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Die Kampfansage der Phantasie an die schnöde Wirklichkeit ! In der Halle der Schläfer ruhen sieben Personen
und...
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Die Kampfansage der Phantasie an die schnöde Wirklichkeit ! In der Halle der Schläfer ruhen sieben Personen
und erschaffen mit ihrem Traumbewusstsein
die Realität.
Doch der Schein der friedlichen Idylle trügt:
Wissenschaftler wollen das geheimnis des
Phänomens lüften und bringen einen
gigantischen Wecker in Anschlag.
Sollten die Schläfer erwachen, würde sich das
Traumland in nichts auflösen...
Ein wunderbarer Roman ! "Alice im Wunderland geht mit Gulliver auf Reisen und landet auf der Scheibenwelt ...“ Locus
Die Halle der Schläfer ist eine bizarrvergnügliche Reise durch eine fantastische Welt, eine Mischung aus den Xanth-Romanen von Piers Anthony und der Unendlichen Geschichte.
Scan, Korrektur, Layout by Larentia Februar 2003 Diese digitale Kopie ist NICHT für den Verkauf bestimmt !
JODY LYNN NYE
DIE HALLE DER SCHLÄFER
Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/9061 Titel der Originalausgabe WAKING IN DREAMLAND
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Pente Das Umschlagbild malte Jody A. Lee/Agentur Schluck Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. 2. Auflage Deutsche Erstausgabe 3/2001 Redaktion: Joern Rauser Copyright © 1998 by Jody Lynn Nye Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, Garbsen Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München, http://www.heyne.de Printed in Germany 2001 Umschlagbild: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-17878-5
1. KAPITEL Roan flog hoch über das Traumland hinweg, die Arme in den Winden ausgebreitet. Er genoss das Gefühl der kühlen Luft, die ihm über das Gesicht strich und seinen langen Körper umhüllte wie ein sanftes Daunenkissen. Roan schwelgte im Hochgefühl des Höhenflugs. Tausende von Fuß unter ihm lag die Landschaft zu einem prachtvollen Panorama ausgebreitet. Hinunterschauen zu können auf die sanft gewellten grünen Weiten, verlieh ihm das Gefühl, ein Engel zu sein - oder ein Halbgott. Er atmete in der klaren Luft, leicht wie das Licht, berauschend wie Mondenschein. Streifen graubraunen Waldes machten dem frischen, zartblassen Gold von Getreidefeldern Platz. Roan fühlte, dass die Kälte ihn wie eine Feder kitzelte, als er über das Kataleptengebirge hinwegflog, das zweithöchste Massiv im Traumland - nach den großen Mysterien, die den Kontinent ringförmig umschlossen. Die Katalepten waren dreifarbig: unter den weißen Schneekoppen kam das Braungelb der Hänge, das nach unten hin immer heller wurde und sich schließlich in ein sattes, leuchtendes Grün verwandelte, das sich bis zu ihrem Fuße hinunterzog und schließlich in die windgeschützte Ebene der zentralen Provinz Celestia überging, in der die Hauptstadt Mnemosyne lag. Die Katalepten teilten sich, um dem Lullayflusse Passage zu gewähren, dem gebieterischen Strom, der sich weigerte, Hemmnisse in seinem Lauf zu dulden. Beide Seiten des breiten, geraden silbernen Bandes waren dicht gesäumt von Dörfern, die aus der Höhe anmuteten wie der funkelnde Juwelenbesatz auf einem Silberreif. Fünfzehnhundert Meilen südlich von Roan befand sich die Grenze der nächstgelegenen Provinz, Somnus. Nachdem er diesen Weg auf der Hinreise zu Fuß zurückgelegt hatte - und nicht nur auf dieser, sondern auf vielen Hin- und
Rückreisen quer durch das Traumland im Auftrage des Königs, genoss er es in vollen Zügen, dass er nun so leicht wie ein Vogel darüber hinwegfliegen konnte. Roan machte einen Schwenk und folgte dem Lullay. Er jauchzte vor Freude, als er den geschwungenen Haarstrich-Fuß des S in Celestia wiedersah, seiner Heimatprovinz. Er war wieder im Zentrum der Welt. Er war fast zu Hause. Der Lullay bildete einen Teil der Grenze zwischen Celestia und den Provinzen, die es umgaben. Der große Strom wand sich von seiner Quelle in der Gebirgskette an der nördlichen Grenze des Traumlandes aus spiralförmig herein und vollführte eineinhalb Kehren, bis er sich eng um Celestia wand, die Zentralprovinz und Kapitale, die er auf einem geraden Pfad von Süden her gewann. In der Ferne deutete der Fluss auf einen hellen Fleck genau in der Mitte des Traumlandes, der wie ein Diamant glänzte und funkelte. Es war der Nachtlilien-See, der gleich nördlich des Schlosses der Träume lag. Auf beiden Seiten des Lullays, hier und an der Grenze nach Somnus, überspannten zahllose Brücken aller Art die tiefe Schlucht. Sie wurden täglich von Reisenden benutzt, waren aber hauptsächlich als Fluchtweg von Provinz zu Provinz für den Fall einer Naturkatastrophe oder eines Umbruches gebaut worden. Ähnliche Brücken überspannten auch die tiefen Abgründe, die die Grenzen zwischen jeder der anderen Provinzen im Traumland markierten, wo jedes der sieben einzelnen Königreiche von einem anderen Schläfer geträumt wurde. Das große Kollektive Unbewusste verband sie - wie die Eisenbahnbrücken - alle miteinander. Von all den Schöpferischen, deren Einflüsse im Traumland spürbar waren, waren die sieben Schläfer die wichtigsten. Roan hatte im Geschichtsunterricht in der Schule gut aufgepasst. Die Träume der Schläfer bildeten die Grundlage der sieben Provinzen des Traumlandes, in denen alle anderen träumenden Geister zusammenkamen. Keiner kannte die Namen der
Sieben. Alles, was über die physische Welt, in der Sie ihr Wachleben führten, gesammelt und in Erfahrung gebracht werden konnte, geschah durch die Bilder und Gegenstände, die im Traumland widergespiegelt und zur Erscheinung gebracht wurden, und auch die waren gefärbt von der unterschiedlichen Wahrnehmung eines jeden Schläfers. Über die Jahrhunderte hinweg hatten traumländische Philosophen und Akademiker darüber spekuliert, was real war und was Halluzination, Fantasie oder Hoffnung. Es galt allgemein als gesicherte Erkenntnis, dass alles, was in allen sieben Provinzen erschien, wahrscheinlich in der Wachwelt existierte. Fahrräder, Pferde und Züge waren real. Kleider und Schuhe und Häuser waren Tatsachen. Fernsehen schien zu unwahrscheinlich, um real zu sein, obwohl Roan von Tag zu Tag mehr Antennen aus den Dächern sprießen sah. Wie alle anderen Innovationen in der Wachwelt wurden derlei Dinge nur dann im Traumland zu etwas Alltäglichem, wenn sie dem Kollektiven Unbewussten geläufig waren. Die großen Sieben waren im Verlaufe der Geschichte nicht dieselben geblieben, so viel wusste er. In regelmäßigen Abständen kam es zu einer gewaltigen Umwälzung, dem so genannten Umbruch, der den Abgang eines der Schläfer und die Ankunft eines anderen, der seinen Platz einnehmen würde, ankündigte. Roan wusste nicht, ob diese Umbrüche geschahen, weil die Schläfer starben, oder ob sie aufwachten, oder ob sie fanden, dass es Zeit war, einen anderen Einfluss das Traumland gestalten zu lassen. Selbst die königlichen Ministerien für Geschichte und Kontinuität hatten sich dazu noch keine endgültige Meinung gebildet. In der Vergangenheit, wusste Roan, hatte es Provinzen gegeben, die, verglich man sie mit anderen, verzerrt erschienen. Die gegenwärtigen Sieben waren von solchem Geist, dass ihre Träume von Schönheit und Ebenmaß erfüllt waren. Eine Windbö schlug ihm ins Gesicht, und sein Magen schoss
ihm in den Hals, als das Windkissen, das ihn trug, sich unter ihm teilte und ihn wie einen Stein gen Erdboden fallen ließ. Roan ruderte mit den Armen, verzweifelt nach einem Halt suchend. Er fuhr Speichen seines eigenen Einflusses in den Luftstoff aus, um seinen Fall abzufangen, und nach einem kurzen, atemlosen Moment konnte er seinen Flug wieder stabilisieren. Flach lag er auf dem Kissen aus Luft, schwer atmend. Er war bloß ein paar hundert Fuß tief gefallen. Wie lange dieser wunderbare Flug dauern würde, wusste er nicht, aber er hoffte, er würde den größten Teil des Weges bis zur Hauptstadt zurückgelegt haben, bevor er landete. Flugträume waren ein seltener Genuss, aber sie waren so riskant und unsicher. Er schaute nach unten, entschlossen, dieses seltene Abenteuer zu genießen, solange es irgend ging, und die Orientierung zu behalten, sollte er gezwungen sein zu landen. Die weiten grünen Ebenen Celestias teilten sich unter ihm zu Wäldern und Feldern, Hügeln und Marschen, Städten und Seen. Ein Netz von engen weißen Straßen lag wie eingeätzt auf dem Terrain, sich liebevoll um die Füße der Hügel schlängelnd, um dann seine weiten Maschen über sanft gewellte grüne Wiesen zu werfen. Die silbern glänzenden Zwillingsbänder der Eisenbahnschienen folgten der Krümmung des Landes in einem Abstand zu den Straßen, der etwa dreißig Schritte betrug. Roan schätzte, dass er nicht weit von Nod entfernt war, einer Kleinstadt südlich von Mnemosyne. Er breitete die Arme auf dem Windpolster aus und flehte die Schläfer an, der Einfluss möge ihn den ganzen Weg bis nach Hause tragen. Endlich, endlich konnte er die hohen weißen Türme des Traumschlosses ausmachen, Symbol des Kollektiven Unbewussten aller Wesen. Der Palast glänzte in der Sonne über dem weit ausgedehnten, geschäftigen Farbenmosaik, das Mnemosyne hieß. Roan empfand ein Gefühl heißer Zuneigung für seine Stadt. Er liebte es, die Wildnis des Traumlandes zu
erkunden, aber er war immer wieder froh, wenn er nach Hause zurückkam, in das brodelnde Getriebe von einer Million Menschen, die Seite an Seite lebten. Er hatte gute Nachrichten für den König. Er musste nur noch den Albtraumwald überqueren, dann war er daheim und konnte sie überbringen. Roan fühlte das wohlvertraute Unbehagen, als das Grün sich unter ihm langsam in ein kränkliches Grau verwandelte. Als er die verkümmerten, verkrüppelten Bäume überflog, schauderte er innerlich ein wenig, als könne der fast greifbare Ansteckungsstoff der Dunkelheit, den der Wald absonderte, bis zu ihm heraufreichen. Seit seiner Kindheit hatte er Angst vor dem Albtraumwald. Dieser war ebenso sehr ein Geisteszustand wie eine physische Wesenheit. Ein Schläfer schuf zwar die grundlegende Struktur einer Provinz, aber das Land wurde durch und durch beeinflusst von den Träumen zahlloser anderer Geister aus der Wachwelt, als fügten sie diesem riesigen Wandbehang ihre Stickereien hinzu. Die geringeren Schläfer schufen Menschen, Tiere und Dinge, die im Kollektiven Unbewussten miteinander zusammenwirkten. Ihre Ängste schienen sich an grauen Orten wie diesem zu versammeln und ihn mit Furcht selbst für die eigentlichen Bewohner des Traumlandes zu erfüllen. Als Kinder hatten Roan und seine Freunde sich einander als Mutprobe aufgegeben, den Albtraumwald zu betreten und sich seinen schattenhaften Drohungen zu stellen. Er erinnerte sich an eine Neumondnacht, in der er und zwei gleichermaßen kleine Freunde sich bangen Herzens hineingewagt hatten - und wie schnell sie wieder herausgerannt gekommen waren, mit den heulenden Ängsten von Millionen geplagter Geister auf den Fersen. Roan hatte sich dabei nicht umgedreht. Schon die pure Vorstellung, verfolgt zu werden, hatte genügt, um ihm eine Scheißangst einzujagen. Jetzt, aus luftiger Höhe, erschien ihm der Albtraumwald immer noch genauso riesig und furchterregend wie damals. Fast schien es ihm sogar, als sei er
noch größer, noch bedrohlicher. Welch gütige Wirkkraft es auch immer sein mochte, die ihn jetzt durch den Äther trug, Roan beeinflusste sie mit all seiner Willenskraft, ihn schleunigst über den Albtraumwald hinweg und von ihm fort zu tragen. Er wollte keinem der Albträume seiner Kindheit wiederbegegnen. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, reckte sich eine krallenbewehrte Skeletthand aus schmutziggrünem Nebel aus dem tausend Fuß unter ihm liegenden Wald empor und wuchs ihm entgegen. Mit wild klopfendem Herzen wälzte sich Roan auf seinem Luftkissen auf die Seite, weg von den gierig ausgestreckten Knochenfingern. Wer weiß, welches Unheil sie anrichten konnten, wenn sie ihn berührten? Die wirbelnde Nebelfahne schoss hoch wie eine Fontäne und verfehlte ihn um eine Handbreite. Mit einem Zischen schloss sich die leere Klaue um sich selbst, verlor ihre Gestalt und löste sich in Fetzen hässlichen graugrünen Dampfes auf. Roan ließ die Luft entweichen, die er angehalten hatte, und flog geradewegs in einen Einfluss der Luft vor ihm, den zu erspüren er versäumt hatte. Unversehens fand er sich inmitten eines Schwarms schnatternder Sorgenvögel wieder. Ihre schrillen Schreie drangen ihm in die Ohren, die Zweifel, die er ohnehin schon an seiner nebulösen Fortbewegungsmethode hatte, noch verstärkend. »Oh, ist es nicht hoch hier oben?«, klagten die plumpen grauen Vögel. »Wir kommen zu spät!« »Es wird gleich anfangen zu regnen, das weiß ich einfach!« »Ich frage mich, ob wir genug Luft kriegen.« »Die Luft ist ohnehin so verschmutzt, sie wird uns ganz bestimmt umbringen.« »Das Wasser ist voller Keime.« »Oh! Schaut mal da!«
Dieser letzte, von hinten kommende Ruf erschreckte Roan so sehr, dass er die Konzentration verlor. Die unsichtbare Plattform aus Luft, die ihn sicher über tausend Meilen getragen hatte, gab plötzlich unter ihm nach. Roan hangelte nach irgendeinem festen Halt, doch seine Hände schlossen sich um Leere. Die Sorgenvögel zerstreuten sich; sie wichen ihm aus, als er aus ihrer Mitte fiel. Bloß nicht in Panik geraten! befahl er sich, während der Wind an ihm vorbeirauschte. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er hatte Mühe zu schlucken, als der Wind ihm den Atem raubte. Denk nach! Sein Zylinderhut flog davon und seine seidene Krawatte legte sich flatternd über seinen Mund und seine Nase. Er schob sie mit der Hand beiseite. Er zwang sich dazu, sich zu konzentrieren, aber das war schwierig angesichts des Bodens, der mit beängstigender Geschwindigkeit auf ihn zugerast kam. Leichter als Luft, dachte er verzweifelt und sog gierig Sauerstoff in sich hinein. Ich bin leichter als Luft. Er streckte sich, breitete die Arme aus, parallel zur Landschaft und versuchte wieder an Höhe zu gewinnen. Roan verfügte über einen beträchtlichen natürlichen eigenen Einfluss, und er setzte alles ein, was er besaß, um sein Leben zu retten. Es nützte nichts. Die lokale Einflusswolke hinderte ihn daran, wieder zu steigen, und der Schläfer, der ihn träumte, musste in die andere Richtung blicken. Wenn er aus einer solchen Höhe auf den Boden aufschlug, würde der Fall tödlich ausgehen. »Wach auf!«, schrie er über den pfeifenden Wind, ein Stoßgebet aussendend, dass irgendein Schläfer ihn hören möge. »Wach auf! Ich falle!« Er sauste abwärts durch den klaren blauen Himmel, wie ein Blatt durch die Luft wirbelnd und sich überschlagend. Das muss sich doch abwenden lassen, dachte Roan und biss die Zähne gegen die in ihm aufsteigende Übelkeit zusammen. Lass
dir was einfallen! Die Schläfer halfen dem, der sich selbst half. Er versuchte, einen Fallschirm zu erschaffen, indem er sich den weißen Baldachin über seinem Kopf vorstellte, aber keine tröstenden Gurte erschienen um seinen Brustkorb, um seinen flatternden Mantel an seinem Körper festzuhalten. Denk nach! Rettung durch irgendeine Art wohltätiger geflügelter Kreaturen? Engel, gefiederte Schlangen, Greife, vielleicht sogar Harpyien! Doch kein geflügeltes Wesen tauchte am Firmament auf. Selbst die Sorgenvögel waren in die nächste Provinz geflüchtet, als er vor Schreck aufgeschrien hatte. Himmelshaken? dachte er, jetzt von Verzweiflung gepackt. Er zog an nahen Einflüssen und fühlte, dass sie wie Stahlbänder widerstanden. Die spielzeugähnlichen Gebäude des Schlosses und der Stadt drumherum wurden immer größer. Konnte irgend jemand dort ihn sehen? Aber niemand war nahe genug, um ihn retten zu können. Er würde zerplatzen und sich über die ganze Landschaft verteilen. Er hatte jetzt nur noch wenige Ellen zu fallen. Er konnte nicht auf Rettung hoffen. Selbst die Luft fühlte sich so nah über dem Erdboden anders an: schwerer, mit einem Geruch von Stein und Erde behaftet. Roan konzentrierte sich auf diese Wahrnehmungen, versuchte sogar, sie zu genießen. Es würden die letzten sein, die er je haben würde. Plötzlich spürte er, wie der Widerstand nachgab und die Einflüsse um ihn herum in einer fast mit den Händen zu greifenden Wahrnehmung auf ihn einstürmten. Staunend schaute er zu, wie zwei riesige, unstoffliche Hände aus hellgrauem Rauch erwuchsen und sich zu einer Schale unter ihm formten. Weniger als zehn Ellen über dem Erdboden purzelte Roan in die riesigen, schwammigen Hände und wurde sanft abgebremst. Er schluckte, um die Ohren vom Druck zu befreien, und ließ sich japsend auf den Rücken sinken, auf die kissenartige Nebelmasse starrend, während die Hände ihn vorsichtig zu Boden senkten. Dies war mehr als ein glücklicher
Umstand. Es sprach für ein Eingreifen seitens eines der großen Schläfer selbst. Er sollte wohl doch noch nicht sterben. Er atmete keuchend, das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Als er landete, stellten ihn die Hände aufrecht auf die Füße, tätschelten ihm den Kopf und strichen behutsam mit den Fingerspitzen seine Kleider glatt. Eine Hand hob vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger seinen Zylinderhut auf und hielt ihn ihm hin. »Danke«, sagte Roan aufrichtig, während die Wolken ihn dergestalt bedienten. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn hören oder verstehen konnten. »Dank den Schläfern.« Eine Hand formte Daumen und Zeigefinger zu einem >Okay<-Zeichen und die andere zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger. Anstatt nach der Fingerspitze mehrere Fuß über seinem Kopf zu springen, machte Roan eine tiefe Verbeugung. Beide Hände verschwanden. In den kommenden Jahren würde Roan nie entscheiden können, ob der Schläfer sich seiner erbarmt hatte oder ob er, Roan, sich durch einen verzweifelten Willensakt selbst gerettet hatte. Seine ersten Schritte zum Schloss waren noch etwas wacklig, aber er fand seine gewohnte Munterkeit rasch wieder. Die Maienluft war frisch und voller Blütenduft. Er war in der Mitte einer grünen Wiese gelandet, die von einem weißen Zaun umfriedet war. Eine Herde seltsam aussehender schwarz und weiß gescheckter Kühe glotzte ihn teilnahmslos an, während sie ihr Futter wiederkäute. Er hielt nach einem Tor Ausschau, aber es gab keines. Nun, welches Hindernis stellte ein bloßer Zaun dar, nach der Höhe, aus der er gerade gefallen war? Roan schwang sich über die weißgestrichenen Latten und strebte flotten Schrittes zum Schlosse. Unter der warmen Frühlingssonne sammelte sich Schatten rings um den Fuß der steinernen Ringmauer, die das Schloss der Träume umgab. Roan schätzte, dass es ungefähr Mittag
war. Gleich hinter dem Graben, zwischen den zwei schmalen, zinnenbewehrten Türmen des Torhauses, befand sich der hohe, bogenförmig überwölbte Eingang. Als Roan näherkam, konnte er die Wachen sehen, die zu beiden Seiten des Tores standen, mit ihren grimmigen, zahnbewehrten, grün geschuppten Gesichtern, die aus ihren elastischen Brunnen hervorlugten. Es waren Krokodile. Sie sahen teilnahmslos zu, wie Roan über die Zugbrücke schritt, bis er auf Speerlänge herangekommen war. Das erste Krokodil senkte seine Hellebarde, bis die Spitze die Mitte von Roans Brust berührte. Der andere Wachtposten stand steif aufgerichtet neben dem eisernen Fallgatter. »Bleiben Sie stehen und lassen Sie sich identifizieren!«, knurrte der erste Wachtposten. »Das stellt keine Schwierigkeit dar«, sagte Roan. Er hob die Arme, bis seine Hände auf gleicher Höhe mit den Schultern waren. Er wusste, was die Wachtposten sahen. Vor ihnen stand ein großgewachsener, schlanker Mann mit gewelltem dunklem Haupthaar. Seine tiefgrauen Augen hatten einen unbeschwerten Ausdruck, und wenn er lächelte, zogen sich zwei Linien von den Ecken seiner schmalen Nase vorbei an den Winkeln seines wohlgeformten Mundes bis hinunter zu seinem markanten Kinn. »Sie kennen mich, meine Herren«, sagte er. »Ich bin Roan.« Die Schuppen auf den Gesichtern der Krokodile verschwanden und machten menschlicheren Zügen Platz. »Natürlich wissen wir, dass Sie es sind, Mr. Roan«, sagte der erste Wachtposten und senkte seine Hellebarde, bis das Ende des Stiels auf dem Boden ruhte. »Aber Sie wissen ja, wir müssen fragen. Es ist unsere Pflicht. Sie ... Sie haben sich überhaupt nicht verändert, seit wir Sie das letzte Mal sahen, Sir.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Nein«, sagte Roan freundlich. »Ich habe mich nicht verändert. Ich verändere mich nie.«
»Sind Sie wohlauf, Sir?«, fragte der zweite Wachtposten mit besorgt gerunzelter Stirn. »Das war ja ein ziemlicher Sturz!« »Danke, ich bin okay«, antwortete Roan und schüttelte sich kurz. »Ich hasse Fallträume.« »Genau wie wir, Sir«, pflichtete der zweite Wachtposten ihm bei. Der Erste bekundete ebenfalls durch heftiges Nicken seine Zustimmung, und dann sahen sich beide mit schuldbewusster Miene um. »Nun, natürlich, es ist der Wille des Schläfers.« »Sein Wille und seine Grille«, sagte Roan mit einem kumpelhaften Grinsen. »Aber es war eine gute Rettung, nicht?« Die Wachtposten grinsten zurück. Ihre Zähne waren immer noch sehr scharf. »Darf ich jetzt durch?« »In Ordnung, Sir«, gab der zweite Wachtposten seine Einwilligung. Seine braunen Hände, nun vollkommen menschlich, stellten die Hellebarde beiseite und zogen an der Glockenstrippe, die an der Mauer herunterbaumelte. Die Glocke läutete laut im Innern des Schlossbereiches; ihr Schall kämpfte mit Gequäke, Gegluckse, Gewieher, Getrappel und dem Geschnatter Dutzender Stimmen, die Roan durch das Fallgatter hörte. »Schönes Wetter heute, nicht? Ziemlich unbeständig.« »Das ist es doch immer. Viel los heute Morgen?«, fragte Roan freundlich, während er darauf wartete, dass das eiserne Fallgatter hoch genug gezogen wurde, um seiner ungewöhnlichen Körperlänge gerecht zu werden. »Und ob, Sir! Es ist kaum zu glauben«, sagte der erste Wachtposten und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Luft war so heiß, dass die Schweißperlen fast im gleichen Augenblick wegtrockneten, in dem sie auf der Haut erschienen. »Ein ständiges Kommen und Gehen! All diese Wissenschaftstypen, da können Sie gar nicht Schritt halten. Alle so neugierig wie Katzen, und zweimal so schlimm wie Katzen, die um Türen herumstreichen.«
»Manche von ihnen sehen sogar aus wie Katzen«, warf der zweite Wachtposten ein. »Stimmt, Sir«, sagte der erste Wachtposten. »Erst wollen sie rein, dann wollen sie wieder raus. Oh, entschuldigen Sie, Sir! Ich wollte Ihrem Vater bestimmt nicht zu nahe treten!«, fügte er mit einem Ausdruck erschrockener Verlegenheit hinzu. »Schon gut; war gewiss nicht bös gemeint«, erwiderte Roan leutselig. Sein Vater, Thomasen, war ein prominenter Hofhistoriker, und er hatte in der Tat etwas von einer Katze, die um Türen herumstrich. Thomasen war ein umtriebiger Mann, der die Dinge gern genau in Augenschein nahm und ständig in Bewegung war. Anders als die Wissenschaftstypen vom Wissenschaftsministerium waren die Historiker reine Beobachter, die die Ereignisse, die sie beobachten und aufzeichnen sollten, nicht zu beeinflussen versuchten. Sehr wahrscheinlich unterschieden die Wachtposten nicht zwischen dem einen Ministerium und dem andern. Und es war durchaus möglich, dass sie auch Roan für einen der Wissenschaftstypen hielten, da es seine Aufgabe als Investigator des Königs war, Phänomene zu beobachten, aber er verhielt sich bei dieser seiner Tätigkeit so passiv, wie es nur ging. »Schauen Sie doch!«, schrie der erste Wachtposten. Roan wirbelte herum, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Cruiser, sein Fahrrad, vom Himmel fiel. Er rannte los, um es aufzufangen, aber lange bevor er über den Zaun auf die Weide springen konnte, schlug die silberne Rennmaschine mit einem gewaltigen »Bang!« auf dem Boden auf. »Nein!«, schrie Roan. »Cruiser!« Der Rahmen lag reglos da und das Vorderrad drehte sich. Und dann, während Roan noch mit besorgtem Blick schaute, richtete sich das Rad wieder auf und stand wacklig auf beiden Rädern. Roan steckte die Finger in den Mund und pfiff. Das Rad drehte seinen Lenker, bis es genau auf ihn ausgerichtet
war und kam mit kläglichem Quietschen zu ihm herübergerollt. »Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst, alter Freund«, sagte Roan und gab ihm einen Klaps auf den Rahmen. »Alles in Ordnung?« Der Lenker drehte sich ein wenig unter seiner Hand, wie als reagiere er auf den zärtlichen Klaps. Er hob das Ross über den Zaun und stellte es auf die Straße. Das Fahrrad quietschte unregelmäßig, während es neben ihm zurück zum Schloss rollte. »Ah, da haben wir aber nochmal Glück gehabt!«, sagte der zweite Wachtposten nach einem prüfenden Blick auf das Fahrrad. »Kaum ein Kratzer oder eine Delle.« »Der Stallmeister wird nachschauen, was es mit dem Quietschen auf sich hat«, sagte der erste Wachtposten. »Kein Problem.« Die Wachtposten waren schon wieder dabei, sich zu verändern, als Roan in den Hof trat. Ihre klirrenden Kettenhemden verwandelten sich in lange seidene Roben und Kopfbedeckungen und ihre Hellebarden wurden zu Krummsäbeln. Der erste Wachtposten berührte seine Stirn und verbeugte sich zu einem tiefen Selam, während seine Haut und seine Haare dunkler wurden und ein Schnurrbart auf seiner Oberlippe zu sprießen begann. Dadurch dass der Lullay - der Ursprung und Quell des Einflusses der Schläfer - geradewegs durch das Schlossgebiet floss, veränderten sich die Dinge hier ständig. Sie waren gewissermaßen in stetigem Flusse.
2. KAPITEL Die Hitze war der zweite Hinweis darauf, dass sich die Stimmung des Schläfers änderte. In der kurzen Zeit, die Roan brauchte, um vom Schlosstor bis zu der ersten Reihe von Außengebäuden innerhalb der Mauer zu gehen, schlug das Wetter von gemäßigter sommerlicher Wärme zu brüllender Hitze um. Die Aufmerksamkeit des Schläfers musste sich auf ein Wüstenreich gerichtet haben. Das Gackern von Hühnern verwandelte sich zum Meckern von Ziegen und aus dem Blöken von Schafen wurde die Ungeduld von Kamelen. Roan musste schmunzeln über den Schreck, den die Hirten bekamen, als sie sich plötzlich dreimal so großen Schützlingen gegenübersahen, die ihre üblichen Formen von Ungehorsam auch noch um Spucken bereicherten. Gleichwohl, Traumländer waren an ständigen Wandel gewöhnt. Das war der Wille des Schläfers dieser Region, der dieses Reich und jeden in ihm träumte. Jeder, der im Traum land lebte, war es gewohnt, dass sich seine - oder ihre Grundform häufig veränderte, dass sich das Aussehen, das Geschlecht und bisweilen sogar die Gattung wandelten, je nachdem, wie es der Ober-Intelligenz seines Schöpfers gerade gefiel. Jeder, dachte Roan und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Jeder, nur ich nicht. Sein Vater und diejenigen unter den Historikern, die von gütiger Denkungsart waren, pflegten zu sagen, dass Roan die Ausnahme war, die die Regel bestätigte, dass alle Dinge im Traumland stetigem Wandel unterworfen waren. Roan Faireven wurde als Sonderling angesehen, von manchen sogar als Missgeburt. Wo es natürlich war, von Paradigma zu Paradigma zu wechseln, wie die Wolken am Himmel, die ständig neue Bilder formten, blieb Roan stets fest und unveränderlich er selbst. Oh, er hatte sich schon verändert,
während er vom Säugling zum Kind zum Jüngling zum Erwachsenen aufgewachsen war, aber wie er ein Jahr später aussah, hätte anhand seines Aussehens von einem Jahr zuvor leicht vorausgesagt werden können. Es war nicht aus einem Starrsinn oder Trotz heraus, und auch nicht etwa aus mangelndem Respekt vor den Schläfern, dass er an ein und derselben Grundform festhielt. Er konnte einfach nichts dagegen tun. Er konnte sich nicht verändern. Roan blieb immer männlichen Geschlechts, immer groß, hatte immer graue Augen, dunkles Haar, breite Schultern und lange, schmale Hände - mit anderen Worten, Roan war immer er selbst. Wer immer das war, dachte Roan mit einem Seufzen. Er hatte oft das Gefühl, er würde mehr über sein Inneres erfahren, wenn sein Äußeres sich hin und wieder änderte und ihm sagte, was in seinem Unterbewußtsein vorging. Er wurde häufig von seltsamen Träumen voller böser Vorzeichen und unheimlicher Gesichte heimgesucht, aber zu seiner Beruhigung sagte er sich dann, dass seine Träume wahrscheinlich um keinen Deut seltsamer waren als die jedes anderen innerhalb und außerhalb des Traumlandes. Er besaß genügend Klugheit, um genau zu wissen, was er verändern konnte. Gesegnet mit einem gerüttelten Maß an Intelligenz und gesundem Verstand, hatte er einen hohen Grad an Kontrolle über seine Umgebung und seinen Besitz. Es war gerade diese seine Unveränderlichkeit, die es ihm möglich machte, einen so gefährlichen Beruf wie den des Investigators des Königs auszuüben. Ihm wurde bewusst, dass sein guter Anzug aus dunkler Wolle, sein maßgeschneidertes Seidenhemd und seine Krawatte viel zu warm für diese Wüste waren. Während Kleidung wie alle anderen unbelebten Gegenstände gewöhnlich dem Plan des Schläfers folgte, blieb alles, was Roan berührte oder in seiner unmittelbaren Nähe war, so, wie es zuletzt gewesen war. Roan richtete seinen Sinn darauf, seine
Kleidung den veränderten klimatischen Umständen anzupassen. Das feine Schneiderkostüm verschwamm und zerfloss wie schmelzendes Wachs und nahm Lichter von der Sonne und den berauschend duftenden Gärten auf, die entlang dem Kiesweg blühten. Nun war er angetan mit einem knöchellangen Talar aus scharlachfarbener und blauer Seide, unter dem eine ebenfalls seidene Hose kühlend seine Beine umschmiegte. Sein steifer Zylinder erschlaffte und wurde zu einem breitkrempigen Sonnenhut. Jetzt fühlte er sich schon viel besser. Roan seufzte und bewegte seine Schultern unter dem weichen Stoff. Er schritt in weichen Stiefeln den schmalen, von runden Steinen eingefassten Pfad entlang. Sein Ross, das ihm brav auf dem Fuße folgte, war ein Fahrrad geblieben, anstatt sich in ein Dromedar oder ein Kamel zu verwandeln. Er schob Cruiser zu den Stallungen, einer willkommenen Oase der Kühle in der brütenden Mittagshitze, und übergab ihn einem Stallknecht, der durch seinen Schnauzbart gluckste, als er die Macken im Rahmen sah. »In einer Stunde wird es wieder so gut wie neu sein, mein Ehrenwort«, sagte der Mann, wobei er sich an Stirn, Lippen und Herz fasste. »Es eilt nicht«, sagte Roan, die Geste erwidernd. »Ich bleibe für eine Weile daheim.« Er trat hinaus in die Sonne und wandte sich zum Bergfried. Während Roan über die gepflasterten Wege stapfte, vollzogen sich ein paar kleinere Veränderungen in der Landschaft, wie es üblich war, aber im Großen und Ganzen blieb der Ort fruchtbar-halbmondförmig im Geschmack. Welcher äußere Reiz den Schläfer auch immer dazu gebracht hatte, von Wüstenkönigreichen zu träumen, Er - oder Sie - hatte einen Ort der Schönheit geschaffen. Das Schloss selbst wirkte anders, als es ausgesehen hatte, als
Roan zu seiner letzten Mission aufgebrochen war, aber in seiner Abwesenheit hatte es sich gewiss schon ein Dutzend oder hundert Mal verändert. Anstelle des zugigen, grauen, von Flechten und Spinnenweben überzogenen Bergfrieds mit bogenförmig gewölbten Butzenscheibenfenstern und Todesfeen auf den Zinnen präsentierte sich Roans Blick ein Turm aus glattem weißem Marmor, kunstvoll verziert mit goldenen Schmucklinien und Intarsien aus buntem Glas und Edelsteinen. Die schweren Bronzetore trugen Tiefenreliefs aus Knoten und Arabesken. Säulen mit Statuen nisteten in Nischen entlang den Wänden und im Hof plätscherten Springbrunnen. Alle Fensterflügel waren spitzbogig. Er musste zugeben, dass diese Fassade des Schlosses sehr angenehm wirkte. Nicht eine Fledermaus war zu sehen. Offenbar war der Schläfer heute in gehobener Stimmung. Roan bedankte sich dafür. Die Sonne leuchtete golden von einem klaren, blauen Himmel und grüne und scharlachrote Vögel krächzten ihn von Baumästen an. Dienerinnen, in Gewänder aus vielen Lagen durchsichtiger Seide gehüllt, huschten hurtig zwischen den vielen Gebäuden des Innenhofes hin und her. Einzeln wären die Lagen transparent gewesen, aber ihre Vielzahl bewirkte Undurchsichtigkeit, sodass die wahre Form darunter nicht zu erkennen war. Ganz wie das Traumland selbst, dachte Roan. Er vernahm von einer Seite des Hauptturmes lautes Stimmengewirr. Eine Anzahl junger Männer und Frauen kam mit langen Maßbändern bewaffnet um die Ecke des Turmes herumgesaust. Unbeeindruckt von der Hitze nahmen sie energisch Messungen vor, kritzelten umfangreiche Notizen und Zahlenreihen auf Blöcke und Schiefertafeln oder schoben die Kugeln auf einem Abakus hin und her. Roan lachte, als sie wieder auf der anderen Seite des Turmes verschwanden. Ihr aufgeregtes Treiben wirkte wie eine Kreuzung zwischen einer Schnitzeljagd und einem Mathetest. Die jungen Leute sahen ebenfalls anders aus als vorher, aber
er wusste, wer sie waren. Das Wissenschaftsministerium schickte immer seine neuesten Mitarbeiter aus, die Dimensionen des Schlosses neu zu vermessen. Roan hielt dieses Unterfangen für sinnlos, da die Grundfläche des Schlosses immer tausend mal tausend Schritte betrug, aber er erhob auch nie den Anspruch, den analytischen Geist voll zu erfassen. Wenn die Wissenschaftler glaubten, sie könnten Grundlegendes über das Traumland oder den Schläfer erfahren, indem sie das Schloss jedesmal, wenn es sich veränderte, aufs Neue ausmessen ließen, hatte Roan keinen Schimmer, um was es sich handeln mochte. »Roan!«, rief eine Stimme in freudiger Begrüßung. Er wandte sich von seinen Betrachtungen ab und einer kleinen, dicken, scharlachrothaarigen, in zahllose Hüllen karmesinroter Seide gewandeten Frau zu, die neben ihn trat und seinen Arm ergriff. Sie strahlte ihn an und ihre dicken Backen plusterten sich einnehmend. »Mein lieber Freund, wie geht es dir? Es ist ja eine Ewigkeit her.« »Bergold!«, rief Roan, als er den Sprachduktus seines guten Freundes erkannte, wenn auch nicht seine gegenwärtige Gestalt. »In der Tat«, sagte der Historiker. Er hob eine Falte seines Gewandes hoch. »Ist das nicht eine prächtige Farbe? Ich habe eine Vorliebe für Rot.« »Sehr hübsch«, sagte Roan und dachte, dass sich das Karmesin von Bergolds Gewand heftig mit seiner augenblicklichen Haarfarbe biss, aber vielleicht hatte sich der Historiker ja noch nicht im Spiegel gesehen. Bergold veränderte sich so oft und so rasch, dass viele andere Traumländer an seiner Stelle längst verrückt geworden wären, doch er kam mühelos damit zurecht. Die meisten Leute hatten eine Grundform und ihre zahlreichen Veränderungen waren
Variationen dieser Grundform. Aber bei Bergold war sich Roan, obwohl sie Zeit ihres Lebens befreundet waren, immer noch nicht sicher, ob er den Historiker jemals in seiner natürlichen Gestalt gesehen hatte, so er denn überhaupt eine solche besaß. »Bist du mit dem Zug gekommen?«, fragte Bergold, während er ihn zum Schlosstor geleitete. »Diesmal nicht. Ich bin gerade von Somnus hierhergeflogen, auf dem Wind.« »Du Glückspilz!«, rief Bergold. »Bist du die ganze Strecke geflogen?« »Fast«, sagte Roan, noch einmal in der Erinnerung an sein Abenteuer schwelgend. »Ich traf fortwährend auf glückliche Umstände. Mein Ross Cruiser und ich gerieten erst in einen Einfluss, der ihn zu einem Motorrad machte und dann in einen, der ihn zum Flugzeug werden ließ.« »Ein Flugzeug!«, rief Bergold. »Du liebe Güte!« »Ja, in der Tat«, sagte Roan grinsend. »Und plötzlich flog ich ohne das Flugzeug, einfach so, platt auf dem Wind liegend wie ein Vogel. Höchst anregend. Es verkürzte meine Reise um Tage.« »Dieses moderne Reisen durch die Lüfte ist in der Tat erstaunlich«, sagte Bergold und zog einen Notizblock und einen Bleistift aus den vielschichtigen Falten seines Gewandes. Er schrieb ein paar Worte auf. »Eines Tages werde ich es hoffentlich probieren können, aber ich bin nicht sicher, ob mein edles Ross dafür geschaffen ist, von mir selbst ganz zu schweigen. Wie war die Landung?« »Ich stürzte ab.« Roan musste schlucken, als er an das hohle Gefühl in der Magengegend dachte, das ihn während dieser Beinahe-Katastrophe begleitet hatte. Bergold klopfte ihm mitfühlend auf den Rücken.
