit Maschinen leicht zu bearbeiten. Der Bauer emp fing aber den Jochen nicht recht gnädig, sondern schimpfte: »Brauchst du lang! Ihr im Dorf geht wohl ent weder mit den Hendln oder mit den Dirndln ins Bett!« Neben ihm stand seine Schwester, die Susi, und kicherte. Sie war offensichtlich auch schon zum Schlafengehen ge
richtet, denn sie hatte nur noch einen Rock und eine Blu se an. Der Jochen aber interessierte sich mehr für den Schaden an der Egge. Weil ihn der Seegruber vorhin so angebissen hatte, schimpfte er jetzt zurück: »Wenn ihr aber auch kein Gefühl habt! Geht der Ochs vor dem Pflug, wird mit der Peitsche losgedroschen. Ist es eine Maschine, nachher steht der Bleifuß auf dem Gaspedal!« Grad vor seiner Schwester wurmte es den Seegruber, daß ihn so ein dahergelaufener Niemand zusammenputzte. Nur weil er die Egge für den nächsten Tag dringend brauchte, wurde er nicht ganz so saugrob, wie es der Kain in seinen Augen verdient hätte. Er verzog den Mund zu einem schiefen Lachen und sagte: »Tu dir nichts an, Kain! Es ist dein Geschäft. Alsdann sei froh, wenn wir dich rufen! Für Gottes Lohn hast du noch kei nem von uns die Maschin richten müssen. Darum halt keine Predigt, sondern arbeit lieber!« Der Jochen hörte hinter dem Lacher des Bauern genau die Verachtung für einen, der an jedem Tag gegen das abermalige Abhausen raufen mußte. Darum sagte er nichts mehr zurück und setzte an der Egge die fehlenden Zähne wieder ein. Erleichtert und zufrieden, lobte ihn der Seegruber : »Da kann’s morgen in der Früh gleich wieder losgehen. Auszahlen tut dich meine Schwester. Ich muß mich hinhauen, denn auf einem großen Hof gib t’s auch viel Arbeit.« Eine Viertelstunde später war der Jochen mit seiner Ar beit ganz fertig. Er wusch von seinen Händen Öl und Rost herunter. Die Susi hielt ihm das Handtuch. Sie lä
chelte ihn beinahe auch so schief an wie ihr Bruder. »Als dann, Jochen, was kostet uns die Gaudi?« Das war für ihn allerweil der unangenehmste Augen blick. Er brauchte jeden Zerquetschten, aber verlangen durfte er nichts, und ein Trinkgeld hätte ihm auf seinem Stolz gebrannt. Unsicher drückte er herum: »Ich bin kein Mechaniker, und im Pfusch darf ich erst recht nicht arbei ten. Gibst mir halt etwas für meine Zeit. « Ihre Augen blitzten auf. »Einen Fufzger und ein Bussel. Zufrieden?« Den Geldschein schob er in die Hosentasche ein. Kritisch wurde es, als sie die Augen zumachte und die Lippen vorspitzte. Zu seinem Glück erkannte der Jochen noch rechtzeitig, wie gefährlich es gewesen wäre, sich die Seegruber Susi zur Feindin zu machen. Also überwand er sich, pappte ihr schnell ein Bussel auf den Mund und lachte: »Das leg ich mir auf die Sparkassa!« Ein bißl war sie schon enttäuscht, aber sie gab nicht auf. Leise fragte sie: »Auf die Sparkassa? Willst leicht, daß es dir Zinsen bringt? Darüber könnt’ man reden!« Da winkte er ihr schon vom Hoftor her. Als er bald darauf aus dem Wald auf den Wiesenweg ein bog, war ihm, als hörte er hinter sich Schritte. Zweimal drehte er sich sogar schnell um, aber da sah er nieman den. Ein Stück weiter unten fingen die Gründe vom Kain-Hof an. Der Mond brach durch die Wolken und ließ an manchen Stellen das Wasser vom Salbach aufschim mern. Der floß ruhig in einem seichten Graben dahin. Im Frühsommer blühten dort die schönsten Dotterblumen.
Der leichte Nachtwind bewegte die Zweige der Weiden wie menschliche Arme, die zum Himmel hinauf bettel ten. Aber keiner von den Sternen würde je auf die Erde herunterfallen, um einem armen Kerl mit seinem Gold zu helfen! Dem Jochen stockte plötzlich der Atem, weil er meinte, das müßte ein Trugbild sein. Keine zehn Schritte vor ihm löste sich eine Gestalt von einer Weide. In ein dunkles Tuch gehüllt – das Traumbild, das ihm großes Unheil an kündigte! Er hatte sie gleich an der Haltung erkannt, den Kopf ein bißl seitlich gelegt, demütig in alles ergeben, was ihr zu stoßen würde. Erst nahe vor ihr blieb er stehen. In ihm war so viel Angst, daß er kaum flüstern konnte: »Steffi.« Langsam hob sie ihr Gesicht, bis es ins Mondlicht kam. Unter dem dunklen Kopftuch wirkte es fast weiß, aber noch heller glitzerten daran die Tränenperlen. »Jochen.« Ihm wurde die Gefahr einer stillen Vertrautheit zwischen ihnen bewußt. Deshalb zerhaute er sie gleich mit der spöttischen Frage: »So eine Überraschung. Gehst mitten in der Nacht spazieren? Ohne deinen lieben Mann?« Mit solchen Worten riß er auch sie aus allem Zauber der Erin nerung. In ihrer Befangenheit haspelte die Steffi die Wor te so rasch herunter, daß man sie kaum verstand: »Der Ulrich ist gar nicht daheim ... unterwegs halt, weil ihm die Wilderer ... Aber darüber darf ich nicht reden.« Nach einer kleinen Weile drängte sie der Jochen: »Wor über willst nachher reden?« Sie war ihm nur dankbar, daß sie für diese nächtliche Be
gegnung keinen Zufall erfinden mußte. Noch einmal schaute sie ängstlich um sich, als fürchtete sie, der Ulrich könnte doch im nächsten Augenblick aus der Nacht auf tauchen. Als sie die Hand nach dem Jochen ausstreckte, griff sie ins Leere, weil er unwillkürlich einen Schritt von ihr weg gemacht hatte. Sie bat: »Hock dich zu mir ins Ge büsch, damit uns nur ja niemand sieht.« Der Jochen hatte seine Bitterkeit noch lange nicht über wunden. Er lachte feindselig auf: »Gelt, da könnt sich sonst einer ’was denken, wenn er bei der Nacht die Frau vom Jäger ausgerechnet mit dem Kain sieht ! Hast du dich mit dem Feltinger auch allerweil im Gebüsch ver steckt, damit niemand hat sagen können: Da steht dem Kain seine Steffi ausgerechnet mit dem Feltinger-Jäger!« »Ich bitt dich, Jochen.« Weiterhin unversöhnlich, sagte er: »Vorbei ist vorbei. Ich hab dir auch nicht aufgelauert oder war dir nachgeschli chen. Was willst nachher du von mir?« »Es ist nur... « Sie starrte ihn regungslos an, als wäre sie von einer Sekunde zur anderen gestorben. Plötzlich brach ihre ganze Kraft zusammen, und sie schlug die Hände vors Gesicht. Nicht einmal in der Stille dieser Nacht hörte man sie weinen. »Geh, hör auf zu flennen!« forderte er sie recht forsch auf, weil er Tränen so schlecht widerstehen konnte. Am we nigsten denen von einer, die er einmal so lieb gehabt hat te. Sie wollte es gar nicht, aber sie sank einfach vor, bis ihr Kopf an seiner Brust lag. Nur noch ganz hilflos pfnurrte er sie an: »Jetzt trenzt du mir das Hemd auch
noch naß! Red lieber! Ich will nicht die ganze Nacht lang mit dir da stehen. Wenn uns jemand sieht, putzt mich der Jäger weg. Wildern in seinem Revier ist ein Verbrechen, auch wenn er aus meinem das Dirndl weggestohlen hat, das... « »Nicht davon reden!« klagte sie auf. »Grad deswegen ist es ja.« Also setzten sie sich doch unter eine Weide, und langsam beruhigte sich die Steffi einigermaßen. Nach einer Weile konnte sie sagen: »Ich hab’s dem Ulrich damals gesagt, was wir einander gewesen sind. Da hat er noch gemeint, daß du eh nicht wiederkommen wirst. « Bitter unterbrach er sie: »Das Lied kenn ich inzwischen schon von dir. Aber ich bin halt heimgekommen, und ich leb noch. Was willst sonst von mir?« Sie duckte sich zusammen, zog das Tuch enger um ihre Schultern und klagte: »Wir zerstreiten uns noch ganz, der Ulrich und ich. Er kann’s nicht packen, daß du mir wie der so nah bist. Fast jeden Tag sieht er dich.« »Ich seh ihn nicht!« fuhr der Jochen auf. »Soll er sich halt nicht mehr von hinten an mich schleichen! Und das zwi schen uns ist ohnehin in einem anderen Leben gewesen. Wie ich heim’kommen bin, hab ich davon nichts mehr gefunden. Alsdann, was will der ... der Feltinger von mir?« Sie weinte leise vor sich hin: »Der Ulrich hat sogar gelo gen und behauptet, ich hätt in der Nacht deinen Namen gesagt. Er macht mir das Leben zur Hölle, so daß ich manchmal nicht mehr weiß, wie lang das so weitergehen
soll.« »Bis daß der Tod euch scheidet!« erinnerte sie der Jochen ganz herzlos an ihr Versprechen am Altar. Es tat ihm halt noch immer weh, wenn er daran dachte: Die Steffi mit dem Feltinger bei der Nacht! Darum klang es gar nicht nach Hilfsbereitschaft, als er sagte: »Alles kommt, wie du es hast haben wollen. Oder hat dich jemand gezwungen, sein Weib zu werden? Beklag dich nicht ausgerechnet bei mir!« Sie sprang auf. Ihr war klargeworden, daß sie auch vom Jochen keine Hilfe erwarten konnte. In ihrer Verzweif lung hatte sie sogar zu weinen aufgehört. Mit einer plötz lichen Bewegung riß sie das Tuch vom Kopf und drehte sich so, daß ihr der Mond voll ins Gesicht schien. »Schau her, Jochen! Den Richter und den Henker spielt er bei mir!« Der Kain machte einen Schritt auf sie zu. Allerweil packte ihn eine unbändige Wut, wenn er mit ansehen mußte, wie eine hilflose Kreatur geschunden wurde. »So ein Dreckskerl, ein dreckiger!« Sein empörter Aufschrei machte die Steffi sofort ruhiger. Jetzt verteidigte sie den Ulrich sogar: »Noch nie hat er mich geschlagen. Aber heut ist er nachher ins Revier ge rannt, und da hab ich es daheim nicht mehr ausgehalten. Zufällig hat mir die Matsching Martha gesagt, daß sie dich in die Richtung vom Seegruber-Bauern hat hinaus gehen gesehen. Denk nicht schlecht von mir. Nur einmal wieder mit einem Menschen reden! Mit einem richtigen Menschen.«
Schon wieder wurde sie so demütig und schicksalerge ben, daß es den Jochen ganz narrisch machte. Weil er wußte, wie wenig er ihr helfen konnte, fuhr er sie zornig an: »Was soll ich tun? Vielleicht auch den Ulrich Feltinger umbringen?« Das war einfach aus ihm herausgebrochen. Er hatte nur sagen wollen, daß man nach dem Rupert nicht auch noch den Ulrich ermorden könnte! Seine Worte hielten sich hartnäckig wie der Wiesennebel im November und klan gen beinahe wie ein Geständnis. Die Steffi ging schon aufs Dorf zu. Plötzlich packte den Jochen das Mitleid so arg, daß er ihr nachrief: »Wenn’s dir wieder einmal schwer ums Herz ist, redest dich halt mit mir aus!« »Dank dir«, flüsterte sie, ohne sich noch einmal umzu drehen. In der Stunde war sie fest entschlossen, sich und den Jochen nicht noch mehr in Gefahr zu bringen. »So eine narrische Urschel«, sagte er grad zärtlich hinter ihr her. Arbeit gab es für den Jochen, die Lena und die AnnaMahm stets genug. Meistens wurde es sogar recht spät, bis er überhaupt heimkam und auf dem Kain-Hof anfan gen konnte. Da ging er oft schon ein bißl gebückt, den Rücken vom Hackeln gekrümmt. Mancher g’standene Bauer sagte: »Schind dich nicht so ab, Jochen. Du hast mir die Maschin gerichtet, und ich leih sie dir für zwei Tage. Schaust halt, daß du es in die ser Zeit erpackst.«
Das war gut gemeint. Viele Leute in Roitern meinten es mit dem Kain gut, aber halt doch nicht alle. Außerdem waren seine Gründe zum Großteil so bucklert oder steil, daß er mit Maschinen nicht viel anfangen konnte. Dafür wuchs auf seinen Leiten das beste Gras, so saftig und würzig, daß man es noch aus der Milch herausschmeck te. Als der Jochen wieder einmal die Kannen auf dem Hand wagen zur Matsching-Kramerin schleppte, sagte sie: »Die paar Sommergäst, die wir in Roitern haben, wollen alle nur deine Milch und deine Butter. Drückt die SteineggerMahm das schöne Muster in die gelben Striezel? Ich freu mich, Jochen, daß ich damit deinem Hof helfen kann.« »Dank dir, Martha«, sagte der Jochen. Solche Worte taten ihm gut. Es war schon nach Ladenschluß, und sie hatte sich für den Feierabend herausgeputzt. Damit es schneller ging, half sie ihm beim Abladen der vollen und Aufladen der leeren Kannen. Dann schlug sie ihm vor: »Hocken wir uns noch ein paar Minuten auf die Bank. Ich bin außer Atem ’kommen, und mein Herz pumpert ganz wild.« »Ein paar Minuten kann ich auch verschnaufen«, sagte er zu. Aber zu ihrer Enttäuschung prüfte er weder ihren Atem noch ihren Herzschlag. Auf der Bank saß es sich gut. Die war eigentlich für die älteren Leute beim Einkau fen vorgesehen. An der Wand reiften die Hausbirnen. »Auf mich wartet noch Arbeit im Stall.« Die Kramerin schüttelte den Kopf. Neuigkeiten aus erster Hand! Ihre Stimme klang teilnahmsvoll. »Geh weiter,
und ich hab gemeint, die Stallarbeit täten dir die alte Stei neggerin und ihre Lena abnehmen.« Weil der Jochen hoffte, sie wäre von den gefährlicheren Gedanken abgegangen, erzählte er bereitwillig: »Schon, daß sie mir helfen und sich ehrlich plagen, aber mir bleibt noch allerweil genug zu tun.« Die Martha nickte voller Mitleid. »Eh klar. Einer, der sich alles erst wieder aufbauen muß, was ihm die Leut in ih rem blinden Haß zerstört haben, hat’s nicht leicht. Da bleibt dir vor Plag nicht viel für die Lebensfreude. Jo chen, wenn du von mir noch eine Hilf annehmen willst?« Das war von ihr lieb gesagt, aber er drehte sich doch so, daß ihre Hand wieder von seinem Arm herunterglitt. »Ich schaff es, Martha. Dank dir.« Auf eine Weise hatte sie also verspielt. Das begriff sie, aber sie wechselte nur die Gangart. Gleich freundlich wie bisher, stimmte sie ihm bei: »Freilich wirst du’s schaffen. Wenn einer so stark ist wie du, und genug Verstand hast du auch im Kopf. Du wirst allerweil erkennen, wer es mit dir ehrlich gut meint, und wer dir nur ins Gesicht schön tut. Da sind im Dorf ein paar Weiberleut, die ..., nein, das sag ich lieber doch nicht.« Zu ihrer Zufriedenheit merkte sie, wie er gleich kurzat miger zu schnaufen begann. Der hing am Haken! Und er verlangte zornig: »Jetzt hast du damit angefangen und mußt weiterreden!« »Muß ich?« Sie kränkte sich noch ein bißl, denn mit dem Schöntun hatte sie auch vorhin angefangen, und er hatte nicht weitergetan. Dann verzichtete sie doch nicht dar
auf, diesem lahmlackerten Träumer ein paar Stiche zu versetzen. Sie seufzte, daß es ihr fast das Mieder spreng te. »Daß doch allerweil die falschen Weiber das meiste Glück finden. Die haben den treuen Blick und raspeln Süßholz. Sie lassen sich busseln und streicheln, bis einer glaubt, sie täten schon vor Lieb brennen. Manch eine spe kuliert aber nur auf die Versorgung. « Dem Jochen verschlug es vor Zorn den Atem. »Willst vielleicht schlecht gegen die Lena reden? Die hilft mir wirklich .. . « »Aus lauter Nächstenliebe und Uneigennützigkeit!« be stätigte ihm die Martha schnell und so ernst, daß er nicht wußte, wie sie es meinte. Beruhigend legte sie ihre Hand auf seine. Weil er noch immer nichts sagte und sich nicht rührte, mußte sie ein weiteres Mal zustechen. Sie fragte ganz mitleidig: »Geht dir noch allerweil kein Lichtl auf?« »Die Lena ...«, wollte er das Dirndl gegen alle Verdächti gungen schützen. »Ich red gar nicht von der!« unterbrach ihn die Kramerin und schnaufte richtig geringschätzig. »Aber die alte Stei neggerin ist dir lang nicht so gut, wie sie dir vorsüßelt! Die will dich nur ausnützen, und die Lena polstert sich halt inzwischen das Nesterl, in das sie sich legen will.« »Es ist spät«, sagte der Jochen und stand auf. »Vielleicht noch nicht zu spät«, lispelte die Matsching Martha hinter ihm her und war für den Augenblick mit dem Erreichten gar nicht so unzufrieden. Sie hatte im merhin alles angebracht, was sie sagen wollte. »Jetzt muß der gute Lapp nur noch auf kleiner Flamme schmoren.«
Als der Jochen auf seinen Hof heimkam, fand er die Lena und ihre Großmutter nicht mehr ihm Stall. Sie hatten ihre Arbeit gemacht. Die Lena stand in der Küche am Herd. Sie lachte dem Jochen lieb entgegen. Ein schönes Bild, wie sie eifrig in den Töpfen und Reindln umrührte! Schon richtig eine Bäuerin, die für alles sorgte. Dem Jo chen sagte sie: »Hock dich zum Tisch, die Knödel und das Kraut sind fast fertig, grad dem Speck fehlen noch ein paar Minuten! Nachher gibt’s einen Kuchen, weil die Kramerin heute preisgünstige Marillen gehabt hat.« Als ob das ihr Stichwort gewesen wäre, brabbelte die Mahm los: »Gelt, Jochen, bist ohnehin recht gut an mit der Martha? Ich mein die Matsching.« Das klang bestimmt freundlicher, als es gemeint war. Nur weil der Jochen wie zerschlagen müde war, stellte er sich so, als ob er nichts herausgehört hätte. »Eigentlich recht gut. Sie hilft uns viel weiter mit der Milch. Allen Käs nimmt sie uns ab.« »Ja, ja, die liebe Nächstenliebe«, sti chelte die Alte weiter. »Schön, daß dir alle so selbstlos helfen. Da schämt sich unsereins grad, daß wir für das bißl Arbeiten ein Essen nehmen.« »Großmutter!« flehte die Lena, denn sie wußte, wie es klang, wenn die Streit suchte. Der Jochen wollte um alles in der Welt ruhig bleiben. Darum stimmte er ihr zu: »Wir haben es alle nicht leicht auf dem Kain-Hof, aber wir packen’s. Dann haben wir ausgesorgt.« »Du vielleicht.« Die Steineggerin lächelte scheinheilig. »Du bist wie eine Katz und wirst allerweil wieder auf die
Pfoten fallen. Es gibt solche Leut. Wir Steineggerischen haben nie etwas Schlechtes ’tan, und doch haut uns aller weil wieder das Schicksal eine ins Kreuz. Gerecht ist das nicht. Aber was nützt es schon, wenn wir kleinen Leut uns aufpudeln. Werden schon wieder bessere Zeiten kommen.« »Auf dem Kain-Hof«, erinnerte sie der Jochen und lächel te der Lena zu. »Im nächsten Armenhäusl!« verbesserte ihn die Mahm giftig und feindselig. Alle ihre guten Vorsätze schien sie vergessen zu haben. Plötzlich konnte der Jochen das Gehackel nicht mehr aus halten. Erst die schwere Arbeit, dann die Anspielungen von der Kramerin, und jetzt noch das Sticheln der Alten. Er fuhr sie an: »Red nicht so boshaft, du ... « »Recht so, recht so!« jammerte die Mahm grad glücklich auf, als hätte sie endlich ihr Ziel erreicht. »Zu unser-ei nem kann jeder saugrob sein. Wer bin ich schon? Eine ehemalige Bäuerin, auch wenn unser Hof armselig gewe sen ist, karg wie der Boden unterhalb der Bergwand. Aber abgehaust haben wir nie, wir Steinegger-Leut!« »Großmutter, ich bitt dich!« beschwor sie die Lena wei nend. »Überleg dir, was du redest, denn der Jochen ver dient so etwas nicht!« »Meinst?« jubelte die Alte und trieb einen Stachel nach dem anderen in das Herz von dem Dirndl. Grad weil sie es als einzigen Menschen auf dieser Welt lieb hatte. Und zum Jochen sagte sie recht bedeutungsvoll: »Gelt, du hast fürs Reden mit uns gar keine Zeit mehr, wenn du halt so
viel die Armen und Einsamen trösten mußt!« »Spinn dich aus!« drohte er, weil er nicht mehr weiter konnte. Er drehte sich um und ging aus der Küche. Er wollte die Tür hinter sich ins Schloß ziehen, aber es krachte recht ordentlich, und von der Decke rieselte gleich der Kalk herunter. So ganz fest waren eben die Mauern vom Kain-Hof auch nicht mehr. »Was willst?« fragte der Puchinger Karl, als hätte er die Steineggerin nicht richtig verstanden. »Ich hab euch im Armenhäusl zwei Zimmer zugewiesen, und die Küche dürft ihr auch benützen. Nichts gehabt, und jetzt taugt dir nicht einmal mehr der Kain-Hof!« Die Alte ging einen Schritt auf ihn zu. Weil das Leben sie schon recht niedergekrümmt hatte, mußte sie von unten her in das Gesicht vom Bürgermeister hinaufschauen. Aber sie keifte furchtlos: »Was du wieder zusammenre dest! Wir Steinegger-Leut haben schon etwas gehabt: einen Hof!« Er lachte mehr zornig als geringschätzig: »Mußt gar nicht so auf den Tisch hauen wegen der Steinkeuschen mit den paar Schafln im Stall!« Damit kränkte er die Mahm, und wenn sie sich kränkte, wurde sie saugrob. Sie zog die Lippen tief in den Mund und zischelte: »Damit du’s weißt: Vielleicht haben bei uns die Schaf manchmal gestunken, aber daran kann man sich gewöhnen. Wie’s in deinem Dorf nach Verwesung stinkt, das will ich gar nicht sagen!« Als hätte sie ihn mit dem Stachelstock erwischt, fuhr der
Puchinger auf, aber er sank gleich wieder zusammen. »Sag mir nur einen vernünftigen Grund, warum du nicht länger auf dem Kain-Hof bleiben willst. Ist der Jochen vielleicht ein Neidhammel und gibt euch für die Arbeit nicht genug zu essen?« Die Alte kicherte listig. »Geh weiter! Wenn doch die Lena kocht! Nur ein ganz Depperter verhungert neben den vollen Töpfen. « »Alsdann?« Der Bürgermeister überlegte noch, wie er das lästige Weib wieder aus der Gemeindekanzlei bringen konnte. »Stellt er vielleicht deiner Enkelin nach und will sie gar mit Gewalt hinschmeißen?« »Sie hinschmeißen?« In ihrem Eifer redete die Steinegger-Mahm sogar der Lena bös nach. »Das hätt er bei der nicht nötig, denn sie ist narrisch nach ihm. Akkurat des halb muß ich mit ihr fort vom Kain-Hof! Hast mich?« »Nein.« Der Bürgermeister verstand überhaupt nichts mehr. »Wenn sie doch heiraten wollen! Sag mir einen gu ten Grund, denn sonst komm ich beim Gemeinderat nicht durch.« Da rappelte sich die Anna Steinegger zu einem letzten Schlag auf. Sie machte einen Schritt auf den Puchinger zu und flüsterte, als ob sie fürchtete, sogar in der Gemeinde kanzlei könnte sie jemand belauschen: »In Roitern den gelt der Tod schon wieder die Sensen. Wenn man die nächste Leich nicht auch schnell genug verbrennt, wird’s bis auf die Straß’ nach Verwesung stinken!« Der Bürgermeister schaute sie fassungslos an, dann schrie er: »Hast den Verstand verloren?« Aber die Mahm
war in Fahrt gekommen und zischelte: »Mit meinen eige nen Augen hab ich ihn gesehen!« »Wen, zum Teufel?« Sie schnellte zur Tür, machte sie einen Spalt auf und schaute hinaus. Niemand horchte. Also redete sie weiter: »Wen schon, den Kain! Wieder mit der!« »Mit wem?« Als die Steineggerin tief Atem holte, rasselte es. »Mit der Steffi, die früher mit ihm ’gangen und nachher doch das Weib vom Ulrich Feltinger geworden ist. « »Mach keinen Tratsch! Ein Unheil ist schnell angerichtet!« Der Bürgermeister wies sie zurecht, aber er war doch nachdenklich geworden. »Da paßt nichts zu sammen. Der Jochen und deine Lena wollen heiraten, aber er ..., und ausgerechnet die Frau vom Feltinger Ul rich?« »Mit eigenen Augen gesehen!« wiederholt die Mahm. »Wie die sich an den Jochen gedrückt hat! Grad so, als ob sie nicht wüßte, was für ein eifersüchtiger Teufel ihr Mann ist! Der könnt doch glatt einen niederschießen! Die Geschicht wird wieder mit Mord und Totschlag enden, aber ich duld nicht, daß der Kain auch noch meine Lena ins Unglück reißt! Verstehst jetzt, warum wir vom MordHof fort müssen?« Der Puchinger widersprach nicht einmal der Bezeich nung ›Mord-Hof‹. Er überlegte. Nach einer Weile trug er der Alten mit amtlich strenger Stimme auf: »Red mit nie mandem über deine Beobachtungen, denn sonst könnt’s tatsächlich ein Unglück geben. Der Ulrich ist ein ganz
