Pest. Der Schwarze Tod. Verflucht, das kann nicht sein, grübelte Travis. Die wurde doch im frühen Mittelalter durch Rat...
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Pest. Der Schwarze Tod. Verflucht, das kann nicht sein, grübelte Travis. Die wurde doch im frühen Mittelalter durch Ratten übertragen, oder? Aber bei den modernen Installationen, der Kanalisation und Sauberkeit des Stadtlebens – nein, es war etwas anderes. Vielleicht etwas, das in jenem abgebrannten Gebäude hergestellt wurde. Vielleicht hatten die dafür Verantwortlichen das Haus in Brand gesteckt, um zu versuchen, die Keime zu zerstören, bevor sich noch mehr Menschen infizierten. Aber das war bereits geschehen! Die Seuche hatte sich schon ausgebreitet – und ein gewisser Gibson Travis sowie ein Polizeibeamter namens Tomkins, nicht zu vergessen Mac, der Fahrer, sowie all jene, die das Haus durchsucht hatten, waren gefährdet. Panik überkam ihn. Verflucht, er war doch nicht krank – oder nur noch nicht?
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31014 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE HAPLOIDS Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gudrun Faltermeier Umschlagillustration: Dell Umschlaggraphik: Herbert Göllnitz Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1952 by Jerry Sohl Printed in Germany 1980 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31014 1
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sohl, Jerry: Die Haploiden: Science-fictionRoman/ Jerry Sohl. Hrsg. von Walter Spiegl. [Aus d. Amerikan. übers. von Gudrun Faltermeier]. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1980. (Ullstein-Bücher: Nr. 31014: Science-fiction) Einheitssacht.: The haploids «dt.» ISBN 3-548-31014-1
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher Der Zeitauflöser (3564) Unsichtbare Herrscher (31003) Der schleichende Tod (31009) Costigans Nadel (31011)
Jerry Sohl
Die Haploiden SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
Science Fiction
1 Er erlebte es mit, wie sie den schreienden Mann hereinbrachten. Zuerst hörte man ihn kaum, und er fragte sich, aus welchem Teil des Krankenhauses die Schreie wohl kommen mochten. Aber als sich auf seiner Etage die Aufzugstüren öffneten, gellten die Schreie des Mannes mit voller Lautstärke durch den Korridor. »Laßt nicht zu, daß sie mich zurückbringen! Laßt es nicht zu! Bitte! Bitte!« Es war eine durchdringende, ängstliche Stimme, und Gibson Travis erschütterte deren Lautstärke. Welches Erlebnis konnte soviel Furcht hervorrufen? Travis drückte die Zigarette im Aschenbecher neben seinem Bett aus, ging zur offenen Zimmertür und lehnte sich gegen den Pfosten. Sechs Pfleger hielten einen alten Mann an Armen und Beinen fest und fuhren den schreienden Greis, der sich auf der Bahre hin- und herwarf, den Gang hinunter. Gibson Travis machten die schrillen Schreie so nervös, daß er die Haut des Mannes erst bemerkte, als die Gruppe an seiner Tür vorbeizog. Der Körper des Mannes war ein fleckiges Grau. Travis kehrte zum Bett zurück und setzte sich auf die Kante. Seine Hände zitterten, während er sich ei-
ne neue Zigarette anzündete. Innerhalb weniger Minuten verstummten die Schreie. Travis entspannte sich wieder und überlegte, wie es wohl die anderen Patienten auf dieser Station aufgenommen hatten. Was für eine Behandlung konnte man jenem komischen alten Kauz zukommen lassen, um die fleckige, graue Haut zu heilen? Fleisch mit unregelmäßig auftretenden, rötlichbraunen Stellen und einigen bläulichen Flecken. Travis bekam eine Gänsehaut, wenn er daran dachte. Krebs? Schuppenflechte? Impetigo? Falls es Krebs war, hatte der alte Knabe ausgesorgt. Travis hatte nie jemand mit Krebs gesehen, und jetzt – während er darüber nachdachte – wunderte er sich, wie von der Öffentlichkeit isoliert, die Krebskranken lebten. Was Schuppenflechte und Impetigo anging, so verwarf er beide, weil er solche Fälle kannte. Er unterzog die Kontakte mit Kranken während der dreißig Jahre seines Lebens noch immer einer Revision, als Hal Cable eintrat. »Vermutlich setze ich mein Leben aufs Spiel, weil ich herkam«, scherzte Hal und angelte sich einen Stuhl; er war von den drei Treppen hier herauf völlig außer Puste. »Du sagtest, du wolltest niemand sehen.« »Das hat der Arzt vorgeschlagen«, erwiderte Travis lächelnd. »Aber nach neun Tagen bin ich froh, daß jemand genügend Mut besaß, mich zu besuchen.«
»Prima«, brummte Hal und ließ seine zweihundertfünfundzwanzig Pfund in den Sessel fallen. »Wieviel Tage bleiben dir noch.« »Der Arzt meint, daß ich morgen früh gehen kann.« Travis musterte ihn forschend. »Bist du bloß aus Freundschaft gekommen, oder gibt es noch einen anderen Grund?« Statt einer Antwort zog Hal eine Zigarre heraus. »Darf ich rauchen?« Als Travis nickte, biß er die Zigarrenspitze ab, zündete sie an und sah sich im Zimmer um. »Ganz hübsch für ein Krankenhaus. Vorhänge, Jalousien, Bücherregale, Radio, Telefon –« »Es ist nicht angeschlossen.« »Kein Wunder, daß dich Cline nicht erreicht hat.« »Ich wußte doch, daß du noch was anderes auf dem Herzen hast. Raus mit der Sprache.« Hal streifte sorgfältig seine Zigarre am Aschenbecher ab, dann musterte er das glimmende Ende. »Cline will dich wieder. Ihm gefällt es nicht, daß du dich über seinen Kopf hinweg ein Jahr lang beurlauben lassen willst.« »Also das ist es.« Travis sank in die Kissen zurück. »Geh zurück und sag dem Lokalredakteur –« »Ich sag ihm gar nichts«, unterbrach ihn Hal. »Er möchte, daß du hinunterkommst und mit ihm sprichst.« »Hör mal, Hal«, bat Travis und richtete sich wieder
auf, »es gibt auch in anderen Berufen Beurlaubungen. Ich seh nicht ein, warum sie im Journalismus nicht möglich sein sollten. Ich bin seit zehn Jahren beim Star und hatte jährlich nur den regulären Urlaub. Jetzt bin ich dreißig – Menschenskind! Es wird langsam Zeit, die Dinge verstehen zu lernen.« »Aber du hast doch Erfolg, Trav. Täglich Verfasserangaben; du wirst hin und wieder als Redner herangezogen. Und was ist mit dieser Rundfunksendung, die du abgelehnt hast?« Travis schüttelte den Kopf. »Vermutlich findest du es komisch, Hal, aber ich bin anders als du. Sicher liebe ich meine Arbeit. Ich fing als Laufbursche an und war glücklich, bis ich etwas anderes zu wollen begann. Dann rackerte ich mich ab und wurde Schutzmann. Polizei, Rathaus, Justizgebäude. Jetzt verfaß ich Spezialartikel. Jeder Beruf machte mich glücklich, aber mich hat immer wieder etwas anderes gereizt –« »Was willst du jetzt?« »Ich weiß nicht, Hal. Ich weiß es einfach nicht.« »Vielleicht willst du Lokalredakteur werden?« Travis lachte. »Wirklich ein drolliger Gedanke, Hal. Verflucht, Cline bleibt Lokalredakteur, bis er verdorrt und abkratzt.« »Nun, dann vielleicht Schriftleiter?« »Nein.« Travis starrte nachdenklich in eine Zimmerecke. »Ich war überrascht, als ich entdeckte, daß
ich nicht Schriftleiter werden wollte. Keine Ahnung, warum. Ich muß herausbekommen, was ich will. Andernfalls hänge ich nur irgendwie ziellos im Raum.« »Tja, warum gehst du dann nicht hinunter und sagst es Cline selbst?« »Nichts zu machen. Parsons ließ mich gehen, und ich bleibe ein Jahr lang fort. Das kannst du Cline ausrichten.« »Es wird ihm nicht gefallen.« »Das schert mich einen Dreck.« »Schon gut, schon gut.« Hal stand auf und stäubte ein wenig Asche von seinem Mantel. »Muß zurück in die Dunkelkammer. Es kommt noch Material rein. Die Jungs haben mich unterwegs abgesetzt. Ich werde mir für die Rückfahrt ein Taxi nehmen.« Travis schwang die Beine über die Bettkante. »Ich begleite dich den Gang hinunter.« Er zog seinen Morgenmantel und Pantoffel an. »Komisch«, bemerkte Hal, während sie den Korridor entlanggingen. »Was?« »Oh, daß du denkst, du seist in Schwierigkeiten. Du solltest mal meine Sorgen haben.« »Zum Beispiel?« »Kindern das Fotografieren beibringen. Wir haben einen neuen Schub bekommen. Ich sag dir, schrecklich.«
»Ich hab dich immer für einen geduldigen Mann gehalten, Hal. Bekommst du jetzt vielleicht Nerven?« »Nein, das glaub ich nicht. Es ist nur – nun, zwei vergaßen zum Beispiel, die Klappe zu öffnen. Der ganze Film geschwärzt. So eine grundlegende Sache. Ich kann es ihnen irgendwie einfach nicht eintrichtern. Haben uns alle damit angesteckt.« »Das ist entmutigend.« »Schlimmer als das. Nun, wie willst du's in diesem Jahr halten? Wirst du mit der Abteilung in Verbindung bleiben?« »Hab mich noch nicht entschieden – Aber da ist etwas, Hal.« »Ja?« Sie blieben neben der Treppe stehen. »Wenn ich dich sehen will, kann ich dich doch anrufen, ja?« »Wenn du's so haben willst, Trav.« »So will ich es. Vielleicht möchte ich dich sehen; vielleicht auch nicht.« »Du bist mir nicht böse?« »Natürlich nicht, Hal. Ich ruf dich wahrscheinlich bald an, und wir machen einen drauf.« »Abgemacht.« Hal Cable stieg die Treppe hinunter. Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer drang langsam die Ruhe auf dem Krankenhausflur in sein Bewußtsein. Der Gang war leer, aber am unteren Ende brannte
Licht im Schwesternzimmer. Auf dem Linoleum gab es ein paar helle Vierecke vor einigen Türen, denn die Lampen waren abgeblendet und die Nachtbeleuchtung an den Fußleisten eingeschaltet worden. Während er weiterging, fragte sich Travis, wie er wohl sein dienstfreies Jahr zubringen würde. In diesem Jahr mußte er seine Fähigkeiten erkennen, sein Zaudern abschütteln und einen Lebenssinn finden. Brauchte er eine Frau? Travis lächelte nachsichtig. Frauen waren kein besonderes Problem gewesen. Vielleicht hatte er einige auf gewisse Weise geliebt, aber nicht stark genug, um eine davon täglich vierundzwanzig Stunden um sich zu dulden. Nachts ja, doch nicht am Tag. Die meisten schienen ziemlich selbständig zu sein, und er bezweifelte, ob auch nur in einem einzigen Fall einer von beiden dem anderen viel hätte geben können. Nein, eine Frau war es nicht. Eine Lebensaufgabe? Hingabe? Das kam der Sache schon näher. Er war so in Gedanken und bemerkte deshalb erst, als er den Kopf hob, daß er an seiner Tür vorbeigelaufen war. Statt aber umzukehren, ging er weiter den Korridor hinunter in Richtung Schwesternzimmer. Weder Mrs. Nelson, die Oberschwester, noch Schwester Pease waren da. Deshalb schlenderte Travis weiter, bog um die Ecke, blickte unterwegs in die Zimmer und erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Pati-
enten: einen lesenden Mann; eine alte Frau, die sich das Haar kämmte; ein schlafendes Mädchen. Er blieb stehen, als er in Zimmer 326 den alten Mann entdeckte, der vor einer halben Stunde so geschrien hatte. Er atmete jetzt mühsam, hatte aber die Augen offen. Es war noch jemand bei ihm im Zimmer, denn Travis hörte das Klirren von Gläsern oder Instrumenten, aber die Person befand sich außerhalb seines Gesichtskreises. Das alte Fleisch schien dunkler geworden zu sein als zuvor, was die roten Flecken noch leuchtender aussehen ließ. Jetzt befanden sich auch einige häßliche, purpurrote Stellen darunter – die meisten am Hals. Der Mann ist bald am Ende, dachte Travis. Hoffentlich hat er keine Schmerzen. Travis setzte seinen Spaziergang fort, brachte aber für die anderen wenig Interesse auf, weil ihm das Bild des Mannes nicht aus dem Kopf ging. Es war ein gütiges Gesicht mit einem beherzten Kinn und weißem Haar. Während Travis es im Rückblick untersuchte, kam er zu dem Schluß, daß der Mann bewußtlos gewesen sein mußte: seine glasigen Augen hatten zur Decke gestarrt, und die Oberlippe war ein wenig über die Zähne zurückgetreten. Jetzt vernahm Travis wieder den rasselnden Atem des Greises. Er drehte sich um und steuerte ein wenig schneller seinem Zimmer zu. Er hatte gerade die Tür zum Zimmer des Alten er-
reicht, als ein rothaariger Assistenzarzt, den er als Dr. Collins kannte, herauseilte und fast mit ihm zusammenstieß. »Entschuldigung«, bat der Assistenzarzt. »Ich habe Sie nicht gesehen.« »Schon gut, Herr Doktor«, winkte Travis ab. Sie gingen zusammen den Flur hinunter. »Wie geht's dem alten Sorgenkind?« Der Assistenzarzt blickte ihn forschend an. »Nicht allzu gut«, antwortete er. »Was fehlt ihm denn?« »Ich weiß es nicht.« »Hören Sie mal«, sagte Travis. »Ich bin nur ein Patient, werde morgen entlassen und würde es wahrscheinlich gar nicht verstehen, wenn Sie's mir sagten. Ich fragte mich nur, ob es Krebs ist.« »Das glaube ich nicht«, verneinte der Assistenzarzt. »In Wirklichkeit scheint niemand zu wissen, was ihm fehlt, falls das Ihre Frage beantwortet.« »Wo haben Sie ihn denn abgeholt?« »Ich hatte nichts damit zu tun. Man teilte mir mit, die Polizei hätte ihn nackt auf der Straße gefunden.« Sie blieben beim Schwesternzimmer stehen, und der Assistenzarzt hängte das Kurvenblatt auf. »Klingt wie ein Fall von Geisteskrankheit.« Der Arzt schürzte die Lippen. »Vor wenigen Minuten war er nicht geisteskrank.«
»Nicht?« »Bitte entschuldigen Sie mich jetzt«, bat er. »Ich muß mich noch um andere Patienten kümmern.« Er eilte den Flur entlang. Travis schlenderte zu seinem Zimmer zurück, zündete sich eine Zigarette an und trat ans Fenster. Im Hof bestiegen die letzten Besucher ihre Autos und fuhren davon. Für einige von ihnen ist es vielleicht das letzte Mal, dachte er, wenn ein Freund oder Verwandter die Nacht nicht überlebt. Während er den Hof beobachtete, sah er einen großen, schwarzen Wagen rasanter einschwenken, als dies ein Auto tun sollte. Er wurde nur wenige Zentimeter vor einem eisernen Zaun scharf abgebremst, und die Scheinwerfer erloschen. Gleich darauf stieg ein Mädchen aus, öffnete unter der einsamen Hoflaterne die Handtasche und schien zufrieden mit dem, was sie sah; dann steuerte sie auf den Eingang der Unfallstation los. Sie war seinem Sichtbereich entschwunden, und Travis fragte sich, wohin sie wohl gehen mochte. Da hörte er ein Geräusch, das ihn dazu veranlaßte, sich nach seiner Zimmertür umzudrehen. Jemand stieg schnell die Treppe herauf. Travis ging zur Tür und dachte dabei, daß er in letzter Zeit einem alten Weib ähnlich wurde: immer neugierig, was die Nachbarn tun.
Er streckte den Kopf hinaus, als die Schritte auf der letzten Stufe erklangen, und entdeckte das Mädchen, das gerade aus dem Wagen gestiegen war. Sie stand im Treppenhaus und blickte in die andere Richtung. Travis zog sich in sein Zimmer zurück. Dann hörte er das eilige Klappern ihrer hochhackigen Schuhe, während sie von ihm und der Treppe fort den Flur hinabging. Er riskierte einen zweiten Blick. Das Mädchen trug einen dunkelblauen Hut und einen dunklen Mantel. Unter dem Hut fiel hellblondes Haar auf die Schultern. Travis registrierte mit Vergnügen die schlanke Taille, die wohlgeformten Beine und die genau richtigen Fesseln. Wenn sie von vorn einen ebenso hübschen Anblick bot – Das Mädchen erreichte das Ende des Ganges; im Vorbeigehen sah sie in die Zimmer. Dann drehte sie sich um und kam auf Travis zu. Dieser pfiff in Gedanken. Die Vorderansicht war genauso hübsch wie die von hinten. Der kecke Hut ließ ein ovales Gesicht hervortreten, ein niedliches Kinn, einen weißen Hals und den schönsten Mund, den er je gesehen hatte. Die Verzückung über etwas nicht in Weiß Gekleidetes ließ Travis verweilen, und sie hatte ihn erreicht, bevor er sich taktvoll zurückzuziehen vermochte. Sie entdeckte ihn erst im letzten Moment, so beschäftigt war sie damit, in die Zimmer zu schauen. Als sie ihn ansah, bemerkte er, daß ihre Augen ganz
ernst waren. Sie besaßen ein hübsches Blau, blickten aber weder neugierig noch freundlich. Eine Entschlußkraft stand darin, die den schon halb auf der Zunge liegenden Gruß verstummen ließ. »Kann ich Ihnen helfen?« hörte er sich statt dessen fragen. Ihre Augen ruhten einen Moment auf ihm, ehe sie an ihm vorbei in sein Zimmer schweiften. Offensichtlich zufrieden, daß sich sonst niemand darin befand, trippelte sie schweigend an ihm vorbei; ihre Absätze klapperten entschlossen. Travis beobachtete sie. Sie machte beim Schwesternzimmer nicht Halt, obwohl er sah, daß dort Mrs. Nelson und Miss Pease standen und ihr nachschauten. Dann tuschelten sie miteinander. Das Mädchen bog um die Ecke. Weil sein Interesse geweckt war, folgte er ihr den Gang hinunter und grüßte die Schwestern mit einem Kopfnicken, als er an ihrem Aufenthaltsraum vorbeikam. Das Mädchen war nirgends zu sehen. Travis eilte den Korridor entlang. Obwohl er in jedes Zimmer blickte, ahnte er, daß er es auf 326 finden würde. Er behielt recht. Travis ging schnurstracks hinein, aber das Mädchen sah ihn nicht, so sehr nahm sie ihre Tätigkeit in
Anspruch. Sie hatte die Handtasche geöffnet und kramte darin herum. Dann sah er sie zu seiner Überraschung eine Spritze herausziehen und sich dem Bett nähern. Travis bemerkte verblüfft, wie sich der alte Mann umdrehte und das Mädchen anblickte. Dann riß er die Augen weit auf, sein Mund bewegte sich lautlos. Der Greis versuchte zu sprechen, aber der einzige Laut war ein heiseres, sinnloses Wispern. Das Mädchen zögerte einen Augenblick. Dann fuhr ihre Hand unter den Arm des alten Mannes und hob diesen der Nadel entgegen. Im selben Moment war Travis bei ihr. Er schlug auf die Hand mit der Spritze, aber obwohl sie unliebsam überrascht wurde, ließ das Mädchen sie nicht fallen. Sie drehte sich ihm zu, und er erkannte den größten Abscheu in ihren glitzernden blauen Augen. Sie riß sich von ihm los, war dann wieder über ihm und gebrauchte die Spritze wie einen Degen. Er wehrte den Hieb mit dem Unterarm ab und packte ihren zustoßenden Arm mit der anderen Hand; einen Augenblick später ließ er wieder los, als sie die Zähne in sein Handgelenk grub. Er wurde massiver und schlug hart auf den Arm mit der Spritze. Diese segelte in hohem Bogen durch die Luft und zerschellte am Boden. Das Mädchen griff ihn an, und der Schmerz an je-
ner Stelle, wo ihre Zähne eingedrungen waren, machte ihn so wütend, daß er ihren Arm grob packte und die um sich tretende und kratzende Gestalt festhielt. Er hoffte, sie so lange halten zu können, bis sie sich beruhigt hatte. Sie atmete jetzt heftig. Plötzlich traf ein kräftiger Tritt sein Schienbein, und er stöhnte gequält auf. Das kurze Lockern seines Griffs genügte ihr. Sie stieß ihn fort und fiel beinahe zu Boden in ihrer Hast, von ihm weg und aus dem Zimmer zu kommen. Sein Schienbein schmerzte so sehr, daß Travis mit diesem Fuß fast nicht auftreten konnte. Aber er humpelte eilig zur Tür, als gerade die beiden Schwestern herbeirannten. »Dieses Mädchen –«, begann er und versuchte an den Schwestern vorbeizukommen. »Mr. Travis!« Miss Pease hatte die Hand auf seinen Arm gelegt und versperrte ihm mit ihrem Körper den Weg. »Sie sollten doch auf Ihrem Zimmer bleiben. Was um alles in der Welt ist hier vorgegangen?« »Um Himmels willen, lassen Sie mich dieses Mädchen fangen!« schrie er, riß sich los und zwängte sich an ihr vorbei. Er ging den Flur hinunter bis zur Ecke, doch sie war bereits verschwunden. Er humpelte rasch zum Treppenhaus, hörte aber niemand hinunterlaufen. Dann hinkte er zurück in sein Zimmer und beobachtete durchs Fenster, wie sie zum Wagen rann-
te. Jetzt bestand keine Hoffnung mehr, sie zu erwischen.
2 Eine seltsam gehobene Stimmung begann in seiner Magengrube und breitete sich im ganzen Körper aus. Sie war Travis nicht neu; er wurde hin und wieder davon heimgesucht, seit er Journalist war. Dieses Gefühl bedeutete, daß er nicht eher ruhen würde, bis er für ein gewisses Problem eine Lösung gefunden hatte. Aber diesmal war er darüber ein wenig verdutzt. Gewöhnlich beschränkte sich das Gefühl auf Zeitungsartikel, an denen er arbeitete. Zum Beispiel wurde einmal die gesamte Dienststelle aufgefordert, Vorschläge zu unterbreiten, wie man eine Serie über Dutch McCoy aufziehen könne. Dutch war der Spielerkönig von Union City. Der Verlag benötigte einen Freiwilligen mit einer Idee. Die gleiche gehobene Stimmung stellte sich ein, als Travis die richtige Idee kam. »Ich übernehme die Sache mit Dutch«, sagte er zu Cline. »Du übernimmst sie!« brüllte Cline. »Wer zum Teufel sagt, daß du sie bekommst? Du mußt schon einen Einfall haben. Ich will nicht, daß nur für eine Story einer meiner Jungs abgemurkst wird.« »Ich glaube, den Einfall hab ich. Lassen wir Dutch
doch selbst den Artikel schreiben. Auch mit den Fotos soll er sich beschäftigen.« Clines kräftige Faust donnerte auf den Schreibtisch. Niemand achtete darauf. Es gab eine abgenutzte Stelle, wo die Faust früher schon den Schreibtisch getroffen hatte. »Du willst damit wohl sagen, daß Dutch deinen Nachruf schreiben soll! Von allen einfältigen, schwachköpfigen –« »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Cline«, unterbrach ihn Travis. »Ich muß Artikel liefern, falls Sie sich erinnern. Mich interessiert Ihre Meinung über meine geistigen Fähigkeiten überhaupt nicht. Ich will nur wissen, wann ich anfangen kann und wann Sie die Serie wollen.« Wenn man zehn Jahre bei einer Zeitung ist – genauso lang wie der Lokalredakteur selbst –, gibt einem das das Recht, sich der angewandten Psychologie zu bedienen; wenigstens bei einem Mann wie Cline, den man gelegentlich durch Sticheleien reizen mußte. Lokalredakteur Cline machte seiner Wut laut und ausgiebig Luft. »Na schön«, gab er nach. »Schreib dein eigenes Todesurteil und laß uns wissen, wo wir den literarischen Nachlaß abholen können.« Bei diesen Worten setzte die gehobene Stimmung
mit voller Kraft ein und breitete sich über den ganzen Körper aus. Er lachte jetzt in Erinnerung daran, wie einfach es gewesen war. »Nun, was wittert die Spürnase jetzt?« fragte Dutch McCoy. »Oder weiß es die Spürnase gar nicht? Und weil wir gerade von Nasen sprechen – es scheint, als hättest du auf die deine hübsch aufgepaßt, mein Junge.« »Ich tu mein möglichstes, Dutch«, antwortete Travis, der im Büro des Bonzen auf der Schreibtischkante saß. »Wie wär's, wenn du eine Zeitlang mit mir tauschen würdest?« Dutch richtete seine glänzenden, schwarzen Augen auf Travis: Argwohn stand darin. »Was ist los?« »Ich hab einen ganz verflixten Auftrag, Dutch.« »So? Was hat das mit mir zu tun?« »Alles. Du bist der Auftrag.« Zuerst wurden Dutchs Augen hart. Er schürzte die Unterlippe, und Travis erwartete einen Tobsuchtsanfall. Aber dann besänftigten sich die glänzenden Augen und musterten ihn neugierig. »Warum ich?« »Weil du ein großes Tier bist.« »So? Wer behauptet das?« »Der Star.« Im weiteren Verlauf des Gesprächs akzeptierte Dutch das Angebot. Und als alles vorbei war, wollte er
zweihundert Exemplare der Zeitung, in der der Artikel stand, sowie zwölf Abzüge auf Glanzpapier von jedem Foto, das Hal Cable mit seiner Hilfe geschossen hatte. Die gehobene Stimmung, die Travis empfand, ehe er diesen Auftrag anging, entstand, weil dies ein Prüfstein war. Weil Travis seinen Verstand gebrauchen mußte, um ihn erfolgreich durchzuführen. Jetzt erfüllte ihn wieder der gleiche Auftrieb. Er stand in Schlafanzug und Morgenmantel am Fenster seines Krankenhauszimmers und beobachtete, wie die Rücklichter des Wagens die Ausfahrt hinunter verschwanden. Travis schüttelte den Kopf, wandte dem Fenster den Rücken zu und ging zur Tür. Im Korridor waren alle Lichtvierecke auf dem Fußboden verschwunden – außer dem seinen. Er drehte das Licht aus und trat hinaus. Es war sonderbar ruhig, und im Schwesternzimmer befand sich keine Menschenseele. Travis ging den Korridor entlang und lauschte dabei dem Schlurfen seiner Pantoffel. Er bog um die Ekke der Station und lenkte die Schritte zum Zimmer des alten Mannes. Vielleicht war der Alte wach. Vielleicht hatte das Mädchen darin etwas zurückgelassen, was zu ihrer Identifizierung beisteuern konnte. Als er Zimmer 326 erreichte, waren die beiden Schwestern eifrig damit beschäftigt, darin aufzuräumen.
»Mr. Travis«, mahnte die ältere, Mrs. Nelson, »dies mag ja Ihre letzte Nacht im Krankenhaus sein, aber nur, wenn Sie augenblicklich wieder in Ihr Zimmer verschwinden.« Miss Pease, die jüngere Schwester, kehrte die zerbrochene Spritze auf eine Müllschaufel. »Wie geht's dem Alten –«, begann er und sah dann erschrocken, daß man das Laken über das Gesicht des Greises gezogen hatte. »Er ist tot«, sagte Mrs. Nelson. »Er starb vor wenigen Minuten.« »Das tut mir leid«, bedauerte Travis und blickte sich im Zimmer um. »Möglicherweise war das Mädchen daran schuld. Er hat sich aufgeregt, weil er dachte, sie würde ihm diese Spritze geben.« »Miss Pease und ich waren beide beschäftigt, als sie an uns vorbeiging«, erklärte Mrs. Nelson. »Wir hätten sie aufhalten sollen. Übrigens will sich Dr. Collins mit Ihnen unterhalten.« »Worüber?« »Wir haben ihm von dem Mädchen berichtet.« Travis ging auf das Bett zu. »Darf ich?« »Wenn Sie es vertragen.« Beide Schwestern beobachteten ihn, während er das Laken anhob. Die Haut des alten Mannes war jetzt schwarz. Kohlrabenschwarz. Die roten Stellen
waren geschwollen, und einige davon aufgeplatzt und – der Anblick verursachte plötzlich Übelkeit bei ihm, und er ließ das Laken fallen. Dr. Collins kam den Korridor entlang, als Travis ging. »Sie waren nicht auf Ihrem Zimmer«, tadelte der junge Arzt. »Was hatten Sie in 326 zu suchen?« »Ich wollte nur nachsehen, wie es dem alten Herrn geht.« Sie wandten sich in Richtung seines Zimmers. »Ich habe die Polizei und den Ermittlungsrichter verständigt«, erklärte Dr. Collins. »Man wird mit Ihnen sprechen wollen.« »Man sollte mit dem Mädchen sprechen«, entgegnete Travis. »Mrs. Nelson hat etwas von einem Mädchen und einer Spritze erwähnt. Was soll das Ganze?« »Wie wäre es, wenn Sie mir Bericht erstatten würden?« Sie waren jetzt in seinem Zimmer. Travis zog eine Packung Zigaretten heraus und bot dem Arzt eine an. »Wie wäre es, wenn ich Ihnen über was Bericht erstatten würde?« Travis setzte sich auf sein Bett, seine Beine baumelten über die Kante. »Heute abend erwähnten Sie, der alte Mann habe einen lichten Augenblick gehabt.«
»Vermutlich hätte ich das nicht tun sollen. Mehr darf ich nicht verraten.« »Na schön, treffen wir ein Abkommen. Ich sag Ihnen alles, was ich über das Mädchen weiß. Und Sie berichten mir von dem alten Mann.« Der Assistenzarzt schüttelte den Kopf. »Ich sollte mich nicht darauf einlassen, aber wenn man die Umstände bedenkt – Ja, er hatte einen lichten Augenblick, wenn man es so nennen will. Aber ich fürchte, er war nicht überwältigend licht.« Der Arzt zog ein Stück Papier aus der Brusttasche. »Als ich sein Zimmer betrat, versuchte sich der alte Herr aufzurichten, ob Sie's glauben oder nicht. Dann sah er mich und begann etwas zu murmeln. In seinen Augen stand – eine Art Flehen. Er deutete hierher« – der Arzt tastete nach seiner Brusttasche –, »wo ich diesen Umschlag und einen Füller stecken hatte. Ich zog Umschlag und Füller heraus, reichte ihm beides und mußte die Hülle für ihn abschrauben. Dann begann er etwas auf das Papier zu malen, kam aber nicht weit, weil er seine Bewegungen nicht richtig unter Kontrolle hatte. Er drehte das Papier um und versuchte es noch einmal. Ich half ihm sogar. Er malte die Figur mit diesen Ziffern und wollte noch mehr zeichnen, als er nach vorne fiel und zu keuchen begann. Ich bettete ihn wieder in die Kissen, nahm den Umschlag, verließ das Zimmer und versuchte es
gerade zu enträtseln, als ich mit Ihnen zusammenstieß.« »Lassen Sie mich sehen.« Dr. Collins reichte ihm den Umschlag. Auf der Vorderseite befand sich eine einem Kreis ähnelnde Figur. Auf dieser Seite hatte sich der alte Mann geschlagen gegeben, denn von dem eiförmigen Kreis verliefen Linien in verschiedene Richtungen. Auf der anderen Umschlagseite zeichnete sich die Figur ein wenig deutlicher ab, nur war der Kreis nicht völlig rund und dessen Linie holprig. In der Mitte des Kreises stand »23X«. Die Zeichnung sah folgendermaßen aus:
»Ähnelt einer Schreibmaschinentaste oder einem Tennisschläger«, kommentierte Travis. »Was halten Sie davon?« Dr. Collins zuckte die Achseln. »Ich bin genauso schlau wie Sie. Oh, ich habe solche Symbole in Botanik und Biologie gesehen. Als Junge war ich ganz versessen auf Astronomie. Es kommt mir vor, als hätte es auch in diesem Gebiet eine Bedeutung. Ich kann mich nur nicht daran erinnern, welche. Das müßte ich nachschlagen.« Travis gab ihm den Umschlag zurück.
»Sie wissen noch immer nicht, woran er gestorben ist, oder?« »Ich habe noch nichts über etwas gehört, was den Körper dermaßen angreift«, erklärte Dr. Collins sachlich. »Natürlich bin ich kein Fachmann, habe soeben erst mein Medizinstudium abgeschlossen. Es gibt ähnliche Fälle, aber keinen derartig ausgeprägten und markanten. Ich verstehe nicht, wie er so lange leben konnte. Aber Sie wollten mir doch von dem Mädchen erzählen.« »Ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein«, meinte Travis und schlenkerte mit den Beinen. »Ich stand am Fenster und sah sie in den Hof brausen. Sie war schrecklich in Eile, nach den quietschenden Bremsen zu urteilen. Sie stieg aus, untersuchte ihre Handtasche und betrat das Gebäude. Ich hörte sie auf der Treppe, ging zur Tür und beobachtete sie. Das Mädchen war wirklich eine Augenweide, und ich wollte eigentlich eine witzige Bemerkung machen, als sie an der Tür vorbeirauschte. Sie schien jemand zu suchen. Natürlich erkannte ich später, daß der alte Herr gemeint war. Ich folgte ihr den Korridor hinunter und ertappte sie dabei, als sie ihm gerade die Spritze injizieren wollte. Das kam mir ziemlich ungehörig vor, weshalb ich sie daran hinderte. Statt eine Erklärung abzugeben, begann sie zu kämpfen. Sie tobte wie der Teufel. Ich brachte es fer-
tig, ihr die Spritze aus der Hand zu schlagen, konnte sie jedoch nicht festhalten. Sie versetzte mir einen ziemlich kräftigen Tritt gegen das Schienbein.« Er zog das Hosenbein vom Schlafanzug hoch. Mitten auf dem Schienbein prangte eine mattrote Beule. »Ich erreichte gerade noch rechtzeitig mein Zimmer, um sie im Auto davonfahren zu sehen.« »Sie versuchte, ihn zu ermorden.« »Glauben Sie?« »Ja. Ich lasse eine Flüssigkeitsprobe aus der Spritze untersuchen. Welchen Grund hätte sie sonst gehabt? Nur eins verstehe ich nicht: was zu verraten wollte sie ihn hindern?« »Ich bin, wie Sie schon sagten, genauso schlau wie Sie«, erwiderte Travis. Die Spätnachmittagssonne fiel schräg durchs Fenster in das Büro des Kommissars, und Travis, der fast eine Stunde geschmort hatte, beschloß, seinen Stuhl aus dem Sonnenlicht zu rücken. Die buschigen Augenbrauen von Kommissar Tomkins waren nachdenklich zusammengezogen, und er musterte, seine Pfeife rauchend, den Journalisten. »Dieses Mädchen«, sagte der Polizeikommissar, »ich kann Ihr Verhalten einfach nicht verstehen. Wie sah sie eigentlich aus?« Travis zog an seiner Zigarette, stieß dann langsam den Rauch aus und sah ihm nach.
»Ungefähr einen Kopf kleiner als ich, tadellose Beine, bildhübsche Figur, schulterlanges, blondes Haar, blaue Augen, zarte Züge. Sie trug einen kleinen blauen Hut, sowie einen dunklen Mantel mit Gürtel. Meiner Schätzung nach um die Zweiundzwanzig.« Der Kommissar lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück; seine Augen bohrten sich in die von Travis. »Ziemlich hübsch, hm?« »Zweifellos. Sie besaß das, was ich das gewisse Etwas nennen würde.« »Eins der Mädchen, mit denen Sie verkehren, soviel ich mich entsinne.« »Wie bitte?« »Hören Sie mal, Travis«, brummte der Kommissar. »Ich kenne Sie schon sehr lange. Sie haben uns seit zehn Jahren nichts als Scherereien gemacht. Jetzt sitzen Sie hier und erzählen mir etwas von einem Mädel, das einem alten Herrn eine Spritze verpassen will, gefüllt mit – was war's doch gleich? Strychnin. Verflucht, niemand jagt einem Mädchen aus heiterem Himmel in ein Zimmer nach und hindert sie an einem Mord. Sie müssen gewußt haben, wie der Hase läuft.« »Es war Ihre Idee, mich nach dem Mädchen zu fragen. Ihre und die von Dwight O'Brien.« »Ein Untersuchungsrichter muß jede Einzelheit nachprüfen. Dr. Collins hat O'Brien von dem Mädchen erzählt.«
»Ich hab Ihnen alles gesagt, was ich von ihr weiß, Herr Kommissar. Ich bin ihr nur gefolgt, weil ich auf sie neugierig war; das ist alles.« »Nun, wir halten Sie natürlich nicht fest«, erklärte der Kommissar und klopfte seine Pfeife aus. »Es besteht ohnehin kein Anlaß dazu. Dies ist bloß ein Fall von versuchtem Mord, und wir haben nur Ihre Aussage über die Geschehnisse in jenem Zimmer. Wir werden auch keinen Steckbrief des Mädchens aushängen. Aber zumindest wird man Sie bitten, bei der Gerichtsverhandlung als Zeuge aufzutreten.« »Etwas verstehe ich nicht, Herr Kommissar. Warum sollte O'Brien eine Verhandlung einberufen? Das Mädchen hat den alten Mann doch nicht getötet.« »Nein, aber niemand kann erklären, woran er starb.« »Schwieriger sollte sein, zu erklären, wie er überhaupt leben konnte. Haben Sie ihn gesehen?« »Ich war heute morgen dort. Ein ganz schöner Schlamassel. Komisch, daß die Mediziner im Dunkeln tappen.« »Soviel ich verstanden habe«, sagte Travis, »war er eine Art lebende Eiterbeule oder Krebsgeschwür oder so. Er brach überall zusammen. Innerlich wie äußerlich.« Travis wandte sich zum Gehen, dann drehte er sich wieder um. »Nur noch zwei Fragen. Wie steht's mit den Fingerabdrücken dieses Burschen?«
»Auch hier eine Niete, soweit es uns betrifft. Sein Fleisch verhinderte, wirklich gute abzunehmen, weil es irgendwie glasig war. Aber wenn wir sie nicht haben, bedeutet das noch lange nicht, daß in Washington nichts vorliegt.« »Und was ist mit dem, was er auf das Papier gezeichnet hat?« Kommissar Tomkins seufzte und fuhr mit der Hand in seine Schublade. »Ihr Zeitungsfritzen seid stets hartnäckig, oder? Liegt vermutlich an eurer Ausbildung. Nun, da es nicht veröffentlicht wird, geb ich Ihnen Auskunft.« Er blätterte in den Papieren, die er aus der Schublade geholt hatte. »Letzte Nacht haben wir eine Menge Leute aus dem Bett getrommelt. Professoren, einen Astrologen, einen Geschichtsforscher, einen Chemiker, einen Astronom, einen Biologen, einen Ingenieur – ihnen allen haben wir das Ding gezeigt.« »Und –?« »Nur Geduld. Es ist ein Symbol für die Venus –« »Aha! Raumschiffe und der ganze Krimskrams. Der alte Mann war das erste Opfer einer neuen und schrecklichen Krankheit, die die Venusianer hier eingeschleppt haben.« »Wollen Sie Witze reißen oder meinen Bericht hören?« Der Kommissar legte die Papiere ab und musterte ihn finster. »Schon gut, Kommissar. Tut mir leid. Ich werde Sie
nicht mehr unterbrechen. Stellte mir nur mal eben vor, was der Star mit einer solchen Geschichte anfangen könnte.« »Bei mir läßt sich lieber keiner blicken, oder es kostet Sie den Kopf. Das ist mein voller Ernst! Außerdem hat das Ding noch zahlreiche andere Bedeutungen.« Er nahm die Papiere wieder zur Hand. »Es sei tatsächlich das Symbol für die Göttin Venus, denn die Zeichnung stelle ihren Spiegel – ein Sinnbild für die Venus – dar, behauptete einer der Professoren. Hier wiederum ist es ein Symbol für den Freitag. In der Botanik steht es für eine weibliche Blüte. In der Biologie ist es auch weiblich. Hätte er es umgekehrt gezeichnet, würde es männlichen Organismus, Zelle oder Organ bedeuten. Wären andere, damit übereinstimmende Symbole vorhanden, könnte es bestimmte blühende Pflanzen bezeichnen.« Der Kommissar machte eine Pause. »Und ein Bursche, den wir aufsuchten, sagte, wenn es umgekehrt dargestellt wäre, würde es einem Ankh oder Crux Ansata ähneln, einem alten ägyptischen Symbol für das Leben.« »Fand jemand etwas über die Zahlen und das X heraus?« »Davon hatte niemand eine Ahnung.« »Nun, wie ich die Sache sehe«, sagte Travis, »bedeutet es den Beginn eines interplanetaren Krieges, oder der alte Mann bekam die Krankheit an einem
Freitag, oder er steckte sich an einer Blüte an, oder eine Frau ermordete ihn, oder es ist der Fluch eines alten ägyptischen Grabes!« »Ja, und alles sehr einleuchtend.« »Gewiß. Und lauter ausgezeichnetes Zeitungsmaterial.« »Keinen Artikel, Travis.« »Schon gut, Kommissar. Kein Artikel.« Travis verließ das Büro des Polizeikommissars und ging den Korridor entlang zum diensthabenden Wachtmeister der Schreibstube. »Verdammt, Travis«, begrüßte ihn Wachtmeister Webster. »Wo hast du dich denn rumgetrieben? Hab dich seit Monaten nicht gesehen.« »Du wirst mich ein ganzes Jahr nicht sehen«, antwortete Travis. »Ich bin zur Zeit auf Urlaub.« »Was suchst du dann hier?« »Nur eine kleine Nachfrage.« »Aber sicher. Worum dreht sich's denn?« »Zeig mir deinen Funkstreifenbericht von gestern.« Der Wachtmeister ging in den Funkraum, kam mit einigen Blättern zurück und gab sie ihm. Travis überflog die routinemäßigen Meldungen – und kam schließlich zu dem, was er suchte. 17.33 Uhr. Wagen 302, Ecke Ridgeway und Leland. Nackter Mann. Etwas weiter unten las er einen zweiten Eintrag.
17.42 Uhr. Thompson von 302 meldet, daß der nackte Mann verrückt und krank ist. Ins Union CityKrankenhaus eingeliefert. Es gab keine weiteren Eintragungen hinsichtlich des Mannes. Travis reichte dem Wachtmeister das Verzeichnis zurück, bedankte sich und verließ das Polizeirevier. Er nahm einen quer durch die Stadt fahrenden Bus, stieg an der Leland aus und ging drei Straßen weiter zur Ridgeway. Letztere lag in einer Industriegegend und fungierte als Trennlinie von Fabriken und Wohngebiet, obwohl auch zwischen den Werken einige Häuser standen. Auf der Wohnseite der Ridgeway lag an der Ecke ein kleines Lebensmittelgeschäft, und Travis steuerte darauf zu. Eine beleibte Frau kam aus dem Hinterzimmer des Ladens, um ihn zu bedienen. »Sie wünschen, mein Herr?« »Wissen Sie etwas über den alten Mann, den die Polizei gestern nachmittag hier aufgegriffen hat?« fragte er. »Man hätte ihn ins Kittchen stecken sollen; ein splitterfasernackter Mann. Das gehört sich doch nicht, oder? Und so ein Getue; wie der geschrien hat und rumgerannt ist.« »In welche Richtung lief er?«
Die Frau strich sich eine fettige, schwarze Haarsträhne aus der Stirn. »Er ist die Ridgeway runtergerannt und hat geschrien, als sei der Teufel hinter ihm her; plötzlich ist er stehengeblieben und umgefallen. Da hab ich die Polizei verständigt. Hab gesehen, wie Lila ihn gemustert hat. Sie war draußen.« Erst jetzt bemerkte Travis ein kleines Mädchen, das von hinten aus dem Laden gekommen war und neugierig über den Tresen schaute. »Warum wollen Sie das eigentlich wissen?« fragte die Frau. »Ich versuche herauszufinden, woher er kam.« »Ich weiß es, ich weiß es«, rief das kleine Mädchen aufgeregt. »Du hältst den Mund, Lila.« Die Frau wandte sich ihm zu. »Sie weiß gar nichts, mein Herr.« »Vielleicht doch«, schlug er behutsam vor. »Ich versichere Ihnen doch, daß sie nichts weiß. Na los, Lila, lauf wieder nach hinten und spiel.« Als sich das Mädchen nicht vom Fleck rührte, verabreichte die Frau ihr eine Kopfnuß. »Ich sagte, du sollst nach hinten laufen, du Nichtsnutz.« Das Kind rannte davon. Travis zückte seine Brieftasche und legte einen Fünf-Dollar-Schein auf den Ladentisch. »Wollen Sie was kaufen?« »Ein paar Auskünfte.« Die Augen der Frau verrieten Gier, und sie wischte
sich die Hände an der Schürze ab, nahm jedoch das Geld nicht. »Stecken Sie's ruhig wieder ein, mein Herr. Ich will keine Scherereien. Und jetzt gehen Sie lieber.« Travis nahm den Schein an sich. »Trotzdem vielen Dank«, sagte er und blickte hoffnungsvoll zur Rückseite des Ladens, bevor er ging. Das Kind war nirgends zu sehen. Es war ein strahlender Sommertag, und Travis atmete tief. Abgeblitzt, dachte er. Aber die alte Frau sagte, der Greis sei die Ridgeway hinuntergelaufen. Folglich mußte er aus der anderen Richtung gekommen sein. Travis setzte sich in jene Richtung in Trab, aus der der Mann offensichtlich gelaufen kam. Auf seiner Straßenseite standen ziemlich gepflegte Reihenhäuser; auf der gegenüberliegenden Seite umzäunte Maschendraht eine große Industriefabrik. Plötzlich rannte ein Kind zwischen zwei Häusern hervor. Es war Lila. »Mister, folgen Sie mir«, bat sie. »Ich weiß, wo der Mann hergekommen ist. Ich hab ihn dort drüben aus einem Haus laufen sehen.« Er ging neben ihr bis an eine Ecke, an der ein Straßenschild die Winthrop Street kundgab. Sie bogen ein und überquerten die Ridgeway. Auf halbem Weg blieb Lila stehen, wandte ihm die großen schwarzen Augen zu und lächelte verschmitzt.