»Armer alter Freund. Fallträume sind immer die schlimmsten. Aber du hast dich noch rechtzeitig fangen können. Du bist gelandet.« »Es bedurfte dazu jeder Unze gesunden Verstandes, die ich aufbieten konnte«, versicherte ihm Roan und verbeugte sich vor einem vorbeigehenden Janitscharen. »Zum Glück besitzt du davon einen üppigen Fundus. Ich wusste gar nicht, dass du weg warst. Was hast du gemacht?«, fragte der Historiker, seinen Bleistift schwenkend. »Komm mit und hör's dir an«, sagte Roan, zum Hauptturm strebend. Die Wachtposten, die an der Mauer stationiert waren, salutierten, als die zwei durch die Menge zum Geheimtor schritten. Die Krokodil-Wachtposten hatten Recht gehabt. Der Hof war voll von Fahrrädern, Pferden, Karren und allen anderen Arten von Kleinfahrzeugen, wie sie im Traumland üblich waren. »Ich bin hier, um dem König Bericht zu erstatten. Die siebente Provinz hat keinen weiteren Umbruch erlebt. Es gab eine Art von lautem Landaufruhr, der wahrscheinlich die Meldung hervorrief. Ganz wenige Todesfälle und keine Diskontinuitäten. Alles fügt und regelt sich wieder schiedlich. Wenn ich so kühn sein darf, darauf hinzuweisen: Dieser Schläfer hat ein friedliches und zivilisiertes Gemüt, weshalb es ein großer Verlust für das Traumland wäre, sollte Er oder Sie erwachen.« Bergold nickte. »Ich war noch nie in Somnus. Wie ist es dort?« »Größtenteils offene Savanne«, sagte Roan und rief Einzelheiten aus seinem Gedächtnis ab. »Trocken. Gelber Mergelboden, zu karg für Landwirtschaft. Wegen der Windstürme wird es aufgrund von Erdbeben höchstwahrscheinlich Emigrationen im Überfluss geben, und auch einige Veränderungen im Terrain, also muss ich den König auch davor warnen. Sie können sich wohl auf großen
Touristenverkehr freuen: Die Fauna dort ist wunderschön. Große, langhalsige Giraffen. Elefanten! Großkatzen. Große, gelbmähnige Löwen, träge, mit scharfen Zähnen, wunderschön. Ich habe ihnen dabei zugeschaut, wie sie sich unter grünen Laubbäumen wälzten und ihre Jungen putzten.« »Tatsächlich!«, sagte Bergold, der mit einem träumerischen Ausdruck im Gesicht lauschte. »Du bist ganz poetisch!« Ohne es beabsichtigt zu haben, begann er sich zu verändern: goldenes Fell wuchs auf seinem breiten Gesicht und auf seinen Armen. Er erhaschte einen kurzen Blick auf sich selbst in dem blankpolierten Schild eines vorbeikommenden seidengewandten Janitscharen und verwandelte sich sogleich wieder in die Haremsdame, die er vorher gewesen war. »Entschuldige, alter Freund. Aber du hast mich ganz mitgerissen mit deinen Schilderungen.« Roan grinste auf seinen Freund hinunter. »Du bist heute aber sehr leicht zu beeinflussen.« »Beiß dir auf die Zunge«, sagte Bergold und glättete sein Gewand mit aufgeregt flatternden Händen. »Wenn überhaupt, müsste ich eigentlich stachlig wie ein Kaktus sein, wenn ich an den Tumult denke, der sich dort abspielt.« Er deutete mit einer Hand, deren Fingernägel rot lackiert waren, auf den Hauptturm. »Ach ja, die Wachtposten am Tor erwähnten etwas davon«, sagte Roan und zog die Augenbrauen hoch. »Sollte ich dem besser fernbleiben und meinen Bericht ein andermal vortragen?« »Große Nacht, nein!«, rief Bergold und hob die Hände, um einem solchen Gedanken vorzubeugen. »Der König wird dankbar dafür sein, mal wieder etwas Vernünftigem lauschen zu können, etwas, das Hand und Fuß hat und sich einmal nicht diesen ganzen spekulativen Unsinn anhören zu müssen. Carodil, die Wissenschaftsministerin, hat gerade wieder einen
ihrer endlosen Vorträge gehalten. Sie hat einen Vogel. Der hat jeden ins Hirn gepickt, nur nicht die, die er sollte. Der Hof ist voll von ihren Anhängern; alle tönen lauthals, Neues ausprobieren zu wollen, um die Realität zu testen. Blasphemie. So sicher wie die Form der Funktion folgt, treibt sie es diesmal zu weit.« »Na, na, Bergold, im Traumland ist genug Platz für eine ganze Palette von Ansichten und Auffassungen«, sagte Roan geduldig. Die Gesichtsfarbe seines Freundes hatte sich zu einem tiefen Rot verdunkelt. Bergold musste sich unbedingt wieder entspannen, sonst schoss ihm am Ende noch Dampf aus den Ohren. »Nicht in meinem Wirkungskreis«, versetzte der Historiker. Bergold und Ministerin Carodil waren alte Widersacher. So weit es den Historiker anging, war es eine Sache, die Zeichen zu verstehen und das Ergebnis aufgrund früherer Erfahrungen vorauszusagen, und eine gänzlich andere, mit Umständen zu experimentieren und zu schauen, was dabei herauskam. Für die Historiker und die Kontinuitoren, die die Realität, die die Historiker aufzeichneten, überwachten und in Ordnung hielten, war das ein Privileg, das den Ungesehenen Fantasien vorbehalten war. Bergold nahm seinen Beruf ernst. Als einer der Dienstältesten im Geschichtsministerium sah er es als seine Pflicht an, sorgfältig Buch über Phänomene zu führen, die im ganzen Traumland beobachtet wurden. Historiker waren eine Kombination aus Astrologen, Wahrsagern und Protokollanten. Sie gaben den Traumländern ein Gefühl für die historische Grundlage eines Ereignisses, damit keine Veränderung sie bis an die Grenze der Diskontinuität verwirrte. Sie zeichneten jene Dinge auf, die für allgegenwärtig genug bestimmt wurden, um in der Wachwelt der Schläfer real zu sein. Manche Leute, darunter auch das Ministerium für
Kontinuität, hielten es für Blasphemie, dass die Historiker versuchten, die Kultur der Schläfer zu rekonstruieren, aber die Historiker hatten den Segen und die Unterstützung des Königs, der darauf bestand, dass es für das Überleben und Wohlergehen des Volkes von Traumland geschehe. Denn, so folgerte der König, um wie viel besser kann man dem Zwecke der Schläfer dienen, wenn man über eine Einsicht in ihr Alltagsleben verfügt. Die Historiker ermittelten Trends; wenn man also dieses kommen sah, konnte jenes Ereignis womöglich folgen. Außerdem machten die Historiker Anzeichen für bevorstehende Veränderungen publik, die sie beobachteten, und erklärten sie mit so wohl bekannten Umschreibungen wie Pepperoni-Albtraum, Namenlose Ängste, Prüfungsangst, Angstträume, Hormonale Reifung, Adrenalin-Flashbacks und dergleichen. Das Geschichtsministerium zeichnete kulturelle Details auf, die ihm von den Schläfern offenbart wurden. Dicke Bücher, die die Alltagswelt ausführlich darstellten, in der jeder einzelne Schläfer lebte, soweit die Historiker das feststellen konnten, wurden im Schlossarchiv aufbewahrt, die so genannten Akaschischen Aufzeichnungen. Die Bücher blieben stets als Einheiten der Information während der Veränderungen des Schläfers erkennbar. >Die Form folgt der Funktion< war eines der Naturgesetze des Traumlandes - und einer der Lieblingsaussprüche von Bergold. Als die beiden Freunde den hohen, spitzen Bogen des Schlosstores erreichten, kam die Herde der Neulinge um die Ecke der Burg gestürmt und auf sie zugedonnert. Ihre Kopfbedeckungen und Gewänder saßen schief vom Rennen und sie lachten. Da die Ergebnisse ihrer Messungen sich niemals unterschieden, neigten sie dazu, ein Spiel daraus zu machen. Roan grinste sie an. »Zuviel Energie für einen heißen Nachmittag, nicht wahr?«, fragte Bergold und grinste zurück. Sein Groll erstreckte sich nicht auf Carodils Personal. Die Lehrlinge waren nette,
harmlose junge Leute, ganz gleich in welcher Gestalt sie erschienen. »In der Tat«, sagte Roan und zögerte einen Augenblick lang auf der Schwelle. »Übrigens, ist Prinzessin Leonora zu Hause?« Bergold schlug ihm mit einer dicken Hand auf den Rücken und zog ihn in den kühlen Schatten der Eingangshalle. »Frag mich nicht, du dummer Kerl. Komm rein und find es selber raus. Kämpfe nicht so heftig gegen die Liebe! Bei den Schläfern, lass dich von den Ereignissen vorwärtstragen.« Roan nahm seinen Schlapphut ab und ließ die Kapuze auf seinen Rücken fallen, als sie in den Großen Palas traten. Das erste, was ihm an der riesigen Audienzhalle auffiel, war, dass selbst die hohe, mit goldenen Arabesken verzierte Decke mit ihren kunstvoll geschmiedeten Bossen am Fuße jedes der riesigen Messingkronleuchter, dass selbst diese hohe Decke nicht hoch genug war, um all den Lärm unter ihr zu umfassen. Es herrschte ein ohrenbetäubender Krach in der Halle. Ein öliger junger Mann in prächtigem weißem Brokat nahm Roan und Bergold an der Tür in Empfang und geleitete sie unter zahlreichen Verbeugungen in die Mitte der Menge. Männer und Frauen aller Art, meist in helle, kühle Seidengewänder gekleidet, standen herum und schrien einander an, mit den Armen fuchtelnd und wild gestikulierend, als wollten sie die Bedeutsamkeit ihrer Botschaft sowohl durch Gebärden als auch durch Lautstärke deutlich machen. Einen sopranen Kontrapunkt zu dem lauten Geplapper setzten das filigrane Geplätscher von Springbrunnen aus Mosaikkacheln und blankpoliertem Messing und das Gekreisch von bunten Papageien, die auf einer hohen, rings um die Halle verlaufenden Galerie saßen. Auf einer Seite der Halle zogen drei Marmorthrone auf einem Podium den Blick auf sich. Die Throne waren ledig. Seine Majestät war noch nicht eingetroffen.
Roan und Bergold blieben plötzlich stehen und lenkten ihren Pfad mit einem eleganten Schlenker um eine Frau, die urplötzlich eine Schiefertafel auf einer Staffelei aus dem Nichts zauberte und ihrem Begleiter einen Vortrag über die Formeln zu halten begann, die darauf geschrieben standen. Diener mit Tabletts voller Karaffen und Gläser wieselten zwischen ihnen umher. Ein Bote in Uniform und mit einem Pillenschachtelhut bereicherte das Getöse noch um eine weitere Note, indem er auf ein Glockenspiel schlug und Namen ausrief. »Du bist gerade rechtzeitig für die Jahresberichte nach Hause gekommen. Seine Majestät lässt sich von jedem Minister vortragen«, erklärte Bergold über die Schulter, während sie dem Pagen folgten. »Natürlich hat jeder zwischen drei und fünfzehn Anhänger mitgebracht, um zu beweisen, dass er oder sie das letzte Jahr über wirklich produktiv gewesen ist.« Roan blieb stehen, um einen kleinen, wichtig dreinschauenden Mann vorbeizulassen, dem ein ganzer Tross junger Leute folgte, allesamt bewaffnet mit Büchern, Schriftrollen und dicken Packen von ziehharmonikaartig gefalteten Papierbögen. »Ich habe seit Jahren keinem dieser Jahresberichte mehr beigewohnt«, sagte Roan. »Der letzte war nicht annähernd so gut besucht.« »Der letzte war ja auch nicht annähernd so voll von Kontroversen!«, schrie Bergold, als er von einer Gruppe Frauen verschluckt wurde, die einen riesigen Kartenständer zu dem großen goldenen Thron am anderen Ende des Saales schoben. Er tauchte auf der anderen Seite des Pulks wieder auf und Roan schloss wieder zu ihm auf. »Du warst weg. Du hast die Gerüchte nicht gehört?« »Nicht eines«, sagte Roan. »Was?«, schrie Bergold. »Nicht eines!«, schrie Roan zurück, in eine plötzliche, peinliche Stille hinein. Er wurde gerettet durch das Erscheinen
eines langbeinigen Supermodels, das ein winziges rotes Minikleid und eine aufgeblasene Turmfrisur trug. Einen Kopf größer als jeder andere im Saal, schob sich die Blondine zwischen ihnen hindurch und stöckelte hüftwackelnd auf eine der Türen zu. Die Menge teilte sich vor ihr. »Mein Hut!«, sagte Bergold und schaute ihr hinterher. »Wer träumt die denn?« »Wunschdenken«, sagte Roan mit einem Grinsen. »Wahrscheinlich provinzweit.« Die Blondine wandte den Kopf, taxierte ihn von Kopf bis Fuß und zwinkerte ihm zu. Roan fühlte, wie er errötete, doch er fühlte sich auch geschmeichelt. Bergold fasste Roan beim Ärmel und zeigte zur Vorderseite der Halle. In der Nähe des Podiums drängte sich eine Traube von Historikern, die leise miteinander tuschelten. Sie ähnelten nicht mehr den Katzen, von denen die Wachtposten gesprochen hatten. Stattdessen hatten mehrere von ihnen ein Kamelgesicht. Die schlanken, hängenden Schnauzen unterstrichen noch ihren Gesichtsausdruck mürrischer Unzufriedenheit. Die zwei Freunde bahnten sich einen Weg durch das Gewühl zu ihnen. Die meisten Männer in der Menge traten galant einen Schritt zurück, um Bergold in seiner weiblichen Erscheinung vorbei zu lassen und ein paar warfen ihm lüsterne Blicke nach. »Bergold«, sagte einer der Historiker in knapper Begrüßung. »Roan.« »Hallo, mein Sohn«, sagte sein Vater überrascht und drehte sich um, um Roan in die Arme zu schließen. Thomasens Gesicht verwandelte sich von dem eines Kamels in ein menschliches, das große Ähnlichkeit mit dem seines Sohnes hatte. »Das ist aber eine Freude! Wann bist du zurückgekommen?« »Gerade eben«, sagte Roan. »Ich habe Bergold auf dem Weg hierher getroffen.«
»Schön, schön«, sagte Thomasen erfreut und legte einen Arm um seinen Sohn. »Deine Mutter wird sich freuen, dass du wohlbehalten zurückgekommen bist. Komm nach der Versammlung mit mir zu ihr.« »Ich freue mich nicht, ihn zu sehen«, blaffte einer der Historiker. Es war Datchell, einer von Roans ältesten Peinigern. »Ist diese Missgeburt also wieder zurückgekommen, wie ich sehe.« Er maß Roan von Kopf bis Fuß mit unverhohlenem Abscheu. Die langen Kamellippen stülpten sich vor, so als wolle er ihn jeden Augenblick anspucken. Roan spannte sich, um sich notfalls mit einem Sprung zur Seite zu retten. »Ich dachte, du hättest uns den Gefallen erwiesen zu verschwinden. Warum gehst du nicht hin und diskontinuierst dich, du Gräuel gegen gesunde Träume?« »Datchell!«, rief Bergold. »Eine Schande«, sagte Micah, der Senior-Historiker und pochte mit seinem langen Spazierstock auf den Boden. »Der Junge kann sich nicht selbst helfen.« Roans Stimmung sank. Ganz gleich, wie sehr er auch darum kämpfte, sich von solchen Beleidigungen nicht treffen zu lassen, es misslang ihm stets. Datchell und andere, die wie er waren, schafften es immer wieder, ihn bei seiner Kindheitsschande, nämlich in einer sich ständig wandelnden Welt unveränderlich zu sein, zu packen. Ich bin jetzt erwachsen, sagte sich Roan. Mein Verstand steht außer Zweifel, meine Kontrolle über meine Umgebung ist überdurchschnittlich für einen Traumländer, kaum geringer als die, über die der König selbst gebietet. Ich habe einen verantwortungsvollen Posten inne und bin wohlgelitten. Die Meinung eines einzelnen Mannes ändert daran nichts, darf daran nichts ändern. Lange Übung ließ ihn seinen freundlichen Gesichtsausdruck behalten. »Guten Tag, Datchell«, sagte er und machte eine ganz
knappe Verbeugung, gerade tief genug, um dem Gebot der Höflichkeit zu entsprechen, aber nicht tief genug, um unterwürfig zu erscheinen. Datchell indes hatte sich schon wieder abgewandt, mit angewiderter Miene. Einige der anderen Historiker bedachten Roan mit mitfühlenden Blicken. »Fang nicht schon wieder den selben Streit an, Datchell«, sagte einer der Historiker, ein väterlich wirkender Mann. Er trat zu Roan und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du musst dich nicht ständig wiederholen.« Datchell gab keine Erwiderung. Sein Rücken zeigte starre Entrüstung. »Tz!«, sagte Micah mit einem Kopf schütteln zu Roan. »Es gibt Leute, die eine neue Idee einfach nicht ertragen können. Und so was nennt sich Mitglied der intellektuellen Elite!« »Mach dir nichts aus dem, was er sagt«, bemerkte Thomasen begütigend. »Er hasst es, Bericht zu erstatten.« Er stupste Roan spielerisch mit dem Handgelenk an. »Ach, übrigens, mein Sohn, das Mädchen hat nach dir gefragt.« Roan fühlte, wie sein Atem an einem warmen Gefühl in seiner Brust hängenblieb, als er auf den Thron zur Rechten des Königsthrones blickte, den kleinen Thron mit dem marmornen Piedestal als Fußstütze. Er war immer noch leer. Roan seufzte, halb vor Erleichterung. Für jemanden, der so nah beim Hofe von Traumland lebte, wie er es immer getan hatte, war es nachgerade lächerlich, sich so schüchtern gegenüber der Prinzessin Leonora zu fühlen, wie er es tat. Sie kannte ihn ihr ganzes Leben lang. Als sie geboren war, hatte er bereits sechs Lenze gezählt. Sie hatten zusammen Sandküchlein am Rande des Grabens geformt - als es einen Graben gegeben hatte. Er hatte ihr tatkräftig beim Herausziehen ihres ersten wackligen Milchzahns geholfen. Sie hatten Geheimnisse miteinander geteilt und gemeinsam Schmetterlinge gejagt, und er hatte ihr beigebracht, wie man gespaltenen Grashalmen durch geschicktes Blasen unanständige Töne entlockte. In kleinen bedrohlichen Situationen, zum Beispiel in den Fällen, wo sie
andere Kinder im Palast dazu provoziert hatte, sie zu jagen, war sie stets um Hilfe zu ihm gerannt, und er hatte als ihr ergebener Beschützer seine Freude daran gehabt, die Angreifer zu verscheuchen. Er hatte sie immer wie eine geliebte kleine Schwester behandelt. Doch vor ein paar Jahren, just in dem Monat, als sie fünfzehn geworden war, hatten sich die Dinge geändert. Drei Tage nach ihrem Geburtstag hatte ein wütender roter Drache das Schloss angegriffen. Leonora hatte auf dem Dach in der Falle gesessen. Der gesamte Hof war in wildem Aufruhr gewesen; in dem verzweifelten Bemühen, ihre geliebte Prinzessin aus ihrer bedrohlichen Lage zu befreien, hatten sich alle gegenseitig im Weg gestanden. Der junge Roan hatte es geschafft, sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen und sie vor allen anderen zu erreichen. Bevor er hatte überlegen können, was er tat, war er auch schon geradewegs auf das grimmige Monstrum losgegangen und hatte es angebrüllt, es solle von Leonora ablassen. Der Drache hatte sich daraufhin tatsächlich von seinem Opfer abgewandt und stattdessen ihn, Roan, attackiert, und er hatte ihn mit einem Ausbruch mächtigen Einflusses, der ihn selbst völlig überrascht hatte, zurückgetrieben. Der Drache war in den Himmel zurückgeschleudert worden und in einem Schauer von Funken explodiert. Roan hatte selbst nicht begreifen können, welcher Teufel ihn geritten haben musste, einen Drachen allein, baren Hauptes und mit leeren Händen angegriffen zu haben. Erst als er sich anschickte, die am ganzen Leibe wie Espenlaub zitternde Prinzessin nach unten zu tragen, begriff er allmählich. Sie klammerte sich an ihn, doch als er die Arme um sie schlang, hörte sie auf zu zittern. In dem Augenblick merkte er, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine junge Frau, eine, die ihm in gänzlich neuer Weise kostbar war. Darüber hinaus wusste er, dass auch sie ihn liebte. Aber sie war die Thronerbin, das Symbol der Zukunft des Traumlandes und
zudem die schönste Frau im ganzen Lande. Er war ob seiner Keckheit gedemütigt worden, aber er hatte sich hoffnungslos verliebt und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Er fühlte sich ständig hin und her gerissen zwischen seinem neuen Wissen und der langen Geschichte, die sie als Kindheits und Jugendfreunde geteilt hatten. Im großen Plan der Dinge fungierte Leonora als das Absolute, nach dem jeder im Traumland strebte. Sie war bewundernswert. Sie war schön wie ein Sonnenaufgang, fern wie die Sterne, tüchtig, bezaubernd, mitfühlend. Sie war dazu bestimmt, die Gemahlin eines Herzogs, eines Präsidenten oder eines Engels zu werden, nicht die des Jungen von nebenan. Die Gedanken des Königs mussten in ähnlichen Bahnen verlaufen sein. Nach außen hin schien es so, als betrachte er die Freundschaft zwischen Roan und der Prinzessin mit Wohlwollen, ,doch immer wenn das Thema Heirat aufkam, was während der letzten Jahre immer häufiger der Fall gewesen war, hatte er den jungen Mann auf endlose - bemerkenswerte und enttäuschende - Missionen ausgesandt. Roan liebte es zu glauben, dass diese Aufgaben den Zweck hatten, seine Eignung für die Hand der Prinzessin zu testen, aber es konnte sich genausogut auch um Verzögerungstaktik handeln, um die geschickten Schutzmanöver eines besorgten Vaters, der seine Tochter vor einer unangemessenen Liaison bewahren wollte. Wenn Leonora mit ihrem Vater am Hofe oder zu Staats angelegenheiten erschien, thronte sie auf einem Piedestal, zu hoch oben, als dass irgendjemand sie hätte berühren können. Roan erledigte seine Aufgaben so gut er eben konnte, ging keiner Mission, ganz gleich, wie gefährlich sie auch immer war, aus dem Wege - und er war bisher stets nach Mnemosyne zurückgekehrt. Er wusste nicht, ob letzteres den König erschreckte oder erfreute. Die Prinzessin jedenfalls machte auf ihn immer den Eindruck, als freue sie sich, wenn er heil zurückkam.
Leonora schien sowohl die Hartnäckigkeit ihres Vaters als auch die Bereitschaft ihres Freiers, sich den Launen und Marotten des Königs zu unterwerfen, mit großem Amüsement zu betrachten. Manchmal fragte sich Roan, ob sie ihn nicht vielleicht auch auf eine Art Probe stellte. Roan warf einen letzten schiefen Blick auf den kleinen Thron. Er hoffte, er würde es erfahren, wann er die Prüfung bestand - falls er sie denn bestand. Er ertappte Thomasen dabei, wie er ihn mit einem vertrauten, freundlichen und väterlichen Lächeln anblickte. Widerstrebend lenkte er seine Gedanken wieder auf die Gegenwart, weg von Vergangenheit und Zukunft. »Sag mal, worum dreht sich eigentlich dieses ganze Tohuwabohu heute?«, fragte Roan und rückte ein Stück näher an seinen Vater heran. Die Historiker tuschelten wieder miteinander, untermalt von gelegentlichem Spucken. Thomasen blies Luft durch die Lippen und ein Hauch von Kamel kehrte in sein Gesicht zurück. »Pah! Das übliche Palaver über unwahrscheinlichen Nonsens«, sagte Thomasen. »Es geht das Gerücht, dass Carodil das Vertrauen des Königs gewann, sodass dem Rest von uns nur übrigbleibt, eine kunstvolle Art von Gebärdenspiel vorzuführen, was Seine Majestät betrifft. Ich sage, der König hält die Dinge gut im Gleichgewicht. Er hört sich zur Abwechslung halt einmal die andere Seite an, aber für Historiker sind sie bemerkenswert abgeneigt, diese Blickwinkelfacette zu verstehen.« »Niemand mag es, wenn seine Ideen ignoriert werden«, entgegnete Roan und legte erheitert den Kopf schief. »Hmmh!« Sie wurden von einen Trompetentusch unterbrochen. Der Herold, ein beleibter Mann in meerschaumgrünem Seidensamt und mit einem bemerkenswerten Kopfputz versehen, der sich in mehreren spiralförmigen Windungen einem Schneckenhaus
gleich auf seinem Haupt türmte, stolzierte wichtig vor den Trompetern her. »Meine Damen und Herren, erheben Sie sich! Bei der gnädigen Laune ihrer Schöpferischen Eminenzen, der Schläfer, Seine Ephemere Majestät, Byron, König der Träume!« Da bereits alle standen, wurde der Aufforderung des Herolds wenig Beachtung geschenkt, doch wandten sich alle dem Podium zu.
3. KAPITEL »Ruhe im Saal!«, kreischten die Papageien. Ein scharfer Blick des Herolds brachte sie zum Verstummen. Die weißen Seidenvorhänge auf der Vorderseite des Saales wurden zur Seite gezogen, und der König hielt Einzug. Er trug ein wallendes weißes Seidengewand und einen Turban mit einem riesigen leuchtend grünen Cabochon auf dem Federbusch, der auf der Vorderseite prangte. Ganz gleich, welches Gesicht er trug, der König des Traumlandes wirkte stets königlich. Die Knochen seiner Kinnlade, Wange und Stirn ließen die darunterliegende Kraft eines edlen Antlitzes erkennen. Unter scharf umrissenen, dunklen Brauen leuchteten tiefblaue Augen, die sich hurtig hin und her bewegten, um dem Blick jedes einzelnen im Saale zu begegnen. König Byron lächelte alten Freunden, treuen Höflingen und beliebten Dienern des Hofes zu. Sein strahlender Blick verharrte für einen Augenblick auf Roan und die Brauen hoben sich in freudiger Überraschung. Roan, der sich durch einen solch freundlichen Empfang geehrt fühlte, verneigte sich tief. Vielleicht hatte der König seinem Buhlen um Leonoras Hand wohlwollende Beachtung geschenkt. Als Roan sich mit dieser Frage im Blick wieder aufrichtete, hatte sich die Aufmerksamkeit des Königs indes bereits dem nächsten Mann zugewandt, sodass Roan weiter auf Mutmaßungen angewiesen blieb. Vielleicht würde er, da er ja mit einer guten Nachricht aufwarten konnte, später um eine kurze persönliche Audienz bitten, um zu sehen, wie seine Chancen standen. König Byron setzte sich. Er hielt sich so aufrecht wie er es auf den gehäuften Kissen seines Throns vermochte, der sich unterdessen von Marmor in kunstvoll geschmiedetes Gold verwandelt hatte. »Ich freue mich, euch alle hier zu sehen«, sagte er. »Es geht
euch allen gut, hoffe ich?« Die Antwort bestand aus bestätigendem Gemurmel und Verbeugungen. Der Herold räusperte sich erneut und donnerte: »Meine Damen und Herren! Ihre Gütige Majestät, die Königin!« Begleitet von einem Tross von Hofdamen und Doctores begab sich die Königin zu ihrem Thron und ließ sich mit niedlicher Anmut auf ihm nieder. Seit Jahren hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Ihre Majestät an einer rätselhaften Krankheit litt, doch nicht einmal die eifrigsten Klatschbasen vermochten ihren medizinischen Beratern irgendwelche Details zu entlocken. Roan selbst hatte nie den Eindruck, dass ihr irgendetwas fehlte. Sie schien sich zumindest wohl genug zu fühlen, um an den meisten Bällen und Lustbarkeiten teilzunehmen und sie förderte nach Kräften die schönen Künste. »Meine Damen und Herren, Ihre Höchst Bewundernswerte Hoheit, Prinzessin Leonora!« Die Trompeten schmetterten einen etwas melodischeren Tusch als zuvor beim Einzug ihrer Eltern. Zwischen den Seidenvorhängen hervor kam eine Parade von Pagen und Kammerzofen. Ein erwartungsvolles Raunen erhob sich im Saal, als Drea, die alte Amme der Prinzessin, erschien. Sie gluckste und streckte die Hand aus, um ihrem Mündel Hilfe anzubieten, aber ein sanfter Protest ließ sie die Hand wieder zurückziehen. Leonora erschien, groß und schlank, den Kopf an die Adresse Dreas schüttelnd. Roan erhaschte den rasch wieder versteckten Ausdruck wehmütiger, aber liebevoller Belustigung in den Augen der Prinzessin. Die alte Frau würde niemals begreifen, dass Leonora erwachsen geworden war. Aber das war sie - unübersehbar. Leonora ließ den Blick ängstlich über die Menge schweifen, als sie sich auf ihrem kleinen, mit Kissen ausgepolsterten Thron niederließ. Sie stützte ihre zierlichen, in
Schnabelslippern aus weißem Satin steckenden Füße auf ihren Piedestal. Als ihr Blick auf Roan fiel, lächelte sie und schien aufzuatmen. Roan fühlte, wie ihm der Atem stockte und seine Wangen heiß wurden. Roan liebte sie doch so sehr und wurde durch das Wissen belohnt, dass sie ihn ebenfalls liebte. Bergold gab ihm einen harten Knuff in die Rippen. »Da, und du hast dir Sorgen gemacht!«, sagte er neckisch. Er trug ein mildes Lächeln, das seine rougebedeckten Wangen bauschte. »Sssch!« Roan schob seinen Ellenbogen weg, aber er war nicht wirklich ärgerlich. Der Herold trat gebieterisch vor. »Ruhe für den König!«, brüllte er, mit jedem Schrei um die Hälfte seines Umfanges schrumpfend. Das Stimmengedröhn sank zu einem mürrischen Gemurmel und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Thron. »Meine Damen und Herren!«, sprach König Byron und seine sonore Stimme füllte jeden Winkel der großen Halle aus. »Wir haben euch heute hergebeten, auf dass ihr eure Jahresberichte vortragt. Wir freuen uns darauf, von jedem einzelnen von euch zu hören.« Das gedämpfte Gemurmel steigerte sich zu einem aufgeregten Geschnatter, dem der Papageien über ihren Köpfen nicht unähnlich. Byron hob die Hände, um Ruhe zu erheischen. »Einer nach dem andern«, rief er und schüttelte lächelnd den Kopf. »Mein lieber Herold, rufe er unseren ersten Minister auf.« »Meister Kaulb, der Königliche Schatzmeister!« Kaulb, ein gebeugter alter Mann in einem sauberen, aber abgetragenen Gewand, kam auf wackligen Beinen nach vorn getattert. Roan kannte ihn als einen äußerst sparsamen Mann, einen würdigen Wächter über den Reichtum des Reiches. »Nun, Eure Majestät«, begann Kaulb, ein Pergament
entrollend, das er aus dem Ärmel gezogen hatte. Es entrollte sich Elle um Elle, bis sein Ende schließlich in der Menge verschwand. »Hier ist eine Aufstellung der Güter und Wertsachen, die mir für die Dauer des letzten Jahres zur Verwahrung anvertraut worden sind ...« Roan trat von einem Fuß auf den ändern, während der Schatzmeister seine endlose Liste herunterleierte. Die monotone Stimme des alten Mannes versetzte ihn in eine schwankende Trance. Allein die gelegentlichen Blicke, die er auf die Prinzessin warf, bewahrten ihn vor dem Einschlafen. Sie langweilte sich ebenfalls, saß aber in vollendet gerader Haltung auf ihrem Thron. Wenn sie das ertragen konnte, dann konnte er es auch. »Und das ist alles«, kam Kaub endlich zum Schluss. Tosender Beifall erhob sich aus der Menge, als er vom Podium herunter trat. König Byron reckte sich auf und rückte seinen Turban wieder zurecht, der ihm beim Nicken über ein Auge gerutscht war. »Höchst umfassend«, sagte der König mit beifälliger Miene. »Wer kommt als Nächstes, Herold?« »Carodil, Ministerin für Wissenschaft!«, blökte der meerschaumgrün Gewandete. Die Wissenschaftsgruppe stand am anderen Ende des Saales, von den Historikern aus gesehen: eine Traube blau und weiß bekittelter Männer und Frauen, die meisten von ihnen jung. Das Wissenschaftsministerium verfügte über mehr Lehrlinge als alle anderen Ministerien zusammengenommen. Carodil war eine hochgewachsene, schlanke Frau in mittleren Jahren. Zurzeit hatte sie ein niedliches, rundes Gesicht von milchweißem Teint, der in scharfem Kontrast zu ihren stechenden dunklen Augen und ihrem dunklen Haupthaar stand. Sie blieb stehen, wo sie stand und bot eine oberflächliche Verbeugung dar.
»Ich möchte dem nächsten Minister den Vortritt lassen, Eure Majestät«, sagte Carodil und machte erneut eine flüchtige Verbeugung. »Mein Bericht ist von einiger Länge und großem Gewicht. Ich möchte nicht, dass irgend jemand mit seinem gewiss unbedeutenderen Bericht warten muss, bis ich mit dem Vortrage des meinen fertig bin. Vielleicht sollte ich als letzte vortragen.« »Was für eine hochtrabende Sprache!«, flüsterte Bergold Roan zu. »Nun gut, so sei es denn«, sagte der König und schnippte mit den Fingern in Richtung Herold. »Rufe er den nächsten Minister.« Der Herold beschrieb eine schwung- und achtungsvolle Verbeugung, einen bewussten Kontrast zu Carodils hochmütigem Kopfnicken setzend und das Gemurmel setzte von neuem ein. Es wurde kaum schwächer, als Galman, der Königliche Zoologe, zum Podium schritt. Er war ein großer, herzlicher Mann, der über eine donnernde Stentorstimme gebot. Ohne abzuwarten, bis sein Gewand aufhörte, ihm um die Knöchel zu flattern, warf er die Hände in die Luft und dröhnte: »Gute Nachrichten, Eure Majestät, liebe Freunde! Ich habe soeben aus der Stadt Ephemer die Meldung empfangen, dass in Wocabaht ein Pegasus gesichtet wurde!« Freudiger Tumult brach aus. »Oh! Welcher Art?«, fragte Prinzessin Leonora und beugte sich neugierig auf ihrem zierlichen Thron vor. »Ein weißer, Eure Hoheit, mit grauen Tupfern auf Schwingen und Schweif«, verkündete der Zoologe mit einer höflichen Verbeugung in ihre Richtung. »Ahhh.« Ein Seufzer der Zufriedenheit ging durch den Thronsaal. Von allen Überbleibseln aus dem Kollektiven Unbewussten erregten mystische Kreaturen das größte Interesse. Selbst Roan, so weitgereist, wie er war, hatte die
meisten der Fabeltiere, die gelegentlich im Traumland auftauchten, noch nicht zu Gesicht bekommen. »Er wurde zum ersten Mal gesehen, als er die Wipfel von ein paar Apfelbäumen im Obstgarten des Augenzeugen nahe der Stadt Sona abweidete«, fuhr der Zoologe fort, ganz aufgeregt. »Von dort aus flog er in Richtung der Berge weiter. Als der Mann einsah, dass er ihm zu Fuß nicht folgen konnte, verständigte er sofort die lokalen Behörden. Eine kleine Gruppe wurde daraufhin ausgeschickt, seine Fährte wieder aufzunehmen.« »Sie werden ihn nicht finden«, sagte Datchell und schüttelte seinen Kamelkopf. »Sie haben Glück gehabt, dass sie überhaupt einmal in ihrem Leben einen gesehen haben. Ich erinnere mich an das letzte Mal, da ich von Berichten über Dinosaurier hörte und das ist dreißig Jahre her. Die Fußabdrücke endeten am Rande eines Sumpfes. Nicht eine Spur!« »Ich habe einmal einen von diesen Neandertalern gesehen«, sagte Telsander vom Ministerium für Kontinuität, wobei er aus seinen Schlitzaugen zur reichverzierten Decke starrte. »Ein Weibchen. Sie war mit zottigen Fellen bekleidet und trug eine Halskette. Ich meinte auch einen kurzen Blick auf einen männlichen Höhlenmenschen erhascht zu haben. Er saß hinter ihr am Rande des Pfades. Beide verschwanden. Hmm! Es ist immer wieder verblüffend, wie diese Dinge sich halten. Höhlenmenschen werden seit über zehntausend Jahren in den historischen Chroniken verzeichnet. Sie sind REAL.« »Ich habe vor einigen Jahren mal einen Höhlenmenschen gesehen«, erhob Roan seine Stimme. »Ach, tatsächlich!«, rief Telsander und zog ein kleines Buch und einen Bleistift aus der Tasche seines Talars. »Vielleicht war es ja derselbe. Da er nur eine Volkserinnerung ist, wäre der Bursche nicht gealtert. Gib mir eine Beschreibung, so
ausführlich, wie du möchtest.« Er leckte an der Spitze seines Bleistiftes und hielt ihn erwartungsvoll über dem Papier in der Schwebe. Roan holte tief Luft. »Psst!«, sagte Thomasen, aus beiden die Luft ablassend. »Du findest die Einzelheiten seiner Beobachtungen in dem Akaschischen Aufzeichnungen. Ich will mehr über diesen Pegasus hören.« Seine freundliche Stimme trug weit genug, dass der Zoologe sie hören konnte. Galman wandte sich mit einer leichten Verbeugung zu den Historikern. »Leider gibt es nicht mehr zu berichten«, sagte er mit einem entschuldigenden Achselzucken. »Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass es zweifelhaft ist, ob unsere Zeugen noch einmal etwas von ihnen sehen werden. Es ist unmöglich, an den älteren Erinnerungen lange festzuhalten.« »Mmmf!«, schnaubte Carodil mit einem vielsagenden Blick zu ihrem Gefolge. Roan warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Ich rufe Micah auf, den Primus der Historiker!«, verkündete der Herold mit getragenem Pathos. Die Historiker bildeten eine Gasse, als ihr Senior gesenkten Hauptes nach vorn schritt, während sein Gesicht sich von dem eines Kamels in eines mit etwas menschlicheren Zügen verwandelte. »Eure hochverehrte Majestät«, sagte er und hob dem König ein freundliches, runzliges Gesicht entgegen. Roan fühlte, wie ihm das Herz vor Schreck in die Hose rutschte. Die Vortragsstimme des Mannes klang genau so, wie Roan sie in Erinnerung hatte: ein monotones Brummen, bei dem er allein schon vom Zuhören müde wurde. Mit ein bisschen Glück würde der Bericht des Geschichtsministeriums kurz ausfallen. »Ich kann zu meiner Freude berichten, dass die Daten bis dato korrekt geführt werden und dass keine verifizierbaren Fehler in die permanente Aufzeichnung Eingang finden. Da jetzt der
Beginn der Frühlingssaison ist, schließen wir einen Band ab, in welchem alle Beobachtungen aufgezeichnet sind und fangen mit dem nächsten an. Mit diesem neuen Jahr sind es dann insgesamt achtzigtausendsechshundertsiebenundfünfzig, die wir in den Archiven des Traumlandes seit seinem Anbeginn in der einen oder anderen Form aufgezeichnet haben. Wir sind stolz auf unsere Sorgfalt.« Micah musste die Stimme heben, um spöttische Zwischenrufe und Pfiffe zu übertönen. »Aber, Eure Majestät, da wir angehalten sind, alle Ereignisse von Belang aufzuzeichnen, die irgendwo im Traumland stattfinden, wäre es sehr hilfreich, wenn wir mehr Hilfskräfte bekommen könnten.« »Ach, komm, Micah! Wenn jemand mehr Hilfe und Unterstützung braucht, dann doch wohl wir!«, protestierte Galman. »Dazu sage ich ein klares Nein, Eure Majestät«, erwiderte Micah unter nochmaligem Anheben seiner Stimme, um die Proteste von allen anderen anwesenden Ministerien und Ämtern zu übertönen. »Sie werden es mir natürlich verzeihen, dass ich es erwähne, Eure Majestät, aber es wird von uns nicht nur erwartet, dass wir uns über die Entdeckungen seines Hauses auf dem laufenden halten, sondern auch über die aller anderen Ministerien, ganz zu schweigen davon, dass wir gehalten sind, jeden einzelnen Band sowie die Sammlung in ihrer Gesamtheit in lesbarem Zustand zu halten.« Er sandte einen scharfen Blick in die Richtung von Carodils Leuten. »Manch einer versteht nicht, dass die historischen Aufzeichnungen nicht überprüft werden dürfen. Ich bin bis an die Grenze damit ausgelastet, Kopien für die bereitzustellen, die sie anfordern. Da ist die Bereitstellung zusätzlicher Hilfskräfte gerade jetzt von höchster Priorität.« »Ich werde die Angelegenheit in Erwägung ziehen, guter Micah«, sagte König Byron. »Der Nächste bitte.« Roan unterdrückte gerade noch rechtzeitig ein Gähnen, um zu hören,
wie der Herold einen Namen aufrief, der nicht der seine war. »Ich rufe Romney auf, die Königliche Geografin!« Eine einzelne Frau drängte sich durch die Menge nach vorn und bezog Stellung vor dem Thron. Roan lächelte sie an und wurde mit einem freundlichen Nicken belohnt. Beifälliges Gemurmel erhob sich. Romney war die beliebteste von allen Ministern des Kabinetts. Sie besaß ein äußerst anpassungsfähiges Naturell, was dem in stetem Wandel befindlichen Antlitz der Karte des Traumlandes, die in ihrer Obhut war, entgegenkam. Zurzeit war sie klein, dunkelhaarig, dick und quirlig und hatte rote Pausbacken und leuchtend blaue Äugen. Keine Entourage begleitete sie, aber sie besaß überall im Saal Freunde und Verbündete. Sie hielt ein kleines Quadrat aus knisternder glatter Leinwand in der Hand, in dem Roan die Große Karte des Traumlandes wiedererkannte. Auf ein Zeichen des Königs hin begann Romney es zu entfalten. Sie entfaltete und entfaltete, bis die Karte so groß war, dass Romney zur Gänze hinter ihr verschwand. Zwei Lakaien sprangen herbei und halfen ihr, sie auf einen Kartenständer in der Nähe des Throns zu legen. Einmal ausgebreitet, füllte sich die Leinwand mit feinen schwarzen Linien, Punkten und Lettern; gleichzeitig begann sie die der Topografie gemäßen Farben anzunehmen: blau für Flüsse und Seen, grün für Niederungen und braun in diversen Abstufungen für Hochland und Gebirge. Romney schritt um den Ständer herum zur Vorderseite der Karte und zeigte auf einen dicken braunen Fleck. »Gegenwärtig kann ich einen Gebirgsausbruch südwestlich von Rem melden«, führte sie aus. »Eine Bodensenkung entlang des Lullays bei Hiyume in Elysien während der letzten paar Monate hat Weideland durch tiefliegenden Dschungel ersetzt. Sehr sumpfig und übelriechend. Wir erhalten Berichte über ungewöhnliches Wildvorkommen. Nicht alles davon ist willkommen. Moskitos von der Größe einer menschlichen
Faust. Sie rotten sich zu Banden zusammen und verschleppen Nutztiere.« Ein paar Leute in der Menge sogen scharf Luft ein und Romney nickte gewichtig. »Das geht mehr in Ihr Gebiet«, sagte der König und nickte dem Königlichen Zoologen zu, der sich mit seinem Bleistift eine kurze Notiz auf seinen seidenen Ärmel kritzelte. Mit energischen Gesten erläuterte Romney sodann jede einzelne Veränderung im Terrain, die während des abgelaufenen Jahres stattgefunden hatte. »Der Tangeray hat seinen Lauf näher an die Stadt Osier verlegt«, sagte sie und stieß die Luft mit beiden Handflächen vorwärts, als wolle sie dem Strom auf die Sprünge helfen. Auf der Karte schien die dünne blaue Linie den schwarzen Punkt mit der Bezeichnung >Osier< regelrecht anzustupsen, während letztere den Kontakt mit ihr offenbar zu vermeiden trachtete. »Das führt dazu«, führte sie weiter aus, »dass sich das gesamte Tangeraytal nach Südwesten verschiebt. Die Chance, dass die Stadt überflutet wird, liegt bei sechzig Prozent.« Ihre Hand wischte über den schwarzen Punkt namens >Osier<. »Die Bewohner sind angewiesen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Wir möchten der Lage vorbeugen, bevor sie sich zu einem Notstand auswächst. Ich fürchte, dass, wenn es dem Tangeray gelingt, Osier zu überfluten, es womöglich zu weiteren Uferübernahmen anderswo in der Provinz kommen wird. Mehr als sie entwickelt.« Sie zeigte auf ein Paar schroffer Felsenkliffs, die sich an der Grenze zwischen Rem und Wocabaht gegenüberstanden. »Wir haben es hier mit einer Eskalation zu tun, die wir, vermute ich, auf die Rivalität zwischen zwei Dörfern zu beiden Seiten der Scheidelinie zurückführen können. Die beiden Felsenufer begannen als kleine Erhebungen, doch inzwischen haben wir es auf beiden Seiten mit kapitalen Landspitzen zu tun, die mit jedem Tag höher und schroffer werden. Noch sind sie nicht groß genug, um sich auf das Klima auszuwirken - noch reichen sie nicht bis zu den
Wolken. Ich habe jedenfalls vorsichtshalber einen Beobachter am Ort des Geschehens postiert.« Sie trat von der Karte zurück und faltete die Hände. »Das wäre dann alles, Eure Majestät; aber ich habe Meister Roan dort drüben entdeckt. Ich lasse mit Ihrer Erlaubnis - die Karte aufgeschlagen. Es könnte sein, dass ich, nachdem er vorgetragen hat, die eine oder andere Aktualisierung vornehmen muss.« »Sehr schön«, sagte der König und winkte Roan nach vorne. »Ach, meine Neuigkeiten sind nur von geringer Bedeutung«, bemerkte Roan wie beiläufig, mit einem Blick zurück auf die Traube der Wissenschaftler. »Sie können ruhig noch bis später warten. Es wäre mir eine Freude, Madame Carodil den Vortritt zu lassen. Die Ministerin für Wissenschaft hat anscheinend mit einer interessanten und zweifellos eminent bedeutungsvollen Neuigkeit aufzuwarten.« Er verbeugte sich tief, zuerst vor dem Thron, dann noch einmal in die Richtung der Wissenschaftsministerin. »Ich bin äußerst gespannt darauf, was sie zu sagen hat.« Carodil, inzwischen volle siebeneinhalb Fuß hoch, starrte mit loderndem Blick auf ihn herunter. Er lächelte sie an, um eine Unschuldsmiene bemüht, wohl wissend, dass sein Gesicht sich nicht verändern und ihn verraten würde. Bergold, der halb verdeckt hinter ihm stand, stieß Roan mit dem Ellenbogen in die Rippen und gluckste fröhlich. »Ja, nun denn, gut«, sagte König Byron, ungehalten über den internen Zank und die Verzögerung. »Rufe er Carodil auf!« »Ich rufe Carodil auf, die Ministerin für Wissenschaft!«, donnerte der Herold. Alle Augen richteten sich auf die Gruppe am hinteren Ende des Saales.