Scharfer. Der schießt fast zu schnell, wenn er einen beim Wildern in seinem Revier erwischt. Nur mir sagst es, wenn du wieder ’was gesehen hast. Sobald die Beweise ausreichen, werd’ ich dir anderswo eine Unterkunft ver schaffen. « Als die Anna Steinegger bald darauf das Ge meindeamt verließ, fühlten sie und der Bürgermeister sich recht zufrieden. Sie waren überzeugt, daß es ihnen gelingen werde, das nächste Unheil vom Dorf abzuweh ren. Die Puchinger Susanne schaute oft genug vom Fenster ihrer Mutter hinüber zum Hof. Im stillen bewunderte sie den Kain, wie er bei der Arbeit mit dem Vieh so recht lieb umging, mit den Pferden redete und sogar den Ochsen gut zusprach. Auch wenn er sich beim Brunntrog wusch. Das Wasser perlte nur so silbrig von seinem muskulösen Oberkörper. Manchmal schob sich die Mutter im Rollstuhl hinter sie ans Fenster. Mit scharfen, feindseligen Blicken schaute sie an ihrem Dirndl vorbei. Sobald sie den Jochen sah, ging über ihr Gesicht ein nervöses Zucken. Die Susanne merk te das nicht oder wollte es nicht sehen. Einmal sagte sie sogar: »Gelt, Mutter, der Kain ist tüchtig. Eine, die den zum Mann kriegt, muß glücklich sein.« Antwort konnte sie von der stummen und gelähmten Mutter nicht erwarten, aber sie hörte ein heftiges Atmen. Erschrocken drehte sie sich um. Die Mutter kritzelte wie der einmal etwas auf ihren Schreibblock. Das war kaum zu lesen, denn seit der Krankheit konnte die Afra ihre Hände nur krampfhaft ruckartig bewegen. Als die Susan
ne die paar Wörter entziffert hatte, schoß ihr das Blut in die Wangen, und sie sagte ärgerlich: »Das Blattl reiß ich gleich wieder von deinem Block. Wenn einer so ’was le sen tät! Ich lauf dem Kain bestimmt nicht nach, wirklich nicht!« Weil der verschreckte, ängstliche Ausdruck in den Augen der Bürgermeisterin dennoch blieb, kriegte die Susanne schon wieder Mitleid. Sie setzte sich zu Füßen der Ge lähmten auf einen Schemel. Manchmal wollte halt auch sie von einem Glück träumen, an das sie nicht wirklich glauben konnte. Das waren die schönsten Stunden zwi schen ihr und der Mutter. Leise sagte sie: »Ich weiß, daß mich von wegen der Schönheit keiner nehmen tät. Unse ren Hof hat mein Bruder ’kriegt, wie es sich gehört. Aber ich könnt mit meiner Mitgift einem jungen Bauern helfen. Er müßt mich auch ein bißl liebhaben, und anständig sollte er sein. Ja, Mutter, einer wie der Kain tät mir gefal len, und liebhaben könnt ich ihn auch.« Die Puchinger-Afra kritzelte verzweifelt auf ihren Schreibblock. Diesmal waren die Buchstaben noch ärger verzittert und verrenkt. Nur mit Mühe entzifferte die Su sanne: »Nie den Kain!« Ihr Gesicht verdunkelte sich noch mehr; sie zog die Stirn in Falten. Dennoch legte sie ihre Hand beruhigend auf die der Mutter. »Sorg dich nicht ab! Der Jochen tät mich ohnehin nie nehmen. Der hat die Steinegger Lena. Die ist nicht nur tüchtig und anständig, sondern auch bildsau ber.« Noch einmal klopfte die Afra Puchinger mit einem ver
krampften Finger auf ihren Zettel. Da riß ihn die Susanne vom Block und zerfetzte ihn zu kleinen Stücken. An einem der nächsten Abende sah sie ihren Bruder mit der Nannerl über den Wirtschaftshof gehen. Das war die jüngste Dirn, hübsch, frech und vielleicht auch leichtsin nig. Aber nicht leichtfertig. Die zwei gingen hinunter zum Stadl. Vom Wohnhaus her konnte man sie nicht mehr sehen, wohl aber vom Ausgeding-Häusl. Wie die einander lieb halsten! »Mutter«, sagte die Susanne. »Ich schau hinüber ins Haus. Vielleicht hat die Kuchldirn das Essen schon fer tig.« In der Küche wehrte die Gerti ab: »Nicht hetzen! Eine halbe Stund wird’s bestimmt noch dauern!« In dem Augenblick ging der Jochen Kain durch den Ge müsegarten hinunter zum Wiesenweg hin. Beim Heimge hen wollte er keinen Dorfleuten begegnen. Zumindest manchen von ihnen nicht. In ihm war schon wieder eine Unsicherheit, die sich zur Angst auswuchs. Dann stand plötzlich eine junge Frau vor ihm und rief ihn leise an: »Jochen!« Genau, was er befürchtet hatte! »Steffi, wär’s nicht besser, wir redeten nicht mehr miteinander?« Sie ging auf ihn zu und wurde mit jedem Schritt schnel ler, bis er sie in seinen Armen auffangen mußte. Ganz verzweifelt klammerte sie sich an ihn, als wollte sie ihn nicht wieder freigeben. Er aber drängte sie weg und hielt ihr vor: »Was soll einer denken, der zufällig vorbei kommt und uns so dastehen sieht!« Er schaute sich wirklich um, als ob er jemanden Be
stimmten gefürchtet hätte. Die Steffi schluchzte auf: »Ich halt’s aber nicht mehr durch! Mit keinem Menschen darf ich darüber reden. Niemanden hab ich! Mein einziger Trost ist, daß du so nah bei mir lebst. « Weil er sich sein Mitleid nicht anmerken lassen wollte, er innerte er sie: »Einer ist dir noch viel näher als ich. Bei Tag und besonders bei der Nacht.« Diesmal schaute sie sich ängstlich um. »Komm, setzen wir uns ans Wasser. Das ist noch lang keine Todsünd, und ich muß mit dir reden!« Er ging mit ihr nur deshalb zum Salbach, weil sie am Ufer gegen beide Seiten hin durch Weiden verdeckt wa ren. Aber als sie sich gesetzt hatten, riet er ihr gleich: »Du solltest dich lieber mit dem Ulrich ausreden. Das tät dei ner Ehe besser, als wenn du mir etwas vorjammerst.« Sie klagte sich ihre Verzweiflung von der Seele und wurde tatsächlich ruhiger. Aber plötzlich packte sie der Jochen und drückte sie ins Gras nieder. Im ersten Schrecken schlug sie sogar um sich, aber er ließ sich nicht zurück stoßen und flüsterte hastig: »Narrische Urschel! Dort steht der Ulrich auf dem Wiesenweg!« Die Steffi erstarrte vor Entsetzen. »Seinen Hund hat er auch mit. Wenn der uns aufstöbert, schießt der Ulrich!« Ihr Flüstern erstickte, aber akkurat in dem Augenblick sprach der Jochen aus, was er in so vielen schlaflosen Nächten schon durchdacht hatte: »Könnt’s gar sein, daß er auch seinen Bruder ... ?« Die Steffi brachte ohnehin kein Wort mehr über die starr gewordenen Lippen. Zwischen den Weidenästen durch
sah sie, wie der Vorstehhund stocksteif dastand, unver wandt zum Bach herschaute und einen Vorderlauf hob. Derb fuhr ihn der Feltinger an: »Komm weiter! Renn mir hinter keinem Hasen her, denn sonst hau ich dir eine übers Kreuz!« In ihrer Todesangst klammerte sich die Steffi an den Jo chen, aber sie hauchte ihm ins Ohr: »Geh durchs Wasser! Es ist da nicht tief. Mir wird eine Ausrede einfallen. Fin det er uns miteinander, so gibt’s Mord!« Dem Jochen war es schon klar, daß er nie wieder fortren nen wollte, wenn nur die Steffi an seiner Seite nicht so er bärmlich gezittert hätte! Bevor er noch entscheiden muß te, was da feig und was gescheit gewesen wäre, geschah etwas Unerwartetes. Auf dem Wiesenweg kam nämlich ein Dirndl daher. Schon von weitem rief es: »Grüß dich, Feltinger! Man könnt grad meinen, wir hätten uns ’was ausgemacht. So ein schöner Abend.« »Grüß dich, Susanne«, sagte der Jäger. Er schaute noch einmal scharf zum Salbach-Ufer, aber sogar sein Hund ließ sich ablenken und umkreiste schmeichelnd das Dirndl. »Bist ’leicht auf dem Heimweg? Das trifft sich gut.« Sie tat dem Jagdhund recht schön. »Ich weiß nicht recht. « Der Ulrich zögerte noch immer und überlegte, ob er nicht doch den Hund zum Wasser hinschicken sollte. Diese Entscheidung nahm ihm das Dirndl ab, denn es sagte: »Willst nicht gleich mit mir kommen? Der Vater hat etwas über die Gemeindejagd zu besprechen. Was
schaust allerweil zum Bach hin? Ich hab kein Jackerl mit, mir ist frisch!« Sie nahm ihn einfach am Jankerärmel und zog ihn mit sich weiter. Erst als die Puchinger-Tochter mit dem Jäger hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war, getrauten sich der Jochen und die Steffi aus ihrem Versteck heraus. Auch sie hatte über die leichte Bluse nichts Wärmeres an gezogen, aber auf ihrer Stirn stand der Schweiß. Sie flüs terte: »Das ist knapp hergegangen. Hätt uns der Hund aufgestöbert, so wär ein Unglück geschehen. Unser Glück, daß zufällig die Puchinger-Tochter vorbeigekom men ist. « Er nickte. »Gelt, aber jetzt schaust du, daß du vor deinem Mann daheim bist!« beschwor er sie. Ja Jochen. « Und nach einer kleinen Weile: »Ich dank dir. « Sie wagten es nicht einmal mehr, einander die Hand zu geben, aber er fragte doch: »Wofür bedankst du dich?« »Daß du auf mich nicht bös bist, weil ich dich schon wie der in Gefahr gebracht hab.« In dieser Stunde war sie fest entschlossen, den Jochen nie wieder um Hilfe zu bitten. In ihrer Todesangst hatte sie erkannt, wie schnell die Ka tastrophe über sie und ihn hereinbrechen könnte. Manchmal packte den Jochen Kain die Angst, er könnte es nicht schaffen, besonders arg. Fast nichts auf dem Hof gehörte wirklich ihm. Die Banken waren mit den Kredi ten nicht knausrig gewesen, aber das Geld wurde immer knapper, und die offenen Rechnungen sammelten sich
an. Der Jochen steckte sie alle in die Glasscheiben von der Kredenz. Auf diese Weise sollten sie ihn schon am frühen Morgen erinnern, wie hart er arbeiten müsse. Und wenn er sich am Abend einmal ein Buderl Obstler nehmen wollte, schimmerten ihm die Rechnungen bleich mah nend entgegen. Sofort stellte er das Buderl wieder in den Schrank zurück und holte den Schnaps erst gar nicht her vor. Die Anna-Mahm fuhr er unbeherrscht an: »Was? Schon wieder willst ein Geld von mir?« Giftig keifte die Alte zurück: »Mir borgt die Kramer-Mar tha nichts auf mein schönes Gesicht. Das mußt schon du versuchen. Dir kann sie bestimmt nichts abschlagen!« Wortlos legte der Jochen einen Geldschein auf den Tisch. Hörte man die Steineggerin so reden, konnte man glau ben, er hätte seinen Hut schon in jeder Dirndlkammer von Roitern an den Nagel gehängt. Gleich kriegte die Lena wieder glasige, traurige Augen. Am nächsten Abend, als die Lena beim Vieh im Stall war, stellte er die Steineggerin zur Rede: »Sag einmal, Mahm, was hast du auf einmal gegen mich? Du bist mir schon wieder richtig feind.« »Was du dir einbildest«, brummte sie, und dabei klang ihre Stimme tiefer als die von einem Knecht. »Ich bild mir gar nichts ein. Oder bild ich mir vielleicht nur ein, daß die Dorfleut längst nicht mehr so freundlich zu mir sind wie noch vor ein paar Monaten? Da spinnt jemand einen ganz bösen Faden gegen mich. Sag, was ratschen sie in Roitern so über mich?«
Die Alte blies durch den Schuber vom Herdtürl ins Feuer, das nicht recht brennen wollte. »Ein anderes Wetter krie gen wir. Wer kümmert sich schon um den Dorftratsch? Der Rauchfang hat keinen Zug, und mir tut jeder Kno chen weh. Soll ich da singen und juchzen?« Der Kain ließ sich auf den Stuhl beim Tisch fallen, grü belte eine Weile vor sich hin und sagte: »Könnt wirklich sein, daß es umschlägt.« Ein paar Minuten später kam die Lena in die Küche. Das war wie ein freundlicher Sonnenstrahl mitten in eine Ne belwand. »Fertig für heut.« Gleich trat ein zärtliches, stolzes Lächeln auf seine Lip pen. Vor der Mahm hätte er sich das sparen sollen, aber es kam einfach aus ihm: »Bist tüchtig, Lena. Ein Wort von dir, und du könntest für allerweil... « Fast im selben Augenblick keifte die Steineggerin los: »Mach das narrische Dirndl nur noch narrischer! Du tust, als ob es gar so ein Glück wär, wenn sie auf dem Hof bleiben dürft: lebenslang als Dirn, die sich von früh bis spät abrackert. Zuletzt ist sie verwelkt und schiach!« Bei solchen Reden zuckte die Lena erschrocken zusam men, aber sie sagte nichts dagegen, denn sie wußte, daß dann die Großmutter erst recht aufgedreht hätte. Alles wollte der Jochen auch nicht mehr ohne Widerrede auf sich sitzen lassen. Darum erklärte er ganz ruhig: »AnnaMahm, doch nicht als Magd. Ich tät sie heiraten!« Langsam schraubte sich die Stimme der Alten vom Brummen hinauf bis zum Kreischen: »Was du nicht sagst, du großartiger Bauer! Du haust mit der Faust auf einen
Tisch, der dir gar nicht gehört! Jeder weiß, daß du von dem lebst, was dir die Dorfleut aus Mitleid geschenkt ha ben! Das andere Zeug hat dir der Bürgermeister zuge schanzt oder die Bank dir geborgt! Dir gehören nicht die Felder, nicht das Haus und nicht das Vieh! Kain, der Zahltag wird kommen, an dem du das Geborgte zurück geben mußt. Mit Zinsen! Hast mich?« »Großmutter!« bettelte die Lena verzweifelt. Bei jedem Streit fürchtete sie, er könnte ihr das Glück fortreißen wie die Lawine das Haus unter dem Siebenstein-Kamm. Sie flüsterte noch tapfer: »Wir haben einander lieb, der Jo chen und ich.« »Das nützt er schamlos aus!« schrie die Steineggerin, bis sich ihre Stimme überschlug. »Und du verdienst das! Ra cker dich nur ab für ihn! Während du dich krumm arbei test, rennt er hinter einem jeden Weiberkittel... « Damit brach sie ihr Schimpfen ab, damit grad die unge sagten Worte in der Lena weiterfressen mußten. Das wollte der Jochen nicht länger hinnehmen. Er machte einen Schritt auf die Mahm zu. Die legte ihren Kopf in den Nacken und blinzelte furchtlos zu ihm hinauf. Leise, schon drohend, sagte er: »Jetzt ist die Katz aus dem Sack! Wirfst du mir vor, ich ließ die Lena für mich als unbe zahlte Magd arbeiten und täte zu anderen Frauen gehen?« Die Alte zog ihre schmalen Lippen tief in den Mund. Sie hielt es durch, kein Wort mehr zu sagen. Plötzlich verlor er die Selbstbeherrschung und schrie sie an : »Red, sonst... «
Sie wiegte den Kopf hin und her, ließ den Kain nicht aus den Augen und lächelte boshaft. »Sonst?« Er ging wortlos aus der Küche auf den Wirtschaftshof. Beim Brunnen blieb er eine Weile stehen und wußte ei gentlich nicht, was er anfangen sollte. Wieder einmal war er soweit, daß er am liebsten von seinem Hof fortgegan gen wäre. Nicht nur wegen der boshaften Alten. Leises Winseln ließ ihn aufhorchen. Es klang beinahe, wie wenn der Lutzl in der Hütte mit seinem Herrn traurig gewesen wäre. Der Jochen merkte, wie seine Wut zu einer tiefen Traurigkeit schmolz. Leise fragte er zum Hund hin: »Warum putzen sich alle allerweil an mir die Schuh ab? Wem tu ich schon ’was Schlechtes?« Er ging vorbei am Stadl. Das sanfte, dunkle Muhen der einzigen Kuh aus dem Stall machte ihm das Herz ein bißl leichter. Unten bei den Obststräuchern hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Bevor er sich noch umdrehte, schob sich eine Hand in seine. Mit ihrer lieben, samtig weichen Stimme bettelte die Lena: »Geh, sei nicht so. Die Großmutter ist eine alte Frau und versteht vielleicht die Welt nicht mehr ganz richtig. Aber sie muß dich doch gern haben, denn du gibst uns ein Daheim. Du bist allerweil gut zu ihr ge wesen. Und zu mir.« »Dreimal gut ist deppert!« fuhr der Jochen bitter auf. »Eine alte Weisheit. Recht geschieht jedem, der für seine Dummheit bestraft wird. Sie hat ’was gegen mich, die Mahm.« »Ich weiß auch nicht, was.« Die Lena schmiegte sich en
ger an seinen Arm. Schon mehr spaßhalber als ernst frag te er sie: »Kriegst du auch einmal so eine Stimm wie sie?« Noch ein paar Minuten, dann packte er sie um die Mitte und busselte sie, bis sich alles Böse in ihm aufgelöst hat te. Sie gingen nebeneinander her und träumten von ei nem schöneren Leben. Der Wiesenboden dämpfte ihre Schritte, wie wenn sie darüber geschwebt wären. Behut sam kam der Mond über die Waldwand herauf. Eine Weile ragten die Baumwipfel in seine Scheibe, aber er stieg rasch höher und ließ sich nicht länger von ihnen spießen. »Gelt, wir werden nie einer dem anderen weh tun«, bat er. »Wenn wir zwei zusammenhalten, kann uns niemand mehr auseinanderreißen.« »Jochen, ich bin so froh, daß ich dich hab.« »Und ich erst!« Er legte den rechten Arm um ihre Schul tern. Gleich schmiegte sie ihren Kopf an ihn, und so gin gen sie langsam weiter. Die Nachtluft war stark. Sie roch nach dem Wald, nach Wiesenkräutern und nach dem Wasser des Salbachs. Erst ein Donnerschlag schreckte das Liebespaar aus sei nen Träumen. Am Himmel hatten sich Wolkenberge zu sammengeballt. »Es wird gleich regnen«, sagte noch der Jochen. »Schauen wir, daß wir heimkommen!« Er wollte die Lena an der Hand weiterziehen, aber schon klatschten die ersten schweren Tropfen in ihre Gesichter. Im nächsten Augenblick stürzte eine ganze Wasserflut vom Himmel herunter. Voll Schrecken suchten sie unter
einem Baum Schutz, aber Sturm sprang auf und peitschte das Wasser fast waagrecht dahin. Als ein Feuerball aus den Wolken brach, zeigte sich für Sekunden das schwar ze Drohen am Himmel. Ängstlich flüsterte die Lena: »Eingeschlagen! Hoffentlich in kein Leben. Hoffentlich in keinen Hof!« Es war vom Schicksal so vorbestimmt, daß dem Jochen an diesem Tag alle scheinbar glücklichen Zufälle zum Verhängnis werden sollten. So ein Glück: Keine zehn Me ter vor ihnen tauchte im Schein des nächsten Blitzes die Heuhütte auf! Der Jochen schrie noch. »Komm, da drin nen überstehen wir das Ärgste!« Einen Herzschlag zu spät schreckte er davor zurück. Die Lena packte schon die Möglichkeit, sich vor dem Wol kenbruch, dem Sturm und dem gefürchteten Feuer in Si cherheit zu bringen. Sie zog ihn weiter, und so mußte er mit ihr kommen. Weil er ohnehin wußte, wo der Riegel war, riß er die Tür auf, und die Lena ließ sich ins Heu fal len. Kaum hatte er von innen den Riegel wieder vorge schoben, spürte er, wie sich zwei weiche Mädchenarme zärtlich um ihn legten. Ein köstlich duftendes Liebesbett, so ein Heu! »Da ist es schön«, flüsterte die Lena. »Ich hab gar keine Angst mehr.« Ihre Lippen kamen zu den seinen. Das regennasse Ge sicht! brannte vor Zärtlichkeit und Sehnsucht. »Lena!« Er busselte sie ganz sanft, fast scheu. Die Hände, die über ihr Haar streichelten, zitterten. Der Sturm riß am Dach
der Heuhütte, und irgendwo war ein Brett locker, das ge gen die Holzwand schlug. »Mörder Kain ... wir stechen dich mit Heugabeln heraus!« schreit die Stimme vom Schwaleck-Bauern. Eine andere: »Aufhängen!« »Wir zünden dir die Hütte an!« brüllt der Bürgermeister Puchinger. Er überschreit alle. Die Steffi klammert sich verzweifelt an ihn. »Keine Angst, Steffi, sie erwischen dich nicht. An der Rückseite von der Hütte ist ein Brett locker ... !« »Jochen!« bettelte die Lena ängstlich. »Red nicht so etwas zusammen! Du bist mit mir, und niemand will dir ’was antun!« Er schreckte auf und horchte in das Gewittertoben hin aus. Waren sie ganz bestimmt fort, der Bürgermeister, sein Gendarm, der Gamsl-Wirt, der Schwaleck-Bauer? Und der Totengraber-Hias, der schon für seine Grube Maß nehmen wollte! Der Jochen schlug sich mit der fla chen Hand auf die schweißnasse Stirn. »Nicht bös sein, Lena. Ich hab den Verstand noch nicht ganz verloren, aber mich packt allerweil wieder die Erinnerung. Wenn es finster wird, seh ich alles ganz deutlich.« Er redete nicht weiter, weil er nicht wußte, ob er auch den Namen von der Steffi ausgesprochen hatte. Die Lena kannte die Geschichte von daher, wie sie die Eier-Thresl bis zum Steinegger-Hof in die Einschicht getragen hatte. Beruhigend streichelte sie über seine Hände und drückte sogar ein Bussel drauf. Dann fragte sie aber doch, was ihr auf der Seele brannte: »Haben sie dich wirklich aus die
ser Hütte schleppen und an den nächsten Baum hängen wollen?« Er lachte unsicher und besonders laut. »Geh weiter, wer sagt denn so etwas? Die hätten mir kein Haar gekrümmt, aber ich hab mich ins Bockshorn jagen lassen und bin da von’teufelt. Deshalb haben sie glauben müssen, ich hätt’s getan.« Die Lena sagte noch, das wäre alles längst vorbei. Nie mand in Roitern würde ihm ein böses Wort nachsagen. Zuletzt stellte sie die Frage: »Du bist damals nicht allein in der Hütte gewesen?« Also doch! Er sagte leise: »Nicht allein.« Nie wollte sie auf das lüsterne, geheimnisvolle und ein bißl boshafte Flüstern hören, das manchmal durchs Dorf zog. »Jochen, mit der Feltinger Steffi?« »Nein!« schnitt er ihr das Wort ab. Seine Stimme klang gläsern, hart und zerbrechlich. »Mit der Steffi vom Bi-lit sch-Schneider.« Es wurde ganz still zwischen ihnen. Die Lena getraute sich kaum, Atem zu holen. Erst nach einer Weile flüsterte sie: »Eines muß ich dir noch sagen: Ich hätt dich bestimmt nicht allein fortgehen lassen. Das glaub mir!« »Ja, Lena, das glaub ich dir. Komm, wir gehen heim. « Bei Tag fürchtete er sich vor niemandem. Wer hätte ihm schon etwas antun wollen? Tagsüber waren alle hilfreich und freundlich zu ihm. Erst bei der Nacht drängten sich immer mehr Leut aus Roitern vom Dunkeln in seine Träume. Allen voran der Totengraber-Hias. Er reißt sich die Jacke
aus Hundefell an der Brust auf, denn es ist ein heißer Sommer geworden. Deshalb sickert dem Jochen der Schweiß übers Gesicht. Das Kichern vom Hias gellt ihm schmerzhaft in den Ohren: »Hast brav dafür gesorgt, daß ich allerweil Arbeit hab. Dein Vater ist auch mit dem Bluthusten noch groß und stark gewesen. Du hast ihm das Herz gebrochen, Kain-Mörder! Deine Mutter ist mit einem kleinen Sarg aus’kommen, denn vor lauter Sorgen ist sie eingelaufen wie eine böhmische Leinwand.« »Geh weg, Totengräber!« wollte der Jochen schreien, aber er kriegte nur ein jämmerliches Krächzen über die Lip pen. Wenn der Prenner Hias lacht, spannt sich die Haut über sein Gesicht wie an einem Totenschädel. Er zieht einen Maßstab hervor und kichert: »Ich hab’s dir schon im Teu felsgraben gesagt, daß du lieber nicht nach Roitern heim kommen solltest. Laß mich dein Maß nehmen: Länge und Breite. Bald ist es auch mit dir soweit. Ich nagel dir schon den Sarg zusammen!« Wie ein Wilder hämmert er drauf los, als müßte er die Arbeit noch in dieser Stund packen. Das dröhnt durchs Haus, dumpf und schwer. Zwischendurch grelle Schreie! In panischer Angst fuhr der Jochen von der Bettstatt auf. Mit dem Zipfel von der Tuchent wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dabei zitterte er vor Kälte und Entsetzen, denn das Hämmern hörte nicht auf, und die Schreie erfüllten das ganze Haus. Türen schlugen kra chend ins Schloß. Der Jochen murmelte: »Ich träum gar nicht. Alles Grausliche ist Wirklichkeit!«