»Da ist er rausgekommen«, erklärte sie und deutete auf ein zweistöckiges Wohnhaus mit großen Grundstücken zu beiden Seiten. Hinter den Grundstücken standen zwei Ziegelsteinbauten, die wie Warenhäuser aussahen. »Danke, meine Süße«, sagte Travis, griff in die Tasche und zog einen Vierteldollar heraus. »Das ist für dich.« Sie beäugte das Geldstück und nahm es schließlich. »Der andere Mann hat mir einen halben Dollar gegeben.« »Der andere Mann? Welcher andere Mann?« Etwas in seiner Stimme erschreckte sie, und sie flitzte davon. Travis ließ sie laufen und fragte sich, was sie wohl gemeint haben mochte. Winthrop Street 1722 war ein altes Ziegelsteingebäude. Er ging hinüber und stieg die Holzstufen zur Veranda hinauf. Das Metall des Türknaufs glänzte, was auf kürzlichen Gebrauch schließen ließ. Er versuchte die Tür zu öffnen. Sie gab sofort nach. Im Innern hatte er die Wahl, die Treppe zum ersten Stock hinaufzusteigen oder die Tür zur Wohnung im Erdgeschoß aufzumachen. Die beiden Briefkästen an der Wand trugen keine Namensschilder. Die Jalousie im unteren Stockwerk war heruntergelassen. Er klopfte an die Tür, da er keine Glocke entdecken konnte. Schweigen. Dann
versuchte er die Tür zu öffnen. Sie schwang auf gut geölten Angeln auf. Im Innern befand sich nichts. Nur ein mit Schutt bestreuter Fußboden und Sonnenschein. Travis trat ein. Der Schutt setzte sich zusammen aus Glas und Metallstücken, Drähten, Holz sowie einer Anzahl zerbrochener Gegenstände, in denen er eine Laborausrüstung erkannte. Dann gewahrte er den süßlichen, mit einer Spur Schärfe versetzten Geruch; dieser erinnerte ihn schwach an seinen Chemieunterricht in der Schule. Travis ging weiter, Glas knirschte unter seinen Schuhen. Das vordere Zimmer enthielt etliche heile Zwanzig-Liter-Flaschen, aber zerbrochene Reagenz-, Becher- und Meßgläser lagen verstreut umher. Im Eßzimmer standen einige Kisten und Aktenschränke. Sie enthielten Bücher sowie verschiedene Laborgegenstände. Seltsamerweise lag neben einem Aktenschrank eine Puderquaste. Die Küche bildete ein Labyrinth aus Drähten; einige noch unter Verputz, andere herausgerissen und auf dem Boden zusammengestapelt. Ein paar zerbrochene, elektrotechnische Ausrüstungsstücke – ein Ohmmeter oder Stromstärkemesser, ein Lötkolben sowie kaputte Radioröhren – und etliche andere Gegenstände, die ihm unbekannt waren, lagen zwischen dem Verputz verstreut.
Ein großes Becherglas im Ausguß fiel ihm ins Auge. An der einen Seite klebte ziemlich viel Mörtelstaub, und darin zeigten sich deutlich Fingerabdrükke. Travis blickte abermals auf den mit Schutt bestreuten Boden und bemerkte, daß sich darauf jede Menge Fußspuren abzeichneten. Große Fußspuren. Deshalb überraschte es ihn nicht, als er sah, wie sich die Küchentür öffnete und Kommissar Tomkins eintrat. »Macht es Ihnen etwas aus, Mr. Travis«, fragte der Kommissar, »wenn ich mich bei Ihnen erkundige, was Sie hier suchen?« »Keineswegs«, versicherte Travis. »Ich kam auf demselben Weg hierher wie Sie. Nur daß Sie dem Kind einen halben Dollar schenkten. Sie haben einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Die kleine Lila erwartete von mir auch einen halben Dollar.«
3 »Sie haben mir gesagt, wie Sie hergekommen sind«, stellte Kommissar Tomkins fest. »Jetzt sagen Sie mir noch, warum Sie hergekommen sind.« Travis trat gegen eine zerbrochene Retorte; diese schlitterte über den Boden und blitzte auf, als sie durch einen von der Sonne beschienenen Fleck sauste. »Schreiben Sie's einfach meiner Neugier zu, Kommissar. Ich bin ebenso bestrebt, dieses Rätsel zu lösen, wie Sie.« Der Kommissar ging durch die Küche zum Eßzimmer. »Vielleicht sind Sie das wirklich, Travis. Aber Sie machen dem Revier unnötig Arbeit, wie zum Beispiel jetzt bei Ihrer Beschattung. Wenn Sie's genau betrachten, haben Sie hier überhaupt nichts verloren. Das ist ausschließlich Sache der Polizei.« »Wie lange waren Sie schon hier, Kommissar?« Der Kommissar blieb bei den Packkisten stehen, zog einige Bücher heraus, las die Titel und warf sie von einer Kiste in die andere. »Wir kamen heute morgen hier an. Die Jungs durchsuchten das Haus. Die Aktenschränke sind leer, aber es gibt eine Menge Fingerabdrücke. Wir werden ausfindig machen, von wem, wenn sie in den Unter-
lagen sind. Ihr Beschatter verständigte das Revier, als Sie das Lebensmittelgeschäft erreichten, und ich fuhr heraus. Mac sitzt draußen im Streifenwagen. Ich hielt es für angebracht, erst abzuwarten, was Sie tun würden.« »Ein sonderbarer Titel«, wunderte sich der Kommissar und deutete auf das Buch, das er gerade in der Hand hielt. »Die Neuen Vererbungsgesetzte. Und hier ist noch ein seltsamer. Narcoanalysis. Den Preisschildern auf diesen Dingern nach zu urteilen, sind diese Leute gut bei Kasse. Zehn Dollar für ein so dünnes Buch. Das übrige sind physiologische und biologische Bücher, einige über Botanik, ein paar über Elektrotechnik. Das Ganze erinnerte mich an die Zeit während des Alkoholverbots, wenn wir in einer scheinbar harmlosen Wohnung eine Razzia gemacht und im ersten Stock einen Bottich oder einen Destillierapparat gefunden haben. Wollen Sie wissen, womit sie sich beschäftigten?« »Gern«, erwiderte Travis. Der Kommissar zündete seine Pfeife an. »Kommen Sie mit«, sagte er dann und ging in einen anderen Teil des Zimmers neben der Küche. »Die Leitungen von der Küche führten zu einer Maschine, die hier stand. Aus den Abdrücken auf dem Boden kann man ersehen, daß sie schwer war. Sie müssen ziemlich geschuftet haben, um sie zusammen mit dem anderen
Zeug hinauszuschaffen. Direkt vor der Tür sind am Boden Lastwagenspuren zu erkennen. Wir lassen sie überprüfen.« Travis entdeckte unter einer Abfallkiste einen weißen Zettel. Er bückte sich, zog eine Karteikarte hervor und steckte sie in die Tasche, ohne daß der Kommissar es merkte. Dann erspähte er an der Wand neben der Küche etwas Geschriebenes. »Haben Sie herausgefunden, was das bedeutet?« Der Kommissar kam zu den Zeichen herüber. »Stromkreise, Drähte und Röhren, denke ich. Würde normalerweise nicht viel Wert darauf legen, aber die Tatsache, daß sie den Plan so angestrengt zu tilgen versuchten, und als dies nicht ging, die Tapete abzukratzen probierten, beweist, daß sie ihm einigen Wert beimaßen. Etwas davon fehlt, wie Sie sehen können. Wir haben jemand von der Universität bestellt, der heute nachmittag einen Blick darauf wirft.« Der Kommissar ging wieder in Richtung Küche. »Was immer es war, muß illegal gewesen sein. Andernfalls hätten sie sich nicht so rasch aus dem Staub gemacht. Ich muß Ihnen noch etwas zeigen.« Er ging voraus zur Rückseite der Küche und öffnete die Kellertür. Sie stiegen hinunter. Der Keller bot dieselbe Unordnung wie das Erdgeschoß: zerbrochene Kisten und verstreut umherlie-
gende Bücher; Trümmer vor der Ofentür deuteten darauf hin, daß die Bewohner vieles, was sie loswerden wollten, verbrannt hatten. »Sehen Sie da drüben die Ecke?« fragte Kommissar Tomkins und zeigte auf einen dunklen und schmutzigen Kellerteil. »Dort lag ein toter Mann.« »Wer?« »Ein Stromer. Chester Grimes hieß er. Er saß häufig bei uns ein. Er pflegte regelmäßig vor Gericht zu stehen und wurde oft ein bis zwei Monate im Gefängnis wegen Landstreicherei festgehalten. Immer besoffen. Wir konnten uns nie vorstellen, wo er den Zaster für seine Gelage hernahm.« »Das ist doch nicht ungewöhnlich, oder? Der Kerl läßt sich vollaufen und schläft hier seinen Rausch aus. Nur daß es sein letzter Schlaf wird. Vielleicht wußten die Leute, die hier wohnten, nicht mal, daß er hier unten war, und konnten nichts mit ihm anfangen, als sie ihn beim Ausräumen entdeckten.« Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nicht. Ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Der Kerl war dunkelgrau. Wurde schon schwarz. Er hatte dicken, roten Schorf am ganzen Körper und um den Hals. Auf seiner Brust saßen große, purpurrote Hautblasen. Erinnert Sie das an etwas?« Travis zog die Luft ein. »Noch einer!«
»Genau. Chester Grimes. Adresse unbekannt. Er hatte seit zwei bis drei Monaten keinen Ärger mit der Polizei. Seine Fingerabdrücke waren genauso schwer abzunehmen wie die des alten Mannes. Aber trotzdem konnte sie der Wachtmeister aus der Identifizierungsabteilung in ungefähr fünf Minuten festlegen.« »Er und der alte Herr im Krankenhaus müssen Versuchskaninchen bei einem schrecklichen Experiment gespielt haben.« »Zuerst glaubte ich, sie hätten vielleicht selbst experimentiert, aber natürlich besaß Grimes keinerlei Vorbilder. Außerdem war er zu versoffen, um genügend lang nüchtern zu bleiben.« »Und denken Sie auch daran, daß der Alte im Krankenhaus ständig flehte, er wolle nicht zurückgebracht werden.« Beide schraken beim Geräusch splitternden Glases zusammen. Sie hörten es über ihren Köpfen zu Boden klirren. Der Kommissar drehte sich um und hastete zur Treppe; Travis folgte ihm auf den Fersen. Niemand war oben, und eine Weile fiel ihnen nichts Ungewöhnliches auf, weil auf dem Fußboden viel zerbrochenes Glas lag. Dann entdeckte der Kommissar jedoch das kaputte Fenster. Er trat darauf zu und ließ sich plötzlich auf den Boden fallen, als eine zweite Scheibe in die Brüche ging. Zur gleichen Zeit ertönte von der gegenüberlie-
genden Wand ein dumpfer Knall, und Travis, der auch auf die Knie gefallen war, sah in der Tapete ein rundes, schwarzes Loch. »Das kommt von dort drüben«, erklärte der Kommissar und deutete mit dem Kopf zum Warenhaus jenseits des unbebauten Grundstückes. »Ich sah einen Kopf und das Mündungsfeuer. Wo zum Teufel steckt bloß Mac?« Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Hintertür, und der Polizist lief mit gezogener Pistole ins Haus. »Steck das verdammte Ding ein und geh in Dekkung, Mac«, befahl Kommissar Tomkins. »Die Schüsse kommen aus dem Nebengebäude. Geh zurück zum Wagen und verständige das Hauptquartier. Ich verfolge den Schützen.« Der Kommissar steckte die Pfeife ein und kroch auf das Eßzimmer zu. Travis tat es ihm gleich, und gemeinsam bahnten sie sich ihren Weg durch den Schutt am Boden zur Haustür und ins Freie. Travis staunte über den Kommissar, der keine Sekunde zögerte, sondern seine Pistole zog und die Seitenstraße entlang auf das andere Gebäude zusprintete. Travis gefielt der Gedanke gar nicht, als lebende Zielscheibe zu fungieren, aber er lief hinter dem Kommissar her und wagte nicht mehr stehenzubleiben, sobald er angefangen hatte. Sie erreichten das Gebäude mit der Aufschrift:
»Morris Nr. 3«. Weil die Tür verriegelt war, schlug der Kommissar mit dem Revolverknauf ein Fenster ein, steckte die Hand hindurch und öffnete sie. Sofort rannten sie die Treppe hinauf. »Die Schüsse kamen aus dem zweiten Stock«, rief der Kommissar und nahm immer zwei Stufen gleichzeitig. Er zögerte nicht, obwohl ihm oben durchaus jemand auflauern konnte. Travis Achtung für den Kommissar stieg, während er beobachtete, wie jener das Ende der Treppe erreichte, die Tür öffnete und hineinging. Als Travis gleichfalls durch die Tür trat, sah er den Kommissar in der Mitte eines großen Raumes stehen und diesen inspizieren. Niemand befand sich im Innern. Nur ein leeres, offenes Fenster. »Nicht einmal eine abgeschossene Patronenhülse«, bedauerte der Kommissar, während er den Boden absuchte. Travis stand hinter ihm und blickte rein zufällig zum Fenster hinaus auf das Haus, das sie soeben verlassen hatten. Er sah etwas Rotes und Schimmerndes. Einen Augenblick später explodierte das Fenster unter einer Druckwelle aus wogendem schwarzen Rauch. Es blieb ihm keine Zeit mehr, den Kommissar darauf aufmerksam zu machen; auch er entdeckte den Rauch, aus dem jetzt Flammen züngelten.
»Diese Schweinehunde«, zischte der Kommissar. »Sie haben uns herausgelockt.« Zusammen rannten sie die Treppe hinunter und nahmen den kürzesten Weg über das unbebaute Grundstück in die enge Gasse, in der der Streifenwagen parkte. »Ich habe das Hauptquartier schon verständigt«, meldete Mac, während er aus dem Wagen stieg. »Sie sind unterwegs. Ich wollte gerade zu Ihnen hinübergehen, als ich die Explosion sah. Ich zog mich in den Wagen zurück und gab Joe durch, er solle die Feuerwehr verständigen.« – »Wir fahren besser den Wagen hier raus«, schlug Kommissar Tomkins vor. Alle drei stiegen in das Fahrzeug, und Mac manövrierte es rückwärts aus der Gasse; ein paar Sekunden später näherte sich die Feuerwehr dem Schauplatz, an dem es bereits von Streifenwagen wimmelte. »Dort mußte etwas sein, was sie uns nicht finden lassen wollten«, erklärte der Kommissar später. »Nun, Travis, ich denke, wir fahren zum Revier zurück. Gehen Sie nach Hause, oder möchten Sie hier noch länger Detektiv spielen?« »Ich bleibe, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Der Kommissar ließ ihn aussteigen, und der Wagen fuhr davon. Travis gesellte sich zu der Menschenmenge, die das brennende Gebäude umstand. Wie er
sah, konnten es die Feuerwehrmänner nicht mehr retten. Viele von ihnen richteten den Wasserstrahl auf die Grundstücke und die Gebäude zu beiden Seiten. Das Dach war bereits eingestürzt, und die Außenmauern hingen schon ziemlich windschief, während die Flammen langsam daran zehrten. Vielleicht befindet sich der Brandstifter unter der Menge, grübelte Travis. Aber dann dachte er daran, daß eine Frau den alten Mann zu töten versucht hatte. Vielleicht legte sie dieses Feuer, um – was eigentlich? – zu vertuschen. Einen mit Schutt übersäten Fußboden? Ein Schaltschema an der Wand? Eine Kiste voller Lehrbücher und Krimskrams sowie die Abdrücke einer Maschine auf dem Boden? Das erinnerte ihn an die Karte, die er unter der mit Müll gefüllten Kiste hervorgezogen hatte. Jetzt las er sie. Sie lautete: TURNER, ROSALIE Apt. 32 Prospect Ave. 1917 Typus Nr. R Laufende Nr. 17432 12/2/30 Sitz 18 Union City 13 Dienststelle: Higgins Erschließungsges. 232 Drexler Drive, U. C. Er fragte sich geistesabwesend, ob dies vielleicht das Mädchen mit der Spritze war. Nur ein weiteres Puzzleteil, wieder etwas, worüber man sich Gedanken
machen konnte. Vielleicht sollte er sie aufsuchen. Möglicherweise wäre es jedoch klüger, das Blatt zu zerreißen und die ganze Angelegenheit zu vergessen. Aber Travis steckte die Karte in die Tasche. Das Feuer war gelöscht. Einige Schaulustige waren es zufrieden, daß die Feuerwehr gesiegt hatte, und entfernten sich. Travis auch. Auf dem Heimweg dachte er über die ganze Geschichte nach. Und als er bei seiner Pension ankam, hatte er einen Entschluß gefaßt. Nach der Gerichtsverhandlung konnte Kommissar Tomkins den Fall mit seiner Empfehlung übernehmen. Für ihn war die Sache gelaufen – hübsches Mädchen hin, hübsches Mädchen her. Travis mixte sich einen Whiskysoda, drehte Tanzmusik an, fiel in einen weich gepolsterten Lehnsessel und angelte sich einen zweiten Stuhl, so daß er die Beine hochlegen konnte. Das nenn ich Leben, schmunzelte er bei sich. Das mach ich, bis ich es satt habe und weiß, was ich eigentlich will. Kein Lokalredakteur Cline. Kein Schriftleiter Parsons. Kein Hal Cable. Oh, Hal ist ein ganz netter Kerl, nur sollte ich mich nicht allzu sehr daran gewöhnen, mir die Nächte mit ihm um die Ohren zu schlagen. Möchte zu gern wissen, was er macht? Gibson Travis, sein Kumpan, für ein Jahr verschwunden. Nein, mein Herr, ein Jahr lang existiert kein Dutch
McCoy, kein Kommissar Tomkins sowie eine Menge anderer Leute, die ich vom Bürgermeister abwärts bis zu den flotten Bienen in Mack's Frolics kenne – ach, diese herrliche Spelunke. Er ging in die Küche hinaus, mixte sich einen zweiten Whiskysoda und blieb auf dem Rückweg vor dem großen Spiegel an der offenen Schranktür stehen, um sich zu betrachten. »Auf dein Wohl«, sagte er zu seinem Spiegelbild, hob das Glas und genehmigte sich einen großen Schluck. Einen Meter dreiundachtzig. Dunkles Haar. Mädchen hatten für sein Haar geschwärmt. Er pflegte es gut. Schwarze Augen – nein, nicht richtig schwarz, sie wirkten nur so aus der Ferne. Gut gebaut. Travis war auf seine Figur stolz. Sie hatte ihm beim Collegesport gute Dienste geleistet. Nein, an meiner Figur ist nichts auszusetzen, dachte er. Nur an meinem Verstand. Er lachte leise, ging ins Zimmer und setzte sich wieder. Nach weiteren Drinks war er mit sich und der Welt zufrieden. Travis verließ die Wohnung und verbrachte den Abend außer Haus. Als er wieder heimkam, hatte er die beiden alten Männer, das Mädchen mit der Spritze und das abgebrannte Haus vergessen. Das anhaltende Schrillen des Telefons riß ihn aus seinem Traum, in dem er sich an einem verlassenen
Strand unter der strahlenden Sonne geaalt hatte. Seine Schulung ließ ihn sofort hellwach sein. Er ging zum Telefon. »Hallo.« »Travis?« Es war eine krächzende Stimme. »Ja.« »Cline.« »Ich weiß, ich hab es zehn Jahre mit Ihrer Stimme ausgehalten, falls Sie sich erinnern. Was zum Teufel ist los? Könnt ihr Jungs keine Zeitung ohne mich rausbringen?« Er unterdrückte ein Gähnen. »Meiner Meinung nach leisten wir bessere Arbeit, seit du fort bist.« »Nun, warum belästigen Sie mich dann?« »Du machst von dir reden, mein Schatz.« »So? Was Sie nicht sagen.« »Hör mal, Travis. Elmer Sedges ist auf dem Weg zu dir. Er flitzte los, sobald er erfuhr, daß du ans Telefon gegangen bist. Du wirst interviewt, Kumpel.« »Da irren Sie sich, Cline. Bis Elmer hier eintrifft, bin ich verschwunden.« »Jetzt hör mir mal gut zu. Travis. Laut Chief Riley hast du mit einem Mädchen gekämpft, das den alten Herrn im Krankenhaus umbringen wollte.« »Kein Kommentar. Wie schmeckt Ihnen das?« Das Krächzen wurde aufgeregt. »Einen Augenblick, Travis. Ich mein's ernst. Wenn die Polizei Aus-
künfte gibt, besteht für dich kein Grund zum Schweigen. Nimm doch Vernunft an. Das ist deine große Chance, berechtigterweise in die Zeitung zu kommen.« »Nur, wenn Sie auch mein Bild veröffentlichen.« »Du willst ein Foto? Du glaubst wohl, ich mach Witze?« »Nein, vermutlich nicht. Aber sehen Sie, Cline, ich hab beschlossen, den Fall schießen zu lassen.« »Du stehst auf O'Briens Zeugenliste.« »Das ist alles, wozu ich verpflichtet bin. Dann hau ich hier ab. Ich hab im Traum gerade am Strand unter der heißen Sonne geschmort.« »Du verkriechst dich mit einem Mädchen. Ich kenne dich zu gut.« »Scheren Sie sich zum Teufel.« »Jetzt sei nicht gleich beleidigt – Wieviel weißt du eigentlich? Die Jungs beim Brand haben behauptet, sie hätten dich gesehen. Was hast du dort draußen gesucht?« Travis fragte sich, ob die Polizei Cline von der Verbindung zwischen dem Brand und dem alten Mann im Krankenhaus unterrichtet hatte. »Ich lauf nur gern hinter der Feuerspritze her«, spöttelte Travis. »Kannst es nicht lassen, oder? Aber Scherz beiseite, wie lautet deine Theorie?«
»Sie fragen mich nach meiner Meinung? Jetzt kommt das Paradies auf Erden.« »Na schön, du Neunmalkluger. Vielleicht bist du der nächste.« »Vielleicht bin ich der nächste? Was soll das Geschwätz. Der Alte hätte mein Vater sein können.« »Von wem redest du denn?« »Von dem alten Herrn im Krankenhaus.« »Verdammt, Travis, du bist nicht auf dem laufenden.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Er war nur der erste.« »Also wissen Sie über Chester Grimes Bescheid, wie?« »Ich weiß von Chester Grimes und drei anderen Burschen.« »Einen Augenblick, Cline. Ich weiß nichts über drei andere.« »Wo bist du bloß gewesen? Am besten, ich klär dich auf. Drei Ärzte haben drei verschiedene Fälle gemeldet. Die betreffenden Leute klagten alle über Schwindelgefühle, Fieber und Lustlosigkeit. Nichts Ungewöhnliches. Könnte eine Erkältung oder vieles andere sein. Aber die Ärzte vermochten bei ihren Hausbesuchen nicht sofort eine Diagnose zu stellen. Heute morgen wurden alle drei ins Krankenhaus eingeliefert und stehen unter Beobachtung.«
»Ich glaube, Sie gehen bei dieser Sache ein unüberlegtes Risiko ein.« »Moment. Ich bin noch nicht fertig. Nach der Autopsie des nicht identifizierten Greises und Chester Grimes hat sich das Gesundheitsamt eingeschaltet. Man zog staatliche Experten hinzu. Etliche medizinische Fakultäten schicken Spezialisten. Die Ärzte wurden gestern vom Gesundheitsamt auf Grund der beiden Todesfälle vor einer möglicherweise neuen Krankheit gewarnt. Diese morgendliche Rührigkeit könnte den Beginn einer Art Seuche – der schwarzen Pest – bedeuten.« »Um Himmels willen, Cline, ich –« »Reg dich nicht auf. Hör zu: die drei, deren Haut entzündet war, wurden ins Krankenhaus gebracht – hab ich dir das mit der Haut schon erzählt? Nun, wie dem auch sei, man hat in der Klinik eine gesonderte Infektionsstation eingerichtet. Der letzte Bericht lautet, daß sich die Haut trotz ärztlicher Betreuung sowie Bluttransfusionen bei allen dreien leicht grau verfärbt hat.« Travis pfiff überrascht. »Wie wär's, wenn Sie mir die Namen durchgeben würden. Vielleicht kenn ich jemand.« »Das glaub ich nicht. Einen Moment.« Am anderen Ende der Leitung raschelte es. Dann war Cline wieder am Apparat. »Hier sind sie: Tony Sansona, Willard
Street 1311; Jeb (vermutlich heiß es Jebedias – wir prüfen das nach) Tobias, Ridgeway Avenue 2112; und Matthias Kronansky, Leland Street 711.« Travis notierte sich die Namen. »Hör mal, Travis, sei ein braver Junge und bleib zu Hause, bis Elmer kommt.« »Zum Teufel mit Elmer. Wenn das die Pest ist, kann ich mir keinen besseren Zeitpunkt aussuchen, die Stadt zu verlassen.« »Zu einem solchen Zeitpunkt würdest du nicht davonlaufen!« »Nein, nicht wirklich, Cline. Aber nehmen Sie's mir nicht übel, daß ich fort bin, wenn Elmer aufkreuzt. Mir ist gerade ein neuer Gesichtspunkt eingefallen. Ich muß arbeiten.« »Verrat mir mehr darüber.« »Ich rufe Sie an, falls sich etwas ergibt.« Travis ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Pest. Der Schwarze Tod. Verflucht, das kann nicht sein, grübelte Travis. Die wurde doch im frühen Mittelalter durch Ratten übertragen, oder? Aber bei der modernen Installation, der Kanalisation und der Sauberkeit des Stadtlebens – nein, es war etwas anderes. Vielleicht etwas, das in eben jenem abgebrannten Gebäude hergestellt wurde. Vielleicht hatten die dafür Verantwortlichen das Haus in Brand gesteckt, um zu versuchen, die Keime zu zerstören, bevor sich noch
mehr Menschen infizierten. Aber das war bereits geschehen! Die Seuche hatte sich schon ausgebreitet – und ein gewisser Gibson Travis sowie ein Polizeibeamter namens Tomkins, nicht zu vergessen Mac, der Fahrer, sowie all jene, die das Haus durchsucht hatten – waren gefährdet. Panik überkam ihn, bevor es ihm bewußt wurde, und er mußte sich selbst in die Schranken weisen. Verflucht, er war nicht krank – noch nicht. Er dachte plötzlich an seinen Entschluß, das Rätsel aufzugeben. Seltsam, wie die Dinge bei Tag manchmal ganz anders aussehen, grübelte er. Wenn er irgendwie von Nutzen sein konnte, so war er es dem alten Mann, Chester Grimes und den drei neu erkrankten Menschen gewiß schuldig, alles zu tun, was in seinen Kräften stand. Zumindest kann ich den Katasterbeamten aufsuchen und ihm eine äußerst wichtige Frage stellen, beschloß er.
4 Das Büro des Beamten lag im Keller des Rathauses, zusammen mit den Toiletten und den Lagerräumen. Es befand sich am anderen Ende eines dunklen Korridors, und auf der Tür stand in altmodischen Buchstaben das Wort: Katasteramt. Hiram Peaslip paßte haargenau zu seinem Büro. Ein Relikt, das in einer zeitgenössischen Welt lebte. Hiram kannte sowohl die Geschichte der Stadt als auch die meisten Einwohner. Deshalb schien es sonderbar, daß er keine Aufzeichnung über die Winthrop Street 1722 besaß. Und noch erstaunlicher war, daß er keine Ahnung hatte, wem das Haus gehörte. »Ich kenne Ihr Archiv noch nicht«, erklärte Travis. »Warum sollte ich nicht nachsehen, ob ich etwas finde?« »Das kann ich nicht zulassen, Mr. Travis«, widersprach Mr. Peaslip und rang die Hände. »Das ist ganz ausgeschlossen.« »Sie vergessen, Mr. Peaslip, daß die Bücher des Katasteramts zum öffentlichen Eigentum gehören. Ich fürchte, Sie haben nicht darüber zu bestimmen.« Travis schickte sich an, durch die Schwingtür zu den dahintergelegenen Aktenschränken zu gehen. Mr. Peaslip vertrat ihm den Weg. »Keinen Schritt
weiter. Sie stiften nur Unruhe. Sie bleiben, wo Sie sind, und ich frage den Bürgermeister, ob –« »Sie sprechen oben mit dem Bürgermeister, und in der Zwischenzeit finde ich das, was ich suche.« Mr. Peaslips wässrige Augen traten aus den Höhlen, sein Gesicht wurde käseweiß, und er rang nervös die Hände. »Bitte, Mr. Travis, machen Sie's mir nicht so schwer. Bitte gehen Sie.« »Hören Sie, Hiram. Ich möchte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich will nur wissen, wem die Winthrop Street 1722 gehört.« Mr. Peaslip biß sich auf die Lippen und sah Travis unsicher an. »In Ordnung«, piepste er. »Ich – ich werd's Ihnen sagen. Aber Sie müssen mir versprechen, es niemandem zu verraten. Es ist – das Haus ist – war – gehörte, es brannte ab, verstehen Sie, gestern, es war –« »Raus mit der Sprache, Mr. Peaslip. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Der Beamte fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich sollte es eigentlich niemandem sagen. Das Haus gehört Mr. McCoy.« »Dutch McCoy!« Der kleine Mann nickte. »Vielen Dank, Mr. Peaslip«, sagte Travis. »Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen mehr. Fassen Sie
sich. Sie werden keine Schwierigkeiten bekommen. Darf ich Ihr Telefon benützen? Der Anruf hat nichts mit Dutch McCoy zu tun. Haben Sie einen Stadtplan?« Mr. Peaslip zog mit zitternden Händen einen Stadtplan heraus. Travis suchte sich die Willard Street 1311, die Ridgeway Avenue 2112 sowie die Leland 711 und brummte enttäuscht, als er entdeckte, daß sie – mit Ausnahme der Ridgeway-Adresse – ein paar Straßen von der Winthrop Street 1722 entfernt lagen. Dann ging er ans Telefon, rief den Star an und verlangte die Fotoabteilung. »Hal?« »Hallo! Der verlorene Sohn!« »Gar nicht so sicher, Hal. Hör mal, ich hab eine Aufgabe, bei der du mir helfen sollst.« »Brauchst du wieder Geld für eine Kaution?« »Nichts dergleichen. Im Ernst, willst du mir helfen oder nicht?« »Schon gut. Was soll ich tun?« »Kannst du dir heute nachmittag freinehmen?« »Aber gewiß. Ich denke doch.« »Ich spendiere dir den größten und besten Drink der ganzen Stadt, wenn du einen Familienangehörigen von Tony Sansona, Willard Street 1311, aufsuchst, kapiert? Und Matthias Kronansky, Leland
Street 711. Den anderen Burschen übernehm ich selbst.« »Hör mal, das sind doch die Burschen im Union City-Krankenhaus. Sie haben – was es auch sein mag.« »Und gerade ist mir noch was eingefallen, Hal – Es sind Männer!« »Machst du Witze? Was hast du denn erwartet? Eine Blondine?« »Nein, es war nur – ein flüchtiger Gedanke.« »Was soll ich eigentlich feststellen, Trav?« »Nur Geduld. Ich will herausbekommen, ob Sansona oder Kronansky in, um oder in der Nähe der Winthrop Street 1722 gewesen sind – du weißt ja jetzt sicher schon Bescheid über das Labor, das niederbrannte.« »Wann und wo soll ich dich anrufen? Oder vielleicht sollten wir uns treffen, damit ich den Drink kassieren kann, den du mir versprochen hast.« »Hör zu, erinnerst du dich an das Lokal in der Empire Street? Die Taverne zum lachenden Mann?« »Diese Bruchbude?« »Nun, sie befindet sich in meiner Nähe.« »Der beste Drink dort drinnen kostet nur zwei Dollar.« »Dann kauf ich dir zwei. Treffen wir uns dort – sagen wir – um fünf. In Ordnung?« »Na schön. Ich komme.«
Travis verabschiedete sich von Hiram Peaslip, der das Gespräch zumindest mit einem Ohr verfolgt hatte. Der Alte brummte nur. Travis verließ ihn und begab sich zum Büro von Dutch McCoy. Der Spieler wickelte seine Geschäfte von einem anspruchslosen Büro in der Innenstadt aus ab – wenigstens wirkte es auf den Durchschnittsbesucher anspruchslos. Aber Travis war mit den Mikrofonen, Spionen und kugelsicheren Türen vertraut. »Phillip Gibbs!« brummte Dutch hinter seinem Schreibtisch und streckte ihm zur Begrüßung die plumpe Hand entgegen. »Der Weiß-alles, Sieht-alles und Sagt-alles. Setz dich. Zigarre gefällig?« »Nein, danke.« Travis nahm Platz. »Was kann ich für dich tun, mein Freund?« »Ich mach es kurz und schmerzlos, Dutch. Was ist mit dem Besitz, der gestern in Flammen aufging: Winthrop 1722?« Wenn das Thema für den Spieler überraschend oder unangenehm war – oder falls er sich gar in acht nahm –, so ließ er sich nichts anmerken. »Was soll damit sein?« fragte er ruhig. »War das dein Labor?« »Komisch. Die Polizei hat mir heute morgen die gleiche Frage gestellt, Travis. Ich kann dir nur dasselbe antworten. Es war nicht mein Labor.« »Wessen Labor dann?«
Dutch schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Aber du hast das Haus doch vermietet.« »Du redest wie die Polypen. Sicher hab ich's vermietet. Sie wollten wissen, an wen.« Er lachte. »Ich sagte zu ihnen, das sei meine Angelegenheit.« »Wem hast du's denn vermietet?« »Du weißt, Travis, daß ich dich mag.« Dutch zündete sich eine Zigarre an. »Und weißt du noch was? Ich werd's dir verraten: ich weiß es nicht.« Travis stand auf. »Verflucht, das ist keine Antwort!« »In diesem Ton spricht man nicht mit mir.« Die Stimme von Dutch klang gereizt. »Aber du bist zu gerissen. Wenn jemand weiß, was in der Stadt vorgeht, dann du. Und du willst mir doch nicht weismachen, daß du dein Eigentum an jemand vermietet hast, ohne ihn zu kennen!« »Na schön, Travis«, meinte Dutch und streifte seine Zigarre ordentlich im Aschenbecher ab. »Es war so: Ich erhalte einen Telefonanruf. Eine Frau. Sie wisse, daß mir das leere Haus gehöre. Sie wolle sich erkundigen, ob ich es vermiete. Ich sage: ›Gewiß.‹ Sie fragt: ›Wieviel?‹ Ich mag ihre Stimme nicht, deshalb lautet meine Forderung: ›Tausend im Monat.‹ Die Dame: ›Sie erhalten morgen mit der Post sechstausend. Wir ziehen nächste Woche ein.‹ Ich: ›Abgemacht.‹ Am nächsten Tag erhalte ich ein eingeschriebenes Päck-
chen. Die volle Summe in Hundert-Dollar-Scheinen. Was zum Teufel schert es mich, was da vorgeht? Ich bin nicht einmal hinausgegangen, um mir das Haus anzusehen.« »Danke, Dutch«, sagte Travis. »Wie lange ist das her?« Dutch überlegte einen Moment. »Ungefähr sechs Monate.« »Nochmals vielen Dank, Dutch.« »Du glaubst mir?« Dutch blickte ihm in die Augen. Travis konnte nicht sagen, ob er die Wahrheit sprach oder nicht, aber es hatte keinen Sinn, ihn sich zum Feind zu machen. »Ja, ich glaube dir.« »Du bist ein guter Junge. Ich mag dich.« Travis war es gewohnt, einen Wagen vom Star zur Verfügung zu haben; jetzt mußte er zwischen Taxi und Bus wählen. Aus Sparsamkeit nahm er den Bus bis zum anderen Ende der Stadt, wie am Tag davor auch. Er suchte das Haus von Jeb Tobias, Ridgeway 2112 – die gleiche Straße, in der er gestern war. Er fand es ein paar Häuserblocks von dem Lebensmittelgeschäft und der kleinen Lila entfernt. Das Haus von Tobias wirkte gepflegt. Der neue Kalkanstrich und die sauber geputzten Fenster zeugten von einer guten Haushaltsführung. Der Rasen
war vor wenigen Tagen gemäht worden, und entlang der Vorderfront verlief ein kniehoher Pfahlzaun mit einigen Büschen dahinter. Mrs. Tobias öffnete auf sein Läuten. Ihre Augen waren blutunterlaufen und tränenumrandet. Das graue Haar hätte gekämmt werden müssen. Travis stellte sich vor, und obwohl sie scheinbar nicht gern über die Sache sprach, durfte er ins Haus. »Man läßt mich ihn nicht einmal besuchen«, beklagte sie sich später. »Jetzt liegt Jeb mutterseelenallein im Krankenhaus. Wir sind seit zwanzig Jahren zum erstenmal getrennt. Ich hab die Kinder zu meiner Schwester geschickt, weil ich hoffte, ich könnte ihn nach Hause holen. Ich schwöre, daß ich genauso gut für ihn sorgen würde wie die.« Travis fragte sie, ob ihr Mann jemals in der Nähe der Winthrop Street 1722 gewesen sei. »Winthrop Street?« wiederholte sie und runzelte die Stirn. »Nun, das ist eine Straße weiter – welche Adresse sagten Sie?« »Vielleicht hilft Ihnen das: Sie liegt in der Nähe eines Lagerhauses; ›Morris Nummer Sechs‹ steht an der Fassade.« »›Morris Nummer Sechs?‹ Nun, dort arbeitet er jeden zweiten Tag! Er verbringt den einen Tag in der Fabrik über der Straße und den nächsten im Lagerhaus. In der Fabrik ist er Stanzer, und eine Art Vorar-
beiter im Lagerhaus – oh, ich weiß nicht genau, was er dort macht –« »Glauben Sie, daß er vielleicht Gelegenheit hatte, in die Winthrop Street 1722 zu gehen? Es liegt gleich westlich vom Lagerhaus.« Mrs. Tobias schüttelte den Kopf. »Jeb ist ein äußerst korrekter Mann. Er kümmert sich nur um seine eigenen Angelegenheiten. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, daß er das Lagerhaus verlassen hätte. Mr. Sargent, das ist sein Chef, sagt, er sei einer der zuverlässigsten Arbeiter –« Die Frau erzählte weiter von ihrem Mann, und mit Rücksicht auf sie und die Tatsache, daß sie seine Erkrankung für eine Weile vergessen zu haben schien, ließ er sie gewähren. Schließlich bedankte er sich bei ihr und ging. Es war bald fünf, Zeit für seine Verabredung mit Hal Cable. Die Taverne zum lachenden Mann befand sich ganz in der Nähe, und Travis beschloß, zu Fuß zu gehen. In der Kneipe hielt er nach Hal Ausschau, entdeckte ihn jedoch nirgends. Es war kurz vor fünf, deshalb beschloß er, Kommissar Tomkins anzurufen. Travis betrat die Telefonzelle und wählte. »Noch immer am Ball, wie?« erkundigte sich der Kommissar.
»Gewisse Aspekte des Falls interessieren mich, Kommissar.« »Eine kurvenreiche Blondine um die Zweiundzwanzig?« »Mehr als das. Ich hab mir eingebildet, daß ich vielleicht etwas erreichen könnte. Hoffentlich geh ich Ihnen nicht auf die Nerven.« »Machen Sie sich wegen einer solchen Bagatelle keine Sorgen. Wenn das der Fall ist, schalten wir Sie ganz einfach aus. Journalisten sind spottbillig. Was haben Sie auf dem Herzen?« »Ich fragte mich nur eben, ob Sie jemals herausgefunden haben, wer der alte Herr war.« »Weil Sie's sind, werd ich es Ihnen sagen. Washington besitzt keine Akte über ihn. Sie erinnern sich doch an die Fingerabdrücke, die in der Winthrop Street abgenommen wurden? Fingerabdrücke an den Gläsern und an Metallstücken? Nirgends eine Aufzeichnung, wem sie gehören. Jedenfalls waren es keine registrierten Kriminellen. Chief Riley und ich sprachen mit den Männern, die an jenem Morgen draußen waren. Einige Jungs, mit denen wir uns unterhielten, sagten, die Maschine könnte ein Punktschweißgerät gewesen sein. Ein paar erklärten, die Abfälle am Boden würden auch stählerne Feilspäne aufweisen, als habe man Metallblech geschnitten.
Und dann Grimes. Wir folgten seiner Spur vom staatlichen Gefängnis aus bis vor zwei Monaten, als er mitten in der Stadt verschwand. Die Autopsie seiner Leiche brachte die gleichen Ergebnisse wie bei dem alten Mann. Die Mediziner tappen völlig im Dunkeln.« »Ich kundschaftete ein wenig herum und fand heraus, daß Jeb Tobias, einer der Burschen im Krankenhaus, in jenem Lagerhaus gearbeitet hat, aus dem die Schüsse kamen.« »Das ist ein Gesichtspunkt, an den wir nicht gedacht haben. Danke.« »Und ich erfuhr auch, daß Dutch McCoy das abgebrannte Winthrop-Haus gehörte.« »Hab ich heute morgen selbst rausgefunden. Wie gewöhnlich will Dutch nichts sagen.« »Wenn mich noch mehr Geistesblitze treffen, ruf ich Sie an.« »Wenn Sie krank werden, lassen Sie's mich wissen. Denken Sie daran, daß wir auch in dem Haus waren, Travis.« »Ja. Wie fühlen Sie sich?« »Bis jetzt sehr gut. Aber es gibt ein halbes Dutzend andere, bei denen es sich nicht so verhält.« »Ein halbes Dutzend? Was wollen Sie damit sagen, Kommissar?« »Haben Sie's nicht gehört? Heute nachmittag sind
sechs neue Fälle aufgetaucht. Jetzt liegen schon neun in der Infektionsabteilung des Krankenhauses.« Travis wurde es ein wenig flau. »Danke, Kommissar«, sagte er. »Danke für die Information. Auf Wiederhören.« Hal Cable betrat kurz nach fünf die Taverne und steuerte auf die Telefonkabine zu, die Travis besetzt hielt. »Hallo, da hast du mich ja auf eine harte Nuß angesetzt«, schimpfte er, schnaufte, keuchte und trocknete sich die schweißnasse Stirn mit dem Taschentuch. »Jetzt versteh ich, warum du die Sache nicht selbst in die Hand genommen hast. Puh! Ist das heiß.« Hal nahm den Hut vom Kopf und legte ihn neben sich. »Nun, was hast du herausgefunden?« Hal hob protestierend die Hand. »Moment mal. Wie steht's mit dem Drink, den du mir versprochen hast?« »Du mußt erst was leisten.« »Verflucht, das hab ich. Bestell.« »Bist du Alkoholiker?« »Bis jetzt noch nicht.« »Na schön.« Travis bestellte für beide Whisky und Bier. »Jetzt schieß los.« »Nun, zuerst bin ich zum Haus von Sansona ge-
gangen. Es liegt in der Willard. Mrs. Sansona war ganz aus dem Häuschen, weil sie ihren Mann nicht mal besuchen durfte. Du hättest hören sollen, wie sie die Krankenhausleute beschimpft hat!« »Ich hab dich nicht zum Zuhören geschickt –« »Schon gut. Das, was du wissen willst, kommt noch. Scheinbar arbeitet Tony, ihr Mann, für die Morris-Fabrik. Er hilft in einem Lagerhaus gleich daneben in der Winthrop Street aus. Dieser Kronansky. Das ist der in der Leland. Ich konnte kaum verstehen, was die Frau gesagt hat. Sie verfiel ins Polnische, wie ich annehme, als sie auf das Krankenhaus zu sprechen kam. Man wollte sie auch nicht hereinlassen.« Hal Cable stürzte seinen Drink hinunter und setzte den Bericht fort. »Anscheinend hat Kronansky seine Frau vor kurzem verlassen und ist zu seiner Schwester gezogen. Sie wohnt Archer Street 1718. Weißt du, wo das liegt?« »Nein. Steht er in irgendeiner Verbindung zu dem Lagerhaus?« Hal schüttelte den Kopf. »Nein. Er wohnte nur bei seiner Schwester. Lebte wahrscheinlich auf ihre Kosten, denn er war arbeitslos.« »Dann frag ich mich, wie er dazu gekommen ist.« »Ich wollte es dir gerade sagen. Die Archer liegt gleich nördlich der Winthrop Street.«
»Das ist es also!« »Die drei müssen in das Haus auf der Winthrop geraten sein.« »Ich frage mich, warum? Die Lösung ist vorhanden, man muß sie nur richtig zusammensetzen können. Wie hast du dich am Nachmittag freigemacht?« »Ich übergab Hayden die Leitung und habe viel Zeit. Wo essen wir?« »Nicht hier.« »Das hoffe ich; gehen wir ins Manor.« Travis war einverstanden. Sie bestellten noch eine Runde, dann verließen sie das Lokal. Es war jetzt nach sechs, und der größte Verkehr vorbei. »Ich hab den Wagen um die Ecke abgestellt«, erklärte Hal. »Konnte keinen anderen Parkplatz ergattern.« Zusammen gingen sie die Straße entlang, bogen um die Ecke und blieben stehen. Ein Mädchen versperrte ihnen den Weg. Eine Blondine, die um einen Kopf kleiner war als Travis. Ein hübsches Mädchen mit den schönsten Beinen, die man sich vorstellen konnte. Es war jenes Mädchen, das von vorn genauso appetitlich aussah wie von hinten. Derzeit stimmte an ihr nur zweierlei nicht: Erstens drückten ihre Augen keineswegs Freundlichkeit aus. Zweitens hielt sie einen Revolver in der Hand.