4. KAPITEL Roan konnte sehen, dass Carodil sehr verärgert war. Sie hatte eigentlich als letzte sprechen wollen, aber nach Roans zuvorkommendem Zurücktreten hätte eine zweite Weigerung zu dick aufgetragen gewirkt. Also biss sie in den sauren Apfel und wandte sich von dort, wo sie stand, an das Publikum, ihre Stimme so ausrichtend, dass auch der König sie hören konnte. »Eure Majestät, der Sohn des Historikers hat vollkommen Recht«, begann sie, Roan mit einer wedelnden Handbewegung, die an das Verscheuchen eines Insekts erinnerte, entlassend. »Ich freue mich, einen bedeutenden Durchbruch verkünden zu können. Die Ausführungen der anderen Ministerien sind der schlichte Beweis dafür, dass das, was ich zu sagen habe, nicht einen Augenblick zu früh gekommen ist. Das Sichten des kostbaren Pegasus wäre nicht eine solch flüchtige Erscheinung gewesen, noch hätten wir Ausbrüche von Gebirgen oder das Auftauchen von Riesenmoskitos zu verzeichnen gehabt, hätte die Welt bloß bereits Zugang zu dem neuesten Verfahren gehabt, das meine Leute ersonnen haben.« »Das klingt spannend, Carodil«, sagte König Byron und richtete sich gespannt in seinem Kissenberg auf. »Was ist das für ein Verfahren?« Carodil war nur zu froh, endlich mit ihren Ausführungen loslegen zu können. Sie hob den Spazierstock, den sie in der Hand hielt. Der kugelförmige Knauf begann zu leuchten. »Mein Lehnsherr, meine Damen und Herren! Wir vom Ministerium für Wissenschaft sind stolz darauf, verkünden zu dürfen, dass unsere Experimente mit kooperativer Kraft erfolgreich verlaufen sind. Es ist uns gelungen zu lernen, unsere Intellekte zu kombinieren und die volle Kontrolle über die Realität zu erlangen. Durch die Anwendung dieser Technik
sind wir nicht länger den Launen passagerer Einflüsse ausgeliefert und können de facto die Realität in solchem Maße verändern, dass sogar die Macht der Schläfer selbst ausgeschaltet ist!« Sie ließ den Stock schwungvoll nach unten sausen und rammte ihn mit der eisernen Zwinge hart auf den Boden, um ihren Worten auch akustisch den gebührenden Nachdruck zu verleihen. Ihre Zuhörer warteten genau eineinhalb Sekunden, bevor sie in hysterisches Lachen ausbrachen. »In Ihren Träumen vielleicht!«, prustete Micah und schwenkte mit der Hand seinen weißen Bart in Carodils Richtung. »Es ist Fakt«, beharrte die Ministerin und pumpte sich noch ein Stück mehr auf, bis sie gut neun Fuß hoch ragte. »Ich würde solange nicht an Atome glauben, bis Sie mir welche zeigten«, rief Micah. Er verschränkte die Arme vor der Brust und reckte sich auf eine Größe von zehn Fuß hoch, um auf sie hinunterschauen zu können. »Und ganz sicher werde ich nicht an eine solch unerhörte Behauptung wie diese glauben. Beweisen Sie sie.« »Das will ich gern tun!«, versetzte Carodil und pumpte sich zu einer Größe von zwölf Fuß hoch. »Genug Eskalation!«, donnerte der König. Der Herold erheischte mit Stentorstimme Ruhe. »Haben Sie irgendeinen Beweis für diesen erstaunlichen Durchbruch?« »Es wäre uns eine große Freude, Eurer Majestät eine Demonstration liefern zu dürfen«, schnurrte Carodil mit einer knappen Verbeugung. Sie ließ sich auf eine Größe von sieben Fuß zurückschrumpfen. Micah senkte sich wieder auf Durchschnittsgröße und ein Murmeln erhob sich unter den Historikern. »Auf jeden Fall«, rief der König und klatschte in die Hände. »Ich bin so neugierig wie jeder andere hier. Fahren Sie fort.«
»Jeder kann die Realität ein bisschen beugen«, sagte Thomasen zu Roan und Bergold. »Sie täte gut daran, mit etwas wirklich Spektakulärem aufzuwarten.« Carodil begab sich zur Vorderseite des Saales. Sie wedelte mit der Hand hin und her und die Menge öffnete ihr eine Gasse. Sie überragte sie um Haupteslänge, als sie an ihnen vorbeiging. Ein stattlicher Mann mit blauen, von schweren Lidern verhangenen Augen und ziemlich dicken Lippen schloss sich ihr an. Er selbst hatte zehn junge Männer und Frauen im Schlepptau. Im Gegensatz zu ihren Vorgesetzten, die fast ein wenig reserviert wirkten, machten sie einen ziemlich aufgeregten, nervösen Eindruck. Roan musste sich eingestehen, dass auch er ein erwartungsvolles Kribbeln verspürte. Die Blicke der Umstehenden waren neugierig auf die Wissenschaftsgruppe gerichtet. Dies schien etwas Neues zu sein. Nachdem sie noch einmal eine ihrer sparsamen Verbeugungen vor dem König beschrieben hatte, wandte sich Carodil der Menge zu. »Ich gebe das Wort jetzt weiter an meinen Obersten Forscher, Meister Brom, der dieses Projekt für mich geleitet und überwacht hat.« Sie trat beiseite und der beleibte Mann nahm ihren Platz ein. »Ich vernahm heute einige Klagen darüber, dass die großen Fabeltiere zuletzt sehr zurückhaltend waren, was ihr Erscheinen betrifft«, begann Brom, hochmütig an seiner schnabelartigen Nase herunterspähend. Seine halbgeschlossenen Augen glänzten vor Belustigung. Er schürzte die Lippen. Sein Mund schien geradezu geschaffen für herablassendes Lächeln. »Erlauben Sie uns, Ihnen zu zeigen, wie wir die Realität so biegen können, dass sie solche Erscheinungen geradezu produziert.« Brom wandte sich dem König zu und winkelte den rechten Arm gerade ab, sodass er eine Linie mit der Schulter bildete. Seine Günstlinge machten einen Kreis um ihn, mit dem Rücken
nach außen, und streckten ebenfalls den rechten Arm aus, die Hände übereinanderstapelnd, sodass sie gleichsam mit seiner die Nabe eines Rades bildeten, dessen Speichen ihre Arme waren. »Schauet den Schmelztiegel!«, intonierte Brom. Er schloss die Augen und murmelte. Die Lehrlinge schlossen darauf ebenfalls die Augen und stimmten in das Gemurmel ein. Selbst aus der Distanz konnte Roan spüren, dass ihren Handlungen ein tieferer Sinn innewohnte. Ein schwacher Sog schien sich in der Luft zu bilden, der ihn sanft zu dem Kreis zog. Die Luft über dem Knoten von Händen veränderte sich. Ein Messingkandelaber, der hinter ihnen zu sehen war, schien sich in sich selbst zu verdrehen und dann jäh in seine Ausgangsform zurückzuschnellen, doch nur, um sich in eine neue Brezelform zu verwandeln. Roan machte sich bewusst, dass nicht der Kandelaber sich veränderte, sondern sein Anblick durch die Luft. Die Wissenschaftler verbogen die Realität. Verblüffend. »Verblüffend!«, flüsterte Bergold. »Sie kombinieren tatsächlich ihre Kräfte! Kannst du die Kraft spüren, die sie zusammenziehen?« Roan nickte stumm, fasziniert von dem Geschehen. Dies war etwas Neues, etwas Machtvolles. Fadenähnliche Materieströme flossen auf den brodelnden Luftstrudel zu und ergossen sich in eine amorphe Form. Die Form wand sich, zuckte, bockte, überschlug sich zweimal und verdichtete sich zu einem kleinen grünen Drachen. Und vor den Augen des mit offenem Mund starrenden Roan breitete der Drache seine durchsichtigen Fledermausschwingen aus, schoss aus den Grenzen des Kreises heraus und flog durch den Saal. Die in der Nähe des Thrones Stehenden warfen sich flach auf den Boden und schrien, als die leuchtende Bestie auf sie herabstieß. Ein Stück Tapete löste sich von der Wand, als sie vorüberflog und die kleine Bestie machte in der Luft auf ihrem Schwanz kehrt und verbrannte den Fetzen Tapete mit einem
Feuerstoß aus ihrem Schlund zu Asche. Roan sprang hoch. Die Kreatur war echt. Der Drache vollführte eine weitere Haarnadelwendung und schoss pfeilschnell auf die Throne zu. Es war allein die Erinnerung, die Roans Beine antrieb, als er vorwärts stürmte und sich fragte, ob er die Throne noch rechtzeitig erreichen würde. König Byron saß kerzengerade und hochaufgerichtet auf seinem Kissenstapel und starrte dem heranrauschenden Ungetüm furchtlos entgegen. Die zu seiner Rechten thronende Königin kreischte auf und sank ohnmächtig zu einem Häufchen Seide zusammen. Ihre Damen stürzten sogleich zu ihr. Die Gardisten, in der Annahme, der König sei die Zielscheibe dieser Demonstration - oder dieses Attentatsversuchs - warfen sich todesverachtend zwischen ihren Monarchen und die heranbrausende Gefahr. Leonora -zur Linken des Königs - saß ebenfalls aufrecht auf ihrem Thron, aber Roan bemerkte deutlich, dass sie Angst hatte. Der Drache riss sein Maul auf und jagte einen weiteren Stoß prasselnden gelben Feuers hinaus. Roan war zu weit entfernt. Leonora würde vor seinen Augen zu Tode gesengt werden. Kurz bevor die Flammen die seidenen Banner erreichten, die über Byrons Haupt hingen, bewegten die Wissenschaftler ihre Hände und brachen die Verbindung ab. Schlagartig verschwanden Drache und Feuer. Roan kam schlitternd zum Stehen, auf die Stelle starrend, an der der Drache eben noch gewesen war. Aus der Menge kamen Ausrufe der Verblüffung. Die Gardisten hielten argwöhnisch nach dem Drachen Ausschau. Hauptmann Spar, ein Koloss von einem Mann in den Fünfzigern, schleuderte lodernde Blicke auf das Wissenschafts-Häuflein und beorderte zwei seiner Männer zu ihrer Bewachung für den Fall, dass sie weitere Darbietungen faulen Zaubers probieren sollten. »Sehr beeindruckend!«, sagte der König, enthusiastisch Beifall klatschend. Vergnügt schlug er sich auf die
seidenumhüllten Schenkel. »Beim Himmel, das ist gut!« Er schaute zu seiner Königin, die unter der Obhut ihrer Damen gerade wieder zu sich kam. Sie nickte ihm schwächlich zu. Sodann wandte Byron sich Leonora zu, die stumm und zitternd neben ihm saß und legte seine Hand auf ihre, welche wiederum auf der Armlehne ihres Thrones ruhte. »Bist du wohlauf, meine Teure?« »Ja, Vater«, antwortete Leonora, und es erfüllte Roan mit Stolz, dass ihre Stimme stark klang, ohne eine Spur von Zittern. Sie schluckte. »Wie du schon sagtest, es war beeindruckend.« »Das war es in der Tat«, bekräftigte Byron beifällig nickend und wandte sich wieder den Wissenschaftlern zu. »Aber von dem verblüffenden Effekt und der Tauglichkeit für bunte Abende einmal abgesehen, Madame Carodil, welches sind die praktischen Anwendungsmöglichkeiten?« »Sie sind unbegrenzt!«, sagte Carodil. Ihre Augen glänzten. »Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass es als lebensrettende Maßnahme in Zeiten eines Umbruches dienen könnte.« »Unzulässige Manipulation des Willens der Schläfer«, knurrte Micah. Roan hörte, dass eine Gefühlsregung durch die Menge ging. »Gut, dass es nicht allmächtig ist«, brummte Datchell. »Dieses Monstrum hätte Seine Majestät töten können.« »Überhaupt nicht«, erwiderte Roan mit einem kurzen Blick zu seinem alten Peiniger. »Der König hätte das Monstrum mit einer Handbewegung auslöschen können.« »Das hätte er«, sagte Bergold erleichtert. »Bloß weil er die Realität nicht oft verändert, heißt das nicht, dass er es nicht könnte. Er ist so viel wert wie tausend von uns. Ich könnte mir denken, dass er, wenn er wollte, sogar selbst Drachen herbeizitieren könnte.«
»Er würde gewiss nicht derart in den Willen der Schläfer eingreifen«, meldete sich Olmus zu Wort, mürrisch seinen Spazierstock schwenkend. Er war der älteste der Historiker. Er behauptete, schon so lange zu leben, dass er in jeder Provinz bereits mindestens zweimal Umbrüche erlebt hatte. »Hmmpf!«, schnaubte Datchell, seine herabhängende Kamellippe vorstülpend. Er kannte das Maß der königlichen Macht ebenso gut wie Bergold, aber er war in einem Augenblick der Unachtsamkeit erwischt worden. Seine Genossen würden diese Art von Lapsus nicht vergessen. Er schaute Roan wütend an. Roan wandte seine Aufmerksamkeit rasch wieder dem Podium zu. »Ist diese Studie schon weit fortgeschritten?«, fragte Byron die Wissenschaftler. Carodil verbeugte sich kaum merklich und hob die Hand, um auf ihren Assistenten zu verweisen. »Es ist Meister Broms Projekt«, erklärte sie. »Es ist sehr weit fortgeschritten, Eure Majestät«, sagte der korpulente Wissenschaftler in gewichtigem Ton. Er schritt an seiner Vorgesetzten vorbei zum Thron und verbeugte sich tief. »Wir haben zahlreiche Studien durchgeführt. Eine Person hat nur so und so viel Einfluss, aber unsere Untersuchungen beweisen, dass die Stärke einer Gruppe größer ist als die Summe der Kräfte ihrer einzelnen Mitglieder.« »Exzellent!«, rief der König. »Ich bin von den Ergebnissen sehr beeindruckt.« Broms Gesicht erstrahlte. »Vielen Dank, Eure Majestät! Tatsächlich haben wir so viel Vertrauen in unsere neue Fähigkeit, als Gruppe die Realität zu steuern, dass wir glauben, bereit zu sein, die größte Herausforderung dieses Jahres überhaupt annehmen zu können. Unser nächstes großes Experiment soll sein, die sieben Schläfer zu wecken!« »Was?«, fragte der König ungläubig. Er schnappte ein
messingnes Hörrohr einfach so aus der Luft und hielt es an sein Ohr. »Ich bitte um Verzeihung. Ich kann nicht glauben, richtig gehört zu haben.« »Ich auch nicht«, sagte Bergold atemlos zu Roan. »Schau dir Carodil an! Das hat sie nicht erwartet!« Die Ministerin für Wissenschaft sah schockiert aus, wurde aber aufrechtgehalten von ihrer Würde inmitten der Menge, die ihrer Entrüstung lautstark Ausdruck verlieh. Ein paar von ihnen ließen sich über den Köpfen der anderen schweben, um die Aufmerksamkeit des Königs zu erhäschen, doch Byrons Interesse konzentrierte sich gänzlich auf Brom. »Vielleicht sollten Sie noch einmal wiederholen, was Sie da soeben gesagt haben.« »Ich sagte«, schrie der Wissenschaftler über den Tumult hinweg, jede einzelne Silbe hervorhebend, »dass wir vorhaben, die Schläfer zu wecken.« »Alle auf einmal?«, fragte Telsander. »Mit voller Absicht?«, begehrte Micah zu wissen. »Natürlich!« »Blasphemie!«, schnaubte Micah. »Wie können Sie es wagen, so etwas vorzuschlagen?« »Ich diene allein der Wissenschaft«, erwiderte Brom. »Es ist unsere Aufgabe, Dinge in frage zu stellen.« »Haben Sie auch nur die leiseste Idee, was Ihr Vorschlag bedeuten könnte?«, fragte Synton, der Minister für Kontinuität. »Kennen Sie die Große Theorie nicht? Die Schläfer halten das Stützwerk unserer gesamten Existenz aufrecht! Es ist schon schlimm genug, wenn es zu einem Umbruch kommt, wenn ein Schläfer ausscheidet oder dahinscheidet oder was auch immer es ist, was Sie tun! Jede angrenzende Provinz wird überflutet von zu Tode verängstigten Flüchtlingen, die über die Grenze aus dem betroffenen Gebiet strömen! Angst! Aufruhr!
Zerstörung! Wie kann von uns erwartet werden, Kontinuität für die Schläfer zu wahren, wenn es für uns selbst keine gibt? Dies könnte zu Massenerhebungen führen!« »Könnte«, sagte Brom selbstgefällig. »Es ist nur eine Theorie.« Er schnippte mit den Fingern, und einer seiner persönlichen Günstlinge trat vor, einen Stapel Papiere präsentierend, die mit Zahlenkolonnen vollgeschrieben waren. Der junge Mann sah sich schüchtern um, gewahrte all die eminenten Persönlichkeiten, die ihn erwartungsvoll anstarrten, und ließ sich rasch einen Bart wachsen, um erwachsener auszusehen. »Tatsächlich haben wir keinerlei Beweis dafür, dass die Große Theorie stimmt.« »Alles Theorie!«, schnaubte Micah. Roan spürte einen fürchterlichen Knoten aus Angst und Ungewissheit in seinem Bauch. Alles, worauf er sein Leben gegründet hatte, seine persönliche Existenzphilosophie konnte es sein, dass dies alles falsch war? »Wir beabsichtigen nachzuweisen, dass die Theorie wahr ist«, sagte Brom. »Oder falsch.« »Indem Sie das ganze Traumland zerstören!«, rief Micah mit blankem Entsetzen in der Stimme. »Sie könnten dabei Ihre eigene Existenz verwirken!« »Möglich, mein Herr, möglich«, näselte Brom. »Aber vielleicht - wahrscheinlich - nicht, wenn unsere Berechnungen stimmen. Das ist unsere Theorie. Aus diesem Grunde haben wir eine Vorrichtung erschaffen!« Er winkte erneut. Zwei Männer, offenbar Zwillinge, mit schweren, vorstehenden Kinnladen und je einem üppigen Schöpf unbändigen hellbraunen Haupthaares, bückten sich simultan und hoben eine Trage, auf der ein großes, verhülltes Etwas ruhte. Es war so groß, dass Roan gar nicht begreifen konnte, warum es ihm bis jetzt noch nicht aufgefallen war. Die Wissenschaftler mussten es mit ihren Leibern verdeckt haben.
Vielleicht hatten sie den Schmelztiegel benutzt, um es zu verstecken, womöglich sogar vor Carodil. Roan runzelte nachdenklich die Stirn. Diese Überraschung war sorgfältig geplant gewesen. Brom ergriff glänzenden Auges mit den Fingerspitzen einen Zipfel des Tuches, das das klotzige Etwas verhüllte. »Schauet den WECKER!« Mit einem Ruck zog er das Tuch weg. Auf der Trage lagerte eine monströse Maschine. Sie ähnelte insoweit einer Uhr, als sie einen runden, blanken metallnen Körper, ein weißlackiertes Zifferblatt und zwei große, kuppelförmige Messingglocken obendrauf hatte, aber das Zifferblatt war leer bis auf den Punkt in der Mitte des oberen Randes, wo gewöhnlich die Zwölf gewesen wäre. Statt ihrer prangte dort jedoch das Abbild einer strahlend gelben Sonne. Nein, nicht einer Sonne. Es sah eher aus wie die aufblühende Flamme einer furchtbaren Explosion. »Wir müssen unmissverständlich belegen, ob wir existieren oder nicht«, dozierte Brom. »Die Schläfer, so sie denn existieren, erhalten unsere Realität in einer nachgerade lächerlich vorläufigen Manier aufrecht. Schlafend sind wir; wachend sind wir nicht. Wäre es nicht besser, wenn wir wüssten, ob wir die ganze Zeit über sind? Dass eine solch dürftige Conditio nicht zwischen uns und der Existenz steht?« »Ich will nicht, dass ein solches Experiment gemacht wird!«, donnerte König Byron und der Große Palas erbebte unter der dröhnenden Wucht seiner Stimme in seinen Grundfesten. »Aber das ist unredlich, Eure Majestät«, drängte Brom, ganz und gar nicht eingeschüchtert. »Wenn Ihnen das Wohl Ihres Reiches und Ihrer Untertanen am Herzen liegt, möchten Sie doch sicher Gewissheit erlangen.« »Sie sind verrückt!«, schrie Bergold, mit einem Gesicht, das so rot war wie sein fadenscheiniges Gewand. »Außerdem können Sie doch ohnehin nicht feststellen, wo
die Schläfer sich befinden«, gab die Königliche Geographin zu bedenken. »Auch das ist eine Theorie, die auf praktischer Erfahrung gründet«, erwiderte Brom mit einem gezierten Lächeln. »Beobachtungen aus dem ersten, dem dritten und dem vierten Millennium, vom achten gar nicht erst zu reden, deuten darauf hin, dass Zeichen registriert wurden, die den genauen Standort der Halle der Schläfer belegen. Wir beabsichtigen, auf der günstigsten Route zu reisen, unter Umgehung bestimmter geografischer Hindernisse...« Er wandte sich zu der Königlichen Geographin um und streckte die Hand nach ihrer Karte aus. Die Karte wich vor seinem Zugriff zurück. Romney klappte sie mit einer flinken Handbewegung zu. Sie schrumpfte zu einem faustgroßen Ball zusammen, den sie in ihre Gürteltasche stopfte. Brom wandte sich beleidigt ab - mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das macht rein gar nichts«, sagte er. »Ich brauche Ihre antiquierte Darstellung eigentlich gar nicht. Wir haben unsere eigenen Karten. Das Gesetz über den freien Zugang zu allen Informationen ermöglicht mir denselben zu den historischen Archiven und davon haben wir fleißig Gebrauch gemacht. Wir können sofort aufbrechen.« »Nein, das können Sie nicht! Sie Wahnsinniger, was glauben Sie, was Sie da tun?« Ein Dutzend Minister drang auf Brom ein, aber er hielt sie mit einer Hand und funkelnden Augen zurück. Roan fühlte den Druck von vielen Geistern, die versuchten einen Einfluss zu erzeugen, der Brom von seinem Vorhaben abbringen sollte. Er wusste nicht, was das noch ändern sollte; die Wissenschaftler waren fest entschlossen. »Ruhe!«, donnerte der König mit zornesrotem Gesicht. »Sie werden nicht sofort aufbrechen! Sie werden überhaupt nicht zu
dieser Reise aufbrechen! Schlagen Sie sich diese Idee ein für allemal aus dem Kopf! Carodil!« »Jawohl, Eure Majestät«, sagte Carodil. Sie wandte sich zu Brom um und herrschte ihn an: »Ich befehle Ihnen, von diesem ... diesem gefährlichen Unternehmen abzulassen. Es findet mitnichten meine Billigung. Ich verbiete Ihnen, Ihre Forschungen fortzusetzen. Zerstören Sie dieses ... diese Monstrosität!« Brom sah so aus, als sei er im Begriff zusammenzuschrumpfen. »Eure Exzellenz«, begann der Wissenschaftler und erhob wie beschwörend eine Hand. Er ließ sie wieder sinken. »Nun, ich hätte diese Möglichkeit vorhersehen müssen. Selbstverständlich beuge ich mich Ihrer Autorität. Und Ihrer, Eure Majestät«, fügte er hinzu und machte eine tiefe, respektvolle Verbeugung. »Ich entschuldige mich für den Schreck, den ich Ihnen versetzt haben muss.« »Es sei Ihnen vergeben«, entgegnete der König, besänftigt. »Aber dass mir dieses Thema, die Schläfer zu wecken, damit ein für allemal vom Tisch ist! Dieses Ding da«, er zeigte auf den WECKER, »ist unverzüglich zu demontieren.« »Selbstverständlich, mein Lehnsherr«, schleimte Brom. Er winkte seine Günstlinge herbei, die den Apparat wieder verhüllten. Das klobige Ungetüm hing über ihren Häuptern wie ein dräuendes Unheil. Roan stellte fest, dass er es so nicht einmal anschauen mochte. »Roan, mein lieber Freund«, sagte der König und winkte ihn nach vorn. »Wir haben deinen Bericht noch nicht gehört. Bitte erzähl uns von deinen Erkundungen.« »Ich rufe Meister Roan auf!«, bellte der Herold völlig überflüssigerweise. Erschreckt von dem mächtigen Schall seiner Stimme, entledigte der König sich hastig seines messingnen Hörrohres.
Roan trat nach vorn. »Eure Majestät, erhabene Mitglieder dieses Hofes! Ich freue mich, berichten zu können, dass der angedrohte Umbruch in Somnus bloß ein Gerücht war.« Der König ließ sich mit zufriedener Miene in seine Kissen zurücksinken. Viele der Höflinge drängten sich nach vorn, um deutlicher hören zu können. Nun, da die Krise abgewendet war, machte sich spürbar Erleichterung im Saale breit. Man war bereit, jemand anderem zuzuhören. »Diejenigen unter Ihnen, die aus Somnus kommen, werden mit Freude vernehmen, dass ich eine erschöpfende Untersuchung durchgeführt habe und dass es keine Anzeichen für massenhafte Veränderungen gibt.« »Ausgezeichnet, mein Freund!«, lobte der König. »Was aber war es dann, das uns dazu gebracht hat zu glauben, eine Katastrophe stehe kurz bevor?« Roan machte eine Verbeugung und wandte sich halb um, um gezielt zu den Anwesenden zu sprechen. »Erdbeben, meine Damen und Herren! Die Erde dort scheint sich ab und zu aus ihrem eigenen Willen heraus zu verschieben. Man könnte zu der Auffassung gelangen, dass der dortige Schöpferische glaubt, alle Dinge hätten ein eigenes Bewusstsein und eigene Antriebskraft. Dieser Glaube hat die Erde und viele andere unbelebte Gegenstände mit einem gewissen Maß von Autonomie erfüllt.« »Häh!«, schnaubte Fodsak, einer der Wissenschaftler, die um Carodil herumstanden. »Quatsch! Unsinn! Tullux!« Roan blickte an der fülligen Gestalt des Obersten Forschers vorbei auf den kleinen Mann, der ihn wütend anstarrte. »Ganz und gar nicht, Meister Fodsak«, sagte er. »Ihre eigenen Prinzipien verlangen akkuraten Bericht -« Irgendetwas an Brom fiel ihm ins Auge. Roan vergaß, was er als Nächstes hatte sagen wollen, als ein plötzlicher Gedanke nach dem Umschlag seines geistigen Hosenbeins schnappte und an ihm
zerrte. Er wandte sich zum König um. »Verzeihen Sie mir, Majestät, wenn ich vom Thema abschweife. Aber wenn ich so viel Arbeit, Kraft und Herzblut in ein Projekt gesteckt hätte, würde ich es nur ungern wieder aufgeben.« »Was? Was meinst du damit?«, fragte der König stirnrunzelnd. »Das Weck-Projekt«, sagte Roan mit großer Dringlichkeit in der Stimme. »Mein König, wenn ich einem Vorhaben Jahre meines Lebens und ungezählte Stunden geistiger Anstrengung gewidmet hätte, würde ich mich mit aller Macht dagegen sträuben, wenn man von mir verlangte, dass ich die Früchte all dieser meiner Mühen fahrenlassen solle. Wenn ich so nahe daran wäre, mein Theorem zu beweisen, würde ich alles tun, um damit fortfahren zu können.« »Das würde ich auch«, sagte Carodil mit einem großspurigen Achselzucken. »Na und?« Sie maß Roan mit einem kühlen, skeptischen Blick. »Ich habe meine Anweisung gegeben«, sagte König Byron, seine Augenbrauen zusammenziehend. »Dieses törichte Projekt ist sofort einzustellen.« »Natürlich!«, pflichtete ihm Carodil mit einer Verbeugung bei. »Brom hat mir sein Versprechen gegeben, es abzubrechen.« Sie wandte sich zu Brom um und streckte die Hand aus, um sie auf seine Schulter zu legen. »Nicht wahr, mein Freund?« Aber die freundliche Geste hatte eine höchst unerwartete Wirkung. In dem Augenblick, als ihre Hand Brom berührte, fing er an zu wabern und zu flimmern. Knisternde Linien, wie von Sprüngen, begannen sein Gesicht und seinen Körper zu durchziehen. »Er bricht auseinander«, rief Thomasen erschrocken. »Was ist das?«
Im Nu war die große, korpulente Gestalt zu dünnen, glasartigen Scherben zerborsten, die sich in Luft auflösten. Carodil machte einen Ausfallschritt nach dem WECKER, aber auch der hatte sich in der Zwischenzeit entkörperlicht. Als sie den Rand der Trage berührte, zerbarst das ganze Ding mit einem >Plopp<, wie eine riesige Seifenblase. Carodil warf sich zurück und hielt sich die Augen zu. Alle im Saal Anwesenden schrien zugleich. »Sie sind gar nicht wirklich hier«, schrie Roan über den Tumult hinweg. »Sie sind bereits unterwegs. Was er da über vereinten Intellekt gesagt hat, stimmt. Mithilfe des Schmelztiegels haben sie es geschafft, vollkommen kohärente Bilder von Brom und seiner Apparatur zu erschaffen. Der reale Brom ist fort und alle seine Leute mit ihm! Sie müssen gegangen sein, gleich nachdem sie ihre Präsentation beendet hatten.« »Gegangen?«, fragte der König. »Wohin?« »Zur Halle der Schläfer«, japste Bergold, die Augen vor Bestürzung weit aufgerissen. »Aber wir wissen nicht, wo das ist!«, rief Olmus und stampfte mit seinem Stock auf den Boden. »Niemand weiß das.« »Sie müssen glauben, dass sie es wissen«, sagte Thomasen und strich sich über das Kinn. »Da muss mehr als eine bloße Vermutung dahinterstecken. Brom muss vorausgesehen haben, dass der König das Unternehmen verbieten würde und dass wir versuchen würden, ihn aufzuhalten. Er wusste, dass er aufgehalten werden würde, sobald man ihn erwischte. Brom würde seine einzige Chance nicht aufs Spiel setzen.« »Und was ist mit denen hier?« Spar, der Kommandant der Garde, trat vor und packte Fodsaks Arm. Seine Männer umringten unterdessen die Wissenschaftler. »Sie sind aus festem Stoff!«
»Nur Brom war ein Trugbild«, sagte Roan. »Er ist der einzige, der wichtig genug ist, um an zwei Orten gleichzeitig sein zu müssen. Diese Männer und Frauen sind wahrscheinlich nur deshalb zurückgeblieben, weil sie nicht den Mumm und die Ausdauer für solch ein Unternehmen besitzen.« »Sie haben sich meinem Befehl widersetzt?«, blaffte Byron. Er reckte sich aus seinen Kissen hoch und starrte auf Carodil, die um einen Fuß an Größe geschrumpft war und immer noch zusehends in sich zusammenfiel. »Sie haben vor, unser Heimatland für ein Experiment zu zerstören?« »Eure Majestät, ich hatte ja keine Ahnung davon«, sagte Carodil mit kläglicher Stimme. Sie war jetzt nur noch vier Fuß groß und ihre Stimme wurde immer piepsiger. »Ich gestehe meinen Untergebenen Autonomie zu, auf dass sie ihrem Geist freien Lauf lassen können.« »Und also unser aller Vernichtung planen konnten?«, donnerte der König. Plötzlich wurde es sehr kalt im Saale. Die Anwesenden drängten sich schutzsuchend aneinander. Ein scharfer Wind wirbelte braune Blätter durch die Luft. Eines klatschte gegen Roans Wange und er erschauerte. Dadurch brach der Bann der Unbeweglichkeit, der über ihn gefallen war. Die kleine, unbedeutende Bewegung eines Blattes, das, hilflos vom Winde getrieben, seine eigenen Handlungen nicht zu lenken vermochte, erinnerte ihn daran, dass er nicht hilflos war. »Wir werden sie finden, Majestät«, sagte Roan. Alle Augen richteten sich auf ihn, von plötzlicher Hoffnung erfüllt. »Weit können sie noch nicht gekommen sein.« Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte aus dem Audienzsaal. Die Menge teilte sich vor ihm. »Halte sie auf, bevor sie Unheil anrichten können!«, rief der König hinter ihm her.
5. KAPITEL Roan wusste, noch bevor er das große Portal passierte, dass die Gruppe der Wissenschaftler und ihre Traglast bereits außer Sicht sein würden. Er schoss in den Hof und hielt Ausschau nach irgendeiner Spur von Brom und seinen Günstlingen. Die Tauben stoben erschrocken auseinander, ihren Schreck laut hinausgurrend. Der Schlag ihrer Flügel klang in der Stille erstaunlich laut. Roans Pupillen zogen sich in der gleißenden Sonne schmerzhaft zusammen, als er in alle Richtungen spähte. Das Hitzeflimmern, das von dem Steinboden abstrahlte, ließ alles so aussehen, als bewege es sich. Dass ausgerechnet jetzt der Hof menschenleer war! Sonst wimmelte er von Menschen, die in irgendeiner Form mit der Krone oder mit einem der Ministerien zu tun hatten: Höflinge, Lobbyisten, Händler, Höker, Bettler, Herumlungerer und Diener. Wo waren sie nun, da die Existenz des Traumlandes selbst auf dem Spiel stand? Und wenn er's recht bedachte: Wo waren die Wachtposten? Die Posten neben dem Schlosstor wirkten verwaist. Er konnte nicht einmal die Männer sehen, die ihn auf seinem Weg ins Schloss angerufen hatten. Roan hockte sich nieder und suchte den Boden nach irgendeiner Spur ab, die ihm zeigen würde, welchen Weg Brom und sein WECKER genommen hatten. Der hellgraue Kies wies Hunderte von Wagenspuren auf, die in alle Richtungen führten. Und nicht ein einziges Transportmittel war weit und breit zu sehen. Brom hatte wieder einmal jede Einzelheit bedacht. Bevor sie aufgebrochen waren, mussten die Wissenschaftler alle Fahrräder fortgeschafft haben. Nicht ein Ross, nicht eine Kutsche, noch irgendein anderes Vehikel hatten sie zurückgelassen. Brom hatte alles getan, um seine Verfolger so lange als möglich aufzuhalten.
Eine leichte Brise erhob sich und Roan tat dasselbe. Eher zufällig erblickte er einen kleinen leuchtenden Farbpunkt am nördlichen Firmament. Er kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt dorthin. Konnte das ein Heißluftballon sein? Ein Luftschiff wäre der einfachste Weg, eine schwere Last über eine lange Strecke zu transportieren. Das Geheul eines Motors schreckte ihn gerade rechtzeitig aus seinen Betrachtungen. Ein weißer Sportwagen kam mit quietschenden Reifen auf den Hof gerast und hielt geradewegs auf das Portal des Palas' zu. »Heh!«, schrie Roan, als die chromglänzende Stoßstange ihn nur um Haaresbreite verfehlte. Am Steuer saß ein Mann mit dunkler Sonnenbrille. Auf dem Beifahrersitz hockte ein Hund, der das Gesicht in den Fahrtwind hielt und in törichter Freude die Zunge heraushängen ließ. Der Wagen beschrieb einen engen Kreis. Roan schwenkte die Arme, um den Fahrer auf sich aufmerksam zu machen. »Ein Notfall, Freund! Helfen Sie mir, bitte!« Das Auto beschrieb einen weiteren Kreis. Mittendrin verwandelte es sich in ein weißes Schlachtross, das nervös mit den Hufen stampfte und scharrte. Auf seiner mit Goldborten reich verzierten Schabracke prangte das königliche Siegel. Der Mann, der jetzt einen funkelnden Plattenpanzer trug, hielt auf dem rechten Handgelenk einen kleinen Falken empor - der einstige Hund. Die Zunge hing noch immer heraus. »Wie kann ich mich nützlich machen?«, fragte der Mann, während er sein Visier hochschob. »Ich bin ein Gesandter des Königs und ein Ritter des Traumlandes. Mein Name ist Sir Osprey.« Roan war mit ein paar Schritten bei ihm und ergriff den Zügel des Streitrosses. »Herr Ritter, habt Ihr eine Gruppe von Leuten gesehen, die während der letzten Minuten das Schloss in großer Hast verließen? Mit einer schweren Traglast
beschwert? Im Namen des Königs, es ist dringend! Sie könnten die Existenz des Traumlandes gefährden! Sie wollen die Schläfer wecken!« »Ich habe niemanden gesehen«, sagte der Ritter mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. »Soll ich ausziehen, sie zu finden?« Roan nickte dankbar. »Wenn Ihr nur ihre Fährte finden, hierher zurückkehren und Seine Majestät benachrichtigen könntet. Ich glaube, vorhin ein Luftschiff gesehen zu haben, das auf dem Weg nach Norden war, aber das mag ebensogut auch ein Trugbild gewesen sein. Sie können auch zu Fuß unterwegs sein.« »Dann will ich mich sogleich auf den Weg machen«, sprach der Ritter und hob den Arm empor. »Mein Hund wird nach diesem Luftschiff suchen. Wir werden uns zurückmelden, so bald wir können. Vertraut uns.« »Danke, mein Freund«, sagte Roan. Er musste sich mit einem hastigen Sprung zur Seite retten, als der Ritter seinen Hengst mit einem schneidigen Schwenk herumriss und zum Schlosstor hinaus sprengte. Der Falke verharrte noch einen Augenblick rüttelnd in der Luft, dann schoss er pfeilschnell Richtung Norden davon. Roan schaute beiden mit einem Gefühl von Dankbarkeit und Erleichterung nach. Allein konnte er Brom nicht fangen. Er brauchte Hilfe, aber die Zeit flitzte ihm davon. Er schlenderte zurück ins Schloss. Der große Saal war in hellem Aufruhr. Männer und Frauen hielten Roan bei den Ärmeln fest, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte und bestürmten ihn mit bangen Fragen. Er riss sich höflich - aber bestimmt - von ihnen los und arbeitete sich nach vorn zum Thron durch. König Byron beugte sich vor, tiefe Besorgnis in seinen edlen Augen. Roan schüttelte den Kopf und der Monarch seufzte. Roan berichtete, was er gefunden hatte.
»Sie müssen aufgehalten werden, Roan«, sagte der König. »Du musst dich auf ihre Fährte begeben.« »Das werde ich, Eure Majestät«, antwortete Roan. »Ich werde Brom sofort zu Fuß folgen. Die Rösser werden zwar bald zurückkommen, aber wir können nicht riskieren, noch länger zu warten. Ich werde versuchen, Broms Fährte aufzunehmen.« Er begann sein farbenfrohes Hofgewand abzulegen und wieder in sein praktisches Reisekostüm zu schlüpfen. »Gut, dass ich meine Sachen noch nicht ausgepackt habe.« Er fühlte in seiner Tasche nach, ob er sein Allzweckmesser noch bei sich hatte. »Geh«, sagte Byron, die edle Stirn von tiefen Sorgenfalten durchfurcht. »Ich und das ganze Traumland bauen auf dich!« Roan verbeugte sich. Er fühlte sich geehrt ob des großen Vertrauens, das der König in ihn setzte, aber auch er machte sich Sorgen. Seine Gedanken eilten bereits voraus. »Du wirst Hilfe benötigen«, sagte Bergold ernst, an seiner Seite auftauchend. Seine wallenden Gewänder wurden zu einem praktischen Tweed-Anzug mit einem glockenförmigen Rock und seine Seidenpantoffeln verwandelten sich in deftige braune Lederschuhe. »Ich suche mir besser rasch ein paar Reisesachen zusammen. Verflixt! Was packt man ein, wenn man die Welt retten will?« »Alles«, sagte Thomasen und warf in einer seltenen Zurschaustellung von Erregung die Hände in die Luft. »Große Nacht! Ich weiß nicht, was ich tun soll! Zu wie vielen waren sie? Sollen wir ihnen gepanzerte Reiter hinterher schicken?« »Das Radar auf dem Dach zeigt nichts an«, meldete heftig keuchend ein Gardist. »Ich bin raufgerannt, um nachzuschauen, aber sie haben nichts gesehen.« »Sie haben die Realität mittels des Schmelztiegels um sich herumgezogen«, sagte Roan. »Sie werden es so schwer wie möglich machen, sie zu finden.«
»Aber wo wollen sie hin?«, fragte Micah, den Knauf seines Stocks aufgeregt mit den Händen knetend. »Ich habe keine Aufzeichnungen über die Halle der Schläfer. Brom gründet seine Annahmen auf verdeckte Anspielungen, aber nicht auf Fakten.« »Können wir einmal die Karte sehen?«, fragte Roan die Königliche Geografin. Sie schlug die riesige Karte auf und sie studierten sie gemeinsam. »Ich sehe nichts, was auf den Standort der Halle hinwiese«, sagte Micah, sich mit den Ellenbogen zwischen Roan und Romney hindurchzwängend. »Was ist es wohl, das Brom dort zu sehen glaubt?« »Wir müssen sie aufhalten, lange bevor sie dort ankommen«, sagte Hauptmann Spar. »Sie können Brom fragen, wo es ist, wenn ich ihn in Ketten abführe.« »Sie, Sie und Sie: Stellen Sie Proviant, Zelte und Waffen bereit«, sagte der König, auf die Gardisten zeigend. »Dies ist ein schwerwiegender Akt vorsätzlicher Körperverletzung. Wir wissen nicht, wie weit zu gehen sie bereit sind, um dieses unsägliche Verhalten zu verteidigen. Ich freue mich über jeden Freiwilligen, der Roan begleitet.« Ein Chor von Stimmen erhob sich und Dutzende traten vor. Auch Prinzessin Leonora stand auf und rief von ihrem Piedestal herab: »Ich will auch mit, Papa!« »Nein!«, rief Roan - und begriff im gleichen Augenblick, als er den verdutzten Ausdruck in ihrem Gesicht sah, dass er sich im Ton vergriffen hatte. Ein Sturm begann sich in ihren Augen zusammenzubrauen und veränderte ihre Farbe von Haselnussbraun zu einem gefährlich funkelnden Dunkelgrau. Roan musste ihr Temperament entschärfen und das möglichst schnell. Er hatte sie vor ihren Eltern und ihrem Volk blamiert. Er wusste, dass sie sich das nicht bieten ließe. »Eure Hoheit«, begann er mit einer tiefen Verbeugung, »es
ist zu gefährlich für Sie, die Hauptstadt zu verlassen. Sie sind schließlich die Erbin des Königreiches.« »Eines Königreiches, das nicht mehr existieren wird und das ich folglich auch nicht mehr werde erben können, wenn Brom und seine Vasallen es zerstören!«, erwiderte Leonora, die Gefahr mit einer wütenden Handbewegung abtuend. Sie wandte sich flehend an ihren Vater. »Papa, bitte! Ich möchte doch so gern helfen!« »Eure Majestät«, sagte Roan, nicht minder beharrlich, »wir haben keine Zeit mehr.« »Du kannst nicht mitgehen, meine Teure«, sagte der König, die Hand seiner Tochter ergreifend. »Es ist unmöglich.« Leonora blickte vom einen zum ändern und entzog ihre Hand dem Griff ihres Vaters. Das marmorne Piedestal versank in den Fußboden, und sie stolzierte von ihm herunter, das Gesicht zur Maske erstarrt. Sie fegte die seidenen Vorhänge beiseite und marschierte hindurch, gefolgt von ihrer diensteifrig eilenden Zofenschar. Der König und die Königin wechselten Blicke, und Ihre Majestät glitt von ihrem Thron und folgte ihrer Tochter, mütterlich vor sich hin glucksend. Ihre Doctores und Kammerzofen trippelten im Gänsemarsch hinter ihr her. Roan sank das Herz in die Hose. Er wusste, er würde sich einer Flut von Vorwürfen - besonders dem des überfürsorglichen männlichen Chauvinismus - ausgesetzt sehen, wenn er zurückkehrte, aber er konnte doch nicht einfach zulassen, dass die Frau, die er so innig liebte, ihr Leben bei einem waghalsigen Abenteuer aufs Spiel setzte. Er, Roan, war entbehrlich - sie nicht. Sie besaß keinerlei Erfahrung im Fährtenlesen oder im Nahkampf, ja nicht einmal darin, unter freiem Himmel in einem Notlager zu nächtigen. Wenn genug Zeit gewesen wäre, und wenn er zu glauben gewagt hätte, dass ein solch zartes Wesen wie die Prinzessin tatsächlich derart
grobe Fertigkeiten zu erwerben beabsichtigen könnte, dann hätte er es selbstverständlich als eine Ehre empfunden, sie darin unterweisen zu dürfen. In der Zwischenzeit jedoch galt es das Königreich vor dem Untergang zu bewahren, selbst wenn dies um den Preis seines persönlichen Glücks geschah. Der König suchte seinen Blick und schaute ihn teilnahmsvoll an. Er begriff seine Tochter und das Dilemma, in dem ihr Freier steckte. »Mit Ihrer Erlaubnis sollte ich mich jetzt besser auf den Weg machen«, sagte Roan, dankbar für die Freundlichkeit des Königs. Seine Gedanken aber kreisten schon wieder um das vor ihm liegende Problem. Da kam ihm ein plötzlicher Einfall und er bahnte sich seinen Weg zurück durch die Menge zu dem Springbrunnen. Er raffte ein paar Handvoll von den kleinen bunten Steinen auf, die den Grund säumten und füllte damit seine Taschen. »Ich werde diese Steine während des Gehens hinter mir fallen lassen«, verkündete er. »Wer mit mir kommen möchte, folge der Fährte meiner Steine, sobald er - oder sie - dazu bereit ist.« Die Menge schloss sich hinter ihm und die Leute riefen sich gegenseitig Pläne zu. Roan hastete zur Tür. Er konnte sich vorstellen, wie das Land selbst ihn vorwärts trieb.