Er zog sich die Hosen über und rannte ins Vorhaus. Krei schend vor Zorn empfing ihn die alte Steineggerin. Wenn sie sich schon den ganzen Tag für nichts und wieder nichts abschinde, wolle sie wenigstens in der Nacht ihre Ruhe haben! Der Jochen ging an ihr vorbei und sagte zum Lutzl hin: »Hör wenigstens du auf zu keifen, denn das hält man im Kopf nicht aus!« Der Hund kroch einsichtig in seine Hütte zurück, aber die Mahm schrie weiterhin von der Haustür her: »Ein Unglück! Ich hab’s geahnt, daß bald wieder ein Unglück .. !« Zur Vorsicht fragte der Jochen durchs Tor: »Wer ist da?« »Hilf mir, Kain!« Das war eine männliche Stimme. Der Jochen atmete erleichtert auf, weil in ihm die Angst ge wesen war, der Feltinger-Jäger könnte der Steffi etwas angetan haben. »Nicht aufmachen«, flüsterte plötzlich neben ihm die An na-Mahm. »Das kann genau so gut eine Falle sein. Die bringen dich um!« So einen Schmarren hörte sich der Jochen erst gar nicht an. Er machte das Tor auf. Es war der Schwaleck Lois, der Bauer, der ihm beim Heimkommen als erster in Sieben stein begegnet war. »Du? Was hat’s?« »Gott sei Dank, daß du daheim bist!« Der Schwaleck lehnte sich ganz erschöpft gegen den Torpfosten. »Dauert das, bis ihr einen hört. Euch könnt man glatt umbringen!« Er verstummte, weil ihm bewußt wurde, daß er mit dem Kain redete, der vielleicht doch den Jäger umgebracht
hatte! Noch einmal fragte ihn der Jochen, warum er mit ten in der Nacht Lärm geschlagen habe. »Hilf mir! Wir werkeln seit ein paar Stunden am Mähdre scher herum, aber das Klumpert hat sich verklemmt. Morgen früh krieg ich einen ganzen Arbeitstrupp, und ohne die Maschin bin ich aufgeschmissen.« Das Zögern vom Kain hielt der Schwaleck schon für eine Absage, weshalb er ihm schnell versprach: »Mußt es nicht um sonst machen. Ich kann dir mehr geben als nur ein paar Markl !« »Eh klar, daß ich komm«, entschied der Jochen ohne lan ges Überlegen. »Ich muß mich anziehen. Hockst dich einstweilen in die Küche?« Der Schwaleck atmete zwar erleichtert auf, hob aber die Hände zur Abwehr. In das Mörder-Häusl kommen? »Ich wart lieber gleich auf der Straße. « Bei der Haustür vertrat dem Jochen noch einmal die Mahm den Weg. Als er sie zur Seite schieben wollte, kreischte sie: »Wegstoßen willst eine alte Frau!« »Laß mich vorbei, der Schwaleck wartet, und ich kann auch nicht die ganze Nacht aufbleiben.« Die Mahm starrte ihm regungslos ins Gesicht. In ihren Augen war keine Feindschaft mehr, eher Sorge, und sie flüsterte: »Vielleicht mein ich es mit dir besser als du glaubst. Geh nicht zum Schwaleck!« Er wollte sich an ihr vorbeidrängen, als er die Kammer tür von der Lena aufgehen hörte. Also fragte er schnell: »Und warum nicht?« Die Mahm flüsterte beschwörend: »Stehst vielleicht
schon auf der Abschußliste! Einer haßt dich, weil man dich mit seiner Frau gesehen hat!« Jetzt zuckte der Jochen doch zusammen, aber das ver steckte er vor der Alten. Ihm ging es nur noch darum, daß die Lena von der Tratscherei nichts hörte. Deshalb verteidigte er sich : »Dank dir für die Sorge, aber ich darf in Roitern auch noch mit einem Dirndl oder einer Frau reden! Dabei tu ich nichts Unrechtes und hab mir nichts vorzuwerfen.« Die Lena kam in die Küche getorkelt, schlaftrunken, weil so ein junges Ding sich im ersten Schlaf kaum ermuntern kann. »Was ist geschehen, Jochen?« Er sagte ihr, daß er zum Schwaleck gehen müsse. Jetzt gab ihm zwar die Steineggerin endlich den Weg frei, aber in ihren Augen blieb die panische Angst. Weder der Jo chen, noch die Lena bemerkten das, denn wer schaute sich schon ein altes Weibl so genau an? Der Schwaleck Lois hatte vor Ungeduld leise geflucht, aber den Jochen empfing er doch mit einem freundlichen Grinsen: »Hast ’leicht von der Lena so lang Abschied nehmen müssen? Grad so innig, wie wenn du sie nimmer leben dig sehen tätest! Das ist halt eine Gaudi.« Weil der Kain nie über ein Dirndl leichtfertig reden woll te, gab er darauf keine Antwort. Er schritt kräftig aus, und in ein paar Minuten kamen sie zum Schwaleck-Hof. Dort brannten eine Menge Lichter. Dienstleute standen verlegen herum. Als der Jochen kam, wichen sie zurück wie vor einem Doktor. Der erlöste sie gleich und sagte,
sie könnten alle schlafen gehen, nur der Bauer sollte ihm helfen. Dann arbeitete er bis in die Morgenstunden an dem Mäh drescher. Als er endlich herausgefunden hatte, warum die Maschine immer wieder steckenblieb, war der Fehler in einer Viertelstunde behoben. »Jetzt packen wir ihn!« sagte der Jochen zuversichtlich und wischte sich mit der ölverschmierten Hand übers Gesicht. Todmüde lehnte er sich für ein paar Sekunden an die Holzwand des Schuppens. Weil sich der Schwaleck ohnehin nicht traute, den Kain zum Weiterarbeiten zu hetzen, lachte er: »So schaust aus wie ein Wilderer. Bist ja auch einmal in den Wald ’gan gen. Früher. Bis dich der Feltinger Rupert erwischt hat!« Der Schwaleck lachte vertraulich, beinahe verständnis voll, aber in seinen Augen stand ein Lauern. Nur weil der Jochen schon zu müde war, wehrte er sich nicht mehr. Grad mit letzter Kraft zwang er sich, die drei Schrauben anzuziehen. »Fertig!« Überglücklich und überschwenglich sagte der Schwaleck immer wieder: »Dank dir, Kain, dank dir tausendmal! Ohne deine Hilf hätt ich einen Patzen Geld verloren. Jetzt kommst erst einmal ins Haus.« Er befand sich in einem richtigen Glücksrausch und ließ sich nicht lumpen. Zu spät überlegte er, daß der Kain nichts als ein verschuldeter Kleinbauer war, der schon für einen Zehner eine Laus nach Siebenstein und zurück ge trieben hätte. Aber zurücknehmen konnte er sein Geld auch nicht mehr, und so protzte er wenigstens: »Bist oh
nehin ein armer Schlucker, und ich kann’s mir leisten. « Weil ihm der Jochen die wahren Gedanken von der Stirn ablas, steckte er ihm einen Geldschein ins Westentaschl zurück. Grad gerührt schenkte der Schwaleck zwei Schnäpse ein und lachte: »Wenn du nicht mehr nimmst, bist selbst schuld. Dafür tu ich dir noch einen Gefallen.« »Ja?« Der Jochen schwankte schon vor Müdigkeit. »Wer’s gut mit dir meint, muß dich warnen, Kain. « »Wovor?« lallte der Jochen. Da richtete sich der Schwaleck so hoch auf, daß er beina he ebenso groß wurde wie der Kain-Bauer. Der sonst meistens sanfte Blick seiner Augen flackerte bösartig, und er sagte: »Erste Möglichkeit: Einer hält dich noch für den Mörder vom Feltinger Rupert und glaubt, daß du jetzt auch noch mit seinem Weib liegen willst. Zweite Möglichkeit: Akkurat einer, der selbst den Rupert nieder geschossen hat, schreit deshalb so laut, damit er es noch allerweil dir anhängen kann. Auf jeden Fall muß er dich wegputzen. Ich sag’s dir, weil ich dein Freund bin!« Das langte dem Jochen. Plötzlich stöhnte er: »Ich kann fast nicht mehr aufrecht stehen. Aber eines sag ich dir: Ich mag den Feltinger Ulrich nicht! Ein brutaler Lump, wer seine seelensgute Frau blutig schlägt!« Über so viel Zustimmung freute sich der Schwaleck so sehr, daß er grad jubelte: »Wer sein Weib schlägt, kann auch seinen Bruder erschlagen! Der ist allerweil schon darauf aus’gangen, einem anderen das Dirndl wegzuneh men. Genau wie dir die Steffi ! Vielleicht hat er dir des
wegen den Mord anhängen wollen!« Der Sommer war heiß. Auf den Feldern reifte die Frucht. Wie reines Gold wogte das Korn. Als der Jochen über sein einziges Feld hinschaute, fiel ihm auf einmal ein, daß Reifen ein Weg zum Tod hin sei. Ob mit Sensen oder mächtigen Maschinen ... Noch zog das Wild furchtlos durch die Wälder und ahnte nicht, daß es schon von Jä gern und Wildschützen beobachtet wurde. Der Jochen sagte leise vor sich hin: »Vielleicht bin ich zu lang von der Landwirtschaft weg gewesen. Aber es ist für das Vieh eine Gnad vom Herrgott, daß es nicht ahnt, was Sterben heißt. Grad nur wir Menschen müssen wissen, daß mit jedem Schnaufer das Leben kürzer wird.« Auf dem Kain-Hof ging das Bauernleben erst richtig los. Die erste Heuernte von den beiden Wiesen war einge bracht, und es grünte schon wieder. Nur noch ein Hagel schlag hätte das Korn auf dem Feld vernichten können. Seine Kuh hatte gekalbt, und auf dem Misthaufen purzel ten die Ferkl übereinander. Die Hühner, die ihm die Gamsl-Wirtin zum Einstand geschenkt hatte, zogen eine ganze Schar von Kücken hinter sich her. Mit stolzem Krä hen führte der Hahn sie zu den besten Futterplätzen. Die Schafe trugen noch ihre Wolle und drängten sich mit ih ren Lämmern an heißen Tagen bei der Wasserstelle zu sammen. »Wir packen’s, Lena«, sagte der Jochen und atmete tief die Sommerluft ein. Vergessen waren alle Gedanken ans Davonlaufen und an den Tod. »Wir müssen nur dafür ar
beiten und daran glauben!« Schon beim ersten Morgengrauen stand der Jochen auf und spürte keine Müdigkeit mehr. Während der Jahre in der Fremde hatte er es gelernt, mit wenig Schlaf auszu kommen. Wer immer auf der Flucht war, durfte nie tief schlafen. Im Stall warnte ihn erst recht nichts vor dem Unglück dieses Tages. Das Vieh war gesund und gut versorgt. Als er nach der Arbeit ins Wohnhaus zurückging, schaute der Lutzl mit einem Auge verschlafen zu ihm auf. Niemand legte ihm mehr eine Kette um seinen kahlgescheuerten Hals. Im Vorbeigehen tätschelte ihn der Jochen liebevoll. Daraufhin schnaufte der Hund wohlig und warf sich vor der Hütte auf den Stein, wo er schon von der Morgenson ne beschienen wurde. Auch für ihn hatte der Tag glück lich begonnen. In der Küche werkte die Lena am Herd. Sie gab dem Jochen zum guten Morgen ein Bussel und sagte: »Die Großmutter ist noch nicht auf. In ihren Jahren braucht man mehr Schlaf.« Da meinte er: »Am liebsten sitz ich ohnehin mit dir allein am Tisch. Das ist beinahe, als täten wir schon miteinan der hausen.« »Genau so!« bestätigte sie ihm unvorsichtig, weil sie an die gemeinsame Arbeit, ans Planen und ans Schaffen dachte. Er machte ein Gesicht, als müßte er angestrengt nachden ken. Nach einer Weile brummte er: »Dazu gehört noch ’was, aber das hab ich schon vergessen.« »Lotter!« Aber sie gestand leise: »Ich träum auch von un
serer Lieb.« Aus der Speisekammer holte sie einen Teller. »Die hab ich gestern gebacken.« »Apfelkiacherln! Meine Lieblingsspeis!« freute er sich und staunte sie wie Wunderwerke an, weil die Lena sie gemacht hatte. Aus lauter Ehrlichkeit bat sie: »Mach keinen solchen Wind. Zwei sind mir zu braun geworden. Man könnt schon sagen: schwarz.« »Die schönsten Kiacherln, die ich je gesehen hab! Ist heu te ein Fest? Hab ich Geburtstag?« Sie freute sich über seine Freude. Leise sagte sie: »Nie mand hat Geburtstag, aber ich will, daß bei uns einmal jeder Tag ein Festtag sein soll.« Bald darauf kam auch die Mahm in die Küche. Wiesel flink schaute sie sich um und rief: »Jessas, Kiacherln! Endlich etwas, das auch ich erbeißen kann. Mein Gott, Lena, die zwei sind dir aber ganz ver brannt!« Nach dem Frühstück fragte die Lena: »Kommst mit in die Kirch, Großmutter?« Gleich jammerte die los: »Ein altes Weibl kommt ohnehin nicht mehr viel zum Sündigen! Und von der vielen Mehl speis tut mir der Magen weh. Da sollen nur die Jungen hingehen und sich in den guten Vorsätzen bestärken las sen!« Noch im rechten Augenblick ermahnte die Lena den Jo chen: »Zeit zum Umziehen!« Auf diese Weise blieb der Sonntagsfrieden gewahrt. Es war halt in allem ein besonders schöner, glücklicher Tag.
Der Jochen lächelte dann sogar darüber, daß ihnen die Alte auf die Straße hinaus nachschrie: »Gelt, Lena, du setzt dich in der Kirch auf die Weiberseite ! Ihr müßt nicht beieinanderstehen wie ein Paar!« Sie gingen so langsam über die Straße hin wie die ande ren Kirchenbesucher auch. Eben sonntäglich feierlich! Nur als ihnen das Ehepaar Matsching begegnete, flüster te die Lena rechtzeitig: »Einstweilen kannst du meine Hand noch loslassen!« Der Jochen grüßte jeden, den er sah, ob Knecht oder Bau ern. Die Männer dankten ihm fast alle ein bißl von oben herab, denn in Roitern herrschte eine ganz genaue Rang ordnung. Ein junger Bauer, dessen Leute abgehaust hat ten, stand auf keinen Fall höher als ein Knecht! Die Wei berleut dankten ihm sogar ein bißl verlegen. Sonst waren sie nicht so kleinlich, aber bei dem Kain Jochen ging es um ihren guten Ruf. Auf dem Hauptplatz sorgte der Schmiedl-Gendarm für Ordnung. Es gab ein paar Großbauern, die sogar zur Kirch mit dem Wagen fahren mußten. Da griff der Schmiedl recht scharf durch, damit niemand zu Schaden käme. Vor allem die Knechte unter den Fußgängern schrie er an: »Weg da! An die Seite, Leut! Hat keiner Au gen im Kopf? Da kommt der Reibbling. Schönen guten Morgen, Reibbling-Bauer!« Die Reichsten sprangen überhaupt erst vor der Kirchen tür vom Wagen und zeigten ihre bessere Lebensart, in dem sie sogar den Frauen und Töchtern beim Absteigen halfen. Dann warfen sie die Zügel dem Prenner Hias zu.
An Sonntagen gab es in Roitern niemals Begräbnisse, weshalb sich der Totengräber anderen Aufgaben widmen konnte. Die Großbauern ließen sich nicht lumpen, und der Herr vom Diestl-Gut schrie laut, daß man ihn bis zum Gemeindeamt verstanden hätte: »Da, Totengräber! Solang du mir keinen anderen Dienst erweisen willst, kommt es mir auf ein paar Markl nicht an. Für einen Zeh ner kannst du dich ordentlich um meine Ross’ kümmern!« »Dank dir!« kreischte der Prenner Hias genauso laut zu rück und lächelte verschmitzt. Er durfte den Gutsherrn duzen, was sich in Roitern nicht viele Leute trauten. Wie kein anderer hatte er bei seinem Geschäft erfahren, daß in einer gewissen Stunde alle Leute gleich ausschauten. Oder halt beinahe gleich. Der Unterschied bestand dann nur noch in der Preisklasse für den Sarg. Getreulich führ te er die Ross’ vom Gutsherrn zu den anderen in den Hof vom Gams-Wirt, aber doch dorthin, wo sie den meisten Hafer in der Krippe erwischen konnten. An der Kirchentür trennten sich der Jochen und die Lena, wie ihnen das die Mahm aufgetragen hatte. Sie ging auf die Weiberseite, er stellte sich ganz hinten hin. Von die sem Platz aus konnte er die ganze Zeit über zur Lena hin schauen, wie sie ihren rotblonden Kopf übers Gebetbuch neigte. Er beobachtete auch, daß die anderen Wei-berleut nicht alle ebenso andächtig die Messe verfolgten. Manche drehten sich sogar nach ihm um und tuschelten dann miteinander. Das trieb dem Jochen eine Farbe in die Wan gen, und er bemühte sich, nur noch auf die Lena zu ach
ten. Sie war in jedem Fall das liebste Dirndl und für ihn das schönste, auch wenn andere viel mehr Seide, Brokat und Schmuck an sich hängen hatten. Vielleicht verlangte es ein besonderer Anlaß, aber an die sem Tag predigte der Hochwürden Wandl ausgerechnet nach dem ersten Buch Moses. Da war sie wieder, die Ge schichte vom älteren Sohn, den der Adam mit der Eva hatte, vom Kain, der seinen Bruder Abel erschlug. Fünf oder sechs Leute drehten sich um und schauten auf den jungen Kain-Bauern. Dem Pfarrer fiel das nicht auf, weil er von dieser Bibelstelle auf einen ganz anderen Ge danken hinleitete. Dem Jochen aber langte es auch so schon. Zumindest die neben ihm Stehenden sahen, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Luft war auch keine zum Atmen in der Kirch, weil sie für Roitern und Umge bung längst zu klein geworden war. Sehnsüchtig schaute der Jochen zu dem Streifen Sonnenschein, der durch das Tor von draußen hereinfiel, aber er getraute sich doch nicht, ausgerechnet jetzt wegzugehen. Da hätten sie gleich geratscht: »Eh klar, daß der so eine Predigt nicht durchhalten kann, der Kain!« Er hielt durch. Ab und zu wischte er sich unauffällig mit dem Jankerärmel über die Stirn. Ganz naß wurde der Stoff, und das Hemd klebte ihm schweißnaß am Körper. Wieder einmal bereute er, daß er nicht im Wald geblieben war und dort an seinen Herrgott gedacht hatte. Akkurat an diesem Sonntag dauerte die Messe recht lang, vielleicht kam ihm das auch nur so vor. Ein paar Minuten vor dem Schlußsegen zwängte er sich, ein verle
genes Lächeln auf den Lippen, zur Kirchentür hinaus. Als er in den sonnigen Vormittag, unter den blauen Him mel und an die frische Luft trat, atmete er auf. Der Häm merl Robert stand schon recht gierig vor seiner »Golde nen Gams« und schaute nach Kundschaft aus. Als er den Kain sah, winkte er ihm zu, er sollte hinkommen, aber der Jochen lehnte die Einladung ab. Hinaus aus dem Dorf, in den Wald! Durch Zufall kriegte er heraus, warum der Wirt vor die Tür gekommen war: Von diesem Platz aus konnte er nämlich seine Erna beobachten, die mit dem Hiebler Karl redete, einem steinreichen Vieh händler aus Siebenstein. Die Wirtin lachte ein paarmal lustig auf. Ganz versonnen schaute ihr der Hiebler in die Augen und noch ein bißl tiefer. Dabei tätschelte er ihren Arm. Alles in Ehren, versteht sich, aber der Gamsl-Wirt litt wie im Fegefeuer. »Auch ein armer Depp«, sagte der Jochen leise vor sich hin. »Bei seinem vielen Geld und dem schönen Wirtsge schäft!« Fast hätte er übersehen, daß sich die Leute schon aus dem Kirchentor ins Freie drängten. Einen letzten Schim mer Frömmigkeit hatten sie noch über den Gesichtern liegen, aber der verflog gleich beim hellen Tageslicht. Al les zu seiner Zeit: Andacht in der Kirch, die Gaudi nach her im Wirtshaus. Beides gehörte zum Sonntag, an dem sich die Dorfleut von den Plagen und Sorgen des Alltags erholen durften. »Du bist plötzlich verschwunden gewesen«, sagte die Lena neben ihm. »Da hab ich es mit der Angst zu tun
’kriegt. Ich bin schon eine dumme Gans?« Er freute sich über ihre Worte und sagte ganz ernst: »Bist keine dumme Gans! Ich hör mir da nur heraus, daß du mich wirklich lieb hast. Um das, was man gern hat, bangt man halt. Keine Angst, ich renn nicht mehr davon. Auch nicht, wenn der Pfarrer ausgerechnet vom Mörder Kain predigt und sich die Leut nach mir umdrehen.« Sie hörte die Bitterkeit in seiner Stimme. Weil in ihr so viel Liebe war, kümmerte sie sich einen Schmarren um die neugierigen Blicke der Ratschkathln. Sie nahm den Jochen einfach bei der Hand und zog ihn über den Kir chenplatz. Dazu lachte sie möglichst fröhlich: »Was mußt du aber auch akkurat Kain heißen!« Er war so verbittert, daß er noch weiterhin grollte: »Alle meine Leut haben den anständigen Namen Kain gehabt, und niemand hat sie deshalb schief angeschaut. In der Schul haben sie allerweil nur geflachst, wenn sich der Asch Ferdl mit seinem Namen hat melden müssen. Mein Unglück hat erst damit angefangen, daß so ein Lump den Jäger umgebracht und der Doktor geschrien hat: Mörder Kain!« Flüsternd bat sie ihn: »Nicht mehr daran denken! Heute ist ein so schöner Tag. Weißt was, wir holen den Lutzl und gehen mit ihm ein Stück spazieren. Wirst sehen, der schnappt uns über vor Freud!« Sie hatte richtig gerechnet. Gleich legte sich ein stilles, friedliches Lächeln über das Gesicht vom Jochen. Bei al lem sagte er immer »unser«: beim Hof, beim Vieh, bei den Feldern. Nur vom alten, gichtigen, am Hals von der
Kette kahlgescheuerten Hund sagte er: »Mein Lutzl!« Der schaute ihnen freudig entgegen und wedelte leicht mit dem Schwanz. Das wilde Herumspringen wäre ihm schon zu schwer gefallen. Er zitterte erst vor Freude, als ihm der Jochen das Halsband überstreifte und sagte: »Kommst mit uns, weil heut ein besonders schöner Tag ist!« Nach der Kränkung über die Blicke mancher Dorfleute tat ihm die Freude seines Hundes bis in die Seele gut. Und die Lena an seiner Seite, mit ihrem roten Köpfl, den Sommersprossen im Gesicht und dem auch schon nicht mehr recht neuen Dirndlkleid, – sie kam ihm schön vor wie sonst keine auf der Welt. Sie gingen durch den Gemüsegarten hinunter zu den Wiesen. Vom Kuchlfenster her beobachtete die alte Mahm voller Sorge, daß der Jochen die Lena an der Hand zog, als ob sie ihm schon gehörte! Sie musterte sein Gamsfrackl, das er vor sechs Jahren günstig beim Bi-lit sch-Schneider gekauft hatte, beim Vater von der Steffi. Fast neu. Der schäbige Hofköter drückte sich von der an deren Seite her an seine Knie. Die Steinegger Anna schüt telte traurig den Kopf. Ihre welken Lippen sagten lautlos und feindselig: »Aber Ruh’ geben kann er auch nicht der Steffi! Wie wenn alle Weiber ihm gehören müßten, dem Armenhäusler, dem notigen!« Und sie betete still um die Stunde, in der sie ihre Lena wieder vom Kain-Hof wegreißen könnte. Die reifenden Felder rückten enger an den Wiesenweg heran. Der Jochen machte mit dem Arm einen Kreis
durch die Luft. »Das sind halt doch wieder die KainGründe geworden!« Der Gedanke machte ihn versöhn lich. »Eigentlich sind die Leut von Roitern zu mir gar nicht schlecht gewesen. Ohne ihre Hilfe hätt ich mir nichts mehr aufbauen können. Es geht weiter, Lena, und den Hof nimmt mir keiner mehr!« Sie atmete erleichtert auf, weil sie es kaum ertragen konnte, wenn er so niedergeschlagen und ohne Hoffnung war. Recht lieb fragte sie ihn : »Was siehst nachher noch in der Zukunft?« Er lachte glücklich auf: »Einen Traualtar! Ich seh uns auf einer Hochzeit tanzen: auf unserer! Und nachher ... « »Langt schon!« unterbrach sie seine Träumereien, bevor sie noch zu gefährlich wurden. Ihre Augen leuchteten hellgrün wie die Wiesen im Sonnenschein. »Siehst, so ist das Schicksal: Es hat uns ordentlich durch’beutelt, aber ohne das Unglück hätt’s nie unser Glück geben können! Alles ist zu etwas gut gewesen.« »Ja«, sagte er still und dachte an seine Eltern. Die hätten doch nicht sterben müssen. Als sie weitergingen, schlangen sie die Arme umeinan der. Aber nicht zu eng, denn gar so arg wollte ihn die Lena nicht in Versuchung führen. Wie denn sonst hätte sie halten können, was sie der Großmutter versprochen hatte! Und als könnte er sogar in ihren Gedanken lesen, grollte er plötzlich: »Bestimmt ist deine Großmutter im Grund ein seelenguter Mensch, aber ich versteh sie nicht mehr. Seit gut einem Monat wird sie auf mich wieder ganz