Die drei standen unbeweglich wie ein lebendes Bild da. Dann kam Leben in die Gestalten, als das Mädchen sich umdrehte und in Richtung Seitengasse die Straße hinunterlief, Travis und Hal dicht auf den Fersen. In der schmalen Nebenstraße wandte sie sich um und richtete die Pistole auf sie. »Ich benutze sie«, erklärte sie wütend. »Bestimmt, wenn ihr nur einen Schritt näherkommt. Jetzt dreht euch um und verschwindet.« Das Paar wollte ihren nervösen Zeigefinger nicht auf die Probe stellen, deshalb taten die beiden, was sie verlangte. Nach wenigen Schritten schaute sich Travis um. Sie war nicht zu sehen. Travis und Hal rannten zurück. Das Mädchen hastete mit der Pistole in der Hand eilig die enge Gasse entlang. Sie wandte den Kopf, entdeckte die zwei und feuerte in ihre Richtung. Der Schuß wirbelte ein wenig Staub auf und prallte über ihren Köpfen an der Mauer ab. Travis und Hal tauchten außer Sichtweite. »Das war die Blondine!« erklärte Travis. »Nette Bekannte hast du«, spottete Hal und rang nach Luft. »Ja. Die Sache wird immer sonderbarer. Warum sollte sie mich umbringen wollen?« »Das möchte sie gar nicht. Wenn dem so wäre, hätte sie's getan.«
»Warum hat sie dann diese Schau abgezogen?« »Vielleicht, um dir einen Schrecken einzujagen.« »Etwas stimmt nicht mit ihr. Sie ist einfach nicht der Typ, der mit einer Pistole rumläuft.« »Offensichtlich bist du nicht der Typ, auf den sie gern schießt.« »Ich wollte, das könnte ich glauben.«
5 »Hör mal zu«, bat Hal Cable, ein Stück Steak zwischen den Zähnen; die Gabel ließ er mitten in der Luft hängen, um sich Gehör zu verschaffen. »Dieses Mädel wollte dich gar nicht töten. Nun solltest du eigentlich wissen, daß man es nicht auf dich abgesehen hat.« Er kaute zu Ende und schnitt sich wieder ein großes Stück Fleisch ab. »Wer hat es nicht auf mich abgesehen?« fragte Travis. »Dutch McCoy. Wer sonst? Du hast doch ausgekundschaftet, daß ihm das Haus gehörte, nicht wahr? Er erzählte dir das Märchen über eine Dame, die es mietete. Eine Menge ungereimtes Zeug. Er hat etwas laufen, und du rückst ihm zu sehr auf den Pelz, das ist alles.« »Dutch McCoy würde sich niemals die Mühe machen, ein Labor in die Luft zu sprengen. Er befaßt sich mit Roulett, Bingo, gezinkten Karten und dem Würfelspiel.« »Schon gut.« Hal steckte das nächste Stück Fleisch in den Mund. »Ich begreife nicht, warum du's nicht aufgibst«, meinte er dann trocken. »Du wolltest doch eine lange
Ruhepause einlegen, falls du dich erinnerst. Die wirst du bekommen, wenn das Mädchen aufkreuzt und ernst macht. Der Versuch, dieses Rätsel zu lösen, könnte genauso enden, als würde man vor einen fahrenden Zug springen. Für dich wäre es gesünder, wieder für Cline zu arbeiten und einfach bei der Polizei nachzufragen, wie der Fall vorangeht.« »Nein, Hal. Mich hat's irgendwie gepackt. Das Ganze stellt jetzt eine Herausforderung dar. Sicher könnte ich mich aus dem Staub machen, aber ich möchte bis zum Ende dabeisein.« »Ganz richtig, du wirst bis zum Ende dabeisein. Deinem Ende. Du hast doch gesagt, du wärst in dem Haus gewesen. Was, wenn du die Seuche aufgeschnappt hast? Wenn neun Menschen davon befallen wurden, wie du behauptet hast, kannst du der nächste sein.« Travis grinste. »Und du steckst dich vielleicht gerade an, weil du so dicht neben mir sitzt. Wenn ich diese Burschen im Krankenhaus aufsuchen könnte, würde ich Informationen aus erster Hand bekommen. Ich halte es für wichtig, ob sie dieses Haus je betreten haben oder nicht. Wenn ja, müssen sie Bescheid wissen, was dort vorging.« »Du möchtest also jetzt diese Burschen interviewen. Was ist mit dem Mädchen? Willst du nicht melden, daß das Mädchen, das den alten Herrn zu töten
versuchte, auf dich einen Schuß in die Luft abgegeben hat?« »Weißt du, was Kommissar Tomkins antworten würde?« »Sicher. ›Schade, daß sie Sie nicht getroffen hat‹.« »So was ähnliches. Nein, ich werde das Mädchen nicht anzeigen. Vielleicht begegnen wir und wieder mal, und sie will dann plötzlich nichts mehr davon wissen –« Hal blickte seinen Begleiter bedeutungsvoll an. »Ich glaube, du würdest sie gern wiedersehen. Ich denke, du bist in sie verknallt. Ich glaube –« »Laß es dabei bewenden, Hal. Dein dritter Gedanke beruht wahrscheinlich ohnehin auf einem Irrtum.« Später brachte Hal den Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Union City-Krankenhaus zum Stehen. »Mir gefällt das noch immer nicht«, murrte er. »Du warst bereits in jenem Haus einer Gefahr ausgesetzt. Jetzt beschwörst du sie geradezu herauf.« »Drei Dinge will ich wissen«, erklärte Travis, öffnete die Autotür und trat unter die Hoflaterne. »Erstens: Sind sie ins Haus gegangen? Zweitens: Warum? Drittens: Was haben sie gesehen?« »Nur zu, tappe unter den Leuten mit der Krätze herum. Und wenn ich dich danach nach Hause fahre, kannst du mich interviewen.« »Kommst du nicht mit?«
Hal schüttelte den Kopf. »Muß meine Zigarre zu Ende rauchen. Sie reicht noch ungefähr eine halbe Stunde.« Travis ging zur Unfallstation und öffnete die Tür. Ein Polizist verwehrte ihm den Zutritt. Es war ein Polizist, den Travis nicht kannte. »Was soll das heißen?« fragte Travis. »Ein paar schwerkranke Leute drinnen. Was wünschen Sie?« »Ich will mit Dr. Collins sprechen.« Der Polizist nahm ein Haustelefon von der Gabel. »Hier unten ist ein Mann, der Dr. Collins sprechen möchte«, meldete er. Dann wandte er sich an Travis. »Ihr Name?« »Gibson Travis.« Der Polizist gab die Information weiter. Am anderen Ende der Leitung ertönte leises Stimmengemurmel, aber Travis konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. »Jawohl, Sir«, antwortete der Polizist und legte auf. »Sie sollen in Zimmer zehn kommen. Eine Treppe höher, und dann links.« Travis ging an ihm vorbei, die Treppe hinauf und durch eine Glastür in den ersten Stock. Ein zweiter Polizist versperrte ihm den Weg. »Hören Sie mal, was ist das hier?« entrüstete sich Travis. »Ein Krankenhaus oder ein Gefängnis?«
»Wohin wollen Sie?« »Ihr Kumpel sagte, ich sei für Zimmer zehn bestimmt.« Der Polizist begleitete ihn den Korridor entlang, führte Travis schließlich in ein Wartezimmer und klopfte an eine Innentür. Ein wuchtiger Mann mit buschigen Augenbrauen und Glatze öffnete. »Bitte?« »Haben Sie diesen Mann erwartet, Sir?« »O ja. Sind Sie Gibson Travis?« Travis nickte. »Dann kommen Sie herein.« Travis betrat ein Zimmer, das dicke Rauchschwaden von Zigarren und Zigaretten füllten. Sechs Männer, die bei seinem Eintritt verstummt waren, saßen darin und starrten ihn an. Dr. Collins befand sich nicht darunter. »Ich nehme an, man hat mich mißverstanden«, entschuldigte er sich. »Ich suche Dr. Collins und will Ihre Besprechung nicht stören.« »Setzen Sie sich, Mr. Travis«, forderte der Mann mit den buschigen Augenbrauen. »Ich bin Dr. Stone, ein ortsansässiger Arzt. Dr. Collins hat oben zu tun.« Er faßte Travis beim Arm und führte ihn zu einem leeren Stuhl. »Das ist Mr. Travis, meine Herren. Mr. Travis, ich darf Ihnen Dr. Seabright, Dr. Shearing, Dr. Witkowski, Dr. Wilhelm und Dr. Leaf vorstellen. Dr.
Seabright ist beim hiesigen Gesundheitsamt, Dr. Shearing und Dr. Witkowski gehören zum Krankenhausstab, und Dr. Wilhelm sowie Dr. Leaf kommen vom staatlichen Gesundheitsamt.« Travis nickte jedem der Reihe nach zu. Keiner schien besonders freundlich zu sein, höchstens Dr. Leaf, auf dessen Gesicht ein gequältes Lächeln stand. Travis konnte weder Dr. Wilhelms wilde schwarze Augen leiden, noch die zusammengezogenen Augenbrauen und den harten Mund. Er führte das Wort. »Also Sie sind der Mann, der das Mädchen gesehen hat«, begann er. »Was hat sie damit zu tun?« »Ich fürchte, ich verstehe nicht –« »Hören Sie mit der Komödie auf, Mr. Travis. Wir versuchen Sie seit heute mittag zu erreichen. Kommissar Tomkins teilte uns mit, Sie hätten das Mädchen gesehen. Wissen Sie etwas über sie?« »Nein.« »Nun, wie steht's dann mit dem Schema?« »Welches Schema?« »Das Schaltschema im Winthrop-Haus, verdammt«, knurrte er. »Ist Ihnen eigentlich klar, daß hier eine Epidemie vorliegt, junger Mann? Haben Sie im Winthrop-Haus einen Blick auf die Wand mit dem Plan geworfen?« »Ja.« »Vermutlich können Sie uns nichts darüber sagen.«
»Nein. Es tut mir leid, daß ich kein Examen in Atomphysik gemacht habe, Dr. Wilhelm«, knirschte Travis. »Wie kommen Sie darauf?« Dr. Wilhelm war ziemlich groß. Bei dieser Frage trat er bis auf einen halben Meter an Travis heran. »Ich verstehe nicht, was Sie überhaupt von mir wollen«, protestierte Travis. »Ich wollte nur Dr. Collins besuchen und einige Patienten befragen.« »Krankhafte Neugier?« »Ich möchte herausfinden, ob einer von ihnen im Winthrop-Haus war.« Dr. Leaf mischte sich in das Gespräch. »Ich glaube, dieses Problem kann ich für Sie klären. Wir haben alle zwölf befragt – das heißt, diejenigen, die zum Antworten noch in der Lage sind. Keiner ist in dem Haus gewesen.« »Dann gibt es jetzt zwölf Fälle? Nun, wie erklären Sie –« »Kommen Sie mit, dann zeige ich Ihnen etwas«, unterbrach ihn Dr. Leaf und ging zur Tür. »Ich bin bald zurück, meine Herren.« Er verließ mit Travis den Konferenzraum. »Kümmern Sie sich nicht um Dr. Wilhelm, Mr. Travis«, bat Dr. Leaf, während sie den Korridor entlangschritten. »Auf ihm ruht eine ungeheure Verantwortung. Er muß dem Ministerium Bericht erstatten,
verstehen Sie. Negative Ergebnisse kommen einfach nicht in Frage.« »Vermutlich hat er viel auf dem Buckel.« »Wenn es nur ein Virus wäre – dann wüßten wir wenigstens, was wir bekämpfen. Ah, da sind wir.« Sie blieben vor dem Aufnahmepult stehen. Daneben hing eine große Karte von Union City. »Sehen Sie die schwarzen Punkte, die wir eingezeichnet haben?« fragte Dr. Leaf. »Hier ist das Haus in der Winthrop Street.« Er deutete auf einen roten Punkt. »Jetzt betrachten Sie die schwarzen Punkte.« Travis studierte die Karte. In sämtlichen Richtungen umgaben zwölf schwarze Punkte den roten Punkt in einer Entfernung von ungefähr eineinhalb Häuserblocks. »Nun«, wagte er zu äußern, »sie beschränken sich alle auf ein kleines Gebiet rund um das Haus.« »Ja. Scheinbar ist es ziemlich gleichgültig, in welcher Richtung. Dadurch scheiden Abwässer, Wind und andere Übertragungsmittel schädlicher Bakterien aus – einschließlich Tiere als Bazillenträger.« »Was kann dann eine solche Ausbreitung verursachen?« fragte Travis. Dr. Leaf lächelte. Er war ein Mann mittleren Alters und von mittlerer Statur, der gut für einen erfolgreichen Kaufmann oder Bankier gehalten werden konnte. Seine Augen blitzten vor Intelligenz, sein ständiges Lächeln wirkte ansteckend.
Er ging hinüber zu einer Couch, setzte sich und bot Travis eine Zigarette an. Travis bediente sich. »Nun«, meinte Dr. Leaf, »ich erwähnte Viren. Dr. Wilhelm vertritt jedoch die Meinung, daß die Leute in jenem Labor an radioaktivem Material arbeiteten. Vielleicht riefen ihre Versuche eine Art Strahlung hervor, und die Experimentierer erkannten die tödliche Wirkung einer solchen Strahlung erst, als der Greis plötzlich erkrankte; da wurde ihnen bewußt, was sie angerichtet hatten, und sie verschwanden. Das Arbeiten mit atomaren Stoffen ist ohnehin illegal. Um so mehr Grund, alles zu zerstören und dann das Haus niederzubrennen. Der alte Mann könnte selbst einer der Experimentierer gewesen sein.« »Dann glauben Sie wirklich an eine Strahlung?« »Es klingt viel vernünftiger, als einen neuen tödlichen Virus zu erfinden. Wir stellen folgende Theorie auf: Der alte Mann macht die Versuche. Er bekommt die volle Dosis ab, weil er der Ursache am nächsten ist, und wird als erster infiziert. Menschen in der Nachbarschaft werden erst später davon befallen, weil sie dem Versuchsort fern waren. Klingt doch logisch?« Travis schüttelte den Kopf. »Wenn es nur eine Strahlung ist, warum haben das die Ärzte hier dann nicht sofort festgestellt? Sie sollten doch eigentlich genug über Strahlungserscheinungen wissen.«
»Es handelt sich – grob gesprochen – nicht um die allgemein anerkannte Art. Ich will damit sagen: Niemand hat je etwas von dieser Art gehört, wenn wir die Virus-Theorie verwerfen. Die beiden toten Männer, sowie diejenigen im Krankenhaus, erbringen keinen Beweis für eine Strahlenvergiftung. Dennoch haben wir Hexamethylphosphat gespritzt, das Gegenmittel bei Uranvergiftung – einfach in der Hoffnung, daß vielleicht eine Besserung eintreten würde. Keine Wirkung. Der Grund dafür lautet, daß es keine Strahlenvergiftung ist.« »Wie steht's mit diesen Geigerzählern?« »Wir benutzten einen in dem niedergebrannten Haus sowie oben auf der Station, in der die zwölf Männer liegen. Auch nicht der winzigste Ausschlag.« »Was ist es dann?« Dr. Leaf zuckte die Schultern. »Sie verlangen das Unmögliche. Das Mikrotom zeigt, daß alle Körperzellen des Greises den gleichen Verfall durchgemacht haben, wenn die dünnen Scheiben unter das Mikroskop gelegt werden. Gewebsproben von den lebenden Patienten deuten auf einen ähnlichen Verfall hin, obwohl er noch nicht so weit fortgeschritten ist. Auf jeden Fall äußerst sich die Krankheit ähnlich, als würde man sich am ganzen Körper – innen und außen – gleichzeitig einen Sonnenbrand zuziehen. Als würde man ein Hot Dog in einem dieser Hoch-
frequenzgeräte grillen. Kein bekanntes Mittel bewirkt etwas Derartiges.« »Hat Ihnen jemand die graphische Darstellung gezeigt, die der erste Patient gezeichnet hat?« »Ja, wir haben sie alle gesehen. Das Ding mag ja der Schlüssel für das ganze Problem sein. Das leugne ich nicht. Wir alle haben es unter diesem Aspekt betrachtet. Dr. Wilhelm behauptet, es sei nur ein Phallussymbol mit dem Kopf nach unten. Andere halten es für ein Schlüsselloch, die Adresse eines Hauses oder etwas, was er vielleicht geträumt hat. Wir geben natürlich zu, daß die Zeichnung einen wissenschaftlichen Sinn beinhaltet, wenn der alte Mann Forscher war. Sie bedeutet weiblich. Aber weiblich was? Wir sind Blumen, Insekten und Tiere durchgegangen und haben eine 23X-Kategorie zu finden versucht, gemäß der in den Kreis geschriebenen Ziffer. Bislang ist uns die Darstellung unverständlich.« Travis drückte seine Zigarette aus und stand auf. »Verzeihen Sie, wenn ich das sage, Herr Doktor, aber mein Glaube an den Arztberuf ist auch nicht mehr das, was er mal war. Wenn sechs Ärzte, die eigentlich wissen sollten, worüber sie sprechen, das Rätsel nicht lösen können, wer dann?« »Verdammen Sie bitte nicht gleich die gesamte medizinische Welt, Mr. Travis. Wir Ärzte sind die ersten, die zugeben, daß unsere Kenntnisse über das,
was einen Körper funktionieren läßt, sehr gering sind. Im Laboratorium, auf dem Seziertisch oder unter dem Mikroskop gibt es Geheimnisse in Hülle und Fülle. In Wirklichkeit ist die Sache wahrscheinlich ziemlich einfach und liegt direkt vor unserer Nase, nur sind wir noch nicht darauf gestoßen.« »Ich wundere mich nur über eins«, sagte Travis und ging vor dem Arzt auf und ab. »Worüber?« »Der Gedanke läßt mir schon die ganze Zeit keine Ruhe. Es leben doch auch Frauen in der Nähe der Winthrop Street 1722, nicht wahr?« »Natürlich.« »Wie kommt es dann, daß von ihnen keine erkrankte? Warum wurde keine einzige von ihnen grau?« »Wir haben darüber gesprochen. Das bleibt ein ebensolches Geheimnis wie alles übrige.« »Haben Sie an die Möglichkeit gedacht, daß Frauen vielleicht etwas dagegen immun macht?« »Ja. Weibliche Hormone, zum Beispiel. Wir injizierten tatsächlich einige Patienten damit. Aber es trat keine spürbare Besserung ein.« »Was passiert mit dem infizierten Gewebe? Es wird grau und schließlich schwarz; und die roten Pusteln sowie die Purpurflecken tauchen auf. Stirbt das Fleisch innen und außen ab oder was sonst?«
»Wie ich schon sagte, haben wir das Fleisch untersucht. Die Zellen scheinen einfach nicht mehr weiterleben zu wollen. Sie führen ihre Aufgabe halbherzig aus und warten auf den Tod, und natürlich tritt der Tod ein. Scheinbar produziert die Zelle in nicht mehr ausreichender Menge die notwendigen Stoffe, um gewisse Phasen des Stoffwechsels weiter auszuüben. Deshalb stirbt sie langsam ab, wobei sie die Pusteln und Purpurflecken erzeugt.« »Nun, ich sollte jetzt besser wieder hineingehen«, meinte Dr. Leaf plötzlich und drückte seine Zigarette aus. »Da Sie sich weder an den Schaltplan noch an das Mädchen erinnern, ist es meiner Meinung nach unnötig, daß Sie mit mir zurückkommen.« Er erhob sich. »Vielen Dank, Herr Doktor. Ein Freund wartet draußen auf mich.« Die beiden gingen den Korridor entlang zu Zimmer zehn. Dort angekommen, wandte sich Dr. Leaf Travis zu. »Sie scheinen an dieser Sache interessiert zu sein. Wenn Sie irgendwelche Ideen haben oder in dieser Angelegenheit etwas Wichtiges ausfindig machen, lassen Sie es uns wissen, ja?« Er lächelte und streckte Travis die Hand entgegen. Dieser schlug ein und versprach es. Hal überschüttete ihn im Wagen natürlich mit ei-
ner Menge Fragen, was Travis geahnt hatte. Er berichtete so genau wie möglich über die Vorfälle, während sie zu seiner Wohnung fuhren. »Also willst du weiter Detektiv spielen, wie?« kommentierte Hal. »Ich habe doch noch gar nicht richtig versucht, etwas zu unternehmen. Ich war nur ein unschuldiger Zaungast.« »Ja, und wie einem unschuldigen Zaungast hätte man dir heute nachmittag beinahe eine Kugel verpaßt.« »Dieser Vorfall heute nachmittag hat meinen Entschluß nur noch gefestigt, die Sache weiter zu verfolgen.« Hal brummte und lenkte den Wagen in die Straße, in der die Pension von Travis lag. »Wo willst du beginnen?« »Oh, ich hab einige Ideen«, antwortete Travis und tastete nach der Karteikarte in seiner Tasche. »Nun, ich spiele ungern den Einfaltspinsel«, meinte Hal, während er den Wagen vor der Pension zum Stehen brachte, »aber ruf mich an, wenn du mich brauchst.« »In Ordnung, Kumpel«, versprach Travis, stieg aus und schlug die Wagentür hinter sich zu. Hal winkte zum Abschied und brauste davon. Travis drehte sich um und ging ins Haus. Ihm
schwindelte beim Gedanken an zwölf Männer mit grauer, fleckiger Haut, die im Union CityKrankenhaus auf den Tod warteten; beim Gedanken an Viren, Strahlungen und Zellen, die anscheinend nicht mehr funktionieren wollten. Er fuhr im Aufzug zu seiner Etage hinauf und stieg aus. Rosalie Turner. Hübscher Name. Er hätte gern gewußt, wie sie aussah. Travis beschloß, sie am nächsten Tag in ihrer Dienststelle, jener Erschließungsgesellschaft draußen am Drexler Drive, aufzusuchen. Er gähnte, steckte den Schlüssel ins Schloß seiner Wohnungstür und öffnete sie. Durch den Spalt nahm er hinter der halb aufgeschobenen Tür plötzlich eine rasche Bewegung wahr. Travis spannte die Muskeln, und sein Nackenhaar sträubte sich. Er stieß die Tür mit voller Wucht auf und hörte, wie sie an nachgiebigem Fleisch abprallte. Dann ließ er sich zu Boden fallen, hechtete um die Tür und stürzte sich auf die Person, die dort stand.
6 Travis rappelte sich taumelnd auf. Sein Arm schlug gegen den anderen, und er hörte, wie ein Gegenstand aus Metall zu Boden fiel. Seine Faust traf ein Gesicht, das er im Licht, das vom Flur ins Zimmer drang, kaum sehen konnte; und dann prallte er mit dem Körper zusammen. Er nagelte die Arme des Gegners auf den Boden und zerrte den Eindringling von der Wand fort. Währenddessen wußte er bereits, daß es eine Frau war. Der schwache Parfümduft bewies dies. Er drehte ihr einen Arm auf den Rücken, zog sie mit sich zur Wand und schaltete das Licht ein. Travis sah sofort, daß es die Blondine war. Er schob sie von sich, und sie taumelte ein paar Schritte fort, während er die Pistole aufhob und auf sie richtete. Dann stieß er mit dem Fuß die Tür zu, blieb stehen und nahm ihr Bild in sich auf. Das gleiche schöne Mädchen mit dem verhärteten Herzen. Heute trug es nur ein Kostüm, das ihre schlanke Taille betonte. Sie stand da und blickte ihm trotzig in die Augen; ihre Unterlippe schob sich entschlossen nach vorn. Etwas an ihr unterschied sie von allen anderen Frauen, die er bisher gekannt hatte. »Setz dich«, befahl er und deutete mit der Pistole auf einen Polsterstuhl.
»Danke, ich stehe lieber«, antwortete sie mit wohlklingender Stimme. »Wie du wünschst«, meinte er und sank in einen zweiten Sessel. »Was willst du?« »Offengestanden nichts, außer Sie töten«, erwiderte sie ruhig. »Warum bist du so scharf darauf, mich zu töten? Gibt es nicht genügend andere?« »Sie sind der einzige – nein, es gibt zwei –, die wissen, daß ich im Krankenhaus war.« Travis runzelte die Stirn. »Das gibst du zu?« »Sie und ein gewisser Hal Cable. Sie beide stehen auf meiner Liste.« Travis nahm die Patronen aus der Pistole und steckte sie in die Tasche. »Ich beabsichtige nicht, das Ding die ganze Nacht in der Hand zu halten.« Er musterte die Waffe. »Sieht aus wie neu.« »Sie wurde noch nie abgefeuert, wenn Sie das meinen.« »Vielleicht wird sie das jetzt auch nie.« Er warf die Pistole auf den Tisch. »Seien Sie dessen nicht so sicher.« Er beugte sich vor. »Hör mal, Süße«, sagte er, »was soll das alles? Warum hast du versucht, den alten Mann zu töten? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Tod des Greises und den anderen kranken Männern?«
Sie blickte ihn zynisch an und schwieg. Travis stand auf, näherte sich dem Mädchen und steckte die Hand in eine ihrer Kostümtaschen; sie schlug sie weg. »Was denken Sie sich eigentlich?« zischte sie wütend. »Halt den Mund!« befahl er, packte ihren Arm und drehte ihn ihr auf den Rücken. »Sie tun mir weh!« »Ich laß dich erst los, nachdem ich deine Taschen durchsucht habe.« Das Mädchen wand sich, aber er durchforschte ihre zwei Jackentaschen und fand in der einen einen kleinen, mit Perlen verzierten Behälter. »Und jetzt setz dich!« Er stieß sie aufs Sofa. Sie drehte sich um, blieb sitzen und starrte ihn an. Er ging zur Tür, schloß ab, trat zum Sofa und öffnete die Handtasche. »Sie werden nichts finden«, versprach sie. »Nein?« Er schüttete den Inhalt auf die Couch: Lippenstift, Spiegel, Puderdose, Zigaretten, Feuerzeug, Portemonnaie. Travis öffnete das letzte. Zwei Zehner, ein Dollarschein, etwas Kleingeld, eine Sozialversicherungskarte auf den Namen Betty Garner, ein Führerschein auf denselben Namen, West Prairie Street 1822, Union City, Illinois. »Also du heißt Betty, oder? Betty Garner. Netter
Name. Wie konnte ein so hübsches Mädchen jemals in eine solche Sache verwickelt werden?« »Danke für das Kompliment. Kein Kommentar.« »Wieviel bezahlt Dutch McCoy für meine Beseitigung?« Ihr Blick, mit dem sie ihn musterte, enthielt echte Belustigung. »Beseitigung? Ein seltsames Wort. Ich glaube, ich habe es seit Jahren nicht mehr gehört. Denken Sie nicht auch, daß es ein wenig melodramatisch klingt?« Er prüfte den Führerschein. »Du redest daher, als wärst du schon sehr alt. Aber hier steht, daß du erst zweiundzwanzig bist. Was hattest du nur für Eltern, daß sie dich in einen solchen Schlamassel stolpern ließen, Betty?« »Lassen Sie gefälligst meine Eltern aus dem Spiel.« »Ein wunder Punkt, wie?« Er steckte die Hand in die Brusttasche, zog ein Notizbuch heraus, schlug eine leere Seite auf, setzte sich dicht neben sie und begann zu zeichnen. Zuerst schenkte sie ihm keine Beachtung, doch dann riskierte sie einen verstohlenen Blick, während er einen Kreis zeichnete, ein Kreuz anhängte und in die Mitte des Kreises »23X« schrieb. Sie packte das Notizbuch und riß das Blatt heraus. Jetzt sah sie ihn ängstlich an. Ihr Gesicht war blaß, die Augen weit aufgerissen, und sie atmete schnell. »Wieviel wissen Sie?« fragte sie erschrocken.
»Genug.« Sie biß sich auf die Lippen, blickte ihn betroffen an und zerknüllte das Stück Papier. »Sie können nichts wissen«, flüsterte sie. »Nein? Warum?« Er lächelte sie an. »Dann säßen Sie nicht hier«, erwiderte sie. »Wo wäre ich denn dann?« Er legte heimlich den Arm um sie. »Oh, ich weiß es nicht.« Sie preßte die Hand gegen die Stirn und massierte sie. »Lassen Sie mich nachdenken. Sie – Sie haben mich aus der Fassung gebracht.« »Warum haben Sie mich nicht erschossen, als Hal und ich aus der Taverne zum lachenden Mann kamen?« »Ich weiß nicht. Ich – ich –« Er saß jetzt ganz dicht neben ihr, sah die Verwirrung in ihren Augen, das Zittern der hübschen Lippen, den Lichtschein auf ihrem blonden Haar. Plötzlich drückte er sie an sich. Ihre Lippen trafen sich. Augenblicklich wurde sie zur Stahlfeder. Ihr Körper versteifte sich; die Arme zerrten, stießen, drückten und schlugen gegen ihn; ihre Beine traten aus. Aber Travis hielt sie sicher im Griff und gab ihre Lippen nicht frei. Bald wurde sie schwach, die Arme ließen ab, und sie unterwarf sich. Aber den Kuß erwiderte sie nicht.
Als er sie freiließ, sank sie auf das Sofa zurück und blickte ihn verwundert an. »Ich – ich«, stammelte sie zitternd. »So stellte ich es mir nicht vor –« »Du bist schön«, sagte er und beugte sich ihr entgegen, als wolle er sie wieder umarmen. »Nein!« schrie sie. »Bitte nicht.« Sie stand auf, ging quer durchs Zimmer und blickte ihm ernst in die Augen. »Jetzt verstehe ich, warum ich Sie heute nachmittag nicht getötet habe. Mr. Travis, etwas an Ihnen –« Ihre Augen verengten sich. »Sie wissen in Wirklichkeit nichts über das Symbol, nicht wahr? Nein, natürlich nicht. Sonst –« »Sonst –?« Sie zuckte resigniert die Schultern und setzte sich in einen Lehnstuhl. »Man warnte mich, daß so etwas passieren könnte. Ich hatte wirklich keine Ahnung –« Sie schien ein Selbstgespräch zu führen. »Du bist so ungefähr das seltsamste Mädchen, das ich je kennengelernt habe«, gestand Travis. »Sprichst immer in Rätseln. Was bedeutet das alles?« »Das darf ich Ihnen nicht verraten.« »Nun, was darfst du mir dann verraten?« »Nur eines«, antwortete sie sachlich. »Ich kann Ihnen einen guten Rat geben. Ich weiß nicht, warum ich das tue, aber glauben Sie mir, es kommt aus tiefstem Herzen. Begehen Sie Selbstmord.«
»Selbstmord!« Er lachte. »Bist du verrückt?« »Warum verständigen Sie nicht die Polizei, nachdem ich Ihnen jetzt diesen Rat gegeben habe«, erwiderte sie kühl. »Ich bin bereit.« Sie wich seinem Blick aus. Travis war bestürzt. Wenn er die Polizei rief, wäre sowohl das Mädchen als auch die Chance, ihr eine Information zu entlocken, verschwunden. »Was ging in der Winthrop Street 1722 vor sich, Betty?« »Verständigen Sie die Polizei.« »Wie kannst du nur so schnippisch daherreden, wenn zwölf Männer im Sterben liegen?« Weil sie schwieg, fuhr er fort: »Was weißt du über Viren?« Noch immer keine Antwort. »Strahlungen?« Ihre Augen streiften ihn. »Es ist albern, Mr. Travis, mir weitere Fragen zu stellen«, sagte sie ruhig. »Ich werde sie nicht beantworten. Sie sollten lieber die Polizei verständigen.« Das Mädchen hatte einen Teil seiner Fassung, seiner früheren trotzigen Haltung wiedergewonnen. »Die Polizei hat gewisse Mittel, Auskünfte zu erzwingen.« »Vielleicht besitze ich die Mittel, sie ihnen zu verweigern.«
»Du bist deiner sehr sicher, nicht wahr?« »Ich habe meine Gründe dafür.« Travis stand auf und trat ans Telefon. Es war Bluff, eine reine Verzögerungstaktik, aber er wollte sehen, wie sie sich verhalten würde, wenn er die Nummer der Polizei wählte. Er hatte ihr nur einen Augenblick den Rücken gekehrt, während er überlegte. Aber das genügte. Er hörte hinter sich ein Zischen. Dann barst in seinem Kopf ein weißes Feuer, dem Finsternis folgte. Als Travis erwachte, lag er in seiner Wohnung auf dem Boden; das Licht brannte. In seinen Ohren brauste es, und als er sich mühsam aufrappelte, dröhnte ihm der Kopf. Er schalt sich selbst wegen seiner Dummheit. In all den Jahren als Journalist war ihm so etwas noch nie passiert. Travis wunderte sich, daß er überhaupt noch lebte. Das Mädchen hatte es ernst gemeint, daran bestand kein Zweifel. Sie sagte, er – und auch Hal Cable – stünden auf ihrer Liste. Warum hat sie mich nicht getötet? Er erinnerte sich jetzt, daß sie gesagt hatte, etwas an ihm hindere sie daran. Vielleicht war sie in ihn verliebt. Travis schnaubte angewidert. Wenn ja, wäre dies eine verdammt üble Methode, eine Liebesaffäre zu beginnen. Ein Schlag auf den Kopf. Womit hat sie mich eigent-
lich niedergeschlagen? Er blickte sich nach einer Waffe um. Die Pistole war verschwunden. Travis griff in seine Tasche. Die Patronen waren gleichfalls fort. Sonst fehlte nichts. »Gründliche kleine Teufelin!« Er ging in die Küche, schenkte sich einen Whisky ein und blickte auf die Uhr. Drei Uhr morgens. Um diese Zeit konnte er nichts unternehmen. Travis stürzte noch einen Drink hinunter und bettete seinen dröhnenden Schädel zur Ruhe. Am nächsten Morgen weckte ihn ein Telefonanruf von Kommissar Tomkins, der Travis mitteilte, daß ihn sowohl Polizeipräsident Ward Riley als auch Untersuchungsrichter Dwight O'Brien sprechen wollten. Nach einem eiligen Frühstück ging Travis ins Rathaus. »Man sagte mir, du sollst warten, Travis«, erklärte Wachtmeister Webster. Travis setzte sich auf eine Bank vorm Büro des Polizeipräsidenten und nahm den Star vom Donnerstag zur Hand. Darin las er, daß vier Männer, die am Mittwoch ins Krankenhaus eingeliefert wurden, gestorben waren. Sansona, Tobias und Kronansky waren tot, wie es Dr. Leaf vorausgesagt hatte; dazu ein Mann namens Rills, der anscheinend später eingetroffen war. Travis
hoffte, die Witwen würden es nicht zu schwer nehmen. Obwohl der Artikel über die Epidemie sowie die Meldung von sechs Todesopfern auf der Titelseite standen, zollte Travis dem Star seine Bewunderung, weil er die Angelegenheit nicht übermäßig hochspielte. Selbst Travis beruhigte es, zu lesen, daß bis Redaktionsschluß am Donnerstag keine neuen Fälle bekannt geworden seien – das wäre bis drei Uhr morgens, dem Zeitpunkt, zu dem er aufwachte, nachdem man ihn niedergeschlagen hatte. Er rieb in Erinnerung daran die Beule auf seinem Kopf. Die Sprechanlage auf dem Schreibtisch des Wachtmeisters erwachte zum Leben. »Ist Travis schon da?« erkundigte sich eine Stimme. »Jawohl, Herr Kommissar«, antwortete Wachtmeister Webster. »Er wartet.« Die Tür zum Büro des Polizeipräsidenten öffnete sich, und Kommissar Tomkins tauchte auf. »Kommen Sie herein, Travis«, bat er. Travis legte die Zeitung aus der Hand und betrat das geräumige Büro des Präsidenten. Er kannte Chief Riley, einen großen, ungeschlachten Mann mit schwarzem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar – ein Mann, der immer eine Brille trug, außer wenn er bei Verleihungsfeiern und patriotischen Veranstaltungen eine Rede hielt. Er kannte auch Untersuchungsrichter
O'Brien, einen ausgemergelten Mann mit beginnender Glatze, einer langen spitzen Nase, grauen Augen und schiefen Zähnen, der ständig einen Priem Kautabak im Mund hatte. Kommissar Tomkins nahm wieder Platz, und als letzten erkannte Travis noch Dr. Leaf, der sein gewohntes gequältes Lächeln trug. »Ich nehme an, Sie kennen alle Anwesenden, nicht wahr, Mr. Travis?« fragte der Präsident. Er nickte. »Ja. Ich bin Dr. Leaf gestern abend begegnet.« »Dann kommen wir gleich zur Sache.« Alle setzten sich, und Travis zündete sich eine Zigarette an. »O'Brien ist zu dem Schluß gekommen, daß er Sie bei der Gerichtsverhandlung nicht benötigt, weil das Mädchen seiner Meinung nach nichts mit dem Tod des Greises zu tun hat. Ist das richtig, Dwight?« »Ja«, bestätigte O'Brien. »Sie mag im Gesamtprojekt eine Rolle gespielt haben, ist jedoch nicht die unmittelbare Ursache.« »Aber Sie sind trotzdem noch an dieser Angelegenheit beteiligt«, fuhr der Präsident fort. »Sie waren dabei, als das Mädchen auftrat, wie man mir sagte, und Sie waren auch in dem Haus. Haben Sie irgendwelche Einwände, darüber eine eidesstattliche Aussage abzugeben?« »Nein, es wird mir eine Freude sein.« »Ich glaube, daß Ihre Aussage möglicherweise ei-
nen Anhaltspunkt bringt, etwas, was Sie selbst für unwichtig erachteten. Ich möchte gern, daß unser Gerichtsschreiber bei Gelegenheit alles schriftlich fixiert, an was Sie sich im Zusammenhang mit diesem Fall erinnern. Wären Sie damit einverstanden?« Travis gab seine Zusage. »Ich hörte, daß Sie vom Star für ein Jahr beurlaubt worden sind. Nach Ihrer Zeugenaussage können Sie Union City jederzeit verlassen. Haben Sie sich schon entschieden, wohin die Reise gehen soll?« »Nein«, gestand Travis. »Dieser Fall hat mein Interesse geweckt, so daß ich mich nicht davon trennen kann.« »Es war eine Blondine, Herr Präsident«, erklärte Kommissar Tomkins. »Er kämpfte im Krankenzimmer mit ihr, falls Sie sich erinnern.« Alle lachten, nur Travis nicht. »Wie lauten die neuesten Entwicklungen?« fragte er statt dessen. »Ich las gerade im Star, daß vier Männer gestorben sind.« »Zwei folgten am Vormittag«, erwiderte Dr. Leaf. »Die Gesamtzahl beläuft sich jetzt auf acht.« Travis schüttelte traurig den Kopf. »Ich nehme an, es besteht keine Hoffnung?« »Vermutlich klingt es abgedroschen, wenn ich sage: Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung, Mr. Travis«, antwortete Dr. Leaf.
»Sie erhielten doch heute morgen einen Bericht aus Chicago, nicht wahr, Dr. Leaf?« erkundigte sich der Präsident. Der Arzt nickte. »Man untersuchte dort das Gewebe mit allem, was zur Verfügung stand. Scheinbar kann die Ursache jetzt doch eher als eine Art Strahlung betrachtet werden, weil offensichtlich alle Zellen in gleichem Maße angegriffen sind. Die Untersuchung ergab, daß die Zellenaktivität über das Normalmaß hinaus angeregt wird, wodurch die Gene und Chromosomen zugrundegehen – ganz egal, in welchem Entwicklungsstadium sich die Zelle gerade befindet.« »Aber keine Frauen –«, warf Kommissar Tomkins dazwischen. »Ich weiß, was Sie sagen wollen«, erwiderte Dr. Leaf ernst. »Nein, Frauen wurden nicht angesteckt. Nun, meine Herren, eine Zelle ist ein mächtig kompliziertes Gebilde. Die Ursache muß auf der sexuellen Ebene liegen, denn die Zellen von Männern wie Frauen haben die gewöhnlichen Funktionen gemeinsam.« »Für mich klingt das wie eine Form von Krebs«, sagte O'Brien und biß ein Stück Kautabak ab. »Ich habe mir das einmal von einem Arzt erklären lassen.« »Ja«, bestätigte Dr. Leaf. »Es gleicht Krebs im Sinne, daß die Zellen angegriffen werden und absterben.«
»Es gibt hunderte von Chemikalien, die Prozesse einleiten, welche zu Krebs führen. Gewöhnlicher Sonnenschein kann – wenn man zuviel davon abbekommt – zu Hautkrebs führen. Selbst die Luft, die wir atmen, enthält Abfallstoffe, von denen man glaubt, daß sie Krebs verursachen.« Während der Arzt sprach, führte Travis geistesabwesend die Hand zum Kopf, berührte versehentlich seine Beule und zuckte zusammen. Dr. Leaf blickte ihn währenddessen zufällig an. »Hören Sie mal«, sagte der Arzt und kam zu ihm herüber. »Da haben Sie sich ja eine gräßliche Beule zugezogen.« »Wie ist denn das passiert, Travis?« wollte der Präsident wissen. »Nun«, meinte Travis, »ich wollte es Ihnen eigentlich verschweigen, aber wenn Sie schon davon sprechen: es war die Blondine, die Kommissar Tomkins erwähnte. Sie hat mich mit einer Pistole bewußtlos geschlagen.« »Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt?« fragte der Kommissar ein wenig verärgert. »Weil ich vermutlich eine Gelegenheit verpatzt habe, echte Informationen zu erhalten. Als ich gestern abend nach Hause kam, erwartete sie mich mit einer Pistole hinter meiner Wohnungstür.« Travis berichtete von seinem Plausch mit dem Mädchen.
»Sie heißt Betty Garner, ja?« Kommissar Tomkins schrieb den Namen in sein Notizbuch. »Wo, sagten Sie, wohnt das Mädchen?« Travis gab ihm die Adresse. »Warum verständigen Sie nicht einen Streifenwagen und lassen das Haus überprüfen?« fragte der Polizeipräsident. Kommissar Tomkins ging zur Gegensprechanlage und gab den entsprechenden Befehl durch. »Wir können momentan kein Kommando im Einsatz erreichen«, erklärte eine Stimme. »Mit der Funkverbindung stimmt was nicht. Der Mechaniker hat versprochen, daß er gleich rüberkommt.« Kommissar Tomkins schaltete das Gerät aus. »Wir werden selbst fahren müssen. Ich denke, wir sollten das nicht versäumen.« »Ich habe das dumpfe Gefühl, als hätte sich gestern abend zwischen dem Mädchen und mir eine Meinungsverschiedenheit ergeben«, bemerkte Travis. »Dann fahren Sie halt mit«, meinte der Kommissar lächelnd. »Wir lassen Sie mit ihr zusammen hinten sitzen.« Wenige Minuten später jagte ein Streifenwagen eine Hauptverkehrsstraße entlang zum Westen der Stadt. Kommissar Tomkins und der Fahrer saßen vorne, Travis auf dem Rücksitz. Sie bogen in die West Prairie ein und fuhren an ge-
pflegten Rasenflächen, mit Steinplatten gepflasterten Gehwegen und leeren Baugrundstücken vorbei. Die geraden Nummern lagen auf der Nordseite. Wohnblock 1600, Häuserblock 1700, 1800, 1802, 1806, 1810, 1812, 1818, 1820, 1824. »Heh«, rief Travis. »Wir haben es verpaßt.« Kommissar Tomkins drehte sich um und grinste ihn an. »Ja, sicher. Nur haben Sie's zuerst verpaßt. Nämlich den Anschluß.« »1822 ist zufällig ein unbebautes Grundstück.«
7 Travis verbrachte die restlichen Morgenstunden im Rathaus und berichtete einem Gerichtsschreiber alles, was er über den Fall wußte. Nur die Karteikarte mit Rosalie Turners Namen, die in seiner Tasche steckte, verschwieg er. Darüber wollte er selbst Nachforschungen anstellen. Nach dem Mittagessen ging er zum Zeitungsgebäude, betrat eine Kneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite und rief das Fotolabor an. »Hal?« »Ja. Wer ist am Apparat?« »Du willst doch nicht behaupten, daß du meine Stimme nicht erkennst? Vielleicht bin ich wieder im Stimmbruch –« »Hör mal, Trav, ich habe keine Zeit für Späße. Ich befinde mich in ernsthaften Schwierigkeiten.« »Hast du Zeit für ein Bier?« »Verdammt, vermutlich, aber ich muß gleich wieder zurück.« »In Ordnung. Ich bin im Harold's Place auf der anderen Straßenseite.« Wenige Minuten später traf Hal Cable ein. Er schwitzte und war nervös. Ein kalter Zigarrenstummel hing ihm im Mundwinkel.
»Was ist los mit dir?« fragte Travis. »Erinnerst du dich, daß ich dir sagte, ein paar von den Grünschnäbeln hätten schwarze Filme abgeliefert?« begann Hal verdrießlich. »Jetzt hat sich herausgestellt, daß der ganze Film, den wir geliefert bekamen, nichts taugt. Stell dir das mal vor! Wir besitzen Dutzende von Kisten, alle unbrauchbar. Man öffnet eine neue Kiste, entwickelt eine Aufnahme. Boing! Sie ist schwarz!« Er ballte die Faust. »Ich könnte den Kerl umbringen, der uns den Film verkauft hat.« Sie bestellten Bier. »Dann willst du wahrscheinlich gar nicht hören, was ich dir mitzuteilen habe«, meinte Travis. »Es wird dein Unglück nur noch vergrößern.« »Nur zu. Mich kann nichts mehr erschüttern.« »Es dreht sich um das Mädchen, mit dem ich im Krankenhaus eine Balgerei hatte. Du weißt schon, diejenige, die uns auf der Straße mit der Pistole in der Hand begegnet ist. Sie behauptet, sie habe es auf dich und mich abgesehen.« »Wirklich?« fragte Hal und nahm einen Schluck Bier. »Warum denn das?« »Weil du weißt, wie sie aussieht. Mir hat sie gestern nacht einen Schlag auf den Kopf verabreicht.« Travis machte Hal mit der neuesten Entwicklung vertraut. »Ich hätte dir nie meine Hilfe anbieten sollen«, stöhnte Hal. »Jetzt hetzt mich eine Blondine. Das wär
ja in Ordnung, aber ich kann ihre Pistole nicht leiden.« »Du steckst jetzt genauso tief in dieser Sache wie ich.« »Dein Wort in Teufels Ohr. Hör zu: Das nächstemal, wenn du das Mädel triffst, sagst du ihr, daß ich aussteige. Ich will nicht umgelegt werden –« Dann hellte sich seine Miene auf. »Oder vielleicht doch! Es wäre eine Möglichkeit, meine gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden. Denk nur an die Geschäftsstelle, wenn ich der mitteile, daß der Film nichts taugt!« »Ich fühle mit dir«, versicherte Travis. Hal zündete seinen Zigarrenstummel an und rief den Wirt. »Ja, Mr. Cable«, sagte dieser. »Geben Sie uns noch zwei Bier. Wird jetzt nicht das Baseballspiel übertragen?« Der Wirt trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Ich fürchtete, daß mich jemand danach fragen würde«, gestand er mürrisch. »Der Fernseher ist kaputt.« »Kaputt? Was ist denn los?« »Sehen Sie selbst«, schlug der Gefragte vor und ging zur Schalttafel am anderen Ende der Theke. »Ich hab an solchen Nachmittagen immer viele Gäste. Sie sitzen da, schauen zu und trinken dabei ihr Bier. Nur heute nicht. Wer will schon so was sehen?«
Der Bildschirm machte den verschwommenen Eindruck von Schatten, die hinter Wolken herjagten; gelegentlich wirbelte ein einem Sägeblatt ähnelndes Muster darüber. Der Ton bestand aus ständigem Knistern, Knallen und Summen. »Siehst du«, meinte Travis und wandte sich an Hal, »einem geht's immer noch schlechter als dir.« »Das ist bei weitem nicht so tragisch.« »Möglich. Aber, um dein Elend vollkommen zu machen, ich möchte mir heute nachmittag deinen Wagen ausleihen.« »Schon gut«, willigte Hal ein. »Nimm alles, was mein ist. Falls ich nicht mehr lebe, wenn du zurückkommst, kannst du den Schlitten behalten.« Er zog die Schlüssel aus der Tasche und gab sie Travis. »Er steht vorm Südtor des Pressehauses. Was hast du vor?« »Will bloß ein Mädchen aufsuchen.« »Mädchen, wie?« Hal stürzte sich auf sein zweites Bier. »Nun, vermutlich kannst du am hellichten Nachmittag nicht in Schwierigkeiten kommen. Du bist doch um fünf zurück, oder?« »Ich werd's versuchen.« Sie stiegen von den Barhockern und steuerten zur Tür. »Bis morgen hab ich den Fernseher reparieren lassen«, rief ihnen der Wirt nach, während sie ins Freie traten.
»Bemühen Sie sich nicht. Ich bezweifle, daß ich die Nacht überlebe«, meinte Hal. Travis lenkte Hal Cables Auto dem Ostende von Union City zu. Er verlangsamte das Tempo, als er auf der einen Straßenseite Hinweise auf die »Higgins Erschließungsgesellschaft« gewahrte. Bald entdeckte er das Schild mit der Aufschrift Drexler Drive. Es war ein großes Erschließungsgebiet, und auf einigen Grundstücken hatten die Bauarbeiten bereits begonnen: ein paar Sockel waren gegossen, einige Keller ausgehoben worden. Langsam steuerte er den Wagen in Richtung eines einstöckigen Gebäudes, den modernen Fahrdamm hinunter. Wenn ich mich nicht irre, dachte er, finde ich dort Rosalie Turner. Er fuhr auf einen Parkplatz neben dem Anbau, auf dem in Großbuchstaben BÜRO stand. Das Büro bestand aus einem einzelnen, geräumigen Zimmer mit einigen Schreibtischen; ein Holzgitter trennte den Raum rund um die Eingangstüre davon ab. Es erinnerte Travis an eine Schreibstube beim Militär. Ein Mädchen saß hinter ihrer Schreibmaschine. Sie hob den Kopf, als er eintrat. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie herablassend. »Sind Sie Rosalie Turner?« erkundigte er sich, nahm den Hut ab und näherte sich dem Gitter.