6. KAPITEL Roan untersuchte den Hof ein zweites Mal, diesmal mit größerer Sorgfalt. Er bezweifelte, dass Brom und seine Adepten sich unterirdisch davongemacht hatten, da niemand irgendeine seismische Erschütterung wahrgenommen hatte, weder während der Demonstration mit dem Schmelztiegel, noch bei dem darauffolgenden Tumult. Beladen mit dem schweren WECKER, mussten sie entweder mit dem Zug gefahren, geflogen oder zu Fuß gegangen sein. Wenn sie den Zug genommen hatten, würde es keine Schwierigkeit bereiten, eine Botschaft vorauszusenden und die Lokomotive anhalten zu lassen. Deshalb stand für Roan fest, dass sie dieses Transportmittel auf keinen Fall gewählt hatten: Ein solches Risiko würde Brom niemals eingehen. Wenn die Wissenschaftler den Lufttransport vorgezogen hatten, dürfte es ihm nicht allzu schwer fallen, die Stelle zu finden, an der ihre Spur endete, wenn sie den Flugapparat bestiegen. Es mussten Spuren ihres Aufbruches hier vorhanden sein; es galt lediglich, sie zu entdecken. Alles, was er zu tun hatte, war, die Hinweise zusammenzufügen. Sie mussten die Realität um sich herumziehen, um sich zu verstecken, aber er war sicher, dass sie nicht daran gedacht hatten, ihre Fußspuren zu verwischen. Sobald ihr verhüllender Einfluss verflogen war, würden solche Dinge wieder in Erscheinung treten. Er ging langsam über den Hof, in gebeugter Haltung und ließ den Blick sorgfältig über den Kiesboden schweifen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Abdruck im Kies, der tiefer war als alle anderen. Indem er zum Vergleich seinen eigenen Fuß gleich daneben in den Kies drückte, kam er zu dem Schluss, dass der Abdruck entstanden sein musste, als einer der Träger des WECKERS ausgerutscht war und bei dem Versuch, sich wieder zu fangen, den Absatz ein wenig verdreht hatte. Die Spuren um diesen
Abdruck herum waren nicht mehr brauchbar, aber der Abdruck wies ihm die Richtung, in der er weitersuchen musste. Er folgte der Spitze des Abdrucks. Sie wies zu den Palastgärten. Die bunten Steine behielt er in der Tasche. Sollte es ihm gelingen, die Wissenschaftler noch innerhalb des Palastgeländes zu stellen, würde er um Hilfe rufen. Er war beileibe kein Feigling, aber der Gedanke, zu versuchen, allein mit Brom und seinem Schmelztiegel fertigzuwerden, hatte etwas Einschüchterndes. Solch scheinbar unbegrenzte Macht! Roan konnte es durchaus mit einigen der mächtigsten Geister im Traumland aufnehmen, aber wie sollte er den vereinten Kräften einer Gruppe widerstehen können? So etwas war in der gesamten Geschichte des Traumlandes noch nicht vorgekommen. Der Pfad, dem Roan folgte, endete an einer brusthohen Hecke. Ging er nach links weiter, kam er zu den Zierrosengärten und dem dahinterliegenden Küchengarten. Der rechte Weg führte zum Königlichen Irrgarten. Doch es war möglich, dass die Flüchtigen weder den einen noch den anderen Weg genommen hatten. Zwei Menschen, die eine schwere Last zwischen sich trugen, konnten schwerlich über die Hecke steigen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, es sei denn, sie verlängerten ihre Beine entsprechend der Höhe der Hecke. Dies vermochte Roan selbst nicht, aber er konnte seine Umgebung dergestalt verändern, dass der gleiche Zweck erreicht wurde. Mit einer Anstrengung seines Willens härtete er die Krone der Hecke so weit, dass sie sein Gewicht tragen konnte und schwang sich hinüber. Die Zierblumenbeete auf der anderen Seite wiesen keine anderen Fußabdrücke auf als die, die er selbst beim Aufsprung hinterlassen hatte. Roan hatte es zwar für unwahrscheinlich gehalten, dass seine Jagdbeute diesen Weg genommen hatte, aber er wollte sich nicht vorwerfen müssen, nicht gründlich genug vorgegangen zu sein. Er schwang sich wieder zurück auf die andere Seite und weichte die Krone der Hecke erneut auf,
obwohl sie sich auch von selbst in ihren Normalzustand zurückverwandelt hätte, sobald sein Einfluss verflogen wäre. Auf Hände und Knie gestützt, prüfte Roan den Pfad, in der Hoffnung, das weiche Gras könnte vielleicht Fußabdrücke aufweisen. Leider war es zu biegsam: Die Halme hatten sich längst wieder aufgerichtet. Doch halt! Dort, auf dem sandigen Untergrund des Randbeetes am Saum des Gehweges war ein unscharfer Abdruck zu erkennen, ein Abdruck wie von einem wegrutschenden Schuh. Roan kroch näher heran, um sich die Stelle genau anzuschauen. Ja! Auf dem Gras waren ganz schwache Abdrücke zu erkennen! Sie führten in die Richtung des Irrgartens. Roan sprang auf und folgte ihnen. Das passte zu einem Luftschiff immer besser. Als hätten die Wissenschaftler aufgehört, sich Gedanken über mögliche Verfolger zu machen, erschienen die Abdrücke von einem Dutzend Fußpaaren auf dem Randbeet und setzten sich als sandige Spuren noch zehn Schritte weiter auf dem Rasen dahinter fort. Roan schritt durch den reliefverzierten Torbogen in das Labyrinth, das aus dunkelgrünen, acht Fuß hohen Hecken herausgeschnitten und von Ranken mit riesigen Fuchsien durchwirkt war, und fand die frischen Spuren zweier Fußpaare von gleicher Schrittlänge, die etwas Schweres getragen haben mussten. Die flacheren Abdrücke, die folgten, hatten Teile der Spuren zerstört, aber die meisten von ihnen waren unversehrt und führten eindeutig weiter ins Innere des Labyrinths. Roan folgte der Fährte ins Labyrinth, bog an der Stelle, wo das Gras plattgetrampelt war, ab und stand vor dem Springbrunnen und der kleinen Marmorbank, die die Mitte des Labyrinths markierten. Der Rasen war bar jeder Spuren. Die Fährte endete hier. Hier mussten sie sich in die Luft erhoben haben. Ihr Transportmittel hatte hier auf sie gewartet, während sie dem König ihre Errungenschaft präsentiert hatten - die ganze Zeit über bereits in der Gewissheit, dass ihr Experiment verboten werden würde.
Wie war es möglich, dass niemand ein solches Luftgefährt bemerkt hatte? Roan ließ sich schwerfällig auf die Marmorbank plumpsen, die im Schatten einer Alabasterstatue mit leeren Augen stand und wischte sich den Schweiß von Stirn und Hals. Das sah den Wissenschaftlern ähnlich: ein verlässliches Luftschiff zu erfinden und die Erfindung für sich zu behalten. Eine solche Erfindung wäre als etwas wirklich Nützliches begrüßt worden. Nun würde der König auf irgendein Flugtier klettern müssen, um sie zu verfolgen, und darauf hoffen, dass es den Rettungstrupp nicht unterwegs auffraß. Die gestutzten Hecken um ihn herum spürten seine Gegenwart in der Weise von Pflanzen, die dazu benutzt wurden, Irrgärten anzulegen, und begannen, ihre Standorte und ihre Farbe zu verändern, um das Muster durcheinanderzubringen. Nicht lange, und er würde auf's Neue überlegen müssen, wie er aus dem Irrgarten wieder herauskam. Schwer würde ihm das nicht fallen; er hatte es im Laufe der Jahre Tausende von Malen getan. Aber als ein niedriger, rotblättriger Busch sich an ihm vorbeibewegte und sich dabei grün verfärbte, sah Roan etwas Längliches flattern. Er sprang auf und jagte hinter dem Busch her, bis er das Ding erwischte und zwischen den Dornen hervorziehen konnte. Es war ein Stück Faden, von demselben blassen Blaugrau, das das Wissenschaftsministerium für förmliche Anlässe benutzte und das die Angehörigen der Wissenschafts-Gruppe bei der Versammlung getragen hatten. Einen Augenblick später und die natürlichen chamäleonischen Eigenschaften des Busches hätten die Spur für immer verborgen. Der Faden hatte, von der Lichtung aus gesehen, auf der anderen Seite des Busches gehangen, außerhalb des Pfades, als wäre jemand beim Überklettern des Busches mit seiner Kleidung an den Dornen hängengeblieben. Das bedeutete, dass die Wissenschaftler nicht auf dem Luftwege getürmt waren,
zumindest nicht von dieser Stelle aus. Der ganze Trip durch das Labyrinth war nichts weiter als eine falsche Fährte gewesen, die die Wissenschaftler gelegt hatten, um etwaige Verfolger in die Irre zu führen. Die wandernden Büsche hätten binnen Stunden jeden Hinweis, jede Spur verdeckt. Roan hatte Glück gehabt, dass der Busch sich nicht weit von seinem ursprünglichen Standort entfernt hatte, als die Wissenschaftler dort gewesen waren. Allein ein gehöriges Quentchen Glück hatte das Verschwinden aus der Mitte des Labyrinths davor bewahrt, ein ungelöstes Rätsel zu bleiben. Nein, warte, mahnte Roan sich selbst. Überlege! Das hätte bedeutet, dass die Fährte, die in das Labyrinth führte, ebenfalls verändert worden wäre und das war sie nicht. Brom hatte vorausgesetzt, dass jemand ihnen folgen würde, und ihn glauben machen wollen, dass sie von dort aus verschwunden waren. Sie hatten das Labyrinth selbst dazu gebracht, seine Stellung zu halten, bis jemand anderes kam, sodass alle Spuren an ihrem Platz sein würden. Roan staunte, dass Brom so verschwenderisch mit Einfluss sein konnte. Der Schmelztiegel war eine neue Macht im Lande, eine, mit der zu rechnen war. Brom und seine Adepten mussten aufgehalten werden, bis das Phänomen studiert werden konnte. Von wo aus waren sie nun also losgeflogen? Roan trat um den Busch herum, der sich jetzt in einer neuen Mulde niederließ, genau im rechten Winkel zu seinem alten Platz. Noch ein paar Schritte weiter, und er fand das, worauf er gehofft hatte: einen weiteren tiefen Fußabdruck. Roan wich beweglichen Buchsbaumhecken, Holunderbeerbüschen und Eiben aus, die dabei waren, sich neue Orte zu suchen, und nahm hier und da die Fährte wieder auf, wobei er manchmal einen Augenblick lang warten musste, bis die Hecken sich erneut verschoben. Roan war sicher, dass Brom auf diesem Weg gekommen war, um seine Verfolger abzuschütteln. Aber der Trick hatte nicht funktioniert. Roan würde sie in kürzester Zeit einholen. Weit voraus konnten sie nicht sein. Ob sie sich
noch auf dem Palastgelände befanden? Das wäre Ironie. Das Schloss stand da, wo es, gleich ob aus Fachwerk, Granit oder Marmor, seit Tausenden von Jahren stand. Was, wenn die Schläfer genau hier schliefen, unter dem Schloss? Aber nein, dachte Roan, das hätten die Historiker gewusst, und Brom hätte sich nicht heimlich davonstehlen müssen, um seine infernalische Vorrichtung losgehen zu lassen. Welchen Weg hatte er genommen? Eine fünf Fuß hohe Eibenhecke schob sich genau in einen Durchgang, den Roan gerade passieren wollte, und ließ sich dort häuslich nieder, indem sie ihre Wurzeln mit einem Ausdruck des Triumphes in den Sandboden schlug. Roan zuckte die Achsem und wich in einen breiten Durchgang aus, der zu einer Reihe von Wacholderbüschen führte. Die Büsche ließen ihn einladend zwischen sich treten, dann schlössen sie sich spielerisch zu einem Ring um ihn. Das Gras unter seinen Füßen begann sogleich, sich der neuen Form der Umfriedung anzupassen. »Kommt, das ist nicht fair!«, schalt Roan, die stachlige Krone einer Wacholderhecke tätschelnd. »Es ist zu heiß für solche Spielchen. Ich muss weiter.« Die Büsche übersahen ihn und schlugen Wurzeln. Roan seufzte. Er richtete seine Hand auf den Fuß eines der Büsche und ließ Einfluss in den Boden strömen, sodass dieser sich zu einem Buckel aufwarf und den Wacholderbusch zurückstieß. Der protestierte, indem er heftig mit seinen Ästen ruderte, worauf die anderen Sträucher sich noch enger um ihn scharten. Roan schüttelte traurig den Kopf, während er sich mit sanfter Gewalt seinen Weg aus dem Ring heraus bahnte. »Tut mir Leid. Eines Tages, wenn wir mehr Zeit haben, könnt ihr mich meinetwegen so viel necken, wie ihr wollt, okay?« Das Versprechen besänftigte sie indes nicht. Das Labyrinth liebte sein bisschen Macht und mochte es gar nicht, wenn man es überging, aber Roan bewegte sich schneller, als irgendeine
seiner einzelnen Komponenten es vermocht hätte. Das Problem war, dass es so viele waren. Es fiel ihm schwer, sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Wenn er den Eindruck von Ungeduld erweckte, würden die Pflanzen sich noch mehr anstrengen, ihm in die Quere zu kommen, und er fürchtete, dass der Vorsprung der Wissenschaftler immer größer werden würde. Im Gegensatz dazu rechneten die Pflanzen sich aus, dass er versuchen würde, dem Pfad zu folgen, der gleich neben der hohen Steinmauer verlief. Das Labyrinth schloss Gänge vor ihm und öffnete andere, um ihn so von seinem Ziel abzulenken. Rasenflächen veränderten ihre Form vor ihm und verzerrten die Fußabdrücke zu seltsamen Konfigurationen. Eine solide Stechpalmenwand von sechs Fuß Höhe erstreckte sich quer durch den Garten von Westen nach Osten und forderte ihn dazu heraus, sich gewaltsam zwischen den dichten Zweigen voller glänzender, scharfkantiger Blätter hindurchzuzwängen. Er konnte gerade noch über sie hinwegschauen, aber nicht hindurchgehen. Roan setzte Einfluss ein, um sich einen Durchgang durch die Hecke zu öffnen - und fand eine zweite Hecke gleich dahinter, noch höher und dichter als die erste. Sie ragte drohend vor ihm auf, so hoch, dass sie die Sonne verdeckte. Roan streckte die Hände aus, um einen Ast zur Seite zu biegen, und ratschte sich die Haut so tief auf, dass es blutete. Er zog die Hände hastig zurück und presste die Finger auf die blutenden Schrammen. Wenn er ein gewöhnlicher Traumländer gewesen wäre, hätte er seine eigene Haut über die Schrammen ziehen und sie auf diese Weise sofort schließen können. Stattdessen rupfte er ein Blatt von einem Baum, formte daraus einen Verband und legte diesen über die Schrammen. Das Labyrinth war offenbar entschlossen, ihn gefangen zu halten. Es würde ihn dazu zwingen, Einfluss auszuüben, bis er erschöpft war. Womöglich würde es ihn nie wieder freilassen. Die Wissenschaftler würden die Halle der
Schläfer im Mysteriengebirge erreichen, und die Gruppe, die ihm folgen sollte, erführe niemals, was aus ihm geworden war bis zu dem Tage, da sie sein jämmerliches Skelett im Labyrinth entdecken würde, falls bis dahin das Traumland nicht längst durch Broms schändliches Experiment vernichtet worden war. Er hörte Stimmen. Sie kamen aus der Richtung des Schlosses. Andere kamen heraus, um ihm bei der Suche zu helfen. Er rief um Hilfe. Warum nur hatte er die bunten Steine nicht hinter sich fallen lassen, wie er es versprochen hatte? Die Stechpalmen spürten seine Angst. Sie raschelten furchterregend und drangen auf ihn ein. Er nahm all seine Kraft zusammen und ließ die Hecke vor ihm zu einer festen Masse erstarren, um auf sie hinaufklettern zu können. Ungeachtet der blutigen Schrammen an seinen Händen und in seinem Gesicht, hervorgerufen von weiteren scharfkantigen Blättern, die ihm durch dasselbe peitschten, gewann er die Krone und verharrte schwankend auf den Zweigen, nach einem Ausweg Ausschau haltend. Eine weitere Hecke, noch einen Fuß höher als die, auf der er stand, umgab die letztere. Roan sprang zu ihr hinüber, fand schwankend sein Gleichgewicht, und sprang hinunter auf die nächste Hecke, die mehrere Fuß niedriger war, worauf diese sofort zu wachsen begann. Roan sprang hinunter und landete auf den federnden Zweigen einer rechteckig gestutzten Eibenhecke, die gleich emporschnellte und ihn dabei von den Füßen riss. Auf dem Rücken liegend, den Blick himmelwärts gerichtet, schoss er nach oben. Das Labyrinth ist verrückt geworden, dachte Roan, über die Kante der Eibenhecke nach unten spähend. Er war so weit nach oben gestemmt worden, dass der Rest des Gartens von seiner luftigen Warte aus wie eine Stickerei auf grünem Leinen anmutete. Er hob den Blick und schaute über das Schlossgelände hinaus. Das Wüstenmotiv bestand auch jenseits der Tore fort. Die Stadt Mnemosyne schien verschwunden zu sein. Zwischen den sanft gewellten Sanddünen und den
Palmenhainen im Osten glaubte er die dunklere Linie eines Pfades ausmachen zu können, aber der verlief nicht in der Nähe des Schlosses. Er spähte angestrengt, um mehr sehen zu : können, doch die Eibenhecke trug ihn in immer größere Höhen, womöglich sogar aus der Atmosphäre hinaus. Der Himmel wurde dunkler, die Luft dünner. Roan rang japsend nach Atem. »Okay!«, keuchte er. »Du hast gewonnen! Ich spreche dir meinen Respekt für deine ... deine überlegenen strategischen Fähigkeiten aus. Du hast mir ein Rätsel aufgegeben, das ich nicht lösen kann. Und jetzt lass mich wieder runter! Bitte!« Seine letzten Worte kamen als ein Quieken heraus. Die Eibe hörte so jählings auf zu wachsen, dass das Beharrungsvermögen Roan fast in die Luft und von seinem prekären Sitz geschleudert hätte. Er hielt die Augen fest geschlossen und krallte sich an der Masse der würzig duftenden Nadeln fest, als die Eibe wieder schrumpfte. Roans Magen drehte sich während des langen Falls zweimal um. Er hatte noch nie zuvor erlebt, dass die Gärten sich so aufführten. Er fragte sich, ob dies eine Reaktion auf die Macht des Schmelztiegels war oder auf irgendeine andere Falle, die Brom hinterlassen hatte. Kurz über dem Erdboden neigte sich die Eibenhecke, und Roan fiel ins Gras, das sich aufbauschte, um ihn sanft abzufedern. Er stand auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Die Eibenhecke sauste bereits zum anderen Ende des Gartens, um eine Lücke zwischen zwei anderen Exemplaren ihrer Gattung zu füllen, und das Gras schrumpfte wieder auf seine gewöhnliche Höhe von eineinhalb Zoll, ganz wie ein Vogel, der sein Gefieder in die Ursprungsstellung zurückschnippt. Vor Roans Augen öffneten sich die Hecken zu einem schnurgeraden Gang, der geradewegs zum Schlosstor führte, das offenstand. »Ganz einfach so?«, fragte er. Das Gras raschelte leise bei
sich; es schien belustigt. Ohne zu zögern stürmte Roan los, um dem Labyrinth zu entkommen, bevor es es sich womöglich wieder anders überlegte. Das Rätsel, warum die Wachtposten fehlten, löste sich in dem Augenblick, als Roan den Fuß jenseits der Mauern setzte. Zwei riesige Hunde kamen mit wütendem Gebell auf ihn zugestürzt. Er sprang zurück und riss die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen. Kurz bevor die Hunde ihn erreichten, prallten beide mit einem scharfen Ruck zurück. Sie fielen auf den Boden und winselten. Roan glotzte überrascht. Dann begriff er, dass ihre Halsbänder an sehr kurzen, schweren Ketten befestigt waren, die an im Gemäuer verankerte Ösen ge schmiedet waren und ihnen gerade genug Auslauf gewährten, um Anlauf zu nehmen - ohne indes jemanden, der zwischen ihnen hindurchging, erreichen zu können. Als die Wachhunde Roan erkannten, setzten sie sich auf ihre Hinterläufe und wimmerten um Hilfe. Roan zerrte an den Schnallen ihrer Halsbänder, musste aber feststellen, dass sie zugeschweißt worden waren - wie auch die Glieder der Ketten und die Ösen im Mauerwerk. Roan nahm all seine Kraft zusammen, aber seine Anstrengung war vergebens: Kein noch so großes Maß an Einfluss vermochte den Stahl zu knacken, und auch das Leder der Halsbänder widerstand jedem Versuch, es zu zerreißen. Die Schmelztiegelkraft, die Brom aufgewandt hatte, war stärker als die Kraft jedes noch so starken Einzelwesens. Roan jedenfalls konnte die Hunde nicht befreien. Die Zeit lief ihm davon. Er musste los. »Tut mir Leid, meine Freunde«, sagte er mit einem be dauernden Blick in die braunen Augen der Hunde. Er konnte ihre Verlegenheit und ihre Scham erkennen. »Ich kann mich leider nicht länger damit aufhalten, euch zu helfen. Ich muss die fangen, die euch das angetan haben. Das Traumland selbst steht auf dem Spiel.«
Beide Hunde sprangen gleichzeitig auf und streckten die Nasen und die Vorderpfoten Richtung Osten. Roan erhob sich und blinzelte unter seiner Hand hindurch in die länger werdenden Schatten. Die Spuren, die er vorher gesehen hatte, waren als dunkle Abdrücke im Sand zu erkennen. »Ich danke euch!«, sagte er und tätschelte beiden Wachtposten den Kopf. »Bald werden andere vorbeikommen und euch helfen.« Roan zog eine Handvoll bunter Kiesel aus seiner Tasche und legte einen auf die Schwelle. Drei warf er zurück in Richtung Schlosstor, damit die anderen, wenn sie endlich kamen, eine Orientierung haben würden. Dann marschierte er los nach Osten. Der weiche, feine Sand erschwerte das Vorwärtskommen unerwartet. Bei jedem Schritt sank Roan bis zu den Knöcheln ein, was jede Elle zu einer Anstrengung und jede Meile zu einer Qual machte. Die Sonne stand nicht mehr genau über ihm, aber der Sand und der Himmel waren immer noch heiß und trocken. Sein Gesicht glühte und seine Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sein einziger Trost war, dass den Wissenschaftlern das Gehen noch schwerer fallen musste, schwer bepackt wie sie waren - mit dem WECKER. Er hoffte, die düstere Stimmung des Schläfers würde bald vorübergehen und die Landschaft zu einer freundlichen, offenen Wiese werden - oder zu etwas ähnlich Angenehmem -, damit er rascher an Boden gutmachen konnte. Es war bereits später Nachmittag. Ihm blieb wenig Zeit, wollte er sie noch vor Einbruch der Dunkelheit finden. Als wolle sie ihn wegen dieses Gedankens necken, wirbelte eine verirrte Brise eine kleine Sandwolke auf. Roan bedeckte das Gesicht mit einem Arm und blinzelte über seinen Ärmel hinweg. Ein Schatten auf der Kuppe einer Düne zu seiner Rechten fiel ihm ins Auge und er stolperte vorwärts.
Die Wissenschaftler hatten es geschafft, ihre Spur nahe beim Schloss unkenntlich zu machen, aber nach etwa neunzig Schritten hatten sie es aufgegeben, ihre Fährte weiter zu verwischen. Roan musste bloß ein bisschen hin und her gehen, um den ersten Abdruck zu finden. Und siehe da, da war er wieder, sein alter Freund und WECKERträger mit dem Hang zum Wegrutschen! Die Sandteufel verwischten die Spur jetzt weniger stark, und das meiste davon, grob Richtung Südwesten führend, war immer noch leicht zu erkennen. Roan beschleunigte seinen Schritt, indem er seine Füße fester in den Sand stemmte, bis ein beginnendes Seitenstechen ihn daran gemahnte, dass er noch einen weiten Weg vor sich hatte. Bestimmt würden die Fahrräder bald zurückkehren und die ändern konnten zu ihm aufschließen. Roan ließ einen blauen Kiesel fallen, um seine Fährte zu kennzeichnen - und bückte sich hastig, um ihn wieder aufzuheben, als ein leichter Windstoß ihn sogleich mit einer dünnen Schicht Sand bedeckte. Das würde nicht gehen. Er knetete den Kiesel mit den Fingern, bis er ein pfeilförmiges Schild auf einem Pfosten darstellte und bohrte dieses fest in den Boden. Seine sorgenvollen Gedanken wurden zu einer Litanei, während er dahinmarschierte. Das gesamte Gefüge seines Lebens, so wie er es kannte, konnte der Zerstörung anheimfallen. Sein kostbares Leben, süß wie Vogelsang, nach Honig duftend wie Heu und Wildblumen, erregend wie der Wind im Gesicht - bei einer rasenden Skiabfahrt. Roan seufzte. Ein Gefühl von Verzweiflung regte sich in seinem Bauch. Würde er zu spät kommen? Wie würde sich die Diskontinuität anfühlen? Er hatte regionale Umbrüche schadlos überstanden, aber was würde passieren, wenn die Realität als Ganzes in Stücke gerissen wurde? Seine Hände zitterten ein wenig, und fast hätte er den Pfeil fallengelassen, den er gerade knetete. Broms Kühnheit verblüffte Roan noch immer. War das, was
er vorhatte, überhaupt möglich? Niemand hatte sich je erkühnt, sich der Halle der Schläfer in solch einer Absicht zu nähern. Immer vorausgesetzt, es gab sie überhaupt. Allerdings war die Halle zu einer Legende geworden. Aber wenn man bedachte, dass Menschen die Macht besaßen, ihre eigene Realität zu formen, konnte es da sein, dass die Wissenschaftler die Halle lediglich aus schierer Willenskraft heraus erschufen? Nein, korrigierte sich Roan. Er durfte sich nicht durch die Umstände dazu verleiten lassen, seinen Glauben in frage zu stellen. Er glaubte an die Schläfer. Er hatte jede Menge Zeit zum Nachdenken gehabt, während er allein draußen unterwegs gewesen war, und nichts anderes, was er je gehört hatte, würde die Zufälligkeit des Lebens erklären. Die Realität war so seltsam, dass sie nicht aus Zufall entstanden sein konnte. Nun, da er den ersten Schreck über Broms jähes Verschwinden überwunden hatte, begann er logisch zu denken. Wo konnte Brom hin wollen? In der gesamten Geschichte hatte niemals jemand davon berichtet, per Zufall auf den geheimen Ort der Schläfer gestoßen zu sein. Um ihrer Schöpfung willen mussten die Schläfer gegen jede Art von Aufdringlichkeit gut abgeschirmt sein. Aber Roan hatte schon kontroverse gelehrte Dispute bezüglich ihres Standortes gehört, und er nahm an, dass diese auch Brom bekannt waren. Die Schläfer konnten sich schlechterdings nicht inmitten der Unbeständigkeit aufhalten, die sie der Landschaft auferlegten. In Tausenden von Jahren war die Halle noch nie durch sich verschiebendes Terrain offengelegt worden. Deshalb musste sie sich nach Roans Dafürhalten mit größter Wahrscheinlichkeit irgendwo in den Mysterien befinden, dem einzigen Ding, das sich nie verändert hatte - aber wo dort? Große Bereiche des gewaltigen Massivs, das das Traumland umgürtete, waren noch immer Terra incognita. Doch wenn er die Verfolger abhängen wollte, musste Brom den kürzesten Weg zum theoretischen Standort der Halle nehmen, den das Gelände ihm gestattete.
Roan konnte überwältigende Neugier verstehen; er selbst war von ihr befallen. Schwieriger war es zu begreifen, dass jemand immer etwas zerbrechen wollte, um zu sehen, woraus es bestand. Bestimmt gab es andere Wege, die Theorie zu überprüfen. Der Mangel an Rücksicht, den Brom und seine Lehrlinge gegenüber dem Leben anderer im Traumland zeigten, ließ Roan das Blut in den Adern gefrieren. Sie würden fröhlich jeden anderen opfern, nur um ihren eigenen Wunsch zu rechtfertigen, nämlich zu erfahren, was passierte. Roans Füße schmerzten. Er entschied sich für bequemeres Schuhwerk und tauschte seine schwarzen Stiefel gegen sanddichte weiße Laufschuhe ein, die seine Füße fest umschlossen und seinem Spann mehr Halt gaben. Diese Schuhe hatten sich auf seinen vielen Reisen schon so oft verwandelt, dass er Mühe hatte, sich daran zu erinnern, dass sie vor Jahren einmal als Reitstiefel angefertigt worden waren. Im Geiste band er die Schnürsenkel zu und sicherte sie mit einem doppelten Knoten, dann schaute er nach unten, ohne im Laufen innezuhalten. Viel bequemer. Er bedauerte die Menschen, die nicht nach Belieben Traumstoff formen konnten. Er sah sie ständig. Sie wohnten in seltsamen, auf Stelzen ruhenden Häusern, die aus allen möglichen Überresten zusammengeschustert waren und sich veränderten, wann immer der Wind des Wandels durch sie hindurchpfiff. Das waren die Leute, die kamen und gingen, wann immer ein Umbruch sich vollzog. Sie hatten nicht genügend Einfluss, um das, was ihnen widerfuhr, nach ihrem Willen zu lenken. Theoretisch konnten die Starken überleben, aber so sehr verändert, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen waren. Was würde aus ihnen werden, wenn alle Schläfer auf einmal geweckt wurden? Was würde aus ihm werden, dem Unveränderlichen? Würde er im Raum treiben, unverändert, und auf eine neue Realität warten, die fest genug war, um darauf stehen zu können? Konnte er ersticken? Würde die Luft
selbst verschwinden? Es war fesselnd, darüber zu spekulieren, aber es durfte einfach nicht so weit kommen. Das Traumland musste bewahrt werden. Roan schwor, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Desaster abzuwenden. Die länger werdenden Schatten machten es ihm leichter, den Spuren im Sand zu folgen. Es war so still, dass er hörte, wie ein Schweißtropfen unter seinem Haar hervorperlte und an seinem Hals herunterrann. Roan nahm seinen Hut ab und zog die Krempe hinten und an der Seite ein Stück länger, damit sie seinen Nacken und sein rechtes Ohr gegen die brennende Sonne abschirmte. Wie still der Himmel war, und wie merkwürdig es war, dass er, abgesehen von den Pflanzen und den beiden Hunde-Wachen, immer noch keine lebende Seele gesehen hatte! Es schien, als wäre alles von dem WECKER verscheucht worden. Wie lange konnten die Träger unter der Last ihrer schweren Last noch so weitermarschieren? Auch wenn sie über neuartige und außergewöhnliche Kräfte verfügten, waren sie immer noch menschliche Wesen. Sie wurden müde. War dies ein Schwachpunkt in dem Schmelztiegel, den Roan sich zunutze machen konnte? Früher oder später würden ihre physischen und geistigen Kräfte erschöpft sein - und sie würden eine Rast einlegen müssen. Dann würde er sie stellen. Roan blieb auf der Kuppe einer Düne stehen und ließ den Blick über die wellige Wüste vor sich wandern. In der Zwischenzeit offenbarten die Wissenschaftler ihre beachtliche Macht. Dass sie ihn auf einen beträchtlichen Umweg durch den Irrgarten gelockt hatten, trotz klarer Sicht von ihm unbemerkt marschierten, die Wachen verändert und sie durch unverbrüchliche Bande an ihre Posten gekettet hatten und dabei die ganze Zeit über ein achtbares Tempo aufrechterhalten hatten, zeugte von beeindruckenden Kraftreserven. All dies hatten sie in der knappen Stunde zustande gebracht, die seit Broms verblüffender Demonstration
und seiner nicht minder verblüffenden Ankündigung verstrichen war. Roan hatte das Gefühl, dass er das Schmelztiegelverfahren fast selbst einmal gerne ausprobieren würde, um zu sehen, wie es sich anfühlte. Die jüngeren Wissenschaftler hatten gleichzeitig verängstigt, euphorisch, verblüfft und stolz dreingeschaut. Und sie hatten einen Drachen herbeizitiert, etwas, das kein einzelner Mensch, außer vielleicht der König selbst, hätte allein zustande bringen können! War die Summe der einzelnen Teile umso vieles größer als jedes einzelne Individuum? Was für ein Wunder sie da entdeckt hatten! Es war eine Schande, dass sie sich dazu entschieden hatten, es für einen solch üblen Zweck zu verwenden. Auf der windabgewandten Seite des hohen, graubraunen Hanges war die Fährte stärker ausgeprägt. Roan nahm den steilen Abstieg in Angriff, indem er das Gewicht auf die Fersen verlagerte. Es schien jetzt ziemlich klar, dass die Wissenschaftler nach Süden wollten, zum Albtraumwald. Roan fühlte, wie das vertraute Unbehagen in ihm hochstieg, als er darüber nachdachte, dass er durch diesen Wald musste. Er wollte sie unbedingt einholen, bevor sie ihn erreichten. Er konnte niemanden vor sich sehen, aber da sie sich unsichtbar machen konnten, beunruhigte ihn das nicht weiter. Er würde sie anhand ihrer Fußspuren dingfest machen. Das Gelände flachte zu einer endlos sich wellenden Ebene ab, deren härterer Sand Fußabdrücke besser bewahrte. Die Schritte der Wissenschaftler wurden kürzer. Sie zollten allmählich der Hitze Tribut. Er aber auch. Sein Mund war trocken und eine sandige Kruste hatte sich um seine Augen und Nasenlöcher herum zu bilden begonnen. Er fuhr sich mit einer staubigen Hand durch das Gesicht. Die Luft vor ihm flimmerte wie der Dampf über der Tülle eines Kessels. Er konnte Brom jetzt gar nicht mehr nicht einholen, es sei denn
Der Rest des Gedankens, >... es sei denn, sie hatten Wachen auf dem Pfad zurückgelassen< blieb ungedacht, als etwas Schweres von hinten auf ihn fiel. Roan stürzte auf Hände und Knie. Er sah die Falle erst, als er schon hineingestolpert war.
7. KAPITEL Roan empfand ein gewisses Maß an Bewunderung für Brom. Wieder einmal hatte der Oberste Wissenschaftler bewiesen, dass er zwei Schritte weiter als alle anderen gedacht hatte. Für den Fall, dass einer es schaffen sollte, die Täuschung mit dem Labyrinth zu durchschauen, lag bereits ein Reserveplan vor. Die Wissenschaftler hatten sich gut vorbereitet. Sie mussten Roan beobachtet haben, seit er auf der Kuppe der letzten Düne aufgetaucht war. Ein schwerer Arm legte sich um Roans Kehle und zog ihn hoch auf die Beine. Ein zweiter Arm schlang sich um seinen Hals. Roan versuchte nach seinem unsichtbaren Peiniger zu greifen, aber der schien so groß und so stark wie eine Wand zu sein. Der Sandboden war rutschig, und Roans Bemühungen, sich aus dem eisernen Würgegriff zu befreien, endeten darin, dass er sich noch weiter strangulierte, als ihm die Füße unter dem Leib weggekickt wurden. Eine zweite riesenhafte Gestalt nahm in dem flimmernden Nichts vor ihm Gestalt an. Zu wie vielen waren sie? Er blinzelte, versuchte, um die Ränder des wabernden Geflimmers herumzuspähen. Gut, nur zwei also. Der zweite Mann, schmaler und kleiner als der Erste, erschien und zielte mit der Faust auf Roans Magengrube. Roan zog blitzschnell die Beine an, sein ganzes Gewicht auf seine Arme und seinen Hals verlagernd, was zwar höllisch wehtat, jedoch zugleich den Effekt hatte, dass er das Gesicht des Mannes, der ihn von hinten würgte, nach unten und in die Bahn der vorwärts schnellenden Faust zog. Der große Mann taumelte und knurrte eine Verwünschung. Roan riss seinen Kopf ruckartig hoch und die Ellenbogen zurück und erwischte seinen Opponenten gleichzeitig am Kinn und an den Rippen. Der Mann japste scharf auf, als ihm die Luft aus dem Brustkorb gehauen wurde, ließ Roan los - und fiel auf Roan. Beide
landeten im Sand. Der zweite Angreifer wollte Roan einen Tritt gegen den Kopf versetzen, aber Roan hatte den Sand ausreichend aufgeweicht, um hindurchschwimmen zu können, und kraulte sich hurtig aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus zu einer günstigeren Stellung mehrere Schritte von dem mysteriösen Geflimmere entfernt. Er zog sein Taschenmesser hervor und entfaltete es zu einem acht Fuß langen Kampfstecken. Mit diesem Stecken in den Händen nahm er eine Verteidigungsstellung ein und wartete auf den Angriff der beiden. Der erste Mann rappelte sich mühsam auf. Der zweite, kleinere, huschte hurtig zur Seite und versuchte, hinter den Rücken Roans zu gelangen. Sie schienen beide geübte Kämpfer zu sein. Er durfte sie nicht unterschätzen. Roan veränderte seine Position so, dass er die hohe Düne im Rücken hatte. Er drehte sich blitzschnell auf dem Absatz und wieder zurück, um beide Angreifer im Auge zu behalten. Würde er es schaffen, an ihnen vorbeizukommen? Er war leichter als beide. Vielleicht wäre es das Beste, wenn er zur Kuppe der Düne hinauf rennen und um Hilfe winken würde. Roan bewegte sich seitlich den Hang hinauf - und geriet in ein Einflussfeld. Es fühlte sich ein bisschen klebrig an, wie wachsartiger Dampf. Die Wachen waren nicht zurückgelassen worden - sie waren mit der Wissenschafts-Gruppe mitgewandert. Dies war ein Teil der Falte in der Realität, in der die anderen sich versteckten. Roan tastete mit einer Hand nach dem Rand der Empfindung und folgte ihr immer weiter mit einem wachsenden Gefühl von Panik. Es gab keinen Rand. Die wächserne Empfindung hatte sich um ihn herumgelegt. Er versuchte sie zu durchstoßen und prallte zurück, als wäre er gegen ein riesiges Gummiband gerannt.