spinnen. Das Sticheln geht schon in der Früh an. Weil sie mir bei der Arbeit nichts vorwerfen kann, hör ich hun dertmal am Tag, daß du bei einem anderen Mann ein leichteres Leben hättest. « Sie vertrat ihm schnell den Weg. Leise beschwor sie ihn: »Glaub mir, mit niemandem könnt ich so glücklich sein wie mit dir! Ich wollt’s auch gar nicht, denn ich hab dich lieb! Nur dich!« Wie er sie busselte, vergrub er seine Finger ins üppige Rotgold ihres Haares. Ganz zart schmiegte sie ihr Gesicht an seine Wange. Er sagte schlicht und innig: »Ich wollt ohne dich gar nicht mehr leben. Niemand wird uns mehr trennen!« Aber diese Worte erstickten ihm, und er starrte über die Schulter von der Lena zum Waldrand hin. Deshalb schreckte auch sie zusammen und machte sich aus seinen Armen frei. Sie fürchtete halt, eine Dorfratschen könnte sie sehen. Oder der Bürgermeister. Am Ende gar der Herr Pfarrer! Es kam noch viel ärger! Vorerst verschwand die Erscheinung am Waldrand wie ein Trugbild und zerfloß in nichts. Grad nur noch ein paar Zweige im Unterholz bewegten sich. »Das ist die Steffi gewesen«, flüsterte die Lena. »Ja, die Steffi.« Plötzlich fror die Lena, so daß sie ihre Arme über der Brust kreuzte. »Ich hab Angst um dich.« Nur langsam beruhigte sie sich wieder. Aber damit war es für diesen schönen Tag noch nicht ausgestanden. Die
zwei jungen Leute gingen weiter. Jeder vergrub sich in Gedanken und Zweifel. Nur der Lutzl trabte zufrieden hinter ihnen her, soweit er das mit seinen gichtigen Bei nen noch erpackte. Von den Wiesen führte der Weg im mer näher zum Waldrand. Der Jochen redete wieder von seiner nächsten Arbeit, und die Lena schaute dem Lutzl zu, wie er im Umkreis von ein paar Metern den Boden abschnofelte. »Setzen wir uns für ein paar Minuten ins Gras?« Noch ehe der Jochen ein Wort dazu sagen konnte, stand plötzlich wieder eine Gestalt vor ihnen. Ganz nahe, als ob er sie längst aus dem Unterholz hervor beobachtet hätte, trat er aus dem Wald: der Jäger Ulrich Feltinger, der Mann von der Steffi! Der Bruder vom Rupert, den ir gendein Kain dieser Welt erschlagen hatte! Mit einer schneidend scharfen Stimme befahl er: »Stehenbleiben!« Gleich war dem Jochen klar, daß ein Todfeind vor ihm stand. In seinem ersten Entsetzen wäre er ihn am liebsten angesprungen, aber er zwang sich zur Ruhe und sagte: »Tu dein Gewehr weg, Feltinger, denn ich mag’s nicht, wenn einer auf mich anlegt.« Der Jäger zielte gar nicht auf ihn, sondern hielt die Waffe nur schußbereit. Einer, der sich in Gedanken schon aufs Umbringen vorbereitete! Er schaute auf den Lutzl, der er schrocken ein paar Schritte zurückgestolpert war, dann wieder auf den Jochen. Voller Haß und Freude schnarrte er: »Weißt nicht, daß wir ein Sperrgebiet haben wegen der Tollwut? Es ist meine Pflicht, daß ich einen jeden wil dernden Hund abschieß!«
Die Lena stand gelähmt vor Schrecken, aber der Jochen lachte auf: »Trau dich! Willst behaupten, daß mein Lutzl noch hinter einem Wild her kann? Der schleppt sich auf seinen alten Haxen kaum weiter. Gib’s auf, Feltinger, mir machst du keine Angst!« »Willst akkurat du mich an meiner Pflicht hindern, du Knecht!« In den Augen des Ulrich Feltinger brannte un verhüllt der Haß. »Dein Köter geht an keiner Leine. Als dann ... « »Feltinger!« schrie der Jochen auf, weil vor seinen Augen das Grauenvolle geschah. Mord! Der Schuß krachte. Den Lutzl riß es in die Höhe, dann fiel er zur Seite. Seine Hin terläufe zitterten. Ein anklagendes Aufwinseln, und es war aus mit ihm. Die Lena wollte vor dem grausigen Bild die Augen zu machen, aber das Entsetzen zwang sie zum Hinschauen. Sie wußte, was der Lutzl für den Jochen war! Den Feltinger anspringen. Mit bloßen Händen ... Doch plötzlich brach er neben seinem Hund kraftlos in die Knie. »Lutzl!« Der Kopf sank ihm an den kahlgescheuerten Hals des Tieres. Ketten das ganze Leben, und noch nicht genug. Umgebracht! Die Finger des jungen Bauern zitterten über die anklagend gebrochenen Augen des Hundes und streiften ihm die Lider herunter. Ein hartes, trockenes Schluchzen verkrampfte seinen Körper. Steif und mühselig raffte sich der Jochen vom Boden auf. Er taumelte einen Schritt auf den Ulrich zu. Die zwei Männer starrten einander mit maßlosem Haß in die Au
gen, bis der Kain flüsterte: »Dafür wirst du mir zahlen, Jager! Zahlen mit allem, was dir lieb ist!« Der Feltinger hielt sein Gewehr noch immer schußbereit. Der zweite Lauf war geladen. Langsam ging er rück wärts. Als der Triumphierende hatte er sich besser in der Gewalt. Diesmal hatte er zuschlagen können! Seine Stim me klang ruhig, beinahe glücklich, und er sagte heraus fordernd: »Droh mir nie wieder, Kain! Das heute ist nur eine Warnung gewesen, damit du mir künftig mein Weib in Frieden läßt. Die Rechnung für meinen toten Bruder kriegst du schon noch! Wenn die Gerichte zu lahmlackert sind, verschaff ich mir selbst Gerechtigkeit! Du wirst es erleben, aber vielleicht nicht überleben!« Wie der Jochen die Fäuste ballte, grub er sich die Finger nägel ins Fleisch. Der Gewehrlauf war jetzt gerade auf sein Gesicht gerichtet. Eine heftige Bewegung, und der Feltinger hätte in Notwehr abgedrückt. Im jungen Bauern zitterte eine kaum mehr erträgliche Aufregung. Die Adern traten ihm an den Schläfen heraus, und der Schweiß rann ihm übers Gesicht. Plötzlich warf sich die Lena zwischen die beiden Männer. Wie in einem Alp traum konnte sie nur krächzen: »Auseinander!« Dann würgte sie in Todesangst heraus: »Feltinger, wenn du den Jochen umbringst, mußt du mich auch niederschießen, denn ich tät bis zum letzten Schnaufer schreien: Der Fel tinger ist der Mörder!« Der Jäger machte noch einen Schritt zurück und sagte: »Ich hab die Drohungen gegen mich nicht gehört, Kain. Darum lass’ ich dich laufen. Aber komm mir nie wieder
ins Revier! Du hast die Steffi schon einmal ins Unglück gebracht. Red kein Wort mehr mit ihr, es könnt dein letz tes sein!« Ein schneller Sprung, und er war im Unterholz verschwunden. Grad so, als ob er überhaupt nie dagewe sen wäre. Nur der Lutzl lag auf dem Boden, und ein dün ner Blutfaden sickerte ihm zwischen den Lefzen hervor. Langsam erwachte der Jochen aus seiner Erstarrung. Es kostete ihn eine arge Mühe, daß er sich hinunterbückte. Der Hund lag schwer in seinen Armen, aber er trug ihn vor sich her. Ein unbeholfenes Lächeln auf den Lippen, das Gesicht von Tränen ganz naß, entschuldigte er sich: »Er ist halt das Letzte gewesen, was mir von früher ge blieben ist.« Der Bürgermeister Karl Puchinger sah das anders. »Nimm doch Vernunft an!« beschwor er den Jochen. »Schon für dein Reden müßt man dich in den Kotter sperren. Wenn du dem Jäger Mord und Totschlag an drohst, machst du dich unglücklich!« Der Jochen stöhnte nur noch: »Hättest ihn sehen müssen, Bürgermeister! Aus lauter Bosheit und Gemeinheit hat er mir meinen armen Lutzl niedergeschossen!« »Oha!« Langsam verlor sogar der Karl Puchinger die Ge duld. Jedem Roß redete er gut zu, bevor er zur Peitsche griff, aber manche Menschen waren halt unbelehrbar. »Alsdann, ich muß mit dir ein ernstes Wort reden. Auch wenn’s dir nicht paßt: Der Ulrich ist im Recht gewesen. Im Wald frei laufende Hunde darf der Jäger sofort nie derschießen. Hast du schon einmal gesehen, wie ein Reh kitz ausschaut, das ein wildernder ...«
Fassungslos schrie der Jochen auf: »Du weißt doch, wie alt und gichtig der Lutzl gewesen ist. Der hat kaum noch gehen können! Siehst du es nicht, oder willst du’s nicht sehen? Der Feltinger hat es mir kalt ins Gesicht gesagt: Das ist der Denkzettel dafür gewesen, weil ich mit der Steffi noch ein Wort geredet hab!« »Will ich gar nicht wissen!« wehrte der Puchinger gleich ab und ging schon zur Tür. Damit zeigte er dem Jochen an, daß für ihn die Geschichte abgeschlossen sei, aber noch einmal wandte er sich um und sagte grad väterlich wohlwollend, voll Verständnis von Mann zu Mann: »Gelt, wenn du schon mit der Steinegger Lena gehst, nachher laß dich wenigstens nicht erwischen, wie du mit der Feltinger Steffi bei der Nacht auf der Wiese ... Ich sag dir: Das weiß halt jeder im Dorf.« »Puchinger, in allen Ehren!« Der Bürgermeister blieb uneinsichtig. »Schluß! Geh auf den Hof hinüber, der Fritz wartet. Du bist zum Arbeiten Knecht auf seinem Hof.« Dazu konnte der Jochen nur nicken. Alle Bitterkeit, die er längst überwunden geglaubt hatte, würgte ihn noch ge nau so wie vor fünf Jahren. Einer wie er würde wohl nie sein Recht kriegen! Damit er schneller drüben bei den Wirtschaftsgebäuden war, ging er gleich durch den Garten hinter dem Amtsge bäude, vorbei am Ausgeding-Häusl des Puchinger-Hofs. Dort sah er die Afra unter dem Apfelbaum sitzen, halb verdeckt von tiefhängenden Ästen. Schon immer war ihm die Bürgermeisterin fremd vorgekommen, wie wenn
sie überhaupt nicht nach Roitern gehört hätte, aber seit seiner Heimkehr wurde er die Überzeugung nicht los, daß sie ihn haßte. Deshalb grüßte er im Vorübergehen recht scheu: »Guten Morgen.« Erst als er schon ein Stück weg war, wandte er sich noch einmal zurück, und da war ihm, als würde in ihren Au gen eine tödliche Feindschaft brennen. Warum nur? »Da bist du endlich!« warf ihm gleich der Fritz vor. »Um diese Jahreszeit zählt jede verlorene Stund zehnfach.« Im Jochen löste sich die ganze Verkrampfung in Wut über seine Wehrlosigkeit. Grad den jungen Bauern und ehemaligen Schulfreund fuhr er an: »Nachher ziehst es mir halt zehnfach vom Lohn ab! Der Puchinger-Hof soll nicht akkurat meinetwegen abhausen!« Schon konnte der Fritz wieder lachen. »Spinn dich aus, Jochen! Schau dir lieber die Zugmaschin an. Der Bertl hat vorhin wegfahren wollen, aber das Luder springt ihm nicht an.« Der Jochen streichelte den Motor, glühte vor und startete im richtigen Augenblick. Mit einem guten, dunklen Brummen sprang er an. Weil der Fritz längst schon wie der Versöhnung mit ihm suchte, lobte er ihn: »Hast halt eine gute Hand.« Der Jochen zwang sich zu einem Lächeln, aber es klang doch nur bitter und gar nicht spaßig, als er sagte: »Viel leicht braucht so ein Motor akkurat gute, starke Mörderhänd.« »Leut, ich kann auch bald nimmer«, sagte der Jochen, wenn ihn die Bauern meistens bei der Nacht holten.
»Tagsüber brauch’ ich die Maschinen! Grad jetzt müßt man das Schwungrad auswechseln, denn sonst haut es mir morgen das Lager zusammen«, beschwor ihn der Gerstlhammer Sepp. »Ich tät ja die Ochsen mehr dran nehmen, aber gestern ist mir einer bei der Hitz niederge brochen. Da hat das ganze Zuhauen nichts mehr ge nutzt.« Diese Vorstellung war dem Jochen so grauslich, daß er zur Lena sagte: »Sperrst hinter mir das Haustor gut zu. Hofhund haben wir ja keinen mehr.« Die alte Steineggerin fror sogar in den warmen August nächten. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ka chelherd und keifte von dort her: » Gehst halt, Kain ! Aber falls dein Hof einmal bei der Nacht brennt: Aus welcher Dirndlkammer sollen wir dich holen?« Der Gerstlhammer lachte pflichtschuldig über den G’spaß, nur der Jochen fürchtete, daß die Mahm das im Ernst meinte. Richtig bösartig war sie wieder gegen ihn geworden, aber er nahm sich keine Zeit mehr zum Zu rückschlagen. In dieser Nacht sollte er wirklich nicht mehr heimkom men. Vom Gerstlhammer holte ihn gleich der Thomann Franz. Dem war infolge von Überladen eine Wagenachse gebro chen. Nachher schlich sich die Riesl-Wittib zum Kain in den Schuppen vom Thomann. Sie war noch allerweil ein recht sauberes Weib, ein stattliches. Ganz nahe mußte sie sich zum Jochen hinneigen, damit sie ihm zuflüstern konnte: »Bist lieb und kommst mit mir? Zu meiner Kuh.
Das arme Vieh brüllt vor Schmerzen, aber ich bring aus ihrem harten Euter keinen Tropfen Milch heraus.« »Gehst besser zum Tierarzt«, rief er ihr zu und schob sie ein Stückl von sich weg. Gleich jammerte die Witwe los : »Daß du so redest! Wie wenn du nicht auch ein armer Hund wärst, der mit je dem Zerquetschten sparen muß ! Meinst, zu mir käm der Viehdoktor mitten in der Nacht von Siebenstein herauf? Und das für ein ›Vergelts Gott‹?« »Ich bin aber kein Tierarzt!« wehrte sich der Jochen ver zweifelt. »Außerdem hab ich auch nur zwei Händ und kann mit einem Hintern nicht zugleich auf sieben Kirtag sein!« Konnte die Riesl jammern! Wenn sie an ihre arme Kuh dachte, rannen ihr Tränen über die Wangen. Der Jochen schüttelte zwar den Kopf, gab aber wieder einmal nach. »Meine Eltern haben eine Menge vom Vieh verstanden. « »Bist halt ein guter Mensch, Kain. Ein Heiliger, tät ich sa gen!« Vor lauter Dankbarkeit drückte sie seine Hand, und ihre Augen leuchteten. Deshalb kam der Jochen Kain in dieser Nacht wirklich nicht mehr auf seinen Hof heim. Mit einem alten Hausmittel linderte er vorerst die Schmerzen der Kuh. Er konnte mit ruhigem Gewissen der Wittib die Hoffnung machen: »In ein oder zwei Tagen ist sie wieder ganz in Ordnung. Bis dahin allerweil nur mit Liebe und Geduld!« Das gelobte die Riesl. Zuletzt fragte sie recht lieb, wie sie ihn für sein Gutsein belohnen könnte. »Aber du weißt: Geld hab ich nicht viel.«
Er brachte die Augen vor Müdigkeit kaum mehr auf und konnte bloß noch murmeln: »Geh weiter! Aber wenn du wieder einmal Hilf brauchst, nachher nicht grad mitten in der Nacht!« Sie nahm den Jochen an der Hand. »Komm mit, denn ganz umsonst sollst du’s auch nicht gemacht haben. « Ihm wurde ängstlich zumute, denn die Dorfweiber ratschten genug darüber, daß die Witwe manche Schul den mit Busseln und auch ein bißl mehr beglich. Tatsäch lich führte sie ihn zu einer Kammertür, und als sie die aufmachte, sah er, daß drinnen aufgebettet war. Sie lach te: »Gelt, meine Bettstatt.« Der Jochen war fest entschlossen, sich durch einen schnellen Sprung vor der Sünde zu retten. Aber schon ging die Riesl zum Bett, griff unter den Strohsack und holte etwas hervor: ihren Sparstrumpf. Daraus schüttete sie lauter Zehnerl, aber ein paar Markstücke waren auch dabei. Sie fragte: »So viel, Kain?« Da war es wieder einmal! Er schämte sich ehrlich, daß er der Schlechtmacherei durch die Schandmäuler geglaubt hatte. Grad er hätte es wissen müssen, wie leicht das böse Reden einen Menschen in Verruf und Elend bringt! In seiner Verlegenheit flachste er: »Hast ’leicht in der Kirch den Klingelbeutel ausgeräumt?« Ganz ernsthaft versicherte sie ihm: »Ehrliches Geld, Kain. Zehnerlweis erspart!« Er drückte ihre Hand so zur Seite, daß die Münzen wie der in den Sparstrumpf zurückfielen. »Spar weiter, RieslWittib. Vielleicht kannst du dir eines Tages noch eine
Kuh kaufen. Ich hau mich jetzt bei dir im Stall ins Heu. Ein Stündl, nachher ist es schon wieder Zeit für die Ar beit auf dem Puchinger-Hof. « Das Schönwetter hielt durch, und alle Bauern von Roi tern brachten ihre Ernte gut ein. Von den Almen fuhren sie die reifen Käselaibe ins Tal, und diesmal waren es zwei Geländeautos, die der Kain Jochen richten mußte. Mit dem Almabtrieb wartete man noch ab, denn der Herbst versprach warm und sonnig zu bleiben. Nach dem Mittagessen teilte der Puchinger Fritz seine Leute neu zur Arbeit ein: »Gelt, Jochen, du gehst mit auf den Gemeinde-Anger.« »Ja, Bauer«, sagte der. Noch allerweil war diese Anrede aus dem Mund vom Kain dem Fritz ein bißl unange nehm. Er fand nichts dabei, auch einen Knecht zum Freund zu nehmen, aber es war ihm ungut, daß sein bes ter Freund sein Knecht sein mußte. Zu diesem Trupp aus vier Leuten stellte sich die Susanne, die Schwester vom jungen Bauern, als fünfte. Zufällig saß sie dann auf dem Leiterwagen, mit dem sie hinausfuhren, neben dem Jochen. Weil der sie überrascht anschaute, sagte sie, als müßte sie sich entschuldigen: »Ich hab noch Ferien und fahr erst am letzten Tag in die Stadt zurück. Bei so viel Arbeit auf dem Hof fällt dem Fritz wieder ein, daß ich eigentlich eine Bauerntochter bin. « Der Jochen nickte. Weil er aus dem traurig wirkenden Blick der Susanne Unsicherheit ablas, versprach er ihr: »Keine Angst! Wenn du nicht mitkommst, so helf ich dir. Mußt dich nur allerweil in meiner Nähe halten.«
»Dank dir, Jochen. « Die Nannerl drückte gleich der Großmagd den Ellbogen in die Seite und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Aber die Rosa zischelte: »Mußt gar nicht so dreinschau en. Ich hab dich unlängst mit unserem Bauern im Obst garten gesehen. Bei der Nacht!« »Was du nicht sagst«, lachte die Nannerl unbesorgt. »Nachher stell dich gut mit mir, denn vielleicht brauchst du einmal eine Fürsprach beim Bauern!« Wie erwartet, kam die Susanne bei der Arbeit mit den Mägden nicht mit. Deshalb packte der Jochen auch noch einen Teil von ihrer und richtete es so ein, daß es nie mand merkte. Nur die Nannerl warf schon wieder der Großmagd vielsagende Blicke zu. Gegen Abend, als sich die Sonne schon auf die Zinken des Siebenstein-Kamms niederließ, kam der Puchinger Fritz mit dem leichten Pferdewagen aufs Feld. »Da schau ich ja!« rief er zufrieden. »Ihr fünf habt mehr geschafft als sonst zehn Leut. Der Sepp, die Rosa und die Nannerl kommen schon mit mir heim. Feierabend. Gelt, Jochen, du fährst mit dem Traktor den Leiterwagen ein. Aber langsam, bitt ich mir aus, damit nichts geschieht. Susann, du fährst mit dem Jochen und hilfst ihm beim Abladen.« »Ja, Bauer!« schrie sie spaßhalber zurück. Hinter der Gaudi verbarg sie eine echte Freude, die sie nicht einmal sich selbst eingestehen wollte. Als guter Fahrer lenkte der Kain den Traktor rückwärts bis knapp an die Deichsel des Leiterwagens. Die Leute
stemmten sich in die Radspeichen, und schon schnappte der Zughaken ein. Der Jochen sagte: »Hock dich zu mir auf den zweiten Sitz, Susann.« »Aber gut festhalten!« schrie ihnen die Nannerl übertrie ben besorgt nach, so daß alle lachten. Die roten Wangen der Susanne kamen aber nicht nur von solchen Ratschlägen. Eher von der anstrengenden Arbeit oder von der Freude, daß sie mit dem Jochen auf dem Traktor heimfahren durfte. »Auf geht’s, Susann!« Der Kain fuhr wie ein Schwärzer. »Geschieht schon nichts.« Sie mußte ihre Hände auf seine Schultern legen. Wenn er manchmal gar zu wild in Querrillen fuhr, warf es sie ge gen ihn, aber gleich setzte sie sich wieder kerzengerade auf. Als sie zum Puchinger-Hof kamen, sah die Susanne ihre Mutter im Rollstuhl vor dem Wohnhaus. »Bleib noch sitzen«, sagte der Jochen, machte das Scheu nentor auf und fuhr den Leiterwagen hinein. »Steigst du aufs Stroh, Susann?« Er stieß seine Gabel in den ersten Strohballen und stemmte ihn zur Susanne hinauf, die ihm die Last ab nahm. Das war keine leichte Arbeit. Er schaute fragend zu ihr hinauf. Für eine angehende Lehrerin besaß sie recht viel Kraft, fand er. Schade, daß so eine Bauerntoch ter einmal in einer Schulklasse verwelken würde. Eine wie sie gehörte auf einen Hof! Wie sie sich breitbeinig hinstellte und abstemmte, sah man erst, welch kräftige Beine sie hatte. Schon als blutjunges Dirndl war sie mit ihrem Vater an so manchem Sonntag in die Berge gegan
gen. Lächelnd erinnerte sie ihn: »Jochen, wir sind zum Arbeiten da!« Er hatte ganz vergessen, ihr den nächsten Strohballen hinaufzureichen. Deshalb schreckte er zusammen und flachste: »Jawohl, Fräulein Lehrerin!« Sie trieb es in ihrem Glück ein bißl zu arg. Als sie gleich zwei Ballen auf einmal wegzerren wollte, glitt sie von ei ner Hanfschnur ab, griff ins Leere und taumelte rück wärts. Der warnende Schrei des Jochen kam zu spät. Ver geblich riß sie die Arme in die Höhe. Sie stieß einen gel lenden Schrei aus und stürzte! Ihr Glück, daß dort noch der große Leiterwagen mit dem restlichen Stroh stand. Deshalb fiel sie zwar weder sehr tief noch hart, aber sie war arg erschrocken. Und weh getan hatte sie sich, weil sie mit dem Rücken auf ein Stück Holz geprallt war. »Hast du dich verletzt?« stammelte er und neigte sich über sie. Die Susanne verzog vor Schmerz ihr Gesicht und bekam nicht gleich genug Luft. Mühselig brachte sie heraus: »Es tut höllisch weh. Weil ich auch ... Jochen, kannst du das Holz unter meinem Rücken vorziehen?« Dazu kniete er neben sie auf dem Wagen im Stroh nieder, und sie legte die Arme um seinen Nacken. Eben wollte er sie vorsichtig in die Höhe stemmen, da gellte ein röcheln der Schrei auf, gar nicht menschlich, eher wie von einem gefolterten Tier. Der Jochen konnte die Susanne nicht wieder fallen lassen, und sie klammerte sich an ihm fest. Im hellen Geviert des Schuppentors stand der Schatten eines Rollstuhls. Röchelnd rang die gelähmte Afra Pu
chinger nach Atem. Sie reckte die zittrigen Hände gegen den Jochen. Inzwischen hatte sich die Susanne aus seinen Armen gelöst und war vom Wagen gesprungen. Mit ein paar schnellen Schritten lief sie zur Mutter und sank ne ben der Gelähmten auf die Knie nieder. Beruhigend, fast schon beschwörend, rief sie: »Keine Angst, Mutter, mir ist nichts geschehen. Ich hab mich halt erstolpert und bin vom Oberboden heruntergefallen. Zum Glück aufs Stroh vom Wagen.« Die Puchinger Afra plagte sich unsäglich, bis es ihr ge lang, den rechten Arm um ihr Dirndl zu legen. Den lin ken riß sie verkrampft in die Höhe und zeigte auf den Jo chen. Dabei würgte sie unverständliche Laute heraus. Es klang so schaurig, daß ihm die reiche Bürgermeisterin bis in die Seele leid tat. Weil er wußte, daß die Gelähmte zwar nicht reden, aber jedes Wort verstehen konnte, sprang er vom Wagen und kam auch zum Rollstuhl. »Mutter!« Die Susanne erschrak, weil sie erst jetzt erriet, was die Mutter meinte. »Du verstehst das falsch. Der Jo chen hat mir geholfen, sonst nichts!« Vor Anstrengung stöhnend, legte die Gelähmte auch den zweiten Arm um ihre Tochter. Aus ihren Augen schrie es dem Jochen entgegen: »Verschwind aus Roitern!« Von dem Tag an kam der Kain-Bauer nicht mehr zur Ruhe. Schnell und immer schneller wirbelte das Wild wasser durch den Teufelsgraben, unter der Holzbrücke durch, wo die Kreuzottern lauerten. Beim Friedhofs-Wirt döste der Prenner Hias mit offenen Augen vor sich hin