»Ja, was kann ich für Sie tun?« Miss Turner hatte kastanienbraunes Haar, grüne Augen und einen pfirsichfarbenen Teint. Soweit er sehen konnte, besaß sie eine hübsche Figur. Aber als er ihr wieder in die Augen blickte, entdeckte er darin einen Hauch Gleichgültigkeit, der ihn störte. Sie war reizend, aber kühl. »Jemand riet mir, Sie aufzusuchen«, log er. »Gibt es hier gute Grundstücke?« »Mr. Forrest ist in ungefähr fünfzehn Minuten zurück. Wer nannte Ihnen meinen Namen?« »Ein Freund. Er hat hier ein Grundstück gekauft und dachte, Sie könnten mir vielleicht ein paar Informationen aus erster Hand geben.« »Mr. Forrest ist für die Geschäftsabschlüsse zuständig«, erklärte sie. »Wenn Sie bitte Platz nehmen – « »Danke.« Er setzte sich auf eine Bank vor dem Gitter, drehte sich ihr zu und sprach weiter: »Eine sehr hübsche Gegend, nicht wahr?« Sie musterte ihn mißtrauisch. »Ja, vermutlich. Mr. Higgins und Mr. Forrest haben viele zufriedene Kunden.« »Arbeiten Sie schon lange hier?« »Warum fragen Sie?« Die grünen Augen zeigten jetzt Interesse, aber ein kühles, verschlagenes Interesse.
»Oh, reine Neugier. Da Sie mich auf Mr. Forrest verwiesen, läßt das die Schlußfolgerung zu, daß Sie noch nicht lange genug hier sind, um viel zu sagen zu haben.« »Zu Ihrer Information: ich bin nur die Sekretärin. Ich habe nichts mit dem Verkauf von Grundstücken zu tun.« Er lächelte sie an. »Man sollte meinen, ein hübsches Mädchen wie Sie könnte mehr sein, als nur Sekretärin. Gehören Sie vielleicht zu einem Verein. Zu einem Verein, der sich in der Winthrop Street 1722 zu treffen pflegte?« Ihre Augen trotzten den seinen, ohne zu zwinkern. »Ich dachte, ich hätte dort Ihre Mitgliedskarte gefunden, Rosalie«, sagte er, fischte nach der Karteikarte in seiner Tasche und zog sie heraus. »Wo zum Teufel ist Sitz achtzehn?« »Selbst wenn ich es Ihnen sagte, würde Ihnen das nichts nützen«, erwiderte sie vorsichtig. »Hier steht, Ihre Seriennummer sei 17432.« Das Mädchen stand auf, kehrte ihm den Rücken und trat ans Fenster. »Wann ist euer kleines Klubhaus abgebrannt, Rosalie?« Sie drehte sich um und sah ihm ins Gesicht; die Arme hatte sie über der Brust verschränkt. »Man könnte Sie fast als amüsant bezeichnen, wenn Sie
nicht zu bemitleiden wären, Mr. Travis«, erklärte sie ruhig. Travis sprang auf, als sein Name genannt wurde. »Denken Sie, ich hätte nicht gewußt, daß Sie hierherkommen würden?« fragte sie. »Sie müssen uns für Dummköpfe halten.« »Uns?« »Sie würden an dem, was ich Ihnen erzählen könnte, weder Gefallen finden noch es verstehen. Seit heute morgen spielt es ohnehin keine Rolle mehr. Und jetzt gehen Sie besser.« Miss Turner kehrte an ihre Schreibmaschine zurück. »Warum sollte es keine Rolle mehr spielen?« fragte er hartnäckig. »Sie sind genauso schuldig wie alle anderen, wenn Sie wissen, was in diesem Haus in der Winthrop Street vorgegangen ist. Es scheint Ihnen auch egal zu sein, daß es das Leben von zwölf Männern kostet.« »Sie haben völlig recht«, sagte Miss Turner schonungslos. »Es ist mir ganz egal.« »Dann sind Sie kein Mensch.« »Glauben Sie? Was bin ich sonst?« »Ich wollte, ich wüßte es. Kennen Sie kein Erbarmen, kein Mitleid, überhaupt kein Gefühl?« »Doch, ich kenne Gefühle. Ich habe viele Gefühle; Empfindungen, die genauso tief sitzen wie die Ihren.« Jetzt flammten ihre Augen, und sie blickte ihn
herausfordernd an. »Ich tue, was ich für richtig halte. Für ein Ideal will ich alles aufs Spiel setzen.« »Kein Ideal kann den Tod von zwölf unschuldigen Männern tilgen!« warf er hitzig dazwischen. »Es gibt keine unschuldigen Männer!« »Was ist los mit Ihnen? Hat man Sie mal sitzengelassen?« Miss Turner schnaubte verächtlich. Plötzlich war es im Büro still. Sie hörten von draußen entfernte Stimmen, und ein paarmal fuhr ein Auto vorbei. Sie zuckten beide zusammen, als das Telefon schrillte. Das Mädchen hob ab. »Es ist für Sie«, erklärte sie verwundert und reichte ihm den Hörer. Ebenso überrascht wie sie nahm ihn Travis in die Hand. »Hier spricht Betty Garner«, flüsterte die Stimme. »Stoß jetzt keinen Schrei aus oder verrate, daß du mich erkennst. Das ist ein äußerst gefährlicher Anruf für mich. Verstehst du?« »Ja, Linda«, antwortete er, sofort reagierend. Miss Turner war, wie er bemerkte, höflich ans Fenster getreten. »Sehr gut, Travis«, lobte Betty. »Ich will mit dir sprechen – allein. Was ich zu sagen habe, ist für dich sehr wichtig. Aber keine Tricks, wie zum Beispiel Polizei. Kann ich dir trauen?«
»Ja, Linda.« »Gut. Sag jetzt nichts mehr. Fahr nur in deine Wohnung. Ich treffe dich dort – bitte keine weiteren Fragen. Es ist – Travis, es ist eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Kommst du gleich?« »Ja, Linda.« Sie verabschiedete sich, und er legte auf. Miss Turner wandte sich vom Fenster ab und musterte ihn kalt. Er machte sich nicht die Mühe, eine Erklärung abzugeben. Statt dessen drehte er sich um und ging. Während Travis zu seiner Wohnung fuhr, versuchte er die kalten Augen des Mädchens zu vergessen. Er überlegte, daß zwischen ihr und Betty Garner ein himmelhoher Unterschied bestand. Betty schien die gleiche Ansicht zu vertreten, aber wenigstens besaß sie Augenblicke von Wärme und Freundlichkeit, ja fast Humor. Rosalie wirkte hingegen wie eine wunderschöne, aber tödliche Blume; ein Lebewesen ohne Herz. Travis erreichte seine Wohnung, fand Betty jedoch nicht vor. Sie ersparte ihm zumindest eine weitere Balgerei oder ein zweites Gespräch mit vorgehaltener Pistole. Er war aber noch keine fünf Minuten da, als leise an die Tür geklopft wurde: Betty. Sie kam herein, sah sich um und warf ihm einen dankbaren Blick zu, als sie erkannte, daß sonst niemand in der Wohnung war.
»Danke, daß du mir vertraut hast«, sagte sie und setzte sich auf das Sofa. »Ich stehe wahrscheinlich selbst unter Verdacht.« »Wer – verdächtigt dich denn?« fragte Travis und kam zu ihr herüber. »Einige Dinge kann ich dir sagen, andere wieder nicht«, antwortete sie. »Das gehört zu dem, was ich dir nicht mitteilen darf.« »Warum?« Er nahm ihre Hände. Betty entzog sie ihm. »Es gibt eine sehr straffe Organisation«, erklärte sie und wich seinem Blick aus. »Kein Außenstehender weiß etwas darüber, dessen bin ich sicher. Ich war nur in deiner Nähe, weil man von mir erwartete, daß ich dich töte.« »Du hattest gestern nacht fast Erfolg«, meinte er kläglich und massierte die Beule auf seinem Kopf. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich, »aber ich fand heraus, daß ich dich nicht töten kann. Vielleicht – vielleicht kann ich überhaupt niemand töten. Aber das bedeutet nicht, daß ich nicht an unsere Sache glaube. Nur du bist eine Ausnahme. Es gibt keinen anderen lebenden Mann –« Er nahm ihre Hände, und diesmal entzog sie sie ihm nicht. »Gestern nacht, nachdem ich dich niedergeschlagen hatte, durchsuchte ich deine Taschen und fand
die Patronen. Ich fand auch die Karteikarte aus dem Haus in der Winthrop Street. Wir entdeckten ihr Fehlen, und das war einer der Gründe, warum das Haus in Brand gesteckt wurde. Man konnte sich leicht ausrechnen, daß du in den nächsten Tagen Rosalie einen Besuch abstatten würdest. Ich bin nur froh, daß du die Karte nicht der Polizei übergeben hast.« »Bist du deshalb hierher gekommen, um mir das zu erzählen?« fragte er. »Nein.« Sie drückte seine Hände und lehnte sich unbewußt an ihn. Sie schien innerlich mit sich zu kämpfen, und ihre Augen baten um Verständnis. »Nein, das ist nicht der Grund. Ich will bloß nicht, daß dir etwas passiert –« Er beugte sich zu ihr, während ihre großen blauen Augen ihn flehentlich anblickten. Plötzlich lag sie in seinen Armen, und er bedeckte ihre Lippen, ihr Gesicht und ihren Hals mit leidenschaftlichen Küssen; ihr warmer Atem brachte sein Blut in Wallung. Genauso plötzlich riß sie sich los. »Nicht, Travis!« wehrte sie leise, aber bestimmt ab. »Wir dürfen uns nicht wie die Narren benehmen. Es ist unmöglich.« »Es ist nicht unmöglich«, widersprach er und zog sie wieder an sich. Ihre weichen Arme, ihr schneller Atem, der die vollen Brüste hob und senkte, die jetzt geröteten Wangen – all das beschleunigte seinen ei-
genen Puls, und Travis wünschte, er könnte sie ganz fest an sich pressen. Sie lag abermals an seiner Brust. »Liebling, Liebling«, flüsterte sie zärtlich, dann: »– seltsam. Ich dachte nicht, daß ich jemals einen Mann so nennen würde. Man erwartet von mir nicht, daß ich für einen Mann dieses Gefühl hege. Es widersetzt sich allem, was man mich lehrte. Ich habe mir nie träumen lassen –« Sie war wieder von ihm abgerückt und saß mit blauen, glänzenden Augen und gerötetem Gesicht da. »Travis, du machst es mir schwer – Ich kam, um dir zu sagen, daß du Union City verlassen mußt. Ich gebe dir die Chance, dein Leben zu retten.« Betty vergrub den Kopf an seiner Schulter. »Ich will nicht, daß du grau und schwarz wirst wie die anderen Männer –«, schluchzte sie. Was zum Teufel meinte sie? Warum sollte es ihm wie diesen anderen Männern ergehen? Travis nahm sie bei den Schultern und drehte sie zu sich. »Ich bin ja so unglücklich«, weinte sie. »Ich glaubte die ganze Zeit daran. Es war mein Lebensinhalt. Alle meine Gedanken galten diesem Ideal. Und jetzt – warum muß das sein? Warum? Warum? Warum?« Sie hämmerte mit der Faust auf seine Schulter. Er reichte ihr sein Taschentuch; sie trocknete sich die Augen und putzte die Nase.
Danach sah sie wie ein kleines Mädchen aus. Ein kleines, süßes Mädchen, wie er vielleicht als Junge eines gekannt hatte. Eine ungekünstelte, unverdorbene Kreatur voll unvermuteter Fragen, Sorgen und Liebe. »Ich benehme mich schrecklich dumm, nicht wahr?« fragte sie schniefend. »Ich hätte dich gleich töten sollen. Dann würde ich mir um dich keine Sorgen machen.« »Warum solltest du dir um mich Sorgen machen?« »Wegen meiner Gefühle für dich. Gefühle, die meine Art angeblich nie haben kann –« »Deine Art?« Jetzt stand sie auf und glättete ihr Kleid. »Ist es tatsächlich schön, verheiratet zu sein und sich die ganze Zeit so zu küssen? Und Kinder zu bekommen? Mutter zu sein? Hausfrau?« »Bist du verrückt?« fragte er, stand auf und trat zu ihr. »Natürlich ist es schön. Hast du nicht immer daran geglaubt?« Sie stieß ihn von sich. »Nein, daran habe ich nie geglaubt.« »Du bist ein verteufeltes Mädchen!« erklärte er. Plötzlich war Betty wieder sie selbst. »Geh zum Sofa und setz dich, Travis. Ich muß dir etwas sagen und will nicht, daß du in meiner Nähe bist, sonst kann ich es nicht.« Ihre Stimme war ruhig und entschlossen; sie schien sich wieder unter Kontrolle zu haben.
»Ich verriet dir bereits am Telefon, daß es eine Angelegenheit auf Leben oder Tod sei«, erklärte sie. »Das war die Wahrheit. Ich sprach von deinem Leben. Ich will dich nicht sterben sehen. Aber das wirst du.« »Was soll das Geschwätz? Natürlich sterben wir alle.« »Du wirst zu früh sterben. Aber du kannst dich vorübergehend retten. Dir bleiben zwei Möglichkeiten: Union City zu verlassen oder Selbstmord zu begehen.« Travis warf die Hände in die Luft und entfernte sich von ihr. »Du bist verrückt«, rief er erbost. »In der einen Minute liegst du in meinen Armen, in der nächsten verlangst du, daß ich Selbstmord begehe.« »Ich denke nur an dich!« erklärte sie kläglich. »Du bedienst dich einer schrecklich abwegigen Logik. Wenn du wirklich so sehr an mich denkst, solltest du mir besser alles Wissenswerte über die zwölf toten Männer, die Seuche, das Haus in der Winthrop Street, Rosalie Turner und deine Rolle in diesem Spiel mitteilen.« »Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich riskiere wahrscheinlich selbst mein Leben, während ich hier stehe und mich mit dir unterhalte.« Travis fuhr mit den Fingern durchs Haar und setzte sich in einen Sessel. Es klang, als würde sie die
Wahrheit sagen. Was, wenn sie wirklich gekommen war, um ihm das Leben zu retten? Er blickte zu ihr auf. »Du behauptest, daß ich sterben werde, wenn ich die Stadt nicht verlasse?« »Richtig.« »Nun gut. Ich gehe unter einer Bedingung.« Ihre Augen wurden schmal. »Welche?« »Daß du mich begleitest.« Für einen Moment ging ihr Atem schneller, in ihren Augen blitzte kurz Sehnsucht auf, und eine plötzliche Röte überzog ihr Gesicht, aber das ging rasch vorbei. »Glaub mir, es gibt nichts, was ich auf dieser Welt lieber täte, Travis«, versicherte sie leise. »Aber es wäre dir gegenüber nicht anständig.« »In diesem Fall bleibe ich.« »Dann bist du ein Narr«, sagte Betty scharf und starrte ihn ungläubig an, als würde sie darauf warten, daß er seinen Sinn ändere. Schließlich drehte sie sich auf dem Absatz um, und bevor er sie aufhalten konnte, hastete sie durch die Tür. Travis hörte das verklingende Geräusch ihrer Stöckelschuhe, während sie den Korridor entlangeilte.
8 Rosalie Turner hatte die Männer an der purpurfarbenen Wand aufgestellt. In der Hand hielt sie ein großes Gewehr und richtete es auf einen Mann. Sie drückte ab; winzige Lichter blitzten auf; der Mann wurde grau, dann schwarz und fiel tot zu Boden. Rosalie lachte wie irr und spannte den Hahn. Ich muß sie aufhalten, dachte er. Ich muß sie töten, ehe sie alle diese Männer umlegt. Plötzlich trat Betty Garner zwischen ihn und die Erschießungsszene. Sie näherte sich ihm und schwang verführerisch die Hüften; ein halbes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Er bemerkte, daß sie nur mit einem durchsichtigen Gewand bekleidet war, das sie kaum verhüllte; ihre Nähe berauschte ihn. Travis konnte sich nicht rühren. Er war gefesselt, aber er versuchte freizukommen. Es hatte keinen Sinn. Plötzlich verdeckte Bettys Kopf die Sicht auf die fallenden Männer. Ein helles, verborgenes Licht ließ ihr blondes Haar glänzen; um ihren Kopf schwebte sogar ein Heiligenschein. Ihre Augen funkelten lüstern. Im nächsten Moment küßte sie ihn leidenschaftlich, liebkoste ihn und raunte: »Sieh nicht hin, Liebling. Schenk ihr keine Beachtung. Rosalie ist ein böses
Mädchen. Ich binde dich los, und wir gehen fort.« Sie flüsterte ihm ins Ohr, und er spürte ihre Lippen und ihren Atem. »Nur wir beide ... nur du und ich –« Das Schrillen des Telefons ließ den Traum wie eine Seifenblase platzen. Er lag im Bett mit erhitztem Blut und heftiger Sehnsucht nach Betty. Dann versiegte sie langsam, während er sein Zimmer wahrnahm. »Travis? Hier spricht Cline. Hör zu, Travis. Gilberts ist krank geworden, und alles geht drunter und drüber. Wir brauchen dich. Ich nehm an, du hast von dem Film gehört?« »Ja. Cable hat es mir gestern erzählt.« »Also hör zu: es ist in der ganzen Stadt dasselbe. Alle Filme sind unbrauchbar. Etwas geht vor, von dem keiner eine Ahnung hat. Und die Störung bei Rundfunk und Fernsehen – hast du schon davon gehört?« Das war neu. »Nein, ich glaube nicht.« »Auch in der ganzen Stadt«, krächzte Cline. »Begann ungefähr um zehn Uhr gestern vormittag. Niemand kann eine Sendung über Fernsehapparat oder Rundfunkgerät empfangen. Die Rundfunk- und Fernsehstationen haben den Betrieb einfach eingestellt.« »Cline, ich bin ausgestiegen. Parsons sagte, es ginge in Ordnung, man wäre voll belegt. Ich könnte genauso gut in Moskau sein.«
»Aber du bist es nicht«, gab ihm der Lokalredakteur Kontra. »Du bist hier. Und außerdem hab ich erfahren, daß du nebenbei daran arbeitest. Schließlich warst du von Anfang an dabei, falls du dich erinnerst.« »Wie könnte ich das vergessen? Hätte ich das Krankenhaus nur einen Tag früher verlassen!« »Aber das hast du nicht getan. Jetzt interessierst du dich selbst für die Sache. Warum nicht mit dem zusätzlichen Ansporn, daß du auch für uns etwas tust?« »Aber das ist es ja gerade, Cline. Mir gefiel es so. Der ganze Aspekt ändert sich, wenn ich wieder für den Star tätig werde.« »Bedeutet es dir gar nichts, daß ich dich um Hilfe bitte, Travis?« »Doch, Cline. Ich will nicht, daß Sie mich für einen Lumpen halten.« Travis gelang es, sich während des Sprechens eine Zigarette anzuzünden. »Hören Sie, Cline. Ich bin gerade aufgestanden. Lassen Sie mir Zeit, mir die Sache zu überlegen.« »In Ordnung, Kumpel, aber denk schnell. Wir brauchen dich.« In Travis keimte ein Gedanke. Dieser reichte zurück zum Montag abend, als er im Union CityKrankenhaus lag und ein alter, schreiender Mann eingeliefert wurde. Travis verschlang eilig sein Frühstück und zog
dann ein Telefonbuch zu Rate. Vielleicht erwies sich seine Überlegung als richtig. Er fand das, wonach er suchte, auf den gelben Seiten: Eine Reparaturwerkstatt für Funkgeräte. Travis wählte die ihm am nächsten gelegene und ging hin. Sie hatte geschlossen. Er betrat eine Imbißstube, suchte sich eine zweite Reparaturwerkstatt und ging zu ihr. Sie hatte geöffnet. Travis trat ein. Ein großer Mann im Overall saß innen, die Beine auf dem Schreibtisch. »Nein so was«, staunte er und stand auf. »Ein Kunde!« »Keine Kundschaft?« fragte Travis. Der Mann deutete auf ein Telefon. »Ich bekam soviel Anrufe, daß ich es aushängte«, erklärte er. »Seit gestern vormittag ruft Gott und die Welt an und möchte, daß ich ihre Apparate repariere. Fast den ganzen Vormittag bin ich herumgefahren und hab sie zusammengesammelt. Sie stehen im Hinterzimmer. Dann find ich raus, daß ihnen nichts fehlt. Etwas stimmt mit dem Empfang nicht. Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte nur einige Auskünfte«, erklärte Travis. »Ist das früher schon mal passiert?« Der Mechaniker schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann mich nicht erinnern. Sicher, manchmal läßt uns jemand kommen, um ein Gerät mitzunehmen. Wenn wir es dann ins Geschäft geschafft haben und ein-
schalten, geht es ausgezeichnet. Gewöhnlich eine lokkere Röhre, und das Rütteln im Lastwagen stellt den unterbrochenen Kontakt wieder her.« »Wie war das letzten Montag? Hatten Sie da einen ähnlichen Fall?« »Montag?« Der Mann kratzte sich am Kopf. »Lassen Sie mich mal sehen.« Er öffnete eine Schublade, nahm ein Buch heraus und blätterte zurück. »Montag. Montag. Ja, hier haben wir's. Ja, am Montag gab es drei solche Fälle.« »Jetzt kommt die entscheidende Frage«, sagte Travis. »Wo haben Sie diese Geräte abgeholt?« Der Geschäftsinhaber musterte ihn eingehend. »Warum wollen Sie das wissen?« »Ich versuche mir nur einen Reim auf die heutigen Vorkommnisse zu machen. Ihre Auskunft würde mir dabei helfen.« »In Ordnung. Schauen wir mal. Hier sind die Adressen: Willard Street 1300, Winthrop Street 1635 und Ridgeway Avenue 2110.« Travis notierte sich die Anschriften. »Haben Sie Telefon?« Der jetzt vollkommen verwirrte Mechaniker deutete auf den ausgehängten Apparat. »Ach, ja richtig«, entschuldigte sich Travis. »Ich vergaß, daß Sie's bereits erwähnten.« Er legte den Hörer auf die Gabel zurück, hob ihn dann ab und
vernahm das Freizeichen. Er rief beim Star an und verlangte Hal Cable. »Hal«, sagte er, »Travis. Hör zu. Erinnerst du dich, daß du mir bei deinem Besuch im Union CityKrankenhaus von den Filmen erzählt hast, die vergangenen Montag schwarz geworden sind?« »Ob ich mich erinnere? Wie kann ich das vergessen?« »Gut. Jetzt kommt die Preisfrage: Wohin sind die Fotografen an diesem Tag gefahren?« »Ja, ja. Ich verstehe, was du meinst. Nun, ich glaube, es war irgendwo im Westen. Ja, jetzt erinnere ich mich. Einer fuhr zu einem Waisenhaus im Westviertel und machte eine Aufnahme von –« »Egal. Wie steht's mit den anderen?« »Oh, laß mich überlegen – Ja, Winters ging auch westwärts zum Sportplatz. Und Hayden – Verdammt, ich kann mich nicht mehr darauf besinnen.« »Hal, wäre es denkbar, daß einer davon an dem abgebrannten Haus in der Winthrop Street oder in der Nähe vorbeikam?« »Eine Sekunde – Aber natürlich, die Busse, die Autos – sie fuhren alle dicht an der Leland vorbei. Heh, Travis, glaubst du, da gibt es einen Zusammenhang?« »Das weiß ich verdammt sicher. Ich muß weiter.« Er legte auf und schnappte sich ein Taxi zum Polizeirevier.
»Travis!« rief Kommissar Tomkins, als er in sein Büro spazierte. »Schön, Sie zu sehen. Was für ein Ärger, weil sämtliche Funkgeräte nicht funktionieren. Verdammte Sonnenflecken!« »Wollen Sie damit vielleicht andeuten, daß noch niemand daran dachte, den geschwärzten Film und die Störung miteinander in Verbindung zu bringen?« fragte Travis. »Den geschwärzten Film? Wovon reden Sie denn?« »Der Film in der ganzen Stadt ist schwarz geworden. Natürlich nicht richtig, sondern erst, wenn man ihn entwickelt.« Kommissar Tomkins strich sich übers Kinn. »Interessant.« »Ja«, fuhr Travis fort. »Aber das ist noch nicht mal die Hälfte.« Er berichtete dem Kommissar von seinen Ermittlungen. »Dann meinen Sie –! O Gott!« Kommissar Tomkins starrte ihn an. »Das bedeutet, es ist jetzt mächtiger als zuvor und dehnt sich über die ganze Stadt aus!« »Genau«, bestätigte Travis. »Wir müssen was unternehmen. Jetzt lassen Sie mich noch einige Dinge erzählen, die ich Ihnen schon früher mitteilen hätte sollen.« Travis berichtete von der Karteikarte, seiner Unterredung mit Rosalie Turner, seinem Gespräch mit Bet-
ty und ihrer Warnung, daß er grau werden und sterben würde, wenn er die Stadt nicht verließe. »Warum?« rief der Kommissar. »Verdammt: Warum?« Für einen Augenblick stand der Kommissar wie gelähmt da. Im nächsten Moment überstürzten sich seine Handlungen. Er drückte jeden Summknopf auf seinem Schreibtisch, und ein halbes Dutzend Polizisten betraten das Büro. Er gab einem Rosalie Turners Anschrift, einem anderen ihre Geschäftsadresse. Dann erließ er einen Aufruf an alle Männer bei der Polizei, sich in ihren Dienststellen zu melden; darauf rief er den Präsidenten an und sprach ein paar Minuten mit ihm; schließlich packte er Travis am Arm. Wenige Augenblicke später jagten sie mit heulender Sirene auf das Union City-Krankenhaus zu. Sie fanden Dr. Leaf und Dr. Wilhelm in Dr. Stones Büro. Bald hatten sie ihnen alles mitgeteilt, was sie über die neue Entwicklung wußten. Danach saßen die drei Ärzte mit bleichen und ausdruckslosen Gesichtern da. Schließlich brach Dr. Leaf das Schweigen. »Das Werk von Verrückten!« hauchte er. »Wer sonst könnte etwas Derartiges wollen?« »Keine Verrückten«, widersprach Travis. »Ich bin sicher, meine Herren, daß Frauen dafür verantwortlich sind.«
»Frauen!« rief Dr. Wilhelm ungläubig. »Aber warum, Mr. Travis?« Heute war er respektvoller als am Mittwoch abend. »Immer erschien irgendwo eine Frau auf der Bildfläche. Nie ein Mann. Ich wiederhole: Hinter dieser Sache stecken Frauen.« »Könnten es Agentinnen einer ausländischen Macht sein?« fragte Dr. Leaf. »Frauen, die man hierher geschickt hat, damit sie die Männer aus der Welt schaffen?« Travis schüttelte den Kopf. »Nein. Die Mädchen, mit denen ich sprach, haben auch nicht die Spur eines Akzents. Außerdem glaube ich, daß sie sich schon seit langem in der Gegend aufhalten.« »Aber welche Gründe hätten sie denn?« warf Dr. Leaf ein. »Wir können keine Zeit damit vergeuden, auf die Warums und Wofürs einzugehen«, wehrte Travis ab. »Wir müssen herausfinden, was die Strahlung verursacht, und es vernichten.« »Aber wie können wir die Strahlung aufspüren?« wollte Kommissar Tomkins wissen. »Ich erinnere mich daran, wie es in einem Krankenhaus geschah, dem ich vor ein paar Jahren angehörte«, äußerte Dr. Leaf. »Als das Fernsehen aufkam, gab es ein paar Leute in der Nähe des Krankenhauses, die keinen guten Empfang hatten. Jedesmal,
wenn wir unser Diathermiegerät anstellten, lief ein breites, gemustertes Band über ihre Bildschirme. Wir wußten nicht, daß wir die Störung auslösten und unternahmen deshalb nichts dagegen. Schließlich unterbreitete ein Händler, der auf Grund der Störung in diesem Stadtteil kein Geschäft machte, die Angelegenheit der Fernsehstation. Der Sender berichtete darüber dem FCC. Ein bis zwei Monate später schickte man einen Spürwagen. Bald hatten sie die Klinik als Quelle aufgedeckt und sagten uns, wir müßten unser Diathermiegerät abschirmen oder uns ein neues anschaffen.« »Nun«, meinte Dr. Stone, »dann können wir nur den FCC hinzuziehen und ihn die Maschine für uns ausfindig machen lassen.« »Dafür ist keine Zeit«, entgegnete Travis. »Wir müssen sofort etwas unternehmen.« »Vielleicht sollten wir die Stadt evakuieren«, schlug Dr. Wilhelm vor. »Unsinn«, erwiderte Dr. Stone. »Mr. Travis hat wahrscheinlich recht, aber wer würde daran glauben?« »Dann sollen wir einfach untätig zusehen?« fragte Travis. »Nun«, meinte Dr. Leaf, »was würden Sie vorschlagen?« »Es gibt genug Funkamateure in dieser Stadt, die die Aufgabe übernehmen können. Ich gebe zu, daß
ich nichts über Elektrizität oder Funk gelernt habe, möchte jedoch behaupten, daß die Jungs ihr Handwerk wirklich verstehen. Wenn irgend jemand diese Maschine orten kann, dann sie.« »Ich bin Ihrer Meinung, Mr. Travis«, sagte Dr. Leaf. »Ich auch«, schloß sich Dr. Wilhelm an. Kommissar Tomkins nickte. In diesem Moment klingelte das Telefon, und Dr. Stone hob ab. »Für Sie, Herr Kommissar«, erklärte er und übergab dem Polizisten den Hörer. »Jawohl, Herr Bürgermeister«, nickte er. Nach wenigen Minuten legte er den Hörer auf die Gabel. »Bürgermeister Barnston will, daß diese Angelegenheit so bald wie möglich aufgeklärt wird«, berichtete der Kommissar. »Er stellt uns die gesamten Mittel der Stadt zur Verfügung, um die Sache im Keim zu ersticken. Und Sie, Travis, will er sprechen, sobald Sie zurückkommen.« Zehn Minuten später stand Travis im Büro des Bürgermeisters. Bürgermeister Harvey Barnston war ein großer Mann mit glattem schwarzem Haar, das an den Schläfen schon grau wurde. Er besaß eine ausgezeichnete Figur und machte im Smoking bei öffentlichen Veranstaltungen einen sehr guten Eindruck. Jetzt war er nur besorgt.
»Hier wird der Teufel los sein, wenn eintrifft, was Sie voraussagen«, begann der Bürgermeister sachlich. »Wenn sich diese Angelegenheit so entwickelt, wie Sie glauben, müssen öffentliche Erklärungen abgegeben werden. Ich würde das gern Ihnen übertragen. Wären Sie damit einverstanden?« »Natürlich, Herr Bürgermeister«, erwiderte Travis, »und wie Sie hoffe ich, daß es nicht notwendig sein wird. Aber trotzdem hätte ich gern das Sonderrecht, meine Nachforschungen auf eigene Faust fortzusetzen.« »Soweit es das betrifft, will ich Sie nicht an den Schreibtisch fesseln. Aber wann immer Sie hier sind, möchte ich gern, daß Sie hereinschauen und sich mit mir besprechen.« Chief Riley klopfte und betrat das Amtszimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. »Einige Funkleute holen ein paar Ausrüstungsgegenstände vom Radiogeschäft gleich um die Ecke«, erklärte er. »Ich schicke Kommissar Tomkins und zwei Streifenwagen mit, um dieses Ding ausfindig zu machen. Und, Travis: das Mädchen, Rosalie Turner – Kommissar Tomkins sagt, sie sei heute nicht zur Arbeit erschienen. Auch aus ihrem Zimmer ist sie ausgezogen.« »Danke, Herr Präsident«, erwiderte Travis. »Das hätte ich mir denken können. Sagen Sie, macht es Ih-
nen was aus, wenn ich auf diesem Funkding mitfahre?« »Überhaupt nicht«, versicherte der Präsident. »Aber Sie müssen sich beeilen. Die beiden Wagen sind vor einer Minute abgefahren. Sie können jedoch zu Fuß das Geschäft ungefähr in der gleichen Zeit erreichen, in der die Autos um den Block fahren.« »Bis später«, rief Travis und rannte hinaus.
9 »Das ist Bill Skelley«, stellte Kommissar Tomkins vor und deutete auf einen großen, hageren Mann. Travis erkannte in ihm den Mechaniker, mit dem er heute schon gesprochen hatte. »Das ist Thornton Rhoades – wir nennen ihn ›Thorny‹ –, und Bob Donn steht dort oben auf dem Laster«, erklärte Bill weiter und zeigte auf zwei Männer, die Funkausrüstungsgegenstände auf den Wagen hievten. Die Männer nickten Travis zu. »Fertig, Herr Kommissar?« »Bin bereit«, antwortete Kommissar Tomkins. Er kletterte mit Travis und Bill auf die Ladefläche. Thorny saß am Steuer. Gleich darauf raste der Einsatzlaster, begleitet von zwei Polizeiautos, durch die Straßen der Innenstadt. Der Kommissar, Travis und Bill klammerten sich an die Seitenwände des Wagens, während sich dieser durch den Verkehr schlängelte; die Sirenen der beiden Streifenwagen heulten. Der Lastwagen ruckte und zuckte, und Travis hoffte, die Funkausrüstung würde die Fahrt besser überstehen als er. »Wohin fahren wir?« rief er den beiden anderen zu. »Aufs Land«, rief Bill zurück. »Hier in der Gegend sind zuviele Gebäude und Antennen.«
Travis blickte auf die Geräte: Einige Batterien, etwas, was einem Sendesystem ähnelte, sowie eine runde Antenne. Letztere war auf eine Kiste montiert, die seiner Vermutung nach dazu diente, sie in verschiedene Richtungen zu drehen. Als sie auf die Hauptverkehrsstraße kamen, die aus der Stadt führte, konnten sie sich mit normalerer Lautstärke unterhalten. »Was ist diese runde Antenne?« fragte Travis. »Eine rotierende Luppe«, erklärte Bill. »Wenn wir an eine geeignete Stelle kommen, bauen wir alles auf. Energiewellen – die Störung, von der wir gehört haben – prallen auf die Luppe und rufen darin elektrische Energie hervor. Glücklicherweise suchen wir eine vertikale polarisierte Welle.« Travis nickte. »Das ist gut, wie?« »Sie wirkt wie ein Draht, den man über einen Magnet führt und der eine Lampe aufleuchten läßt«, fuhr Bill fort. »Wir lassen die Lupe rotieren, bis wir den größten und den kleinsten Ausschlag erhalten. Der Zeiger auf der Luppe gibt uns die Richtung an, aus der er kommt.« Travis nickte abermals. »Thorny und Bob tragen Kopfhörer, um die Störung dem Geräusch nach auszumachen. Aber wir besitzen auch eine Kathodenstrahlröhre – sehen Sie das Abstimmungsauge? – die uns sagt, wann wir Höhe und Tiefe erreichen.«
Der Lastwagen und die Polizeiautos fuhren weiter, bis sie zu einer geeigneten Stelle kamen. Sie hielten neben der Straße, und die Mechaniker machten sich an die Arbeit. Travis sah die Luppe in der Sonne blitzen, während sie langsam auf dem drehbaren Mast rotierte. Thorny und Bob lauschten aufmerksam in die Kopfhörer. Als sich das Abstimmungsauge schloß, hoben beide Männer die Hände. »Das war's«, meinte Thorny. Bill Skelley entfaltete einen Stadtplan und kauerte sich damit auf den Boden des Lasters. Während Bob die Richtung auf einer Skala ablas, legte Bill ein Lineal auf die Karte und zog eine deutliche Linie von einem Ende zum anderen. Sie führte mitten durch das Herz der Stadt. Wenige Minuten später brachen die drei Fahrzeuge wieder auf. Sie fuhren noch eineinhalb Kilometer westwärts aus der Stadt heraus und bogen dann auf einer anderen betonierten Straße nach Norden ab. Der Laster donnerte noch eine ganze Weile die Straße entlang, und die Funkleute gaben ziemlich die gleiche Vorstellung. Für die dritte Ablesung bog man auf einer Seitenstraße in östlicher Richtung ab. Bill strahlte, als Bob die Werte ablas. Er zog die dritte Linie und schrie dann. »Ich glaub, wir haben sie.«
Sowohl Kommissar Tomkins als auch Travis knieten sich hin, um einen besseren Blick auf die Karte werfen zu können. Die anderen Funkleute folgten ihrem Beispiel. »Sehen Sie? Alle drei Linien kreuzen sich genau hier«, erklärte Bill und deutete auf einen Punkt im Stadtplan. »Das ist genau in der Mitte des Geschäftsviertels.« »Ein Lebensmittelgeschäft, oder?« fragte Bob. »Ich glaube, Sie haben recht«, erwiderte Travis. Kommissar Tomkins beendete die Diskussion. »Nun«, sagte er, »was tun wir dann noch hier?« Die Rückfahrt zur Stadt erfolgte ohne Sirenen. Die Kolonne steuerte in die Wright Street und dann langsam darauf entlang zur Major. Die Karawane bog von der Major in eine schmale Gasse ab. Nach einer kurzen Strecke hielten die Fahrzeuge an. Die sechs Polizisten aus den beiden Streifenwagen näherten sich dem Lastwagen. Die Funkleute sowie Travis und Kommissar Tomkins sprangen herunter. »Johnson, Barwinkle und Evans gehen zur Vorderseite«, befahl Tomkins. »Die anderen übernehmen die Rückseite.« »Wonach sollen wir suchen, Herr Kommissar?« »Achten Sie auf jedes ungewöhnlich aussehende elektrische Ausrüstungsstück. Wenn Sie sich über etwas im unklaren sind, fragen Sie einfach einen von
uns«, nahm Bill dem Kommissar das Wort aus dem Mund. Der Eingang zu dem Gebäude, das auf der Karte gekennzeichnet war, war ein unordentlicher Platz mit Aschentonnen; Abfälle und Schutt lagen verstreut umher. Eine wacklige Holztreppe führte in der Nähe des Hintereingangs nach oben. Kommissar Tomkins schickte die drei genannten Polizisten zur Vorderseite des Ladens, dann traten die anderen durch die Hintertür. Ein Mann stand vor der Tür Wache, um zu verhindern, daß jemand in den Laden ging oder die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufstieg. Das Hinterzimmer des Geschäfts war ziemlich sauber. Da gab es die üblichen Packkisten, Werktische, Vorratskörbe und Borde mit Lebensmitteln. Dazu einen Fleischwolf, einen alten Metzgerklotz und einen Tisch mit Werbematerial. Travis beobachtete, wie Bills Augen jede Einzelheit aufnahmen, aber der Mechaniker gab kein Zeichen der Beunruhigung von sich. Dann steckte der Polizist namens Johnson seinen Kopf durch die Tür zur Vorderseite des Ladens. »Habt ihr vorn was gefunden?« fragte Kommissar Tomkins. »Nichts, Herr Kommissar.« Die Gruppe machte kehrt, ging wieder zur Hinter-
tür hinaus und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ohne Zögern trat der Polizeikommissar ein. Es war die Küche. Sie überraschten eine grauhaarige Frau beim Abwaschen. Sie legte den Teller, den sie in der Hand hielt, langsam auf ein Handtuch, strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sah sie ehrlich überrascht an. »Entschuldigen Sie, Ma'am«, bat Kommissar Tomkins. »Wir suchen etwas.« »Etwas?« Die Stimme der Frau zitterte. »Was hat Roscoe angestellt?« »Es hat nichts mit Roscoe zu tun«, versicherte der Kommissar. »Ist das Ihr Mann?« »Ja. Ich fürchte – Was wollen Sie?« »Wir wollen uns nur umsehen. Wer wohnt hier?« »Wir und ein Mädchen, sonst niemand.« »Wer ist ›wir‹?« »Roscoe und ich. Mr. und Mrs. Tredding.« »Und das Mädchen?« »Sie heißt Alice. Alice Gilburton. Ein liebes junges Ding.« »Dürfen wir uns umsehen?« »Sicher. Wonach suchen Sie denn?« »Wenn wir es finden, lassen wir es Sie wissen.« Die Männer machten sich an die Durchsuchung der Wohnung. Mrs. Tredding folgte ihnen und rang nervös die Hände; manchmal war sie behilflich, aber
häufiger behinderte sie die Suche, weil sie ständig redete und über verschiedene Gegenstände ihres Haushalts Geschichten zum besten gab. »In dieser hohen Kommode werden Sie nichts finden«, versicherte sie. »Sie ist ein Geschenk meiner Tante Martha. Wir würden nichts darin verwahren, was die Polizei interessieren könnte.« »Wessen Zimmer ist das?« fragte Kommissar Tomkins und deutete auf eine verschlossene Tür. »Das Zimmer von Alice. Da können Sie nicht hinein.« »Nicht? Warum?« »Alice würde es nicht wollen. Sie läßt niemand hinein. Sie sperrt immer die Tür ab.« »Tatsächlich?« »Sie ist ein so scheues Mädchen. Sie wäre furchtbar beleidigt, wenn sie dächte, jemand sei da hineingegangen – besonders Roscoe. Sie und Roscoe verstehen sich nicht.« »Geben Sie uns den Schlüssel. Wir müssen die Tür öffnen.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das dürfen Sie nicht. Sie können ohnehin nicht hinein. Alice besitzt beide Schlüssel. Sie ließ sich von mir alle Schlüssel geben, als sie das Zimmer vor einem Jahr bezog.« »Ich fürchte, dann muß ich es aufbrechen lassen, Mrs. Tredding«, bedauerte der Kommissar.
»Das kann ich nicht erlauben!« Mrs. Tredding rieb die Hände aneinander, und in ihre Augen trat Angst. Sie murmelte erregt etwas, das niemand verstehen konnte. In der Zwischenzeit stemmten zwei Polizisten die Schultern gegen die Tür, und diese schob sich unter der Begleitmusik von splitterndem Holz auf. Mrs. Tredding vergrub ihr Gesicht in den Händen. Das Zimmer erwies sich als Enttäuschung. Es war blitzsauber, nirgends konnte man ein Stäubchen entdecken. Über das Bett lag eine saubere, grüne Decke gebreitet, auf der Kommode ein brauner Läufer. Die hübschen Vorhänge waren frisch gewaschen. Travis fühlte sich befangen. Den anderen mußte es ebenso ergehen, da es ihnen widerstrebte, das Zimmer zu betreten. Bill ging als erster hinein und öffnete die Schubladen der Kommode; dann schritt er zum Schrank. Sobald er die Tür aufgemacht hatte, sagte er nur: »Hier ist es«, und bückte sich. Auf dem Schrankboden stand eine schwarze Kiste, die wie ein Handkoffer aussah; nur war sie aus Metall und besaß an den Seitenwänden Schlitze. Durch diese Öffnungen sah man ein kleines Licht schimmern. Die anderen versammelten sich jetzt darum. Bills Finger tasteten die Kiste ab, rückten sie vom Platz und legten zwei Drähte frei, die von der Unterseite durch ein Loch in den Fußboden führten.
Mit einem Ruck riß Bill die Drähte unter dem Fußboden heraus. Der Schimmer in der Schachtel erlosch. Dann packte er die Kiste beim Griff und ging damit zum Bett. »Was zum Teufel ist das?« fragte Kommissar Tomkins. Bill antwortete nicht. Er fingerte am Deckel herum, und kurz darauf öffnete sich dieser an einem Scharnier. Er pfiff. »Alice würde niemandem schaden«, versicherte Mrs. Tredding gerade. »Besitzen Sie ein Radio, Mrs. Tredding?« fragte Bill. »Es wird nicht funktionieren. Seit gestern morgen geht es nicht mehr. Niemand will kommen und es reparieren.« Einer der Polizisten brachte ein kleines Rundfunkgerät. Bill schloß es an. Wenige Minuten später war das Radio warmgelaufen. Stille. Bill drehte an der Skala. Schwach hörte man ein paar entfernte Sender. »Das wär's«, meinte Bill. »Wir haben den kleinen Sündenbock.« »Mrs. Tredding«, wandte sich Kommissar Tomkins an die verwirrte Frau. »Wo arbeitet Alice Gilburton?« »Bei der Acme Furnace Company. Als Sekretärin.« »Johnson«, rief der Kommissar und wandte sich dem Polizisten zu, »nehmen Sie drei Mann und brin-
gen Sie das Mädchen zum Verhör. Barwinkle und Jones, ihr beide bleibt hier und leistet Mrs. Tredding Gesellschaft. Das Mädchen könnte eventuell aufkreuzen. Laßt sie nicht telefonieren.« Trotz des hellen Nachmittags, war es in der Reparaturwerkstatt dunkel; nur eine einzelne, abgeschirmte Lampe beleuchtete einen Kreis Gesichter: Kommissar Tomkins, Gibson Travis, Bill Skelley, Thorny Rhoades, Bob Donn und Dr. Leaf, den man aus dem Krankenhaus geholt hatte. Alle schauten fasziniert zu, während Bill einen Ausrüstungsteil in der Metallkiste losschraubte und auf die Bank legte. »Wie ich sagte«, meinte Bill, »sieht es aus wie ein Generator im Kleinformat. Das Zischen, das Sie hörten, als ich diesen Teil loszuschrauben begann, verursachte das entweichende Gas – Gas unter Druck.« Er hob einen anderen Teil heraus und lächelte. »Ja. Sehen Sie's? Im Innern befindet sich ein unendlich langer Gürtel aus elektrisierendem Material. Elektronen werden versprüht, um darauf eine Ladung zu erzeugen. Der Gürtel ist an dieser Metallkugel am entgegengesetzten Ende befestigt, und während er sich bewegt – er muß es mit einer ungeheuren Geschwindigkeit tun –, werden die Ladungen ins Innere getragen.« »Ein kleines Wunderwerk«, fuhr Bill fort. »Das Gas
bewirkte, daß sich innerhalb des Gehäuses in kürzester Zeit eine gewaltige Ladung aufbaute, um die Ionenquelle für die Röntgenstrahlenröhre zu versorgen.« »Unglaublich«, hauchte Dr. Leaf. »Völlig unglaublich. Wie kann so ein Ding überhaupt funktionieren? Ich habe ähnliche Maschinen in Krankenhäusern und Forschungslaboratorien gesehen und selbst mit einigen gearbeitet, aber diese Röntgenstrahlenröhre mißt nur dreißig Zentimeter. Die, welche ich kenne, sind viereinhalb Meter lang.« »Ich wüßte gern, wie hoch die Spannung dieses Apparates ist, Bill«, sagte Bob. »Was meinst du?« »Nach der Wirkung zu urteilen, muß sie in die Millionen gehen!« »Mit der kleinen Röhre!« rief Thorny. »Na schön, Bill«, meinte Kommissar Tomkins und richtete sich auf. »Wir haben's alle gesehen; was bedeutet jetzt das Ganze?« »Ich kann bloß raten, Herr Kommissar«, erwiderte Bill, »aber wenn Sie damit zufrieden sind, würde ich sagen, dies sei eine kleine Vorrichtung zur Aussendung von Gamma-Strahlen, und zwar kürzeren, als ich sie je zuvor ausgeschickt habe.« Dr. Lear rutschte auf seinem Platz unbehaglich hin und her. »Mich erfüllt diese Sache mit Schrecken. Es ist gerade so, als hätte jemand ein Röntgenstrahlengerät genommen und es gegen die Menschen gerichtet,
die auf der Straße vorbeigehen. Nur ist das hier noch schlimmer. Es ist eine Strahlung, über die wir nichts wissen – bis auf die Wirkungen, die wir gesehen haben.« »Was ich nicht verstehe, ist die treibende Kraft hinter dem Ganzen«, überlegte Travis laut. »Warum sollte ein ›liebes junges Ding‹, wie Mrs. Tredding Alice Gilburton nennt, ein solches Gerät in ihrem Zimmer verbergen?« Kommissar Tomkins zündete sich seine Pfeife an. »Da steckt mehr dahinter, das ist klar.« »Mich verblüfft die Wirkung«, schaltete sich Dr. Leaf wieder ein. »Gewöhnlich ist eine Strahlung selektiv; sie trifft gewisse Gebiete schwer, läßt jedoch andere unberührt. Röntgenstrahlen befallen rasch wachsende Zellen – wie zum Beispiel Krebszellen – und zerstören sie, während sie die übrigen unbehelligt lassen. Die gesamte Röntgenstrahlentherapie stützt sich auf jene Tatsache. Aber diese Strahlung greift alle gleichzeitig an. Zumindest scheint es so. Ich gehe von der Vermutung aus, daß das der gleiche Apparat ist, der bis zu einem begrenzten Ausmaß in der Winthrop Street benützt wurde.« Es klopfte an die Tür. Kommissar Tomkins öffnete, und ein Streifenpolizist betrat das Zimmer. »Sie haben Alice Gilburton, Herr Kommissar«, meldete er.