»Komm her, du, hol dir deine Medizin«, rief der zweite Mann, mit beiden Händen winkend. Er hatte eine schnarrende Stimme und ein sadistisches Glitzern in seinen kleinen Augen. »Seid ihr konzessionierte Gesundheitspraktiker in einem anerkannten PPO, HMO oder einer anderen anerkannten regenschirmgemanagten Gesundheitseinrichtung?«, fragte Roan, Begriffe ausstoßend, die er in einem Bericht über eine Halluzination gelesen hatte, die ein Bürger von Mnemosyne unlängst gehabt hatte. Er trat seitlich von der Anhöhe herunter und begann sich hin und her zu bewegen, seinen Kampfstecken schwenkend. »Häh?«, fragte der zweite Mann und blinzelte ihn überrascht an. Auch der Erste machte einen beunruhigten Eindruck, aber er hatte sein Gesicht besser unter Kontrolle. »Du behältst deine Bemerkungen besser für dich«, blaffte er Roan an. Ihre Deckung war für einen Augenblick gefallen, und Roan erfuhr, was er bereits angenommen hatte. Diese Männer waren kein Teil des Zauberkreises. Nicht ein Quentchen von dem Einfluss, der ihn gefangenhielt, kam von ihnen. Sie waren nicht Herr ihres eigenen Schicksals. Nach langjähriger Erfahrung hatte Roan ein Gespür für Kraftquellen entwickelt. Diese zwei Männer waren kräftig - und sonst nichts. Sie waren die erste Energiesparmaßnahme, die Brom anwendete, und die erste Barriere, die Roan niederreißen musste. Der erste Mann machte einen Ausfallschritt nach ihm und Roan ließ den Stecken mit den Händen kreisen und zog dem Angreifer kräftig eins über die Schulter. Der Kerl jaulte auf und sprang zurück. Der zweite Mann versuchte die Gelegenheit zu nutzen und hinter Roan zu gelangen, doch der stellte sich prompt mit dem Rücken gege n die unsichtbare Wand. Sie blieb fest, was bedeutete, dass die Wissenschaftler, die sich hinter ihr verschanzt hielten, nicht vorhatten, herauszukommen und ihren
gedungenen Schlägern zu helfen. Das schützte Roan ebenso wie sie selbst und er zog Nutzen aus dem Schild, den ihre Feigheit ihm bot. Die Realität im Innern des klebrigen Kreises war frei von dem wachsartigen Gefühl. Roan raffte seinen eigenen Willen zusammen. Er würde seinen Kontrahenten kein Leid zufügen, wenn er es vermeiden konnte. Er strengte seine Fantasie an, auf dass sie ihm eine physische Gestalt präsentiere, die ihn nicht angreifen konnte, aber trotzdem lebendig und mit Bewusstsein ausgestattet war. Aha! dachte er mit einem Gefühl des Triumphes. Was bot sich in diesem Fall Besseres an? Die Materie um ihn herum fühlte sich biegsam und plastisch an und er weitete die Empfindung nach außen aus, bis sie die beiden Männer berührte und umfing. Der natürliche Widerstand von allem und jedem gegen eine Veränderung, die nicht der Laune der Schläfer unterworfen war, manifestierte sich, und die Männer jaulten und wanden sich, während sie sich verwandelten. Sie schlugen Wurzeln und wuchsen, dünne, sich immer weiter verzweigende Arme in die Höhe reckend. Ihre Haut wurde dunkler und rauher. Einen Augenblick später stand Roan allein in der Wüste - mit zwei hübsch belaubten Eichenbäumen. Er ließ seinen Stecken sinken und seufzte erleichtert. Die Veränderung war schmerzlos, sollte aber für eine Weile halten. Nun galt es, sich die feigen Wissenschaftler vorzunehmen, die sich immer noch in der Wolke versteckten. Er stocherte mit dem Zeigefinger gegen die wachsartige Barriere. Eine Reaktion wie die auf einen Stromschlag schleuderte ihn zurück und gegen die gegenüberliegende Wand. Roan fand stolpernd sein Gleichgewicht wieder und hob erneut seinen Stecken. Die Bäume waren noch immer dabei, sich zu verändern, doch statt zu wachsen, wurden sie wieder kürzer und dicker. Die Raufbolde verwandelten sich in menschliche
Wesen zurück. So rasch? Ein Gesicht erschien auf einem der Stämme. Als die harte Rinde weicher wurde, sah es ihn und grinste höhnisch. Der andere bekam Arme und Beine, mit denen er seine fußähnlichen Wurzeln aus dem Boden zog. Dergestalt befreit, kam er langsam und drohend auf Roan zugestapft. Roan wich einem Ast aus, der ihm an die Gurgel fahren wollte und duckte sich hinter den anderen Baum-Mann. Ihr Maß an Vernunft musste ziemlich hoch sein. Auch wenn sie nicht imstande waren, die sie umgebende Realität zu kontrollieren, so hatten sie doch ihre persönliche Identität im Griff, was bedeutete, dass Roan sie nicht für längere Zeit in etwas anderes würde verwandeln können. Er würde diesen Fehler kein zweites Mal machen. Einmal mehr war er beeindruckt von dem hohen Aufwand an Planung, den Brom in seine Mission gesteckt hatte. Roan flitzte hin und her und vor und zurück, während die beiden Baum-Männer mit hölzernen Bewegungen um ihn herumtappten und versuchten, ihn mit ungeschickten Asthänden zu erhäschen. Er brauchte ein Ablenkungsmanöver, um eine Chance zu bekommen, sein Gefängnis zu studieren und einen Ausgang zu finden. Sich selbst konnte er nicht verändern, und jede Veränderung, die er über seine Kontrahenten warf, würde nicht lange halten. Aber vielleicht konnte er sie zum Narren halten. Roan beschwor einen Miniatursandsturm herauf, bis seine Gegner ihn nicht mehr klar erkennen konnten und baute sich dann eine Vermummung. Die beiden anderen Gestalten fuhren fort zu schrumpfen und dicker zu werden. Er formte sich aus dem wirbelnden Sand eine baumähnliche Hülle und deutete mit jeweils einem Ast auf die Gesichter der anderen. »Mach zu!«, rief er. »Pack ihn dir! Ich helf dir!« In dem wirbelnden Staub konnte jeder der beiden Raufbolde eine Baum- und eine Mann-Gestalt erkennen. Natürlich
stürzten sich beide auf die Mann-Gestalt, die sie jeweils sehen konnten und im Nu war die schönste Keilerei zwischen den beiden im Gange. Roan grinste sich eins. Sie mochten sich vielleicht in Fleisch zurückverwandeln, aber ihr Grips war noch immer aus Holz. Roan nutzte die Gelegenheit, um sich wieder in den Sand hinein und unter der Wand, die ihn umgab, hindurch zu wühlen. Er kam hinter einer Anzahl von Leuten in weißblauen Laborkitteln heraus, die einander an den Händen haltend im Kreis um die beiden Kombattanten und die Sandhülle standen, die er zurückgelassen hatte. Die meisten der Lehrlinge schienen unter fünfundzwanzig zu sein, aber sie sahen so erschöpft aus, dass sie gut und gerne doppelt so alt hätten sein können. »Nein, ihr Idioten!«, schrie einer der Adepten. »Er ist da! In dem Baum!« »Nicht mehr«, sagte Roan. Alle Adepten zuckten zusammen, als sie seine Stimme hörten. Der ihm am nächsten Stehende wandte den Blick nach hinten und sah ihn an. Seine Augen wurden groß und er glotzte wie ein Fisch. »Tun Sie mir nichts!«, winselte er. Er war sehr dünn und hohlwangig, und seine weit aufgerissenen, glotzenden Augen wirkten rotgerändert. Roan manifestierte einen Windbeutel, den er dem anderen mit einer flinken, geübten Handbewegung ins Gesicht klatschte. Die matschige Füllung verflüchtigte sich in Sekundenschnelle, aber die überraschende Bewegung hatte den Effekt, dass der Mann die Hände der anderen losließ und sich die Hände vors Gesicht schlug. Die magische Unsichtbarkeit erlosch sofort und der Sandsturm legte sich. Die Raufbolde, die inmitten des Kreises standen und sich gegenseitig an der Gurgel gepackt hielten, glotzten sich blöde an. In der befreiten,
klaren Luft baute Roan Einfluss auf und begrub die beiden bis zum Hals im Sand. »Ich werde keinem etwas zuleide tun«, sagte Roan mit fester Stimme und wandte sich den Lehrlingen zu. »So, und jetzt lasst euch los! Auseinander mit euch, alle miteinander!« Seinen Stecken als Zeigestock nutzend, wies er sie an, sich in einer Reihe aufzustellen, und zwar in einem solchen Abstand zueinander, dass sie sich nicht berühren konnten. »So, und jetzt warten wir hier, bis das Kontingent aus dem Palast eintrifft.« Die meisten der Männer und Frauen stellten sich brav dort hin, wohin er sie dirigierte, doch der Hagere, der auch den schmucksten Kittel von allen trug, rührte sich nicht von der Stelle. Roan brauchte einen Augenblick, um in ihm Brom zu erkennen. Der Oberste Wissenschaftler hatte seine elegante Körperfülle für die Reise abgelegt. Der freundliche, unterwürfige Gesichtsausdruck, den er bei Hofe zur Schau getragen hatte, war verschwunden. An seiner Statt bemerkte Roan kalte Rücksichtslosigkeit und Selbstsicherheit. Die Ränder der Realität selbst zitterten, wo sie ihn berührten. »O nein«, sagte Brom mit einem unbekümmerten Lächeln, das im Verein mit der Kälte in seinen blauen Augen etwas Furchterregendes hatte. »Sie werden uns nicht aufhalten, junger Mann.« Roan wog den Stecken. »Ich muss es und ich werde es. Wo ist der WECKER?« »Weg.« Brom lachte, ein sprödes Lachen, das die Luft um sie herum gefrieren machte. Für einen Augenblick verschwand die Wüstenhitze und Roan lief ein Frösteln über den Rücken. »Nein, Sie werden uns nicht aufhalten.« Brom setzte sich auf einen goldenen Stuhl, der plötzlich hinter ihm Gestalt angenommen hatte. Der Stuhl erinnerte Roan an den Königsthron in Mnemosyne, mit dem Unterschied, dass dieser größer und klinisch glatt war. Auch fiel ihm auf, dass ein Teil
der Dünen und Pflanzen um sie herum plötzlich fehlte, so als hätte ein gigantischer Mund ein Riesenstück aus der Landschaft herausgebissen. Brom scherte sich nicht darum, was er veränderte oder zerstörte, solange er bekam, was er wollte. Der Sand rieselte in die Lücken und füllte sie aus, so wie Blut eine Wunde ausfüllt. »Das war schlau von Ihnen, meine Männer zu verwirren. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Kraft besäßen, sie zu verändern«, sagte der Oberste Wissenschaftler und musterte Roan mit einem schiefen Lächeln. »Bäume. Das war barmherzig. Ein Fehler. Barmherzigkeit kostet Zeit. Ich an Ihrer Stelle hätte sie so zurückgelassen, dass sie mir nicht noch einmal hätten folgen können. So!« Er drückte die Fingerspitzen so aufeinander, dass seine Hände einen Ball bildeten und den warf er auf Roan. Ein Energiestoß traf Roan und ließ ihn zurücktaumeln. Er hörte ein summendes Knistern in den Ohren und fühlte ein Kribbeln am ganzen Körper. Brom wollte seine Überlegenheit demonstrieren, indem er ihn veränderte. Zuerst war Roan wütend, und dann fragte er sich, ob dieser arrogante Mensch tatsächlich etwas konnte, was noch nie jemand vermocht hatte. Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass Brom es schaffte. Aber er schaffte es nicht, und der erstaunte Ausdruck in den Augen des Wissenschaftlers zeigte ihm, dass er damit nicht gerechnet hatte. Brom hielt inne, um zu überlegen. Roan nutzte diesen kurzen Augenblick der Untätigkeit, um Broms goldenen Stuhl in Nichts zu verwandeln, was dazu führte, dass der Oberste Wissenschaftler mit dem Hintern im Sand landete. Noch während er fiel, sprang Roan zu ihm und verwandelte seinen Stecken in einen Strick. Wenn es ihm gelänge, Brom zu überwältigen, würden die anderen mit ziemlicher Sicherheit brav bleiben. Sobald dann Bergold mit den Fahrrädern einträfe, würde Roan einen von ihnen dazu bringen, ihn zum WECKER
zu führen und die anderen unter Bewachung zum König zurückschicken. Die Hilfe konnte nicht mehr weit sein. Zu Roans Überraschung indes verbargen sich hinter Broms ektomorpher Gestalt die Tücken eines formidablen Kämpfers. In Blitzesschnelle war der Oberste Wissenschaftler wieder auf den Beinen. Roan stellte ihm ein Bein, sodass er erneut im Sand landete, und aktivierte Einfluss, um ihn zu immobilisieren. Brom wälzte sich aus dem Einflusskreis, raffte eine Handvoll Sand vom Boden auf und warf sie Roan ins Gesicht. Roan riss die Hände hoch, um seine Augen zu schützen, und sah deshalb den Schlag nicht, der ihn an einer empfindlichen Stelle unterhalb der Gürtellinie traf. Ein mörderischer Schmerz raste durch seinen Körper und er sackte mit einem Stöhnen zu Boden. Brom lachte, ein hohl klingendes Geräusch, das von hoch oben kam. Roan kämpfte den Schmerz nieder und warf sich mit ausgestreckten Armen gegen den Wissenschaftler. Es gelang ihm, Brom in einen Klammergriff zu bekommen. Sein Griff war schwächer als gewöhnlich, aber Brom war eigentlich kein Gegner für ihn. Er war zäh, wütend und kannte eine Menge schmutziger Tricks, aber er atmete bereits schwer. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Er war außer Form, hatte viel mehr Zeit seines Lebens mit wissenschaftlicher Arbeit als mit körperlicher Ertüchtigung verbracht. »Geben Sie auf?«, fragte Roan. »Warten Sie einfach hier und wir werden erklär -« Mit einem grimmigen, hasserfüllten Blick senkte Brom den Kopf und biss Roan ins Handgelenk. Als die Sehnen in Roans Handgelenk erschlafften, keilte Brom erneut nach ihm aus, wieder auf Roans Unterleib zielend. Roan musste ihn loslassen, um dem Tritt auszuweichen, aber er stürzte sich sofort wieder auf den Wissenschaftler, und diesmal gelang es ihm, den Kerl in den Schwitzkasten zu nehmen. Brom wehrte sich verzwei felt, wild knurrend, zappelnd und auskeilend. Roan hielt ihn
eisern im Würgegriff. Er musste Brom überwältigen. Dann konnte er die anderen zusammentreiben -nein, konnte er nicht. Er musste sie schön voneinander getrennt halten, damit sie nicht wieder ihren Schmelztiegel bildeten. Am besten fesselte er jeden von ihnen an einen eigenen Baum. Er würde halt ein paar wachsen lassen müssen. Eine der wild dreschenden Fäuste eines der Adepten traf ihn, zufällig oder beabsichtigt, an der Niere. Roan stöhnte vor Schmerz laut auf und sank langsam zu Boden. Der Oberste Wissenschaftler stellte sich über ihn. Der Saum seines Kittels klatschte Roan ins Gesicht. »Ihr da«, befahl Brom schwer atmend, an seine Lehrlinge gewandt. Er deutete auf die zwei Köpfe, die aus dem Sand schauten. »Grabt die Männer aus und macht euch fertig zum Aufbruch.« »Nein!«, protestierte Roan und versuchte, sich auf Händen und Knien hochzustemmen. »Im Namen des Königs -« Brom drehte sich um und trat ihm mit voller Wucht in den Bauch. Roan fiel hin. Die Lehrlinge begannen die Männer hastig auszubuddeln. Sobald die Raufbolde die Arme frei hatten, halfen sie beim Graben mit, unter so farbenprächtigen Flüchen und Verwünschungen, dass es Schlieren in der Luft hinterließ. Roan biss auf die Zähne und versuchte die Schmerzen zu ignorieren. Er zwang sich aufzustehen. Brom wartete ein paar Schritte vor ihm, den rechten Mundwinkel zu einem hämischen Grinsen hochgezogen. Roans Strick-Stecken lag hinter Brom auf der Erde. Roan steckte zwei Finger in den Mund und pfiff ihn zu sich. Der Strick straffte sich, um wieder zum Stecken zu werden und schlug dabei Brom von hinten gegen die Kniekehlen. Der Wissenschaftler kippte hintüber und landete mit einem wütenden Brüllen abermals auf dem Hintern im Sand.
»Steht da nicht herum wie die Ölgötzen!«, brüllte er seine Adepten an, während er sich abstrampelte, um wieder auf die Beine zu kommen. »Bildet einen Kreis!« »Bleibt stehen, wo ihr seid!«, befahl ihnen Roan. Seine Stimme klang dünn und er legte mehr Kraft in sie hinein. »Seit eineinhalb Stunden trotzt ihr dem Willen des Königs. Jede weitere Handlung, die ihr begeht, steht in genauem Widerspruch zu seinen Befehlen.« Die jungen Adepten schauten unsicher von einem zum ändern und die beiden Grobiane blickten sich ebenfalls unschlüssig an. Beide, Roan wie Brom, sprachen mit Autorität, und sie wussten nicht, wem sie gehorchen sollten. Roan baute auf seinen Vorteil. »Ihr habt den Saal wahrscheinlich zu früh verlassen, als dass ihr noch hättet mitbekommen können, dass das Projekt abgeblasen worden ist«, sagte er mit ruhiger Stimme, an ihre Vernunft appellierend. »Wenn ihr jetzt umkehrt, wird die Ministerin für Wissenschaft euch für schuldlos an allen Vergehen erklären, die -« Mit einem gehässigen Knurren errichtete Brom einen schalldichten Glaskäfig um Roan, während er aufstand und seine Würde wiederherstellte. Roan, der fühlte, dass sein eigener Einfluss an diesem Ort stark war, verdünnte das Glas sogleich zu Luft und spazierte aus dem Käfig heraus. Eine wahre Willensschlacht begann. Roan taxierte Brom und fragte sich, wie stark sein Wille sein mochte. Broms Weisheit mochte er vielleicht in frage stellen, wenn er an den monströsen WECKER dachte, aber am Verstand des Mannes bestand kein Zweifel und der Verstand war der Ort, wo im Traumland die Macht lag. Um den Stoff, aus dem die Träume waren, zu be herrschen, musste man seine eigenen Parameter, um nicht zu sagen, Grenzen, genau kennen. Verfügte man über genügend Willenskraft, dann gab es keine Grenzen, außer denen der Schläfer selbst. Roan griff nach formbarer Materie und warf ganze Armladungen Einfluss auf Brom.
Handschellen aller Größen schlössen sich schnappend um die Beine, Füße, Arme, den Rumpf und den Hals des Obersten Wissenschaftlers. Sie regneten geradezu herab und begruben Brom unter einem Berg klirrenden Metalls. Das Geklirre war so laut, dass es seine wütenden Schreie übertönte. Roan wandte sich wieder den Adepten zu, aber fast sofort waren die Handschellen und Ketten wieder verschwunden. Brom knurrte ihn wütend an. Roan versuchte die Ketten zurückzurufen, aber sein Ruf verhallte ungehört. Er empfand Bestürzung. Brom verfügte über ein ebenso hohes Maß an Einfluss wie er selbst. Die jungen Adepten standen unschlüssig herum. Sie gingen zögernd aufeinander zu. »Bildet einen Kreis!«, befahl Brom. »Nein!«, schrie Roan. Keiner von ihnen besaß die Kraft oder das Talent ihres Herrn; sie waren lediglich intelligent. Die beiden Muskelmänner stürmten auf ihn zu, aber Roan zog ihnen prompt den Boden unter den Füßen weg und ließ sie in eine steilwandige Sandgrube purzeln, der er gleichwohl einen weichen Boden verlieh, damit sie weich landeten. Die kurze Ablenkung gab Brom Zeit für ein neues Manöver. Maschinengewehre erschienen in einem Ring um Roan. Er warf sich blitzschnell auf den Sandboden und ein ohrenbetäubendes Sperrfeuer brach über ihm los. Waren die Kugeln echt? Roan hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Er wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen, die Echtheit der Kugeln zu prüfen, indem er den Kopf hinhielt. Würde Brom so weit gehen, dass er zum Mittel des Mordes griff, um sicherzustellen, dass seine kostbare Erfindung eine Chance hatte, sich durchzusetzen? Vielfaches leeres Klicken verriet ihm, dass die Gewehre ihre Munition verschossen hatten. Bevor sie wieder laden konnten, sprang Roan auf und ließ sie mit einer Handbewegung verschwinden. Er sah keine Löcher in der Landschaft
ringsherum oder in den Adepten, die keine Chance gehabt hätten, den Kugeln auszuweichen. Das Sperrfeuer war also eine geistige Finte gewesen. Gut, das zu wissen. Unter diesen Bedingungen konnte Roan kämpfen. Die einzige Möglichkeit, einen geistig wirklich gesunden Mann zu besiegen, der wusste, wer er war, war, ihn zu verwirren. Roan erschuf mehrere Duplikate von sich und ließ sie gleichzeitig auf den Obersten Wissenschaftler eindringen. Jedes von ihnen schwang eine andere Waffe. Roan hoffte, Brom würde seine Kräfte damit verausgaben, die Sche inbilder zu attackieren. Stattdessen aber formte Brom erneut einen Trichter mit den Händen, worauf dunkelbraune Sandwolken aufwirbelten. Brom schlug Roan mit dessen eigener Waffe, nämlich der, das Terrain für sich einzusetzen. Ganz gleich, wie viele von >ihm< da waren, sie würden allesamt von dem wirbelnden Sand zerfetzt werden. Roan spähte mit zusammengekniffenen Augen durch den Sandsturm. Er glaubte, noch immer alle Wissenschaftler an ihrem letzten Standort stehen zu sehen, und erwog, jeden von ihnen dort zu fixieren, wie die Spielsteine auf einem Damespielbrett. Er war gerade dabei, die Linien in den Sand zu ziehen, als der Boden unter seinen Füßen sich zu regen begann. Er fühlte, wie er nach rechts gedreht wurde. Um seine Gefangenen nicht aus den Augen zu lassen, schwenkte er auf den linken Absatz. Der Sand drehte ihn aufs Neue nach rechts. Wieder schwenkte er nach links. Der Sand drehte sich - und ihn - weiter nach rechts. Roan schwenkte immer wieder nach links, als tanze er auf einem kreisenden Tanzboden. Falls Brom es darauf anlegte, ihn zu verwirren, dann machte er seine Sache gut, denn Roan wurde es zusehends schwindliger, obwohl er sich an ein und derselben Stelle befand. Er musste jedes Gran an Kraft, jedes Quentchen Konzentration mobilisieren, das er besaß, um seine Realität für sich zu erhalten. Hinter der Sandwolke versteckt, konnte Brom kleine Details verändern
und Roan würde es nicht merken. Die hochgewachsene Gestalt in Graublau und Weiß neigte den Kopf, und die anderen bewegten sich auf sie zu. Erschrocken hörte Roan auf, das Kreisen des Bodens mit schnellen Trippelschritten auszugleichen und ließ sich vom Sand im Kreis herumwirbeln. Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass die Wissenschaftler sich berührten. Wie als Zuschauer einer Laterna-Magica-Vorstellung sah er Broms Adepten sich mit abgehackten Bewegungen aufeinander zu bewegen. Roan errichtete um jeden der Adepten einen Wall aus Sand und zwang diesen mit schierer Willenskraft, eine durchsichtige, steinartige Undurchdringlichkeit anzunehmen. Die Gestalten hielten inne, als sie die Grenzen ihres Gefängnisses fühlten. Roan hörte vom Tosen des Windes gedämpfte Stimmen und über allem das wütende Gebrüll Broms. Die hochgewachsene Gestalt wandte sich von ihm ab, um die durchsichtigen Wände mit den Händen abzutasten. Sie mutete dabei fast wie eine Pantomime an. Roan hatte kein Schlupfloch aus dem Gefängnis offen gelassen. Brom warf eine Geste über die Schulter auf Roan. Mit einem Blick des Abscheus musste Brom den Einfluss fahrenlassen, den er einsetzte, um aus dem Einfluss Roans auszubrechen. Der Investigator des Königs hörte so jäh auf, sich im Kreise zu drehen, dass er ein paar Schritte stolperte und auf ein Knie in den Sand sank. Doch es gelang ihm, seine ganze Konzentration darauf fixiert zu halten, dass die Wände hielten. Er musste die anderen solange an Ort und Stelle festhalten, bis endlich Hilfe einträfe. Wie lange dauert das denn noch? fragte er sich nervös. Bergold, wo bleibst du? Die Lehrlinge versuchten, aus ihrem Gefängnis herauszuklettern und Roan sah Hände über dem Rand einiger Zellen auftauchen. Er machte die Wände schlüpfriger und sie purzelten wieder herunter.
»Wann?«, schrie Brom laut. Roan fuhr hoch. Die Frage war nicht an ihn gerichtet. Einer der Adepten ließ ab von dem Versuch, aus seinem Gefängnis herauszuklettern. Er zog eine goldene Taschenuhr hervor und klappte sie auf. »Noch nicht, Herr!« »Dann warte darauf!«, rief Brom zurück. Er legte die Hände übereinander und sprengte die gläsernen Wände mit einen Ausbruch von Willensenergie. Die Zylinder zerbarsten, und die Adepten rannten durch die Scherben, die auf sie herabregneten, aufeinander zu. Roan zwang die Scherben, sich wieder zu festen Wällen um jeden einzelnen Adepten zusammenzufügen. Solange seine Kraft hielt, konnte sich der Schmelztiegel nicht neu formieren. Er dankte dem Schicksal, dass es ihm einen unveränderlichen Körper geschenkt hatte. Der Oberste Wissenschaftler versuchte es immer wieder, und als er einsah, dass es nichts fruchtete, verlegte er sich wieder darauf, Roan den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Roan torkelte wie ein Betrunkener, schwindlig von dem ständigen Geschwanke und Gedrehe - aber er durfte sich um keinen Preis von der Übelkeit übermannen lassen. Er wälzte sich zur Seite, wenn der Boden sich unter ihm auftat, und krallte sich im Sand fest, wenn er sich plötzlich unter ihm auftürmte. Er mochte zwar keinen besonders anpassungsfähigen Körper haben, doch er besaß einen hochentwickelten Selbsterhaltungstrieb. Nun komm schon endlich, Bergold! dachte er verzweifelt. Beeil dich! Ein dunkler Schatten zu seinen Füßen ließ ihn jäh nach oben blicken. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich zur Seite zu wälzen, als ein Zehn-Tonnen-Gewicht gena u an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, auf den Sand krachte. Brom schien seine Handgeste dazu zu benutzen, seine geistigen Kräfte zu bündeln. Roan verwandelte die Glaswände
seines Gefängnisses in ein gläsernes Band, das den Obersten Wissenschaftler wie ein Paket verschnürte, sodass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Der Adept mit der Taschenuhr schrie, ohne den Blick zu heben: »Herr! Einer von ihnen kommt... jetzt!« Roan hätte gern gewusst, wer oder was mit >ihnen< gemeint war, aber er wagte nicht, seine Konzentration zu brechen, indem er sich umschaute. Kündigte das kleine Gerät womöglich das Eintreffen Bergolds und der anderen an? Plötzlich sah er sich umringt von einer Schar von Männern in weißen Hemden, schwarzen Hosen, Schuhen und grellbunten Krawatten, die in kleine rechteckige schwarze Kästchen, die sie sich seitlich an den Kopf hielten, schrien: »IBM verkaufen! Nein, kaufen! Verkaufen, verkaufen, verkaufen! IBM kaufen! AT&T kaufen! Nein, verkaufen!« Eine Störung! Diese Zufalls-Neuralstürme waren das Produkt vereinzelter überschüssiger Stücke aktiven Einflusses, die abbrachen und durch das Traumland wirbelten. Sie tauchten fast immer im ungünstigsten Augenblick auf und störten die normale Aktivität. Roan drosch auf die Horde von Investment-Brokern ein und versuchte, über ihre Schultern zu blicken. Jemand stieß gegen seinen Ellenbogen. Er ließ seinen Stecken fallen und schaffte es in dem Gedränge nicht, sich zu bücken und ihn wieder aufzuheben. Trotz des Tohuwabohus gelang es Roan, hier und da einen Blick auf die Wissenschaftler zu erhaschen. Einer nach dem anderen befreiten sie sich aus ihren gläsernen Gefängnissen und rannten davon. Roan versuchte, ihnen seinen Willen aufzuerlegen und sie zum Stehenbleiben zu zwingen, aber jedesmal, wenn er gerade einen gepackt zu haben schien, kam ihm ein Fragment von der Störung in die Quere und unterbrach die Verbindung erneut. Ihm wurde klar, dass er sich in seiner Konzentration zu
verzetteln drohte. Statt zu versuchen, die ganze Gruppe einzufangen, versuchte er, sich gezielt auf das nächste Individuum zu konzentrieren, das er sah: einen dünnen jungen Mann, aus dessen Brusttasche eine Klarsichthülle hervorlugte. Er fixierte ihn mit seinem Blick und ließ ihn im Sande versinken. Jetzt würde er zumindest einen Gefangenen haben. Bis zu den Achselhöhlen im Sand steckend, schrie der Lehrling um Hilfe. Roan verstopfte ihm den Mund mit Watte. Die Störung schubste ihn hin und her und er verlor den Gefangenen wieder aus dem Blick. Aus dem Gewirr von Mobiltelefonen und Armani-Anzügen tauchte plötzlich das Gesicht von Brom auf und schaute ihn boshaft an. »Siehst du, junger Mann? Es gibt keinen anderen Meister als die Wissenschaft.« Roan sah noch, wie das Ende seines eigenen Steckens auf seine Stirn zugeschossen kam. Ein fürchterlicher Schmerz schoss ihm durch den Schädel und dann wurde es schwarz um ihn.
8. KAPITEL Der Himmel, der über der Wüste leer gewesen schien, war jetzt voll von zwitschernden Vögeln, die aus der Höhe herabstießen, seinen Kopf umkreisten und triumphierend wieder gen Himmel davonschwirrten. Roan stand stolz emporgereckt und hoch erhobenen Hauptes vor dem Thron. König Byron, angetan mit blauem Seidensamt und schneeweißem Hermelin, und noch königlicher ausschauend denn je, beglückwünschte ihn herzlich. »Wir sind stolz, dich in unsere Familie aufnehmen zu dürfen, mein lieber junger Mann«, sprach er und schüttelte Roans Hand mit festem Griff. »Du bist ein Held! Du hast das Traumland gerettet!« Roan lächelte und machte eine tiefe Verbeugung. Ihm wurde vor lauter Komplimenten ganz schwindlig. »Eure Majestät, es ist mir eine Ehre, mich nützlich gemacht haben zu dürfen, aber ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, auch denjenigen meinen Dank auszusprechen, die diese Rettungstat überhaupt erst möglich gemacht haben, indem sie mir rechtzeitig zu Hilfe eilten.« Byron lächelte zurück und reckte die Hände empor. »Deine Bescheidenheit steht in keinem Verhältnis zu deinem Mut, deiner Tüchtigkeit und deinen Fähigkeiten. Du hast alle Bedenken beiseite gewischt, die ich gegen eine Vermählung zwischen dir und meiner Tochter hatte. Die Hochzeit soll sogleich stattfinden!« Er klatschte in die Hände. »Ihre Ephemere Hoheit, die Prinzessin Leonora!«, brüllte der Herold - doch selbst er klang irgendwie elegant und war in Ellen meergrünen Samtes und goldener Spitze gehüllt. Die Prinzessin, die lieblicher und einsamer denn je ausschaute und ein hauchdünnes Spitzengewand trug, das
nahezu unstofflich und dabei doch immer noch undurchsichtig genug war, um ihre jungfräuliche Sittsamkeit zu verhüllen, trat vor und legte ihre Finger auf seinen Arm. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und die Trompeter stimmten einen langsamen Marsch an. Sodann schritten Roan und seine Auserwählte zusammen über einen mit weißer Seide ausgelegten und mit Rosen bestreuten Gang zu einem Altar aus Gold und warmem braunem Holz. Im Hintergrund spendete ein buntes Glasfenster, das aussah wie die fein verzweigten Äste eines Baumes mit grünen Blättern vor dem Hintergrund eines prachtvoll blauen Himmels, farbenfrohes Licht. Unter feierlichem Trompetenschall wandte sich die Prinzessin zu ihm und hob ihren hauchdünnen weißen Schleier; ihre wunderschönen braunen - nein, blauen - nein, grünen Augen schienen voller Sorge, als sie ihn anschauten. »Kannst du mich hören, Roan? Bist du wohlauf, Liebling?«, Die Kopfschmerzen, die sich hinter seiner Stirn ballten, pochten bei jedem einzelnen Wort, das sie sagte. Er öffnete den Mund, um Antwort zu geben, und fragte sich, warum ihr Hochzeitskleid sich in einen schweren, dunkelgrünen Rollkragenkittel verwandelt hatte, der farblich genau zu ihren Augen passte. Anstelle des Buntglasfensters war hinter ihr ein Flechtwerk von Ästen und Zweigen zu sehen, das wie schwarze Spitze wirkte. Roan stöhnte auf. Er war nicht in Mnemosyne auf seiner Hochzeit. Er lag mitten auf einem öffentlichen Fußweg in Sichtweite eines echten Waldes. Ein großer Fischkopf beugte sich über ihn und etwas Nasses berührte seinen Mund. Roan versuchte zu trinken. Er war sehr ausgetrocknet. »Er kommt zu sich.« Es war Bergolds Stimme - den Schläfern sei Dank. Er würde ihm erklären, was geschehen war. Roan drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Hinter dem Historiker konnte er weitere Schatten ausmachen, sowie die Umrisse einer Herde von Fahrrädern, die meisten davon
schwer bepackt. Die Rösser waren endlich zurückgekommen. »Wie fühlst du dich?«, fragte Leonora und drehte seinen Kopf sanft mit den Fingern zurück. »Kannst du sprechen?« »Was tust du denn hier?«, fragte Roan schließlich und seine Stimme klang, als wäre sie weit weg. Leonora hockte sich zurück auf die Fersen, als Bergold und die anderen Roan halfen, sich aufzusetzen. »Ich habe dir dein Fahrrad gebracht«, sagte sie mit demselben strahlenden, tiefen Lächeln, das sie in seiner Vision von ihrer Hochzeit zur Schau getragen hatte - aber in diesem Augenblick war er nicht ganz so erfreut, es zu sehen. »Es ist sehr bockig. Es wollte niemand anderen außer mir auf sich reiten lassen. Ich musste Golden Schwinn führen. Alle Rösser sind ungewöhnlich nervös. Ich weiß nicht, was Brom mit ihnen getan hat. Und wir haben deine Wegmarkierer aufgehoben. Ich dachte, du würdest sie vielleicht zurückhaben wollen.« Sie gab einem der Männer einen Wink, worauf dieser Roan die bunten pfeilförmigen Wegweiser brachte. »Du solltest besser nicht hier sein«, sagte Roan in eindringlichem Ton, seine Stimme ein wenig senkend. Sein Kopf tat ihm scheußlich weh, aber er schaffte es, ihn vorsichtig mit beiden Händen zu betasten. Er fühlte sich von außen immer noch gleich groß an, aber innen war er so aufgeblasen mit Schmerzen, dass es ausgereicht hätte, um mehrere Provinzen damit zu füllen. »Natürlich sollte ich«, erwiderte Leonora und das bübische Lächeln bekam eine leichte Schärfe. »Ich sagte dir doch bereits, dies ist genauso meine Aufgabe wie deine.« Die anderen spürten, dass da eine private Auseinandersetzung in der Luft lag und zogen sich taktvoll ein paar Schritte zurück. Roan gefiel nicht, was er ihr zu sagen hatte, aber er nahm sich fest vor, diesmal genau aufzupassen, dass er sie nicht kränkte. Er nahm ihre Hände und hielt sie fest
in seinen. »Du musst nach Hause zurückkehren, Leonora«, sagte er ernst und schaute ihr dabei tief in die Augen. »Ich danke dir dafür, dass du hergekommen bist, und ich bin sehr froh, dich zu sehen, weil ich nicht dazu gekommen bin, dir meine Gründe am Hof zu erklären.« Sein Kopf schmerzte höllisch, während er nach den richtigen Worten suchte. »Es liegen zweifelsohne große Mühen und Entbehrungen vor uns. Brom hat gezeigt, dass er - außer vielleicht vor Mord - so ziemlich vor nichts zurückschreckt, um sein Projekt zu verwirklichen. Wir müssen ihn kriegen, bevor er die Halle der Schläfer findet. Diejenigen von uns, die Erfahrung und Übung darin haben, lange, schwere Distanzen zu bewältigen, im Freien zu schlafen und mit Gewalt fertigzuwerden, sind am besten für diese Mission geeignet. Die Aufgabe würde uns viel leichter fallen, wenn wir uns nicht gleichzeitig auch noch den Kopf darüber zerbreche n müssten, wie wir dich am besten beschützen können. Bitte geh zurück zu deinem Vater, und wenn nicht mehr heute Abend, dann morgen Früh.« »Das werde ich ganz bestimmt nicht tun«, versetzte die Prinzessin mit Feuer und schlug die Hände zusammen. Sie manifestierte eine Flasche Wasser und hielt sie ihm hin. »Dies ist das Königreich meines Vaters - und eines Tages meins, wie du bereits so treffend darlegtest. Es ist nur recht und billig, dass ich mithelfe, es vor diesen Verrückten zu retten. Ich kann und werde auf mich selbst aufpassen. Hast du Durst? Du bist ganz voll Sand!« »Aber sie sind gefährlich! Schau mich nur an!« Roan tastete nach der Beule, die auf seiner Stirn prangte. Sie war zu einem prächtigen Knubbel angeschwollen und bestimmt war sie schon zu leuchtendem Blau erblüht. »Ja, aber du warst auch allein«, gab Leonora zu bedenken. »Und jetzt bist du's nicht. Ich habe ein paar von den Palastwachen mitgebracht. Zusammen brauchen wir uns vor
den Verrückten nicht zu fürchten.« »Weiß dein Vater, dass du hier bist?« »Natürlich weiß er das. Roan, damit das klar ist, ich werde nicht umkehren«, fügte sie rasch hinzu. Roan war bestürzt. Das hatte sie ihm nicht gesagt. »Um deiner eigenen Sicherheit willen, kehr um«, sagte Roan fast flehend. Leonora lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seit sie klein war, bedeutete diese Geste, dass ihr Entschluss feststand und dass nichts sie mehr umstimmen konnte. Allenfalls ein Umbruch. Und vielleicht nicht einmal der. »Männer!« Roan stand benommen auf und winkte zwei uniformierten Gardisten zu, die bei den Fahrrädern standen. Sie hatten einen Wissenschafts-Lehrling zwischen sich. Seine Hände waren an den Spitzen der Zeigefinger gefesselt, mit einem unzerreißbaren, geflochtenen Strohhalm. Es war Hauptmann Spar höchstselbst, der auf Roans Ruf reagierte. Er ließ den Gefangenen in der Obhut von Korporal Lum und den beiden anderen Gardisten zurück, trat neben Leonora und salutierte, wobei er die Hacken so laut zusammenschlug, dass Roan zusammenzuckte, was sein schmerzender Kopf sofort mit wildem Pochen bestrafte. »Jawohl, Sir!« »Bitte geleiten Sie die Prinzessin unverzüglich nach Mnemosyne zurück. Sie wird uns nicht weiter begleiten. Ich denke, es ist noch genügend Tageslicht vorhanden, dass Sie den Palast vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können.« »Nein!«, rief Leonora und sprang auf. Ihre Augen blitzten wild entschlossen. Die Soldaten schauten von ihr zu Roan, unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten. »Hauptmann, vergessen Sie diesen Befehl. Roan, diese Männer sind Offiziere meines Vaters, nicht deine. Sie gehorchen mir.«
Spar warf Roan einen Blick voll von unverfälschtem Mitgefühl zu, aber er wich vor der Prinzessin zurück, die sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor ihm aufgebaut hatte. Leonora wirkte richtig furchteinflößend in ihrer wilden Entschlossenheit, die sie noch schöner erscheinen ließ, als sie es ohnehin schon war: Groß, blond und rüstig stand sie da, der Stoff ihres grünen Kleides umschmiegte ihre üppig geschwungenen Rundungen wie der Panzer einer Walküre und ihre kraftvoll arbeitenden Wangenmuskeln verliehen ihrem herzförmigen Gesicht etwas besonders Willensstarkes. »Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass ich mit von der Partie bin«, sagte sie und hob warnend einen muskulösen Zeigefinger. »Mach das Beste draus, weil das eine Tatsache ist, an der sich nichts mehr ändern wird.« Roan öffnete den Mund - und entschied, dass er sich in diesem Augenblick nicht zutrauen konnte zu sprechen. Er hielt Ausschau nach seinem Hut. Der Wüstentick des Schläfers war vorbei. Bäume und Büsche sprenkelten dünn gesät das umliegende Grasland, das mit einem üppigen Teppich bunter Blumen geschmückt war. Roan fand seinen Hut ein halbes Dutzend Schritte entfernt in einer Traube roter Blüten wieder und klopfte ihn sich zu einer breitkrempigen Fedora mit einer Wattierung in der Krone zurecht. Was man nicht ändern konnte, musste man ertragen. Das war einer der alten weisen Sprüche, die seit unerdenklichen Zeiten von den Schläfern überliefert worden waren. Leonoras grimmige Entschlossenheit - um nicht zu sagen Starrköpfigkeit - konnte sich am Ende vielleicht sogar noch als auf der Reise vorteilhaft erweisen. Vielleicht wurde sie aber auch, wenn sie Glück hatten, des Spiels überdrüssig, bevor sie in eine gefährliche Lage kam. Er ging zurück zu ihr und sie zog eine Augenbraue hoch. »Na schön, dann versuchen wir's halt«, sagte er. »Aber wenn es richtigen Ärger geben sollte ...« »Dann werd ich mich raushalten«, sagte sie prompt; sie
spürte, dass sie gewonnen hatte. Ihr Brustpanzer verwandelte sich wieder in das grüne, zur Farbe ihrer Augen passende Kleid zurück und ihr Körper verschlankte sich zu antilopesker Gertenhaftigkeit. Wenn sie wollte, bekam sie ein neckisches Grübchen in der Wange gleich neben dem Mundwinkel - und jetzt wollte sie. »Und wenn ich mich als Problem erweisen sollte, fahre ich sofort zurück nach Hause, ohne jede weitere Diskussion. Ich verspreche dir, dir deine Entscheidung nicht vorzuhalten. Abgemacht?« Sie streckte die Hand aus und Roan schlug ein. Er kam sich mehr als nur ein bisschen töricht vor. Ihr Angebot war jedenfalls fair. Sie war wirklich vollkommen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, mehr wie ein Führer zu denken und weniger wie ein törichtes Kalb. »Abgemacht«, sagte er. Sie grinste wie ein kleines Kind, und plötzlich sah er, wie verängstigt sie war. Sofort bekam er wieder Bedenken. Er musste sich eingestehen, dass auch er sich Sorgen machte. »Wir sollten besser alles darüber hören, was dir auf dem Weg passiert ist«, sagte Bergold, nachdem er entdeckt hatte, dass die Auseinandersetzung vorbei war. Er kam herum und klopfte Roan auf den Rücken. Der Historiker trat jetzt in der Gestalt eines Mannes mit dem Kopf eines Fisches auf. Seine Augen, links und rechts auf seinem schmalen, seitlich abgeflachten Gesicht, waren lidlos, sodass ihr gesamter Ausdruck in der Ausdehnung oder Kontraktion der Pupillen lag. Roan konzentrierte sich auf eines der großen, runden Augen und erzählte seine Geschichte. Spar, Lum und die Wachen rückten ganz nahe heran, um zu lauschen, wobei sie jedoch nicht versäumten, ihren Gefangenen im Auge zu behalten, den sie mit einem Fahrradschloss an einen Pfahl gefesselt hatten. Drea, Leonoras alte Amme und Vertraute, legte Roan einen Kopfverband an, während Colenna, eine im Ruhestand befindliche Feldbeobachterin aus dem
Geschichtsministerium, mit einer Handvoll Gaze aus ihrer verblüffend geräumigen Handtasche dabeistand. Felan, gleichfalls vom Geschichtsministerium, und Misha aus dem Kontinuitätsministerium waren zwei junge Männer, die er schon mal am Hof gesehen hatte, aber nicht wirklich kannte. Sie hörten ihm sorgfältig zu, als wollten sie sich jedes einzelne Wort für das Archiv ins Gedächtnis einprägen. Wenn diese Mission erfolgreich ausgehen sollte, würde die Geschichte davon eine im ganzen Traumland bedeutende und populäre werden. Wenn sie scheiterte... dann würde womöglich niemand da sein, der sie erzählen - oder ihr lauschen - konnte. »Dann haben sie also einen Weg gefunden, Störungen zu entdecken, nicht wahr?«, sagte Bergold, als Roan mit seinem Bericht fertig war. Er fuhr sich nachdenklich mit dem Finger an einem seiner Kiemen entlang. »Das wäre eine sehr nützliche Erfindung für uns alle gewesen. Die beklagenswerte Carodil scheint an den richtig guten Sachen nie beteiligt zu sein. Und wer ist dieser Bursche hier?« Er winkte die Wachen zu sich. Der junge Mann zwischen ihnen ließ die Füße über den Boden schleifen, während er farbenfroh in mathematischen Formeln und wissenschaftlichen Termini fluchte. »Einer von ihnen«, sagte Roan. »Behandelt ihn sanft. Er hat niemals versucht, mich anzugreifen.« »Ich bin kein Dummkopf, wenn Sie das meinen«, sagte der junge Mann. Für einen Augenblick versuchte er, Broms kühlen, intellektuellen Blick nachzuahmen, aber er hielt ihn nicht lange durch und verlegte sich wieder auf seinen eigenen Gesichtsausdruck, den eines liebenswürdigen, verängstigten, etwas schwächlichen jungen Mannes. »Ich bin ein Intellektueller.« »Wo wollen die anderen hin?«, fragte ihn Spar, wobei er ihn am Arm fasste und grob schüttelte. »Wo wollen sie hin?« »Das ist geheim«, erwiderte der junge Mann. Er wollte die
Arme verschränken, aber das war wegen der Fingerfessel unmöglich. »Sie werden mich nicht dazu bringen, dass ich meinen Führer verrate.« Er und Spar starrten sich grimmig an. »Ich würde dich dazu kriegen, Freundchen«, sagte der Hauptmann der Palastwache. »Das kannst du mir glauben. Du redest am besten sofort, solange du noch Zähne im Maul hast.« »Ich wette, Sie könnten kein Wort glauben, das er sagen würde«, ließ sich Colenna vernehmen. Sie starrte dem jungen Mann eindringlich ins Gesicht. Er ignorierte sie. »Wir haben immer noch die Fußspuren, denen wir folgen können«, wandte Roan ein. »Die kann er nicht verbergen. Brom ist zu überhastet aufgebrochen, um noch die Zeit gehabt zu haben, sie zu verwischen.« »Sollen wir diesen jungen Hanswurst mitnehmen?«, fragte Spar. »Oder sollen wir ihn zurückschicken, damit er sich seine Medizin von Carodil abholen kann?« Bei der Erwähnung des Namens der Ministerin wirkte der junge Mann zum ersten Mal nervös, aber er biss sich auf die Zähne. »Machen Sie mit mir, was Sie wollen«, sagte er standhaft. »Ich bin bereit, für die Wissenschaft zu sterben.« »Du junger Dummkopf -« begann Spar, aber Leonora legte die Fingerspitze auf seinen Arm, um ihn zu bremsen. »Bitte, lassen Sie mich mal ran«, sagte sie, sich in das Gesichtsfeld des jungen Mannes schlängelnd. Er bekam große Augen, als er die Prinzessin gewahrte, sagte aber nichts. »Sie müssen uns helfen. Sehen Sie denn nicht, dass das, was Brom vorhat, falsch ist? Er wird uns alle vernichten!« »Was macht das schon, wenn es die Wahrheit enthüllt?«, fragte der junge Mann. Er versuchte, vernünftig zu klingen, aber seine Stimme zitterte ein klein wenig. Leonora nutzte ihren Vorteil aus. Sie veränderte sich dezent.