und flüsterte seinem Glas zu: »Gesundheit! Bald werd ich einen vor seiner Zeit in die Grube legen müssen. So ’was spürt ein richtiger Totengräber!« Der Jochen merkte nichts von den Wirbeln, Schlangen und anderen Gefah ren. Als einziger in Roitern war er fast ahnungslos. Die Dorfleute flüsterten längst wieder scheu über ihn. Nicht einmal die Susanne Puchinger getraute sich mehr, vor an deren mit ihm ein freundlicheres Wort zu reden. Als er ihr am Abend nach dem Unfall zufällig beim Stall begegnete, wünschte er ihr eine gute Nacht. Sie dankte ihm kaum, ging nahe an ihm vorbei und flüsterte: »Vor sicht auf dem Heimweg. Vielleicht will dir jemand ans Leben.« »Was du nicht weißt«, gab er lachend zurück, aber so ganz gut war ihm dabei auch nicht. »Wer könnt mir so feind sein?« Sie schaute sich um. Als sie niemanden sehen konnte, der sie beobachtet oder belauscht hätte, sagte sie: »Eine er zählt hinter der vorgehaltenen Hand im Dorf herum, wie du’s mit der Steffi Feltinger ...« Vor Wut und Aufregung verschlug es ihm den Atem. Er dachte daran, wie der Lutzl gestorben war. »Der Jäger weiß ohnehin alles.« Hastig flüsterte sie noch: »Vertrau nicht zuviel der Stei negger ... « Deshalb also! Er fuhr die Puchinger-Tochter zornig an: »Laß mir die Lena in Frieden! Da nützt dir kein Hetzen! Die hab ich lieb, auch wenn es mancher nicht paßt!« Der Susanne blieb keine andere Wahl, sie mußte weiter
reden. Nach einem angstvollen Blick in die Runde: »Nicht die Lena, ihre Großmutter!« »Spinnst!« schrie er ihr empört nach. Sie lief schon hinauf zum Wohnhaus. Dabei hielt sie sich unnatürlich aufrecht. Auch der Jochen ging über den Hof, wie wenn ihn je mand mit dem Prügel über den Kopf geschlagen hätte. Oder mit einem Stein. Vor fünf Jahren waren die Leute im Dorf seine Todfeinde. Jetzt sogar schon die im eigenen Haus? An diesem Abend hatte er auf dem Puchinger-Hof nicht mehr viel Arbeit. Als er ein paar Mägden begegnete, schauten sie recht verlegen drein. Er wusch sich nur die Hände. Ein ungutes Gefühl warnte ihn, daß er von hier möglichst schnell verschwinden sollte. Zwischen den bei den großen Stadln begegnete er noch dem jungen Bauern und sagte: »Gute Nacht.« »Gute Nacht«, antwortete der Fritz und ging schon wei ter. Dann rief er ihn doch zurück. »Ja, Bauer?« Der Fritz zögerte. Leise sagte er: »Für gewöhnlich küm mere ich mich grundsätzlich um keinen Tratsch. Geht mich auch nichts an, was du machst. Aber ich muß dich doch warnen: Sei vorsichtig!« »Ich wüßt nicht, warum«, gab der Jochen zurück und är gerte sich, weil seine Stimme vor Aufregung so kurzat mig klang. Daraufhin lächelte der junge Bauer ein bißl geringschät zig. Beinahe hätte er nichts mehr gesagt, aber das brachte er doch nicht zuwege. Er murmelte nur vor sich hin: »Ob
du’s wirklich nicht weißt oder dich nur so stellst: Man cher Ahnungslose ist schon vom Blitz erschlagen worden. « Eigentlich hätte der Jochen seinem alten Schulfreund für die Warnung danken sollen, doch er brachte kein herzli ches Wort mehr über die Lippen. In ihm war zuviel Bit terkeit, als daß er noch hätte lächeln können. Darum frag te er grad feindselig: »Meinst du vielleicht wie die AltBäuerin, ich sollt von Roitern verschwinden?« Mit einer herrischen Geste brachte ihn der Fritz zum Schweigen. »Laß meine Mutter in Frieden! Die ist auch ein Opfer von damals, denn ihr Leiden hat um diese Zeit angefangen. Seither ist sie nicht mehr ganz richtig im Kopf. « Dabei wußte er genauso wie der Jochen, daß dies nicht der Wahrheit entsprach. Gelähmt war die Afra Puchinger und reden konnte sie nicht mehr, doch ihren Verstand be saß sie noch. Was sie sagte, meinte sie auch! Weil aber der Jochen über all das nicht mehr nachdenken oder reden mochte, fragte er ablehnend: »Willst noch ’was von mir?« Der sagte so schnell, wie wenn er längst jedes Wort über dacht gehabt hätte: »Wir sind allerweil Freunde gewesen, darum warn ich dich : Wenn du weiter in Roitern bleiben willst, nachher laß die Finger von den verheirateten Frau en weg. Und vertrau keinem Menschen. Hörst mich, nie mandem!« Das langte dem Jochen. Er machte einen Schritt vom Fritz weg und sagte eisig: »Dank dir, wenn du’s gut gemeint hast. Aber Andeutungen hör ich mir keine mehr an. Ein offenes Wort oder keines ! Nur eines mußt du wissen: Ich
bin aus diesem Dorf! Von meinem Hof wird mich nie mand mehr verjagen! Auch nicht, wenn mich die Leut noch einmal steinigen, spießen oder aufhängen wollen!« Darauf hatte der Puchinger Fritz nichts mehr zu sagen. Er nickte und gab dem Kain den Weg frei. Als der Jochen an diesem Abend heimkam, drückte es ihn besonders arg nieder. Die Worte der Susanne und des Fritz klangen noch in seinen Ohren. Verbittert sagte er vor sich hin: »Was gehen mich die Leut an? Ich hab mei ne Familie: die Lena und ...« Die Großmutter getraute er sich schon nicht mehr mitzu zählen. Und von der Lena war nichts zu sehen. Sonst kam sie ihm allerweil mit einem freundlichen Lächeln entgegen, so daß er wußte, jetzt war er heimgekommen. »Lena?« Keine Antwort. Die Stalltür stand einen Spalt breit offen. Der gute Geruch nach Tieren kam ihm entge gen, aber das Vieh war noch im Freien. Im Wohnhaus waren alle Türen zugemacht, doch keine versperrt. Auch in der Küche fand er weder die Lena noch die Mahm. Sehr unwahrscheinlich, daß beide noch auf dem Feld gewesen wären und das Haus offen gelas sen hätten! Langsam stiegen ihm Kälte und Angst auf. Dann hörte er aus der Stube leises Weinen. Aber nicht die Stimme der Lena und schon gar nicht die brummige der Großmutter. Beinahe hätte der Jochen an die Tür ge klopft, wie wenn er auf dem Kain-Hof wieder ein Frem der gewesen wäre. Die Steffi saß mitten in der Stube auf einem Stuhl, wie die Angeklagte bei einem Verhör. Vor ihr stützte sich breit
die Steineggerin auf den Tisch, und die Lena stand mit dem Rücken zum Fenster. Sie schaute ganz verschreckt auf den Jochen, was er zu all dem sagen werde. Als er in die Stube trat, stand die Steffi auf wie ein braves Schul mädel vor dem Lehrer. Ihr Gesicht war naß vom Weinen, und ihre Lippen zitterten. »Was gibt’s da?« fragte der Jochen grußlos und schaute von einer zur anderen. Die Steffi konnte nicht antworten, sondern hob bittend die Hände. Er sollte ihr halt verzei hen, was sie ihm antat. Aus den Augen der Steinegger-Mahm blitzte Kraft. Sie meinte, endlich sei ihre Stunde gekommen. Abrechnen mit dem Kain und nachher mit der Lena wieder hinauf zu dem zerschlagenen Berghaus, auch wenn sie es mit bloßen Händen neu aufbauen und dafür ihren Rücken ganz krumm arbeiten müßte. Sie trumpfte grad auf: »Vor zehn Minuten ist die Steffi hergekommen. Ausgerechnet das Weib vom Feltinger auf den Kain-Hof !« Weil der Jochen sie auch mehr verzweifelt als hilfsbereit anschaute, fragte die Steffi flüsternd: »Soll ich gleich wie der gehen?« Noch immer stand der Kain-Bauer regungslos da. Was hätte er auch vor der Lena und der Alten sagen oder tun sollen ? In seiner Ratlosigkeit fühlte er nur, daß auf ihn die nächste Gefahr zukam. Um ihr zu entgehen, machte er unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Mit dem Mut aus völliger Verzweiflung flehte die Steffi plötzlich: »Hilf mir, Jochen! Du bist der einzige Mensch, der mir vielleicht noch helfen könnt. Sonst...«
»Was, sonst?« drängte sie die Mahm mitleidlos. Und zum Jochen sagte sie: »Erst hat sie vor mir überhaupt nicht re den wollen. Deswegen hab ich sie ein bißl schärfer an pfnurren müssen. Gelt, lieber Jochen, wirst verzeihen, wenn ich mich in deine Weibergeschichten eingemischt hab. Aber das alles geht uns sehr viel an. Die Lena ist meine Enkelin, und die bleibt keine Nacht länger unter einem Dach mit dir! Lump, elendiglicher!« »Großmutter!« weinte das Dirndl auf. Gleich keifte die Steineggerin: »Willst ihn vielleicht gar noch in Schutz nehmen? Weißt, Jochen, eine Weil hast du sogar mich mit deinem treuherzigen G’schau täuschen können. Aber jetzt hat mir die Steffi alles gestanden!« »Was, zum Teufel!« brüllte der Jochen auf, weil er das armselige Jammern, das stille Weinen und das boshafte Sticheln nicht länger ertrug. Grad genießerisch ließ die alte Mahm jedes Wort auf der Zunge zergehen: »Daß sie schwanger ist. Von dir, Kain!« Die Steffi brachte vor lauter Weinen überhaupt kein Wort heraus, und der Jochen verstand die Welt nicht mehr. Mit einer zittrigen, leisen Stimme fragte er: »Steffi, warum sagst du so einen hundsgemeinen Schmarren? Was hab ich dir ’tan?« Bevor die noch den Mund aufbrachte, schrie die Stein-eg gerin: »Ich hab’s die ganze Zeit über gespürt! Blind und blöd bin ich nicht, und ich hab euch mehr als einmal bei der Nacht zusammen’patzt stehen gesehen! Beim Salbach unten seid ihr gar gelegen!« Jetzt konnte sich der Jochen das giftige und zugleich
glückliche Gestammel der Alten nicht länger anhören. Er verlangte: »Lena, vielleicht machst du einmal den Mund auf. Deine Großmutter spinnt doch!« Die Lena schüttelte den Kopf, und es brauchte eine Wei le, bis sie sagen konnte: »Wahr ist es: Die Steffi kriegt ein Kind.« Gleich schrie die Alte dazwischen: »Morgen weiß es das ganze Dorf! Hinausschreien werd ich es!« »Mir langt’s.« Der Jochen machte einen Schritt auf die Steffi zu, packte sie an den Schultern und beutelte sie, als ob er sie zur Besinnung bringen müßte. Sie ließ mit sich alles ohne Gegenwehr geschehen. Die Steineggerin kreischte: »Wem sagt sie ihr süßes Ge heimnis zuerst? Dem Vater von ihrem Bankert!« Diese Worte trafen die Steffi wie Peitschenhiebe, und der Schmerz gab ihr endlich die Kraft zum Reden. »Jochen, wie ich sicher gewesen bin, hab ich’s dem Ulrich gesagt. Und der hat... « Mit zittrigen Fingern knöpfelte sie die Bluse an ihrer Brust auf. Dunkle, blutunterlaufene Stellen und Würgespuren am Hals. Die Erinnerung riß ihr die Augen vor Entsetzen weit auf. »Er hat mir so weh ’tan. Nicht nur mit dem Hinhauen. Wie er mich genamelt hat! Zuletzt hat er geschrien, daß er genau weiß, wer der Vater von dem Kindl ist. Nicht er!« Die Steffi schloß die Bluse wieder und hielt sie am Hals zusammen. Sie schaute nicht der Lena ins Gesicht, aber sie sagte in ihre Richtung hin: »Muß ich schwören, daß zwischen dem Jochen und mir nichts gewesen ist? Seit damals nicht mehr. Ich hab ihn nur um ein gutes Wörtl
angebettelt, wenn ich nicht mehr weitergewußt hab mit dem Ulrich. Der hat von der ersten Stund an mit dem Jo chen geeifert. Wenn er mich geschlagen hat, bin ich ruhig geblieben. Ich hab sogar gemerkt, daß es ihm genau so weh ’tan hat wie mir. Aber wie er gegen den Jochen ge droht hat, hab ich das jemandem sagen müssen. Wie hätt ich sonst die Angst ausgehalten, daß er ihm etwas antun könnt?« Weil die Steinegger-Mahm regungslos und kalt blieb wie der Fels vom Siebenstein-Kamm, streckte die Steffi beide Schwurfinger in die Höhe. Plötzlich begriff die Lena das ganze Elend. Schnell machte sie einen Schritt auf die Stef fi zu und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie sagte: »Gelt, ich glaub dir.« Damit erlöste sie auch den Jochen aus seiner Erstarrung, so daß er sagen konnte: »Wir müssen nicht stehen blei ben. Hocken wir uns und reden wir über alles in voller Ruhe. Wirst sehen, Steffi, auch dein Elend findet ein End. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, und der Feltinger wird einsehen, daß er dir unrecht ’tan hat.« Die Lena führte die Steffi zur Bank, wo die sich gehorsam setzte. Vor fünf Jahren hatte ihr das Schicksal den Willen gebrochen, jetzt zerbrach sie der Ulrich ganz. Leise beteu erte sie immer wieder, daß er früher zu ihr gut gewesen sei. Bis zum Heimkommen vom Jochen. Zuletzt sagte sie: »Wie ich gemerkt hab, daß ich ein Kindl kriegen werd, bin ich fast narrisch ’worden vor Glück. Weil ich hab si cher sein wollen, bin ich zum Doktor Mader ’gangen. Da muß eine das Gras wachsen gehört haben. Der Ulrich hat
daheim schon auf mich gewartet, mich gepackt und an brüllt: Kriegst also ein Kind! Und geschlagen hat er mich. Allerweil wieder. Die Schand ! Mir bleibt nur das Wasser!« Die Steffi schlug die Hände vors Gesicht. In die Stille knurrte die Stimme von der Steineggerin: »Da, trink, damit du vernünftiger wirst! Ein Stamperl echten Wacholderschnaps schiebt man nicht weg!« Die Steffi rührte sich nicht. Erst nach einer Weile stöhnte sie auf: »Die ganze gestrige Nacht über hab ich geredet und geredet. Er hat mir gar nicht zugehört und allerweil nur gedroht, daß er die Wahrheit aus mir herausprügeln werde. Aus mir und aus dem Jochen. In der Früh ist er in den Wald gerannt. Den ganzen Tag hab ich vergeblich auf ihn gewartet. Vor einer Stund hab ich plötzlich eine so schreckliche Angst ’kriegt, er könnt dem Jochen ’was tun. Nur darum hab ich mich daher ’traut.« »Ist schon richtig gewesen, armes Hascherl«, sagte die Lena recht lieb zu ihr. Als sie den Jochen anschaute, zuck te er nur mit den Schultern. Was konnte er tun? Jedes Wort von ihm hätte der Steffi bei ihrem Mann nur noch mehr geschadet. Er wußte wirklich nicht mehr ein noch aus. Bestimmt wäre es für manche Leute in Roitern bes ser gewesen, der Totengräber Hias hätte ihn im Teufels graben erfrieren lassen! Die Lena überlegte klarer und riet der Steffi: »Bleibst halt noch da, bis du dich beruhigt hast. Nachher gehst aber schnell heim, damit dich dein Mann nicht sucht und am End auf dem Kain-Hof findet. Es darf nicht noch schlech
ter werden zwischen euch, denn sonst könnt’s wirklich Mord und Totschlag geben.« Die Steffi nickte. Sie glaubte für ihr Leben an kein Wun der mehr, aber die lieben Worte hatten sie doch ruhiger gemacht. Wie eine, die sich mit dem Sterben abgefunden hatte. Plötzlich mußte der Jochen aus der Stube gehen, weil er das Elend nicht mehr mit anschauen konnte. Wie aller weil, wenn er nahe am Davonrennen war, verkroch er sich in den Stall. Eine ganze Weile lehnte er dort, die Stirn gegen die Wand gepreßt. Dann zwang er sich, etwas zu arbeiten, weil er hoffte, dabei würde er wieder Ruhe und Kraft finden. Er holte das Vieh herein und versorgte es. Der Pferch von den Schafen war gut verschlossen. Quiekend rannten die Schweindl zum Trog, aber der war leer. Das Kochen vom Sautrank wäre die Aufgabe von der Lena gewesen. »Jessas!« Der Jochen prallte zurück, weil er bei dem schwachen Licht die Gestalt erst im letzten Augenblick gesehen hatte. Regungslos stand die Mahm da, als hätte sie ihn gar nicht gehört. Man sah ihr an, wie sie am Ende war. In ihren Augen stand soviel Verzweiflung, daß der Jochen gleich wieder vergaß, was sie ihm schon angetan hatte. Er rede te sie an: »Geh, Mahm, alles wird in Ordnung kommen. Die Steffi muß einem halt leid tun. Nur darum hab ich nicht kalt an ihr vorbeigehen können. Mit dem Ulrich muß sie schon selbst ins reine kommen. Sie hat ihn gehei ratet und ihm vor dem Altar versprochen, daß sie mit
ihm leben wird.« »Und wenn sie sterben wird?« lispelte die Alte mit ihren dürren Lippen. »Nachher hab’ ich sie umgebracht. Jo chen, ich muß es dir beichten, weil es mir sonst das Herz abdrückt: Ich bin’s gewesen, die den Leuten viel Schlech tes über die Steffi und dich zugeflüstert hat. Ich !« Das gab dem Jochen doch einen argen Beutler. »Du, Steineg gerin? Jetzt siehst, was du angestellt hast! Warum nur?« Eine Stunde später schlich die Steffi durch den Garten vom Kain-Hof weg. Sie schlug einen weiten Bogen ums Dorf und meinte, sie habe ungesehen das Jäger-Häusl er reicht. »Es wird noch alles gut ausgehen«, sagte der Jochen. Bis spät in die Nacht saß er mit der Lena in der Stube. Zag haft kam ihre Hand über den Tisch herüber zu seiner. Zuletzt gestand sie ihm: »Um die Großmutter mach ich mir Sorgen. Mit ihren Herzschmerzen hat sie sich hinle gen müssen.« Ihre Schuld! dachte der Jochen. Dann fiel ihm sein Schicksal ein und das von der Steffi, die jetzt voller Ver zweiflung ein Kind unter dem Herzen trug. Was zählte da noch die Frage nach der Schuld? Diese Erkenntnis ließ ihn sagen: »Was weiß man, wie’s im Leben kommt. Wahr scheinlich sind die Menschen gar nicht so bös, wie man zuerst meinen muß. Jeder hat für sich ’was Gutes, aber die meisten passen so schlecht zusammen. Davon kommt das ganze Elend auf dieser Welt. « Die Lena nickte, zögerte und schlüpfte doch zum Jochen auf die Eckbank. Als er den Arm um sie legte, kam lang
sam Ruhe und Frieden über die beiden, die das Schicksal auch schon recht durchgeschüttelt hatte. Der Jochen woll te gar nicht besonders gut sein, aber er riet ihr nach einer Weile: »Schau lieber doch zur Großmutter. Bei so einem alten Weib weiß man nie, was geschehen könnt, und mir langt schon das Unheil!« Die Lena nickte. Sie wußte noch nichts von der heimlichen Schuld der Anna Steinegger, aber sie sagte leise vor sich hin, was sie aus diesem Tag voller Aufregungen gelernt hatte: »Jeder hat eben ein paar Menschen gern, für die er sich sogar vierteilen ließe. Der Großmutter hab allerweil ich alles gegolten. Jeden hat sie angebissen, ’bald er mich nur schief angeschaut hat. Sogar die eigene Familie. Neben dem kleinen Hof unterhalb vom Siebenstein-Kamm, bin ich ihr einziges Glück gewesen. Wie ihr das Eis das Haus und unsere Leut weggerissen hat, bin nur ich ihr noch zum Gernha ben geblieben.« Eine Weile dachte der Jochen nach, bis er ein bißl schwer fällig sagte: »Ich versteh’ deine Großmutter. Bestimmt wär ich auch dann wieder heim’kommen, wenn ich ge wußt hätt, was mich da erwartet: die Eltern tot, der Hof verloren, die Steffi... « Auch wenn es ihr wieder einen kleinen Stich gegeben hatte, streichelte ihm die Lena übers Gesicht und sagte: »Deine Eltern kann ich dir nicht lebendig machen, aber deinen Hof bauen wir miteinander auf. Und ich will dich so lieb haben ..., so lieb wie niemand zuvor. Doch jetzt schau ich zur Großmutter. « Als der Jochen allein blieb, machte er die Augen zu und
träumte etwas Schönes: Gold von ihrem Haar, Seegrün aus ihren Augen und das Rot von ihren Lippen! Das war noch einmal eine Stunde, in der er an sein Glück glaubte. Am nächsten Morgen scheute sich der Jochen vor dem Zusammentreffen mit der Steinegger-Mahm. Als er in die Küche kam, saß sie schon auf der Ofenbank. »Guten Morgen, Mahm«, sagte er so ruhig, wie er nur konnte. Nach einer schlaflosen Nacht war ihm klar: Nicht nur ihr allein durfte man die Schuld an allem Unglück zuschieben! Weil die Lena gerade aus der Speis den Buttertopf holte, flüsterte die Alte: »Bist mir leicht nicht mehr bös, Jochen? Siehst ein, daß ...« »Nichts seh ich ein!« schnitt er ihr das Wort ab, bevor noch die Lena in die Küche zurückkäme. »Aber ich ver steh, warum du so eine Gemeinheit begangen hast. Wünsch dir nur, daß die Geschicht mit der Steffi und ih rem Mann gut ausgeht. So etwas wie vor fünf Jahren wollt ich nicht noch einmal durchmachen. Dann könntest du dir ein anderes Dach suchen. Grad so, wie wenn euch wieder Eis das Haus weggerissen hätt’!« »Dank dir, vergelt’s Gott«, lispelte die Alte noch. »Ich hab halt gemeint, du spielst mit der Lena falsch und tätest es mit der Steffi treiben. Alles will ich noch in Ordnung bringen, und wenn ich zum Ulrich hingehen ...« »Nix wirst!« Sie verstummten, weil in dem Augenblick die Lena mit dem Butterhafen in die Küche zurückkam. Zuerst richte te sie dem Jochen das Essen. »Wer am schwersten arbei
tet, kriegt auch am meisten!« Die Großmutter versteckte ihre Angst und flachste: »Hörst, Jochen, das schlechte Ding will mich verhungern lassen. Aber ich bin schon auch noch zu etwas gut. Glaub mir!« Er verstand, was sie meinte und fürchtete das Schlimms te. Nachher begleitete ihn die Lena bis zum Hoftor. Wie fast jeden Tag, fiel sein Blick auf die Hundehütte. Daß einem ein räudiger alter Köter gar so arg fehlen konnte! Sie warf schnell einen Blick zurück aufs Küchenfenster und sah hinter dem Vorhang den Schatten der Großmutter. Zum Abschied sagte sie: »Paß gut auf, Jochen! Wenn ich dich verlieren tät, wär mein Leben vorbei.« Schon wollte der Jochen diesmal über die Dorfstraße zum Puchinger-Hof gehen, aber dann sagte ihm eine Ahnung, daß auf dem gewohnten Feldweg eine Verzweifelte war ten könnte. Sie hätte ihm vielleicht auch sagen wollen, daß ohnehin alles in Ordnung gekommen sei mit ihrem Mann und dem Kind. Auf dem Wiesenweg war jedoch niemand. Er schaute sich auch um, ob bei den Weiden am Salbach einer auf der Pirsch läge. Wer im blinden Haß sein Kind verleugnete, wäre auch imstande gewesen, einen Todfeind in den Rücken zu schießen. Oder in den Kopf! Nichts geschah an diesem Morgen, was ihn vor dem na hen Unheil gewarnt hätte. Die Sonne schien vom Himmel auf die Vollreife Frucht und auf die abgeernteten Felder,
auf fleißige Menschen und auf faule Lumpen. Auch auf die kranke Bürgermeisterin und auf die vor Glück jauch zende Nannerl. Auf den Hochwürden Wandl genauso wie auf seine Sünder. Und auf den Mörder des Rupert Feltinger! »Da bist du doch!« rief ihm der Puchinger Fritz schon von weitem entgegen. »Ja, warum?« Der Jochen zog seinen Janker aus und legte sich den blauen Arbeitsschurz um. »Meinetwegen kön nen wir’s gleich packen.« Der Fritz schaute befangen drein. »Ich hab halt läuten ge hört, daß du dich heut überhaupt nicht aus deinem Häusl trauen tätst. « Gleich verkrampfte sich alles im Jochen, aber nach außen hin konnte er recht ruhig fragen: »Und warum?« Zwei Dirndl kicherten. Die Nannerl stellte sich neben den jungen Bauern und machte ihm verliebte Augen. Dem Fritz tat es schon wieder leid, daß ihm überhaupt so ein Schmarren über die Lippen gekommen war. Er wollte nicht mehr so recht mit der Sprache heraus, und nur weil der Jochen nicht nachgab, sagte er, auf sich selbst zornig : »Weißt ohnehin, wiedaskommt. Wieder einmal kriecht der Tratsch durchs Dorf, und keiner will damit angefan gen haben. « Als der Jochen scharf in die Runde schaute, zuckten ein paar Knechte mit den Schultern. Sogar die ärgsten Ratschkathln wurden verlegen. »Ich hab mir nichts vor zuwerfen, und wenn mir trotzdem einer deppert kommt, so werd ich mich wehren. Ich kann ganz kräftig zuhauen.