»Gut.« Der Kommissar, Travis und Dr. Leaf eilten aus dem Radiogeschäft. Als sie das Polizeirevier betraten, ordnete der Kommissar an, man solle das Mädchen in sein Büro führen. Die drei Männer gingen hinein, um auf sie zu warten. Wenige Minuten später kam Wachtmeister Webster mit blassem Gesicht in das Büro. »Ich glaube, sie ist tot, Herr Kommissar«, erklärte er. In der Zelle, die für weibliche Insassen reserviert blieb, untersuchte Dr. Leaf das Mädchen auf dem Feldbett. Es war ein junges Ding mit schwarzem Haar und ziemlich gewöhnlichen Gesichtszügen. Ihre Augen starrten ins Leere. »Kein Puls«, verkündete der Arzt. Er öffnete ihr den Mund, zog etwas heraus und behielt es in der Hand. Er brachte es zu Kommissar Tomkins und Travis hinüber. Auf seiner Handfläche lagen die Fetzen einer fleischfarbenen Kapsel. Der Arzt roch daran. »Mir unbekannt«, gab Dr. Leaf zu. Er nahm eine Decke von einem Regal und legte sie über das Mädchen. »Was es auch sein mag«, sagte er, »sie glaubte stark genug zu sein, um lieber zu sterben, als es zu verraten.« Als sie wieder in den Hauptraum des Polizeireviers
traten, näherte sich Wachtmeister Webster abermals dem Kommissar. »Noch mehr schlechte Nachrichten«, bedauerte er. »Bekam gerade einen Anruf vom Union CityKrankenhaus. Sie haben einen neuen Patienten. Einen Mann, der grau wird, Herr Kommissar. Sein Name ist Roscoe Tredding.« In diesem Augenblick rannte Bill Skelley in die Station. Seinem Gesicht sah man an, wie aufgeregt er war. »Kommissar Tomkins«, schrie er außer Atem, »Thorny – Sie kennen doch Thorny. Ihm wurde vor kurzem übel; er wollte den Laden verlassen und kam nur bis zur Tür. Er liegt einfach da und – und er ist grau.« Travis drehte sich der Magen um. Das war's. Das einzig Wahre. Es hatte angefangen. »Kommissar Tomkins!« Der Bürgermeister strebte den Korridor entlang. »Ich hörte gerade Radio, und plötzlich setzte wieder dieses Summen ein. Nur ist es jetzt schlimmer denn je! Haben Sie die Ursache nicht gefunden? Oder machen Sie damit Versuche? Es ruiniert wieder den Empfang!« »Bürgermeister Barnston«, begann der Kommissar langsam, nahm das Stadtoberhaupt beiseite und begann sich mit ihm zu unterhalten.
Travis fühlte sich krank. Nicht körperlich. Seelisch. Das Grauen für eine schutzlose Stadt; eine Stadt, die jemandem im Wege stand; entweder den Frauen selbst oder den Männern, für die sie arbeiteten und die die Stadt ausgelöscht sehen wollten. Eine Stadt konnte ohne Männer nicht existieren – oder doch? Er versuchte sich vorzustellen, was für eine Welt das wäre, brachte es aber nicht zustande. Travis betrat wie in Trance das Büro des Kommissars. Dr. Leaf war bereits da. »... eine Angelegenheit der Zeit«, schnappte Travis bloß auf von dem, was Dr. Leaf zu ihm sagte. Draußen hörte er einen Zug pfeifen. Irgendwo vernahm er ein Flugzeug. Durch die Zimmer und Gänge fluteten die gewohnten Geräusche einer Stadt – einer zum Tode verurteilten Stadt. Vielleicht hätte ich Bettys Rat befolgen und die Stadt verlassen sollen, dachte Travis. Zu spät. Er nahm den Telefonhörer zur Hand, wählte die Nummer vom Star und verlangte Cline. »Travis«, meldete er sich. »Wo bist du?« explodierte Clines krächzende Stimme. »Wir haben gerade erfahren, daß in sämtlichen Krankenhäusern Männer mit grauer Haut liegen. Was soll das Ganze? Was tust du?« »Ich sollte meinen Nachruf schreiben«, erklärte Travis. »Und Sie auch.«
»Moment mal. Ist das dein Ernst?« »Cline, mir war es in meinem ganzen Leben noch nie so ernst. Zuerst möchte ich Ihnen einiges mitteilen. Dann müssen wir überlegen, was in die Zeitung kommen soll. Was im Star steht, ist gerade jetzt äußerst wichtig. Wichtig für jeden Mann in dieser Stadt.« Cline hörte zu, während Travis ihm alles berichtete, was er über den Fall wußte. »Es sieht so aus – es sieht so aus, als bedeute das das Ende von uns allen, Travis.« Travis hatte ihn noch nie so ernst gehört. »Aber, Travis«, fuhr er fort, »ich muß dir auch etwas sagen. Es ist schrecklich, aber du weißt doch, wann gestern die erste Störung aufgetreten ist?« »Ja.« »Ich schickte telegrafisch einen Artikel nach Chicago. Einige Zeitungen brachten ihn.« »Und?« »Nur soviel, Travis. Vor einer halben Stunde bekam ich über Fernschreiber eine Anfrage aus Chicago. Es scheint, als läge über der ganzen Stadt eine Funkstörung. Man wollte wissen, ob wir herausgefunden hätten, was es sei.«
10 »In Ordnung«, bellte der Bürgermeister und kaute an einem Zigarrenstummel. »Berichten Sie!« Bill Skelley zog ein Blatt Papier zu Rate. »Wir haben dreiundsechzig Funkleute angeworben. Alle sind mit einer einfachen Aufspürausrüstung vertraut. Sie wurden auf zwanzig Lastwagen verteilt, und die meisten sind bereits losgefahren. Wir haben mit siebzig Männern angefangen, aber sechs sind an der Seuche erkrankt, und die anderen haben sich nicht gemeldet.« Im Raum stand dick der Qualm. Das Ratszimmer war ein belebter Ort; Boten rannten ein und aus. Man hatte eine Reihe von Telefonen entlang der einen Zimmerwand installiert, und Telefonistinnen waren damit beschäftigt, Namen und Adressen zu notieren. Die Zettel wurden an Sanitäter weitergegeben, die für einen weiteren Einsatz aus dem Zimmer liefen. Die zwölf Krankenwagen von fünf Krankenhäusern hatten seit dem Spätnachmittag keine Ruhepause mehr gehabt. Unternehmer wurden angerufen und ihre Fahrzeuge zum Noteinsatz verwendet. Am Ende des Raumes notierte ein Mann die Ziffern auf einer Tafel. Die Gesamtzahl der Opfer belief sich um acht Uhr abends auf 316. An einer anderen Wand
steckte ein Mann rotköpfige Nadeln in einen Stadtplan. »Die Krankenhäuser werden bald überfüllt sein«, prophezeite der Bürgermeister. »Wir werden das Zeughaus verwenden müssen. Haben Sie die Geschichte an den Star weitergeleitet, Travis?« Travis nickte. »Cline besitzt sämtliche Informationen. Ich sagte ihm, die Funkleute würden versuchen, die Geräte aufzuspüren. Frauen wurden aufgerufen, sich freiwillig für wichtige Arbeiten zu melden, bei denen die Männer ausgefallen sind. Jeder muß seine Räumlichkeiten nach irgendwelchen Strahlungsmaschinen absuchen. Ein Extrablatt soll herausgebracht werden.« Er blickte auf die Uhr an der Wand. »Jetzt müßte es eigentlich so weit sein. Man weist die Träger an, es heute an alle zu verteilen – Abonnent oder nicht. Der Kurier wurde für die nächste Extraausgabe mobilisiert.« »Gut«, lobte der Bürgermeister. »Wir können zwar den Rundfunk nicht verwenden, aber wir bringen diese Sache an den Mann. Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern.« Er wandte sich dem großen Stadtplan zu. »Am ärgsten ist es natürlich rund um diesen Laden in der Wright Street. Aber sehen Sie, wie jetzt auch weiter draußen rote Markierungen zu finden sind.« Dr. Leaf schüttelte traurig den Kopf. »Es ist eine
verlorene Schlacht, Herr Bürgermeister. Sie haben neue Geräte in Betrieb gesetzt. Der einzig sichere Ort liegt jetzt außerhalb der Stadt, falls Sie das noch nicht selbst gemerkt haben sollten.« »Vielleicht spüren die Funkleute jene Geräte auf, die jetzt begonnen haben«, meinte der Bürgermeister hoffnungsvoll. »Es ist wesentlich schwieriger, wenn man mehr als eine Energiequelle aufzuspüren versucht«, erklärte Bill. Polizeipräsident Riley betrag das Zimmer. Er setzte sich mit den anderen Männern an den Schreibtisch und hielt ein Bündel Papiere in den Händen. »Ich bekam ein Telex vom FBI. Sie schicken zu uns und nach Chicago Leute«, sagte er. »In erster Linie handelt es sich um eine Verletzung der Rechte des FCC. Sonst wäre es eine rein lokale Angelegenheit.« »Travis, dies dürfte Sie interessieren«, fuhr er fort und reichte ihm einige Blätter. »Anfragen von den Pressestellen und Anrufe von Zeitungen sowie Zeitschriften, zu deren Beantwortung ich noch keine Gelegenheit fand. Einige melden mir, daß sie Pflegepersonal einfliegen wollen. Ich ließ ihnen eine Warnung zukommen.« Er griff nach einem anderen Blatt Papier. »Hier ist eine Mitteilung aus South Bend, Indiana. Es scheint, als läge auch dort eine Funkstörung vor. Sie wollten
wissen, was los sei. Es fiel mir gar nicht leicht, aber ich nahm kein Blatt vor den Mund. Der FCC ist bereits am Werk, glaube ich.« »Und natürlich rief der Präsident an. Das habe ich Ihnen mitgeteilt, Euer Ehren.« Kommissar Tomkins, der die Belegschaft an den Telefonen überwacht hatte, kam herüber. »Dr. Wilhelm will Sie sofort sehen, Dr. Leaf«, meldete er. »Er hat gerade angerufen.« Dr. Leaf stand auf. »Was kann er nur wollen?« Travis folgte ihm. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie begleite?« »Keineswegs.« Sie nahmen den Wagen des Arztes und fuhren in Richtung Krankenhaus. Während sie durch die Straßen rasten, kam ihnen das volle Ausmaß der Geschehnisse zu Bewußtsein. Die Straßen waren praktisch verlassen. Gelegentlich begegnete ihnen ein dahinjagendes Fahrzeug, ein Kranken- oder Leichenwagen, die Dienst tun mußten; sonst gab es wenig Autos und noch weniger Fußgänger. Das beweist, dachte Travis, daß sich eine Neuigkeit mündlich wie ein Lauffeuer verbreitet. Er nahm wahr, daß die wenigen Menschen auf den Straßen dahinhasteten und weder nach rechts noch nach links schauten. Ziemlich grimmig bemerkte er gleichzeitig, daß die Kneipen eine Ausnahme bildeten. Sie waren gesteckt
voll. Die Menschen wollten bereits etwas vergessen, was sie erst seit wenigen Stunden wußten: War man ein Mann, wurde man von Strahlen heimgesucht, die man weder riechen, sehen oder hören konnte – von einem unsichtbaren Etwas, das einen umgarnen und töten wollte. War man eine Frau, waren Mann, Vater, Bruder – auf jeden Fall jemand, den man kannte – bedroht. Als sie sich dem Union City-Krankenhaus näherten, verdichtete sich der Verkehr. In der näheren Umgebung parkten viele Autos, und scharenweise strömten Menschen auf den Eingang der Klinik zu. Eine Reihe von Polizisten regelte den Verkehr rund um das Gebäude. Dr. Leaf mußte seinen Ausweis vorzeigen und sagen, wer er war, ehe ihn einer der Ordnungshüter in die Krankenhausauffahrt einbiegen ließ. Sie fanden auf dem Hof eine Parklücke und betraten das Haus. In den Gängen drängten sich die Menschen. Krankenschwestern eilten rasch die Korridore auf und ab, ohne stehenzubleiben und die Fragen wißbegieriger Leute zu beantworten. Die Vorhalle des Krankenhauses war übervoll. Travis und Dr. Leaf bahnten sich ihren Weg zu Dr. Stones Büro. Sie fanden ihn allein. Dr. Stone saß mit offener Krawatte am Schreibtisch und studierte ein Blatt Papier, auf dem Zahlen standen. Er blickte auf. Sein Gesicht war blaß und abgehärmt, seine Augen trübe.
»Ich habe die Patienten auf den Gängen im dritten und vierten Stock untergebracht«, sagte Dr. Stone müde. »Jetzt belegen wir den Gang im zweiten Stock. Als nächstes wird der erste folgen, wenn die Feldbetten ausreichen. Wie ist es Ihnen ergangen, Dr. Leaf, Travis?« Sie schüttelten sich die Hände. »Dr. Wilhelm?« fragte Dr. Leaf. Dr. Stones Gesicht verfinsterte sich. »Er bat mich, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, Dr. Leaf. Er hat seit Mittwoch daran gearbeitet, ohne sich Schlaf zu gönnen. Sprechen Sie mit ihm. Er ist im vierten Stock. Ich gab ihm ein Zimmer – einen Behelfsoperationsraum, den wir im Moment nicht benötigen. Er sagt, er kann dort weiterarbeiten – bis zum Schluß.« »Bis zum Schluß?« wiederholte Dr. Leaf. »Was zum Teufel wollen Sie damit sagen?« »Falls Sie es nicht wissen sollten«, erwiderte Dr. Stone, »werden Sie es in wenigen Minuten erfahren. Er liegt auf 434. Er hat die Seuche erwischt. Er war vollkommen ausgelaugt und deshalb natürlich anfälliger.« Sie verließen das Büro und gingen hinauf zu 434. Sie fanden Dr. Wilhelm, den großen ungeschlachten Wilhelm, auf einem Feldbett liegen. In seiner Reichweite lagen Lehrbücher sowie ein Notizheft. Seine Hautfarbe war ein käsiges Grau.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, begrüßte er Dr. Leaf. »Setzen Sie sich. Schön, daß Sie gekommen sind, bevor –« Er knirschte mit den Zähnen, während er sich aufrichtete. »Legen Sie sich hin«, befahl Dr. Leaf und schob ihn zurück. »Es nagt an mir«, erklärte der Arzt. »Ich kann es spüren – ich meine es in jeder Zelle rumoren zu fühlen.« Er brachte ein verbissenes Lächeln zustande. »Aber ich denke, ich weiß etwas darüber.« Er legte sich etwas anders hin und blickte Travis feindselig an. »Lassen Sie mich etwas trinken, Herr Kollege.« Travis nahm schnell das Glas von einem Tisch und reichte es ihm. Daraufhin musterte ihn der Arzt ruhig, nahm das Glas und trank daraus. »Halten Sie aus, Mr. Travis«, sagte er. »Sie wird es auch bald erwischen. Vielleicht können Sie sich hier aufs Ohr legen.« »Travis ist gesund«, versicherte Dr. Leaf. »Was haben Sie herausgefunden?« »Es ist das Y-Chromosom, Herr Kollege.« »Das Y?« Dr. Leaf starrte ihn an. »Ich verstehe.« »Aus Ihrer Beschreibung der Maschine –« Dr. Wilhelm knirschte wieder mit den Zähnen, während ihn ein Schmerzanfall durchzuckte. Dann befeuchtete er sich die Lippen mit der Zunge und sprach weiter: »Sie erinnern sich doch an Ihren Anruf?«
»Ja, ich rief Sie am Spätnachmittag an und erzählte Ihnen von der Maschine.« »Ich dachte eine Stunde lang darüber nach«, erklärte der kranke Arzt und biß sich auf die Lippen. »Dann wurde mir klar, daß es das Y sein muß. Die Gamma-Strahlen sind gerade kurz genug, um mit dem Y zusammenzutreffen. Sie lassen das X ungeschoren, sonst würden auch Frauen zugrundegehen.« »Sie müssen recht haben«, sagte Dr. Leaf. »Ich habe nie daran gedacht ..., oh, ich dachte wohl daran, hielt es aber für unwichtig. Natürlich, das ist es.« Jetzt wurde Dr. Leaf ganz aufgeregt. »Ja, ich glaube, Sie haben die Lösung, Dr. Wilhelm.« »Das nützt uns jetzt verdammt wenig«, fluchte der immer schwächer werdende Arzt. Er schloß die Augen und atmete geräuschvoll. »Was ist mit dem Y-Chromosom?« wollte Travis wissen. Dr. Leaf bedeutete Travis, ihm zu folgen; sie verließen Dr. Wilhelm, der sich auf dem Feldbett wand. Draußen auf dem Korridor erklärte Dr. Leaf: »Jede Zelle unseres Körpers besteht aus achtundvierzig Chromosomen, Travis«, sagte er. »Sechsundvierzig davon nennen wir Autosomen, um sie von den das Geschlecht bestimmenden Chromosomen wie X und Y zu unterscheiden. Das siebenundvierzigste Chro-
mosom ist ein X-Chromosom, und das achtundvierzigste das Y.« »Dr. Wilhelm erwähnte, daß Frauen nicht befallen würden«, begann Travis. »Richtig«, bestätigte Dr. Leaf. »Erinnern Sie sich daran, daß ich sagte, es bestünde wenig Unterschied zwischen Männern und Frauen, bis auf die körperlichen Besonderheiten?« Travis nickte. »Nun, Frauen haben sechsundvierzig Autosomen, das siebenundvierzigste ist ein X-Chromosom genau wie beim Mann, aber das achtundvierzigste ist gleichfalls ein X – statt ein Y.« »Sehen Sie, als Sie geboren wurden, geschah das ungefähr folgendermaßen: Die Ovogenese – die Entwicklung einer Eizelle – Ihrer Mutter trat ein, wenn eine normale 46XX-Zelle auseinanderbrach. Wir nennen es ›Reduktionsteilung‹, ein Prozeß der ›chromosomalen Zellkernteilung‹. Die Eizelle setzte sich aus der Hälfte einer 46XX-Zelle – oder einer in sich vollständigen 23X-Zelle – zusammen.« »Bei Ihrem Vater wurde die 46XY-Zelle – die männliche Zelle – bei der Reduktionsteilung in zwei Spermien zerkleinert. Ein 23X und ein 23Y, die zu einer großen Masse zusammenwuchsen. Als die abertausend 23X- und 23Y-Spermien sich der Eizelle näherten, gewann ein 23Y das Rennen, und dadurch
entstanden Sie; das 23Y bildete zusammen mit dem 23X ein 46XY – also Sie. Hätten sich das 23X und das 23Y getroffen, wären Sie ein Mädchen geworden.« Travis lächelte. »Bei Ihnen klingt das furchtbar einfach.« Und während er dies sagte, traf es ihn wie ein Holzhammer. Er sah einen Kreis, und in der Mitte ein 23X. Der Venus-Spiegel, die graphische Darstellung, die der alte Mann gezeichnet hatte! »Dr. Leaf!« rief er. »Ich besann mich gerade auf die graphische Darstellung, die der alte Mann angefertigt hat. Erinnern Sie sich? Darin stand das 23X. Hat das nicht etwas damit zu tun?« Einen Moment starrte ihn Dr. Leaf nichtverstehend an, dann begannen seine Augen langsam zu leuchten. »Sie haben recht«, stimmte er in plötzlichem Erkennen zu. »Der erste Fall. Dr. Collins, der Assistenzarzt – ja, ich erinnere mich daran!« Er wurde nachdenklich. »Komisch, in diesem Sinn habe ich es nie betrachtet. 23X. Warum hätte der Greis das zeichnen sollen?« »Er konnte doch nicht meinen, daß eine Eizelle das alles verursachen würde.« »Nein, außer er wäre bis zu ihrem Ursprung zurückgegangen.« »Wenn überhaupt, Herr Doktor, wäre es nach dem, was sie sagten, doch klüger gewesen, wenn er nur ein Y gezeichnet hätte.«
»Nein, nein«, wehrte der Arzt ab und runzelte die Stirn. »Da war auch noch dieser Kreis. Das würde ›weiblich‹ bedeuten. Eine Frau besitzt aber 46XXChromosomen.« Der Arzt schien mit sich selbst zu sprechen. »Außer ... außer –« »Und diese Betty Garner«, meldete sich Travis wieder zu Wort. »Haben Sie davon gehört, daß ich ihr die graphische Darstellung zeigte? Sie wurde blaß, als sie sie sah; wollte wissen, woher ich sie hätte.« »Es gibt nur eine winzige Möglichkeit, Travis«, sagte Dr. Leaf. »Aber es kann nicht sein. Das ist einfach unmöglich, das ist alles –« »Was, Dr. Leaf?« »Ein Haploid. Bei Pflanzen und einigen Tierarten ist es durchführbar. Nein, es muß sich um etwas anderes handeln.« Der kleine Arzt ging geistesabwesend auf dem Korridor auf und ab und vergaß den Tumult, der weiter unten herrschte. »Aber wenn es wahr wäre?« »Was Sie da reden, geht über meinen Verstand, Doktor«, gestand Travis. »Was ist ein Haploid?« »Sie sind ein Diploid«, erwiderte der Arzt; dann fügte er hastig hinzu: »Das soll keine Beleidigung sein. Es bedeutet nur, daß alle Ihre Zellen aus Chromosomenpaaren zusammengesetzt sind – vierundzwanzig Paare in jeder Zelle. Ein Satz von Ihrer Mutter, einer Ihres Vaters. Sie könnten natürlich auch hier
stehen, wenn Sie nur einen Satz besäßen. Nein, vielleicht auch nicht. Aber eine Frau könnte es. Ein weiblicher Haploid. Eine Frau mit nur einem einzigen Chromosomensatz. Parthenogenese. In der Biologie ist es durchführbar, aber bei Menschen hat es noch niemand versucht. 23X statt 46XX. Immer vorausgesetzt, daß sich unter den Genen keine ›Blindgänger‹ befinden, so daß ihr ein Arm oder ein Bein fehlt, oder daß sie schwachsinnig auf die Welt kommt –« »Sie sind mir noch immer weit voraus«, bekannte Travis. Statt zu antworten, wandte sich Dr. Leaf dem Zimmer zu, in dem Dr. Wilhelm lag. Sie sahen, daß er in einen unruhigen Schlaf gesunken war. Außerdem bemerkten sie auch, daß seine Haut wieder um eine Schattierung dunkler geworden war, als bei ihrer Ankunft. Dr. Leaf trat an einen auf Hochglanz polierten Schrank, öffnete die Tür und musterte die blitzenden Instrumente im Innern. Er nahm einige an sich und steckte sie in die Tasche; dann holte er von oben ein mit einer Plastikhaube bedecktes Mikroskop herunter. Letzteres klemmte er sich unter den Arm. »Zwecklos, ihn jetzt zu wecken«, sagte Dr. Leaf. »Kommen Sie. Wir haben zu tun. Wir machen ausfindig, ob es einen weiblichen Haploid gibt.« Während der Arzt früher langsam und methodisch
vorging und eher zum Nachdenken als zum Handeln zu neigen schien, entpuppte er sich jetzt als Energiebündel. Er wickelte das Mikroskop in eine Decke, und gemeinsam traten sie auf den Flur hinaus. Sie bahnten sich ihren Weg, indem sie sich zwischen den Feldbetten mit grauhäutigen Männern in verschiedenen Krankheitsstadien hindurchschlängelten. Manche keuchten, andere starrten nur stumpfsinnig zur Dekke. Wieder andere stöhnten, drehten und wanden sich, so wie Dr. Wilhelm auch. Einer lachte total irrsinnig. Wie kann ein menschliches Wesen einem anderen so etwas antun? fragte sich Travis. Aber dann entsann er sich, einige Dinge gesehen zu haben, die genauso schlimm waren. Im Zweiten Weltkrieg. Männer, die von einer Schrapnelladung zerfetzt wurden. Männer, die von der Lauffläche eines riesigen Panzers wie Wanzen zerquetscht wurden. Er hatte zugesehen, wie eine Tretmine einen Mann zum tobsüchtigen Idioten werden ließ. Und was wäre mit der Atombombe? Vielleicht war sie notwendig. Aber dennoch war sie die Erfindung des Menschen und zur Anwendung gegen Menschen bestimmt. Die schrecklichste Vernichtungsmaschine? Nein, es gab noch eine tückischere. Eine kleine schwarze Kiste. Darin saß ein winziger Mechanismus, eine kurze Röhre –
Sie erreichten das Erdgeschoß, das jetzt noch überfüllter war als bei ihrer Ankunft. Nun lagen auch in der Vorhalle graue Männer. Keine Unterbringungsmöglichkeit. Einige stöhnten auf dem Boden, andere lehnten mit ausdruckslosen Mienen und verzweifelten Augen an Stühlen. Die Frauen scharten sich um ihre Männer, ein paar weinten leise. Dr. Leaf und Travis eilten aus dem Krankenhaus, bestiegen den Wagen des Arztes und befanden sich auf der Straße, bevor sie die Veränderung bemerkten. Die Polizisten waren verschwunden, die Straßen finster. Einzig der Krankenhausbereich hatte Licht. Sonst war alles stockdunkel. Weder auf den Straßen noch in den Häusern brannte Licht. Ein paar Autos jagten in wahnwitziger Geschwindigkeit durch die Stadt. Männer rannten. Frauen rannten. Der Arzt schaltete in den zweiten Gang. »Etwas ist geschehen«, erklärte er. »Der Strom ist aus. Die Sache hat die Stadt bereits aufgescheucht. Wahrscheinlich werden wir es schwer haben, zum Rathaus zurückzukommen.« Der Wagen raste die Straße entlang. »Sehen Sie hinaus!« schrie Travis ein paar Minuten später. Der Arzt brachte das Auto mit quietschenden Reifen zum Stehen – wenige Zentimeter vor einem Mann, der auf dem Pflaster lag. Sie stiegen aus. »Helfen Sie mir«, stöhnte der Mann. »Ich bin
krank.« Unter dem Scheinwerferlicht richtete er sich halb auf. Sein Gesicht war graphitgrau, seine Lippen braun. Er hatte die Augen weit aufgerissen; die Hornhaut hob sich hell ab gegen die dunkle Haut. »Ich weiß nicht, was wir für Sie tun könnten, mein Freund«, sagte Travis. »Töten Sie mich einfach«, bat der Mann. »Ich werde sterben –« »Da ist eins!« Der Schrei drang weiter unten aus der Dunkelheit. Drei Männer rannten auf sie zu, stürmten an ihnen vorbei und begannen sich in den Wagen des Arztes zu schieben. Travis, den die sonderbare Verhaltensweise gelähmt hatte, war plötzlich wieder Herr über seine Beine. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig mit deinem Ruck um und packte den Griff, bevor die Tür des Fahrzeugs zuschlug. Travis riß sie mit solcher Wucht auf, daß der Mann, der an ihr hing, auf die Straße geschleudert wurde. Er hechtete um die offene Tür und stürzte sich auf den Mann, der hinter dem Steuer saß. Travis erwischte ihn, während der Arzt gerade die andere Tür öffnete, und sie fielen alle zusammen auf der Fahrerseite aus dem Wagen. Der dritte Mann packte den Arzt und nahm ihn in die Mangel. Travis stieß den Kopf seines Gegners auf das Trittbrett; der Mann, der rücklings über der Kan-
te hing, befand sich im Nachteil. Endlich ließ seine Kraft immer mehr nach, und dann lag er still. Travis schob ihn auf die Straße, packte den Zündschlüssel und stieg aus, um dem Arzt beizustehen, der mit seinem Angreifer über die Straße rollte. Er erreichte ihn nie. Der erste Mann sprang ihn von hinten an, und sie fielen zu Boden; der Arm des Mannes umschlang seinen Hals und schnitt ihm die Luft ab. Travis versetzte ihm einen heftigen Hieb mit dem Ellbogen, und der Würger lockerte seinen Griff lange genug, so daß Travis mit dem Unterarm seinen Gegner von sich stoßen konnte. Er rappelte sich auf, schlug einen Haken, stürzte sich auf den Mann und preßte ihn zu Boden, während er ihm den Arm auf den Rücken drehte. Der Überwältigte fluchte kräftig. Die beiden Kämpfenden neben Travis trennten sich. Einer lag noch auf dem Boden, während der andere aufstand. In der nächsten Sekunde erkannte Travis in ihm den Arzt. »Was soll das Ganze?« fragte er den murrenden, sich windenden Mann und umklammerte fest seinen Arm. »Wir wollten nur – Ihren Wagen«, keuchte dieser. »Wir wollten – aus der Stadt raus – bevor wir die Seuche kriegen.« »Dann geht zu Fuß«, riet Travis und schob ihn von sich.
Wieder ertönte ein wilder Schrei. Aus der Dunkelheit hörte man das Geräusch laufender Füße. Travis und Dr. Leaf sprangen in den Wagen. Travis am Steuer. Der Arzt verriegelte die Türen von innen. Sie entfernten sich im Rückwärtsgang von dem Mann auf dem Pflaster und fuhren dann um ihn herum. »Armer Teufel«, hauchte der Arzt. In diesem Augenblick sprangen einige Männer den Wagen an. Einer von ihnen schlug mit einem harten Gegenstand gegen das Fenster neben seinem Kopf, und Travis sah das Glas splittern. Er legte den zweiten Gang ein, gab Gas und fuhr im Zickzack die Straße entlang. Weil der Mann auf seiner Seite sich nicht abschütteln ließ, kurbelte Travis das Fenster herunter, trat gleichzeitig auf die Bremse und drückte gegen den Mann. Er rollte auf die Straße. »Sie drehen durch«, bemerkte der Arzt. »Sie haben Angst und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wollen aus der Stadt, und kein Wagen steht zur Verfügung. Vielleicht würden wir uns genauso verhalten.« Ein Schuß knallte. Die Kugel durchschlug ein Seitenfenster, drang durch die Windschutzscheibe ins Freie und hinterließ ein rundes Loch. Wieder einmal trat Travis aufs Gaspedal. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie Männer in Gruppen auf den Bürgersteigen stehen, während die
Scheinwerfer sie erfaßten. Manche liefen auf die Fahrbahn und versuchten sie aufzuhalten. Travis überfuhr einige, die ihnen den Weg blockieren wollten. Andere Szenen waren noch schrecklicher. Männer lagen mal hier, mal da. Manchmal mußte Travis Umwege machen, um an ihnen vorbeizukommen. Einige Menschen hatte man einfach ermordet. Ob sie von rasenden Autos zusammengefahren, niedergeschlagen oder erschossen wurden, war schwer zu sagen. Gelegentlich tauchte dazwischen eine Frau auf. Einmal passierten sie eine Gruppe, die um eine schreiende Frau kämpfte. Es gab auch Betrunkene. Und zerbrochene Schaufensterscheiben. Das Plündern hatte begonnen. »Man schalte die Lichter aus, und der Mensch degeneriert«, philosophierte Dr. Leaf. Über eine halbe Stunde dauerte es, bis sie das Rathaus erreichten. Das Gebäude bot einen willkommenen Anblick, denn dort brannte noch Licht. Als sie den Wagen auf den hinter dem Haus gelegenen Parkplatz lenkten, traten zwei stämmige Frauen hinter anderen Autos hervor. Sie hielten Pistolen in den Händen. Polizeisterne blinkten auf ihren Blusen. »Ich bin Dr. Leaf«, erklärte der Arzt. »Das ist Mr. Travis. Wir wollen mit dem Bürgermeister sprechen.«
Obwohl die zwei Frauen sie mißtrauisch musterten, gestatteten sie ihnen, das Rathaus zu betreten. »Gott sei Dank, daß Sie unversehrt sind«, seufzte der Bürgermeister, als sie im Ratszimmer eintrafen. »Ich fragte mich schon, ob alle außer mir umgekommen sind!« Er stand auf und trat auf sie zu. »Die Hölle ist los. Aber hören Sie!« Er lächelte, während er auf das Radio auf einem Tisch deutete. Leise erklang Musik. »Wir können zwar Chicago nicht empfangen, aber diese Musik kommt von irgendwoher. Das Summen hat aufgehört!« Im Zimmer standen jetzt nur Frauen herum. Sie trugen alle Sterne und Pistolen. Die Telefonapparate schrillten, und andere Frauen nahmen die Gespräche entgegen. »Es blieb nichts anderes übrig, als Frauen die Aufgaben zu übertragen, wie Sie sehen«, erklärte der Bürgermeister. »Ich habe eine Zeitlang auf Sie gewartet, Travis; dann verständigte ich die Presse, daß wir in allen Stadtteilen den Strom abschalten würden – bis auf Krankenhäuser, das Wasserwerk, nun, alle öffentlichen Gebäude. Frauen, die wir angeworben haben, überwachen diese jetzt.« »Wo ist Kommissar Tomkins?« erkundigte sich Travis. »Und Präsident Riley?« Der Bürgermeister war bekümmert. »Fort. Mit den anderen. Ich verstehe nicht, warum ich nicht davon
betroffen bin. Ich sah alle um mich herum fallen. Wachtmeister Webster war der letzte.« Travis blickte auf den Stadtplan. Er war übersät mit hunderten roter Nadelköpfe; und der Mann, der sie hineingesteckt hatte, war fort. Er sah zur Tafel. Die letzte Gesamtziffer belief sich auf 3567. Niemand notierte weiter. »Draußen laufen lauter verrückte Männer herum«, erklärte Travis. »Wir hatten Glück, daß wir die Fahrt vom Krankenhaus hierher geschafft haben.« »Ich weiß. Ich hörte davon.« Der Bürgermeister wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Wir haben mehr als zwanzig Streifenwagen mit Frauen besetzt und diese mit Straßenkampfwaffen, Tränengaspistolen und Gewehren ausgestattet. Sie patrouillieren durch die Stadt und versuchen ein Minimum an Gesetz und Ordnung wieder herzustellen.« Der Bürgermeister wandte sich an eine junge, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alte Frau, die neben der Reihe von Telefonapparaten stand. »Miss Hanson«, sagte er. Das Mädchen kam herüber. »Dies ist Miss Mary Hanson. Unser neuer Polizeipräsident, seit die meisten Männer weg sind. Miss Hanson, ich darf Ihnen vorstellen: Dr. Leaf vom staatlichen Gesundheitsamt; und Gibson Travis vom Star, der uns geholfen hat.«
Miss Hanson lächelte und zeigte ihre makellosen Zähne. Dann kehrte sie zu den Telefonistinnen zurück. »Der Kurier will jetzt ein Extrablatt über den Stromausfall drucken, wenn man genügend Männer auftreiben kann, um die Druckerpressen zu bedienen und den Text zu setzen.« Dr. Leaf unterbrach ihn: »Herr Bürgermeister, liegt die Leiche des Mädchens – Alice Gilburton – noch in der Zelle?« Der Bürgermeister kratzte sich am Kopf. »Ich denke schon. Meiner Meinung nach hatte bisher niemand Zeit, sie abzutransportieren. Warum?« »Dann kommen Sie lieber mit«, sagte Dr. Leaf. »Das wird interessant werden. Haben Sie jemals von einem Haploid gehört, Euer Ehren?« »Nein, das kann ich nicht behaupten.« Der Bürgermeister verließ mit ihnen das Zimmer. »Was ist das?« »Vielleicht kann ich Ihnen einen zeigen«, erwiderte Dr. Leaf. »Ich weiß es nicht.« Nachdem er seine Gerätschaften aus dem Wagen geholt hatte, begab sich die Gruppe zur Gefängnisabteilung des Rathauses und betrat den Frauentrakt. Dr. Leaf hob die Decke. Darunter lagen nur Kissen.
11 »Das ist seltsam«, wunderte sich Dr. Leaf. »Wer hatte bei all den Ereignissen Zeit, die Leiche eines Mädchens zu entfernen und Kissen unter die Decke zu stopfen?« »Das ist doch der Beweis, glauben Sie nicht, Doktor?« sagte Travis. »Beweis für was?« wollte der Bürgermeister wissen. »Der Beweis, daß ein Greis im Union CityKrankenhaus, der erste graue Patient, wußte, was vorging«, erklärte Dr. Leaf. »Er zeichnete das Symbol für einen weiblichen Haploid, eine Frau, die organisch mit anderen Frauen identisch ist – bis auf einen gewissen biologischen Unterschied, einen Unterschied in der Zusammensetzung der Zelle.« »Aber wenn Sie behaupten, sie sei mit anderen Frauen identisch –«, begann der Bürgermeister. »Äußerlich ja«, erklärte Dr. Leaf, »aber innerlich – weiß Gott, welcher Unterschied da besteht.« Kommissar Mary Hanson trat ein. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« fragte sie. »Ja, Mary«, nickte der Bürgermeister. »Haben Sie gesehen, daß jemand hier hereingekommen ist und das tote Mädchen, das hier lag, mitgenommen hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte nicht einmal, daß hier eine Leiche lag.« Bei Travis entstand das altbekannte Gefühl im Magen und jagte zum Kopf. Es lag an der Art, wie sie die Worte gesagt hatte. Es war eine Vermutung, ein Schuß ins Dunkle. »Woher wußten Sie, daß wir hier waren?« erkundigte sich Travis sachlich. Das Mädchen mit dem Rangabzeichen eines Kommissars trat von einem Bein auf das andere. »Ich hörte Stimmen.« Travis sah, daß ihre Augen auf dem in die Decke gewickelten Mikroskop des Arztes ruhten. »Sind Sie ein Haploid?« fragte er plötzlich. Die Augen des Mädchens flackerten nur den Bruchteil einer Sekunde. »Was ist ein Haploid?« erkundigte sie sich langsam und vorsichtig. Zu langsam, zu vorsichtig, dachte Travis. »Unwichtig«, winkte der Bürgermeister ab. »Gehen wir.« Die vier verließen die Gefängniszelle und kehrten zum Ratszimmer zurück. Travis hielt es für bezeichnend, daß Mary Hanson als letzte hinter ihnen die Tür schloß. Seine Muskeln spannten sich. »Was wollten Sie mit dieser Alice?« fragte der Bürgermeister Dr. Leaf. »Ich brachte aus dem Krankenhaus ein Mikroskop mit«, erklärte Dr. Leaf. »Ich wollte eine Fleischprobe
nehmen, sie unter das Mikroskop legen, sie einfärben und sehen, wieviele Chromosomen sie besitzt, wenn das Ihre Frage beantwortet. Jetzt sind wir wieder am Anfang.« Er trug abermals sein gequältes Lächeln, doch seine Schultern waren nach unten gesackt, seine Augen matt. Travis ahnte, daß er sich von der Untersuchung an dem Mädchen tatsächlich viel versprochen hatte, um seinen Standpunkt zu beweisen. Plötzlich hieb der Bürgermeister mit der Faust auf den Tisch. »Wer hat mein Radio abgeschaltet?« »Der Stecker wurde herausgezogen«, erklärte Travis und erhob sich, um das Gerät wieder anzuschließen. »Bitte stellen Sie das Radio nicht an«, bat Kommissar Hanson. Travis wandte sich ihr überrascht zu. »Warum nicht?« »Ich will, daß das Radio läuft«, erklärte der Bürgermeister bestimmt. »Sonst wissen wir nicht, ob sie diese verdammten Maschinen wieder arbeiten lassen.« »Es stört die Telefonistinnen, Euer Ehren«, entschuldigte sich Mary Hanson. »Wir halten es für das beste, wenn sie bei der Beantwortung der Gespräche nicht gestört werden. Sie haben seit langem pausenlos gearbeitet. Das Radio –« »Ich wünsche dieses Radio, verdammt«, verlangte der Bürgermeister.
»Nun gut«, gab das Mädchen nach. »Ich schließe es an.« Sie riß Travis den Stecker aus der Hand, bückte sich, glitt aus und fiel gegen den Tisch und das Kabel; sie zog das Radio an der Tischplatte entlang, und es fiel krachend zu Boden. »O Gott!« jammerte der Bürgermeister. »Es tut mir leid«, beteuerte das Mädchen. »Es war ein Unfall.« »Tatsächlich?« spottete Travis und stand auf. »Miss Haploid.« »Ich wünschte, Sie würden mich nicht mehr so nennen«, entgegnete das Mädchen hitzig. »Oder mir erklären, was es bedeutet.« »Sie wissen verdammt gut, was es bedeutet.« »Gewiß nicht.« »Es war ein Unfall, Travis«, beschwichtigte der Bürgermeister. »Sie stürzte. Sie war aufgeregt. Verflucht, man kann doch sehen, daß sie kein Haploid ist.« »So? Woran?« »Sie ist – Nun, sie ist genauso wie alle anderen Mädchen«, erwiderte der Bürgermeister lahm. »Wenn sie kein Haploid ist, werden wir es feststellen«, erklärte Travis. »Sie hat sicher nichts dagegen, daß Dr. Leaf ihr eine Fleischprobe entnimmt, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen, nicht wahr, Miss Hanson?«
»Ich sehe nicht ein, warum«, widersetzte sich das Mädchen entrüstet. »Ich habe mich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet. Ich dachte, das würde als Beweis genügen, daß ich ebenso patriotisch gesinnt bin wie jede x-beliebige Frau. Jetzt beschuldigen Sie mich, ein Haploid oder dergleichen zu sein.« »Es gibt eine einfache Methode, die Angelegenheit zu klären«, sagte Travis. »Dann erfolgen keine Beschuldigungen mehr.« »Na schön«, seufzte das Mädchen und setzte sich. Travis musterte sie, während Dr. Leaf ihr die Prozedur erklärte. Stille herrschte, während der Arzt ein winziges Stück Fleisch von ihrem Ohr schnitt, es auf einen Objektträger legte und einfärbte. Wenige Minuten später schob er den Objektträger unter das Mikroskop und begann, die Probe zu betrachten. Das Mädchen stand auf. Ihre Hand hielt eine Pistole. »Bitte geben Sie mir den Objektträger«, verlangte sie. Im Raum wurde es totenstill. Alle Augenpaare waren auf das Mädchen gerichtet. Die Telefonistinnen drehten sich um und standen langsam auf. Der Arzt blickte sie – über das Mikroskop gebeugt, das Muster in der Hand – an. Der Bürgermeister schien überrascht. Travis stand stramm.
Das Mädchen streckte fordernd die Hand aus, nahm den Objektträger, warf ihn zu Boden und zertrat ihn. »Komisch«, sinnierte sie. »Alle Männer sind erledigt – bis auf euch drei. Erst vor wenigen Minuten ist unten Wachtmeister Webster zusammengebrochen. Er war der letzte.« Mary Hanson trat hinter sie. »Geht jetzt zur Tür. Würde sie eine von euch bitte aufmachen?« Die drei Männer gingen auf die Tür des Zimmers zu. Ein Mädchen öffnete sie. Die Gefangenen marschierten auf den Gang hinaus. Mary Hanson blieb hinter ihnen und dirigierte sie in Richtung Gefängnissektion. Während sie den Korridor zum Gefängnistrakt entlanggingen, mußten sie an einer Treppe vorbei, auf der man zum Hauptportal des Rathauses hinunterkam. Plötzlich brach Travis zusammen. »Auf, du Narr!« schrie das Mädchen, trat zu ihm und stieß ihn in die Rippen. »Ich – ich kann nicht«, murmelte Travis mit überraschter Stimme. »Es ist die –« Er stöhnte und ließ den Kopf in die Hände sinken. Das Mädchen bückte sich und wollte seinen Kopf an den Haaren in die Höhe ziehen. Da schoß sein Arm hoch und sein Bein vor; er packte das Mädchen und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie fiel zu Boden, und die Pistole landete scheppernd auf dem
Flur. Die drei Männer hetzten hinter ihr her. Travis hob sie auf. »Haltet sie!« schrie das Mädchen und rappelte sich auf. Frauen quollen aus der offenen Tür zum Zimmer des Bürgermeisters. Travis, Dr. Leaf und Bürgermeister sprangen immer drei Stufen auf einmal hinunter. Im Erdgeschoß rannte eine Frau aus einem Amtszimmer und zog die Pistole. Travis machte einen weiten Sprung, landete neben ihr und warf sie auf den Boden. Jetzt kamen aus dem zweiten Stock Schüsse. Travis hörte ein Stöhnen, blickte über die Schulter und sah den Mund des Bürgermeisters zu einem weiten »O« geöffnet, während jener zu Boden sank. Travis und Dr. Leaf blieben nicht stehen. In wenigen Sekunden lag der Eingang des Gebäudes hinter ihnen; das Türglas klirrte, durchsiebt von Kugeln. Eine Polizistin rannte die Stufen zum Rathaus hinauf, um nachzusehen, weshalb dieser Tumult entstand. Bevor sie Gelegenheit hatte, zu entscheiden, was zu tun sei, waren die beiden Männer in der Nacht verschwunden. Sie rannten einige Straßen weit in die Dunkelheit, ehe sie in einer engen Gasse anhielten, um Atem zu schöpfen. In diesem Moment fiel die Stille der Stadt über sie.
Sie wirkte wie eine betäubende, aus Finsternis bestehende Decke, die alle Geräusche und Lichter ausschloß. Travis sehnte sich nach einer Zigarette, während sich er und der Arzt gegen eine Ziegelsteinmauer kauerten. Aber er traute sich nicht, Licht zu machen. »Es waren Haploiden, oder zumindest viele davon«, flüsterte Dr. Leaf. »Ich hatte schon das Gefühl, als ich Mary Hanson zum erstenmal sah«, erklärte Travis. »Sie zog sich ziemlich geschickt aus der Affäre«, meinte der Arzt. »Dem Test wollte sie sich natürlich nicht stellen. Damit hat sie sich zwar verraten, aber das kann noch immer nicht als einwandfreier Beweis gewertet werden. Wenn es Haploiden gibt, dann frage ich mich, wieviele.« Bevor Travis antworten konnte, hörten sie in der Nebenstraße einen Wagen. Gleich darauf sahen sie, wie sich in den Schaufenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Scheinwerfer spiegelten, als das Fahrzeug um die Ecke bog. Beide Männer drückten sich flach gegen die Wand und hielten die Luft an. Das Auto schoß die Straße hinunter, und sie sahen Frauen im Fahrzeug sitzen. Als der Wagen mit der engen Gasse auf gleicher Höhe war, traf sie eine Frau plötzlich mit dem Strahl einer Taschenlampe. Bremsen quietschten.