Ihr glänzendes Haar löste sich und fiel ihr in dicken, seidigen Locken über den Rücken. Das schwere, dicke Tuch ihres grünen Waffenrockes verdünnte sich, bis es mehr so aussah wie das Gewand, das sie bei Hofe getragen hatte. Es schmiegte sich sanft an ihre Rundungen, während gleichzeitig ihr Umhang sich mit Hermelinborten säumte. Das kleine Goldmedaillon an ihrem dünnen Halskettchen wurde zu einem königlich goldenen Anhänger mit einem leuchtenden Diamanten in seinem Herzen. Roan hörte hinter sich leises beifälliges Murmeln von den anderen. Der Lehrling schluckte heftig, aber er hielt das Kinn hochgereckt. »Sie sind ein loyaler Bürger des Traumlandes«, sagte Leonora, jetzt mehr ein schimmerndes Traumbild als eine Frau aus Fleisch und Blut. Sie war das Symbol alles Guten und alles Schönen. Niemand, ob Mann oder Weib, konnte sie anschauen, ohne tief berührt zu sein. Ihre Stimme, schmeichelnd und sanft, drang durch Roans Bewusstsein. Er wünschte sich sehnlich, er wäre das Ziel ihres säuselnden Bemühens. »Sie wollen, dass es fortbesteht. Wir alle wollen das. Ich würde es als einen persönlichen Dienst betrachten, wenn Sie uns hülfen. Mein Vater würde mit Wohlgefallen auf sie herabblicken, ja Ihnen sogar zum Dank für Ihre Hilfe eine Wohltat erweisen.« Sie ging noch einen halben Schritt näher an ihn heran, und sogar Roan konnte spüren, wie der Blutdruck des jungen Mannes stieg. »Ich wäre Ihnen so dankbar. Ich brauche Ihre Unterstützung. Um des Traumlandes willen.« Der Lehrling starrte sie an, verzweifelt und mit hochrotem Gesicht. »Ich ... ich kann ... nicht... mehr sagen.« Er wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. Leonora trat einen Schritt zurück, nun wieder sterblich und verletzlich, den Mund vor lauter Schock und Entsetzen offen. Roan eilte zu ihr, um ihr den Arm um die Schulter zu legen und er fühlte, wie der Stoff ihres Gewandes sich wieder verdickte. Sie war verletzt. Noch nie, solange Roan sie kannte, war ein solcher Appell,
gegründet auf der machtvollen Kombination aus Patriotismus und der Ausstrahlungskraft ihrer Persönlichkeit, unerhört geblieben. Entweder musste Brom unverbrüchliche Loyalität in seiner Truppe wachgerufen haben, oder die natürlichen Instinkte und Regungen des Mannes waren bei diesem armen Kerl abgestorben. Leonora sah Roan mit traurigen, betörenden Augen an und Roan schüttelte den Kopf. Es war nicht ihre Schuld. Sie schenkte ihm ein strahlendes, frisches Lächeln aus einem Antlitz, das aussah wie das einer Porzellanpuppe. »Ach, zum Kuckuck, was soll's! Wenn dieser junge Fanatiker partout nicht reden will, dann wird er eh nur eine Last für uns sein. Und warum sollten wir dann unsere Reiserationen mit ihm teilen?«, fragte Bergold mit einer wegwerfenden Handbewegung in die Richtung des Lehrlings. »Bringt ihn zurück zum Schloss. Misha, würdest du das übernehmen? Du siehst so aus, als würdest du leicht mit diesem jungen Lümmel fertig.« »Gern«, sagte Misha, dessen natürliche Gestalt kräftig und robust war. Er baute sich vor dem Lehrling auf. »Ich könnte es noch vor Einbruch der Dunkelheit bis Mnemosyne schaffen«, sagte er, an Roan und Bergold gewandt. »Ich komme dann später nach.« »Folg einfach der Spur«, sagte Roan. Sie fesselten den Lehrling mit langen Grashalmen an den Händen und setzten ihn auf den Rücken eines der Packtiere. Misha strampelte davon, den Gefangenen an einer Leine führend. Bergold verdrehte eines seiner großen, platten Augen, während er in der Tasche kramte, die er über der Schulter trug. »Aha!«, sagte er und schwenkte einen säuberlich gefalteten Packen Papier vor Roans Gesicht. »Romney hat uns eine Kopie der Großen Karte mitgegeben.« Bergold faltete sie ein Stück auseinander, damit jeder das Segment sehen konnte, das zeigte, wo sie sich befanden. »Du hast ein ordentliches Stück zu Fuß
zurückgelegt, mein Freund.« »Nicht genug«, sagte Roan mit grimmigem Gesichtsausdruck und rieb sich die Stirn. »Ich habe sie nicht aufgehalten. Aber ich bin Romney dankbar.« »Die Kopie wird sich jedesmal erneuern, wenn auch die Große Landkarte aktualisiert wird. Wir sind gehalten, Romney zu verständigen, wenn sich irgendetwas an der Landschaft verändert.« »Das werden wir, wenn wir können«, sagte Roan. »Beeilt euch«, drängte Leonora. »Es beginnt bereits zu dämmern. Brom entkommt uns am Ende noch.« »Nein, das wird er nicht, Eure Hoheit«, sagte Hauptmann Spar. »Sie sind zu Fuß unterwegs und tragen den schweren WECKER«, erinnerte sie Roan, während Bergold sich damit abmühte, die Landkarte wieder zusammenzufalten. »Keine Angst, wir werden sie noch vor Einbruch der Dunkelheit einholen.« Roan brauchte einen Augenblick, um die Pfeilzeichen wieder zu kleinen Steinkugeln zu komprimieren. Diese ließ er zurück in seine Tasche gleiten. Man konnte nie wissen, ob sie nicht noch einmal nützlich sein würden. Lum brachte Roan sein Ross. Cruiser war noch immer nervös. Er tänzelte und bockte ein halbes Dutzend Mal, ehe Roan sich endlich in den Sattel schwingen konnte. »Nun mach schon!«, drängte Leonora. »Können Sie die Spur erkennen?«, fragte Leonora und richtete sich in den Pedalen auf, um fester treten zu können. »Ich kann sie nicht mehr sehen.« »Es ist alles in Ordnung, Eure Hoheit«, versicherte ihr Lum, der vorneweg ritt. Er wandte den Blick zurück und nickte ihr aufmunternd zu. Er war ein sehniger Mann von dreißig Jahren
und gutherziger Natur. Sein dichtes dunkles Haar war unter seinem Uniformhelm kurz geschnitten, und seine dunklen Augen hatten lange Wimpern, die tief in die Winkel hineinreichten und ihnen so ein mandelförmiges Aussehen verliehen. Der Lichtkegel seines Fahrradscheinwerfers warf ein zitzenartiges Muster auf den Pfad vor ihnen, aber er war in der Lage, das zu lesen, was der Pfad an Zeichen und Spuren aufzuweisen hatte. Ein Experte im Orientieren und Spurenlesen, hatte er die Führung übernommen, als Roan eine Pause benötigt hatte, um seine Augen zu schonen. Roan fühlte sich wie betäubt, so als wäre er jahrelang ohne Unterbrechung durch einen langen, dunklen Tunnel geritten. Die Sonne war im Westen versunken und war nur mehr ein Schimmer am Horizont. Lum stieß einen Freudenschrei aus. »Ich hab unsere Burschen hier. Diese tiefen Fußabdrücke dort sind unverkennbar.« Der junge Korporal hob eine Hand, um sich die Augen zu reiben. »Es war ein langer Tag. Werden wir bald Halt machen, Herr Hauptmann?« »Das können wir nicht!«, rief die Prinzessin erschrocken. »Bitte lassen Sie uns weiterreiten! Sie sind doch noch nicht richtig müde, oder? Ich bin es jedenfalls nicht.« »Nun, in Ordnung, Eure Hoheit«, sagte Lum gehorsam und zog scharf nach rechts hinüber. Er überquerte den Rand, wo sich zwei Fußwege trafen und gab den anderen ein Zeichen. »Nach rechts, bitte! Ich hätte fast den Pfad hier übersehen. Sie sind abgebogen.« Roan schrak aus seiner Benommenheit hoch, dankbar für die Abwechslung, die diese plötzliche Richtungsänderung bot. Er schüttelte sich in dem Versuch, seine abgestumpften Nerven wieder wach zu bekommen. »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher. Sieht so aus, als wollten sie nach Osten.« »Sind Sie sicher?«, echote Felan, eine schlanke Silhouette hinter seiner Fahrradlampe. »Ich meine, ich hätte gerade eben
weiter rechts plattgetretenes Gras gesehen. Die gehen immer noch nach Süden.« »Tatsächlich?«, fragte Roan. »Zeigen Sie's mir. Vielleicht haben sie sich getrennt. Lum, kommen Sie mit mir. Spar, Sie reiten weiter. Wir kommen gleich nach.« »Jawohl, Sir«, rief der Hauptmann. Der Rest der Gruppe radelte hinter ihm her; die Reifen ihrer Räder zischten über den Kies und das Gras. »Hier, Roan«, sagte Felan. Er betätigte den Rücktritt und streckte den Arm aus, um hinunter auf das Gras zu zeigen. »Sehen Sie, wie es plattgedrückt ist? Die Spur weist in diese Richtung.« Er unterstrich seine Worte mit einer Armgeste. Roan richtete seinen Fahrradscheinwerfer in die angegebene Richtung und spähte mit zusammengekniffenen Augen. Ein starkes Fluidum von Einfluss lag über diesem Teil des Landes und entschwand in die Ferne. Roan spähte so weit hinaus, wie der Schein seiner Fahrradlampe reichte. Das Gras war plattgetrampelt und das vor noch nicht allzu langer Zeit. »Ich bemerke nichts, Sir«, sagte Lum im Brustton der Überzeugung. »Sehen Sie denn nicht, wie das Gras niedergedrückt ist, Mann?«, fragte Felan gereizt. »Kommen Sie mit.« Roan hörte hinter sich das Geräusch von Fahrradreifen auf dem Gras. Einer der Gardisten, Soldat Hutchings, kam schlitternd neben ihm zum Stehen, sein Rad mit dem Fuß abbremsend. »Hauptmann Spar möchte wissen, was Sie meinen«, meldete er atemlos. »Die Spur führt hier entlang«, sagte Felan. »Hauptmann Spar meint, die Spur, der er folgt, sei nicht überzeugend«, japste der Soldat und holte tief Luft. »Er sagt, Fräulein Colenna sei ihm im Wald vorausgeeilt und hätte sich verirrt und um Hilfe
gerufen, und als er sie gefunden und zurück in die Gruppe geholt hätte, wäre keine Spur mehr von der Spur zu finden gewesen, ganz gleich, in welcher Richtung er auch gesucht hätte, und nun will er wissen, ob wir zu Ihnen stoßen - oder ob wir bis zum Anbruch des Tages warten sollen.« Roan sah die beiden anderen an, und aus ihren Mienen war klar zu ersehen, dass sie davon ausgingen, dass er die Führung übernahm. Felan deutete auf das plattgedrückte Gras, das nach Süden führte und hob fragend die Brauen. Lum stand teilnahmslos über dem Rahmen seines Fahrrades und wartete auf Befehle. »Sagen Sie ihm, er soll umkehren und zu uns stoßen«, sagte Roan. Sie radelten scheinbar endlos weiter. Die Sonne war hinter den Bergen versunken. Selbst die Sterne blieben hinter einer dicken Wolkendecke versteckt, sodass allein der Schein ihrer Fahrradlampen sie immer weiter nach Süden geleitete. Roans Konzentration war auf die schmalen, wippenden Lichtkegel zusammengeschrumpft. Er fühlte sich, als ob der Körper, den er bewohnte, nicht mehr sein eigener wäre. Wenn er jetzt aufhören würde in die Pedale zu treten, würden die Räder sich auch so, ganz von selbst, weiterdrehen, weil der Pfad ihn an seinen Augäpfeln vorwärtszöge. Donner grollte drohend an den Grenzen seines Hörvermögens. Urplötzlich zerriss ein gleißender Blitz den Himmel von oben nach unten und erfüllte ihn mit einem kalten, blauen Glanz. »Schauen Sie doch!«, schrie Spar. »Der Pfad führt geradewegs auf ihn zu«, sagte Felan. Roan löste den Blick vom Pfad und schaute nach vorn und sein Herz füllte sich mit Verzweiflung. Wieder peitschte ein Blitz und sein gleißendes Licht illuminierte für einen Sekundenbruchteil die groteske Front des Albtraumwaldes.
9. KAPITEL Alle bremsten scharf und schauten hinauf zu den verkrüppelten und grotesk verzerrten klauenartigen Ästen, deren totes, aschfahles Grau sich gespenstisch gegen den nachtdunklen Himmel abhob. Die Stämme waren dräuende Schatten. Hunderte von Augenpaaren, in denen sich der Schein der Fahrradlampen widerspiegelte, tauchten plötzlich zwischen ihnen auf und verschwanden ebenso schnell wieder, bevor irgendjemand Mutmaßungen darüber anstellen konnte, zu wem oder zu was sie gehörten. »Ich bin sicher, sie sind da reingegangen«, beharrte Felan und setzte den Fuß auf das Pedal. »O nein!«, stöhnte Roan. »Nicht in den Albtraumwald!« »Doch!«, sagte Felan, auf den Boden deutend. »Schauen Sie doch, Mann.« »Wenn ihre Spur dort hineinführt, dann müssen wir ihr wohl folgen«, erklärte Bergold mit sichtlichem Unbehagen. »Da rein? Im Dunkeln?«, fragte Soldatin Alette und ihre Stimme steigerte sich zu einem erstickten Quieken. »Wir können doch nicht... Ich habe gehört, wenn man... nach Einbruch der Dunkelheit da reingeht... kommt man nie wieder raus.« »Man kann da wieder raus«, sagte Roan, seine Stimme mühsam kontrollierend, damit sie nicht zitterte. All seine Kindheitsängste hämmerten wie wild in seiner Brust - in dem verzweifelten Versuch, ihr zu entfliehen. »Ich habe es geschafft. Aber es war hart.« »Dann lasst uns gehen«, entschied Spar. Aber keiner machte Anstalten, seiner Aufforderung zu folgen. »Wir müssen weiter«, sagte Leonora mit bebender Stimme.
»Wenn wir zusammenbleiben, müssten wir es schaffen.« Roan wertete seine nächste Handlung später als das Tapferste, das er je vollbracht hatte. Ganz bedächtig stieg er von seinem Rad und schob es unter das düster dräuende Dach aus knorrigen, verdrehten Ästen. Dann schaute er über die Schulter zurück zu den anderen. »Nun macht schon«, rief er. »Ich bin knapp hinter dir«, sagte Leonora und folgte ihm hastig mit Golden Schwinn. Roan konnte das unbehagliche Rasseln von Speichen hören, als das königliche Ross vor Angst erzitterte. Leonora brachte es mit einem leisen »Psst!« zum Verstummen und redete besänftigend auf es ein. Der Klang ihrer Stimme hatte auch auf Roan eine beruhigende Wirkung. Dieser Augenblick ähnelte vielen in ihrer Kindheit, als sie zusammen die Schatten herausgefordert hatten, wenngleich jene Mutproben vergleichsweise kleine Fingerübungen gewesen waren, begangen in den zahlreichen dunklen Winkern und Kellern des Schlosses, die mit den Jahrhunderten zahm geworden waren. Dieser Wald jedoch war ungezähmt und furchterregend. Er hielt sich dicht vor ihr, damit jede Gefahr, die sie bedrohte, zuerst durch ihn würde hindurchgehen müssen. Hinter den Führern folgten die anderen in einer Traube. Sie hielten sich so dicht beieinander, wie es gerade noch möglich war, ohne dass man sich gegenseitig in die Hacken trat. Einzig Spar schien von der lauernden Bedrohung unberührt. »Es sind doch bloß Bäume!«, knurrte er verächtlich, als die anderen mit weit aufgerissenen Augen um sich spähten. »Lebendiges Brennholz. Baustoff. Die Vorstufe von Papier.« Die verwirrenden Einflüsse, die Roan und Felan gefunden hatten und die zu dem Wald geführt hatten, verloren sich in dem Augenblick, als sie den Wald selbst betraten. Abgebrochene Zweige und die verräterisch tiefen Fußabdrücke
der WECKERträger waren ein klarer Hinweis darauf, dass etwas Schweres hier durchgekommen war. Vielleicht sogar mehrere schwere Lasten, nach dem Zustand des Geläufs zu urteilen. Die Laubschicht auf dem Boden wirkte aufgewühlt, das Unterholz teilweise plattgetrampelt oder regelrecht zerfetzt. Die Fährte endete jäh vor einem engen, undurchdringlichen Dickicht am Fuße eines riesenhaften, bedrohlich anmutenden Baumes. »Wo sind sie hingegangen?«, fragte Leonora, von hinten über Roans Schulter spähend. »Wie sind sie hier rausgekommen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Roan. Er ließ Cruiser bei Golden Schwinn stehen und reckte sich mit seiner Lampe um beide Seiten des großen Baumes herum, um zu erkunden, wohin die Fährte führte. Der Baum verlagerte sein Gewicht ein wenig nach hinten und Roan sprang erschrocken zurück. Weitere drei Zoll aufgerissenen Bodens erschienen unter seinen Wurzeln. »Er hat sich bewegt!«, rief Leonora. Mit einem unguten Gefühl blickte Roan an dem Baum hinauf. »Ich glaube, wir sind die ganze Zeit der Fährte dieses riesigen Burschen gefolgt.« »Nicht wütend werden«, warnte ihn Bergold. »Das ist eine im wahrsten Sinne des Wortes - verrückte Eiche. Sie reagieren sehr langsam, aber sie sind das Stärkste, was es auf der Welt gibt - gleich nach einer Lawine.« »Keine Angst, das werde ich bestimmt nicht«, sagte Roan ganz ruhig, den Blick nicht eine Sekunde von den dicken Ästen über seinem Kopf wendend. Vorsichtig zog er seine Hände von der Rinde weg und bewegte sich langsam rückwärts. »Alle Mann umkehren, aber bitte ganz vorsichtig und behutsam, bis wir außerhalb der Reichweinte seiner Aste sind. Und nicht die Wurzeln berühren!« Aber es war schwierig für eine große Gruppe von Menschen
mit Fahrrädern, ohne einen einzigen Unfall im Dunkeln an einem fremden Ort auf dem Absatz kehrtzumachen. Roan schlug Cruisers Lenker bis zum Anschlag ein und schob ihn vorsichtig herum, langsam einen Fuß vor den anderen setzend. Cruiser quietschte protestierend. Und dann begann das Stechen. Summende Plagegeister ließen sich auf seinen entblößten Händen und auf seinem Gesicht nieder. Wo sie ihn berührten, erhoben sich schmerzende, juckende Pöckchen, bevor er die Biester mit der Hand wegwischen konnte. »Au!«, schrie Leonora und schlug auf ihre Arme. »Da beißt mich etwas!« »Schütze dich, meine Teure«, sagte die Amme mit fester Stimme. Sie stand hinter Roan und der Prinzessin. »Wir hätten besser eine Schutzsalbe aufgetragen, bevor wir nach draußen gehen, nicht wahr?« Solch prosaischer Rat beruhigte die Gruppe für den Augenblick. Roan zog einen Schleier des Einflusses wie eine Plane über sich. Die Insekten zogen sich unter wütendem Summen zurück. Roan machte dem Wald im Geiste eine lange Nase. »Weitergehen«, sagte Bergold. Seine sonst so fröhliche Stimme klang ernst. »Wir werden gleich wieder hier raus sein.« »Passen Sie doch auf, wo Sie hinfahren!«, schrie eine Stimme hinter ihnen und Roan hörte ein lautes Krachen. Er blickte über die Schulter nach hinten. Felans Ross und das von einem der Gardisten, der Soldatin Alette, hatten sich mit den Lenkern ineinander verhakt. Beide Räder bockten und sprangen, um sich wieder zu befreien, während ihre Reiter vergeblich versuchten, sie auseinander zu zerren. »He, Sie!«, schrie Spar seine Gardistin an. »Soldatin Alette! Bringen Sie Ihr Reittier unter Kontrolle!« »Das versuche ich ja, Sir!«, rief die junge Frau mit heiserer
Stimme, am Rahmen ihres Streitrosses zerrend. Sie schaute zu ihrem Hauptmann auf, und ihre Augen weiteten sich angesichts von etwas, das sich hinter ihm befand, zu Untertassen. Roan blickte nach oben. Zwei riesige, verkrümmte Äste reckten sich hinunter zu den ineinander verhakten Fahrrädern. Leonora stieß einen schrillen Warnschrei aus. Felan ließ sein Ross los und zeigte auf den Baum, allen Einfluss auf ihn richtend, der ihm zu Gebote stand. Doch der Albtraumwald erwies sich als stärker denn jedes Einzelwesen. Die Äste fegten ihn und Alette zur Seite, schnappten sich die beiden Fahrräder und schleuderten sie weit weg in die Dunkelheit. Vor Angst laut wiehernd, rissen sich die anderen Rösser von ihren Reitern los und traten auf dem schmalen Pfad den Rückzug an, in ihrer Panik über die Füße ihrer Besitzer rollend. Roan haschte nach Cruiser und verfehlte ihn. Das silberfarbene Rad brach krachend ins Unterholz, mit einem laut um Hilfe quietschenden Golden Schwinn im Schlepptau. Einen Augenblick später waren sie alle verschwunden. »Haltet sie auf!«, schrie Leonora. »Bleib hier bei Spar!«, schrie Roan ihr zu. Er rannte hinter den durchgegangenen Fahrrädern her in den Wald. Ihr angstvolles Gequietsche entfernte sich in unterschiedliche Richtungen. Roan blieb einen Augenblick lang stehen, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, dann folgte er kurzerhand dem lautesten Quietschen. Schon nach wenigen Schritten wurde ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Alles, was die Gruppe an Lampen bei sich trug, war entweder an den Rädern befestigt oder befand sich in ihrem Gepäck. Keiner von ihnen war im Augenblick im Besitz seiner Lampe. Er stand allein im Dunkeln inmitten des Albtraumwaldes. Er wandte sich zum Umkehren - und musste zu seinem Schrecken erkennen, dass er nicht wusste, aus welcher Richtung er gekommen war. Ein tiefes Rumpeln ließ den Boden unter seinen Füßen erbeben und in den Baumkronen hoch über ihm erhob sich
unheilvolles Flüstern. Sofort fühlte er sich wieder um zwanzig Jahre zurückversetzt, und die Schreie, die er hörte, waren die Stimmen seiner zwei kleinen Freunde. Sie hatten sich gegenseitig dazu angestachelt, den verwunschenen Wald zu betreten. Es war töricht von ihm, dass er sich zum Mitmachen hatte überreden lassen. Die Bäume erschienen im Dunkeln alle so viel größer und er konnte den Himmel nicht mehr sehen. Roan schlang die Arme ganz fest um seinen Oberkörper und konzentrierte sich darauf, seinen eigenen Einfluss bei sich zu behalten. Er war kein kleiner Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, und was ihn da umringte, war nichts weiter als Schatten und Bäume. Und das Wispern kam vom Wind, der durch die Äste strich. Es gab nichts, wovor er sich hätte fürchten müssen. Das Lachen wurde lauter und rauher. Nein, der Wald bezog alle Macht, die er brauchte, aus den Ängsten von Millionen von träumenden Geistern, und er machte kurzen Prozess mit allen Barrieren, die Roan errichtete. »Na schön«, schrie er zornig. »Ich bin immer noch ein verängstigter kleiner Junge. Aber ich gehe!« Er tastete blindlings um sich nach dem Weg zurück zu den anderen. Sie würden bis zum Tagesanbruch darauf warten müssen, dass die Fahrräder wieder zurückkamen. Eine weitere Verzögerung. Er hoffte nur, dass Broms Vorsprung noch nicht allzu sehr gewachsen war. Seine tastenden Hände stießen gegen einen Baumstamm nach dem ändern, aber er fand keine Lücke zwischen ihnen. Die Bäume standen in einem dichten undurchdringlichen Ring um ihn herum. Wie hatte er hierher gelangen können, wenn es keine Lücke zwischen den Bäumen gab, die groß genug gewesen wäre, dass sein Körper hindurchgepasst hätte? Ach, richtig, er hatte ganz vergessen, dass sie sich bewegen konnten. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit,
was freilich alles nur noch schlimmer machte. Er konnte schemenhaft die spitzen Äste erkennen, die um ihn herumwedelten. Ein klauenartiger Ast tastete nach seinen Augen und er fegte ihn mit dem Arm beiseite. Schattenhafte Äxte sausten über seinen Kopf hinweg; Arme schwangen Schwerter; Keulen pfiffen gefährlich nah an seinem Ohr vorbei; bösartig leuchtender grüner Schleim tropfte aus mysteriösen Bechern und zischte laut auf, wo er hinfiel; Steuererklärungsformulare raschelten vor seinem Gesicht. Roan wehrte sie mannhaft ab, aber hinter ihnen lauerten schon neue Greuel. Dann landete etwas auf seiner Hand und Roan zuckte zusammen. Auf Myriaden von Krabbelbeinen krabbelte das Etwas hurtig davon, bevor er nach ihm schlagen konnte. Ein anderes Etwas von derselben Größe fiel ihm auf den Kopf. Er schaute hoch und zwei weitere Exemplare fielen auf sein Gesicht und krabbelten blitzartig weg. Immer mehr von den Viechern fielen von den Bäumen. Es waren Tausende, Zehntausende, Hunderttausende. Sie regneten von den Bäumen herab oder kamen an den Stämmen heruntergekrabbelt und füllten langsam, Schicht um Schicht mit ihren krabbelnden Leibern, den Ring, in dem er stand. Nicht mehr lange und er würde in Ungeziefer versinken. »Hilfe!«, schrie er. »Kann mich irgendjemand hören?« Leises, krächzendes Gelächter erhob sich um ihn herum in der Schwärze und Roan ging in Hab-Acht-Stellung. Er erinnerte sich, dass sein Taschenmesser über eine kleine Notlampe verfügte und holte es hervor. Als er es aufklappen wollte, sah er plötzlich ein Paar roter, böse blickender Augen vor sich auflodern und im selben Augenblick schlug ihm ein Ast das Messer aus der Hand. Er kniete nieder, um es zu suchen, aber eine knotige Wurzel glitt darüber und begrub es unter sich. Roan scharrte an der rauhen Rinde und das Gelächter verspottete ihn.
»Sind Sie da, Sir?«, fragte eine Männerstimme.
Roan stand auf. »Ja! Kommt her und helft mir!«
»Roan?«, rief eine Frauenstimme - Leonoras Stimme. »Wo
steckst du?« »Hier!«, rief er in die Dunkelheit und schlug mit den Fäusten gegen den nächstbesten Baum. »Ich sitze in einer Falle! Ich komm hier nicht raus! Bringt eine Axt mit!« Ein dünner Lichtfinger durchbohrte die Dunkelheit und tastete sich einen Weg zwischen zwei Baumstämmen hindurch. Roan streckte einen Arm aus und winkte, um den Suchern zu zeigen, wo er war. »Hier!« »Da sind Sie ja, Sir!«, rief Hauptmann Spars Stimme, und die vertraute Silhouette des Gardisten tauchte zwischen den Bäumen auf, gefolgt von dem schlanken Schatten der Prinzessin. »Keine Angst, wir werden diese hölzernen Burschen verscheuchen. Ich habe eine große, scharfe Axt, die nur darauf wartet, in sie hineinzubeißen.« Er leuchtete mit seiner Lampe durch die Lücke an Roan vorbei.' Im Schein der Lampe sah Roan, wie der Hauptmann die Brauen hob. »Sir«, sagte er mit einer gänzlich veränderten Stimme. »Warum sind Sie nicht einfach dort rausgegangen?« Seine andere Hand kam heraus und zeigte auf einen Punkt hinter Roan. Roan drehte sich um. Der Weg war offen. Es gab keine Bäume hinter ihm. Ein paar zottige Schößlinge klammerten sich im Schein der Lampe so fest aneinander wie zu Tode verängstigte Rehe. »Aber sie hatten mich umzingelt!«, protestierte Roan. »Sie waren riesengroß. Sie haben mir mein Messer aus der Hand geschlagen und sich mit einer Wurzel darauf gestellt. Ich saß in der Falle! Wirklich!«
Spar legte den Kopf schief. »In der Dunkelheit passieren manchmal seltsame Dinge«, sagte er, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er damit mehr meinte als bloß wandernde Bäume. »Kommen Sie, Meister Roan. Ist das nicht Ihr Messer da auf dem Boden?« Der Lichtkegel senkte sich nach unten und blieb an einem Finger aus Rot und Silber hängen. Roan bückte sich, hob es auf und strich mit dem Finger über das Gehäuse. Es war mit einer dicken Moosschicht bedeckt, eine kleine Stichelei zum Abschied von den Bäumen. Er wandte sich um, um es Spar zu zeigen, aber der Hauptmann hatte bereits kehrtgemacht und war auf dem Weg zurück zu der kleinen Lichtung. Roan kam sich ziemlich dämlich vor, als er an den wenigen Bäumen, die von dem Ring übriggeblieben waren, vorbei ging und sich den anderen anschloss. »Bist du wohlauf?«, fragte Leonora leise. Sie ließ sich ein Stück zurückfallen und hakte sich bei Roan unter. »Abgesehen von meiner verletzten Würde bin ich wohlauf, ja«, versicherte Roan ihr. »Sind die Fahrräder zurückgekommen?« »Nein«, antwortete die Prinzessin. »Ist das nicht seltsam? Es ist schon das zweite Mal heute, dass sie vor Schreck durchgegangen sind. Wenigstens haben die Bäume nicht auch noch ein paar Menschen durch die Luft geworfen.« Für eine wohlerzogene Dame von edlem Geblüt, für die der größte Horror darin bestand, mit zu Besuch weilenden Würdenträgern tanzen zu müssen und sich von Privatlehrern Abschlussprüfungen abnehmen lassen zu müssen, schlug sie sich bemerkenswert gut. »Wir werden wohl zu Fuß hier raus müssen«, sagte Spar. »Die Rösser werden bei Tageslicht rauskommen, wenn sie können. Sonst werden wir halt schneller marschieren, bis wir Ersatz kriegen. Antreten!« »Sir!«, sagte Lum, der neben ihm auftauchte, mit einem
zackigen Salut. »Wir haben sie gefunden!« »Die Fahrräder?«, fragte Roan. »Nein, Sir, die Wissenschaftler!«, sagte Lum, hocherregt. Alette und Hutchings, die hinter ihm standen, nickten bestätigend. Sie hatten sich verändert: Sie waren jetzt größer und stärker und ihre Uniformen bestanden aus dunkeloliv tarnfarbenen Hemden und Hosen. Außerdem trugen sie runde, netzüberzogene Stahlhelme. »Ich habe ihre Stimmen gehört, in westlicher Richtung, Sir. Wir alle haben sie gehört. Stimmen und Maschinengeräusche. Sie müssen es gewesen sein, Sir.« »Gut«, sagte Leonora. »Ich werde Meister Brom ein paar deutliche Worte zu sagen haben; von wegen, uns hier im dunklen Wald herumtapern zu lassen. Ich bin hier nie gern gewesen!« Spar runzelte die Stirn, während seine Uniform sich der seiner Truppe anglich. »Können Sie die Stelle wiederfinden, Korporal? Der Pfad ist in ständiger Bewegung.« »Ganz sicher, Sir«, sagte Lum. »Wir sind meinem Kompass hierher zurückgefolgt. Wenigstens der ist standhaft geblieben.« Der Hauptmann rieb sich die Hände und bog seine Finger hin und her, dass die Gelenke knackten. »Dann hätte sich das hier ja doch noch gelohnt. Was sagen Sie, Meister Roan.« »Wir kaufen sie uns«, sagte Roan. »Gehen Sie voran, Korporal!« »Jawohl, Sir!«, sagte Lum. Er richtete den Strahl seiner Lampe nach rechts, wo die Bäume weiter auseinander standen. »Hier entlang.« Einen Schritt dahinter fand Roan es leichter, im Dunkeln zu manövrieren. Leonora schloss zu ihm auf und hakte sich bei ihm ein. Im Schein der Lampe, die sie sich von einem der Gardisten ausgeliehen hatten, konnte er ihre Augen erkennen. Sie waren riesengroß und hellwach.
Die Bäume warfen furchterregende Schatten auf ihren Pfad, aber Roan richtete immer wieder den Lichtkegel der Lampe auf sie und reduzierte sie auf das, was sie waren: Äste und Blätter. Der schrille Ruf eines Nachtvogels ließ sie beide auffahren und dann nervös lachen. Leonora hielt sich fest bei ihm eingehakt. »Wie weit ist es noch, Korporal?«, fragte Roan nach einer Weile. »Nicht mehr weit«, sagte Lum. »Wenn Sie ganz leise sind, können Sie ihre Stimmen fast schon hören.« »Ich kann nicht viel hören - bei dem Lärm, den wir machen«, brummte Spar von hinten. »Psst!«, zischte Leonora unwirsch. »Hört doch!« Roan lauschte angestrengt, um das leise Stimmengemurmel zu verstehen, das von weiter vorn kam. Nach und nach waren erste Wortfetzen auszumachen. »Kehrt um ... eine Falle ... verloren ... ihr werdet hier umkommen ... umkommen.« War das eine Warnung, oder nur die natürliche Boshaftigkeit des Albtraumwaldes?« »Habt ihr das gehört?«, fragte Roan. »Was gehört?«, fragte Spar. »Das ist nur der Wind in den Wipfeln, Sir.« »Ich hör es«, sagte Hutchings. »Klingt wie Drohungen. Der Wald will nicht, dass wir hier sind. Er wird uns töten.« Die Gardistin schluchzte leise in sich hinein. »Ich habe mich hier schon einmal verirrt, als ich noch ein Kind war. Die Stimmen haben mich fast in den Wahnsinn getrieben. Die Worte!« »Es ist schon gut«, sagte Roan besänftigend und legte die Hand auf ihre Schulter. »Wir sind doch bei Ihnen. Wir müssen nur dicht beisammen bleiben.« Unter Aufbietung von allem, was Licht spendete - Laternen,
Taschenlampen, Taschenmesserlampen, ja sogar Geistesblitzen - und den Weg ausleuchtete, marschierte der kleine Trupp tapfer voran. Die Nadel in dem Miniaturkompass, der in das Gehäuse von Roans Taschenmesser eingesetzt war, zeigte nach rechts, zum Schloss der Träume. Also marschierten sie in westliche Richtung» Der Untergrund war trocken und einigermaßen eben, Ein Etwas mit Dutzenden von kalten, kitzelnden Beinen landete mit einem >plopp< auf Roans Handrücken und vor Schreck ließ er fast das Messer fallen. Nicht schon wieder! dachte er. Er schlug auf seine Hand, traf aber nur sein eigenes Fleisch. Da war nichts. Wohl eine weitere Sinnestäuschung. Etwas anderes kitzelte ihn an seinem Hals gleich unter dem rechten Ohr. Er zuckte hoch und drehte sich um. Ein leuchtendes Gesicht grinste ihn höhnisch an. Roan japste und das Gesicht verschwand wieder. Ein paar der Soldaten schrien. Roan wandte sich um, und ein anderes Gesicht tauchte vor ihnen auf, mit leeren Augenhöhlen und grinsendem Maul. Lum hob seinen Stab und schlug nach dem Gesicht, aber er traf nur Äste und Blätter. Die leuchtende Maske verschwand mit einem schaurigen Lachen. Eine Gargoyle-Fratze mit Hörnern, spitzen Ohren und einer gespaltenen Zunge, noch schauerlicher als die ersten beiden, erschien unmittelbar vor Roan, der entsetzt zurückprallte. Leonora kreischte. »Albträume«, rief eine vertraut klingende Stimme fröhlich. »Harmlos.« Roan atmete erleichtert auf. »Bergold. Du hast dich schon wieder verändert.« »Hmm«, sagte Bergold. Er kratzte sich am Ohr und runzelte die Stirn, als er die Spitze obendrauf entdeckte. »Schlimm?« »Grauenerregend«, sagte Leonora in entschiedenem Ton. »Du leuchtest im Dunkeln.« »Interessant«, sagte Bergold, unbeeindruckt. »Dann sollte ich vorausgehen und mein Antlitz dieser Expedition leihen.« Er
schob sich nach vorn und ging neben Lum. »Immer ganz locker bleiben«, sagte Bergold. »Warte! Brr! Halt!« Zwischen dem >warte< und dem >brr< bewegte sich der Boden unter Roans Füßen und wölbte sich zu einem Hügel auf. Als Bergold bei >halt< ankam, war er bereits rückwärts auf seinen Freund gefallen, der seinerseits gegen Rea fiel, die in die Reihe der Gardisten purzelte. Und dann fielen sie alle aufeinander in eine Mulde, die voller kratziger Baumwurzeln war. »Das war eben noch nicht hier!«, rief Lum. »Wir sind vorhin noch an dieser Stelle vorbeigekommen und da war sie so platt wie ein Pfannkuchen. Ich bitte Sie in aller Form um Verzeihung, Eure Hoheit«, fügte er hinzu, während er mit vor Verlegenheit hochrotem Kopf von den Beinen der Prinzessin herunterstieg. »Ist der Boden lebendig?«, fragte Leonora, während sie sich wieder aufrappelte. Sie hatte den auf ihr liegenden Lum in dem Durcheinander gar nicht richtig bemerkt. Ihre Amme war neben ihr und half ihr beim Aufstehen. Sie kletterten so rasch sie konnten aus der Mulde heraus. »Wenn die Bäume sich bewegen können, kann das auch der Boden«, erklärte Bergold. Er schnitt eine Grimasse und zeigte ungefähr achtzig spitze Zähne. »Er ist nicht in dem Sinne lebendig, wie wir es verstehen, aber er hat eine Art von Bewusstsein und einen Sinn für boshaften Unfug. Nicht sehr nett, nicht? Ist irgendjemand verletzt?« »Nein, Sir«, sagte Spar. Er zählte Köpfe und Nasen und fand von beiden eine gleich große Anzahl vor. »Da! Seht doch!«, sagte Felan hinter ihm. »Ein Licht! Sie sind hier!« »Das ist es, Sir!«, rief Lum. »Das ist das, was wir gesehen haben!«
»Psst!«, zischte Roan. »Broms Leute werden Sie noch hören!« »Die werden nichts hören«, murmelte Leonora neben ihm. »Hör doch nur, was für einen Lärm sie machen.« Roan lauschte. Er hörte viele Stimmen, die leise miteinander sprachen, und dazu viele andere Geräusche, die ihm nicht vertraut waren: flüssiges Gurgeln, mechanisches Kichern und sonderbare, blecherne Musik. Aber es war nichts von Unruhe oder Zeitdruck zu spüren. »Die haben sich so richtig häuslich eingerichtet«, sagte Spar leise. Roan hielt die Hand vor seine geborgte Lampe, damit die anderen sie sehen konnten, und signalisierte ihnen, näherzukommen. »Sie wissen nicht, dass wir hier sind«, flüsterte er. »Wir machen uns bereit und dann stürmen wir ihr Lager. Denkt daran, wir wollen den WECKER zerstören oder funktionsuntüchtig machen. Und achtet darauf, dass die Gruppe nicht zu dicht zusammenkommt. Ihr Einfluss ist ungeheuer stark, wenn sie sich gegenseitig berühren.« »Ich erinnere mich«, zischte Spar. »Ein Drachen, einfach so aus dem Nichts.« Er zückte sein Schwert und gab seinen Soldaten ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Roan klappte sein rotes Taschenmesser auf. Diesmal wählte er eine schwere, mit Eisennoppen bewehrte Keule. Die Prinzessin rückte ins hintere Glied in die Obhut Bergolds, der sie als geflügelter Gargoyle wenn nötig - beschützen konnte. »Wir greifen erst an, wenn wir sehen, wo jeder einzelne ist«, warnte Roan. »Wir müssen aufpassen, dass keiner sich heimlich an uns vorbeischleicht und entkommt.« Die Lichtung vor ihnen war erhellt von einem weißblauen Licht, das so grell war, dass es Roan schwerfiel, von seiner Warte aus genauere Einzelheiten auszumachen. Seltsam
abgemagert wirkende Gestalten bewegten sich vor der Lichtquelle hin und her. Die Maschinengeräusche waren ihm fremd, aber das war nicht weiter überraschend. Nur die Schläfer allein wussten, was Brom noch so alles in petto hatte. Roan wäre jede Wette eingegangen, dass die Wissenschaftler mehr an technischen Innovationen zu bieten hatten, als sie dem König je zeigen würden. Als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, hielt er nach dem WECKER Ausschau. Eine leichte Berührung von Lum auf seinem Arm ließ ihn nach rechts schauen. Ein paar der Gestalten bewegten sich um einen buckligen Schatten. Er sah ziemlich groß aus. Roan nickte dem Korporal zu, worauf der leise auf Zehenspitzen ins Unterholz zurückschlich. Kurz darauf spürte Roan drei leichte Schläge zwischen den Schulterblättern. Mit einer Bewegung, die darauf angelegt war zu erschrecken, brach Roan aus dem Wald und in die Lichtung. Gelähmt vor Schreck, drehten die schattenhaften Gestalten sich um und starrten ihn an. Er sah ihre Augen, groß und dunkel in ihren Gesichtern. > »Meine Damen und Herren! Im Namen des Königs - Sie sind festgenommen!«, verkündete Roan und hob seine Keule. »Bitte unternehmen Sie keinen Fluchtversuch. Wenn Sie sich kooperativ zeigen und widerstandslos mitkommen, wird es besser für Sie sein.« »Haltet Sie auf!«, schrie Felan, eine Silhouette zu Roans Linken. »Sie laufen weg!« »Schnappt sie euch!«, brüllte Spar und stürmte auf die Lichtung. »Im Namen des Königs!« Er machte sich an die Verfolgung der Gestalten, die über die offene Lichtung huschten. Roan schloss sich ihm an. Broms Adepten hatten zwar einen kleinen Vorsprung, aber auf seinen langen Beinen würde er nicht lange brauchen, bis er sie gestellt hatte. »Dort vorn ist eine Höhle!«, schrie Lum und zeigte auf einen flachen, dunklen Halbkreis ein Stück voraus. Die Wissenschaftler rannten in diese Höhle hinein. Im Schein des
Lichts hatte Roan einen Augenblick lang den Eindruck, sie wären unbekleidet. War er in irgendein geheimnisvolles wissenschaftliches Ritual hineingeplatzt? »Gleich haben wir sie«, rief Spar vergnügt und schwang sein Schwert. Er gab seinen Soldaten ein Zeichen. »Ihr zwei, bleibt hier draußen und bewacht den Eingang. Lum, Sie gehen mit mir rein!« »Nein!«, schrie Leonora und ihre helle Stimme übertönte ihre Schlachtrufe. »Nicht reingehen! Seht doch!« Roan, der nur noch wenige Schritte vom Höhleneingang entfernt war, ruderte mit den Armen, um sich zum Stehen zu bringen. Er war jetzt nah genug, um eine der Gestalten sehen zu können, die er gejagt hatte. Sie wandte ihm ihr bestürztes, aschfahles Gesicht zu. Die riesigen Augen gehörten keinem der Adepten des Ministeriums für Wissenschaft, den er je gesehen hatte. Die Kreatur hatte schmale Lippen und keine Nase, und die Höhle, auf die es zurannte, war im Innern nicht dunkel. Überall leuchteten juwelfarbene Lichter, und in der Mitte der Höhle stand ein flacher, altarartiger Tisch, der von einem gleißenden weißen Lichtkegel angestrahlt wurde. Vier der weißgesichtigen Gestalten standen um ihn herum und bedeuteten Roan näher zu kommen. Roan wich hastig zurück. Jetzt war plötzlich er der Gejagte und sie waren die Jäger. Eine Handvoll von den seltsamen Wesen grapschte nach seinen Armen und Beinen und versuchten ihn in die Höhle zu zerren. Roan warf sich auf den Boden und rollte sich weg, ihre langen, zerrenden Finger auf seinen Schultern, an seinem Mantel und in seinem Haar spürend. Leonora schrie, als die Soldaten ihn erreichten und aus den zerrenden Händen befreiten. Das letzte der Wesen huschte zurück in die Höhle, während Roan sich wieder hochrappelte. Eine Tür glitt vor den Höhleneingang und schloss ihn hermetisch ab und gleich darauf begann der ganze Hügel unter einem ohrenbetäubenden Brummen zu vibrieren. Rote und weiße Lichtstrahlen und Blitze jagten sich gegenseitig über
seine Oberfläche, und der gesamte Hügel und das umgebende Terrain, einschließlich der Stelle, an der Roan gerade noch gestanden hatte, schoss in die Luft. Roan und die ändern standen da und glotzten ungläubig nach oben. Die untertassenförmige Masse verharrte für eine Weile in etwa tausend Fuß Höhe über ihren Köpfen und schoss dann unter Absonderung eines fünftonmusikalischen Lärmstoßes nach Süden davon. »Du meine Güte!«, brach Bergold das atemlose Schweigen. Roan blinzelte und kam auf die Erde zurück. Das Gargoylegesicht seines Freundes war von einem glückseligen Lächeln umkränzt. »Wo ist mein Notizbuch? Ich muss das zu Papier bringen, bevor ich auch nur ein einziges Detail vergesse!« »Nehmen Sie meins«, sagte Colenna und kramte in ihrer voluminösen Handtasche herum. Sie winkte einen der Gardisten zu sich, auf dass er ihr mit seiner kleinen Laterne leuchte. Der gelbe Lichtschein erschien plötzlich ziemlich kümmerlich und unbedeutend nach dem blendenden weißen Glast, aber er war viel freundlicher und anheimelnder. Bergold nahm das Notizbuch, das Colenna ihm hinhielt, entgegen und begann vor sich hin zu kritzeln, wobei er leise Selbstgespräche führte. »Nun, das waren sie denn wohl doch nicht«, sagte Felan. »Was nun?« »Ich habe langsam das Gefühl«, begann Roan, »dass Brom und seine Leute diesen Wald überhaupt nie betreten haben. Wenn, dann hätten wir zumindest inzwischen eine Spur von ihnen gefunden. Womöglich haben sie sich sogar mit...« - er deutete nach oben - »mit dem da oben zusammengetan, was auch immer das war. Wir sollten uns glücklich schätzen. Lasst uns zusehen, dass wir so schnell wie möglich wieder aus diesem Wald herauskommen und das Nachtlager aufschlagen.«
»Sie haben Recht«, sagte Hauptmann Spar mit entschlossener Miene und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. »Ich für mein Teil habe Hunger und Durst und ich könnte eine Runde Schlaf gut vertragen. Korporal!« »Sir?«, sagte Lum. Er trat vor ihn und salutierte. »Führen Sie uns hier wieder raus.« Spar ließ alle in Zweierreihe hinter seinem Korporal antreten. Er selbst bildete die Nachhut. Wieder versuchte der Wald, ihnen den Weg zu verbauen und sie zu verwirren, aber diesmal waren seine Bemühungen halbherzig. Er schien sein Pulver tatsächlich verschossen zu haben. Alle blieben dicht beisammen; keiner ließ sich absondern, um sich alleine terrorisieren zu lassen. Roan stellte fest, dass er weniger Angst hatte vor den unsichtbaren Spinnen, die auf ihn fielen, vor den Phantom-Steuerprüfern, die ihm ins Ohr tuschelten, vor Popmusik-Rätseln, die ihm vor die Nase gehalten wurden, vor den Monstren, die die Gruppe mit Drohmienen begleiteten. Er begriff, dass er rennen musste, damit sie ihn jagten. Also rannte er nicht. Er war zu müde, um Angst zu haben. Nach sehr kurzer Zeit merkte die Gruppe, dass sie allein war. »Psst!«, sagte Bergold und spitzte sein spitzes Ohr nach links. »Ich höre ein Rascheln!« »Seht nach, was es ist!«, befahl Korporal Lum seinen Soldaten. Sie quetschten sich durch die Büsche, aber die anderen hielten die Lichtkegel ihrer Lampen auf ihren Rücken gerichtet. Kurz darauf hörte Roan freudige Ausrufe und Alette kam zurück, über das ganze Gesicht strahlend. »Es sind die Rösser!«, sagte sie. »Wirklich?«, fragte Leonora, sogleich besorgt. »Sind sie wohlauf?« »Ja, Eure Hoheit! Hier entlang!« Leonora und Roan folgten Alette in eine kleine Senke, in der die vier verschollenen Fahrräder ängstlich beieinander kauerten. Leonora kniete sich
zwischen Cruiser und Golden Schwinn, tätschelte sie und redete besänftigend auf sie ein, bis sie sich an ihre Schultern kuschelten. »So«, sagte Leonora zufrieden. »Jetzt geht es ihnen wieder gut.« Roan kontrollierte die Satteltaschen und Gepäckträger. »Es ist noch alles da«, sagte er. Er gab Cruiser einen liebevollen Klaps, froh, seinen silbern lackierten Freund wiederzuhaben. Sie folgten den Lichtern zurück auf den Pfad. Korporal Lum übernahm wieder die Führung. Hundert Schritte weiter konnte Roan die Sterne durch die Wipfel blitzen sehen. Plötzlich krachte ein zehn Fuß langer Stamm unmittelbar vor Lum auf den Boden und verstreute überall seine stacheligen Äste. Die Rinde war dicht gespickt mit fingerlangen Dornen. Die Fahrräder stiegen auf dem Hinterrad hoch und schrien. Roan legte die Hand auf Cruiser und Golden Schwinn und tätschelte sie beruhigend, damit sie nicht noch einmal durchgingen. Er warf den Kopf in den Nacken. »Okay!«, schrie er, an die Adresse des Waldes gewandt. »Du hast gewonnen! Du hast es geschafft, uns zu vertreiben! Wir gehen. Wir können deine Schrecknisse nicht länger ertragen. Wir wollen nur noch eins: raus aus dir!« Der abgebrochene Stamm hielt in seinem Schaukeln inne, wie als dächte er über Roans Worte nach. Dann - ebenso plötzlich, wie er gefallen war - zerbrach er in zwei Hälften. Jede der Hälften, innen hohl wie eine Eierschale, schaukelte einen Augenblick auf ihrem stachligen Äußeren und zerbrach dann in mehrere Stücke, nicht dicker als Rinde, eine Wolke vermoderten Holzstaubes in alle Richtungen versprühend. Lum bekam eine volle Ladung davon ins Gesicht und wurde von einem Hustenanfall heimgesucht. Colenna sprang herbei und schlug ihm auf den Rücken, bis er wieder Luft bekam.