Immerhin bin ich der Böse, der Mörder Kain!« In seiner Stimme war plötzlich etwas, das die Leute er schreckte. Die Mägde knüpften ein Schürzenbandl zu, richteten das Kopftuch oder zogen den Ausschnitt an der Bluse zurecht. Auch die Knechte zeigten, daß sie mit dem Tratsch nichts zu tun haben wollten und gingen ein paar Schritte weg. Sie schämten sich ehrlich, daß sie vorhin mitgelacht hatten. Da fragte der Jochen nichts mehr weiter, legte sein Ar beitsgerät auf den Leiterwagen und fuhr mit dem Traktor hinaus aufs Feld. Es ging um die letzte Heuernte in die sem Jahr. Am Vormittag arbeiteten sie auf der Wiese gleich hinter dem Puchinger-Hof. Vom Wohnhaus her konnte man genauso hinsehen wie vom Ausgedinghäusl. Auch vom Gemeindeamt. »Auf geht’s!« schrie der Jochen und spielte den Fröhli chen. Nur sich von niemandem in die Seele schauen las sen ! Bevor der Fritz Puchinger an diesem Abend seine Leute zum Feierabend entließ, sagte er: »Meiner Mutter geht es wieder besser. Der Doktor hat gesagt, bei ihr sind’s aller weil nur die Nerven.« Sie nickten wie halt immer, wenn es ums Kranksein oder gar Sterben von einem Menschen ging. Das mit der Puchinger Afra tat allen im Dorf leid. »Gute Nacht, Fritz«, sagte der Jochen, weil er in dieser Stunde mit ihm als Freund fühlte. Der schaute nur auf und sagte: »Gehst heut eh wieder über die Dorfstraße heim! Bei der Dunkelheit ist der Wie senweg besonders längs dem Bach unsicher.«
Das mit der Dunkelheit konnte er nicht wirklich so ge meint haben, denn an diesem Abend stieg der Mond schon über die Waldlisere herauf. In der Au schwebten silbrig die Nebelschleier um die knorrigen Weiden. Der Jochen nahm mit voller Absicht den Weg wie jeden Tag. Wenn ihm vielleicht die Steffi doch etwas sagen wollte, würde sie irgendwo dort unten auf ihn warten. Alle paar Schritte schaute er sich nach ihr um. Nichts und nie mand. Erst als er zwischen den Gärten schon auf die Stra ße herauf ging, lösten sich seine Sorgen. Daß er sich auch gefürchtet hatte, wollte er sich nicht eingestehen. »Wenn sie nicht auf mich gewartet hat, ist das ein gutes Zeichen. Der Narr, der narrische, hat Vernunft angenom men«, lachte er leise vor sich hin. Noch einmal legte sich ein Nebelfetzen auf seine Brust. Kalt wie die Angst, die er plötzlich wieder um das Dirndl kriegte. »Der Fel-tinger wird sie doch nicht gleich erschossen haben! Zutrauen könnt man es ihm! Wie er meinen Lutzl umgebracht hat, der Verbrecher!« Voll Wut trommelte er mit beiden Fäusten gegen sein Hoftor, die zwei Weiberleut hatten es in ihrer Angst vor der Herbstfinsternis versperrt. »So ein Schmarren! Nicht einmal mit einem eichernen Tor kannst den Haß aus dem Haus sperren!« Von innen her fragte die Lena ängstlich. Jetzt endlich fühlte er sich batzweich vor Glück übers Heimkommen. »Mach auf, Lena! Oder fürchtest du dich auch schon vor dem Mörder Kain?«
Das hatte er doch nicht sagen wollen, aber es war halt so aus ihm gekommen. Die Lena schauderte zusammen, ließ sich nur ein schnelles Bussel hinpappen und flüster te: »Kalt und naß, heute. Eine grausliche Nacht.« Im Vorhaus zog der Jochen die Schuhe aus. Die Steineg ger-Mahm saß in der Küche neben dem Herd. In den naßkalten Herbstnächten spürte sie jedes Jahr ihres Le bens besonders arg. Mühselig drehte sie den Kopf zu ihm hin. »Da bist ja. « Das klang ehrlich erleichtert, wie wenn sie sich sehr um ihn gesorgt hätte. Sie sagte aber gleich wei ter: »Ich bin fast gestorben vor Angst um die Lena. Die Narrische ist eine halbe Stunde lang die Straße rauf und runter gerannt, als ob sie dich vor sieben Teufeln schüt zen müßt.« »Vielleicht nur vor einem«, kam es dem Jochen über die Lippen. Die Worte taten ihm ohnehin gleich leid, aber sie waren nun einmal ausgesprochen. Deshalb mußte er noch erklären: »Ich mein den, der damals den Feltinger Rupert umgebracht hat.« Die Lena klagte ganz verzagt vom Herd herüber: »Geh, Jochen, mußt du schon wieder von dem reden, was eh vorbei ist! Oder ist heute ’was geschehen?« »Noch nicht«, sagte er, als er schon aus der Küche ging. Der Jochen spürte ganz deutlich, wie ihm das Unheil im mer näher kroch, aber er konnte nicht einmal mehr da vonrennen. Das Ungute war überall um ihn: wenn er über die Hauptstraße durch Roitern ging, vom GamsWirt bis zum Friedhofs-Wirt, über die Wiesen und durch
den Wald. Um das ehemalige Schneider-Häusl, in dem jetzt die Steffi mit ihrem Mann lebte, schlug er einen wei ten Bogen. Vielleicht hatten die beiden Frieden gefunden, denn seit Tagen hörte man nichts mehr von ihnen. Eine grad panische Angst befiel den Jochen, wenn er am Ausgeding vom Puchinger-Hof vorbeigehen mußte. Die gelähmte Afra hatte er schon eine Weile nicht gesehen. Ihm war es arg genug, wenn er hinter einem Fenster das blasse Gesicht der Susanne entdeckte. Sie meinte halt, sie habe ihn lieb. Für sie war er ein junger Bauer, mit seinem Hof verwachsen, stark und doch nie derb. So einem hätte sie alles geben mögen, ihre Liebe, die Treue und ihre gan ze Mitgift! Aber es wollte sie keiner. Noch eine Weile, und man würde sie ganz aus ihrer Erde herausreißen. Sie war und blieb doch eine Bauerntochter, die weder als Gemeindeschreiberin noch als Lehrerin glücklich werden könnte! Sogar auf dem Kain-Hof wurde der Jochen seine Angst nicht ganz los. Manchmal drehte er sich schnell um, als ob er jemand Unguten überraschen wollte, wie er hinter ihm nachschlich. Die Augen der Steinegger-Mahm spürte er sogar im Finstern auf sich gerichtet. Die schimmerten aber nur vor Sorge, daß er vielleicht der nächste Tote von Roitern sein könnte. Was sollte dann aus ihr und ihrer Enkelin werden? Die Lena fuhr er hart an: »Was rennst allerweil mit einem Trauergesicht herum? Wie du dich heruntersorgst! Mir geschieht schon nichts. Wovor sollt ich mich fürchten? Ich bin daheim, unter lauter Menschen, die mir sagen,
daß sie mich gut leiden können!« »Und der Feltinger Ulrich?« brach die Angst aus der Lena. »Die Steffi ist an allem schuld, weil sie dir nicht die Treue gehalten hat und doch bei ihrem Mann nicht... « Mit einem unfrohen Lacher unterbrach er sie: »Solltest ihr dankbar sein!« »Wenn er dich aber noch allerweil für den Mörder an sei nem Bruder anschaut!« »Das langt mir!« schrie der Jochen und riß seinen Janker vom Haken. Von der Tür her sagte er doch etwas ruhiger: »Außer mir hätt es auch einer der anderen zweihundert Männer aus Roitern gewesen sein können! Der Rupert ist hinter jedem Frauenzimmer her gewesen. Ich will nur in Frieden arbeiten. In Ruhe!« An der leeren Hundehütte vorbei, stürmte er über den Hof. Nebel schlug sich auf seinem Gesicht mit winzigen Tropfen nieder. Er wischte das Wasser weg wie Tränen. Vor ihm war eine graue Wand, durch die er nicht schau en konnte. Was dahinter lag? Sein Leben! Der Jochen ging weiter. Zuletzt leuchtete ihm doch ein klares, freundliches Licht entgegen: die Torlampe vom Wirtshaus »Zur goldenen Gams«. Langsam ging er dar auf zu. Von der Dorflinde war das meiste Laub abgefal len, verfaulte in der Herbstnässe und machte seine Schrit te lautlos. Erst im letzten Augenblick sah er die Frau. »Kain!« Sie schaute ihm grad entsetzt entgegen, als wäre aus der Dunkelheit der Leibhaftige gekommen. »Guten Abend, Erna«, sagte der Jochen zur HämmerlWirtin. »Beinahe hätt ich dich über den Haufen gerannt.
Wenn du aber auch ein schwarzes Schultertuch umlegst. « Sie hatte sich von ihrem Schrecken schon wieder erholt. Als der Umhang ein Stück von ihrer Schulter glitt, schim merte es hell aus dem Ausschnitt vom Mieder. Die Erna lachte samtig: »Da will man sich von dem Geschrei in der Gaststube erholen. Wer begegnet einem? Gleich wieder ein Mannsbild!« Damit der Jochen ihre geflüsterten Worte verstehen konnte, mußte er nahe zu ihr hinkommen. »Erna?« fragte vom Eingang her eine ängstliche Stimme. Der steinreiche Wirt war halt auch ein armer Teufel, weil er in jeder Stunde fürchtete, sein Weib könnte ihm fortge laufen sein. »Ja, Robert?« Schnell legte sie dem Jochen ihre Hand über den Mund. Sie hatte viel weichere, zartere Finger als die Bauerndirndl. Der Gams-Wirt machte einen Schritt in den Nebel heraus. »Erna? Bist allein?« »Freilich. Was meinst denn du?« Die Wirtin schob den Jo chen ganz zurück unter die Linde, wohin vom Haus kein Lichtschein fiel. »Ich komm schon, Robert. Man wird noch ein bißl verschnaufen dürfen, wenn die Mannsbil der in der Gaststube soviel rauchen!« Beinahe hätte der Jochen einen Schritt vorwärts gemacht, denn er sah keinen Grund, sich vor jemandem zu verste cken. Aber da hörte er den Hämmerl sagen: »Laß dich von mir nicht erwischen, Erna! Wenn dich so ein Lump anfaßt ... Ich hab noch von früher mein
Schlachtermesser!« »Eifersüchtiger Depp!« lachte die Wirtin und strafte ihn für sein Eifern, indem sie ihn noch aufganselte: »Schlach termesser! Einer wie du schlägt höchstens einen hinter rücks mit einem Stein nieder. Oder schießt du ihm von hinten mit deinem Jagdstutzen ein Loch in den Kopf?« »Still bist! Wer weiß, daß ich einen Jagdstutzen ... Willst mich ins Kriminal bringen?« Seine Stimme klang hart, beinahe gemein. »Das tät dir so passen, damit du dich herumtreiben kannst und die schöne Wirtschaft dir allein gehört!« Die Haustür schloß sich hinter ihnen. Der Jochen wartete noch eine Weile, dann ging er die Dorfstraße weiter. Im mer weiter, bis auch nach den letzten Höfen noch ein trü bes Licht auftauchte. Ein kleines, armseliges. Da wußte er, daß er bis zum Friedhof hinausgekommen war, bis zum Häusl vom Prenner Hias. Dort sah er auch die Gestalt an einem Baum, als ob sie mit dem knorrigen Holz verwachsen gewesen wäre. Sie löste sich aber davon los und kam auf ihn zu. In einer ersten Regung wich der Jochen einen Schritt zurück, dann sprang er gerade noch rechtzeitig vor und fing den Mann in seinen Armen auf. »Teufel, verdammt!« sagte der Jochen in seinem Schrecken zornig. »Nicht fluchen, Kain. Nicht fluchen!« beschwor ihn der Totengraber-Hias, »mit dem Fluchen machst du dir die Toten zu Feinden. Sei gescheit! Keine Toten mehr aufwe cken!« Darüber wollte der Jochen mit dem Prenner Hias nicht
reden, und schon gar nicht, wenn der vom FriedhofsWirt heimschwankte. Vor dem Stein flackerte eine Kerze im Laterndl. Eigentlich hätte er gar nicht fragen müssen: »Wer liegt dort?« Der Prenner Hias schaute vorsichtig um sich, bevor er lei se sagte: »Wer schon! Der Feltinger Rupert. Die dritte Kerze in dieser Woche, und ich weiß nicht, wer sie ange zündet hat. Viel Arbeit werd ich kriegen in der nächsten Zeit. Wenn’s den Leuten schlecht geht, geht’s dem Toten gräber gut.« Der Jochen zog seinen Janker an der Brust enger zusam men, weil ihm die Kälte bis ans Herz kroch. »Warum viel Arbeit?« »Kain!« Der Hias zog das Wort ganz lang. Mit ten in der Nacht bei Kerzenlicht vom Grab des ermorde ten Jägers. »Im November sterben die meisten Fliegen und viele Menschen. Nimm nur du dich in acht, Jochen. Dir wollt ich noch nicht gern die letzte Kiste anmessen!« Kurz vor Allerheiligen ließ der Puchinger Fritz den Jo chen von der Stallarbeit holen. Als der Kain in die Küche trat, schreckte die Nannerl vom jungen Bauern weg. Der sagte: »Ja, hock dich halt. Mußt nicht aus der Stube ge hen, Nannerl, der Jochen und ich haben keine Geheim nisse miteinander.« Der Knecht setzte sich und wartete geduldig. Immerhin drückte der Bauer eine Weile herum, bis er damit herausrückte: »Gelt, du wirst es verstehen: Über den Winter brauch ich keine zusätzlichen Helfer. Da reichen die Leut, die auf den Hof her gehören. « Sofort verstand der Jochen. »Ja, die her gehören. Ich dank dir immerhin, daß ich durch die Arbeit bei dir über die
schwerste Zeit ’kommen bin. « Dem jungen Puchinger wurde sichtlich leichter. »Ich hab gewußt, daß du mir keine Schwierigkeiten machst. « Aber dann fragte der Jochen: »Ich tät nur gern wissen, ob das auch etwas mit deiner Mutter zu tun hat? Weil die mich halt nicht ausstehen kann und das Schreiende kriegt, ’bald sie mich nur wo sieht.« Der Fritz war zusammengezuckt, aber er versicherte gleich darauf: »Da bist auf dem Holzweg. Was es mit der Mutter und mit dir hat, versteh ich nicht. Ich muß richtig wirtschaften, und da ist es selbstverständlich, daß ich kei nen alten Knecht wegschicken kann, nur weil du nach Roitern zurückgekommen bist.« »Ja, nur weil ich heim’kommen bin nach Roitern. « Der Jochen war schon aufgestanden und ging weg. Am Aller heiligentag schneite es an, zu Allerseelen war die Schnee decke wieder dreckig und löchrig wie das Gewand von einem Landstreicher. Erst in der zweiten Novemberwo che schneite es zu, und da kam der Puchinger Fritz zum Jochen auf den Kain-Hof. Er fragte: »Kommst mit uns in den Wald? Wir schlagen noch ein paar Meter Holz. So bald genug Schnee liegt, schleppen wir es mit dem Trak tor heim. Ich tät dich zum Schlägern und als Fahrer brau chen.« »Gern!« sagte der Jochen gleich zu, weil der Fritz wieder im alten freundschaftlichen Ton mit ihm redete. »Auf meinem Hof hab ich jetzt ohnehin nicht genug Arbeit.« Der junge Puchinger nickte und schaute sich in der Stube um. Da blitzte alles vor Sauberkeit. Vom Kachelofen
strömte eine wohlige Wärme ab. Es roch nach den Äp feln, die zum Nachreifen auf dem Schrank lagen. Der Fritz blickte nachdenklich zur Lena, die beim Fenster saß und geheimnisvoll tat, weil sie an einer Weihnachtsüber raschung für den Jochen strickte. Nach einer Weile sagte er leise: »Wir Puchinger sind halt eine Familie, die kein Glück hat.« »Kein Glück?« fragte die Lena über ihre Arbeit her. »Das sagst akkurat du, der reichste Bauer im Dorf?« Der Puchinger stand auf und legte die Hände an den Ka chelofen. Viel mehr zu sich als zum Jochen und zu der Lena sagte er: »Mit der Mutter ist es ein Elend. Der Vater ist auch nicht so gut an, wie man glauben tät. Er schleppt seinen Pinkel Sorgen. Wie soll die Susann ihr Glück fin den? Hinter jedem aufg’schneckerlten Weibsbild rennen die Männer nach, nur ihre stille Schönheit sieht keiner. Und der Vater tät keinen Schwiegersohn nehmen, der nicht ein Bauernsohn wäre. Großbauer, versteht sich! Lehrerin will sie keine werden, und für eine Bäuerin ist sie vielleicht wirklich zu schwach. Halt mehr wie die Mutter. « Weil der Fritz nicht weiterredete, fragte ihn der Jochen: »Und nachher du?« Der schüttelte den Kopf: »Meinst, an mir ging das alles nur so vorbei? Ja, ich hab eine gern, aber aus uns wird’s nichts, weil es der Vater nicht leiden tät: eine Dirn.« Dazu konnte der Jochen den Mund nicht länger halten. Beinahe feindselig fuhr er auf: »Was hast allerweil mit deinem Vater? Eine gute Ausred? Du bist der Bauer auf
dem Hof, du bist erwachsen, alsdann kannst du auch eine heiraten, die deinem Vater vielleicht nicht ganz taugt. Wenn du sie wirklich gern hast!« Der Fritz machte sich schon ans Gehen. Erst als er drau ßen an der Tür stand und die feuchte Kälte ins Haus drang, sagte er: »Die Nannerl hat manchen Fehler. Der größte ist, daß sie nichts in die Ehe bringt. Aber ich hätt sie halt lieb.« Er ging rasch davon, als schämte er sich für seine Gefüh le. Der Tag, an dem das Schicksal noch einmal furchtbar zu schlagen sollte, ließ sich recht schön an. Schon als der Jo chen die Augen aufmachte, sagte er sich glücklich: »Es gibt wieder Arbeit! Wenn ich ordentlich anpack, könnt ein schönes Weihnachtsgeschenk für die Lena heraus schauen. Die alte Mahm muß auch nicht ganz durch die Finger schauen, die grantige Zangen!« In der Küche blies die Lena schon das Feuer an. Als sie ihm die Haferflocken in der Milch hinstellte, sagte sie: »Ich kann dich doch nicht mit leerem Magen in den Wald gehen lassen! Und was dem Roß Kraft gibt, ist bestimmt auch für den Menschen gut. « In den Rucksack packte sie ihm zwei Brote mit Speck und einem letzten Wurstzipfl. Den heißen Tee in der Thermosflasche hatte sie mit ein bißl Obstler aufgespritzt. Bevor er ging, sagte er, wie das so seine Art war: »Vergelt’s Gott!« Der Wintermorgen war stockfinster. Auf der Dorfstraße brannten drei Laternen. Um die Lichter drehten sich Ne belhöfe, und an den Milchglasschirmen hingen glitzern
de Eiszapfen. Die Puchinger-Leute machten sich gerade zum Aufbre chen fertig. Auch der Fritz kam mit. Weil er den Blick vom Jochen auf das erleuchtete Fenster vom AusgedingHäusl bemerkte, sagte er: »Die Mutter hat keine gute Nacht gehabt. Geweint hat sie und kaum geschlafen ... Gehen wir!« Der Bauer fuhr mit dem ersten Traktor voran, der Jochen mit dem zweiten hinterdrein. Fragen wollte er nicht, aber er sah mit Unbehagen, daß sie auf den Hörner-Wald zu fuhren, also ausgerechnet nahe vorbei am Jäger-Häusl. Als könnte er sich damit vor seinem Schicksal verstecken, schlug der Jochen den Jankerkragen in die Höhe und zog seine Pudelhaube tief in die Stirn. So würde ihn vom Haus her niemand erkennen. Es zeigte sich dann ohnehin weder die Steffi noch ihr Mann. Die Fahrt dauerte recht lang. Die Leute hockten auf den Wagen, wie wenn sie schon festgefroren wären. Weil zum Holzen nur Knechte und keine Dirndl eingeteilt waren, gab’s kein bißl Gaudi. Sogar fürs Reden war es zu kalt. Im Hörner-Wald zeigte ihnen der Puchinger die ausge zeichneten Bäume. Für die nächsten Stunden war der vorweihnachtliche Wald vom Heulen der Motorsägen, von Hackenschlägen und vom Zusammenbrechen der sterbenden Bäume erfüllt. Die Leute verstanden ihre Ar beit, waren vorsichtig, und so gab es bis Mittag auch nicht den kleinsten Unfall. Der Weg zum Hof wäre ziemlich weit gewesen. Deshalb arbeiteten die Knechte durch. Aber genau um die Mit
tagsstunde zerrte ein Dirndl einen Schlitten den Wald weg herauf. Es war die Nannerl. Sie freute sich über die gelungene Überraschung und rief: »Herkommen! Das Es sen ist noch heiß!« Der Fritz konnte nicht anders, er nützte die Gelegenheit. »Nannerl, für den guten Einfall hast du eine Belohnung verdient. Ich geb sie dir im Namen von allen!« Schon pappte er ihr ein Bussel auf den roten, jungen Mund. Alle lachten über die Gaudi, und der Jochen wuß te sogar noch ein bißl mehr. Nur der Großknecht meuter te: »Sonst muß ich meine Schulden allerweil selbst zah len! Bauer, meinen nächsten Schuldenzettel überlass’ ich dir auch, damit du ihn wegbusseln kannst!« Die Stimmung hätte nicht besser sein können, aber als die Nannerl dem Fritz einen Teller Suppe herausschöpfte, fragte er sie: »Was hat’s daheim? Die Mutter!« Genauso leise sagte sie zurück: »Nicht recht gut. Sie hat sich schon beruhigt gehabt, aber heute ist im Wald wie der einmal der Teufel los. Wilddieb akkurat bei der Fut terstelle! So eine Sauerei! Unterhalb vom SiebensteinKamm. Dein Vater hat mit dem Feltinger-Jäger hinüber gehen wollen. Wie das deine Mutter gehört hat, ist das Schreien wieder los’gangen. Der Doktor hat kommen müssen. Nach einer Stund ist sie dann eingeschlafen, aber dein Vater traut sich keinen Schritt mehr weg von ihrem Bett. Deshalb ist grad vorhin der Feltinger allein zum Siebenstein aufgestiegen.« »Es ist schon ein Unglück«, flüsterte der Fritz verzweifelt. Weil der Jochen mit seinem Teller in der Nähe stand, hör
te er doch etwas und sagte zweifelnd: »Gegen den Sie benstein-Kamm zu? Das grenzt zwar an unsere Gemein dejagd, ist aber eigentlich nie das Revier von den Roiterner Wildschützen gewesen. « Ungefragt schnabelte die Nannerl: »Du mußt es wissen.« Damit es keinen Streit geben sollte, rief der Fritz schnell seinen Leuten zu: »Jeder bringt seinen Teller her, und nachher geht’ die Arbeit weiter!« Auch der Jochen packte wieder zu. Er hackte tief in den Stamm und trieb die Keile mit einer fast gehässigen Wut hinein. Wenn so ein Baumriese stürzte, sprang er aller weil erst im letzten Augenblick zur Seite. Er spielte ge fährlich mit seinem Leben. Schon gegen vier wurde es so finster, daß der Puchinger Fritz entschied: »Feierabend! Morgen geht’s weiter.« Sie verstauten Hacken, Keile, Sägen und Sappel in die Werkzeugkasten der Traktoren. Dann brachten sie die Schlägerstellen in Ordnung, als wären sie das dem ver letzten Wald schuldig gewesen. Endlich ging’s zurück nach Roitern. Wieder kamen sie am Jäger-Häusl vorbei. Ein Fenster un ter dem Dach war beleuchtet. Der Kain atmete grad er leichtert auf. Also waren sie noch nicht tot, der Ulrich Fel tinger und sein Weib, die Steffi. Die Lippen des Jochen wurden doch schmal. Nicht daß er die Steffi noch in der Art lieb gehabt hätte wie früher, aber an diesem Tag warf es ihn schon wieder zurück in die vergangene Zeit. Sie fuhren alle miteinander zum Puchinger-Hof. Der Fritz sagte: »Morgen in der Früh sehen wir einander wie