»Eine Patrouille Haploiden!« Sowohl der Arzt als auch Travis sprangen aus ihrem Versteck und eilten die schmale Gasse hinunter. Das Getriebe des Wagens rasselte, dann trat die Fahrerin auf das Gaspedal; das Auto fuhr zurück, änderte die Richtung und kam rasch näher. Die zwei Männer zeichneten sich scharf gegen die Scheinwerfer ab. Ihre Schatten vollführten vor ihnen lange Windungen, während sie sich dem Ende der Seitenstraße näherten. Kugeln umschwirrten ihre Köpfe, als sie um die Ecke und in die nächste Straße einbogen. Die Schüsse brachten Glas zum Klirren, während die Männer weiterrannten. Der immer schneller werdende Wagen raste hinter ihnen her. Das bedeutet das Ende, dachte Travis, außer – Der Arzt mußte den gleichen Gedanken gehabt haben, denn er wandte sich einem Hauseingang zu, der mit dem Bürgersteig auf gleicher Ebene lag. Die Tür ging auf. Die zwei stürzten hinauf. Sie hörten, wie das Auto draußen bremste. Hinter ihnen öffnete sich die Tür im Erdgeschoß. Travis drehte sich auf dem obersten Treppenabsatz um und sah, daß im offenen Türrahmen eine Gestalt stand; die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten die Treppe. Er zielte mit der Pistole, die er im Rathaus aufgehoben hatte, und eine Sekunde lang überkam
ihn Unbehagen (Erschieß keine Frau, rief ihm eine innere Stimme zu), dann betätigte er den Abzug. Die Frau fiel. Andere eilten zu ihr. Die beiden Männer rannten den Korridor entlang, vorbei an Türen, hinter denen Kerzen brennen mußten, denn die Schlüssellöcher säumten den dunklen Gang als kleine Lichtpunkte. Sie erreichten den Hinterausgang und flohen über eine baufällige Treppe zu einer Hinterhofstraße hinab. »Da entlang«, bestimmte Travis, als der Arzt gerade dabei war, auf die Seitenstraße zuzulaufen, aus der sie gekommen waren, Sie rannten durch eine Passage auf eine andere Straße hinaus. Endlich blieben sie stehen. Diesmal war es keine enge Gasse. Sie traten durch eines der zahlreichen zerbrochenen Schaufenster und versteckten sich in einem Geschäft hinter dem Ladentisch, bis sie wieder zur Besinnung gekommen waren. Ein paarmal wurde die Ladendecke hell, während ein Auto die Straße entlangkroch. Sie sahen auch den Strahl einer Taschenlampe, der in das Geschäft leuchtete. Aber niemand wagte sich hinein. Es war so ruhig, daß selbst der kleinste Stellungswechsel durch die Nacht zu dröhnen schien. Sie lagen lange in der Dunkelheit und beratschlagten über ihren nächsten Schritt. »Wenn es uns gelingen würde, den Star zu errei-
chen«, meinte Travis, »könnten wir wenigstens eins tun.« »Was denn?« »Der Star ist einer das ganze Land umfassenden Telegrammleitung angeschlossen. Man kann praktisch mit allen gewünschten Orten sprechen.« »Das ist die Lösung«, sagte Dr. Leaf. »Worauf warten wir noch? Wo geht's zum Star?« Ruckweise bahnten sich Travis und Dr. Leaf ihren Weg die Straßen entlang, die sich nun wie durch Zauberei menschenleer zeigten. Jetzt gab es keine Banden mehr. Die beiden Männer stiegen über Leichen, umrundeten Autowracks und mieden Stellen, an denen zersplittertes Schaufensterglas auf den Gehwegen lag. Einige Male trafen sie andere, die durch die Nacht spazierten, aber beide Gruppen rannten gewöhnlich, bevor sie zusammentrafen. Einmal begegneten sie einem Mann, der die Straße entlangwanderte und laut mit sich selbst sprach – teils betete er, teils brabbelte er sinnloses Zeug. Er bemerkte sie nicht einmal, als sie an ihm vorbeigingen. Ein andermal kamen sie an einem Mann vorüber, der schweigend am Straßenrand saß und eine Zigarette rauchte. Er sagte kein Wort, als sie sich ihm näherten. »Was tun Sie denn hier?« fragte ihn Travis und hielt sich in sicherer Entfernung.
Der Mann zog an seiner Zigarette. Die Glut beleuchtete sein Gesicht. »Ich warte aufs Sterben. Alle außer mir sind tot.« Er stieß ein gackerndes Lachen aus. »Wollen Sie mich umbringen? Nur zu. Töten Sie mich, wenn Sie möchten. Es spielt keine Rolle.« »Sind Sie nicht krank?« erkundigte sich Dr. Leaf. »Nein, noch nicht. Aber ich hab sie abkratzen sehen.« Er lachte abermals. »Der Tod spielt sicher nur ein bißchen mit mir. Oh, er kann mich nicht zum Narren halten. Ich hab ihn arbeiten sehen. In der einen Minute ist man hier und glaubt, man würde verschont bleiben; in der nächsten Minute wird man grau und stirbt.« »Wir sind auch noch nicht tot«, sagte Travis. »Seid ihr der Tod. Seid ihr gekommen, mich zu holen? Ich bin bereit. Bitte nehmt mich mit.« Der Mann stand auf. »Bitte nehmt mich jetzt mit. Ich will nicht länger warten.« Er ging auf sie zu. Dr. Leaf und Travis entfernten sich und ließen den Mann in der Dunkelheit zurück. Wenn Fahrzeuge entlangfuhren, stürzten sie in Geschäfte. Sie waren in der Nähe des Pressehauses, als am anderen Ende ein Auto um die Ecke bog und einen Mann beleuchtete, der auf sie zukam. Es war ein Greis. Als er die Scheinwerfer entdeckte, begann er zu laufen, aber eine Kugelsalve streckte ihn
nieder. Er lag zuckend auf der Straße, während der Wagen weiterfuhr. »Sie können mir nicht erzählen, daß das keine Haploiden sind«, erklärte Dr. Leaf. »Ich widerspreche Ihnen ja gar nicht«, antwortete Travis und drückte leicht gegen die Eingangstür des Zeitungshauses. »Ich glaube nicht, daß normale Frauen so etwas tun würden.« Die Tür ging auf. »Kommen Sie«, bat er. Zusammen schlichen sie die Marmorstufen des Verlagsgebäudes hinauf. Ihre behutsamen und leisen Schritte schienen in dem steinernen Treppenhaus ein Donnergetöse zu verursachen. Einmal stieß Travis auf der Treppe gegen etwas. Es war eine Leiche. Er wollte nicht wissen, von wem, deshalb gingen sie weiter. Als sie im ersten Stock ankamen, sagte Travis: »Ich weiß, wo im Fotolabor ein paar Taschenlampen liegen.« Sie gingen den Korridor entlang zum Fotolabor und traten ein. Travis schritt zu einem Schrank und fand zwei funktionierende Taschenlampen. Er leuchtete mit der einen probeweise durch den Raum und sah bestürzt eine Gestalt in einem Sessel lehnen. Sie strahlten beide diese an. »Hal Cable!« rief Travis. Der Cheffotograf vom Star saß schwarz geworden
und vereitert da; seine Augen standen noch offen, neben sich hatte er zwei leere Whiskygläser. Travis war schlecht. »Armer Hal«, trauerte er und wandte sich ab. »Ein Freund?« fragte Dr. Leaf gereizt. »Ja. Mein bester Freund.« Sie suchten sich ihren Weg aus dem Labor auf den Korridor hinaus, schirmten dabei die Taschenlampen mit den Händen ab und gestatteten nur einem nadelkopfgroßen Lichtstrahl, ihnen den Weg zu weisen. Die Redaktionsräume waren ein einziges Durcheinander. Überall verstreutes Papier. Einige schwarz verfärbte Männer am Boden. Eine andere Gestalt, die Travis genauso gut kannte wie sich selbst, lag zusammengekrümmt neben dem Schreibtisch. Der Lokalredakteur Cline. Travis verspürte nicht den Wunsch, ihn näher zu untersuchen. »Werfen wir einen Blick in den Telexraum«, schlug Travis vor. Dr. Leaf folgte ihm, und sie stahlen sich quer durch den Raum zu dem mit Glas abgetrennten Büro, das die Fernschreiber enthielt. Als sie den Raum betraten, hörte Travis dankbar ein bekanntes schwaches Klicken. Er nahm von einem Fernschreiber den Deckel ab und legte ihn so leise wie möglich auf den Boden. Dann zog er die Kappe von einem Relais. Das Licht seiner Taschenlampe
zeigte die schnelle Vor- und Zurückbewegung des Relaisarmes. »Chicago sendet noch«, erklärte er. Dann riß er die letzte Nachricht aus dem Fernschreiber und breitete den langen Streifen auf dem Fußboden aus. »Man hat hier kurz nach zehn Uhr abends zu arbeiten aufgehört, Dr. Leaf«, verkündete er, während er den Bericht unter der Taschenlampe überflog. »Wie können Sie das wissen?« »Das war die letzte Nachricht. Wie spät ist es?« erkundigte sich Travis. Der Arzt beleuchtete seine Armbanduhr. »Zehn Minuten nach zwölf.« »Wenn die Strahlungen heute morgen in Chicago begannen, werden sie bis jetzt noch keine großen Schwierigkeiten haben. Kein Wunder, daß sie noch senden.« Travis ging in eine Ecke des Nachrichtenraumes und nahm den Hörer des Bildtelegrammgerätes zur Hand. »Diese Verbindung betrifft die allgemeine Stromsperre nicht«, erklärte er. »Chicago, Union City. Chicago, Union City«, sagte er in die Leitung. »Union City!« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang überrascht. »Was zum Teufel geht dort vor? Wir haben die ganze Nacht zu euch durchzukommen versucht. Wer ist am Apparat?«
»Gibson Travis. Ich rufe vom Star aus an.« »Hier spricht Burton. Bei uns bricht die Hölle los. Der FCC und die Amateurfunker haben eine ganze Menge von diesen Kisten aufgespürt, aber bei weitem noch nicht alle. Man stieß auf Mädchen, die sie spazierentrugen. Man stelle sich das mal vor! Mädchen! Sie erklärten jedoch, daß sie jemand dafür bezahlt hätte und sie gar nicht wüßten, was sie täten. Aber bleiben Sie dran – was geht in Union City vor?« »Wegen dieser Mädchen –«, begann Travis. »Noch immer der Alte, wie?« lachte Burton. »Stets für Frauen empfänglich.« »Hören Sie, Burton, die Lage ist ernst.« »Natürlich. Sagen Sie mal, Travis, was ist dort draußen geschehen? Zuletzt rief Cline an und meldete, die Männer würden wie die Fliegen sterben. Ist diese Strahlungssache wirklich so schlimm?« »Kaum ein Mann in Union City ist übriggeblieben«, erklärte Travis. »Man hat den ganzen Strom abgeschaltet, aber das hinderte sie nicht daran, in einigen Gebäuden die Stromversorgung aufrechtzuerhalten. Von dort schicken die Maschinen noch immer ihre Strahlen aus.« »Wie hoch ist die Zahl der Todesopfer? Wer ist tot? Irgendein hohes Tier?« »Irgendein hohes Tier? Hören Sie, Burton, ich sagte Ihnen doch, daß alle tot sind. Bürgermeister Barnston
wurde erschossen, Polizeipräsident Riley, Kommissar Tomkins, Cline, Hal Cable –« »Um Himmels willen! Cable auch?« »Ja. Sind alle tot.« »Wollen Sie mich zum Narren halten? Ich kann nicht glauben –« »Burton, ich will Ihnen etwas über diese Mädchen mitteilen.« »In Ordnung, schießen Sie los.« Travis sprach nicht. Er verspürte im Kreuz einen Druck. Eine Frau, die eine Pistole gegen sein Rückgrat preßte, sprach höchstens einen Zentimeter von seinem Ohr entfernt. »Legen Sie auf«, befahl sie. Travis ließ langsam den Hörer auf die Gabel fallen und drehte sich um. Dr. Leaf stand einen Meter entfernt; der Strahl einer Taschenlampe erhellte sein Gesicht. Jetzt wurde auch auf Travis ein Strahl gerichtet. Man vernahm das Scharren von Füßen. »Wir haben Befehl, Überlebende zu sammeln«, zischte die Frau. »Ich weiß nicht, warum wir euch nicht umlegen sollen.« »Habt ihr nicht schon genug umgebracht?« Die Antwort war ein harter Schlag auf den Mund. »Schnauze!« befahl die Frau. »Setzt euch in Bewegung. Vor euch geht ein Mädchen mit einer Lampe. Andere sind hinter euch. Offensichtlich seid ihr beide immun. Los!«
Travis Herz machte einen Sprung. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht daran gedacht. Immunität! Für einen Moment keimte in ihm Optimismus, aber als er dann hinter dem Mädchen mit der Taschenlampe hertrottete, verlor er diesen wieder. Wenn die Haploiden aus irgendeinem Grund unschuldige Männer töten wollten, würden sie keine Gewissensbisse haben, zwei weitere umzubringen. Sie traten auf die Straße. Vor dem Gebäude parkte ein Wagen mit laufendem Motor. Travis blieb stehen und wartete auf Anweisungen; Dr. Leaf war neben ihm. »Steht nicht da wie die Ölgötzen. Setzt euch nach hinten.« Diese Stimme. Er hatte sie schon gehört. Als Travis in den Wagen kletterte, erkannte er die Züge des vorne sitzenden Mädchens. »Hallo, Rosalie«, begrüßte er sie. Das Mädchen drehte sich überrascht um und erkannte ihn. »Scher dich zum Teufel«, fluchte sie. »Jetzt haltet den Mund, alle«, keifte die Walküre, die nach ihnen einstieg. Zwei Frauen standen auf dem Trittbrett. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Sie fuhren durch die Straßen der Stadt, wichen im Weg liegenden Gegenständen aus und beschleunigten auf den freien Strecken. Zuerst dachte Travis, man würde sie zum Rathaus bringen; der Wagen
lenkte jedoch stadtauswärts, raste bald an den letzten Häusern der Stadt vorbei, und bald waren sie auf der offenen Landstraße. Nach zwanzig Minuten bog das Auto in eine Einfahrt, die zu beiden Seiten von großen Büschen gesäumt wurde. Sie kamen unter einem weißen Torbogen hindurch, der die Aufschrift FAIRCREST SANATORIUM trug. Sie fuhren eine gewundene Straße hinunter und erreichten schließlich die Auffahrt vor einem großen, weißen, einem Krankenhaus ähnelnden Gebäude. Die Mädchen stiegen aus und bedeuteten Travis und Dr. Leaf mit gezogenen Pistolen, vor ihnen herzugehen. Man wandte sich nicht dem Haupteingang zu, sondern sie mußten über taufeuchtes Gras zu einem Pfad marschieren, der am Gebäude entlang zur Rückseite führte. Nach wenigen Schritten dirigierten die Aufpasserinnen die zwei Männer Stufen hinunter. Ein Mädchen begleitete sie und sperrte die Tür auf. Letztere führte in ein großes, beleuchtetes Zimmer. Travis und Dr. Leaf wurden hineingestoßen. Die Tür schnappte hinter ihnen ins Schloß.
12 In dem Raum befanden sich viele Männer; einige waren allein, andere hatten Gruppen gebildet. Manche standen, andere saßen auf dem Boden. Alle blickten den Neuankömmlingen neugierig entgegen. Die meisten Männer saßen auf hier gestapelten Kisten, andere wiederum auf den Kanten von Waschbottichen, die fast die ganze Länge einer Wand einnahmen. Es gab ein paar alte Sessel, eine alte Matratze und etliche Möbel- oder Maschinenstücke, die mit Stoff zugedeckt waren. Eine einzige Glühbirne unter den Geschoßbalken diente als Lichtquelle. Sie warf unheimliche Schatten. Travis und Dr. Leaf gingen hinüber zu den Waschzubern und setzten sich auf ein Bretterpodium, das unter den Bottichen herausragte. Die Lage blieb gespannt, bis jemand rief: »Na so was, Travis! Und Dr. Leaf!« Travis drehte sich um und erkannte einen der Männer auf der Matratze, der gerade den Kopf gehoben hatte. »Bill Skelley! Wir dachten, Sie wären tot!« Travis erhob sich, und Bill ebenso. Sie trafen sich auf halbem Weg und schüttelten sich die Hände. »Schön, jemand zu treffen, den man kennt«, erklär-
te Bill mit einem breiten Grinsen auf seinem jugendlichen Gesicht. Er gab dem Arzt die Hand. Dann stellte er sie reihum vor. »Das ist McClintock, Charlie McClintock.« »Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Charlie. »Das ist Marvin Peters, und Powers – Gus, nicht wahr? – und Tony Webb; den Ihren hab ich vergessen –« »Perry Williams.« »Richtig. Wie Sie sehen, kennen wir uns erst seit wenigen Stunden. Das ist McNulty, Jakob McNulty; dann Margano, Kleiburne und Stone – und hier unser Jüngster, der kleine Bobby Covington.« Er stellte einen zwölfjährigen Jungen vor, der seine Hand ausstreckte. Es gab zwanzig Männer und zwei Knaben – zusammen vierundzwanzig männliche Wesen, einschließlich Travis und Dr. Leaf. »Wie sieht es draußen aus?« fragte Bill, setzte sich neben Travis auf den Bottich und hielt ihm eine Pakkung Zigaretten hin. »Es ist die Hölle«, sagte Travis und nahm eine Zigarette. Er rauchte und erzählte Bill dabei von Dr. Wilhelms Theorie, den Zuständen auf den Straßen, den Mädchen im Rathaus, seinem Versuch, die Männer im verbündeten Chicagoer Pressebüro vor den Mädchen zu warnen, die dort die Maschinen spazierentrugen.
»Es ist jetzt ganz klar«, sagte später Dr. Leaf bei der folgenden Diskussion, »daß die Maschine in der Winthrop Street nicht auf volle Leistung eingestellt war. Die, welche man im Zimmer des Mädchens fand, wirkte viel tödlicher. Der Schaden in der Stadt beweist es. Wir dachten, wir hätten länger Zeit, aber es hat uns erwischt, bevor wir etwas unternehmen konnten.« »Das dachten wir auch«, stimmte Bill zu. »Ich glaubte, wir hätten sehr viel Zeit, die schwarzen Kisten aufzuspüren. Ich schickte sämtliche Funkleute in Lastwagen aus; dann begannen sie nach und nach krank zu werden und auszufallen. Sobald wir einige Leute verloren hatten, stieg ich selbst in einen Laster und fuhr los. Ich spürte tatsächlich zwei Maschinen auf, bevor mich eine Gruppe Frauen in einem Streifenwagen stoppte und gefangennahm. Das war ungefähr um halb zehn. Sie schleppten mich ins Bezirksgefängnis und sperrten mich mit anderen Männern zusammen. Ich versuchte den Frauen zu erklären, daß ich kein Plünderer, sondern Funker sei und versuche, die gefährlichen Strahlungen ausfindig zu machen, aber sie lachten mich nur aus. Wirklich«, sprach er weiter, »eine besaß eine mächtig gute Rechte.« Er rieb sich das Kinn. »Die Männer im Gefängnis erwischte es einen nach dem anderen. Ich wartete nur darauf, daß ich selbst
auch krepieren würde. Doch nichts geschah. Erst nach einer langen halben Stunde kehrten die Frauen zurück. Sie schienen überrascht, mich noch lebend vorzufinden, und besprachen, was zu tun sei. Dann brachten sie mich hier heraus.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe Ihre Erklärung über diese Frauen gehört, diese Haploiden, wie Sie sie nennen. Sie sehen für mich nicht anders aus als alle Frauen.« »Sind sie auch nicht«, mischte sich Dr. Leaf ein, »bis auf die Zusammensetzung der Zelle. Die gleichen Gedanken, die gleichen Organe – und die gleichen Ambitionen. Ich befürchte, daß die Ambitionen für ihr Verhalten verantwortlich zeichnen. Meiner Ansicht nach halten sie sich für etwas Neues und wahrscheinlich für überlegen, was in der Geschichte viele Außenseitergruppen getan haben. Ich denke, sie haben es darauf abgesehen, jedes Y-Chromosom auf der Welt und damit jeden Mann auszulöschen.« »Es klingt einleuchtend«, sagte Bill und rieb sich wieder sein stoppeliges Kinn. »Aber wie steht's mit unseren Y-Chromosomen? Wie erklären Sie sich die Tatsache, daß wir nicht betroffen sind?« Dr. Leaf schüttelte den Kopf. »Vielleicht dauert es bei uns länger. Oder wir sind aus einem einfachen, aber bisher ungeklärten Grund tatsächlich immun.« Travis sah sich im Raum um. »Vierundzwanzig, die Überlebenden einer Stadt mit 60 000 Einwohnern.
Es scheint unglaublich, daß wir überlebt haben sollten, und doch sind wir hier. Vielleicht existiert in jedem von uns der Keim zum Überleben. Wenn wir nur entdecken könnten, was es ist!« Der Mann, der ihnen als Charlie McClintock vorgestellt wurde, wandte sich an Travis. »Diese Frauen wollen auch wissen, was es ist«, äußerte er. »Da bin ich ganz sicher. Die ersten wurden einer ziemlich genauen Untersuchung unterzogen, wie ich hörte. Was haben Sie mir darüber erzählt, Margano?« Margano, ein dunkelhaariger Mann, der ausgestreckt auf der Matratze lag, hob den Kopf. »Ich war der erste«, sagte er. »Diese Mädchen brachten mich rein, zogen mich aus und nahmen mich in die Mangel.« Dr. Leafs Interesse war geweckt. »Was genau haben sie gemacht?« Margano richtete sich auf. »Oh, sie stellten mich nur auf die Waage, testeten meinen Blutdruck – sie legten dieses Ding um meinen Arm, genau wie beim Militär, bliesen es wie einen Ballon auf. Sie maßen meine Größe, machten eine Röntgenaufnahme und dann ließen sie mich in eine Flasche urinieren. Es war scheußlich. Die verflixten Mädchen blieben stehen und beobachteten mich.« Er grinste verlegen. Einige Männer lachten.
»Haben sie sonst noch etwas getan?« beharrte der Arzt. Margano überlegte, rieb sich die Nase, kniff die Augen zusammen und blickte zur Decke. »Ja, ich glaube. O ja, sie machten eine Blutprobe. Sie horchten auch mein Herz ab, prüften meine Zähne, und eines dieser Küken schaute mir in den Hals. Ich glaube, das ist alles. Nein – noch was. Sie haben ein Stück von meinem Ohr abgeschnitten.« Er legte die Hand auf eine eingebundene Stelle an seinem Ohr. Dr. Leaf grinste. »Dachten wohl, Sie seien vielleicht ein Haploid, wie?« »Ja. Ich hörte euer Gespräch. Eine Frau hielt oben die ganze Zeit alles unter Kontrolle. Sie schien die Chefin zu sein. Alle sprangen, wenn sie einen Ton von sich gab. Sie wurde Dr. Gonner oder so ähnlich genannt.« »Gonner?« fragte Travis überrascht. »Könnte es Garner gewesen sein?« »Ja«, nickte Margano. »Genau.« »War es eine reizende Blondine? Ungefähr so groß, hübsches Gesicht, ziemlich gute Figur und –« »Da sind Sie auf dem Holzweg«, lachte Margano. »Die war genau das Gegenteil. Eine ältere Frau. Graues Haar. Zwei der furchterregendsten Augen, die ich je gesehen habe. Sie schien direkt durch einen hindurchzuschauen.« Dr. Leaf sank auf das hölzerne Podium zurück.
»Dieser Test, dem man Sie unterzog, bedeutet gar nichts. Überall reine Routine.« »Mich hat man nicht untersucht«, erklärte Charlie McClintock. »Nur eine Blutprobe.« »Einen Augenblick.« Travis stand wieder. »Sie waren der erste, Margano. Richtig?« Margano bestätigte es. »Wer war der zweite?« Marvin Peters meldete sich. »Welche Untersuchung machte man bei Ihnen?« fragte Travis. »So wie bei Margano. Den ganzen Klimbim.« »Wer war der dritte?« Kleiburne hob die Hand. »Mich haben sie vor einer Kneipe aufgelesen und mit vielen anderen Männern in den Keller der Bibliothek verstaut. Zwei von uns, McNulty dort drüben und ich, überlebten von dem ganzen Haufen. Die übrigen wurden grau und bissen ins Gras. Die Mädchen kamen zurück und führten uns hinaus. Wenn wir geschickt gewesen wären, hätten wir uns tot gestellt. Ich bin sicher, daß einige andere das getan haben.« »Sie brachten uns hierher und begannen mit den gleichen Untersuchungen wie bei Margano und McClintock. Plötzlich kam diese grauhaarige alte Hexe herein und sagte: ›Der Rest spielt keine Rolle, Mädchen, untersucht nur das Blut‹.«
»Vierter? Das sind Sie, McNulty. Fünfter?« Stone hob die Hand. »Nur das Blut.« »Sechster?« Gus Powers hustete. »Das gleiche.« »Siebter?« Perry Williams meldete sich. »Bei mir haben sie nichts gemacht. Stießen mich nur hier herunter.« Auch die übrigen wurden keiner Blutprobe mehr unterzogen. »Na, Dr. Leaf«, meinte Travis. »Kommen Sie zur gleichen Schlußfolgerung wie ich?« »Ich glaube schon«, erwiderte Dr. Leaf aufgeregt. »Was ist es dann?« fragte Bill. »Das liegt direkt vor unserer Nase«, antwortete Travis. »Wie lautet Ihre Blutgruppe, Margano?« »Im Heer hab ich Erkennungsmarken mit einem AB darauf getragen.« »In Ordnung. Wie steht's mit Ihnen, Kleiburne?« »AB.« »Peters?« »AB, glaub ich.« »McNulty?« »Ich weiß es nicht.« »Und Sie, Stone?« »Gruppe AB. Könnte es anders sein?« »Ganz klar, nicht wahr? Ist jemand hier, der nicht die Blutgruppe AB hat?« Keine Hand wurde gehoben.
»Dann ist dies die Lösung«, meinte Dr. Leaf. »Wir haben wirklich Glück.« »Glück?« fragte Travis. »Was meinen Sie damit?« Der Arzt rückte seine Brille zurecht und lächelte gequält. »Lassen Sie's mich so erklären. Die YChromosomen bestehen – wie alle anderen – aus einer langen Reihe von Genen, die wir kleine Lamellen zusammengepackt sind. Wie eine Rolle aus Zweipfennigstücken. Alle Y-Chromosomen mit den Blutgenen A, B oder 0 sind gegen die Gammastrahlen anfällig, von denen wir gesprochen haben. In diesen Zellen, die die Y-Chromosomen und die siebenundvierzig anderen enthalten, befinden sich gewisse Substanzen, die von diesen Genen erzeugt werden und als Abwehrstoffe bekannt sind. Diese Abwehrstoffe stellen in gewöhnlichem Blut keinen Schutz dar, aber die Kombinationen aus den Abwehrstoffen, die durch die Gene A und B in der Blutgruppe AB hervorgebracht werden, produzieren – unter anderem – eben jenen Abwehrstoff, der uns alle in diesem Raum gegen die Strahlung immun machen muß.« »Aber was soll die Behauptung, daß wir Glück hätten?« fragte Bill Skelley ungeduldig. »Immer langsam«, erwiderte der Arzt. »Travis, wie hoch ist die Einwohnerzahl von Union City?« »Ungefähr sechzigtausend.«
»Dann haben wir Glück. Angenommen, die Hälfte davon sind Frauen, und angenommen, daß ich die Zahlen richtig im Kopf habe, so müssen ungefähr noch eintausendachthundert Männer in Union City am Leben sein!« »Unmöglich!« explodierte Travis. »Wir haben keinen gesehen.« »Das ist mein voller Ernst. Die Blutgruppe AB kommt selten vor. Wie ich mich erinnere, besitzen ungefähr sechs Prozent der Menschen in den Vereinigten Staaten diese Blutgruppe. Etwa eintausendachthundert könnten sich also in der Stadt verstekken. Natürlich wären einige davon alte Männer oder Kleinkinder. Vermutlich gehören auch ein paar Ungeborene darunter. Aber es gibt einen harten Kern, der dagegen den Kampf aufnehmen kann, wenn alle überleben.« »Ein harter Kern, der jetzt in den Häusern hockt, aufgesammelt oder von den Haploiden erschossen wird. Sie erinnern sich doch, wie sich dieses haploide Überfallkommando des alten Mannes auf der Straße entledigt hat.« »Stimmt«, bestätigte der Arzt. »Vielleicht sitzen sie untätig herum, weil sie mit den Geschehnissen nicht so vertraut sind wie wir. Wenn wir sie nur informieren könnten!« »Ja«, bestätigte McClintock. »Gehen wir einfach
hinaus und informieren wir sie. Sagen wir diesen Mädchen, daß wir hier raus wollen.« »Zum Teufel, wir haben das ganze Zimmer durchsucht«, schimpfte Bill. »Sie haben ringsum bewaffnete Wachen aufgestellt.« »Nun, geben wir die Hoffnung nicht auf«, bat Travis. »Vielleicht fällt uns etwas ein.« Die Kellertür flog plötzlich auf und schlug mit einem widerhallenden Knall gegen die Wand. Als sie zurückschnellte, wurde sie von einer weißen Hand gestoppt. Teils innerhalb, teils außerhalb des Raumes stand eine große Frau mit grauem Haar und dem Glitzern irrsinniger Fröhlichkeit in den Augen. Die Lippen des hageren Gesichts waren verächtlich herabgezogen; sie hatte buschige Augenbrauen, sowie eine aufrechte und stolze Kopfhaltung. Das Haar türmte sich zu einer Pompadour-Frisur auf, der Teint wirkte fast farblos. Die Frau glich einem Asket. Sie trug einen weißen Arztkittel; ebenso einige Mädchen hinter ihr, die bewaffnet waren. Margano hatte recht, dachte Travis. Ihre Augen sind furchterregend. Das also war Dr. Garner! Travis lief es kalt über den Rücken, als sie ihn anstarrte. Er fragte sich, ob Betty vielleicht ihre Tochter war. »Also Sie glauben, es würde Ihnen etwas einfallen, wie, Travis?« Die Lippen zeigten ein sarkastisches Grinsen.
In diesem Augenblick sonderte sich ein magerer Mann von der Gruppe ab. Seinen Namen hatte Travis vergessen. Sein Haar war zerzaust, und er sah aus, als könne er eine kräftige Mahlzeit gebrauchen. Dann wurde Travis bewußt, daß er und die anderen genauso aussahen. Der Mann trat nervös auf die Frau zu. »Bitte, Ma'am«, bat er mit leiser Stimme, »lassen Sie mich heim. Ich war gerade auf dem Weg zur Apotheke, um für meine Frau Medizin zu holen, als ich aufgegriffen wurde. Sie ist krank, meine Frau.« Als Antwort schlug ihn die Frau mit dem Handrücken. Der Mann sank auf die Knie. »Bitte, bitte«, flehte er. »Ich bitte nur für meine Frau. Sie wird sterben.« Er begann zu weinen und vergrub den Kopf in den Händen. Dr. Garner versetzte ihm einen gut gezielten Tritt, der die Hände traf, seinen Kopf zurückriß und ihn ausgestreckt zu Boden schickte. »Um Himmels willen!« rief sie. »Befreit mich von diesem wimmernden Greis. Als nächstes wird er noch auf den Boden spucken.« Travis spürte, wie sich seine Muskeln strafften. Er ballte die Hände zu Fäusten, so daß die Fingernägel in sein Fleisch schnitten. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie einige Männer langsam gegen die Frauen anrückten.
»Ruhig, Menschenskind«, flüsterte ihm Dr. Leaf ins Ohr. Zwei Schüsse. Der Mann auf dem Boden zuckte und wand sich, als ihn die Kugeln trafen. Noch ein Schuß. Er lag regungslos. Zwei Frauen betraten das Zimmer, zogen ihn ins Freie und hinterließen eine lange, hochrote Linie. Einige Männer wandten sich ab. »Hübsches AB-Blut auf dem Boden«, bemerkte die Frau und musterte forschend die Gesichter. »Ein wundervolles Blut, wie wir gehört haben.« Sie wandte sich an Dr. Leaf: »Sie haben einen interessanten Kommentar über Abwehrstoffe gegeben, Herr Doktor«, lobte sie. »Vermutlich klingt es ein wenig nach Verschwörung, aber wir haben eine Abhöranlage im Keller. Hierher pflegten wir Patienten zu schicken, wenn wir nichts anderes mit ihnen anzufangen wußten.« Sie lächelte süßlich. Die Frau betrat den Raum, spazierte umher und betrachtete die Männer. »Der unbekannte Faktor in unserer kleinen Gleichung. Das seid ihr. Laut Dr. Leaf müßte es in Union City viele wie euch geben. Nun, wenn alle sind wie ihr, haben wir wahrscheinlich nichts zu befürchten.« Sie blieb mitten im Zimmer stehen. »Falls ihr euch fragt, was mit euch geschieht, möchte ich euch beruhigen. Bis zum Morgen seid ihr alle tot. Da ihr jetzt wißt, warum ihr noch lebt, müßt
ihr auch erkannt haben, daß wir keinen eurer Brüder mehr bringen. Sie werden eliminiert, wo immer wir sie aufspüren.« »Wie ihr den Tod finden werdet, weiß ich noch nicht. Das ist ein winziges Detail, über das ihr nachdenken könntet. Vielleicht haben einige unter euch ein paar Vorschläge. Wie steht's zum Beispiel mit Ihnen, Doktor?« Der Arzt gab keine Antwort. Die Xanthippe näherte sich ihm. »Sie scheinen Intelligenz und Gleichmut zu besitzen«, meinte sie anerkennend. Dann wandte sie sich an Travis. »Vielleicht würden Sie beide gern ein richtiges Laboratorium sehen. Einen Ort, der seiner Zeit um Jahre voraus ist. Sie werden natürlich nicht lange genug leben, um den Höhepunkt mitzuerleben, die Herrschaft einer haploiden Rasse –« »Also ist es wahr –« »Sie haben es doch selbst gesagt, Herr Doktor. Natürlich ist es wahr. Kommen Sie. Es wird interessant werden, Ihnen alles zu erklären. Außerdem besteht sogar die schwache Chance, daß ihr beide zu schätzen wißt, was ihr zu sehen bekommt.« Die Frau drehte sich um und ging auf die Tür zu. Travis und Dr. Leaf folgten ihr. Sie ließ ihnen den Vortritt. Zwei weibliche Wachen mit gezogenen Pistolen nahmen sie in die Zange.
»Laßt gut sein, Mädchen«, meinte Dr. Garner. »Folgt uns nur in einem gewissen Abstand. Wenn einer von beiden etwas unternimmt, könnt ihr eingreifen.« Die drei saßen in Dr. Garners Büro, als wären sie zu Besuch – bis auf die Wachen an der Tür. Es war ein luxuriös eingerichtetes Büro mit sanfter, indirekter Beleuchtung. Dr. Garner hatte Tee und Plätzchen servieren lassen. »Ich habe Sie zuerst hierher geführt, weil ich glaube, Sie brauchen ein wenig Hintergrund für das, was Sie sehen werden. Ein Stück oder zwei, Dr. Leaf?« »Bitte keinen Zucker.« »Ich nehm ein Stück«, erklärte Travis. Die Frau rührte in ihrem Tee. »Erinnern Sie sich an Dr. Tisdial, Doktor?« »Tisdial?« Der Arzt überlegte. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Ja, ich glaube. Er war ein berühmter Biologe in Eckert, wenn ich mich recht entsinne. Ein Genetiker.« Dr. Garner lächelte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis. Ja, Dr. Tisdial lehrte viele Jahre lang in Eckert. Er war verhältnismäßig jung, als ich ihn kennenlernte. Ich gehörte zu seinen Studenten.« Sie blickte jetzt durch sie hindurch; in ihren harten Augen lag zärtliche Erinnerung. »Ich war ziemlich verliebt in ihn,
und er behandelte mich äußerst rücksichtsvoll. Er bat mich, nach dem Examen seine Assistentin zu werden. Ich wurde mehr als das. Ich wurde seine Frau.« Sie nippte an ihrem Tee. »Dr. Tisdial und ich waren sehr glücklich. Gemeinsam pflegten wir viele Stunden Seite an Seite im Labor zu verbringen. Er lehrte mich alles, was er wußte. Dr. Tisdial besaß einen genialen Verstand.« Sie stellte ihre Tasse ab; ein seltsamer und geistesabwesender Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich hatte auch einen Bruder. Er war noch so jung. So süß. So hilflos. Er hieß Ronny. Ronny Garner. Er hatte blondes Haar und sah gut aus. Ich wollte, daß er alles bekam, was er sich erträumte; und ich tat alles, was in meiner Macht stand, damit er es bekam. Ronny war Künstler. Er malte die wundervollsten Bilder, die ich je gesehen hatte; er begann schon als Kind damit. Ronny malte mir immer ein Bild. Er nannte mich Kitty; mein wirklicher Name lautet Katharina. ›Hier, Kitty‹, pflegte er zu sagen, ›hier ist ein Bild für dich‹. Oh, ich liebte ihn.« Ihre Augen schwenkten zu den beiden Männern und verloren ihre Milde. »Dann holte ihn das Militär. In der Nacht vor seiner Abreise kam Ronny zu mir und sagte: ›Ich will nicht fort, Kitty. Ich will niemand töten. Ich liebe alle. Ich liebe jedes Lebewesen.‹ Er schluchzte an meiner
Schulter, und ich versuchte ihn zu trösten. Dr. Tisdial trat ein und sah uns, wie Ronnys Kopf auf meiner Schulter ruhte und er sich die Seele aus dem Leib weinte. Er verstand es nicht. Und als ich es ihm zu erklären versuchte, sagte er nur: ›Jemand muß ausziehen und den Kaiser töten!‹ Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, wie anders Ronny war, aber er sagte nur ›Du enttäuschst mich‹. Von da an herrschte zwischen Dr. Tisdial und mir ein anderes Verhältnis.« Im Büro war es still. So still, daß man ihr Atmen hörte, während ihre Augen schmal wurden und glitzerten. »Am nächsten Morgen war Ronny fort. Nie vergesse ich die Tragödie, die auf seinem einfühlsamen Gesicht geschrieben stand. Drei Wochen später war er tot. Er starb in einem Militärlager. Er starb, weil er nicht in diese verrückte Welt paßte. Damals traf ich meine Entscheidung. Die Männer mit ihrem Wahnwitz müssen verschwinden. Jahrhundertelang bildeten Männer die Ursache für sämtliche Kriege, für alles Blutvergießen; die Ursache für alle Qualen bei Mutter und Schwester, die zusehen müssen, wie ihr Sohn oder Bruder in den Krieg zieht, um getötet zu werden; oder zusehen müssen, wie ihr Sohn oder Bruder fortgeht, dann tötet, tötet, tötet und mit einer Brust voller Ordenbänder heimkehrt.
Das sollte aufhören. Und ich würde dem ein Ende setzen. Ich kannte eine Waffe, mit der ich die männliche Bestie auslöschen würde – jene Bestie, die sich selbst und der weiblichen Bevölkerung soviel Elend zugefügt hatte. Was konnte eine Frau tun, solange es noch einen Mann auf der Welt gab? Das männliche Geschlecht dominierte. Frauen konnten nur betrügen und zur List greifen, um ihr Ziel zu erreichen. Das durfte ... nicht länger so bleiben. Wenn der Mann bei seinem Tod tausend Qualen erleiden mußte, so war dies die Strafe für die tausendfachen Qualen, die er seiner Mutter zugefügt hatte.« Jetzt erhellte ein unheimliches inneres Leuchten ihr Gesicht, während sie weitersprach: »Eine neue Rasse sollte entstehen. Die Grundgesetze mußten verändert werden. Warum sollten sich Frau und Mann vereinen, um ein Kind zu zeugen? Ich würde das fundamentale Gesetz ändern. Ich würde den Mann unnötig machen. Ich würde den Stein des Anstoßes auslöschen. Hebel und Motoren sollten die Muskeln der Männer ersetzen. Ich würde eine haploide Rasse schaffen. Eine Rasse ohne den Kummer wegen der Liebe und ihrer zahlreichen Enttäuschungen. Eine Rasse ohne Wochenbett. Eine Rasse, deren einziger Gedanke die eigene Verbesserung sein würde. Eine Rasse aus Superfrauen.« Sie brach ab und blickte Travis sowie Dr. Leaf
scharf an, als wolle sie die beiden herausfordern, einen Funken Belustigung oder Angst zu verraten. Weil das nicht der Fall war, fuhr sie fort: »Wie, fragen Sie vielleicht, wußte ich, daß ich dies könne? Die Antwort lautet: Dr. Tisdial. Nach und nach entlockte ich ihm Einzelheiten über Experimente, die er durchgeführt hatte, über Vorstellungen, die er auf gewissen Linien vertrat. Später fand er heraus, was ich plante, und half mir aus rein wissenschaftlichem Interesse bei meinen Experimenten. Aber seit jener Nacht, in der Ronny zum Militär eingezogen wurde, blieb unsere Beziehung zueinander gestört. Ich las erst kürzlich über die erstaunliche Arbeit von Dr. Gregory Pincus mit seiner Theorie von der ›mehrfachen Eiausstoßung‹.« Sie lachte. »Bereits 1918 haben Dr. Tisdial und ich auf diesem Gebiet die Einzelheiten ausgearbeitet. Die Einspritzung gewisser Hormone erhöhte die Anzahl der Eier, die beim monatlichen Eisprung frei wurden. Der nächste Schritt war, die Eier von der Mutter zu trennen. Dieses Problem wurde bald gelöst. Es handelte sich hierbei um einen einfachen technischen Trick. Als wirklich schwierig erwies sich die Aufbewahrung der Eier. Das Geheimnis heißt Scheintod bei fast null Grad Temperatur. Zusammen entwickelten wir zu diesem Zweck eine der ersten Tiefkühltruhen.«
»Verblüffend«, murmelte Dr. Leaf. Dr. Garner lächelte ihm nachsichtig zu. »Eine Untertreibung, Herr Doktor, wie Sie bald feststellen werden. Es gab keinen Grund für die Annahme, eine Eizelle könne in einer erwachsenen Frau nicht ohne die Verschmelzung mit einem Sperma reifen. Ein Spermium regt einzig den Wachstumsvorgang an, wenn es in das Zytoplasma gelangt. Jungfernzeugung ist nichts Neues; das muß ich Ihnen wohl nicht sagen. Sie haben sicher derlei Dinge gelesen; zum Beispiel erfolgt die Entstehung von Seeigeln, Seesternen, Würmern, Schnecken und sogar Fröschen, ohne daß ein Männchen sie befruchtet, Mr. Travis. Ich bin überzeugt, daß es der Doktor weiß. Die vaterlos gezeugte Jugend ist genauso gesund wie die, welche auf die herkömmliche Weise entsteht.« Dr. Garner widmete sich wieder ihrem Tee und trank einen Schluck. »Zurück zu unserer Geschichte. Es dauerte nicht lange, bis Dr. Tisdial bemerkte, daß ich mehr als nur ein vorübergehendes Interesse für die Parthenogenese hegte. Er widersetzte sich meinen Experimenten, eine Eizelle in einem künstlichen Mutterkuchen zu züchten und das Wachstum durch einen plötzlichen Temperatursturz sowie durch das Durchbohren des Zytoplasmas mit einer scharfen Nadel anzuregen – übrigens eine heikle Operation, aber wir haben sie gemeistert.
1920 errichtete ich mein eigenes Labor, um trotz seines Widerstandes weiterzuarbeiten; wir trennten uns. Er ging seiner Wege, ich die meinen. Ich war mit der Züchtung von Haploiden beschäftigt, meine Herren; ich züchtete sie zu hunderten, zu tausenden. Sie werden noch heute gezüchtet. Vor wenigen Monaten stöberte Dr. Tisdial mich auf, weil er in einer Fachzeitschrift auf einen Artikel von mir gestoßen war. Ich muß hin und wieder Gedanken und Erfindungen verkaufen, um die für meine Arbeit notwendigen Mittel aufzutreiben. Er kam hierher, um mich zu besuchen und war angeblich entsetzt über das, was er sah. Stellen Sie sich das vor, meine Herren«, rief sie und kräuselte die Lippen; Haß stand in ihren Augen. »Ein Mann ist ›entsetzt‹ über die Aussicht auf eine bessere Welt. Der gleiche Mann, den der Gedanke an den Krieg kein bißchen beunruhigt. Der gleiche Mann, der die Atombombe erfinden half. Da er es nicht billigte, blieb nichts anderes zu tun, als ihn hierzubehalten. Ich verstaute ihn hinter Schloß und Riegel. Doch eines Tages entkam er, floh in die Stadt und fand mich im Haus in der Winthrop Street, wo wir tausende dieser schwarzen Metallkisten ausstatteten. Beinahe hätte er nach einem Unglücksfall mit einer der Maschinen alles verdorben. Er bekam eine tödliche Strahlendosis ab, wurde wahnsinnig
und rannte aus dem Haus. Wir mußten alles abmontieren und das Haus in Brand stecken.« »Dann war das Dr. Tisdial«, sagte Travis. »Er war der erste graue Patient.« »Das war Dr. Tisdial«, bestätigte sie ohne Gefühlsregung.