»Der ist ja völlig abgestorben!«, schrie Spar überrascht. »Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen, bevor noch etwas anderes auf uns fällt«, sagte Leonora. »Da haben Sie Recht, Eure Hoheit.« Die Gruppe bewegte sich vorsichtig auf Zehenspitzen über die Überreste des Baumes, wachsam nach weiteren Sprengfallen Ausschau haltend, aber Roan wusste, dass es keine mehr geben würde. Der Wald hatte sie endlich freigelassen. »Puh!«, sagte Bergold und klopfte sich ab, als sie den letzten überhängenden Ast passierten. Das phosphoreszierende Leuchten begann aus seinem Gesicht zu verschwinden, bis er schließlich nur noch grotesk ausschaute. Langsam aber sicher verwandelte er sich wieder in einen gewöhnlichen Mann, diesmal mit einem dichten Schöpf schwarzen, von ersten grauen Fäden durchzogenen Haares und einer Hakennase. »Wie hast du das gemacht, Roan?« »Ich habe eine Lektion gelernt«, sagte Roan bescheiden. »Zeig Respekt und eine Bedrohung verliert jede Macht über dich. Ich wünschte, ich hätte das schon vor zwanzig Jahren gewusst.« Er hatte das Schreckgespenst seiner Kindheit nicht völlig verbannt, aber er hatte es für diesmal zurückgeschlagen. »Wir stehen wieder genau an der Stelle, wo wir hineingegangen sind«, sagte Spar verärgert. »Reine Zeitverschwendung. Sie sind nie hier entlanggekommen. Brom muss den Wald umgangen haben. Er ist gar nicht durch ihn hindurchgegangen.« »Nein, aber wir mussten sichergehen und nachschauen«, sagte Roan. »Es tut mir aufrichtig Leid«, erklärte Felan zerknirscht und schlug sich mit der flachen Hand auf die Wange. »Die Spur schien so klar.«
»Wir hätten der Spur folgen können, die der Baum gemacht hat«, sagte Roan. »Ich habe es auch geglaubt.« »Nun, solange Sie mir verzeihen«, sagte Felan mit einem verschämten Grinsen. »Was mir so unglaublich erscheint«, begann Roan nachdenklich, »ist, dass Brom und seine Adepten, nachdem sie mir entkamen, bis zum Albtraumwald marschiert und dann wieder umgekehrt sind.« Bergold schürzte die Lippen und stieß einen langen Pfiff aus. »Meine Güte«, rief er. »Ich hatte die Schwierigkeiten einer solchen Expedition nicht bedacht. Die Wissenschaftler verfügen in der Tat über beträchtliche Macht.« »Einzigartig«, sagte Felan in leisem, respektvollem Ton. »Nun, für heute Nacht haben wir sie verloren«, sagte Bergold und warf die Hände in die Luft. »Ich fall vor Müdigkeit gleich um. Machen wir Schluss für heute und gehen wir morgen früh zurück zu der Stelle, wo wir sie verloren haben.« »Einverstanden«, sagte Roan. »O nein!«, protestierte die Prinzessin. Sie schien sich wieder erholt zu haben, nachdem sie den Wald verlassen hatten, doch jetzt machte sie erneut ein besorgtes Gesicht. »Wir können uns keine Ruhepause erlauben! Sie werden weitermarschieren. Wir können ihre Fährte finden, jetzt, da wir wieder draußen sind.« »Meine Liebe, wir müssen unbedingt schlafen, wenn wir morgen zu irgendetwas nutze sein wollen«, sagte Bergold und nahm ihre Hand. Leonora schaute hilfesuchend von einem zum anderen. Alle schüttelten den Kopf, wie zur Entschuldigung. »Brom wird bestimmt auch eine Rast einlegen«, bemerkte Roan in begütigendem Ton. »Er und seine Leute benötigen sogar mehr als wir eine Ruhepause. Sie werden von uns gehetzt,, schleppen schwere und empfindliche Ausrüstung
durch gefährliches Terrain und sie erhalten diese Verbindung untereinander aufrecht. Darüber hinaus müssen sie sich ständig unsichtbar machen, damit wir sie nicht aufspüren. All das zusammengenommen mus s sehr anstrengend für sie sein. Sie werden schlafen, das verspreche ich dir. Wir brauchen eine Ruhepause und müssen etwas essen, sonst haben wir morgen nicht die Kraft, in die Pedale zu treten.« »Und wenn sie nun irgendwo einen Zug erwischt haben?«, protestierte sie hilflos. Roan konnte jetzt sehen, wie groß ihre Angst war - und dass sie gerade genug erschöpft schien, um nicht mehr vernünftig zu denken. »Was, wenn dieser Schmelztiegel sie die ganze Nacht ',, hindurch wachhalten kann?« »Selbst wenn er das könnte - die Schläfer können sie heute nacht auf keinen Fall mehr erreichen«, sagte Roan im Brustton der Überzeugung. »Ich glaube, sie wollen zu den Bergen, und das ist von hier aus noch ein weiter Weg, ganz gleich, zu welcher Gebirgskette. Wir können jedenfalls nicht mehr weiter. Die Fahrräder werden streiken, wenn wir ihnen keine Ruhepause gönnen«, fügte er hinzu, seinen Cruiser liebevoll tätschelnd. Das Ross schmiegte sich an seine Beine, als wolle es ihm seine Dankbarkeit für die Verschnaufpause zeigen. Leonoras Golden Schwinn kippte plötzlich um und blieb liegen; sein Vorderrad drehte sich noch ein paarmal müde. Sie schaute ihn an, und ein kleines, wehmütiges Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. »In Ordnung denn«, sagte Leonora. »Sie können wirklich nicht mehr. Und ich bin auch müde. Aber wir ziehen gleich morgen früh weiter, nicht wahr?« »Natürlich, Hoheit«, bestätigte Roan und entbot ihr ein Lächeln und eine tiefe Verbeugung. »Sollen wir unser Lager ein Stück weiter weg vom Waldrand aufschlagen?«
10. KAPITEL »Glinn! Glinn!«, schnitt Broms Stimme scharf durch das Zwielicht. »Hier, Herr!«, rief Glinn. Er ließ die kleine Prozession anhalten und klomm auf einen Hügel auf dem Feld neben dem Weg, sodass sein heller Mantel aus jeder Richtung zu erkennen war. Taboret spähte mit zusammengekniffenen Augen den Hügel hinunter und zog den Daumen aus dem Tragegurt ihres Rucksacks, um auf die stockdünne Gestalt zu zeigen, die mit rudernden Ellenbogen auf sie zugehastet kam. »Da kommt er«, sagte sie, überflüssigerweise, denn jeder konnte ihn sehen. So wie er leuchtete, einer flackernden Flamme gleich, musste er schon meilenweit zu sehen gewesen sein. »Er zehrt von der Vorfreude auf unseren Erfolg«, murmelte Glinn, als könne er in ihren Gedanken lesen. »Muss gut gegangen sein da hinten.« Mehrere gestaltlose Schatten schleppten sich hinter ihm her. »Sie sehen nicht gerade glücklich aus«, sagte Dowkin, von einem Fuß auf den anderen tretend, um den Druck der Lade, die auf seinen Schultern ruhte, ein wenig zu lindern. »Nicht ein Stück«, bestätigte sein Bruder am anderen Ende der Lade, auf der der WECKER stand. Brom überbrückte den Rest der Distanz auf seinen langen, spindeldürren Beinen, und Glinn sprang herunter, um ihn zu begrüßen. »Bericht!«, bellte Brom Glinn an. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, Herr«, antwortete der junge Mann. Er war ernst und gutaussehend, und manchmal ein schrecklicher Langweiler, wenn er über die Theorie der Grundursachen, sein Lieblingsthema, schwadronierte. Im Großen und Ganzen aber
mochte Taboret ihn. Sie hatte schon immer seine Fähigkeit bewundert, sein Denken in Kästchen einzuteilen, sodass es den Anschein hatte, als ob er sich auf mehr als eine Sache gleichzeitig voll konzentriere. Eine solche Fähigkeit war eine wichtige Stütze im Labor. Er war stets anständig und freundlich - im Gegensatz zu anderen, die sie gekannt hatte. »Keine ungehörigen Einflüsse oder Störungen. Wir sind in ein Wettermuster geraten, aber wir haben es nach Südwesten abgelenkt.« »Zu viert?« Brom sah ihn scharf an. »Ohne Geschwindigkeitsverlust?« »Ohne Geschwindigkeitsverlust«, sagte Glinn stolz. Ja, dachte Taboret. Sie hatten nicht nachgelassen und sie hatte neben der Lade herrennen und sich mit Dowkin und Doolin an den Händen halten müssen, während sie sie trugen. Taboret hatte sich so geschwächt gefühlt, als die Energie des Schmelztiegels in zwei Richtungen gleichzeitig gesogen wurde, dass sie kurz davor gewesen war, ihre Stellung auf der Stelle zu kündigen und allein nach Mnemosyne zurückzulaufen. Zum Glück hatte sie sich für die Reise eine gute Form und prächtige Beinmuskulatur zugelegt. Sie hatte eine lange Mähne dunkelblonden, zu einem Zopf geflochtenen Haares und klare, haselnussbraune Augen in einem herzförmigen Gesicht. Nicht gerade wunderschön, dachte sie, aber auch nicht unansehnlich. »Gut«, sagte Brom, einen kurzen, flüchtigen Blick über den Rest werfend. »Wir machen gute Fortschritte auf dem Weg zur Fernsteuerung. Wir haben Dalton verloren. Der PalastInvestigator ist uns gefolgt und hat Dalton während einer Störung, die wir als Tarnung nutzten, um von ihm wegzukommen, festgenommen.« »Roan?«, fragte Glinn überrascht. »Wie hat er unsere Fährte gefunden? Wir haben die Fußspuren auf eine Länge von
hundert Schritten hinter dem Schlosstor verwischt.« »Ich weiß nicht, wie«, erwiderte Brom kurzangebunden. »Jedenfalls sind wir ihn jetzt los.« Taboret schluckte nervös ob der Endgültigkeit in Broms Stimme. Sie hoffte, dass Roan nichts Schlimmes widerfahren war. Sie mochte den Sohn des Historikers. Er war ein netter Mann, wenn auch etwas seltsam in seiner Unwandelbarkeit. Sie wollte, dass das Projekt ein Erfolg wurde, aber nicht auf Kosten des Lebens anderer Personen. Urplötzlich fuhr Brom auf dem Absatz herum und starrte mit lodernden Augen auf sie herunter. Sie japste erschrocken nach Luft: Hoffentlich hatte er ihre Gedanken nicht gelesen! Er zeigte mit dem Finger erst auf sie und dann auf einige der anderen. »Wir werden gleich hinter der Kuppe dieses Hügels unser Nachtlager aufschlagen. Sie und Sie, Sie helfen den Männern, das Gerät abzuladen. Aber vorsichtig!« »Jawohl, Herr«, sagte Taboret, während ihr das Herz bis zum Halse schlug. Er hatte sie nicht bei ihren schlechten Gedanken ertappt. Glück gehabt. Sie stapfte den Hügel hinunter - hinter der Lade her, durch ein kleines Gehölz auf eine Lichtung, die angenehm nach Blumen und süßem Gras duftete. Brom bedeutete ihnen anzuhalten und zeigte auf die Lichtung. »Hier«, sagte er. Taboret blieb in respektvollem Abstand hinter ihm stehen. Sie musste besser aufpassen, um ihren mentalen Tonus locker und gedämpft zu halten. Der Boss hatte bereits mehrfach unter Beweis gestellt, dass er durch die Verbindung manchmal die Gedanken der anderen lesen konnte. Sie hatte mehr als nur ein bisschen Angst vor ihm. Mit dreiundzwanzig schätzte Taboret sich glücklich, einen Beruf ausüben zu können, den sie liebte. Sie liebte das euphorische Gefühl, um die Richtigkeit wissenschaftlichen Forschens zu wissen, und das Kribbeln, das
ihr über den Rücken lief, wenn eine Theorie sich als richtig erwies. Die alten Bücher zu lesen und zu sehen, wie die großen Wissenschaftler der Vergangenheit zu ihren Schlussfolgerungen gekommen waren, war das größte Abenteuer, das sie sich vorstellen konnte. Bei Brom ging die Hingabe noch tiefer. Er schien einen unmittelbaren Zugang zu den Wegen des Schicksals selbst zu besitzen. Seine Vision verzehrte ihn von innen, und er fand, dass jeder genauso begeistert von seinem Projekt sein sollte, wie er es allzeit war. DenSiebenseidank war seine telepathische Gabe schwankend und nicht besonders akkurat. Brom schien Gefühle besser auffangen zu können als Worte; also hielt sie eine Hülle freudiger Erregung um sich herum aufrecht. Das meiste davon war jetzt echt. Sie war noch nie so weit von Mnemosyne fort gewesen und das Land um sie herum schien ihr fremdartig und neu. Es wurde allmählich zu einer so guten mentalen Vermummung, dass sie Brom gelegentlich dabei ertappte, wie er sie mit seinem wahnsinnigen Blick anstarrte. Taboret zuckte leicht zusammen, als sie merkte, wie der Boss sie jetzt musterte. Sie ging zu Glinn und half ihm, das Joch von den beiden Männern abzuschnallen, die es trugen. Dowkin und Doolin waren Zwillinge, stur wie Ochsen. Wann immer das Schicksal sie schlug und sie sich veränderten, sie blieben sich stets gleich. Unter den Lehrlingen, überwiegend ein geselliges Völkchen, hielten sich die Brüder immer abseits, als wäre der jeweils andere alles, was sie je an Gesellschaft brauchten. Sie waren so unfreundlich und eklig, dass Taboret, wann immer sie konnte, einen großen Bogen um sie machte. Brom behielt sie nur, weil sie brillante Gelehrte und zudem stark wie Bullen waren. »Pass doch auf, du hast mir in die Schulter gekniffen!«, beschwerte sich Doolin, als sie eine der schweren Schnallen an seinem Tragegurt löste.
»Pass auf, was du mit meinem Bruder machst!«, blaffte Dowkin sie an, während Glinn ihn von seinem Tragegurt befreite. »Sie hat ihm doch gar nichts getan«, versicherte ihm Glinn, während er das Geschirr anhob, sodass Dowkin darunter wegschlüpfen konnte. Die Brüder starrten sie gleichwohl mit wütendem Blick an und Taboret zog sich zur Seite des Rahmens zurück. »Danke«, sagte Taboret und warf ihm unter der Trage hindurch einen kurzen Blick zu, den die Brüder nicht sehen konnten. »Ist schon gut«, sagte Glinn. »Alle sind ein bisschen gereizt übermüdet.« Taboret ließ einen langen Seufzer entweichen. »Ich auch.« »Und jetzt alle zusammen«, sagte Glinn und die Gruppe nahm die Trage und stellte den WECKER auf die Erde. Brom gluckste wie eine Henne um sie herum und zog eine Grimasse, als das riesige Ding sich auf das Gras senkte. Die großen Glocken oben auf dem Gehäuse schwangen leicht auf ihren Stangen und berührten sanft den Hammer zwischen ihnen, ein leises Summen erzeugend. Sie machten Taboret nervös. Hin und wieder läuteten sie zusammen unter dem Segeltuch. Der Schall der metallenen Kuppeln hallte in ihrem Kopf wider, bis sie das Gefühl hatte, er würde ihr jeden Augenblick zer springen. Taboret wollte weglaufen, ihren Teil in der Kette auflösen. Sie zwang den Gedanken aus ihrem Kopf, als der auf ihr ruhende Blick des Bosses etwas Fragendes, Spekulatives bekam, und bückte sich, um die Segeltuchhülle weiter unter das Gehäuse zu stopfen. Sie hatte sich - wie die restlichen Adepten und die beiden gedungenen Schläger - dazu verpflichtet, bis zum erfolgreichen Ende dieser Mission mitzumachen. War sie erst erfolgreich abgeschlossen, stand es ihnen frei, weiter im Dienste des Wissenschaftsministeriums zu
bleiben oder mit einem Zeugnis in der Hand fortzuziehen. Aber solange das Projekt lief, gab es kein Aussteigen. Hätte Taboret in diesem Augenblick die freie Wahl gehabt, sie wäre wahrscheinlich umgekehrt. Noch nie in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Ihre Pflichten und Aufgaben als Auszubildende im Wissenschaftsministerium waren gewöhnlich leicht und mit keinen sonderlichen Anstrengungen verbunden. Messungen durchführen, Daten aufzeichnen, Botengänge für Brom und die anderen Vorgesetzten erledigen, sich um die Ausrüstung eines sich im Gange befindlichen Experiments zu kümmern - nichts, was ihr besondere Anstrengungen abverlangt hätte. Carodil sagte ihnen immer, eines schönen Tages werde der Augenblick kommen, da sie ihre überlegenen Fähigkeiten, deretwegen sie aus den Tausenden von Bewerbern ausgewählt worden seien, würden anwenden können. Und dann war Brom mit seinem Angebot gekommen: vermehrte schöpferische Kraft jetzt und sofort für eine ausgewählte Gruppe von Lehrlingen, ein Verfahren, das sie für immer würden verwenden können, wenn sie ihm bei einer komplexen und faszinierenden Untersuchung halfen. Taboret hatte dieser Kombination nicht widerstehen können. Ein Traumländer mochte ohnehin nur über begrenzten Einfluss verfügen, aber sie wusste, dass sie nicht einmal so viel besaß wie manche anderen Leute. Die Verlockung, ihre persönliche Kraft zu vergrößern, war unwiderstehlich. Sie hatte sich sofort freiwillig gemeldet. Die Art und Weise, wie Brom seine These dargelegt hatte, hatte die Zweifel ans Licht gebracht, die Taboret stets bezüglich der Schläfer gehegt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich an sie glaubte. Sie waren Teil eines Märchens, das ihre Eltern immer mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme erzählt hatten. Taboret hielt nichts von Märchen. Sie glaubte an das, was sie sehen, berühren und beweisen konnte. Die Kraft der Verbindung war wahrnehmbar und spürbar. Sie hörte die
Gedanken anderer. Sie sah Dinge aus dem Äther kommen, die zu komplex und zu umfangreich waren, als dass ein einzelner Geist, ganz gleich wie mächtig er auch war, sie allein hätte erschaffen können. Infolgedessen hatte sie die Theorie des Bosses begierig aufgesogen, wenn auch nur auf hypothetischer Basis. Behauptung: Wenn die Schläfer existierten, dann bestand die berechenbare Chance, dass sie sich ganz so verhielten, wie die Legenden es durchgehend beschrieben. Sie schliefen. Wenn ein Lebewesen schlief, dann war es ein Gebot der Logik, dass es mit größter Wahrscheinlichkeit auch wieder aufgeweckt werden konnte. Das hieß, dass die Schläfer, so sie denn real waren, wahrscheinlich aufgeweckt werden konnten. Deshalb lag es auf der Hand, dass jemand sie aufsuchte und auch versuchte, sie zu wecken. Und dann würde man ja sehen, was passierte. Taboret war von dem Entsetzen in den Gesichtern im Audienzraum überrascht gewesen, als Brom seinen Vorschlag unterbreitet hatte. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, wie sehr das Unbekannte den Leuten Angst machte. Warum waren sie nicht fasziniert von der Möglichkeit? Wollten sie denn nicht die Wahrheit über ihre größte Legende erfahren? Sie war nicht in dem Team gewesen, das den WECKER gebaut hatte. Das Gerät war bereits im Bau gewesen, im geheimsten und bestabgeschotteten Laboratorium von Mnemosyne. Der WECKER war etwas komplett Neues im Traumland, etwas, das planvoll gebaut worden war - nicht gefunden, nicht vom Willen geformt, nicht erträumt von den Schläfern und das nirgends in den Aufzeichnungen über frühere Erfindungen auftauchte. Das Vorgehen des Bosses war revolutionär gewesen. Das Innenleben war in mühevoller Kleinarbeit Zahnrad für Zahnrad aus einem eigens für das Projekt geschmiedetem Metall gefräst worden, welches aus einem Erz gewonnen worden war, das tatsächlich jemand aus einem Berg herausgegraben hatte. Der Boss hatte das Uhrwerk
einer Taschenuhr kopiert. Das Gerät musste vollkommen zuverlässig sein, weil es erst in dem Augenblick wirklich für den Ernstfall getestet werden konnte, wenn es zum Einsatz kam, der Ernstfall also eingetreten war. Es konnte sein, dass es seine Gestalt veränderte, wie es alle anderen Dinge im Traum land taten, aber die Form folgte der Funktion. Es würde seinen Zweck erfüllen, ganz gleich wie es aussah. Brom scheuchte sie mit einer Handbewegung von der Trage weg, um mit seiner grandiosen Erfindung allein sein zu können. Taboret ging zu den anderen und half beim Aufschlagen des Lagers. Die erste Nacht war weniger durchplant, als es die folgenden Nächte sein würden, um den Lehrlingen die Gelegenheit zu geben, mit SchmelztiegelEnergien zu arbeiten und zu lernen, wie sie sich anfühlten. Brom hatte sie dazu ermuntert, ihre Ressourcen zu nutzen und Fähigkeiten zu entwickeln. Die grasbewachsene Mulde war breit und fiel sanft zu einem seichten Bach hin ab. Der Koch hatte sich den flachsten Teil der Lichtung gleich am Bach für seine improvisierte Küche ausgewählt. Basil, ein dicker, dunkelhaariger Lehrling mit einem Händchen für Nahrungszubereitung, hatte den Job des Kochs übernommen. Mithilfe einiger der anderen Lehrlinge stellte er einen voll funktionstüchtigen vierflammigen Herd auf und errichtete aus einer riesigen Felsplatte und zwei umgefallenen Baumstämmen einen langen schmalen Eßtisch mit Sitzbänken auf beiden Seiten. Basil hatte aus einem Netz von Reben, die von einem Baum neben ihm herunterhingen, ein Lochbrett für seine Utensilien gefertigt. Als Taboret erschien, schaute er vom Zwiebelschneiden auf und lächelte sie an. Eigentlich hätte die Anwendung von Schmelztiegelkraft das Zerkleinern der Zwiebeln wie überhaupt jede körperliche Arbeit überflüssig gemacht, aber Basil kochte nun einmal leidenschaftlich gern. Für ihn war es keine Arbeit. Taborets Aufgabe beim Aufschlagen des Lagers bestand
darin, für die persönliche Hygiene zu sorgen. Sie entnahm ihrem Rucksack eine Waschschüssel aus Keramik und einen Zinkeimer mit Deckel und stellte beides ein halbes Dutzend Schritte vom Bach entfernt auf die Erde. Sie schaute sich um, ob irgendjemand in der Nähe war, der ihr helfen konnte. Dowkin und Doolin, die Zwillinge, saßen auf einer der Bänke und schauten Basil zu. Als könnten sie erraten, was sie dachte, warfen sie ihr gleichzeitig einen verächtlichen Blick zu und kehrten ihr den Rücken. Basil schüttelte den Kopf und zeigte mit seinem Messer auf Carina und Gano, die gerade mit dem Herstellen von Feldbetten fertig waren und zum Tisch strebten. »Natürlich helfen wir dir«, sagte Gano mit einem schelmischen Grinsen. Sie hatte rote Haare und volle Wangen, die sich kräuselten, wenn sie lächelte. Carina war älter und kleiner, mit dicken braunen Haaren und pechschwarzen Augenbrauen. »Dann dürfen wir auch als Erste drauf. Bekommt es auch eine Dusche?« »Das ist die effizienteste Form von Bad«, sagte Taboret, »aber ich hoffe, wir kriegen noch was Besseres zustande. Hier ist mein.Plan.« Sie entrollte ihre Blaupause und dann fassten sich die drei Frauen bei den Händen und bildeten einen Kreis. In kürzerer Zeit, als sie es je für möglich erträumt hätte, war das Bad fertig. Die Transformation von einem ähnlichen Gegenstand in einen anderen mit der gleichen Funktion war erheblich leichter, als sein Wesen selbst innerhalb der Grenzen des gewöhnlichen Einflusses zu verändern, aber die Waschschüssel wurde zu einer formschönen Marmorwanne und einer Dusche mit Chromarmaturen. Der Zinkeimer wuchs zu einem Tank mit einer Kette und einem reich verzierten Sitz, der, nun ja, ein bisschen wie ein Thron aussah. Der gesamte Prozess war so nah daran, magisch zu sein, wie ein rationaler Verstand es nur zuließe. Schmelztiegelkraft war verblüffend effizient. Taboret zog einen Schleier aus Moos herunter, der von dem Baum über ihren Köpfen hing, und machte daraus
einen hübschen Duschvorhang, während Gano und Carina aus einem Pappkarton die Wände des Badezimmers fertigten. Sie grinsten sie kameradschaftlich an, als sich ihre Blicke trafen; sie schienen immer im gleichen Augenblick wie sie aufzublicken. Es steckte eine fast mit den Händen greifbare Freude in dem gemeinsamen Schöpfungsprozess. Wenn Brom nichts anderes bewirkt haben sollte, so hatte er doch eine Umgebung erzeugt, in der Teamwork gefördert und unterstützt wurde. Nur die Zwillinge waren abscheulich und unkooperativ. »Es ist schön geworden«, sagte Carina und stellte sich in die Mitte des Badezimmers, um ihre Arbeit zu bewundern. »Das ist es in der Tat«, bestätigte Taboret. »Ich kann es kaum erwarten, in die Wanne zu steigen.« »Ich darf als Erste rein«, sagte Gano und zog ein flauschiges Badetuch aus dem Wäscheschrank neben dem Spiegel. »Und danach ich«, sagte Carina und hob die Hand, bevor Taboret etwas sagen konnte. »Na schön, dann gehe ich halt als letzte rein«, fügte sich Taboret gutmütig. Sie trat aus der Tür und verschloss sie hinter sich. »Sagt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid.« Kaum draußen, wurde ihr plötzlich übel, und sie musste die Augen schließen, um das schwummrige Gefühl in der Magengegend zu unterdrücken. Sie machte einen Schritt von dem Bad weg und das Gefühl verschwand. Sie ging wieder zurück und ihr Magen drehte sich in die andere Richtung. Aus irgendeinem Grunde fühlten sich die Einflüsse in der unmittelbaren Nähe des Bades merkwürdig an. Sie fragte sich, ob irgendetwas bei der Errichtung schiefgegangen sein mochte, aber aus den Hähnen strömte kaltes und warmes Wasser, die Toilettenspülung funktionierte perfekt und aus der Dusche schoss ein wunderbar heißer Strahl. Sie kam zu dem Schluss, dass sie einfach müde und erschöpft war. »Klasse Job!«, rief Glinn ihr zu. Er kniete auf dem Boden im
heimeligen roten Schein von dreißig geschmackvoll getönten Laternen, die rings um die Lichtung in den Bäumen hingen. Taboret vergaß ihre Übelkeit, als sie die wundersame Verwandlung des Lagers auf sich wirken ließ. So unsozial und eklig die Zwillinge auch sein mochten, sie waren harte Arbeiter. Sie hatten die zwölf Feldbetten aufgestellt, jedes ausgestattet mit einem Moskitonetz. Lurry, ein hagerer, langnasiger Lehrling, dessen latente Pyromanie ständiger Anlass zum Tadel im Laboratorium war, saß rittlings auf einem Ast und hängte die letzten Laternen auf. Bolmer und Mamovas, ein Mann und eine Frau, beide schlank und dunkelhaarig, legten letzte Hand an einen dünnen Vorhang-Wall, der das Lager umfriedete, um Tiere und Insekten fernzuhalten und das Licht nach außen abzuschirmen. Glinn grinste Taboret an, als sie zu ihm herübergeschlendert kam, um zu sehen, was er tat. »Ich freue mich schon auf ein Bad«, sagte er. »Ich bin wund von den Fersen bis zu den Ohren. War ein harter Tag heute. Und Basil ist ein echter Sklaventreiber. Ich habe ihm geholfen, seine Küche einzurichten. Nach dem Getue, das er dabei veranstaltet hat, hätte man denken können, er baue eine sterile Einrichtung.« »Der Tag heute war schlimm«, erklärte Taboret emphatisch. »Wir können nicht ewig zu Fuß weitermarschieren. Wir kommen wegen dieses... Dings nur so langsam voran. Wenn wir so weitermachen, wird uns noch irgendeiner einholen.« »So leicht werden wir nicht zu fassen sein«, sagte Glinn fröhlich und wuchtete seinen Rucksack auf den Boden. »Außerdem gehen wir nicht zu Fuß weiter. Voilä! Unser Transportmittel!« Taboret beugte sich hinunter und schaute auf den Haufen kleiner Säcke. »Büroklammern?«, fragte sie und ließ eine Handvoll davon durch ihre Finger gleiten. »Du bist verrückt. Die brauchen ja ewig, bis sie reif sind.« Eines der wissenschaftlichen Prinzipien
bezüglich Metalls, die sie seinerzeit in der Grundschule gelernt hatte, war, dass Fahrräder die Erwachsenenform von Büroklammern waren. »Das wird Monate dauern!« Ein vernünftiger Mensch lagerte niemals zuviele Büroklammern beieinander, denn wenn der Tag kam, da man eine brauchte, war keine mehr vorhanden, sondern stattdessen ein Knäuel von Kleiderbügeln, die im Kleiderschrank hingen. Die Larvenform liebte diese Art von dunklem, trockenem Plätzchen; dort konnte sie am besten reifen. Bis dann eines schönen Tages die Kleiderbügel ebenfalls verschwinden würden und man über ein Knäuel Fahrräder stolperte, wenn man hinaus vor die Türe trat. Taborets erstes Rad hatte von einem Abfallhaufen vor dem Haus nebenan gestammt. Sie wunderte sich, weshalb Glinn grinste. »Aha«, sagte er und tippte sich an die Stirn. »Du denkst noch in Prä-Schmelztiegel-Kategorien. Wir können das praktisch über Nacht bewerkstelligen.« Taboret zog die Brauen hoch. Das stimmte. Er hatte Recht. Deshalb war er Broms Stellvertreter und sie bloß im zweiten oder dritten Glied. »Okay«, sagte sie, den Kopf über ihre eigene Begriffs stutzigkeit schüttelnd. »Aber ich will ein blaues.« »Frivolität?«, fragte Brom, der urplötzlich zwischen ihnen aufgetaucht war. »Dies ist eine ernsthafte wissenschaftliche Expedition, junge Frau.« »Jawohl, Herr«, erwiderte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. »Das werde ich auch weiterhin beachten, Herr. Ich versuche lediglich, den Reisestress durch kontrollierte Sorglosigkeit zu lindern.« Es klang auch in ihren eigenen Ohren wie ein Haufen philosophischen Dünnseichs, schien aber den Boss zufriedenzustellen. »Solange, wie Sie wissen, was Sie tun«, sagte Brom in seiner gewichtigen Dozentenmanier. »Passen Sie auf, dass die ...