der.« Seltsam, aber an diesem Abend reichte er ihm die Hand, was unter den Bauern gar nicht so üblich war. »Pfüat dich, Fritz. « Der Novembertag erstickte im Nebel. Der späte Nachmit tag war so dunkel, wie der Morgen gewesen war. Die Straßen von Roitern lagen verlassen. Als der Jochen gera de auf das Tor vom Kain-Hof zugehen wollte, löste sich aus einem Mauerwinkel ein Schatten. Unwillkürlich machte der Bauer einen Schritt zurück, aber es war dann nur der Bub vom Friedl-Schuster. Der kam ganz nahe her und schob ihm einen Zettel in die Jankertasche. Ohne auf einen Dank oder gar einen Botenlohn zu warten, teufelte er davon, so schnell ihn die kleinen Beine trugen. Bevor noch der Jochen die Nachricht lesen konnte, öffne te sich von innen her die Tür. Auch die Lena hatte auf ihn gewartet. Sie ging neben ihm aufs Haus zu und fragte: »Ist alles gut ’gangen?« Er dachte nur an den Zettel in der Jankertasche. »Nichts ist geschehen.« Beim schwachen Licht im Vorhaus merkte sie doch et was. »Mein Gott! Jochen, was hast? Dir stehen die Schweißtropfen auf der Stirn. Bei der Kälte! Hast viel leicht Fieber?« Schnell wischte er sich mit dem Jankerärmel übers Ge sicht. Seine Stimme klang gepreßt und unehrlich: »Das kann nur vom Nebel kommen. Um so eine Stund jagt man halt keinen Hund mehr vor die Tür.« Sie nahm ihm den Janker ab und hängte ihn zum Trock
nen an den Haken. Noch rechtzeitig fiel ihm wieder der Zettel ein. Grad eisig durchzuckte es ihn: Wenn die Lena das Papierl fand, mußte sie alles falsch verstehen! Darum murmelte er: »Mein Taschentüchl brauch ich.« »Hast dich doch verkühlt!« Er lachte: »So ein Schmarren, wenn ich es ohnehin in der Hosentasche hab.« Schnell schob er den Zettel ein. In der Küche hockte die Steinegger-Mahm. Wie eine Spinne lauerte sie, aber vielleicht kam ihm das auch nur so vor, weil er verzweifelt eine Gelegenheit suchte, die Botschaft zu lesen. »Grüß dich, Mahm«, sagte er schnell. »Gelt, die Lena soll mir das Essen schon hinstellen. Ich wasch mir die Händ und das Gesicht. Bei der Waldarbeit wird man so harzig. « Ihm war, als hätten sich die Mundwinkel von der Stei neggerin geringschätzig abwärts gezogen. Als er allein war, sperrte er hinter sich die Kammertür zu. Er mußte den Zettel auf den Tisch legen, weil seine Hände zu arg zitterten, um noch etwas lesen zu können. Gleich erkann te er die steilen Buchstaben der Steffi. So etwas hatte er befürchtet. Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf. Vor lauter Angst um die Steffi! Auf dem Zettel stand: »Geht ums Leben. In unserer Heuhütte. Sei barmherzig!« Keine Ahnung, wann sie das geschrieben haben mochte. Inzwischen war der Ulrich längst von der Jagd auf die Wildschützen heimgekommen! Da konnte sie nicht mehr wegschleichen. Und draußen war es stockfinster. Der Jo chen suchte noch ein paar Ausreden, um nicht hingehen
zu müssen. Dann sagte er: »Ich muß doch. Das bin ich ihr schuldig.« Vor der Tür hörte er die Mahm greinen: »Jetzt ist er ganz spinnert ’worden und redet mit sich allein.« In der Küche stand schon der Teller mit einer dicken, hei ßen Suppe auf dem Tisch, aber dem Jochen hatte es allen Hunger verschlagen. Wenn doch die Steffi bestimmt voll Todesangst in der Hütte wartete ! Nur um nicht noch mehr Mißtrauen zu erwecken, würgte er das Essen hin unter. Die Lena hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt und wartete, daß er etwas mit ihr reden würde. Aus sei nen Augen las sie eine Angst ab, die er ihr nicht eingeste hen wollte. Nach einer Weile bat sie: »Erzählst mir, was so den ganzen Tag geschehen ist?« »Nichts ist geschehen!« sagte er schnell und zu laut. Auch daß er immer wieder unauffällig zur Küchenuhr hinschauen wollte, merkte die Lena. Dann zuckte sie zu sammen, denn er sagte: »Ich muß noch einmal für eine halbe Stund weg.« »Wohin gehst? Willst es mir nicht doch sagen?« Sie bat, daß er ihr vertrauen sollte. Weil ihm keine Ausrede einfiel und ihm die Lena in ihrer Sorge so leid tat, fuhr er sie zornig an: »Ich werd halt ’was auszureden haben! Schnofelst du mir auch schon nach wie die Mahm?« Sie traute sich nicht weiter zu fragen, mit wem er was ausreden wollte. Als er gerade aufstand und den Stuhl zurückstellte, kam die Mahm in die Küche. Scheinheilig freundlich fragte sie: »Wohin mußt noch bei dem Sauwet
ter, du Armer?« Für ein paar Sekunden verlor er die Selbstbeherrschung und fuhr sie scharf an: »Halt allerweil wieder ausbügeln, was die Tratschweiber angerichtet haben!« Damit war für die Lena alles klar: Es ging wieder um die Feltinger Steffi ! Bei der Tür kehrte er noch einmal um, kam zur Lena zu rück und drückte ihr, vor den Augen der Alten, ein Bus sel auf den Mund. Recht liebt bat er: »Mach dir keine Ge danken, wenn’s ein bißl später wird.« Er fühlte sich gar nicht so ruhig. Als er auf der Straße stand, versperrte er das Tor, nachher schob er den Schlüs sel unten durch den Spalt. Angst und Sorgen hetzten ihn weiter, aber sie nahmen ihm auch die Luft beim Gehen. Das lag nicht nur am dichten Nebel. Hätte der Jochen den Weg nicht so gut gekannt, so wäre es ihm schwer ge fallen, in dieser Nacht die Heuhütte zu finden. Auf dem Kirchenplatz war es ihm, als ob jemand hinter ihm nach ginge. Zweimal schaute er sich rasch um, konnte aber keinen Menschen sehen. Da merkte er, daß er das Echo seiner Schritte von der Kirche, dem Pfarramt, der Ge meindekanzlei oder dem Bürgermeister-Haus her gehört hatte. Bald darauf begegnete er doch im Dunkeln einer Gestalt. Beide schlugen umeinander mißtrauisch Bogen, bis der andere fragte: »Noch unterwegs in so einer Nacht, Kain?« »Ich hätt dich auch beinahe nicht erkannt, Schmiedl.« Der Gendarm ging schon weiter, aufs Gemeindeamt zu. Diesmal hatte der Jochen nicht den kürzesten Weg hinaus
zur Heuhütte genommen. Eine innere Stimme warnte ihn, dort könnte ihm jemand auflauern. Er machte den Umweg über den Friedhof. Erst am schmiedeeisernen Tor bog er links in den Feldweg ein. Aus der Kammer vom Prenner Hias sickerte Licht in den Nebel. Bei so ei nem Wetter ging der Totengräber nicht einmal zum Friedhofs-Wirt. Von hier an lief der Jochen schneller weiter. Wie ein Tier in Todesangst. Er ahnte die Gefahr, die er freilich nicht sehen konnte. Am Waldrand tauchte der Schatten der Heuhütte auf. Wie damals vor fünf Jahren, als er sich mit der Steffi ins Heu verkrochen hatte, damit sie ihn nicht finden konn ten. »Ist wer da?« flüsterte er in die Dunkelheit. Ihren Na men sprach er nicht aus, weil er noch immer an eine Falle dachte. Dann würde es ums Leben oder Sterben gehen! Keine Antwort. Er tastete nach dem Holzriegel, der sich naß, kalt und glatt angriff. Die Tür gab sofort nach. Das leise Kreischen in den Angeln erschreckte ihn, wie wenn man es hätte bis ins Dorf hören können. »Bist noch da?« »Jochen«, kam ihm ein Flüstern entgegen. »Steffi! Um Himmels willen, was hat’s?« Jetzt hörte er das leise Weinen. In der Finsternis fand er die Leiter hinauf ins Heu. Plötzlich packten ihn zwei Arme, so daß er sich gar nicht wehren konnte. »Steffi ! Wir müssen auseinander gehen ! Vielleicht hetzt uns die Meute schon!« In dem Augenblick konnte er nicht unterscheiden, was damals geschehen war und was jetzt geschah. Das war alles wieder und noch immer: das
Grauen vor Mord und Totschlag! Dann atmete er doch erleichtert auf und flüsterte: »Steffi, ich helf dir auf jeden Fall. Was ist geschehen?« Das Dirndl halste ihn verzweifelt und machte sein Ge sicht mit Tränen naß. Das war keine Liebe, nur die Todes angst. Deshalb klammerte sich die Steffi an den einzigen Menschen, dem sie noch vertraute. »Hilf mir, Jochen! Er will nicht nur mich umbringen, sondern auch unser Kindl! Der ist kein Mensch mehr in seiner Eifersucht. Ein Irrer!... Und das Kind war die Frucht von unserer Sünd! Ich kann nicht mehr!« »Du mußt durchhalten!« befahl er und busselte ihr die Tränen vom Gesicht. Wenn eine so verzweifelt war, gab es nur noch eines: sie erst einmal weinen lassen ! Was hätte er sonst im Augenblick sagen sollen? Aber auch nachher blieben seine Worte leer, weil er selbst nicht daran glaubte: »Wirst sehen, Steffi, die Wahrheit setzt sich allerweil durch ! Wir müssen uns nichts vor werfen, denn wir haben nichts Schlechtes ’tan. Geh wei ter, der Feltinger wird nicht sein eigenes Kind umbrin gen!« »Wenn er doch glaubt, daß es deines ist!« schluchzte die Steffi. »Wie wir unten beim Bach gewesen sind, sollst du mir das Kind ... wirft er mir vor!« Ihre Stimme erstickte in Verzweiflung und Scham. Der Jochen wollte ihr nur ein Beispiel dafür sagen, daß alles Böse vergehen und das Gute bleiben werde. Darum erin nerte er sie an eine ganz bestimmte Stunde: »Weißt noch, wie wir da im Heu gelegen sind und uns vor dem Ster
ben gefürchtet haben? Die Leut haben an die Hütte ge schlagen und geschrien: Kain-Mörder, komm heraus, oder wir zünden über dir das Dach an! Siehst, das ist al les vorbei. Wir haben es überstanden. « Sie weinte leise vor sich hin. »Damals hab ich dich noch lieb haben dürfen! Das ist auch vorbei, und geblieben ist die Angst. Der Ulrich wird mich und mein Kind umbrin gen. Ich verlier noch den Verstand!« Da begriff der Jochen, daß sie von ihrer und er von seiner Verzweiflung redete. Aber es galt für sie beide, als er sag te: »In seiner Hoffnungslosigkeit könnt jeder Mensch zum Mörder werden. Sogar der beste.« Plötzlich weinte sie auf: »Wenn ich es aber nicht länger durchhalt! Ich weiß, daß ich am End bin.« »Du mußt alles auf dich nehmen, Steffi, weil es keinen anderen Ausweg gibt. « Er streichelte sie recht lieb, um sie zu beruhigen. Langsam wurde sie wirklich ruhiger und suchte sogar schon etwas, an das sie sich klammern konnte. Sie sagte sich vor: »Ich hab’s vor dem Altar versprochen. « Der Jochen atmete erleichtert auf. Noch einmal streichelte er tröstend über ihr Haar. Dann stellte er sich vor, der Ul rich würde sie beide hier finden. Das müßte mit Mord und Totschlag enden, so oder so! Deshalb drängte er sie grad hastig: »Beeil dich, Steffi! Du mußt vor ihm wieder daheim sein! Mit der Zeit wirst du ihn doch überzeugen können ... « »Schrecklich«, flüsterte sie. Gleich unterbrach er sie: »Weißt du noch, wie schrecklich
uns das alles vor fünf Jahren vorgekommen ist? Wie das Jäger-Häusl gebrannt hat! Das ganze Dorf hätt in Flam men aufgehen können!« Schon war sie halb entschlossen, den einzigen, den dorni gen Weg weiterzugehen. Das gab ihr sogar die Kraft zu drohen: »Aber eines sag ich dir, Jochen: Wenn er meinem Kind ’was tut, nachher bring ich ihn um und zünd ihm das Haus ... « Entsetzen würgte ihr die Luft ab, denn um sie war plötz lich ein fremdes Licht. Genau wie damals vor fünf Jah ren, als die Männer aus dem Dorf mit Fackeln gekommen waren und sie bei lebendigem Leib verbrennen wollten ! Durch die Ritzen der Hüttenwand drang ein blutroter Schein. »Das hätt nicht mehr geschehen dürfen!« schrie der Jo chen verzweifelt auf. »Wenn der Feltinger meinen Hof angezündet hat, nachher ... Lena!« Er war aufgesprungen, warf sich gegen die Hüttentür, und diesmal blieb die Steffi an seiner Seite. Auf den ers ten Blick erkannte sie: »Abseits vom Dorf brennt’s: Das ist bei mir! Das Schneider-Häusl brennt!« Der Jochen packte sie an der Hand und zerrte sie weiter. Sie rannten blindlings und quer über die Wiesen. Stürzte einer von ihnen, so riß ihn der andere wieder in die Höhe. Entsetzen trieb sie weiter. Was konnte geschehen sein? Die Wahrheit war grauenvoll! Hinter dem Dorf loderten die Flammen in den Nachthim mel. Der Jochen ahnte es nicht nur, er wußte es beinahe
mit Sicherheit: Dort drüben triumphierte wieder das Ver brechen, Brandstiftung, Totschlag, vielleicht sogar der Mord! Er dachte an keine Gefahr mehr, sondern rannte mit der Steffi Hand in Hand auf Roitern zu. Nur einmal taumelte sie: als es ihr zur Gewißheit wurde, daß ihr Haus in Flammen stand. Nach Luft ringend, keuchte sie: »Herr gott, laß den Ulrich noch im Wald sein! Das hab ich doch nicht wollen, mit keinem Gedanken!« Gleich hastete sie weiter, und die Verzweiflung gab ihr so viel Kraft, daß der Jochen kaum mithalten konnte. Sie spürte, wie sich seine Finger hart in ihren Oberarm gru ben, und er schrie heiser an ihrem Ohr: »Bring dich nicht selbst um! Einem, der noch im Haus ist, kann niemand mehr helfen! Denk an dein Kindl!« Sie riß sich wieder los und rannte auf die Gluthölle zu. Fast gleichzeitig mit ihnen kam die Freiwillige Feuer wehr zum Schneider-Häusl. Männer sprangen vom Auto. Jeder Schritt, jeder Griff war eingeübt. Der Schrei von der Steffi gellte grad unmenschlich auf: »Ulrich!« Sie bekreuzigte sich, dann stürzte sie auf die Flammen zu. Hände griffen nach ihr und konnten sie nicht mehr zurückreißen. Aber da warf sich die Lena ihr entgegen und fing sie in den Armen auf. Mit Gewalt mußte sie die Verzweifelte festhalten. »Gescheit sein! Um Himmels wil len! Für dein Kind!« Der Puchinger Fritz torkelte aus der Glut, packte den Jo chen und riß ihn mit sich. Zwingend hart, wie voll Haß, schrie er ihn an: »Nicht schauen! Mithelfen! Grad du!«
Der Strom der Männer riß sie auf das grell brennende Haus zu. Die einen schleppten Wasserschläuche, andere arbeiteten am Pumpenwagen. »Her zu mir!« befahl der Fritz. »Jetzt muß ich es wissen, Jochen!« »Ich komm mit dir«, gelobte der, aber in ihm war noch immer eine lähmende Angst. Überall Flammen, Blut, und der Körper des Feltinger Rupert liegt vorgesunken, wie ihn die Kugel des Mörders hingeschmissen hat. »Rupert!« »Diesmal geht’s um den Ulrich!« schrie der Fritz. Der Kain mußte sich fast unmenschlich zu jedem Schritt zwingen. Es qualmte und roch wie nach einem verbren nenden Menschen. An seiner Seite stieß der Puchinger Fritz einen Wutschrei aus. »Teufel, da hat der Ulrich sei ne Fensterladen zugemacht!« »Und von außen verspreizt !« Beißender Rauch und das Entsetzen nahmen dem Jochen die Stimme. Man sah es auch noch in der Gluthölle: Die hölzernen Fensterladen waren geschlossen und von außen her mit Balken zu gepölzt! Den Arm vors Gesicht gepreßt, schrie der Kain: »Nein, nie! Das hat der Ulrich nicht gemacht, und wie wir heute vorbeigefahren sind, ist das noch nicht gewe sen. Der ist drinnen, verbrannt wie ... « Die zwei wurden zur Seite gestoßen, weil sich der Gen darm Schmiedl zum Haus vorarbeitete. Der brüllte plötz lich auf: »Leut, da ist schon wieder ein Mord geschehen! Die sind drinnen eingesperrt und verbrannt, der Jäger und sein Weib!«
»Der Jäger!« schrie der Jochen zurück. Sein Weib nicht, denn das war mit ihm in der Heuhütte gelegen. Wirklich? Nicht nur im Traum oder Wahnsinn? Ja, Wahn sinn! Alles ein Alptraum, oder da mußte ein Wahnsinni ger gemordet haben: aus Eifersucht! Hatte es der Steffi gegolten und ihrem Kindl? Der Jochen konnte sich kaum aufrecht halten. Neben ihm drangen zwei Feuerwehrmänner mit Helmen und guter Ausrüstung bis zur Hauswand vor. Sie sprengten Balken und Bretter weg. Funkensäulen schossen in die Nacht hinauf. Der Schmiedl-Gendarm preßte sich ein Tuch vors Gesicht und ging mit vor. Er mußte alles sehen und den Toten finden. Oder die Toten! »Komm mit!« befahl der Fritz voll Feindseligkeit. Er stieß den Jochen weiter und blieb dicht hinter ihm. »Wenn du wieder davonrennst wie damals, schlag ich dich nieder und laß dich verbrennen! Genau wie den Rupert. Und auch den Ulrich? Weiter!« Um sie zischte das Wasser in Flammen und Glut. Dampf verbrannte sie im Gesicht, Funken brannten sich in die Haut. Mit Signalhorn und Lichterspiel kamen zwei Feu erwehren aus Siebenstein angerast. In dieser Verwirrung achtete niemand mehr auf die zwei jungen Bauern. »Weiter, Jochen!« drohte der Puchinger Fritz. »Bist oft ge nug hier gewesen bei der Steffi! Kennst dich hier aus wie daheim!« »Ich kann nicht mehr«, röchelte der Jochen. »Stubentür auf! Weißt du vielleicht, daß da drinnen der
Ulrich liegt? Ermordet! Werden sehen, was die Mutter weiß und nicht sagt!« Der Jochen streckte schon die Hand nach der Tür aus, aber plötzlich taumelte er zurück, als hätte er auf Glut ge griffen. »Nein, Fritz, nur da nicht hinein!« »Warum nicht?« schrie ihn der junge Puchinger an. »Hast du ihn vielleicht doch umgebracht? Man hat dich schon wieder mit der Steffi gesehen! Tritt die Tür ein!« Plötzlich erkannte der Jochen ganz klar, daß er jetzt am Ende seines schrecklichen Weges angekommen sei. Wei ter konnte und wollte er nicht mehr. Keinen Schritt! Laut los bewegte er die Lippen: »Du auch, Fritz?« Das Gesicht des anderen kam dem seinen ganz nahe. Eine Stimme schrie hallend: »Mörder! Mörder! Meine Mutter ist seit damals kein Mensch mehr! Heut hast du dich verraten! Hat sie dich damals gesehen, wie du den Rupert umgebracht hast? Red, oder ... « Der Jochen konnte nicht einmal mehr die Hand zur Ver teidigung heben. Zwei Feuerwehrmänner aus Roitern hatten sich bis zu ihnen vorgekämpft. Einer von ihnen schlug gegen die Klinke der Stubentür. Da hatte sich et was verklemmt? Auch versperrt! Fast eindeutig: Mord am Jäger Ulrich Feltinger! Der zweite Feuerwehrmann schrie: »Dagegenschmei-ßen! Und los!« Unter dem Anprall der beiden Menschenkörper brach die Tür aus den Angeln, und ein glühendheißer Schwall stürzte den Männern entgegen. Der Bürgermeister kam mit dem Pferdewagen zum
Brandplatz herangerast. Noch bevor er hielt, sprang er ab und warf einem Dirndl die Zügel zu. Er schrie: »Gerstl hammer! Spiel dich nicht groß als Feuerwehrkomman dant auf, sondern laß das Häusl brennen! Die Keuschen ist es nicht wert, daß auch nur ein Mann verletzt wird!« Der Gendarm Schmiedl drängte sich zu ihm. Sein rundes Gesicht war mit Ruß und Blut verschmiert. Er konnte nur noch krächzen: »Doppelmord, Bürgermeister! Fenster und Türen sind von außen mit Holz zugemacht. Der Ul rich und sein Weib verbrennen drinnen! Dazu soll die Steffi schwanger ... « Der Puchinger Karl starrte seinen Gendarmen verständ nislos an, bis er in ein Lachen ausbrach. »Bist ein Depp, Schmiedl! Den Feltinger hab ich selbst zum SiebensteinKamm geschickt. Der teufelt hinter Wildschützen nach und ist in die Wand gestiegen. Ich hab mich erst von mei ner Afra nicht wegrühren können, nachher bin ich aufs Amt nach Siebenstein gefahren. Dort hat mir die EierThresl auf der Station getratscht... « Er flüsterte nur noch: »Die Steffi liegt mit einem irgendwo im Heu. Bestimmt nicht im Ehebett!« Da schrie es der Gendarm Schmiedl seinem Bürgermeis ter ins Gesicht: »Einen Schmarren! Das mit den Wilde rern ist eine Falschmeldung gewesen, und das hat der Ul rich bald gemerkt. Schon vor mehr als einer Stund hab ich ihn auf dem Posten gesprochen. Er hat heimgehen wollen. Ins Haus, mit der Steffi!« Der Karl Puchinger konnte sich kaum mehr bewegen. »Nach dem Rupert noch der Ulrich und sein Weib? Irr
sinn! Alles aus!« Vor der Brandstelle war es von Flammen und Glut fast taghell. Mit ohrenbetäubendem Krachen brach der Dach stuhl zusammen, und eine Feuersäule schoß zum Him mel hinauf. Die Puchinger Susanne verband drei Feuer wehrleuten die Wunden. Schreiend vor Glück warf sich die Nannerl an die Brust vom Fritz. »Daß dir nur nichts geschehen ist!« weinte sie auf und busselte ihn ab. Die Matsching Martha schenkte an die Helfer Tee aus. Ihre Augen glänzten, und sie flüsterte der Hämmerl-Erna zu: »Schau dort hin, Erna: Im Haus ist der Jäger mit sei nem Weib verbrannt. Aber die Welt dreht sich weiter. Und die Lieb ... Gut täten s’ zusammenpassen, der Fritz und die Nannerl.« Die Gamsl-Wirtin verteilte Schnaps. Weil sie das Leben kannte, gab sie der Kramerin zurück: »Bauer und Dirn? Nie tät das der alte Puchinger dulden.« »Jochen!« Die Lena rannte ihm entgegen, schlang die Arme um ihn und packte ihn so, als wollte sie ihn nie wieder hergeben. »Ich bin fast gestorben aus Angst um dich!« Nach der Anstrengung und Aufregung konnte er sich kaum mehr auf den Beinen halten. Seiner Lena gestand er: »Kannst auch nicht mehr Angst gehabt haben als ich.« Gleich darauf fragte sie, atemlos vor Aufregung: »Habt ihr ihn gefunden?« Grad da kam der Fritz vorbei. In seinem Gesicht zuckten noch alle Muskeln von der Aufregung und den Wunden.