13 Das Faircrest-Sanatorium war ein weißes, einem T ähnelndes Gebäude. Die Gruppe ging in jenen Gebäudeteil, der von der breiten Vorderfront aus nach hinten verlief. Dr. Garner erklärte ihnen alles, als wären sie berühmte Gäste. »Das Sanatorium im vorderen Trakt ist tatsächlich ein wundervoller Erholungsort«, erklärte sie. »Ein Rasthaus für die nervlich und geistig Kranken; hunderte von Menschen fanden darin Entspannung, Genesung und Hoffnung. Es erwies sich als einträgliches Unternehmen. Aber dieser hintere Teil hat damit nichts zu tun, wie Sie sehen werden.« Sie gingen den hell erleuchteten Korridor entlang; zu beiden Seiten befanden sich große, gut beleuchtete Nischen, die vom Boden bis zur Decke gehenden Glaswände vom Flur trennten. Weiß gekleidete Frauen waren dahinter beschäftigt; einige arbeiteten mit Karten und graphischen Darstellungen, andere mit blitzenden Instrumenten. Wieder andere bedienten elektronische Geräte – Vorrichtungen mit Skalen, Meßgeräten, Röhren und Drähten. Einige Arbeiterinnen schauten überrascht auf, sobald sie die Männer bemerkten. »Vor wenigen Jahren mußten wir auf Grund unse-
rer wachsenden Aktivität auf der ganzen Welt ein paar von diesen kleinen Labors in Büros umgestalten. Dort werden die Berichte unserer Haploiden aus aller Welt entgegengenommen.« Die Ärztin steckte in eine Wand einen Schlüssel. Eine dicke Metalltür glitt langsam auf, und ein Schwall warmer Luft schlug ihnen entgegen. Als sie in dem dahinter gelegenen Korridor standen, sahen sie eine große, doppelte Glasverkleidung mit einer Tür. Dahinter befanden sich bis zur anderen, fünfzehn Meter entfernten Wand, Glasretorten in gestaffelten Größen. Sie füllten den riesigen Raum fast gänzlich und ließen dazwischen nur einen schmalen Gang frei. »Die künstlich befruchtete Eizelle wird zu Beginn in die kleinste Retorte gelegt«, erklärte Dr. Garner. »Darin ist eine physiologische Salzlösung, die in ihrer Zusammensetzung genau der Körperflüssigkeit entspricht. Der richtige osmotische Druck und der Diffusionsdruck werden beibehalten, während sich die Zellen entwickeln. Die Zellteilung erfolgt fast sofort. Wie Sie sehen, nistet sich die Zelle schnell im dicksten Teil der Lösung ein, was sie sonst in der Wand der Gebärmutter tun würde. Sie wird beständig vom Fruchtwasser umspült und beginnt bald Nahrung aufzusaugen. Während die heranwachsenden Zellen von den kleineren in die laufend größer werdenden Retorten transferiert werden, sieht man das pochende Herz,
den Anfang eines Nervensystems, die Triebe, aus denen Glieder werden. Die ganze Entwicklung ist für mich selbst nach all diesen Jahren sensationell.« Die Augen der Ärztin glänzten. »Wie bei einer richtigen Mutter gibt es hier keine Verbindung zwischen dem heranwachsenden Haploid und den mütterlichen Stoffen. Sie werden von einem Gewebehäutchen getrennt – dem Mutterkuchen. Das Embryo bekommt aus der Lösung Nahrung und Sauerstoff und gibt seine Abfallprodukte an sie ab. Wenn die Zeit für die Geburt naht, wird das Kind einfach aus seiner Retorte gezogen, erhält – ähnlich wie bei einer richtigen Entbindung – einen Klaps auf den Po, und ein neuer Haploid ist zur Welt gekommen.« »Jeder erhält einen Namen und eine Seriennummer; außerdem wird der Geburtsort registriert, denn es gibt mehrere derartige Laboratorien in verschiedenen Teilen des Landes, obwohl dieses am fortschrittlichsten ist.« »Jammerschade«, bedauerte Dr. Leaf. »Jammerschade, daß Sie Ihr großes Talent nicht positiven Dingen widmen konnten.« »Ich konnte nicht erwarten, daß Sie es verstehen oder mit meinem Vorhaben einverstanden sind, Doktor, da es Ihr Geschlecht ist, das eliminiert werden soll.«
»Ihre Ermittlungen wären für die Menschheit sicher von großem Nutzen.« »Nein.« Dr. Garners Augen flammten. »Der Ärger mit euch Männern ist, daß sich alles um euch dreht. Eine Frau muß während eines Teils ihres Lebens sogar den Namen eines Mannes annehmen. Ihr habt die Frauen – die biologisch überlegene Spezies – von Anfang an unterjocht.« »Das war notwendig«, warf Travis dazwischen. »Am Anfang hing die Existenz der Familie vom starken Arm des Mannes ab.« »Ja, und nun wird dieser Arm nicht mehr gebraucht«, trumpfte Dr. Garner auf. »Jetzt gibt es für die Schwerarbeit Maschinen.« »Sie denken nicht logisch«, tadelte Dr. Leaf. »Nicht nur der starke Arm, sondern auch das Kindergebären machte eine Frau zur Unterlegenen. Was kann eine Frau schon tun, wenn sie schwanger ist?« »Schwangerschaft stellt keine so große Behinderung dar«, widersprach Dr. Garner. »Höchstens im letzten Monat. Möglicherweise nicht einmal dann. Die Frauen ließen sich nur hoffnungslos verhätscheln. Es wird keine Schwangerschaften mehr geben, außer für gewöhnliche Frauen, die den Wunsch hegen; oder wenn es notwendig werden sollte, Haploiden in Haploiden zu züchten.« »Aber zu vernichten – wahllos zu töten –«
»Werden Sie nicht kindisch, Doktor. Sie selbst haben im Labor getötet. Der Fähigere muß überleben.« Ihre Augen glühten in fanatischer Leidenschaft. »Und wir sind die Fähigeren, ihr die Schwächeren. Ihr würdet uns alle töten, ihr und eure Atombomben. In Wirklichkeit retten wir die Zivilisation, die die Männer in ihrer wahnwitzigen Jagd nach Krieg vernichten würden.« In Dr. Leafs Gesicht stand die Zornesröte, doch in Anbetracht ihrer sich steigernden Wut verfolgte er das Thema nicht weiter. »Was geschieht«, fragte Travis und brachte das Gespräch wieder auf die Wachstumsbehälter, »was geschieht, wenn das Kind auf der Welt ist? Wohin kommt es? Wer erzieht es?« Dr. Garner wandte sich wieder dem Gewächshaus für Menschen zu. »Wir haben Ammen. Die meisten Mädchen werden früher oder später von jemandem adoptiert. Wir führen über jede eine Akte, und wenn das Mädchen alt genug ist, wird sie aufgesucht und über den wahren Sachverhalt aufgeklärt. Das geschieht – je nach Mädchen – irgendwann zwischen fünfzehn und achtzehn. Manchmal ist es ein ziemlicher Schock für sie. Manchmal nicht. Die meisten haben – seltsamerweise – geahnt, daß sie nicht wie die anderen sind.« »Angenommen«, sagte Dr. Leaf, »das Mädchen paßt sich den Plänen, die Sie mit ihr haben, nicht an?«
Die Frau lächelte. »Es gibt viele Möglichkeiten. Selbstmord zum Beispiel. Wenn sie selbst nicht den Mut dazu besitzt, sorgen wir dafür, daß das Mädchen spurlos verschwindet. Wenn ein Mädchen durch die Adoption aus reichem Hause kommt und über beträchtliche Mittel verfügt, oder wenn sie sich in einer Position befindet, in der sie uns ungeheuer von Nutzen sein kann, steht auch die Gehirnwäsche zur Verfügung.« »Gehirnwäsche?« fragte Travis. »Was ist das?« »Eine Bezeichnung von Dr. Joost A. M. Meerloo, Mr. Travis. Es bedeutet die künstliche Einimpfung der eigenen Gedanken und Worte in Gehirn und Mund jener Personen, die man zu kontrollieren wünscht. Die Gehirnwäsche zerstört das selbständige Denken und macht die unverletzten Gedankengänge zu unterwürfigen Robotern. Das klingt schrecklich theoretisch; doch die moderne Psychiatrie ermöglicht dies durch die bloße Wiederholung eines Gedankens, einer Idee unter Zwang. Das Gehirn will keine andere Wirklichkeit mehr akzeptieren als jene, die ihm die Person, die den Einfluß ausübt, unterbreitet. Bisher hat die Methode noch nie versagt.« »Und diese Mädchen leben seit langem wie normale Menschen in unserer Welt?« fragte Travis. »Ungefähr zweiunddreißig Jahre, nicht wahr?« »Ja, ein paar sind in diesem Alter. Aber sie waren
schon einige Zeit bereit, zuzuschlagen. Wir dachten, die Männer würden sich durch die Kriege selbst vernichten, was sie jedoch bisher noch nicht getan haben. Wir können nicht länger warten, da ein Krieg der heutzutage geplanten Größenordnung auch uns auslöschen könnte. Wir beschleunigen die Entwicklung mit den kleinen schwarzen Kisten. Die Haploiden im ganzen Land besaßen sie seit Wochen und warteten auf den heutigen Tag. Noch etwas, was Sie vielleicht interessiert. Ein Haploid kann keine Kinder bekommen – außer mit einer künstlich eingepflanzten Eizelle, die bereits aktiviert wurde. Bei der Reduktionsteilung in den Eierstöcken würde sich ihr 23X-Chromosom in ein 11Chromosom und ein 12X-Chromosom teilen, und keins von beiden würde eine 23X oder 23YSamenzelle annehmen. Ein weiblicher Haploid ist steril. Das hindert sie jedoch nicht an einer Eheschließung.« »Wie ist das möglich?« »Ein echter Haploid betrachtet das Geschlechtsleben nur als Funktion, um geduldet zu werden; eine dumme, unnötige Funktion, die sie solange ausführen muß, bis sie emanzipiert ist. Ein Haploid findet wenig wirkliches Vergnügen dabei, weil sie auf Grund ihrer Beschaffenheit den Mann haßt. Sie wartet nur auf den Tag, der sie vom Joch der Ehe befreit,
auf den Tag, an dem die Männer als das schwächere Geschlecht ausgelöscht werden.« Dr. Garner lachte. »Haben Sie sich jemals gefragt, warum es heutzutage so viele kinderlose Ehepaare gibt? Viele, die scheinbar krampfhaft den Grund für ihre Unfruchtbarkeit suchen, sind in Wirklichkeit Haploiden, die eine Adoption vorbereiten. Die Frau muß den Verkehr aufrechterhalten, so daß das Paar schließlich auf Grund ihres Drängens – um ihren Muttertrieb zu befriedigen –, ein Kind adoptiert. Natürlich einen Haploid. Der weibliche Haploid berät sich zuerst immer mit uns. In vielen Fällen löst dies für uns das Adoptionsproblem; es ist ein Teil des Plans. Und haben Sie sich jemals gefragt, warum einige hübsche Mädchen es vorziehen, alte Jungfern zu werden? Der Haß auf die Männer macht es ihnen unmöglich, eine Heirat auch nur zum Schein oder wegen einer Adoption in Betracht zu ziehen. Sie können gefühlsmäßig keine Kompromisse eingehen. Das sind die besten Haploiden, denn sie leben nur für den Tag, der sie von den Männern befreit; der sie befreit, um die neue Welt aufzubauen, von der sie geträumt haben. Dieser Tag ist jetzt natürlich nicht mehr fern. Die Tatsache, daß Männer mit AB-Blut dem offensichtlich im Wege stehen, betrachte ich nicht als schwerwiegendes Hindernis. Wir werden auch sie ausrotten.«
»Wie steht's mit den normalen Frauen?« fragte Travis. »Wie's mit ihnen steht?« bellte die Ärztin zurück. »Rückgratlose Kreaturen. Weil ihr sie dazu gemacht habt. Auch wenn die Männer verschwunden sind, kann sie noch immer ein Kind bekommen, falls sie will. Wir pflanzen ihr ein befruchtetes Ei ein, oder wir befruchten ihr eigenes und pflanzen es ein. Das eigene haploide Kind wird so das Ebenbild der Mutter. Sollten sich gewisse Frauen dem Plan nicht anpassen wollen, so lassen wir sie einfach aussterben. Wenn sie sich jedoch tatsächlich aktiv dem Programm widersetzen, wird man sie liquidieren müssen. Aber darüber mache ich mir keine Sorgen. Diese schwachen Geschöpfe, zu denen man sie gemacht hat, werden sich anpassen.« Die Ärztin öffnete die Metalltür zum Korridor wieder, und die kühle Luft erschien Travis klar und gesund. Was er da gehört hatte, war erschreckend und abscheulich gewesen. Sie folgten Dr. Garner den Gang hinunter. Vor einem Fenster blieb sie stehen. »Dahinter«, sagte sie und deutete auf eine Porzellan- und Chromwand, »stehen Tiefkühltruhen, die wir vor Jahren entwickelt haben. Sogar zwanzig Jahre alte weibliche Eizellen werden darin konserviert. Billionen. Daran wird es uns niemals mangeln.« Weiter unten ertönte ein Klicken, das Travis sofort
wiedererkannte. Fernschreiber. Die Ärztin bemerkte sein Interesse. »Unser Nachrichtenzentrum«, erklärte sie und ging auf das Zimmer zu. Sie traten ein. Es war ein großer Raum mit Schreibtischen, Fernschreibern und Frauen. Die geschäftigen Haploiden warfen ihnen wie gewohnt feindselige Blicke zu. »Ist schon in Ordnung, Mädels«, beschwichtigte Dr. Garner sie und trat an einen langen Tisch, auf dem viele der umfangreichen Berichte ausgebreitet lagen. Sie nahm einige davon auf. »Unser Büro in Chicago meldet, daß der FCC nicht fähig ist, mit den neuen Gamma-Strahlenmaschinen Schritt zu halten. Die Obrigkeit hat den Strom abgeschaltet, aber unsere Mädchen sind sehr geschickt darin, Batteriestrom oder tragbare Generatoren umzufunktionieren. Sobald die Männer zu sterben beginnen, wird der übliche Aufruf an weibliche Freiwillige ergehen. Zu dem Zeitpunkt treten die Haploiden in Aktion. Sie sind immer die Freiwilligen. Wir haben tausende unter den Armeehelferinnen, die bereit sind, ihrer Pflicht in den heimgesuchten Städten nachzukommen.« Dr. Garner lachte wieder und legte den Bericht zurück. »Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß fast eine halbe Million Haploiden zwischen achtzehn und dreiundzwanzig auf der ganzen Welt leben? Das einzige
Land, in das wir noch nicht eingedrungen sind, ist Rußland und einige seiner Satellitenstaaten. Welche Chance bleibt dem Mann noch?« »Dr. Garner«, meldete sich Dr. Leaf zu Wort, »was geschieht, wenn eines Ihrer Mädchen gefangengenommen wird? Als zum Beispiel Alice Gilburton verhaftet wurde, nahm sie sich mit irgendeinem Gift das Leben.« »Ja, Dr. Leaf; mit Empithenal; ein Gift, das wir hier entwickelt haben. Jeder Haploid trägt eine kleine Phiole davon bei sich, falls er in eine aussichtslose Lage gerät. Die Kapsel gewährt einen schnellen, schmerzfreien Tod, sobald man hineinbeißt.« In diesem Moment drängte sich ein Mädchen in den Raum und stieß fast mit der Gruppe zusammen. Dr. Garner starrte sie an. »Miss Pease!« rief Travis. Es war die Krankenschwester aus der Klinik, die unter Mrs. Nelson, der Oberschwester, dort gearbeitet hatte. »Ihr beide kennt euch scheinbar.« »Ja, Dr. Garner«, bestätigte das Mädchen und wurde rot. »Ich mußte ihn in Dr. Tisdials Zimmer daran hindern, Betty zu verfolgen.« »So war das also!« rief Travis. »Sie haben mir den Weg versperrt!« »Das hatte ich vergessen«, sagte Dr. Garner und betrachtete Travis mit neuem Interesse. »Sie sind der
Mann, der meine Tochter hätte erkennen können. Ich habe sie Ihnen nachgeschickt –« »Ihre Tochter?« »Ein Haploid«, erklärte Dr. Garner steif. »Ich wählte sie vom 1929er Jahrgang aus. Wo ist Betty?« fragte sie Miss Pease. »Im Archiv, glaube ich.« »Hol sie bitte.« Als Betty aus dem kleinen Zimmer gleich neben dem Nachrichtenraum trat, zögerte sie kurz, als sie Travis sah. Dann kam sie näher. Sie sieht in ihrer weißen Tracht wunderbar aus, dachte Travis. Dann durchzuckte ihn heftiger Schmerz. Ein Haploid. Aber Haploid oder nicht, sie war ein attraktives Mädchen, ein Mädchen, dessen Anblick noch immer sein Herz erwärmte. Wie kannst du nur ein Haploid sein, klagte er in Gedanken – mit diesen Augen, diesem wundervollen blonden Haar, diesem roten Mund? Dann schrak er zusammen. Eigentlich war es gleichgültig. Wenn alles nach Plan verlief, würde er bald tot sein. Es sei denn, das Mädchen gedachte noch immer, ihm zu helfen. »Du kennst doch Mr. Travis, Betty«, meinte ihre Mutter. »Natürlich.« Sie zeigte keinerlei Gefühlsregung. Dr. Garner lächelte leicht, während sie ihrer Tochter in die Augen sah. »Vielleicht können wir beide
uns jetzt eine geeignete Methode ausdenken, uns ihn und seine Freunde vom Hals zu schaffen.« »Zweifellos können wir das«, erwiderte Betty kalt. »Wir müssen nicht hier unten darüber sprechen«, sagte Dr. Garner. »Wir erörtern die Angelegenheit im Büro.« Gerade hatten sie den Korridor wieder betreten – alle fünf, einschließlich der beiden Wachen, die ihnen die ganze Zeit gefolgt waren –, als ein Mädchen aus dem Nachrichtenzentrum lief und nach Dr. Garner rief. »Ich komme gleich nach«, versprach die Ärztin. »Geht schon voraus.« Die Gruppe spazierte langsam den Korridor entlang: die Männer voran, die Aufpasserinnen unmittelbar hinter ihnen. Betty Garner ging steif, selbstbewußt und schweigend nebenher. Was mag sie nur denken? überlegte Travis. Beabsichtigt sie uns zu helfen? Oder ist sie endgültig davon überzeugt, daß die Haploiden tatsächlich eine neue und bessere Welt gründen? Ich muß es, wenn möglich, herausfinden, bevor die Alte zurückkommt. An der Tür zum Büro drehte er sich nach Betty um. Ihre Augen blickten ihn kalt an. »Könnte ich dich allein sprechen, Betty?« bat er. Sie musterte ihn ernst. »Ich sehe nicht ein, warum.« »Es gibt etwas, was du wissen solltest.«
Sie stand einen Augenblick unentschlossen da. Dann wandte sie sich an die weiblichen Wachen: »Wartet draußen. Ich spreche mit Mr. Travis.« Travis hatte Herzklopfen, als sie das Büro betraten. Betty schloß die Tür, während er sich ihr zuwandte. »Ich weiß, was du willst«, behauptete sie, bevor er den Mund aufmachen konnte. »Du erwartest, daß ich dir helfe. Ich kann nicht.« Travis streckte die Arme nach ihr aus, aber sie floh hinter den Schreibtisch. »Bitte nicht«, bat sie. »Ich habe mich entschieden. Ich muß zugeben, daß mich dein Auftauchen die Nerven verlieren ließ. Offengestanden habe ich nicht erwartet, dich jemals wiederzusehen. Ich verstehe nicht, wie du am Leben bleiben konntest. Natürlich hörte ich von der Blutgruppe AB. Sie wird unsere Aufgabe erschweren.« »Aber Betty, du unterscheidest dich völlig von den anderen. Ich habe in deinen Augen Freundlichkeit gelesen. Du bist von Natur sanftmütig und kannst dich nicht aus Überzeugung an einer solchen Sache beteiligen!« »Woher willst du wissen, woran ich mich beteiligen kann?« Ihre blauen Augen blitzten. »Du weißt in Wirklichkeit so wenig über mich.« »Ich weiß, daß du ein Haploid bist, wenn du das meinst. Aber ich sage dir, daß es mir egal ist. Bedeu-
tet es dir etwas, zu erfahren, daß ich dich trotz allem liebe?« »Man kann leicht reden, wenn davon das Leben abhängt«, entgegnete sie unwirsch. Travis seufzte. »Daran denk ich gar nicht. Ich glaube, wenn du mich liebst, weißt du, daß das nicht richtig ist. Es geht gegen die Gesetze der Natur.« »Du hast es gerade nötig, von Gesetzen der Natur zu reden«, erwiderte sie. »Dr. Garner hat recht. Du und Männer deines Schlages, ihr würdet uns aus purer Eitelkeit alle umbringen.« »Ich leugne ja nicht, daß Kriege scheußlich und unzivilisiert sind. Aber die Tatsache, daß es Kriege gibt, beweist, daß diese naturbedingt sind. Selbst Ameisen führen Krieg.« »Und du behauptest, unser Vorhaben sei gegen die Naturgesetze. Wenn dein Blinddarm durchbricht, sollten wir dich vermutlich dir selbst überlassen und dich nicht operieren! Nein, Travis, Männer üben auf die Erde einen schädlichen Einfluß aus. Sie sind der krankhafte Bevölkerungsteil.« »Du sprichst wie Dr. Garner. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du tatsächlich an dieses Gerede glaubst.« »Für dich mag es Gerede sein«, antwortete sie finster. »Für mich jedoch nicht. Du kannst in dieser Sache nicht mitreden, weil du ein Mann und deshalb voreingenommen bist.«
Travis sah dankbar, wie auf ihren Wangen rote Flecken erschienen. »Das glaubst du nicht wirklich«, behauptete er. Betty blickte ihn an. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, aber die Augen drückten keineswegs die gleiche Entschlossenheit aus. Travis trat um den Schreibtisch herum, riß sie an sich und küßte sie. Sofort lag sie wieder in seinen Armen und preßte ihn an sich. »Travis«, hauchte sie. »Ich konnte dich nicht vergessen. Ich – ich habe für dich gebetet. Gott sei Dank, daß du lebst. Ich hoffte, du würdest mich küssen.« »Ich konnte dich auch nicht vergessen«, versicherte er weich. »Warum hast du mich nicht begleitet, als ich dich darum bat?« »Man hätte mich gefunden. Oh, du weißt gar nicht, wie gut sie organisiert sind. Man hätte uns beide aufgestöbert und getötet.« Travis gab sie frei. »Wie kommen wir hier raus?« Betty schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich werde dir nicht helfen.« »Warum denn nicht, um Himmels willen?« »Oh, Travis«, seufzte sie matt. »Du weißt nicht, wieviel mir Dr. Garner bedeutet. Das ist ihre Welt. Sie hat einzig für diese Nacht gelebt. Ich kann sie jetzt nicht hintergehen.«
Er schob sie fort und hielt sie von sich ab. »Sie ist wahnsinnig, Liebling. Siehst du das nicht?« »Das spielt keine Rolle. Sie war gut zu mir. Sie ist davon überzeugt, daß sie richtig handelt.« »Aber sie allein hält dieses ganze Unternehmen zusammen – durch ihren Wunschtraum, durch die Hoffnung auf eigennützigen Profit; durch die Angst, die sie einflößt; durch eine unbarmherzige Herrschaft über die haploide Rasse, die sie geschaffen hat. Glaubst du, die Welt wäre besser, wenn es nach ihren Wünschen gehen würde?« »Oh, ich weiß nicht, ich weiß es einfach nicht!« Betty preßte die Hände gegen die Ohren, als wolle sie seine Stimme aussperren. »Ich habe immer wieder darüber nachgegrübelt und komme zu keinem Ergebnis.« »Glaubst du, die Haploiden würden in einer männerlosen Welt glücklich sein? Denkst du nicht auch, daß ihr eines Tages euren Entschluß, die Erde von der männlichen Bevölkerung zu säubern, bereuen würdet?« »Ich muß zugeben, daß manche davon sprachen«, bestätigte Betty. »Es gibt ein paar Zweiflerinnen. Aber wir verdanken Dr. Garner alles. Sie brachte uns auf die Welt, durch sie konnten wir leben und wachsen. Sie ist unsere Anführerin.« »Eine Anführerin, die wahrscheinlich mit eiserner
Faust regieren wird. Glaubst du, Krieg und Hader würden bei einer einzigen Rasse – einer haploiden Rasse – enden?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht deiner Meinung. Jede Frau – haploid oder nicht – ist in der Lage, Streitigkeiten auszubrüten.« Er nahm sie wieder in die Arme. »Verstehst du denn nicht, Liebling; ich denke nicht nur an uns. Ich denke an die ganze Menschheit – sogar an die Haploiden. Sie könnten glücklich werden.« Betty riß sich los. »Du verlangst, daß ich zur Verräterin werde. Das kann ich nicht.« »Na schön«, sagte er hitzig. »In der Zwischenzeit gibt es Millionen traurige Menschen. Neugeborene mit verliebten Müttern und Vätern, die wie der Greis grau werden, mit roten Flecken übersät sind und Krebskranken ähneln –« »Nicht! Hör auf. Ich halte das nicht aus!« »Hast du einen von ihnen gesehen? Kennst du die Qualen, die sie leiden? Oh, nicht nur die Männer. Kleine Buben mit der Steinschleuder; Kinder, die für ihre Mutter zum Einkaufen gehen oder Ball spielen; vielversprechende junge Menschen mit glänzenden Augen, unschuldigen Herzen und kindlichen Gedanken. Das sind die Lebewesen, die Dr. Garner in Wirklichkeit ausrottet. Die Männer spielen keine Rolle. Oh, sicher, die Männer sterben auch. Aber für die Kinder ist es schlimmer. Kinder können es einfach nicht ver-
stehen. Zum Beispiel das Schwesterchen, das ihren kleinen Bruder in seiner Wiege oder seinem Kinderbett betrachtet: die grauen Hände und das Gesicht. Es hört den rasselnden Atem, sieht die flehenden Augen. Mutter und Schwester können nichts tun, als untätig dabeizusitzen und den kleinen Kerl sterben zu sehen.« »O Trav!« Betty lag in seinen Armen und hatte den Kopf an seiner Schulter vergraben. »Ich weiß, es ist schrecklich.« »Es liegt in deiner Macht, ihnen zu helfen«, mahnte er weich und streichelte ihr Haar. »Nicht nur uns. Ihnen. Den Kindern. Den Müttern. Den Vätern.« Travis gab sie wieder frei, und Betty ließ den Kopf hängen; ihr langes blondes Haar streifte seinen Arm. Plötzlich schwang die Bürotür auf. Travis ließ hastig die Arme des Mädchens fallen und trat zurück. »Dr. Garner kommt«, meldete eine der Bewacherinnen und kam in das Büro. Die zweite Aufpasserin und Dr. Leaf folgten. Dr. Leaf musterte Travis neugierig, sagte jedoch nichts. Betty saß neben dem Schreibtisch auf einem Stuhl. Travis sank in einen anderen Stuhl und zündete sich eine Zigarette an. Dr. Garner marschierte ins Büro und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. »Meine Herren«, begann sie, »ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß aus Chicago die ersten be-
friedigenden Ergebnisse eingetroffen sind. Die Männer werden wahnsinnig.« Sie rieb sich die Hände. »Ähnliche Situationen liegen auch in den meisten anderen großen Städten vor. Zuerst töten wir dort alle und dringen dann in die weniger besiedelten Gebiete vor.« Die Ärztin blickte auf die Uhr. »Zwanzig Minuten nach zwei. Jetzt graut bald der Morgen.« Sie sah zuerst Travis an, dann Dr. Leaf. »Mir scheint, als hätte ich Ihnen für diesen Zeitpunkt etwas versprochen. Die Wachen bringen Sie beide jetzt wohl besser in den Keller zurück. Wir werden uns etwas ausdenken, nicht wahr, Betty. Es muß doch ein Mittel geben, gegen das auch AB-Blut nicht gefeit ist; selbst wenn es etwas so Grundlegendes wie eine Kugel sein sollte.«
14 Der Trübsinn schien unter den Kellerfenstern hindurchzusickern, sich zwischen den Türritzen hereinzuzwängen und von dem monotonen Licht der einzigen Glühbirne herabzuströmen – als hätten die Haploiden eine neue Strahlung erfunden, die sich auf das Gemüt legt und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit verursacht. Die Männer saßen schweigend da und starrten deprimiert vor sich hin. Neue Männer trafen nicht ein; es gab kein Bemühen um Humor, kein Gespräch über Hoffnung mehr. Die beiden, die oben gewesen waren, erzählten über ihren Rundgang in allen Einzelheiten. Der Bericht wurde nur so ausgelegt, daß die Haploiden gut genug organisiert waren, sie jederzeit aus dem Weg zu räumen; das bedeutete einzig, daß die Ärztin bereit war, ihr Versprechen hinsichtlich des Morgens zu halten. Obwohl Travis versucht hatte, heiter zu sein, packte auch ihn schließlich die Verzweiflung, und er saß im Schneidersitz auf dem Fußboden; den Rücken an die Mauer gelehnt starrte er stumpfsinnig quer durch den Raum zur gegenüberliegenden Wand. Die Szenen der vergangenen zwei Stunden zogen noch einmal an ihm vorbei. Das Gefühl der drohenden Ge-
fahr, der Tod beim Morgengrauen, der Drang zur Flucht, die Erinnerung an Bettys hübsche Lippen; der Gedanke, daß man die Welt über die Existenz von Haploiden unterrichten sollte; die Szenen auf den Straßen von Union City; wie Bürgermeister Barnston im Rathaus zusammenbrach und den Mund zu einem Schrei öffnete, der niemals laut wurde – all diese Bilder zogen durch sein Gehirn wie ein gewundener Pfad, dem man nur schwer folgen konnte und der einen verwirrte. Vor einer Woche habe ich es mir in einem Krankenhaus bequem gemacht, mich nach zehn Jahren nervenzermürbender Zeitungsarbeit erholt und Penicillinspritzen für meine Nebenhöhlenentzündung bekommen, dachte er. Ich hatte noch nie etwas von einem Haploiden gehört und mußte mir nur darüber Gedanken machen, was ich mit meinem Jahr Beurlaubung anstellen sollte. Nun, ich glaube, die Haploiden haben beschlossen, daß aus diesem Jahr nichts wird. Es scheint, als würden mir nur noch wenige Stunden bleiben. Er hätte gern gewußt, was die Strahlungen in Chicago und den anderen großen Städten, die Dr. Garner erwähnte, machten. Wenn man sie nicht abstellte, wenn die Bevölkerung keine Anweisungen erhielt, die in erster Linie auf dem Wissen von Gibson Travis und Dr. Leaf basierten, würde die ganze Welt in Stücke gehen.
Travis zweifelte nicht daran, daß die Haploiden alle Männer ausrotten wollten, so daß keiner mehr ihren Plan zum Scheitern bringen konnte. Dann würden sie ihre eigene Zivilisation wie eine Treibhauspflanze züchten und befruchtete Eizellen in Retorten oder in den Haploiden selbst großziehen. Wahrscheinlich gab es für tausende von Jahren genug Eier auf Eis. Er versuchte sich vorzustellen, wie das sein würde. Männer wären dann unbekannt. Falls die Haploiden die wahre Geschichte überlieferten, was würden dann kommende Generationen von den Männern denken? Sollte aber zufällig eine Gruppe Männer irgendwo überleben, welches Aufsehen ihr Auftauchen dann in der Welt der Haploiden erregen würde! Man würde sie wahrscheinlich als anatomisches Wunder betrachten, Anachronismen! Der Gedanke an eine Vereinigung mit einem solchen Wesen, wäre für einen in einigen tausend Jahren lebenden Haploid bestimmt abscheulich. »Ich bin dafür«, hörte er jemand flüstern. Travis erwachte aus seiner Träumerei, sah sich um und bemerkte Bill Skelley mit einer kleinen Gruppe flüsternd beratschlagen. Er gesellte sich zu ihnen. »Wofür?« fragte Travis gleichfalls flüsternd. »Hier auszubrechen. Wenn diese Frau meint, was sie sagt, und wir bis Sonnenaufgang alle tot sind, können wir genauso gut einen Ausbruch wagen.«
»Vielleicht warten die Haploiden nur darauf«, gab Dr. Leaf zu bedenken. »Vielleicht hat sie deshalb gesagt, wir wären am Morgen alle tot, weil sie wußte, daß wir etwas unternehmen würden, wenn sie uns dies mitteilt.« »Aber wenn wir alle ausbrechen, könnte es vielleicht einer von uns schaffen«, verteidigte Bill seinen Standpunkt. »Das ist eine Idee«, gab Travis zu. »Aber was könnte ein einzelner, dem die Flucht gelingt, tun?« »Wenn sie mir gelänge, würde ich etwa fünfzig Kilometer weiter auf dieser Landstraße zu fliehen versuchen. Ein Freund von mir wohnt in der Nähe von Fostoria, und der hat die größte Amateurfunkausrüstung im ganzen Land. Ich würde die Meldung so schnell in die Luft jagen –« »Aber«, wandte Travis ein. »Angenommen, du bist nicht der Glückliche?« Bill schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Jemand anderer könnte vielleicht dorthin entkommen und ihm darüber berichten.« »Möglicherweise würde dein Freund einem Fremden nicht glauben.« »Kann sein. Aber sicher weiß er inzwischen, was los ist.« Der Plan verleitete die Männer nicht sofort zur Tat. Sie waren noch immer mutlos. Travis blickte auf sei-
ne Armbanduhr. Halb vier. Die Sonne geht im Sommer ungefähr um halb sechs oder um sechs Uhr auf, überlegte er, obwohl ihm bewußt wurde, daß er ihr niemals viel Aufmerksamkeit schenken konnte, wenn er um diese Stunde zufällig wach war. »Ich halt's nicht aus!« brüllte eine Stimme. Es war Perry Williams. Er stand auf und preßte die Hände an den Kopf. »Wenn sie uns schon töten wollen, warum tun sie's dann nicht? Ich kann dieses Warten nicht länger ertragen. Ich hab in der Stadt auf den Tod gewartet. Ich hab gewartet, und er ist nie gekommen. Ich bin fast verrückt geworden. Und jetzt wart ich wieder darauf. Das ist mehr, als ein Mann ertragen kann. Ich kann es nicht mehr aushalten, sag ich euch! Ich kann es einfach nicht mehr aushalten! Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Travis ging hinüber, packte den Mann bei den Schultern und rüttelte ihn. »Laß mich los! Laß mich! Laß los, oder ich bring dich um!« kreischte der Mann und schlug mit den Armen um sich. Travis gab ihn frei. Perry Williams drehte sich wütend um und zielte mit der Faust nach seinem Kinn. Travis wich zur Seite aus und versetzte dem anderen einen Kinnhaken, der saß. Der Mann stürzte zu Boden und lag reglos da. »Er hat sich genauso verhalten, wie ich mich füh-
le«, bekannte Charlie McClintock. »Zu Tode erschreckt.« Einige der anderen Gefangenen murmelten zustimmend. »Vielleicht sollte mich jemand k.o. schlagen, damit ich Ruhe finde.« Manche lachten auf diese Bemerkung hin. »Bill hat recht«, flüsterte Travis. »Wir sollten etwas unternehmen. Wir drehen durch wie Perry Williams, wenn wir so rumhocken müssen.« Die Männer versammelten sich in der Mitte des Zimmers. Nach wenigen Minuten hatten sie einstimmig beschlossen, daß einer von ihnen vorgeben würde, schwer erkrankt zu sein. Sie würden einen solchen Wirbel veranstalten und gegen die Dachsparren hämmern, so daß die Haploiden gezwungen wären, herunterzukommen und den Keller zu betreten. In diesem Moment wollte man die Haploiden angreifen. »Einige werden getötet«, erklärte Travis, »andere nicht. Wir versuchen an ihre Waffen zu kommen. Wenn wir erst einmal ein Gewehr besitzen, ist unsere Lage bedeutend besser. Diejenigen von uns, die übrig bleiben, rennen durch jene Tür, durch die die Mädchen reinkommen. Wir laufen, solange wir können. Wenn einige ins Freie gelangen, zerstreuen wir uns und sammeln uns bei dem Treffpunkt von Bill wieder. Wo liegt der Ort, Bill?« »Das Haus von Ernie Somers«, flüsterte Bill. »Ungefähr fünfzig Kilometer südlich, die 180ste Straße
entlang. Ihr findet seinen Namen auf einem Landbriefkasten. Ein weißes Bauernhaus auf einem Hügel, etwas abseits der Straße. Sagt ihm, daß ich euch schicke, und erzählt ihm alles, was ihr wißt, damit er sofort zu funken anfangen kann. Er wird Schwierigkeiten haben und jene Städte nicht erreichen, in denen die Haploiden mit den Strahlungen begonnen haben; aber er kann mit anderen Amateurfunkern an abgelegenen Orten Kontakt aufnehmen.« »Beschränkt euch hauptsächlich auf die Bekanntmachung, daß alle Männer mit AB immun sind«, fügte Dr. Leaf hinzu. »Sie können den Kampf gegen die Haploiden aufnehmen.« »Ich will ja keine Pferde scheu machen«, meinte Charlie McClintock, »aber ich glaube nicht, daß es einer von uns schafft.« »Vielleicht nicht«, stimmte Bill ernst zu, »aber ich stehe lieber auf der Seite der Angreifer als bei den Verteidigern.« Die Tatkraft flaute wieder ab, während die Männer herumlungerten, und jeder seine Chancen bei dem vorgeschlagenen Unternehmen abwägte. Plötzlich wurde an ein Fenster geklopft. Es war ein ganz leises Klopfen, dennoch sprangen die Männer sofort auf und blickten sich überrascht an. Travis trat leise an das vergitterte Fenster. Er erkannte, daß jemand direkt davor in der kleinen Mulde vor dem
Fenster kauerte. Er sah auch ein Bein. Es war ein hübsches Bein. Sein Herz machte einen Purzelbaum, und Travis entfernte eilig den Riegel und schob das Fenster hinauf. Betty Garner preßte ihren Kopf so dicht wie möglich gegen die Gitterstäbe und legte einen Finger auf die Lippen. »Ich – ich habe meine Meinung doch geändert, Travis«, flüsterte sie. »Ich wollte dir das geben.« Betty reichte ihm eine Automatik durch die Stäbe. »Ich habe sie aus dem Arsenal entwendet.« Sie reichte ihm noch weitere vier durch das Fenster. »Mehr konnte ich nicht tragen«, entschuldigte sie sich. »Braves Mädchen«, lobte Travis. »Wenn es uns gelingt, die Welt zu warnen, wird man dich nicht vergessen.« »Ich fühlte mich besser, sobald ich mich entschlossen hatte, euch zu helfen«, gestand sie. »Es war ... als hätte mich etwas seit langem zum erstenmal reingewaschen. Was werdet ihr tun?« »Wir veranstalten einen Wirbel, um einige herunterzulocken«, antwortete er. »Oder hast du einen Schlüssel?« »Ich habe einen Schlüssel. Verhaltet euch lieber ruhig. Es ist der Schlüssel für die Außentür. Ich habe ihn vom Schlüsselring genommen.« Sie reichte ihn durchs Fenster. »Ihr macht folgendes: Bildet zwei Gruppen und haltet euch bereit. In der Garage – un-
gefähr dreißig Meter von hier entfernt – stehen zwei Laster. In jeden passen zwei in die Führerkabine und zehn auf die hintere Ladefläche. Ich fahre den einen hier vor die Tür. Die erste Gruppe müßte bis dahin aus dem Keller kommen und zum anderen Laster in der Garage laufen. Dann klettert die zweite Gruppe auf den Lastwagen. Ich will, daß du bei mir einsteigst, Travis.« Sie lächelte. »Hier ist der Schlüssel für das andere Fahrzeug. Ich gebe euch fünf Minuten.« Sie war verschwunden. Travis schloß das Fenster und wandte sich den Männern zu. Wenige Augenblicke später hatten sie sich in zwei Gruppen geteilt. Drei Selbstladepistolen gingen an die zweite Gruppe, zwei an die erste. Travis würde mit seiner Automatik vorne bei Betty einsteigen. Bill Skelley, der die andere trug, würde auf die Ladefläche des ersten Lasters klettern; dazu Dr. Leaf, die beiden Jungen und sechs ältere Männer, da dem ersten Lastwagen wahrscheinlich die Flucht eher gelang. Die andere Gruppe, die von Charlie McClintock angeführt wurde, würde zum zweiten laufen. Die Hoffnung, die seit langem tot gewesen war, glitzerte jetzt strahlend aus allen Augen. Travis stand neben der Tür; er hatte den Schlüssel ins Schloß gesteckt und war bereit, die Tür aufzustoßen, wenn der
Lastwagen davor bremste. Die Männer nahmen ihre Plätze ein. Diejenigen mit Pistolen, umschlossen sie krampfhaft und standen mit starren Mienen und gespannten Muskeln da. Sie wirkten wie Statuen. Gesprochen wurde kein Wort. Die Männer hielten den Atem an, als sie hörten, wie in der Ferne ein Wagen angelassen wurde. Der Motor spuckte ein paarmal, dann gewann er an Kraft. Schließlich hörten sie, daß er sich dem Kellereingang näherte. War es ein Trick? Hatten Betty und Dr. Garner beschlossen, sie bei einem Fluchtversuch zu töten? Als leichte Zielscheiben, wenn sie die Auffahrt hinunterliefen oder auf einen Laster kletterten? Travis knirschte mit den Zähnen. Ich glaube nicht, daß es ein Trick ist, betete er sich vor. Ich darf es nicht glauben. Der Lastwagen kam vor der Tür knirschend zum Stehen. Der Motor klang wie ein Traktor, so nah war er, und so sehnlichst wünschten sie ihn sich leiser. Travis drehte den Schlüssel um und stieß die Tür auf. Niemand war auf dem Grundstück oder den Treppen zur Auffahrt. Die erste Gruppe hastete durch die offene Tür. Keine Schüsse wurden abgefeuert. »Halt!« Travis wirbelte mit seiner Gruppe herum und sah drei bewaffnete Haploiden in der anderen Kellertür stehen.
Perry Williams stürzte ins Freie. Ein Haploid zielte mit einem triumphierenden Grinsen. Die Pistole entlud sich in einem einzigen Schuß, der sein Opfer fand. Perry stolperte, schlug gegen den Türrahmen und brach auf dem Boden zusammen. »Dummköpfe!« zischte der weibliche Haploid und schritt auf sie zu. Die Männer, die wie angewurzelt stehengeblieben waren, handelten jetzt blitzschnell. Die Haploiden waren zu zuversichtlich gewesen, hatten die Waffen nicht bemerkt und reagierten dann nicht schnell genug. Die Männer griffen an, und die Waffe eines Haploiden schlitterte über den Boden. Bald hatten die Haploiden ihre Fassung wiedergewonnen und wehrten sich wie die Katzen gegen ihre Angreifer. Ein Schuß dröhnte. Dann zwei. Jakob McNulty, einer der älteren Männer, packte seinen Arm und sprang mit schmerzverzerrtem Gesicht umher. Bill starrte mit der rauchenden Automatik in der Hand fasziniert auf den zusammengekrümmten Haploid vor sich. Travis kämpfte mit dem Mädchen, das Perry Williams erschossen hatte. Sie war eine stämmige Brünette, die bei jeder günstigen Gelegenheit Zähne und Fingernägel zu Hilfe nahm. Sie wußte auch, wie eine Pistole am wirkungsvollsten als Schlagringersatz benutzt werden mußte. Er konnte nur den Hieben ausweichen.