In einem maßlosen Haß schrie er: »Diesmal werd ich den Verbrecher erwischen! Türen und Fensterladen verram melt und den Brand gelegt!« Ehrlich in der Freundschaft, bedenkenlos in der Wut und viel zu schnell im Verurteilen! Der Jochen wollte ihm das sagen, aber da schüttelte die Lena die zwei Freunde an den Armen. Sie deutete mit Blicken zum Waldrand hin über. Dort kam ein Mann herausgerannt. Mit einem Auf schrei stürzte ihm die Steffi entgegen. Die zwei packten und busselten einander und weinten laut vor Glück. Der Jochen lächelte. Der schmerzliche Ausdruck in sei nem Gesicht stammte nur von den Verbrennungen. Ihm fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, und er sagte: »Nein, Fritz, so busselt keiner seine Frau, die er hätte um bringen wollen. Für den Ulrich Feltinger könnt ich jetzt beinahe die Hand ins Feuer legen.« Der Puchinger Fritz starrte noch immer regungslos zum Jäger hinüber. »Hast du einen Beweis für seine Unschuld?« Plötzlich würgte es den Jochen, daß er meinte, das wäre sein letzter Atemzug gewesen. Er konnte grad noch fra gen: »Hast du einen Beweis für seine Schuld? Haut nicht auch ihm das Leben zusammen! Keinen mehr steinigen, erschlagen oder aufhängen wollen!« Drei Tage lang suchten sie. Ein paar Männer stiegen in die Bergwände ein. In zwei Ketten durchstöberten sie die Wälder. Andere Helfer suchten am Salbach entlang und stießen mit Stangen ins Wasser. Der Totengraber-Hias mußte nach Siebenstein hinunter,
weißes Leinen für seine Särge kaufen. Auf der Holz brücke am Eingang zum Teufelsgraben blieb er stehen und dachte eine Weile übers Leben wie übers Sterben nach. Wenn er zu nüchtern war, hatte er manchmal so eine Stunde. Plötzlich sah er aus dem zuwachsenden Eis eine Menschenhand herausgreifen. Wie wenn sie im Tod noch um Verzeihung bitten wollte! Der Prenner Hias rannte gleich auf die Gemeinde, und der Schmiedl ließ die Feuerwehrsirene heulen. Die Männer arbeiteten bald zwei Stunden, bis sie den Leichnam aus dem Eis unter der Holzbrücke heraufgeholt hatten. Der Puchinger Fritz stand am Fenster, weil er die Mutter keinen Herzschlag lang aus den Augen lassen durfte. Bei der Bergung der Leiche hätte er ohnehin nicht mithelfen können. Ein glosender Balken vom Schneider-Häusl hatte ihn zuletzt noch getroffen. Jetzt war der Arm eingegipst. Langsam kam der neue Feuerwehrwagen zum Dorf zu rück. Hintennach gingen die Leute, die bei der Bergung der Leiche geholfen hatten. Der Fritz Puchinger mußte die Augen zumachen. Leise bat er: »Mutter, jetzt sollst stark sein. Sie bringen den Vater. « Hinter ihm sagte eine fremd klingende Stimme ein bißl schleppend: »Ist alles gut. Für ihn hätt’s keinen anderen Weg mehr gegeben.« Der Fritz meinte, es tät ihm den Kopf zerreißen. Er fuhr herum und stammelte: »Mutter, du kannst ja reden !« »Was?« Ihr Blick wurde verschleiert und irrte durch den Raum. Plötzlich bewegten sich ihre Lippen wieder ver krampft. Sie konnte nur noch flüstern: »Alles mußt wis
sen über deinen Vater, damit du ... Ja, er hat ... hat den Feltinger Rupert erschossen! Aber alles ist nur meine Schuld gewesen!« Der Fritz verstand überhaupt nichts mehr. In der Stunde, wie sie draußen den toten Vater brachten, war die Mutter wieder lebendig geworden! Er brach neben ihrem Roll stuhl in die Knie. »Mein Gott, Mutter! Ein Wunder ist ge schehen! Der Himmel...« Die Puchinger-Afra schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung die Rede ab. »Kein Wunder, und laß den Himmel aus dem Spiel! Die Gnad hat unsereins längst verwirkt... Du, kommen sie schon?« »Erst unten am Anger«, flüsterte der Fritz nach einem ge hetzten Blick durchs Fenster. Immer freier redete sich die Mutter. »Wir haben uns halt auseinandergelebt, dein Vater und ich. Dafür bin ich auf das schöne Reden vom Rupert hereingefallen. Was dann im Dorf geschehen ist: alles meine Schuld! Ich hab mit dem Feuer gespielt, bis es hellauf gebrannt hat! An dem Unglückstag bin ich ins Jäger-Häusl hinüber’gangen. Nur ein bißl Ansprach hätt’ ich gesucht, das schwör ich! Aber der Lump hat mich hingeschmissen! Ich hab ge schrien und mich gewehrt!« »Mutter«, stammelte der Fritz entsetzt und wußte nicht mehr, ob sie weiterreden oder für immer schweigen sollte. »Die bringen schon die Leich vom Vater den Weg herauf. « Nach qualvollen Jahren durfte sie endlich reden, und da barsten alle Dämme in ihrer Seele. Sie flüsterte wie in ei nem Beichtstuhl: »Er hat mir helfen wollen, dein Vater.
Auf einmal ist der Feltinger spinnert ’worden und hat das Gewehr auf ihn angelegt. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod gewesen, bis der Schuß ’kracht hat. Wie ich be griffen hab, was durch meine Leichtfertigkeit geschehen ist, hab ich gleich sterben wollen. Sogar in der Stund hat er mir noch geholfen. Nur mir zulieb ist er nicht zur Poli zei ’gangen. Jeder Richter hätt ihn freigesprochen, weil er mir in Notwehr geholfen hat. Dabei wär aber meine Schand aufgekommen. Ich hab die Nerven verloren, und er hat das Jäger-Häusl angezündet. Alle Spuren sind ver wischt gewesen. Von der Stund an hab ich nicht mehr re den können, weil ich sonst vielleicht meine Schuld her ausgeschrien und damit auch deinen Vater verraten hätt!« Der Fritz rannte von einem Fenster zum anderen. »Mut ter, sie sind schon beim Hoftor! Warum hat der Vater da mals ausgerechnet den Jochen so verfolgt?« Damit sie noch alles sagen konnte, überschlug und ver haspelte sich die Afra Puchinger beim Reden. »Ist doch nicht wahr! Das Wort vom Mörder Kain hat der Doktor Präbichler herausgeschrien, und gleich ist das Gerücht weitergesprungen wie’s Feuer. Dein Vater hat nur so wild getan, damit er den Kain hat schützen können. Die Leut hätten ihn umgebracht! Deshalb hat er es eingerichtet, daß der Kain hat fliehen können. Später hat die Polizei eingesehen, daß es der Kain nicht gewesen ist und die Untersuchungen eingestellt. Damals haben wir noch ein mal gehofft, wir könnten mit unserer Schuld weiterleben. Bis der Kain nach Roitern zurück’kommen ist.«
»Mutter, sie kommen mit dem Vater schon auf den Hof hereingefahren«, flüsterte der Fritz. Sein Gesicht war lei chenblaß und mit Schweiß überströmt. »Sie tragen ihn herein.« Die Worte der Afra Puchinger überstürzten sich, zerbra chen spröd, aber der Fritz verstand sie mit der Seele. Sie mußte auch noch das Letzte gestehen: »Da hab ich ge wußt, daß noch ein Unheil geschehen wird. Auch dein Vater hat gefürchtet, daß die Leut alles herauskriegen werden. Nach fünf Jahren ganz entstellt. Da hat er es so einrichten wollen, daß der Kain sich sein Leben neu auf baut. Aber es hat keinen Frieden mehr gegeben. Der Jo chen hätt wieder fort müssen! Es hat so ausschauen sol len, wie wenn es der Kain wieder gemacht hätt. Wegen der Steffi. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, aber ich hab nicht schreien und nicht davonrennen können. Allerweil tiefer haben wir uns ins Netz verstrickt, und das hat uns noch mehr in die Schuld gezogen. Bis zuletzt. Aber nie mandem hätt ein Leid geschehen sollen. Den Ulrich hat er auf eine falsche Spur gehetzt, den Jochen und die Steffi in die Heuhütte gelockt. Jetzt ist alles gut. Aus, vorbei. « »Mutter!« stöhnte der Fritz. »Sie haben den Vater ins Haus ’tragen!« »Geh zu ihm!« befahl die Puchinger-Bäuerin, dann ver sagte ihr die Stimme wieder. Die Männer legten den Toten auf ein Bett. Als der Fritz kam, torkelte er wie ein Rauschiger. Sie verstanden nur, daß er immer wieder schluchzte: »Der Herrgott wird ihm gnädig sein!« An der Leiche vom Vater brach er zusam
men. Nur einmal schaute er sich um. Da sah er hinter sich die Mutter stehen, hoch aufgerichtet und bleich, wie wenn sie schon nicht mehr gelebt hätte. Dirndl und Weiberleut schluchzten in ihre Schneuztüchl, aber auch Männern stand das Wasser in den Augen. Fast jedem hatte der Puchinger als Bürgermeister einmal ge holfen. Jetzt lagen er und sein Weib aufgebahrt in der Dorfkirche. Die Deckel der zwei schlichten Fichtensärge waren schon zugemacht und sollten nicht mehr geöffnet werden. Das Schicksal hatte die beiden Lebensbücher für immer geschlossen. Auf der ersten Bank hockte, in sich zusammengefallen, der Fritz. An seiner Seite hielt sich die Susanne grad stocksteif. Als ob sie sich nicht mehr rühren könnte und auch nie wieder reden wollte. Wie die Mutter. In der nächsten Bankreihe saßen die Dienstleute vom Puchinger-Hof. Die Nannerl schaute hilflos und voller Mitleid auf den Fritz. Grad in dieser Stunde spürte sie, daß sie über ihre Lieb zu ihm nie hinwegkommen werde. Auch wenn sie für ihn allerweil nur die lustige, ein bißl leicht fertige Dirn bleiben müßte. Das Kirchenschiff war angefüllt mit Menschen, die alle ehrlich trauerten. Sie ahnten, daß Geheimnisse ungelöst blieben und bleiben sollten. Im Seitengang standen der Jäger Ulrich Feltinger und sein junges Weib. Sie wagten beide keinen Blick zum Kain Jochen hinüber. Weiterhin trennte sie etwas, das noch lange nicht, vielleicht nie be deutungslos werden konnte. Lautlos bewegte der Jochen die Lippen. Ganz klar schau
te er noch nicht durch alles Geschehene, weil ihm der Fritz nur einiges angedeutet hatte. Aber er sagte zu den zwei Särgen hin: »Ich trag euch nichts nach. Wer frei ist von aller Schuld, könnt euch vielleicht einen Stein ins Grab nachwerfen. Darum darf sich in ganz Roitern keine Hand erheben. Auf der ganzen Welt nicht!« Während der Pfarrer die beiden Toten verabschiedete, flüsterte an der Seite vom Jochen die Lena: »Bürgermeis terin, nie wird man wissen, wieso du in deiner letzten Minute Leben hast vom Rollstuhl bis zur Tür gehen kön nen. Deinem toten Mann entgegen. Hast mit ihm fortge hen wollen! Ich möcht meinen Jochen auch so lieb haben können!« In einem fast endlos langen Zug folgte das ganze Dorf den beiden Särgen. Nur weil der Fritz die Susanne beina he mehr trug als stützte, erpackte sie den Leidensweg. Grad noch im letzten Augenblick machte die Nannerl einen Schritt vor und nahm den Arm von der Bauern tochter, denn sonst wäre die schon weit vor dem Fried hofstor zusammengebrochen. Der Schmiedl-Gendarm konnte plötzlich auch nicht an ders. Er zog sein Schneuztüchl heraus und schluchzte los, daß es ihn nur so beutelte. Der Matsching Martha flüster te er zu: »Man ist halt auch nur ein Mensch.« Sogar dem Totengraber-Hias wurde es schwer. Das war wieder so eine Stunde, in der er sich dafür haßte, daß er nicht nach dem Vater ein schlichter Tischler geworden war. Es kam ihm hart an, gleichzeitig Mann und Weib in die Erde hinunterzulassen. So weit er sich zurückerin
nern konnte, war das nur noch bei den Kain-Eltern so ge wesen. Vor ein paar Jahren. Es dauerte ihm auch viel zu lang, bis alle Grabredner ihr Stroh gedroschen hatten und er dem blassen Puchinger Fritz endlich das Schauferl mit der Erde in die Hand drücken konnte. Nach diesem Doppelbegräbnis machte der FriedhofsWirt das Geschäft seines Lebens. Der Hämmerl hatte zu Ehren des toten Freundes seine »Goldene Gams« ge schlossen und kostete beim Konkurrenten an der Fried hofsmauer allen Wein durch. Lauter gepantschtes Zeug! Aber mit der Zeit wurden die Leut auch davon lustiger. Das Leben muß allerweil über den Tod siegen und wei tergehen! »Nach dem Winter weckt Frühlingssonne die schlafende Erde zu neuem Leben!« sagte der Herr Lehrer. Da legte der Jochen dem Fritz seinen Arm um die Schul tern und sagte: »Hörst es, Fritz! So gesehen, gibt es den Tod eigentlich gar nicht!« Im Extrastüberl stimmten ein paar Männer ein schönes altes Volkslied an. Kein trauriges, sondern eines, das mahnte, man sollte das Leben leben, weil unausbleiblich eines Tages der Schnitter mit der Sense kommen werde. An den Schluß gehörte dazu ein fröhlicher Juchzer. Wenige Monate später wurde es wieder Frühling im Tal unterhalb des Siebenstein-Kammes. Eines Tages, als der Jochen mit der Lena vom Feld heim kam, hörte er von seinem Hof her ein erbärmliches Quiet schen und Klagen. »Woher kommt das?« fragte er die Steinegger-Mahm, die
mit einem bittergrantigen Gesicht an der Haustür stand. »Hast nicht vorhin den Totengraber-Hias gesehen?« greinte sie. »Was der B’suff anderswo nicht los wird, bringt er noch allerweil bei dir an. Schaust halt, was dort im Körbl liegt!« Der Jochen und die Lena knieten sich neben dem Korb auf die Steinstufe, und als sie das Tuch wegzogen, sahen sie im Stroh ein winziges bißl Leben liegen. »Mein Gott, ist der lieb!« rief die Lena. Der Jochen brachte nicht so schnell ein Wort heraus. Da stellte sich die Mahm zu ihnen. Jetzt huschte sogar ein gutes Lächeln über ihr Gesicht. »Der Prenner Hias hätt ihn erschlagen und zum Schinder nach Siebenstein brin gen sollen. Da hab ich halt gesagt... « Grad andächtig hob der Jochen den kleinen Hund mit dem viel zu großen Fell aus dem Korb. Bestimmt nichts Reinrassiges, das sah man gleich. Ein Köter, in dem viel Hundeliebe zu einem neuen Lebewesen geworden war, mit Schlappohren und einem aufwärts geringelten Schwänzchen. Der Jochen sagte: »Geh, den muß man gleich liebhaben.« Die Lena legte den kleinen seidenweichen Kerl an ihre Wange und flüsterte: »Weißt was, Hund, du sollst Lutzl heißen.« »Das nicht!« fuhr der Jochen heftig drein. Von dem er staunten Blick der Lena wurde er verlegen, aber er blieb dabei: »Unter einem Lutzl stellt man sich einen mächti gen, schönen und starken Hund vor. Ich hab den Ver dacht, daß der Pinschpudeldackel krumme Haxen krie
gen und allerweil so verreckt klein bleiben wird.« Die Lena schüttelte enttäuscht den Kopf. Weil der Welpe gerade gähnte, sagte sie vorwurfsvoll: »Schau, er kränkt sich schon und weint!« »Alsdann, meinetwegen«, gab der Jochen nach. »Heißt du halt Lutzl. Aber eines bitt ich mir aus: An die Kette kommt der mir nie!« Das Leben in Roitern lief in seinen gewohnten Bahnen weiter. In den Vorgärten auch der kleinsten Bauernhäu ser blühte erst der Flieder, dann kamen die Sommerblu men. Astern kündeten an, daß sich das Jahr mit dem Herbst seinem Ende zuneigen werde. Winter und wieder Frühjahr! Da heiratete der Fritz Puchinger seine Dirn, die Nannerl. Das ganze Dorf freute sich mit ihm, und diesmal machte der Wirt von der »Goldenen Gams« das große Geschäft. Ein guter Wirt war er schon immer gewesen, und im letz ten bitteren Jahr hatte er auch als Ehemann einiges dazu gelernt. Er rief seine Erna nicht mehr mit einem Finger schnalzer, aber sie kam zu ihm, sobald sie ihm einen Wunsch von den Augen ablas. In ihre Dirndlblusen hatte sie Schnürl eingezogen, mit denen sie den Ausschnitt ganz klein zusammenziehen konnte. Bei der großartigen Hochzeit kamen alle auf ihre Rech nung und waren glücklich. Nur die Steinegger-Mahm keifte den Kain mitten auf dem Festplatz an: »Du bist mir schon ein Lotter! Wie du noch ein armer Teufel gewesen bist, hättest du’s mit dem Heiraten nicht erwarten kön nen. Seit der Kain-Hof recht gut dasteht, machst du den
Mund nicht mehr auf. Alsdann sag ich: Höchste Zeit für den Pfarrer!« Auf diese etwas ungewöhnliche Weise gab die Alte end lich ihre Zustimmung zu seiner Hochzeit mit der Lena. Vor allen Leuten stieß der Jochen einen Juchzer aus, daß es sie nur so herumriß. Dann packte er die Mahm, schleppte sie auf den Tanzboden und wirbelte sie im Kreis herum. Erst wehrte sie sich kreischend, aber zum Schluß gestand sie sogar: »Sakra, Teufel eini! Ich hab schon ganz vergessen, wie das tut, wenn man mit so ei nem g’standenen Mannsbild tanzt!« Schon am nächsten Tag gingen der Jochen und die Lena zum Pfarrer Wandl und bestellten das Aufgebot. Der Hochwürden klopfte in seiner bewährten Art auf den Busch: »Eigentlich hab ich euch schon lang erwartet, wenn ihr doch unter einem Dach haust... « Da legten die Lena und der Jochen ihre Beichtzettel aus der Kirche von Siebenstein auf den Tisch. Aber noch kam der geistliche Herr nicht dazu, die Daten fürs Aufgebot einzuschreiben. Im nächsten Augenblick stürzte nämlich der Ulrich Feltinger in die Sakristei und schrie schon von der Tür her: »Hochwürden, du mußt gleich zu uns hin auskommen! Wir haben grad den zweiten Buben ge kriegt, die Steffi und ich. Du sollst dich beeilen!« Der Pfarrer erschrak. »Gar eine Nottauf? Feltinger, hat’s was mit deinem Weib?« »Nottauf? Gar nie, Hochwürden! Was ein Jager macht, ist gut gemacht!« protzte er. »Aber die Nachbarinnen sind schon ’kommen, die Hebamm auch. Da gibt’s ein Festes
sen, und du mußt auch dabei sein. Hat die Steffi gesagt!« Verständlich, daß der Pfarrer Papier und Feder wieder ins Fach legte. Zum Jochen sagte er: »Die Pflicht ruft mich zur Feltinger Steffi! Die Einladung zu guten Men schen darf man nie ausschlagen, weil man sie kränken tät! Hast mich?« Im nächsten Augenblick packte den Jochen der helle Wahnsinn. Er verstellte dem Jäger den Weg und hielt ihm die Hand hin: »Glückwunsch, Ulrich.« Der Feltinger schnaufte ein bißl befangen, dann schlug er ein. »Dank dir, Jochen.« Und aus diesem schönen Gefühl heraus fragte er halb hoffend, halb zweifelnd: »Tätst mir am End gar als Taufpate gehen? Eines sag ich dir gleich: Mein zweiter Bub wird nach meinem toten Bruder Ru pert heißen!« Der Jochen nickte und konnte noch immer lächeln. »Gilt! Rupert ist ein schöner Name, und ich mach dir den Tauf paten. Da fällt mir grad ein: Ich tät bald einen Trauzeu gen brauchen. Wenn du ... ?« »Gern, Jochen!« Nicht zuletzt wegen dieser Versöhnung wurde die Hoch zeit vom Kain mit der Steinegger Lena das schönste Fest in Roitern. Jetzt gab es niemanden mehr im Dorf, der dem anderen auch nur heimlich feind gewesen wäre. Auf den Gräbern draußen wuchsen Blumen, nahe beim großen Kreuz genauso wie hinten im letzten Winkel an der Friedhofsmauer. »In guten wie in schlechten Zeiten!« verlangte der Herr Pfarrer. Das versprach der Jochen seiner Lena. »Ja«, schluchzte dann sie so arg heraus, daß sogar der
geistliche Herr das kleine Lächeln auf seinem feierlichen Gesicht nicht verstecken konnte. »Weinende Braut, glückliches Weib«, flüsterte die Mat sching Martha gerührt und wischte sich mit dem Schneuztüchl über die Augen. Inzwischen mußte der Jo chen die Lena busseln. Mitten in der Kirche, wo ihnen alle Leute zuschauten! Dann ging das Glückwünschen los. Nur die Steinegger-Mahm blieb zusammengesunken auf ihrer Kirchenbank hocken und konnte sich vor lauter Trenzen nicht erfangen. Das Festessen beim Gamsl-Wirt zahlte der Puchinger Fritz. Er ließ es sich nicht nehmen und blieb dabei: »Du bist mir allerweil der beste Freund gewesen, Jochen. Und heute hab ich dir mit der Lena das beste Weib zuführen dürfen. Wenn das kein Grund ist!« Der Jochen nickte. »Manchmal bin ich ganz deppert vor dem Altar gestanden. Ein Glück, daß mir mein Trauzeu ge, der Ulrich, rechtzeitig eingesagt hat, was ich machen muß!« Die Gaststube, die zwei Extrazimmer und der große Festsaal in der »Goldenen Gams« waren angestopft mit Menschen. Unzählige Reden wurden gehalten, vom Pfarrer und Lehrer bis zum Schwaleck-Bauern, der sich schon allerweil zu den besten Freunden vom Kain ge zählt hatte. Im allgemeinen Festtrubel fiel es zuerst dem Jochen auf. Er flüsterte der Lena zu: »Schau dir die Puchinger Susann an. Die tanzt schon den ganzen Abend mit dem Seegru ber Hannes! Witwer! Du, ich krieg wieder Hoffnung, daß sie doch keine Federfuchserin werden muß. Wenn sie
den Hannes lieb hat, geht sie mit ihm auch auf seinen Einschichthof und dankt dreimal täglich dem Herrgott für so ein glückliches Schicksal!« Die Lena lispelte zurück: »Ich tät sagen, die hat ihn lieb! So rote Wangen hab ich an der Susann noch nie gesehen. Grad bildsauber ist sie geworden.« »Aber für mich bleibst du allerweil die schönste!« sagte er ihr ins Ohr. Und noch etwas dazu, worauf sie beinahe ebenso rot wurde wie die Susanne. Eine halbe Stunde später schreckte alle der Ruf auf: »Die Lena ist verschwunden!« »Verschwunden? Nein!« Auf so vielen Hochzeiten hatte der Jochen schon getanzt, aber jetzt fand er sich nicht gleich zurecht. Die Angst von damals hockte ihm noch al lerweil in der Seele. »Sie wird doch nicht... « Die Burschen brachen in ein übermütiges Gelächter aus. »Du Depp! Gestohlen haben sie deine Braut! Alsdann, geh sie suchen!« Vom Gamsl-Wirt aus setzte sich ein langer Zug von Mannsbildern in Bewegung, und ein paar ganz freche Dirndl hielten mit. Gab das eine Gaudi! Zum Glück stan den in Roitern nur zwei Wirtschaften, und so kam der Friedhofs-Wirt auch noch zu einem Geschäft. Zwanzig Leute oder noch mehr mußte der Jochen freihalten, aber die Lena fand er dort nicht. Nachher zog die ganze Ge sellschaft durch die Weinkeller der Bauern, von einem zum anderen. Akkurat auf dem Puchinger-Hof fand er sie dann! »Gott sei Dank!« flüsterte er ihr zu und busselte sie ab.
»Wir dürfen einander nie wieder verlieren.« »Nie mehr«, versprach sie ihm. In einem unbeobachteten Augenblick gingen sie über den Wiesenweg fort. Er mußte sich nicht mehr ängstlich um schauen, und um sie war nur noch das geheimnisvolle Flüstern der Natur. Da ahnten sie das Glück, das ihnen nun lebenslang bevorstünde. Je näher sie dem Hof ka men, desto feierlicher fühlten sie sich. Wie hätten sie auch ahnen können, daß gleich zweierlei sie in Schrecken versetzen würde. Schon als sie das Hoftor aufmachten, stürzte ihnen ein Ungeheuer entgegen, groß und stark, mit Schlappohren und mächtigen Fangzähnen. Das bellte und verlangte, von beiden gestreichelt zu werden. Erst nachdem sie das geschafft hatten, konnten sie ins Haus gehen. »Hab ich dich lieb, Lena«, flüsterte der Jochen wieder sei ner jungen Frau zu. »Kommst in die Brautkammer?« »Endlich Mann und Frau!« Sie busselte ihn so sehnsüch tig, daß ihm ganz heiß wurde. Aber im nächsten Augenblick brach ein wüstes Geschrei los. Die alte Steineggerin stand an der Kammertür. Bald grollte sie tief, bald kreischte sie hoch: »Das mag ich! Zu den Feiglingen gehörst auch noch, Kain ! In der Hoch zeitsnacht recht lang saufen und feiern mit den Freun derln! Fast bis zum Morgengrauen. Lena, ich hab dich schon allerweil gewarnt vor dem!« Erst nachdem sich der Schrecken ein bißl gelegt hatte, busselte der Jochen die alte Mahm, bis sie nur noch schwach greinen konnte: »Nicht mich sollst halsen, du
Lapp! Meine Lena wartet. Und ein Bub soll’s werden!« »Meine Lena!« verbesserte er sie. Dann packte er seine Frau und trug sie über die Schwelle in die Brautkammer, wo schon ganz prächtig aufgebettet war. ENDE