Für Travis war dieser Kampf mit einer Frau seltsam. Er verursachte ihm fast Übelkeit. Nur der Gedanke an ihr Vorhaben, ihre bereits blutige Vergangenheit und sein eigenes Leben gestattete, daß er sich nicht zurückhielt. Die beiden fielen zu Boden und kämpften weiter; die Frau fluchte dabei heftig; Travis packte sie beim Haar und stieß ihren Kopf kräftig auf den Zementboden. Endlich lag sie regungslos da. Drei ältere Männer hatten den übrigbleibenden Haploid angegriffen und ihn in der Mitte des Raumes in die Zange genommen. Sie überwältigten das Mädchen im Nu und gesellten sich zu der Gruppe an der Tür. Travis, der jetzt schwer atmete, trat beiseite, während die anderen hindurchliefen. Er hörte sie in den Lastwagen klettern, während er die Stufen hinauf rannte. Er sah, wie sich die letzten Männer emporzogen, dann machte er die Kabinentür auf und sprang hinein. Betty saß mit einer Automatik im Schoß im Innern. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad fest, die Augen hielt sie aufmerksam auf das Gebäude gerichtet. Sobald Travis im Laster saß, fuhr dieser mit einem Ruck an. Es erfolgten keine Schüsse mehr. Travis drehte sich um und sah durch das Rückfenster der Kabine. Er und die anderen auf der Ladefläche beobachteten das
Drama unten in der Auffahrt. Plötzlich war das ganze Gebiet in Licht getaucht. Jetzt sahen sie Frauen aus dem Sanatorium rennen; mit Gewehren in den Händen steuerten sie auf die Garage zu. Ein Lastwagen kroch aus der Garage. »Schneller, schneller«, schrie Travis. Betty dachte, sie fahre zu langsam und brachte deshalb den Motor auf Touren. Der zweite Lastwagen rumpelte die Auffahrt entlang; Haploide arbeiteten sich im Halbkreis an ihn heran und schossen auf die Insassen. Plötzlich schien der Laster stillzustehen. Die Männer ergossen sich ins Freie, drei Pistolen feuerten auf die Haploiden. Einige Mädchen stürzten. Ein Mann nach dem anderen fiel. Plötzlich war die Szene verschwunden, als der Laster um eine Ecke des Gebäudes bog. »Travis!« schrie Betty. Er drehte sich rechtzeitig um, so daß er sah, wie eine Gruppe von ungefähr zehn Haploiden aus dem Haupteingang des Sanatoriums gelaufen kam; sie hielten Gewehre und Pistolen in den Händen. Die Mädchen rannten zu einer Kurve in der Auffahrt, und während der Lastwagen auf die Stelle zusteuerte, wurde klar, daß die Haploiden als erste dort ankommen würden. Sie näherten sich der Gruppe, die ziellos auf der Straße umherschwirrte. Zuversicht stand in den haploiden Gesichtern, und die Pistolen waren schußbe-
reit. Travis griff mit der Hand ans Steuerrad und hupte. Der Trick funktionierte. Die Reaktion machte die Haploiden – wie jedermann – für einen Augenblick zielunsicher. Sie verrissen die Waffen. Eine Kugelsalve umschwirrte sie; doch nur eine einzige Kugel kam ihrem Ziel nah, bohrte ein Loch in die Windschutzscheibe und vergrub sich im Metall an der Rückseite der Kabine. Sie befanden sich nur mehr drei Meter von der Gruppe entfernt, als sich Travis aus dem offenen Fenster beugte und mitten in den Haufen schoß. Ein Mädchen fiel. Die anderen rührten sich nicht vom Fleck. Betty senkte den Kopf, umklammerte mit beiden Händen das Steuer und trat aufs Gaspedal. Der Laster sauste durch die Gruppe und schleuderte die Mädchen mit ekelerregenden, dumpfen Aufschlägen beiseite. Travis blickte über die Schulter und sah sie wie Kegel verstreut liegen. Vor ihnen mündete die Auffahrt jetzt in die Straße, und der Wagen fuhr schneller. Von hinten kamen einige Schüsse. Eine der Kugeln schlug hinter Travis Kopf in den Laster. Er blickte auf. Die Nase einer Gewehrkugel spähte durch das Loch. Eine andere Kugel traf den Laster und prallte ab. Betty hing über dem Steuerrad und jagte mit quietschenden Reifen gegen Süden. Dumpfe Schläge erklangen, als einige Männer auf die andere Seite des
Lasters geschleudert wurden. Betty steigerte die Geschwindigkeit, der Wind pfiff um die Fenster. »Das zweite Fahrzeug hat es nicht geschafft«, bedauerte Travis und legte seine Pistole in den Schoß. »Sie werden uns verfolgen«, versprach Betty. »Sie werden in Personenwagen hinter uns herfahren. Wir müssen von der Straße herunter.« Travis öffnete das Fenster zur Rückseite des Lastwagens. »Wie geht's euch da hinten?« fragte er. »McNulty hat einen verwundeten Arm«, antwortete Bill Skelley. »Sonst ist niemand getroffen worden.« »Wer sitzt eigentlich alles dort hinten?« Travis erhob sich, um einen Blick durchs Fenster zu werfen, aber es war zu dunkel. »Die beiden Buben, Bobby Covington und Dick Wetzel«, zählte Bill auf. »Dann Marvin Peters und Gus Powers; Kleiburne und Stone sitzen direkt unter Ihrem Fenster. Dr. Leaf behandelt McNultys Arm. Und Margano. Hätte ihn fast vergessen. Er ist neben mir.« »Habt ihr vorne Kissen?« Travis erkannte Gestalt und Stimme von Dr. Leaf in der Nähe der Heckplanke. »Hier hinten ist es ziemlich holprig für McNulty.« Travis reichte für ihn das Lederkissen unter seinem Sitz durchs Fenster. »Denken Sie nicht, daß wir in eine Nebenstraße
fahren sollten, Travis?« schlug Bill vor. »Sie werden uns verfolgen, und sie holen uns sicher ein, wenn wir auf dieser Straße bleiben.« »Wir haben gerade drüber gesprochen, Bill.« »Ich glaube, wir sind noch an keiner weißen Kirche vorbeigekommen. Dort ist links ein Kiesweg. Biegt da lieber ab. Nach ungefähr eineinhalb Kilometern kommt ihr auf eine Parallelstraße, die direkt nach Fostoria führt. Die hab ich immer benützt, um dem Verkehr auszuweichen.« »Die nehmen wir. In der Zwischenzeit haltet die Augen offen.« Travis drehte sich wieder nach vorn und schloß das Fenster. »Willst du, daß ich fahre?« »Ich glaube nicht, daß wir jetzt halten sollten, oder?« wehrte Betty ab. »Wie ich Dr. Garner kenne, ist sie gleich hinter uns.« Es gab keinen Grund zum Fahrertausch. Betty lenkte den Laster wie ein alter Hase. Das Gaspedal war ganz durchgetreten, die Reifen riefen auf dem Pflaster ein gleichmäßiges Sirren hervor, während die Tachonadel auf siebzig stieg. Betty beugte sich angespannt über das Lenkrad; ihre Hände waren straff, die Knöchel weiß. Selbst in der düsteren Beleuchtung des Armaturenbretts erkannte Travis den Schimmer in ihrem hellblonden Haar. Das Profil glich fast dem eines Engels. Die Nase war nur eine Spur nach oben gebogen, das Kinn niedlich, die Lippen voll. Ein
ziemlicher Kontrast zu den anderen Haploiden, die er gesehen hatte – mit Ausnahme von Rosalie Turner vielleicht. Möglicherweise hatte Dr. Garner sie deshalb aus dem »1929er Jahrgang« herausgefischt, wie sie ihnen erzählt hatte. Es wurde hart an das Fenster geklopft. Travis blickte auf. Bills Gesicht tauchte auf. Er öffnete. »Ein Wagen kommt schnell näher«, erklärte Bill. »Wir haben noch siebenhundert Meter, bis wir zu der Abzweigung nach Süden kommen.« »Außer uns fährt niemand sonst auf der Straße«, meinte Betty. »Sie müssen gesehen haben, wie wir abgebogen sind.« »Entweder schießen wir während der Fahrt oder biegen nach einer Kurve ab«, schlug Bill vor. »Bei der nächsten Straße gibt es eine scharfe Kehre und dahinter einen Feldweg. Wenn wir so weit kämen, könnten wir dort einbiegen und hoffen, daß sie vorbeifahren.« »Machen wir einen Versuch, Bill«, antwortete Travis. »Hol alles raus, was drin ist, Betty.« Er sah zum Rückfenster hinaus und konnte eineinhalb Kilometer entfernt Scheinwerfer erkennen. Gelegentlich verloren sie sich im Staub, der auf Grund der Geschwindigkeit des Lasters aufgewirbelt wurde. Wenn sie wieder auftauchten, waren sie jedesmal ein Stück näher. »Wir sind gerade an der Straße vorbeigefahren«,
schrie Bill. »Jetzt kommt eine Kurve, und gleich am Ende liegt rechts ein Feldweg. Biegt dort ein.« Betty nahm in der Kurve das Gas weg, trat auf die Bremse, schwenkte den Wagen rechts in einen von Bäumen abgeschirmten Feldweg und rumpelte darauf entlang zu einer Lichtung, die ungefähr dreißig Meter abseits der Hauptstraße lag. Sie löschte die Scheinwerfer und schaltete den Motor aus. Sofort sprangen die Männer vom Wagen und versammelten sich dahinter. Kurz darauf zischte ein Wagen um die Kurve; seine Scheinwerfer blitzten durch die Bäume. Die Gruppe warf sich zu Boden. Der Wagen sauste an der Lichtung am Ende des Pfades vorbei, und der Motor hämmerte kraftvoll, während die Lenkerin die Geschwindigkeit erhöhte. »Wieder rein!« schrie Travis. Alle sprangen zurück in den Lastwagen. Auf Bettys Vorschlag nahm Travis das Steuer, wendete den Laster und steuerte auf die Straße zu. Sie hatten diese fast erreicht, als ein zweiter Wagen in halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Kurve bog und an ihnen vorbeisauste. Travis verlor keine Zeit, sondern brachte den Motor auf Touren; während die Reifen nach allen Seiten Kies spritzten, erklommen sie die glattere Fahrbahn und lenkten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Der zweite Wagen wendet«, schrie Bill. »Geben Sie Gas!«
Travis steuerte den Wagen um die Kurve, erhöhte auf der geraden Strecke die Geschwindigkeit, verlangsamte für die Wendung nach rechts und gab dann wieder Gas. Es reichte nicht. Im Rückspiegel und im Seitenspiegel des Lastwagens sah er das Scheinwerferpaar eines aufholenden Fahrzeugs. Aus fünfzehn Meter Entfernung wurden von ihren Verfolgern die ersten Schüsse abgegeben. Sie verfehlten ihr Ziel weit. Jetzt begannen die Männer auf der Ladefläche ihre einzige Pistole abzufeuern. Betty öffnete das Fenster und reichte ihre und Travis Automatik nach hinten. Dann begann die Schießerei ernsthaft. Das Fenster durchlöcherte eine Kugel, die auch durch die Windschutzscheibe drang. Plötzlich drehten sich die Lichter des Wagens hinter ihnen wie verrückt, und die Männer auf der Ladefläche stießen einen freudigen Schrei aus. Die Scheinwerfer verschwanden. Dann war Bill wieder am Fenster. »Keiner von uns ist verletzt«, berichtete er. »Gott sei Dank trafen sie nicht mal die Breitseite einer Scheune. Hab ich an beiden Autos nicht lange Antennen gesehen, Betty?« »Ja, Bill«, bestätigte Betty. »Dr. Garner hat an alles gedacht. Sie werden unsere Position an andere Fahrzeuge weiterleiten, die sie uns nachhetzen.« »Und der zweite Wagen ist uns dann bald auf den Fersen«, meinte Travis. »Es gibt hier viele Abzweigmöglichkeiten«, erklärte
Bill und blickte zurück, um zu sehen, ob ein Auto kam. Dann redete er weiter: »Ich schlage vor, wir biegen auf eine dieser Nebenstraßen, suchen einen Feldweg und verstecken uns dort für eine Weile. Es ist nicht mehr sehr weit bis zum Haus von Ernie Somers, aber vielleicht haben wir bei einer zweiten Begegnung mit einem anderen Wagen nicht mehr soviel Glück. Warum sehen Sie sich nicht nach einem anderen Seitenweg um, Travis?« »Geht in Ordnung.« Travis verlangsamte die Fahrt, entdeckte eine Einfahrt und bog ab. Sie fuhren einige Blöcke weiter, nahmen dann eine andere Straße und steuerten so im Zickzack tiefer ins Land, bis sie endlich um eine Ecke kurvten, hinter der es weit in bewaldetes Gebiet ging und Zweige und Büsche gegen den Lastwagen schlugen. Sie folgten dieser Straße bis zu einer Gabelung, an der praktisch beide Abzweigungen unbefahrbar waren; dann blieben sie stehen. Die Stille wirkte betäubend. Mit den abgeschalteten Scheinwerfern schien der Wald unter dem mondlosen Himmel unwirklich zu sein. Es war gerade genügend Licht vorhanden, um die Bäume als schwarze schlanke Pfeiler zu zeigen, die einen sternenübersäten Himmel stützten. »Ihr könnt euch ruhig die Beine vertreten«, rief Travis nach hinten, »aber entfernt euch nur ein paar Meter. Und haltet die Pistolen bereit.«
Betty und Travis gesellten sich zu der Gruppe, die sich neben dem Lastwagen reckte. Sie waren der Meinung, daß ihre Verfolger wahrscheinlich alle Straßen abfahren würden – eventuell sogar die Nebenstraßen. Deshalb hielten sie es für das beste, mindestens fünfzehn Minuten hierzubleiben und zu hoffen, daß die Haploiden in der Zwischenzeit andere Straßen und Gebiete durchforsten würden. »Je eher wir die Funkverbindung aufnehmen, desto besser ist es natürlich«, erklärte Dr. Leaf, »aber wir haben tatsächlich ein wenig Zeit.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Travis und legte den Arm um Betty, die ihren Kopf an seine Schulter lehnte. »Nun, ich nehme an, daß die Strahlungen ungefähr sechsunddreißig Stunden brauchen, bis sie wirklich Schaden anrichten. Sie erinnern sich doch, daß sie in Union City etwa um zehn Uhr vormittags begonnen haben. Am Donnerstag. Am Freitagabend fingen sie an, auf die Männer zu wirken. Bis zehn Uhr abends waren viele tot oder lagen im Sterben. Um Mitternacht war fast alles vorbei.« »In der Meldung, die wir im Nachrichtenraum vom Star gelesen haben, hieß es, daß die Strahlungen in Chicago erst am Freitag morgen begannen«, fiel Travis ein. »Dann meinen Sie, sie hätten einen Zeitraum der Sicherheit?«
»Ja, wenn man – wie ich schon sagte – danach urteilt, was in Union City geschah, sollte ihnen noch bis ungefähr sechs Uhr heute abend – Samstag – Zeit bleiben, bevor etwas wirklich Ernsthaftes passiert.« Während sie sprachen, konnte man ihren Atem sehen. Es war eiskalt, und Travis spürte Betty zittern. Er hatte ihr keinen Mantel anzubieten. »Wir hätten es doch in der Meldung gelesen, falls eine andere Stadt früher bedroht wäre, nicht wahr, Travis?« fragte Dr. Leaf. »Wie steht's damit, Betty? Sie hatten doch Zutritt zum Nachrichtenraum des Sanatoriums.« »Chicago war nach Union City die erste Stadt«, bestätigte sie. »Aber jetzt kommen alle Großstädte an die Reihe.« Sie zitterte sehr stark, deshalb führte sie Travis zurück zur Kabine des Wagens, in der es wärmer war. Er setzte sich neben sie. Betty kuschelte sich in seine Armbeuge und legte den Kopf auf seine Schulter. »Was denkst du?« fragte sie leise. »Wie schön du bist.« »Das mußt du nicht sagen.« »Ich weiß. Aber zufällig bist du das Mädchen, das ich liebe.« »Der Haploid, wolltest du wohl sagen«, erwiderte sie wehmütig.
»Worin besteht der Unterschied? Wir zwei werden heiraten.« »Du willst doch Kinder, nicht wahr?« Sie versuchte, es leichthin klingen zu lassen. »Sicher. Du nicht?« Sie blickte ihn überrascht an. »Aber du weißt doch bestimmt –« »Ja, ich weiß. Hör mal, ich möchte, daß du das vergißt. Es gibt viele Frauen, die keine Kinder bekommen können, und es sind keine Haploiden. Angenommen, wir heiraten, und einer von uns entpuppt sich als unfruchtbar?« »Du meinst, wir sollten eines adoptieren?« »Genau. Du würdest eine wunderbare Mutter sein, Betty.« Eine Träne fiel auf seine Hand. »Hier.« Er reichte ihr sein Taschentuch. »Es ist zwar nicht mehr das frischeste, aber du wirst es brauchen.« Sie putzte sich die Nase. »Ich weiß nicht, warum ich dich liebe. Kein anderer Haploid, die ich kenne, liebt einen Mann. Aber ich glaube, ich liebte dich von dem Moment an, als ich dich im Union CityKrankenhaus sah. Damals, als ich Dr. Tisdial von seinen Qualen befreien wollte.« »Dr. Garner erwähnte, daß Dr. Tisdial ihr Mann gewesen sei. Sie sagte, sie hätte sich von ihm getrennt; er sei nach vielen Jahren zurückgekommen
und hätte vor ihrem Treiben Abscheu empfunden. Sie behauptete, sie hätte ihn im Sanatorium eingesperrt.« »Das ist nur zum Teil richtig«, erwiderte Betty. »Meine Mutter – ich nannte Dr. Garner immer Mutter und Dr. Tisdial Vater, da sie mich großgezogen haben. Meine Mutter hatte, nun, sie hatte Gedächtnislücken. Sie war nicht mehr sie selbst. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist Wahnsinn das richtige Wort.« »Sie hat mir von ihrem Bruder erzählt.« Betty nickte. »Das muß ihren Verstand irgendwie schrecklich verwirrt haben. Wir haben die Geschichte alle hin und wieder zu hören bekommen. Sie erzählte sie gut. Die Mädchen waren alle beeindruckt, und die Geschichte hilft, daß sie die Dinge so sehen, wie Mutter es wünscht.« Travis nahm eine Zigarette, die Betty ihm anbot. »Warum sagst du, es sei nicht richtig, was sie über Dr. Tisdial erzählt?« Betty seufzte und lehnte sich an ihn. »Sie bildet sich ein, er habe sie 1920 verlassen, als sie die Haploiden zu schaffen begann. Aber das war nur der Zeitpunkt, an dem sie ihren Mädchennamen wieder annahm. In Wirklichkeit hat er sie nie verlassen. Er war die ganze Zeit an ihrer Seite. Er war ihr Mann und liebte sie sehr. Oh, sie erlebten Zeiten des Glücks, dann stritten sie wieder heftig. Vater und ich pflegten lange Gespräche zu führen; er hoffte stets, er könne sie dazu
bringen, ihren Sinn zu ändern. Wir standen uns sehr nahe, Vater und ich. Schließlich nahm er sie – meiner Meinung nach – nicht mehr ganz ernst. Aber er liebte sie zu sehr, um sie in eine Anstalt zu bringen. Außerdem mußten die Kleinkinder, die sie schuf, eine Heimat bekommen. Ihr ganzes Glück war die Arbeit an den Haploiden. Immer wieder versuchte er sie in eine andere Richtung zu lenken, aber sie wollte sich nicht fügen. Zum Schluß behandelte sie ihn niederträchtig.« Betty putzte sich abermals die Nase und wischte sich die Augen. »Als sie die Strahlungsmaschine erfand, beschloß Dr. Tisdial, etwas zu unternehmen. Er sagte ihr, wenn sie sie nicht zerstöre und die Idee fallen ließe, würde er zur Polizei gehen. Sie sperrte ihn im Sanatorium ein, während sie die Apparate in Union City herstellte. Viele Haploiden arbeiteten dort; sie wohnten im oberen Stockwerk. Ich habe ihn oft in jenem Kellerraum besucht, in dem du mit den anderen gefangengehalten worden bist. Er wirkte alt, traurig und in sein Schicksal ergeben. Oft horchte er mich über die neuesten Ereignisse aus. Eines Tages bemerkte ich ein sonderbares Glitzern in seinen Augen. Das nächste, was ich wahrnahm, war seine Flucht. Mutter war außer sich vor Angst, daß er gleich zur Polizei laufen würde. Viele
von uns verbrachten zahlreiche Stunden mit der Suche nach ihm. Aber er ging nur in die Winthrop Street und wollte die Maschinen zerstören. Er kam zu spät. Zuviele hatte man bereits im ganzen Land verteilt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Tatsächlich verrückt wurde er, als sie ihn im ersten Stock einsperrten. Einen anderen Mann hielten sie im Keller gefangen. Solange er gesund war, glaubten sie, hätte alles seine Richtigkeit, während sie sämtliche Maschinen ausprobierten. Ich habe vergessen, wer der andere Mann war.« »Chester Grimes.« »Woher hast du das gewußt?« »Die Polizei fand es durch Fingerabdrücke heraus. Erzähl weiter.« »Nun, eines Tages schmuggelte Dr. Tisdial eine Maschine hinauf. Es war eigentlich ein Fehlprodukt. Sie funktionierte nicht besonders gut, ließ ihn aber trotzdem krank werden. Dann ist er bekanntlich verschwunden; und dieser Grimes rennt im Keller herum, wird grau und heult vor Schmerzen. Man fand das Gerät und stellte es ab. Der Schaden war jedoch bereits angerichtet und die Arbeit ohnehin fast abgeschlossen, deshalb wurde das Haus noch in derselben Nacht geräumt. Die Polizei überraschte am nächsten Morgen einige Mädchen bei der Arbeit. Sie verschwanden unbemerkt, mußten aber das Haus in
Brand stecken, weil sie einige Dinge darin zurückgelassen hatten.« »Ich fand Rosalie Turners Karteikarte dort«, bestätigte Travis. »Meine Mutter hörte davon. Aber das erste, was sie von dir hörte, war der Kampf, den du im Krankenhaus mit mir ausgetragen hast. Gladys Pease, die Krankenschwester, hat es ihr erzählt. Deshalb übertrug sie mir die Aufgabe, dich auszuschalten, weil es – wie sie behauptete – meine Schuld sei, daß die ganze Sache passiert ist. Sie wußte nicht, was ich für dich empfand. Noch wußte ich es damals.« Betty kuschelte sich noch enger an ihn und streichelte seinen Arm. »Jetzt bin ich froh, daß ich es nicht getan habe. Als ich dich damals auf der Straße traf, wußte ich, daß ich es nicht übers Herz brächte. Aber ich versuchte es in deiner Wohnung noch einmal. Bis dahin hatte ich nicht nur dich, sondern diesen Burschen – Hal Cable – auf meiner Liste, denn er hatte mich auch gesehen. Ich bin im Töten einfach eine Niete.« »Deine Kameradinnen nicht«, äußerte Travis grimmig. »Sie haben Hal Cable mit der Strahlung erwischt.« »Das alles ist ein schreckliches Durcheinander. Jetzt verstehe ich nicht mehr, wie ich es für die Lösung der Probleme auf der Welt halten konnte. Männer sind schlecht, aber auch der haploide Traum. Vielleicht ist
ein paar hundert Jahre später die Menschheit über den Krieg und die Grausamkeit hinausgewachsen.« »Du hast von Dr. Tisdial gesprochen«, erinnerte Travis. »Warum versuchtest du ihn zu töten?« »Ich sprach mit Dr. Garner über ihn. Wenn er genauso viel Schmerzen litt wie Chester Grimes, argumentierte ich, sollte man ihm die Vergünstigung eines schnellen Todes ohne Qualen zukommen lassen. Sie mußte noch einen Funken Gefühl für ihn gehabt haben, denn sie gab mir recht. Die Pease rief uns an, sobald er ins Krankenhaus eingeliefert wurde.« »Er hat uns von den Haploiden erzählt.« »Dr. Tisdial? Du meinst, er war bei Bewußtsein?« »Jedenfalls lange genug, um für einen Assistenzarzt – Dr. Collins – das Symbol für weiblich zu zeichnen und in die Mitte 23X zu schreiben. Ich habe dir die graphische Darstellung in meiner Wohnung gezeigt, erinnerst du dich? Wir konnten das Rätsel erst einige Tage später lösen.« »Sie hatten schreckliche Angst davor, daß du vielleicht etwas gefunden haben könntest. Dr. Garner war deshalb sehr wütend, weil ich dich nicht getötet hatte. Ich befürchtete, sie würde entdecken, was ich für dich fühlte. Dennoch habe ich dich aufgesucht. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten, fortzukommen, um dich zu warnen, denn es war genau zu jenem Zeitpunkt, als Alice Gilburton und andere die letzten
Instruktionen erhielten. Alle Haploiden wurden aufgerufen, zu übernehmen, sobald die Männer zu sterben begannen, und ich bildete keine Ausnahme.« »Was ist eigentlich mit Alice Gilburton passiert?« »Mary Hanson – sie war vom Bürgermeister zur Polizeipräsidentin ernannt worden – hielt uns per Telefon vom Rathaus aus auf dem laufenden. Dr. Garner gab ihr Befehl, Alices Leiche fortzuschaffen, weil vielleicht jemand auf die Idee kommen könnte, sie zu untersuchen. Der Bürgermeister ordnete an, bis auf die öffentlichen Gebäude, überall den Strom abzuschalten. Man schloß daraufhin die Strahlenapparate einfach in den öffentlichen Gebäuden an, weil Haploiden die Stadt übernommen hatten. Das gleiche System sollte in allen anderen Gemeinden des Landes angewandt werden. Union City diente nur als Modell.«
15 Der Lastwagen fuhr durch die langen Nebelstreifen, die langsam aus den tiefer gelegenen Landschaftsteilen aufstiegen. Der Osten hatte sich von schwarz in blau gefärbt, und jetzt erschien ein schwacher gelber Schein. Zweierlei machte ihnen Sorgen: Das Benzin war fast alle, und der sie verfolgende Personenwagen blieb in sicherer Entfernung zurück. »Ich glaube, wir schaffen es«, sagte Bill Skelley durch das offene Wagenfenster. »Biegen Sie hier ab und fahren Sie ungefähr siebenhundert Meter westwärts. Links liegt dann das Haus von Ernie Somers, kurz bevor Sie auf die feste Straße kommen.« Travis nahm das Gas weg, bog um die Ecke und widmete sich dem letzten Rennen. Er sah im Spiegel, daß der Wagen hinter ihnen gleichfalls um die Ecke kroch. Sein Wagen raste in den Pfad, der zu Somers Haus führte; es war ein zweistöckiges, weißes Gebäude, das weit von der Straße ablag. Travis lenkte das Fahrzeug genau vor die Hintertür, bevor er bremste. Sofort waren sie alle herausgesprungen, und Bill hämmerte an die Hintertür. Travis drehte sich um und sah, wie das Auto mit den Haploiden vor der Einfahrt stehenblieb.
Die Männer waren überrascht, daß auf ihr Klopfen so schnell reagiert wurde. Ein wenig zögernd öffnete Mrs. Somers die Tür. Bill schob sie ganz auf. »Wo ist Ernie?« verlangte er zu wissen. »Oben«, antwortete Mrs. Somers bestürzt. »Ich kann keine langen Erklärungen abgeben«, sagte Bill und betrat die Küche. »Es ist ein Notfall.« Innen drehte er sich um und bat die noch im Freien stehende Gruppe: »Kommt rein. Travis, erzählen Sie ihr, warum wir hier sind.« Bill verschwand, und dann hörte man ihn die Treppe hinaufpoltern. Travis beauftragte McNulty, den Wagen mit den Haploiden zu beobachten, während er und Dr. Leaf sich Mrs. Somers widmeten, die unsicher dastand und zusah, wie Fremde ihr Haus in Besitz nahmen. Aber es stellte sich heraus, daß Mrs. Somers bereits ein wenig Bescheid wußte. Und dann bemerkte Travis zum erstenmal, daß sie statt eines Nachthemds ein Hauskleid trug. Die Frau erklärte, daß Ernie seit Freitagabend am Funkgerät saß und es seither nicht mehr verlassen hatte. Sie war mit ihrem Mann wach geblieben. Er stand von seinem Funkraum im ersten Stock aus noch immer mit Amateurfunkern im ganzen Land in Verbindung. »Wir erhielten aus allen Teilen des Landes Berichte«, verriet sie. »Eine Art Interferenz liegt vor, und in
einigen Städten ist Tumult ausgebrochen. Zahlreiche Gerüchte über Union City sind im Umlauf. Einige behaupten, daß alle Männer in der Stadt –« »Draußen fährt ein zweiter Wagen vor«, rief McNulty vom Küchenfenster. Travis und einige andere eilten zu ihm. Sie sahen zu, wie Haploiden aus dem zweiten Wagen stiegen und ein drittes Fahrzeug in die Einfahrt bog. »Wir gehen besser hinauf«, schlug Travis vor. »Ein paar von euch bleiben hier unten und behalten die Haploiden im Auge.« »Wie haben Sie diese Frauen genannt?« wollte Mrs. Somers wissen, als Travis mit Betty und Dr. Leaf auf die Treppe zustrebte. »Haploiden, Mrs. Somers. Sie werden bald mehr darüber erfahren.« Sie fanden Bill Skelley im Gespräch mit einem übernächtigten Mann mittleren Alters, der sich eine Strähne des zerzausten roten Haares aus den Augen strich, während er vorgestellt wurde. »Er hat die ganze Nacht mit anderen Amateurfunkern gesprochen«, erklärte Bill. »Ich hab's gehört«, erwiderte Travis. »Gibt es in der Nähe einen Amateurfunker?« Ernie kratzte sich am Kopf. »Judd Taylor. Er wohnt mitten in der Stadt. Ich habe während der Nacht einige Male mit ihm gesprochen. Warum?«
»Hat Bill Ihnen etwas über die Haploiden berichtet?« »Oh, er versuchte mich zu überreden, einen Mobilmachungsaufruf auszuschicken«, antwortete Ernie und lächelte betreten. »Zum Teufel, das kann ich nicht. Ich würde meine Lizenz verlieren. Es muß schon eine Katastrophe vorliegen.« »Verdammt, Ernie«, explodierte Bill. »Ich habe versucht –« »Das hier«, unterbrach Travis ihn ernst, »ist schlimmer als eine Katastrophe. Dabei geht es um Leben oder Tod der männlichen Bevölkerung.« »Das begreife ich nicht.« »Hör mal, Ernie«, sagte Bill. »Wir sind doch alte Kumpel.« »Einen Augenblick, Bill«, unterbrach Travis ihn wieder. »Ernie, auf der Straße gleich vor dem Haus befinden sich jetzt ungefähr zwanzig Frauen, die uns lieber töten würden, als zuzulassen, daß unsere Botschaft über den Äther geht. Es sind Haploiden; haploide Frauen, die alle Männer auf der Erde zu vernichten suchen. Wir wurden von ihnen zum Tode verurteilt, und die Flucht gelang nur mit Hilfe von Betty Garner. Aber noch wichtiger als die Botschaft, die Bill jetzt gleich von Ihnen senden lassen will, ist eine Nachricht an Judd Taylor. Bitte, teilen Sie ihm mit, daß jeder
kampffähige Mann, den er zusammentrommeln kann, sobald wie möglich zu uns rausfährt. Sie sollen bewaffnet kommen. Wenn Sie nicht wollen, wird Bill den Aufruf durchgeben. Wir brauchen dringend Hilfe.« »Na schön«, gab Ernie noch immer ohne Überzeugung nach, »aber Judd wird es bestimmt für schrecklich komisch halten, wegen eines Kampfes gegen Frauen um Hilfe gebeten zu werden. Ich denke, er wird mir nicht glauben.« »Wenn er dir nicht glaubt, dann laß mich mit ihm reden«, schlug Bill vor. »Ich hab ihn meines Wissens mal kennengelernt.« »Sie sagen die volle Wahrheit, Mr. Somers«, bestätigte Betty. »Diese Frauen dort draußen würden vor nichts zurückschrecken.« »Weiß Gott, warum ich Amateurfunker geworden bin«, jammerte Ernie resigniert. »Ich hätte unten im Keller bei meiner bakteriologischen Ausrüstung bleiben sollen.« Er funkte. Zuerst weigerte sich Judd Taylor, Ernie Somers Glauben zu schenken, aber mit Hilfe von Travis, Betty Garner, Bill und Dr. Leaf konnte man ihn überzeugen. Dann war die Leitung tot. »Die Haploiden haben die Drähte durchgeschnitten«, rief McNulty von unten. Die Männer im Funkraum erreichten das Fenster im Gang gerade noch
rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Haploid von einem Starkstrommast herunterkletterte, von dem drei Stromleitungen zum Haus geführt hatten. Die Drähte lagen jetzt über dem Laster. »Da haben Sie Ihre Antwort«, sagte Travis zu Ernie. »Jetzt müssen Sie nur noch kommen und uns holen.« »Sie müssen die Antenne auf dem Dach gesehen haben«, meinte Bill. »Oder sie haben es vielleicht mit ihren Funkgeräten in den Autos aufgefangen. Auf jeden Fall haben sie uns jetzt in der Falle.« »O nein«, erklärte Ernie, kniff die blutunterlaufenen Augen zusammen und preßte störrisch die Lippen aufeinander. »Im Keller befindet sich ein tragbarer Generator, den der Funkerklub bei Sportfesten benützt. Aber bevor Bill und ich ihn holen, bleibt noch eine Kleinigkeit zu erledigen.« Er wandte sich an seine Frau: »Maybelle, bitte hol die Waffen. Sieht aus, als könnte es Ärger geben.« Mrs. Somers stieg in Begleitung ihres Mannes und Bill Skelleys mit blassem und verzerrtem Gesicht die Treppe hinunter. Während sich die beiden Männer mit dem Generator im Keller abmühten, förderte Mrs. Somers zwei 45er Automatiks zu Tage – Andenken an das Militär, wie sie erklärte –, drei Schrotflinten, ein Jagdgewehr und eine 22er. Alle, bis auf die Frauen, hatten nun eine Waffe. Travis stationierte im Wohnzimmer McNulty am
Südfenster, und Kleiburne an einem Ostfenster – beide mit Automatiks. Margano wurde am Nordfenster in der Küche mit dem Jagdgewehr postiert, und Stone mit einer Automatik am Westfenster im Salon. Auf die Schlafzimmer im ersten Stock verteilte Travis Bobby Covington mit einer Schrotflinte, und Dick Wetzel mit einer 22er – beide im gleichen Raum. In jedem der beiden anderen Schlafzimmer Powers und Peters mit Schrotflinten. Dann schickte Travis Betty und Mrs. Somers zurück in den ersten Stock – in den Senderaum zusammen mit Dr. Leaf. Er selbst trat mit der Automatik in der Hand an das Nordfenster zu Margano, um nachzusehen, was draußen los war. Jetzt standen auf der Straße sechs Autos der Haploiden. Die Frauen drängten sich um eines der Fahrzeuge und verhandelten offensichtlich. Plötzlich drehten sie sich um und blickten zum Haus. Dann sonderte sich ein Mädchen aus der Gruppe ab und ging in der hellen Morgensonne auf das Haus zu. »Nicht schießen«, gebot Travis laut genug, daß es jeder hören konnte. »Warten wir ab, was sie will.« Mitten auf dem Rasen blieb der Haploid stehen. Es war ein strammes Mädchen; eine Automatik im Halfter und die Arme über der Brust verschränkt, stand sie trotzig vor dem Haus.
»Eure Freunde sind alle tot«, schrie sie. »Kommt ihr nicht raus, greifen wir an. Wenn ihr euch ergebt, versprechen wir euch einen fairen Prozeß. Wenn nicht, müßt ihr die Konsequenzen tragen.« »Einen fairen Prozeß von Haploiden?« rief Margano. »Daß wir nicht lachen.« »Kommt ihr raus, ja oder nein?« fragte das Mädchen wütend. »Nicht nur ›nein‹, sondern ›dreimal nein‹«, schrie Margano zurück und drehte ihr eine lange Nase. Unter den Haploiden donnerte ein Gewehr los. Die Kugel traf das Fenster gleich neben Marganos Kopf; Holzsplitter prasselten zu Boden. Die Unterhändlerin drehte sich um und rannte zurück. Die Haploiden berieten sich wieder. Während Travis dann die Runde machte, die Munition überprüfte und die Türen verrammelte, ertönte von den Autos der Haploiden her ein Lautsprecher. »Gibson Travis«, rief die Stimme im Lautsprecher. »Hier spricht Dr. Garner. Das Mädchen hat Ihnen die Wahrheit gesagt. Sie würden einen fairen Prozeß erhalten. Tatsächlich will ich noch weiter gehen, obwohl ihr machtlos seid und dort drinnen nur verhungern könnt. Wenn ihr alle aus dem Haus kommt und euch ergebt, Betty eingeschlossen, sorge ich dafür, daß ihr ungehindert gehen könnt, wohin ihr wollt, und tun,
was euch beliebt. Ich mache nicht oft Versprechungen. Wenn ja, halte ich sie. Was meinen Sie dazu?« »Wo ist der Haken?« rief Travis. »He!« schrie Margano. »Sie wollen doch nicht darauf eingehen, oder?« »Verflucht, nein«, erwiderte Travis. »Ich schinde nur Zeit heraus.« Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Wie ich schon sagte, seid ihr frei. Ihr müßt euch nur einer Vasektomie unterziehen – einer einfachen, schmerzlosen Operation, die für eure Sterilität garantiert.« »Dann beabsichtigen Sie also, Ihr Programm fortzuführen«, mutmaßte Travis. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Aber ich weigere mich, darüber zu diskutieren. Ich mache euch allen ein Angebot. Wie lautet eure Antwort?« Margano legte das Jagdgewehr an; der Knall war ohrenbetäubend. Travis vermutete, daß er das Fenster eines Autos getroffen hatte. Aber die Folgen hätten gar nicht chaotischer sein können. Die Haploiden stürzten nach allen Seiten und gingen in Deckung. Bald hatte jede ein Versteck gefunden. Sie unternahmen nichts. Die helle Morgensonne beschien fröhlich das Gras, die Bäume, die Scheune und das Vieh, das in der Nähe auf einer Weide graste. Vögel zwitscherten in den Bäumen, ein Eichhörnchen
huschte am Boden entlang, und Bienen schwirrten geschäftig durch die Blumenbeete, die nicht weit von den Fenstern entfernt lagen. Die Minuten verstrichen, und die beiden Funker mühten sich unter der Last des tragbaren Generators ab; endlich hatten sie ihn in den Funkraum geschleppt. Travis machte einen weiteren Rundgang bei McNulty, Kleiburne und Stone im Erdgeschoß und beschloß diesen bei Margano am Nordfenster. »Sie wollen uns wahrscheinlich aushungern, wie sie es angekündigt haben«, meinte Margano. »Möglich«, erwiderte Travis. »Aber bis dahin haben wir die Botschaft durch den Äther gejagt. Dr. Leaf steht neben dem Funkgerät und sendet, sobald der Generator angeschlossen ist.« Das Geräusch des tragbaren Generators setzte dem Frieden ein Ende, wie es Travis befürchtet hatte. Beim ersten, sich warmlaufenden Tuckern des Benzinmotors tauchten hinter den Autos Köpfe auf. Plötzlich begann die Schießerei. In rascher Folge zersplitterten die Fenster an der Nordseite des Hauses, und die Scherben prasselten zu Boden. Als nächstes folgten die Spiegel, das Küchengeschirr, Glas und Schüsseln. »Sie müssen alle eine Waffe haben«, rief Travis, der am Boden kauerte. »Scheinbar mögen sie den Generator nicht«, be-
merkte Margano grinsend und zeigte einen Goldzahn, den Travis bisher noch nicht entdeckt hatte. Die Schüsse hörten auf. Travis riskierte einen Blick aus dem Fenster, sah neben einem der Autos etwas Weißes und legte darauf an. Eine Kugelsalve war die Antwort; alle Treffer peitschten rundum in das Fenster und ließen Holzsplitter auf seinen Kopf rieseln. Dann war es ruhig, und er hörte oben das leise Surren des Generators. »He, Travis!« Die Stimme kam oben vom Treppenabsatz. Sie gehörte Gus Powers. »Ich glaube, sie umzingeln das Haus.« »In Ordnung«, antwortete Travis. »Gehen Sie auf Ihren Posten zurück und sparen Sie Ihre Munition, bis sie dicht genug heran sind.« »Also greifen sie uns an«, sagte Margano. »Sieht so aus.« Travis untersuchte seine Automatik und vergewisserte sich, daß sie schußbereit war. Eine Autohupe erklang von der Straße herüber. Sofort drangen durch das ganze Haus Schreie: »Sie kommen!« Travis sah mit Margano aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Haploiden von allen Seiten an das Haus heranarbeiteten. Sie liefen nicht. Sie sprangen nur aus einer Deckung zur anderen. Aber sie kamen ohne Zögern vorwärts. Von beiden Seiten wurde nicht geschossen. Abermals ertönte die Autohupe, und die Haploi-
den verließen die Deckung und rannten auf das Haus zu. Jetzt kam aus dem Haus ein Stakkato an Schüssen, und viele Mädchen fielen, aber es blieben genug Haploiden übrig, um den immer enger werdenden Kreis lückenlos zu schließen. Sie stürmten voran, schrien mit wütenden Stimmen und hielten die Gewehre in die Luft; die Gesichter waren grimmig, ihre Augen glänzten vor Tatendurst. Der Morgen war kalt, aber auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, während Travis zielte, feuerte und einen Haploid nach dem anderen zu Boden fallen sah. Marganos Gesicht war starr, während er aus dem Gewehr einen Schuß nach dem anderen abgab. Dann erreichten die Haploiden das Haus. Dem ersten Mädchen, das durch das Fenster klettern wollte, schlug Travis den Pistolenknauf auf den Kopf, und stieß den bewußtlosen Körper wieder ins Freie. Aber dann stürmte eine zweite hindurch, ohne darauf zu achten, daß sie sich an den ausgezackten Rändern der zerbrochenen Fensterscheibe die Haut aufriß. Margano packte sie. Eine dritte folgte. Travis schlug zu und verfehlte sein Ziel. Das Mädchen stand auf, zielte und fiel schwer zu Boden, als Travis mit einer Flugrolle angriff. Sie kämpften miteinander; das Mädchen fluchte heiser, beide rangen um einen Vorteil. Travis stemm-
te sich hoch, bekam die Hand mit der 45er frei und schlug zu. Das Mädchen machte schlapp. Er rappelte sich auf und lief zu Kleiburne, der sich, wie er durch die Wohnzimmertür sah, von einem Haploid befreite. Eine zweite kam hinter ihm durchs Fenster und feuerte auf Kleiburne, bevor Travis eingreifen konnte. Plötzlich fiel die Frau, die Kleiburne erschossen hatte, als McNulty, den Travis tot am Boden glaubte, sie mit einer Kugel durchbohrte. Sofort antwortete hinter Kleiburne am Fenster ein Knall, und McNulty brach zusammen; sein Kopf landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Teppich. Die Haploiden drangen jetzt so schnell ein, daß Travis und Margano, der seine Gegnerin überwältigt hatte, durch die Küche in den Salon und zur Treppe hetzten. Sie fanden Stone von der Treppe aus schießen, als ein Gesicht am Westfenster auftauchte. »Zu viele!« rief Travis Stone zu, während er und Margano vorbeirannten. »Gehen wir hinauf.« Alle drei eilten schießend rückwärts die Treppe hinauf; sonderbarerweise jagte Travis dabei der Gedanke durch den Kopf, daß die Stufen knarrten. Sie waren fast oben, als am Fuß der Treppe ein Haploid auftauchte, trotz der auf sie gerichteten Gewehre mit überraschender Kaltblütigkeit zielte und Stone einen Kopfschuß verpaßte.
Stone keuchte, stürzte und kollerte langsam die Treppe hinunter. Das von einem halben Dutzend Kugeln durchlöcherte Mädchen sank verblüfft in die Knie, als wolle sie Stones Körper auffangen. Sie fiel nach vorn, und ihr Kopf schlug auf die Treppe, während die schlaffe Männerleiche über sie hinwegrollte und hinter ihr liegen blieb. »Sie werden uns bald erledigt haben«, keuchte Margano verzweifelt, als sie oben ankamen. »Wir können die Treppe von den Schlafzimmern aus bewachen«, erklärte Travis. »Kleiburne hier drinnen mit Powers, Margano dort drüben mit Peters. Ich gehe zu den Kindern.« Von ihren günstigen Positionen im Türrahmen der Schlafzimmer sahen alle drei Gruppen die Treppe. Der beißende Geruch nach Pulverrauch stieg vom Erdgeschoß nach oben. Unten entstand Bewegung – ein Rascheln von Mäusen. Es gab noch ein Geräusch: das leise Summen des Generators aus dem Funkraum. Aber niemand kam die Treppe herauf. »Ein Wagen fährt vor«, schrie Bobby Covington vom Fenster des Schlafzimmers, in dem Travis stand. »Noch mehr Haploiden«, murmelte dieser. »Sie wollen ganz sicher gehen.« »Nein – es sind Männer!« »Männer!« Travis wollte zum Fenster springen, be-
sann sich jedoch eines Besseren. »Bist du sicher, daß es keine Haploiden sind, Junge?« »Sie sind vollkommen arglos«, berichtete Dick Wetzel, der zweite Junge am Fenster, besorgt. »Sie stehen bloß neben ihren Autos auf der Straße und blicken in unsere Richtung.« »Jetzt klettern sie über den Zaun«, rief Bobby aufgeregt. »Schrei ihnen zu, daß sie acht geben sollen«, befahl Travis. Das war unnötig. Aus dem Erdgeschoß wurden Schüsse abgegeben. Ein Schrei unter den Männern antwortete. Travis verließ seinen Posten und sah gerade noch, wie sich die Männer zerstreuten. Die Schüsse und Schreie lockten die anderen, die im ersten Stock stationiert waren, in Travis Zimmer, da kein anderes Fenster nach Westen ging. »Gerettet!« stöhnte Margano matt. »Judd Taylors Männer«, kommentierte Travis dankbar. »Ich hätte nicht gedacht, daß er uns glauben würde. Hoffentlich sind sie bewaffnet.« Wie zur Antwort, begannen die Männer zwischen Haus und Zaun, hinter Büschen und Bäumen hervor auf das Haus zu feuern. Die Männer an den Fenstern duckten sich. Gegenfeuer kam von unten. »Gehen wir hinunter«, schlug Travis vor und stand auf. »Wir können die Haploiden in die Zange nehmen.«
Die Gruppe drehte sich um und wollte Travis folgen. Hinter ihm entstand ein Stau, als er plötzlich halt machte. Dr. Garner stand mit einer Automatik in der Rechten im Türrahmen. Die Augen funkelten wütend, ihr Gesicht war gerötet, das widerspenstige Haar hing ihr wirr um den Kopf. Sie atmete schwer. »Laßt sie fallen!« Und als die Männer der Aufforderung nicht sofort nachkamen, wiederholte sie: »Laßt die Waffen fallen. Schnell!« Die Waffen klapperten zu Boden. »Stoßt sie zur Nordwand hinüber. Jetzt geht an mir vorbei durch die Tür. Nicht lange gefackelt. Los!« Die Gruppe, die keine andere Wahl hatte, schlich benommen an der Frau vorbei. »In den Funkraum. Schnell.« Im Funkraum hob man den Kopf, als Travis gefolgt von den anderen eintrat. »Ist alles vorbei?« fragte Betty und rannte auf ihn zu. Dann blieb sie abrupt stehen, als sie seinen Gesichtsausdruck und die anderen sah. Sie stolperte sofort zurück; als sie Dr. Garner entdeckte, rannte sie zur Tür. »Zurück, Betty«, stieß Dr. Garner zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Unten haben wir den Kampf verloren. Ich beabsichtige nicht, hier auch zu verlieren. Geh mir aus dem Weg!« Sie trat einen Schritt vor.
»Du bist verrückt, Mutter!« schrie Betty. »Was für einen Sinn hätte es, uns jetzt noch alle zu töten?« »Du bist genau wie dein Vater –« »Du meinst Dr. Tisdial –« »Dein Vater. Ein Haploid wäre treu geblieben. Aber du bist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie dein Vater.« Bettys Finger klammerten sich an den Türrahmen; ihre Knöchel traten weiß hervor, ihre erstaunten Augen starrten auf die Mutter. »Wirst du jetzt wohl aus dem Weg gehen?« Die Worte enthielten kalte Endgültigkeit. Noch immer rührte sich Betty nicht. Dr. Garner hielt die Pistole ein wenig höher, während sich ihr Zeigefinger um den Abzug krümmte. Travis hielt die Luft an und biß die Zähne zusammen, während sich eine Sekunde zur Ewigkeit dehnte. Selbst die Schüsse, die unten vor wenigen Augenblikken so häufig zu hören waren, ertönten in immer größeren Abständen und schienen jetzt – in diesem entscheidenden Moment – ganz aufgehört zu haben. Die plötzlich folgenden, dumpfen Schläge waren keine Schüsse. Es waren Schritte – Schritte von Männern auf der Treppe. Dr. Garners Augen wurden größer. Sie wandte leicht den Kopf; ihre Augen wanderten zur Treppe und füllten sich im Bruchteil einer Sekunde mit Haß.
Sie schwenkte die Pistole herum, die 38er donnerte los. Die Antwortsalve brachte sie ins Wanken; ihre Wangen fielen ein, ihre 38er feuerte ziellos. Dann hörte sie ganz auf. Erst wütend, dann erstaunt brach Dr. Garner mit leerem Blick und schlaffem Mund zusammen. Travis nahm Betty bei den Schultern, drehte sie um und preßte das zitternde Mädchen an sich. Dr. Leaf hob den Kopf von Ernie Somers Mikroskop; das alte gequälte Lächeln lag wieder auf seinem Gesicht; die Augen funkelten. »Ich sehe achtundvierzig Chromosomen«, erklärte er. »Wollen Sie sich überzeugen?« Travis lächelte verschmitzt. »Ich glaube Ihnen.« »O Liebling«, rief Betty, während sie sich Travis zuwandte und seinen Kopf an sich zog. Er küßte sie liebevoll. Dr. Leaf schob das Mikroskop auf den Tisch zurück. »Unsere Arbeit beginnt in Wirklichkeit erst«, meinte er. »Wenn Sie sich lange genug losreißen können, Travis, erstatte ich Ihnen Bericht.« Travis und Betty setzten sich an den Tisch. Im ganzen Haus herrschte Betriebsamkeit, da man mit den Aufräumungsarbeiten begonnen hatte. Judd Taylors
Männer halfen als gute Nachbarn, das belagerte Haus wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. »Wir haben zur Mobilmachung aufgerufen«, erklärte Dr. Leaf. »Der FCC fing den Spruch auf. Ein Ort namens Grand Island, glaube ich. Ernie weiß Bescheid. Nun, wie dem auch sei«, fuhr er fort, zündete die Pfeife an und zog genüßlich daran, »man nahm Verbindung mit Washington auf, bloß daß es gar nicht Washington war. Dort wurden Strahlungen gesendet, und der Präsident sowie alle bedeutenden Persönlichkeiten fuhren den Potomac – glaube ich – hinunter. Alle Männer werden in den Vereinigten Staaten einer Blutprobe unterzogen und die AB-Männer einberufen, um die Haploiden zu bekämpfen. Jede Frau muß sich melden und eine Gewebeprobe entnehmen und diese untersuchen lassen. Die Haploiden treibt man zusammen; was man allerdings mit ihnen dann macht, weiß ich nicht. Darüber wurde noch nicht entschieden. Die AB-Männer dringen jedoch in regelrechten Militäreinheiten in die Städte ein, besetzen diese und errichten Meldestellen. Wehe der Frau, die keine Registrierkarte besitzt!« »Und noch eine Kleinigkeit«, redete der Arzt weiter, machte sich mit Papieren auf dem Tisch zu schaffen und zog dabei an seiner Pfeife. »Ernie hat das während des Empfangs abgetippt. Wortfolgen für Offizierspatente.«
»Offizierspatente für was?« fragte Travis. »Mein Junge«, begann Dr. Leaf kichernd. »Sie werden in der Armee aus AB-Männern zum Brigadegeneral.« »General!« »Ja. Jetzt heben Sie die rechte Hand und sprechen Sie mir nach – und dann können Sie für mich das gleiche tun. Ich bin gleichfalls Brigadegeneral, wissen Sie.« »Aber –« »Es bleibt keine Zeit zu verlieren.« Der Arzt schaute auf seine Uhr. »Nach unserem Funkgespräch ist das Militärflugzeug in zwanzig Minuten hier.« »Travis!« flehte Betty jämmerlich. »Du wirst mich doch jetzt nicht verlassen!« »Miss Garner«, lächelte der Arzt, »in Bezug auf die Ehefrauen gibt es keine Bestimmungen, was die Generäle betrifft. Ich bin sicher, daß Sie ihn begleiten können. Das heißt: falls er Sie will.« »Falls er mich will!« Travis strahlte. »Ich glaube, jetzt besteht kein Zweifel mehr, wie ich mein Jahr verbringe.« »Mach lieber Jahre daraus, Liebling.«