Sorglosigkeit nicht mit Ihnen durchgeht.« »Ja, Herr.« »Es ist meine Schuld, Herr«, sagte Glinn. Er stand auf und stellte sich ritterlich zwischen Taboret und ihren Vorgesetzten. »Ich habe sie dazu ermuntert. Ich schäkere halt gern ein bisschen, rein kameradschaftlich, versteht sich und das besonders gern mit Taboret. Sie könnten sie glatt als Kandidatin für den Posten eines Moral-Offiziers ins Auge fassen.« »Dies ist keine militärische Organisation«, erwiderte Brom in belehrendem Ton, doch die Krise war vorüber. Er winkte die anderen, die in der Nähe waren, zu sich und bedeutete ihnen, einen Kreis rings um die Säcke mit den Büroklammern zu bilden. Die kleinen Metallklammern waren auf dem besten Wege, auf die Größe von Akten-Clips anzuschwellen, als der Kreis brach. Taboret war froh, als Basil mit seinem Kochlöffel gegen ein Triangel schlug, um sie zum Abendessen zu rufen. Während des Essens und der darauffolgenden Spül- und Aufräumarbeiten hatte Taboret ständig das Gefühl, von Blicken verfolgt zu werden. Jedesmal wenn sie sich umdrehte, sah sie sich von Brom beobachtet. Als sie ihre Tischabfälle in Kompost verwandelte, als sie aus dem Bad kam, sogar, als sie ihr Feldbett aufdeckte, stand er in der Nähe, unter einer der Hängelampen und starrte zu ihr herüber. Was hab ich getan, fragte sie sich. »Ich habe dich gehört«, sagte Glinn, der unerwartet neben ihr auftauchte, leise. Sie fuhr erschrocken zusammen. »Denk nicht so, wenn du es irgendwie verhindern kannst. Die Verbindung wird stärker. Kannst du das nicht fühlen?« »Doch, das kann ich«, sagte Taboret und dachte an ihr Erlebnis mit Carina und Gano. »Aber warum beobachtet er mich die ganze Zeit so?« »Er beobachtet jeden. Er will sich vergewissern, dass unter
uns keine Spione des Königs sind.« »Was? Wer von uns sollte denn das Projekt gefährden wollen?« Glinn zuckte mit den Schultern. »Nun, es könnte passieren. Du hast ja gesehen, was sich am Hofe abgespielt hat. Wir erhielten den Befehl, das Projekt einzustellen und die Finger davon zu lassen, richtig?« »Sehr kurzsichtig«, schnaubte Taboret. Sie spürte, wie der Knoten der Anspannung sich wieder löste. Sie setzte sich auf ihr Feldbett und zog ihre Stiefel aus. Wenn das Broms Problem war, dann konnte sie ihn sofort eines Besseren belehren. »Die Schläfer könnten sich eines Tages im Bett umdrehen und sich gegenseitig aufwecken. Dann wären wir alle weg - vielleicht und keiner wüsste, warum. Wir wollen es unter kontrollierten Bedingungen tun, damit jeder weiß, was tatsächlich passiert.« »Genau«, sagte Glinn mit einem tiefen Seufzer. Andere kamen jetzt in den Schlafbereich und er senkte seine Stimme noch mehr. »Aber Brom macht sich Sorgen. Das würdest du auch.« »Niemand würde ihn verraten«, sagte Taboret im Brustton der Überzeugung. Sie erinnerte sich daran, wie der Blick des Bosses sich in sie hineingebohrt hatte. »Sie hätten viel zu viel Angst.«
11. KAPITEL Die Sonne schlich leise auf Zehenspitzen über den Horizont und piekste Roan schalkhaft mit einem Finger aus Licht ins Auge. Er schrak im Schlaf zusammen und wachte schlagartig auf, das Gesicht mit einem Stöhnen von dem grellen Licht abwendend. Der Lichtfinger zuckte zurück und stahl sich davon, um sich einen anderen Schläfer zu suchen, den er ärgern konnte. Roan streckte sich, um die Verspannung in seinem Rücken zu lockern. Das nette flache Stückchen Erde, auf dem er seinen Schlafsack ausgerollt hatte, schien vom Albtraumwald Unterricht im Wellenwerfen bekommen zu haben. Er war auf lahmenden Kamelen schon bequemer geritten. Den Mienen der anderen, die noch in ihre Decken eingehüllt dalagen, nach zu urteilen, schliefen sie auch nicht besser. Das sich unruhig hin und her wälzende Bündel neben ihm war Bergold. Roan schaute gebannt zu, wie die Nase oder die Ohren seines Freundes ständig ihre Größe veränderten oder sich aufwärts bogen, um nicht mit dem steinigen Untergrund in Berührung zu kommen. Zu seiner anderen Seite stand ein weißes Zelt mit quadratischer Grundfläche, das die Prinzessin und ihre Amme Drea beherbergte. Die zierliche Gestalt, die Roan durch den durchsichtigen, hängenden weißen Flor erkennen konnte, machte, eng in sich zusammengekauert, wie sie auf ihrer Pritsche dalag, einen erbarmungswürdigen Eindruck. Das bescheidene Obdach war weit karger als das, was Leonora gewohnt war, aber die Gruppe war zu dem Zeitpunkt, da sie sich zu der nächtlichen Rast entschlossen hatte, einfach zu erschöpft gewesen. Sie hatten jedem Bestandteil des Zeltes alle erdenkliche Aufmerksamkeit gewidmet, doch es war trotz
alledem bestenfalls ein Provisorium geworden. Im Licht der aufgehenden Sonne sah es aus wie verblichene Lumpen, die von einer Wäscheleine hingen. Aufgrund der vorgerückten Stunde dazu gezwungen, das erste halbwegs taugliche Terrain für die Errichtung ihres Lagers zu wählen, das auf ihrem Weg lag, hatten sie sich mehr auf den Aspekt der Sicherheit als auf den der Bequemlichkeit konzentriert. Mit dem bisschen an Kraft, das ihnen noch geblieben war, um Einfluss zusammenzuraffen, hatten Roan und die anderen einen unsichtbaren, aber durchaus stabilen Schutzwall um die Stelle gezogen, an der sie zu schlafen beabsichtigten. Zwei Wachen waren für eine sehr kurze erste Schicht an dem Wall postiert worden, während die anderen sich so rasch wie möglich zur Ruhe gebettet hatten. Das war das letzte, woran Roan sich erinnern konnte, bis die Sonne ihn aufgeweckt hatte. Und noch während er zum langsam heller werdenden Himmel empor schaute, schob sich ein großes Hindernis zwischen ihn und die Landschaft und blickte grinsend auf ihn herab. »Guten Morgen«, sagte Misha. »Du bist früher hier, als ich erwartet habe«, sagte Roan, zu dem großgewachsenen jungen Mann hinaufblinzelnd. Sein Haar hatte die Farbe des Sonnenscheins, seine Augen leuchteten in einem klaren, ungetrübten Blau und seine Wangen waren rosig. Er sah geradezu widerlich gesund aus für jemanden, der die Reise nach Mnemosyne und zurück in der Zeit bewältigt hatte, die Roan und die anderen gebraucht hatten, um sich im Albtraumwald zu verirren und eine Nacht miserablen Schlafes zu durchleiden. »Ein scheußlicher Tag für einen Ritt«, sagte der junge Kontinuator und reichte Roan die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. »Ich habe nur deshalb keinen wunden Hintern, weil die Rösser heute Pferde sind.« Er zeigte auf die Baumgruppe, wo die Fahrräder am Abend zuvor angebunden
worden waren. Anstatt auf zwei Rädern standen sie jetzt allesamt auf vier Beinen. »Ich habe die Nacht in einem Bett im Palast verbracht, und ich bin seit der Morgendämmerung unterwegs, aber ich brauchte nicht eine Elle in die Pedale zu treten.« »Den Schläfern sei Dank für kleine Gefälligkeiten«, sagte Roan gähnend. »Meine Waden wünschten sich, sie wären aus Gusseisen, und ich bin an lange, scharfe Ritte gewöhnt. Die anderen sind zweifellos in schlimmerer Verfassung als ich. Was kannst du mir über den Mann sagen, den du zum Palast zurückgebracht hast?« »Als ich losritt, hatten sie es noch immer nicht geschafft, irgendetwas aus ihm herauszukriegen«, sagte Misha kopfschüttelnd. »Jedenfalls nichts, mit dem man irgendetwas hätte anfangen können. Er hat nur wiederholt, was wir ohnehin schon wissen: dass Brom vorhat, die Schläfer zu wecken. Die Vernehmer müssen zu drastischen Taktiken Zuflucht suchen. Der diensttuende Sicherheitschef hat nach seiner Mutter geschickt.« »Brr!«, sagte Roan und schauderte vor lauter Mitgefühl mit dem Gefangenen zusammen. »Ist sonst noch jemand auf?« »Fast alle. Spar und die Gardisten exerzieren dort unten an einem Bach«, sagte Misha, mit der Hand deutend. »Felan ist auf der anderen Seite der Rösser und schreibt ganz wild. Ich habe ihn überrascht, als ich angeritten kam.« »Er schreibt, sagst du?«, fragte Roan und hielt inne, um sich erneut kräftig zu recken. »Ja, ich schreibe«, sagte Felan, als Roan den Hügel heruntergestapft kam, um ihn zu fragen. Felans kurzsichtige blaue Augen blickten durch eine goldgeränderte Halbbrille. Er hielt ein Pergament hoch, halb bedeckt mit winziger Schrift. »Ich verfasse gerade eine Botschaft für Micah. Irgendjemand muss ja den Hof über den Fortgang unserer Mission in
Kenntnis setzen.« Er deutete mit seinem Gänsekiel über die Schulter auf den Rand des Gehölzes. »Sie können sich erst einmal waschen, wenn Sie möchten. Ich schreibe nur rasch diese Botschaft zu Ende und schicke sie ab.« »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Meister Felan?«, fragte Roan und beugte sich über die Schulter des Historikers, um das Dokument zu lesen. »Eigentlich nicht.« Felan blickte zu Roan hinauf und zog verwirrt die Brauen zusammen. Er rückte seine Brille zurecht. »Werden Sie es nicht Leid, jeden Tag dasselbe Gesicht zu rasieren?« »Eigentlich nicht«, sagte Roan unbehaglich. Er entfernte sich wieder, und Felan widmete sich wieder seiner Botschaft, nicht ahnend, was er mit seiner Frage angerichtet hatte. Roan hasste es, sich unter gewöhnlichen Traumländern wie ein Monstrum zu fühlen. Gewöhnlich war er auf seinen Reisen nie lange genug mit irgendeinem von ihnen zusammen, dass ihnen hätte auffallen können, dass er sich nie veränderte. Er fühlte sich, als hätte er den Hof mitgebracht. Ich bin tüchtig, verantwortungsbewusst und gut angesehen, dachte er zähneknirschend, während er den Hügel wieder hinaufstapfte. Der König höchstselbst hat mich mit dieser Mission betraut. Warum beraubt mich meine Einförmigkeit des Respekts, den ich mir ehrlich verdient habe? Von den Bäumen, just außerhalb der Reichweite der Pferde, hing ein Vorhang, der aussah, als wäre er aus jemandes Umhang gefertigt worden. Roan schob ihn zur Seite und fand einen Krug und eine Schüssel, die auf einem Baumsrumpf standen. An den Pfützen und dem matschigen Boden, die das von dem Vorhang umfriedete Areal umgab, sah Roan, dass das Wasser schon mehrmals gewechselt worden war. Hinter dem Baumstumpf war ein Loch im Boden, über dem sich ein wack liger, behelfsmäßiger Sitz erhob. Neben diesen kruden sanitären Anlagen lag ein großes, dünnblättriges Buch, aus dem
bereits mehrere Seiten herausgerissen worden waren. »All die Annehmlichkeiten wie zu Hause«, sagte Misha fröhlich. »Ich seh mal zu, dass ich was zu trinken besorge. Ich habe was zum Knabbern vom Palastkoch mitgebracht.« »Da freu ich mich schon drauf«, sagte Roan und ging zurück zu seinem Schlafplatz, um sein Rasierzeug und seine Waschutensilien zu holen. »Egal, was es ist, Hauptsache, ich werd davon wach. Wir müssen uns so früh wie möglich auf den Weg machen.« Sich in einer kleinen Schüssel waschen zu müssen, war etwas, das Roan nie gefiel, wenn er auf Reisen war. Er fand es unbequem und umständlich. Deshalb nahm er stattdessen den Krug und bearbeitete ihn so, dass er als behelfsmäßige Dusche diente, die sich ständig aufs Neue aus dem Becken speiste, das er vergrößerte, um darin stehen zu können. Das Wasser war kalt, und der Duschvorhang wehte ihm ständig gegen den Körper, aber er fand es erfrischend, wieder sauber zu sein. Er hängte den Spiegel am Henkel des Kruges, der jetzt ein längliches, am Duschrohr befestigtes Porzellanohr war, auf, und rasierte sich, während das Wasser auf seinen Kopf prasselte. Er schob den Vorhang zur Seite, um das schmutzige Wasser auszuschütten, als Misha gerade zurückkam. Der junge Historiker machte große Augen, als er die Duschvorrichtung sah. »Lass es doch bitte so für mich.« »Ein Komfort ganz wie zu Hause«, sagte Roan. Roan fand Spar und die anderen auf einem flachen Felsen um die Landkarte herum versammelt. Colenna lächelte ihn freundlich an; ihre grauen Augen strahlten aus einem wettergegerbten Gesicht, das schlanker und schärfer geschnitten war als jenes, das sie bei Hofe trug. Sie war eine alte Freundin und eine Verbündete gegen solche Verleumder wie Datchell. Ihr graues Haar, das heute länger war als üblich,
hatte sie zu einem Zopf geflochten, der von einem ledernen Band gehalten wurde. Felan begrüßte Roan, indem er eine Braue hob. »Guten Morgen«, sagte Roan freundlich. »Habt ihr alle gut geschlafen?« »Mein Rücken bringt mich fast um«, erklärte Colenna mürrisch. »Es ist lange her, seit ich das letzte Mal auf dem nackten Boden geschlafen habe. Zu viele Steine.« »Sie hätten sie ja ein bisschen aufweichen können«, hielt ihr Felan vor. Sie warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Junger Mann, aus Ihnen würde wohl nie ein Feldbeobachter. Berühren, aber nicht verändern. Ich musste Schmerzkiller gegen schmerzende Beine und Hintern verteilen«, sagte sie, wieder an Roan gewandt. »Zum Glück hatte ich ein paar bei mir.« »Du bist immer gut ausgerüstet, Colenna«, sagte Roan. Colenna schnitt ihm eine freundschaftliche Grimasse. »Lum ist gerade vom Kundschaften zurückgekehrt, Sir«, sagte Spar. Er drehte die Landkarte Roan zu, der sich hinkniete, um sie zu studieren. »Wir haben die Fährte gestern Abend verpasst. Sie sind Meilen vorher abgebogen. Ungefähr hier.« Er setzte den Daumennagel auf die Stelle auf der Karte, an der der Pfad aus einem kleinen Wald herauskam, auf zwei Dritteln des Weges von Mnemosyne zum Albtraumwald. »Wir müssen diesem Baum den ganzen Weg gefolgt sein«, sagte Lum mit einem entschuldigenden Achselzucken. »Meine Schuld, Herr Hauptmann«, bekannte Roan. »Ich habe schließlich darauf bestanden, dass wir die südliche Route versuchen.« »Meine Gardisten haben keine Fehler zu machen«, sagte Spar streng. »Das ist eine ernste Sache.« »Das ist es in der Tat«, stimmte Roan ihm zu. »Aber wir
müssen einen langen Weg gemeinsam gehen. Konzentrieren wir uns darauf, die Probleme zu lösen, die vor uns liegen, statt uns über vergangene Fehler zu ärgern.« »Wie Sie meinen, Sir«, sagte Spar mit ausdruckslosem Gesicht. »Leiten Sie diese Expedition?«, fragte Misha. »Nein, er«, antwortete Spar, mit dem Kopf in Richtung Roan nickend. »Der König selbst hat ihm den Auftrag dazu erteilt.« »Ach, ich wollte es bloß wissen«, sagte Misha. »Ich war nicht dabei.« »Ich hoffe, du hast nichts dagegen einzuwenden«, sagte Roan. »Nein, überhaupt nicht«, sagte Misha fröhlich. »Übrigens, die Königliche Geografin sagt, es müsse damit gerechnet werden, dass die Dinge in dieser Gegend heute sehr wandelbar sind und wir daher vorsichtig sein sollten.« »Ich habe Hutchings an der Stelle zurückgelassen, wo die beiden Wege sich kreuzen, für den Fall, dass die Straße versucht, sich zu verlagern«, sagte Lum, seinem gewöhnlich fröhlichen Gesicht einen ernsten Ausdruck verleihend. »Arlette ist dem zweiten Pfad ein Stück gefolgt, um sicherzugehen. Diesmal wird er uns nicht entwischen, Sir.« »Gut gemacht«, sagte Roan. »Vielen Dank für die Sorgfalt, mit der Sie meine Fehler ausbügeln.« Lum errötete unter Spars durchbohrendem Blick und sagte steif: »Das ist nett von Ihnen, Sir.« »Wir werden das im Kopf behalten«, sagte Roan. »Wir sollten uns so bald wie möglich auf den Weg machen.« Drea, Leonoras Amme, stolzierte ins Blickfeld und nickte würdevoll auf sie herab. Die alte Frau zog eine große lederumhüllte Feldflasche aus ihrem Tornister und bückte sich, um sie an dem Bach zu füllen.
»Ist ihre Hoheit schon wach?«, fragte Roan. »Meine Herrin ist noch nicht bereit, Besucher zu empfangen«, erwiderte die Amme frostig. Sie drehte Roan den Rücken zu und entschwand mit der Flasche. In ihren Händen sah sie wie ein ätherischer Kristallflakon aus. Für niemand anderen, sondern allein für die Prinzessin würde sich Drea um eine solche Verwandlung bemühen. Wo Roan sie >nur< liebte und verehrte, betete die alte Amme sie geradezu wie eine Göttin an. Kein Wunder, dass wenn Leonora schon mit nur einer einzigen Dienerin von Mnemosyne aufgebrochen war, und nicht mit den Heerscharen, die sie üblicherweise im Schlepptau hatte, diese einzige Dienerin Drea war. Sie hatte Leonora schon als Kind ständig in den Armen und auf dem Schosse gewiegt und seither niemals aufgehört, sie zu verhätscheln. Fast schon eine fleischgewordene Kuscheldecke. »Es dürfte jetzt nicht mehr lange dauern«, sagte Colenna. »Wie viele von ihnen sind da?«, fragte Felan Lum. »So etwa zehn bis zwölf, würde ich sagen«, antwortete der Korporal. »Es ist schwer zu sagen, weil ich glaube, dass sie sich mit dem Tragen der Last ständig abgewechselt haben. Die Fußabdrücke verändern sich immer ein wenig, wenn sie das tun, da sie sich verwandeln, um das Gewicht besser tragen zu können. Aber ich schätze, wir sind in der Unterzahl. Sollen wir Verstärkung anfordern?« »Wir werden uns nicht auf einen Kampf mit ihnen einlassen«, sagte Roan. »Das einzige, worauf es uns ankommt, ist, diesen Apparat zu zerstören. Wenn der nicht mehr funktionstüchtig ist, können sie tun und lassen, was sie wollen.« »Aber dann werden sie gleich wieder einen neuen bauen!« »Das bezweifle ich«, sagte Roan. »Wenn sie so leicht einen neuen bauen könnten, dann brauchten sie den, den sie haben, nicht quer durch das ganze Land zu schleppen. Dann wären sie
ganz einfach zur Halle der Schläfer gegangen und hätten den WECKER dort gebaut.« »Guten Morgen allerseits«, sagte Bergold, der den Hang heruntergestapft kam. Er hatte sein Erscheinungsbild heute Morgen um einen kurzgeschnittenen Vollbart bereichert, um sich die Mühe des Rasierenmüssens unter primitiven Bedingungen ersparen zu können. »Ich bin der Letzte, nicht?« »Nicht ganz«, sagte Misha. »Ihre Hoheit hat noch immer mit ihrer Morgentoilette zu tun.« »Was für eine Nacht! Meine Finger sind noch ganz verkrampft vom vielen Schreiben.« »Meine auch«, sagte Felan und schüttelte sein rechtes Handgelenk aus. »Ich bin fertig mit meinem Bericht.« Er griff in seine Tasche und zog ein Heftchen Briefmarken hervor. Er riss eine heraus, fuhr mit der Zunge einmal über die Gummierung auf der Rückseite und klebte sie auf die obere rechte Ecke seines sorgfältig zusammengefalteten Pergaments. Sofort begann die Briefmarke sich auszudehnen, bekam einen Rumpf - und ein Gefieder und erwuchs zu einem kahlköpfigen Adler. Der weißköpfige Raubvogel nahm den Umschlag zwischen seine Krallen, breitete mit einem grimmigen Blick auf die umstehenden Menschen seine Schwingen aus und hob ab. Über ihren Häuptern machte er einen Schwenk und flog nach Norden davon. Nach wenigen Augenblicken war er außer Sicht. »Es geht doch nichts über Luftpost«, sagte Bergold. »Wir müssen uns unter einer beliebten Route befinden. Ich sah erst vor kurzer Zeit einen anderen Luftpostadler über unsere Köpfe hinwegfliegen.« »Wäre es nicht schön, wenn wir uns einfach selbst eine Briefmarke aufkleben und uns per Luftpost zu Brom befördern könnten?«, fragte Lum mit nachdenklichem, fast wehmütigem Gesichtsausdruck.
Felan grinste ihn mit einer Miene des Bedauerns an. »Dafür habe ich leider nicht genug Porto mitgebracht.« Roan spähte den Hang hinauf, aber von der Prinzessin war noch immer nichts zu sehen. Während sie weiter darauf warteten, dass Leonora ihre Morgentoilette beendete, nahmen sie ein leichtes Frühstück zu sich und brachen das Lager ab. Die Gardisten demontierten den unsichtbaren Schutzwall, wobei sie jeden einzelnen Abschnitt mit großer Behutsamkeit und übertriebenen Bewegungen abbauten. Hauptmann Spar hatte davor gewarnt, wie gefährlich es sei, während der Nacht zufällig gegen den Wall zu laufen, und sorgfältig die Ausgänge so gekennzeichnet, dass die anderen sie sehen konnten. Roan fragte sich kurz, was wohl passieren würde, wenn einer der Soldaten einen der unsichtbaren Blöcke fallenlassen sollte. Wahrscheinlich, vermutete er, würde es eine Explosion geben, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatten. Aber würde, da die Steine unmöglich waren, die Explosion es nicht auch sein? Er rollte sein Schlafzeug und seine Essvorräte zusammen und faltete sie zu einem so kleinen Päckchen, dass es in seine Satteltaschen passte. Bergold half ihm, das Lagerfeuer zu löschen und faltete es zu einem Päckchen aus roter und silberner Folie zusammen. Dies warf er dem Soldaten zu, der die Packtiere belud. Colenna besaß die interessanteste Outdoor-Ausrüstung. In ihrem Gepäck hatte sie je ein Teil von allem, was als Grundlage zur Verwandlung in alles, was sie nach menschlichem Ermessen unterwegs würde brauchen können, verwendet werden konnte. Roan hatte die hübsche Steinguttasse, die sie jetzt wegpackte, schon als Schüssel, als Kochtopf und als Fußbadewanne gesehen. Der Gegenstand, um den Roan sie am meisten beneidete, war ein raffinierter kleiner Herd, der sowohl als Nachtlampe oder als Taschenlampe als auch als Feuerzeug und als Bettwärmer verwendbar war. Der das Ding für sie angefertigt hatte, musste ein sehr geschickter
Handwerker gewesen sein. Seine Ausgangsform musste Feuer in seiner reinsten Form gewesen sein. Als Roan um die kleine Baumgruppe herumging, um seine Habseligkeiten in Cruisers Satteltaschen zu verstauen, sah er, dass die Waschstelle für die Prinzessin umgestaltet worden war. Der Vorhang, der als spanische Wand gedient hatte, war zu einer festen, undurchdringlichen Mauer geworden, ausgestattet mit einer schmalen, aber funktionstüchtigen Tür. Roan hörte Leonora fröhlich zur Begleitung von plätscherndem Wasser summen. Er ging hinüber, um an die Tür zu klopfen. Bevor er sie erreichen konnte, drängte die Amme ihn ab. »Was glaubst du, wohin du da gehst?«, herrschte sie ihn an und starrte ihm herausfordernd ins Gesicht. Sie hatte einen Packen Kleider über dem Arm und stopfte hastig ein paar spitzenbesetzte, hauchdünne Dessous zwischen die anderen Sachen, als sie Roans neugierigen Blick bemerkte. »Ich wollte ihrer Hoheit bloß sagen, dass die anderen bereit sind aufzubrechen, wann immer es ihr beliebt«, sagte Roan freundlich. Drea schaute ihn mit gekränktem Blick an. »Meine Herrin hat noch nicht gefrühstückt«, sagte die alte Frau. Sie zeigte auf einen kleinen Tisch und einen Stuhl. »Dies mag ja ein dringendes Unternehmen sein, aber es gibt bestimmte Dinge, die Vorrang haben! Ma kann nicht von ihr verlangen, dass sie sich ohne ein ordentliches Frühstück aufs Pferd setzt!« »Nun, gewiss nicht«, sagte Roan verlegen. Er schaute zurück zu den anderen, wohl wissend um ihre - und um seine eigene Ungeduld, endlich aufzubrechen. »Wird es noch lange ... können wir bald mit ihr rechnen?« »Man kann Essen nicht einfach herunterschlingen«, sagte Drea in bester Ammentradition. Roan fühlte sich zurechtgewiesen wie ein kleiner Junge, aber im selben
Augenblick bemerkte er, dass das Summen aufgehört hatte. Leonora war hinter ihrer Badezimmerwand verstummt, um ihrer Unterhaltung zu lauschen. »Wollen Sie dann bitte ihre Hoheit bitten, dass sie uns wissen lässt, wann sie bereit zum Abmarsch ist?«, fragte Roan, bemüht, jegliche Spuren von Gereiztheit aus seiner Stimme herauszuhalten. »Es ist schon zehn Uhr«, murmelte Hutchings hinter ihm. »Sie braucht erstaunlich viel Zeit, um sich zu waschen.« Roan wandte sich um und warf ihm einen warnenden Blick zu, aber es war zu spät. Sie hörten ein Rascheln aus dem Badezimmer. »Wie können Sie es wagen, so über meine Herrin zu sprechen!«, herrschte Drea den Gardisten an und baute sich drohend vor ihm auf. Statt wie ein Knödel sah sie jetzt wie ein Drachen aus. Hutchings wich hastig zurück. »Drea!«, rief die Prinzessin. Sofort verschwanden die Krallen und Flügel wieder. Drea trippelte zum Bad und schlüpfte mit einem Armvoll Kleider durch die Tür, die sich hinter ihr fest schloss. Roan bedeutete den anderen, sich wieder an ihre Arbeit zu begeben und die Pferde zu bepacken. Zu ihrer Ehre muss gesagt werden, dass sie beschämt dreinblickten, besonders Hutchings, der sich gesenkten Blickes seinen Pflichten zuwandte. Kurz darauf trat Leonora aus dem Bad heraus, den blauen Umhang über ihrer Schulter befestigend. Die anderen bemühten sich, sie nicht anzustarren, aber sie war sich bewusst, dass sie sie aus dem Augenwinkel musterten. Sie schaute ihnen allen der Reihe nach mit einem starren kleinen Lächeln in die Augen, aber ihre Wangen waren gerötet. »Mein Küken, sie können dich nicht so behandeln. Du bist eine Prinzessin und somit über jeden Tadel erhaben. Sie müssten das eigentlich wissen«, sagte Drea, während sie hinter
der Prinzessin hertrippelte, ihre Nachtwäsche auf dem Arm tragend. »Sei still«, blaffte Leonora. »Bitte.« »O ja, gewiss, meine Herrin, aber du weißt, dass es stimmt.« Roan lächelte und streckte Leonora die Hand hin, aber die Überraschung über ihr jähes Erscheinen hatte ihn für einen Augenblick stocken lassen und er wusste, dass sie sein Zögern bemerkt hatte. Sie war vor Scham den Tränen nahe. Sie hielt das Haupt stolz erhoben, das Kinn nach vorn und die Schultern nach hinten gereckt. »Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte sie und stolzierte an Roan vorbei, ohne ihn zu berühren. »Hier, nimm mir das mal einer ab«, sagte Bergoldj gereizt. Der Wust aus zickzackförmig gefaltetem Papier in seinen Händen hing wie eine Girlande über ihm und seinem Pferd. »Ich kann damit nichts anfangen.« Er stieß die Landkarte weg. Lum nahm sie. Der junge Gardist schüttelte sie auf und faltete sie sorgfältig neu zu einem hübschen kleinen Päckchen zusammen. Er strahlte, als Bergold sie ihm wieder wegnahm. »Bei den Sieben, ich hoffe, das ist nicht Ihr einziges Talent«, sagte der Historiker. Roan, der das kleine Spielchen über die Schulter verfolgt hatte, verbarg ein Lächeln vor seinem alten Freund. »Haben wir uns verirrt?« »Wir sind auf dem richtigen Pfad«, sagte Lum und lenkte sein Ross an den Rand des Trampelpfades, um nach Norden zu deuten. Sein Pferd tänzelte und kurbet-tierte ob dieses neuerlichen Wechsels in der Gangart. »Es ist immer noch ein Stück in diese Richtung, Sir.« »Wir sind eine große Strecke im Dunkeln geritten«, sagte Roan, bemüht, Frieden zu stiften. »Gib Lum nicht die Schuld daran. Es war mein Fehler.« »Nun, wir bewegen uns im Kreise«, raunzte Spar von der Spitze der Kolonne, wo er neben Colenna ritt.
»Nein, Sir, tun wir nicht«, beharrte Lum. Aber es sah in der Tat so aus, als täten sie es doch. Roan war sicher, die kleine Gruppe blaugrüner Fichten zu seiner Linken schon mehrere Male gesehen zu haben. Am Ufer des Baches zu seiner Rechten gab es einen Ring von Giftpilzen, und ein Stück weiter eine Gänseblümchenwiese, auf der Kaninchen herumhoppelten - ganz so wie die, die Meilen hinter ihnen lag. Gleichwohl waren sie eine Stunde lang stets nach Norden geritten, mit der Sonne zu ihrer Rechten. Sie stand jetzt genau über ihnen am klaren blauen Himmel und die Hitze machte alle reizbar und nervös. »Schluss jetzt damit!«, sagte Colenna und streckte beschwichtigend die Arme aus. »Wir haben ein Deja-vuErlebnis, das ist alles.« »Nein, das haben wir nicht«, beharrte Spar. »Dieser junge Narr hier hat lediglich die Orientierung verloren.« »Hab ich nicht, Sir. Der Pfad ist genau hier auf der Karte verzeichnet.« »Es ist ein Deja vu«, wiederholte Colenna. »Ihr werdet sehen.« Roan rieb sich die Augen. »Wir werden da schon wieder rauskommen. Reitet einfach weiter.« Neben ihm stieß Golden Schwinn mit dem Huf gegen einen Stein. Das Pferd scheute, brach aus und sprang auf ein Stück sumpfigen Grases am Wegesrand. Die Prinzessin, eine exzellente Reiterin, schaffte es, ihr Reittier wieder unter Kontrolle zu bekommen und lenkte es zurück auf den Pfad. Als Nächstes trat Schwinn auf einen Knollenblätterpilz. Roan war sicher, dass es derselbe war, den das Ross schon dreimal zertrampelt hatte. Der Pfad machte eine Kurve nach links und stieg an, weg von dem Bach. Die Gruppe ritt schweigend dahin. Trotz der Gefahren, die überall lauerten, wäre Roan fast dazu bereit gewesen, das
Risiko des Alleinreisens auf sich zu nehmen, nur um dem ewigen Gezanke zu entrinnen. Colenna tat der Rücken weh. Es war lange her, seit die Senior-Historikerin so eine lange Reise unternommen hatte. Drea brach ständig aus der Reihe aus, um nach vorn zu gehen und irgendwelches Aufhebens um ihre Herrin zu veranstalten. Leonora, die nach der peinlichen Situation am Morgen lieber in Ruhe gelassen werden wollte, fühlte sich von den ständigen Bemutterungsversuchen ihrer Amme gestört und scheuchte sie jedesmal wieder weg, was die alte Frau nur umso mürrischer machte. Die Prinzessin selbst warf hin und wieder einen verstohlenen Blick in Roans Richtung, doch jedesmal wenn er versuchte, ihr in die Augen zu schauen, wandte sie jäh den Kopf wieder nach vorn und starrte hochmütig und unnahbar vor sich hin. Heute sah sie aus wie ein Marienbild in einem jahrhundertealten Kirchenmessbuch: ätherisch und fast geschlechtslos. Ihr Antlitz war lang, schmal und blass, mit einer hohen, kahlen Stirn, schmalen Augenbrauen, schwerlidrigen Augen und einem kleinen, verkniffenen Mund. Es war kaum Farbe in ihrem Gesicht, außer in ihren Augen, die braun und wachsam waren. Für Roan, der sie seit ihrer Kindheit kannte, war dies das Zeichen für eine besonders schlechte Laune. Sie hatte ihr Frühstück herunterschlingen müssen, ihr Pferd benahm sich schlecht, und sie war von der ganzen Gruppe, die, wie sie wusste, sie ohnehin nicht dabeihaben wollte, in Verlegenheit gebracht worden. Darüber hinaus hatte sie Colennas freundliches Angebot, ihr mit einem Heilmittel gegen die schmerzenden Muskeln auszuhelfen, barsch zurückgewiesen, obwohl sie sich so bewegte, als ob sie dringend eines brauchte. Roan traute sich nicht, sich ihr zu nähern und ihr ein Gespräch anzubieten. Sogar der gewöhnlich so heitere Bergold war übelgelaunt; die Landkarte, die die Geografin ihnen mitgegeben hatte, weigerte sich standhaft, sich von ein und derselben Person
zweimal auf die gleiche Weise zusammenfalten zu lassen. Er hatte sich abermals in einem Wust aus akkordeonartig gefaltetem Papier verheddert, während sein Pferd nervös den Pfad hinauf und hinunter wanderte und gelegentlich gegen Lums geduldiges Reittier stieß. »Also ich sage, wir bewegen uns im Kreise«, sagte Spar, nach vorn deutend. »Seht doch, da sind schon wieder diese Bäume!« »Es ist ganz im Bereich des Möglichen, dass ein Merkmal einer Landschaft sich wiederholt«, sagte Bergold, ohne hinter der Landkarte hervorzukommen. »Solche Dinge sind in der Geschichte nicht unbekannt. Denkt doch nur an den Bauboom vor fünfzig Jahren!« »Dazu sind diese Kinder doch alle noch zu jung«, wandte Colenna mürrisch ein und verlagerte ihre Hüfte, um sich nach Roan umzudrehen. »Nach den Zweiten Schlammschlachten begann das Traumland sich mit Parzellen und Aberparzellen gleicher Häuser zu füllen. Selbst meines fiel in dieses Schema, gleich hier in Mnemosyne. Es war jeden Abend das Gleiche: Man wusste nie, ob man nach Hause kam oder bei irgendjemandem einbrach. Ich war froh, als das vorbei war und wir wieder zu einer gewissen Individualität beim Bauen zurückkehrten.« »Schön, aber wer macht sich gleichende Ringe von Giftpilzen?«, fragte Alette, als Golden Schwinn zum vierten oder fünften Mal auf den gleichen Knollenblätterpilz trat. »Der hier ist nicht bloß ähnlich. Es ist derselbe«, behauptete Spar. »Warten wir's ab«, sagte Colenna. »Wo genau sind wir jetzt?«, fragte Roan, sein Ross neben das von Bergold lenkend. Der Historiker reckte seinen Kopf aus dem Papierwust heraus und zeigte auf eines der mittleren Segmente des Dokuments, welches sich auf der Innenseite des
Zeltes über seinem Kopf befand. »Wir sind hier. Wenn ich dieses verflixte Ding bloß zusammengefaltet kriegen würde ...« Roan nahm ihm die Karte ab und kraft des Schicksals faltete sich die Karte gehorsam zu einem sauberen Päckchen zusammen. »So eine Frechheit!«, rief Bergold. »Warte nur, wenn ich Romney in die Finger kriege!« Roan lächelte und studierte die Karte. Wenn er den geografischen Features trauen konnte, die er um sich herum sah, hatten sie von der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, bis zu dem Punkt, wo sie sich jetzt befanden, lediglich zehn Meilen zurückgelegt. Er fuhr mit dem Finger die Linie des Baches entlang, der parallel zum Weg verlief, und kam an die Stelle, wo sie sich fast berührten. »Ist dieses Deja vu eine Überraschung, die Brom für uns vorbereitet hat, damit wir hineinlaufen?«, fragte Roan und reichte Bergold die Karte zurück. »Eine Falle?« »Überhaupt nicht«, sagte der Historiker. »Dies sieht mir sehr nach einem natürlichen Phänomen aus.« Bergold zog einen schmalen Band aus seiner Satteltasche und blätterte in ihm herum. »Ja. Deja vu. Ja, Colenna hat Recht. Hmm. Könnte ein Trick sein.« »Ja, in der Tat. Wir winden - oder besser: ziehen - uns wie ein Uhrwerk in der Realität auf«, bemerkte Colenna, das Kinn auf der Schulter. »Indem wir nach Norden reiten - und genau das tun wir ja -, bauen wir eine gewaltige Vorwärts-Energie auf, die gefangen ist wie das Potenzial in einer gespannten Flitzebogensehne. Physisch reiten wir durch dasselbe Terrain, aber in Linearzeit sind wir ganz weit von hier entfernt. Bereitet euch vor. Wenn die Energie sich entlädt, könnte die Reaktion eine gewaltige sein.« »Ah!«, sagte Misha, der am Ende der Reihe ritt.
»Dann baut sich also um uns herum die Kollateralkraft auf. Wie geben wir sie frei?« »Das werden wir nicht brauchen. Das Traumland selbst wird sie auslösen, oder irgendeine Störung oder ein Einfluss oder einer der Schläfer, der seine Meinung ändert. Wir wissen es nicht. Wir müssen halt vorbereitet sein.« »Die Spannung ist fürchterlich«, sagte Felan mit seiner gelangweilten Stimme. »Schaut, wir sind eine Menge starker, einflussreicher Köpfe. Lasst uns die Bindung doch selbst brechen.« »Junger Mann! Und Sie bezeichnen sich als Historiker?«, rief Colenna entrüstet. Sie wandte sich voll in ihrem Sattel um und starrte ihn an, bis ihre Augen glutrot wurden. »Dies ist der Wille der Schläfer! Man muss nehmen, was kommt, wenn es kommt.« Unbeeindruckt schnalzte Felan mit der Zunge. »Tsk, tsk, tsk. All dieser Eifer wegen nichts.« Colenna starrte ihn wütend an. Roan glaubte, dass es Felan Spaß machte, sie zu ködern. Es war seine Art, die Zeit totzuschlagen. Sie ritten am Bach entlang und Golden Schwinn zertrat erneut einen Knollenblätterpilz. Vielleicht war es auch wieder derselbe. Als der Weg eine Kurve machte und anstieg, verwandelten sich die Pferde in Fahrräder. »Und auch noch im unpassendsten Augenblick!«, sagte Felan gereizt und richtete sich im Sattel auf, um den Anstieg zu bewältigen. »Das war eine fundamentale Veränderung«, sagte Colenna und hob sich noch ein Stück höher aus dem Sattel. Roan fühlte Kräfte an seinen Wangen vorbeistreichen - wie warmer Wind. »Hier ist ein starker Einfluss am Werke«, erklärte Roan beunruhigt. »Ein sehr fremdartiger. Spürt ihr das auch?«, fragte er.
»Ja! Wir kommen an seinen Rand«, sagte Colenna, als sie die Hügelkuppe erreichten. »Haltet euch gut an euren Lenkern fest und seht zu, dass ihr nicht runter-faaa...!« Colennas letzte Worte dehnten sich zu einem Schrei, als ihr Ross von einer unsichtbaren Hand erfasst und vorwärts gerissen wurde. Es schoss mit unglaublicher Geschwindigkeit den Hügel hinunter. »Also, seht euch das aaaa ...«, konnte Spar noch herausbringen, ehe auch er von dem Einfluss erfasst wurde. Die anderen sahen sich erschrocken an, als sie den Hauptmann im Schlepptau von Colenna entschwinden sahen. »Hilfe, es hat mich erwiiii...«, schrie Leonora. Sie schaffte es noch, sich an der Lenkstange Golden Schwinns festzuklammern, dann wurde auch sie weggefegt. Roan versuchte noch, sie festzuhalten, aber er verfehlte sie. »Halt dich feee ...«, war alles, was er noch herausbringen konnte, bevor die Luft, die er ausatmete, ihm von dem Wind regelrecht in den Mund zurückgepresst wurde, der ihm ins Gesicht blies. Er krallte sich an der Lenkstange fest und zog mit aller Kraft die Bremshebel gegen den Lenker. Die Landschaft jagte einem verschwommenen Band gleich an ihm vorüber. Er erhaschte kurze Ausblicke auf Bäume, Hügel, Flüsse und Tiere. Kleine Lehm- und Strohhütten in der Ferne schienen zu ganzen Häuserterrassen langgezogen. Roan befahl seiner Hutkrempe, sich über seine Augen zu legen, um sie zu schützen, da er nicht wagte, die Hände vom Lenker zu nehmen. Er schoss immer schneller vorwärts, bis schließlich die Landschaft um ihn herum nur mehr ein Mischmasch aus tausend Farben ohne erkennbare Merkmale war. Und dann wurde alles dunkelgrün, und die Luft war erfüllt von einem berauschenden Duft, der ihn japsen ließ. Just in dem Augenblick, als er das Gefühl bekam, er würde von der ungeheuren Zentrifugalkraft ohnmächtig, spürte er, wie die
Bremshebel sich unter dem Druck seiner Finger gegen den Lenker bewegten. Er schob ihn zurück. Er befand sich inmitten eines immergrünen Waldes, was die Farbe der Landschaft erklärte. Seine Füße und die Reifen ruhten auf einer dicken Schicht vergilbter Fichtennadeln, die ihren schweren, harzigen Geruch verströmten. Die Reiter, die vor ihm fortgerissen worden waren, warteten auf ihn, dem Anschein nach alle wohlbehalten, bis auf die Tatsache, dass die Haare der Prinzessin wild zerzaust waren und Spar noch griesgrämiger dreinschaute als gewohnt. Drea raste kreischend auf sie zu. Sobald sie zum Stillstand kam, klappte ihr Mund zu. Sie sprang von ihrem Ross und hastete zur Prinzessin, um sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Obgleich ihr eigenes Haar sich durch den Fahrtwind zu einer Art Vogelnest gebauscht hatte, war das Erste, was sie tat, Leonoras Haar in Ordnung zu bringen und ihren Schleier zurechtzuzupfen. »Lass mich in Ruhe, Drea«, beschied ihr Leonora unwirsch. »Du kannst doch so nicht Weiterreisen, Hoheit«, blieb die Amme unbeirrt. Roan sah, wie Leonora zu den anderen blickte, die hastig den Blick abwandten, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie sie anstarrten, worauf ihre Wangen noch rosiger wurden, als sie das durch den Wind ohnedies schon waren. »Wuuu-huuu-huuu!«, kam Bergold angerauscht, das Gesicht ganz platt von den Beschleunigungskräften, die auf ihn einwirkten. »Was für ein Ritt!« Dicht hinter ihm kamen Lum und die anderen Gardisten; ihre Knöchel traten weiß hervor, so kräftig betätigten sie die Felgenbremsen. Felan kam einen Augenblick später angesaust. Sein Gesichtsausdruck war mürrischer denn je. »So«, sagte Colenna, während sie mit zufriedener Miene ihren langen grauen Zopf glattstrich. »Wir sind rausgeschossen. Und da ist der Pfad.«
»Alles umsonst«, erklärte Spar. »Nein«, korrigierte ihn Bergold mit einem Lächeln, das buchstäblich von einem Ohr zum anderen reichte. Er holte die Karte hervor und faltete sie auf, bis er das entsprechende Segment gefunden hatte. »Hier stünden wir jetzt, wenn wir weiter geradeaus geritten wären.« Er zeigte auf einen Punkt auf der Karte, der an der südlichen Ausfallstraße der Kapitale lag. »Und dies ist, falls ich in diesem verflixten patentgefalteten Atlas nicht all meiner Fähigkeiten im Kartenlesen verlustig gegangen sein sollte, die Stelle, an der wir uns jetzt befinden.« Er tippte mit dem Finger auf einen Punkt viel weiter nördlich. »Bemerkenswert«, sagte Roan. »Ich habe schon das gesamte Traumland kreuz und quer bereist, bin aber noch nie auf diese Weise vorangetrieben worden.« »Du reist ja gewöhnlich auch allein«, bemerkte Misha. »Größere Gesamtmasse bedeutet auch größere Energie. Je mehr von uns vorhanden sind, desto größer ist die Kraft eines Deja vu.« Roan zog die Augenbrauen hoch, neugierig. »Kann man die Wirkung künstlich verdoppeln?« »Fragen Sie doch Brom, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen«, sagte Felan mit einem boshaften Blick. »Das liegt eindeutig außerhalb unseres Faches, nicht wahr, Colenna?« »Sie sind respektlos, Sie jämmerlicher Youngster«, sagte die ältere Frau. »Wenn ich irgendwann auf dieser Reise noch einmal groß genug werden sollte, werd ich Sie über's Knie legen.« »Wir müssen das Ereignis dokumentieren«, sagte Bergold. »Micah wird großes Interesse an einem Deja vu haben. Felan, Sie sollten es in Ihren nächsten Bericht aufnehmen.« »Das werd ich ganz gewiss«, antwortete der jüngere Mann und zog sich seine Manschette über den Handrücken, um Platz zum Schreiben zu haben. Er zog einen Bleistift hinter dem Ohr
hervor und machte sich ein paar Notizen. »Wir sind an der Stelle vorbei, an der wir abgebogen sind«, sagte Lum, nachdem er sich kurz über Bergolds Schulter gelehnt hatte, um einen Blick in die Karte zu werfen. »Heißt das, wir müssen wieder umkehren? In dieses - diesen Effekt?«, fragte Leonora mit großen Augen. Sie hatte vor lauter Neugier ihre verdrießliche Laune vergessen. »Der Effekt ist vorüber«, versicherte ihr Colenna. »Es ist ein Zeiteffekt - sehr instabil. Wir haben nichts mehr von ihm zu befürchten.« »Wir könnten das Gebiet umgehen«, schlug Roan vor. Dabei blickte er verstohlen zur Prinzessin, um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Sobald sie merkte, dass er sie anschaute, hob sie die Nase. Roan seufzte. »Das ist aber der Pfad, Sir«, meldete Lum mit einem Ausdruck der Verwirrung in seinem freundlichen Gesicht. »Schon gut«, sagte Roan verlegen. »Es war bloß so eine Idee. Wir kehren um.« Sie fanden die Abzweigung zur Straße nach Osten ohne Schwierigkeiten. Roan erkannte sofort die tiefen Fußabdrücke der WECKERträger wieder, und er fragte sich, wie er jemals Baumwurzeln für diese Fußabdrücke gehalten haben konnte. Spar sagte nicht ein Wort. Er pedalte bloß stumpf an der Spitze des Feldes dahin. Colenna machte trotz ihrer Rückenschmerzen einen frischeren Eindruck. Ihr Blick glitt über jeden Hügel, jede Wiese, jede Baumgruppe, an der sie vorbeifuhren. Ihr entging nichts. Dann und wann, wenn sie einen Blick über die Schulter zu Roan warf, lächelte sie ihm kameradschaftlich zu. Er war ihr dankbar. Ihre Philosophie, sich mit dem abzufinden, woran man nichts ändern konnte, war seinen Nerven bei weitem zuträglicher als der ewige Missmut des Hauptmanns der Garde. »Riechen Sie das auch?«, fragte Lum, als sie ein tiefes Tal
verließen und sich an einen langen Anstieg machten. »Da brennt irgendetwas. Etwas Großes.« Roan schnupperte und ein scharfer Geruch kräuselte die Härchen in seinen Nasenlöchern. Es roch nicht nach brennendem Holz oder angebranntem Essen. Der Geruch hatte eine metallische Schwere, die ihm Unbehagen bereitete. Der Geruch wurde deutlicher, als sie die Anhöhe erreichten und auf eine kleine Lichtung kamen. Er war jetzt so stark, dass er bei Roan einen Würgereiz auslöste. Sie hatten das Lager der Wissenschaftler gefunden. »Keine fünf Meilen von der Stelle entfernt, wo wir sie verloren haben!«, knurrte Spar mürrisch und hustete. »Wir hätten das letzte Nacht schon erledigen können.« »Sie sind bereits lange weg, Sir«, sagte Alette und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. »Ein Albtraum!«, sagte Misha, auf die Lichtung starrend. Auch Roan war entsetzt über den Zustand des Lagers. Das Gras war gründlich zertrampelt, und an Dutzenden von Bäumen rings um die Mitte gab es Brandstellen; sie stammten offenbar von Laternen, die dort gehangen hatten. Er fand zwei weitere verbrannte Stellen, beide vor« beträchtlicher Größe. Die eine, die sich in der Nähe eine langen, klinisch aussehenden Steintisches befand, war von Fettspritzern und verkohlten Essensresten umgeben in der Mitte eines Steinhaufens, der als behelfsmäßige« Herd gedient haben musste. Die andere, von rechteckigen Form, befand sich am anderen Ende der Lichtung. Von beiden Stellen stieg noch immer Rauch auf. Neben dem Bach, der in der Nähe des Tisches floss, war der Boden zu einem Ring aus erstarrtem Matsch aufgewühlt, der aussah, als wäre ein Zylinder aus Erde heruntergeschmolzen. Ein Vorhang aus totem und verrottendem Moos lag über den Matschring drapiert. »Sie müssen letzte Nacht hier kampiert haben, aber man hat
das Gefühl, als wäre das Lager schon vor Jahren verlassen worden«, sagte Roan. »Es ist wie eine Geisterstadt.« »Alle Lebenskraft ist aus dieser Stätte herausgesogen«, sagte Bergold und zuckte mit seiner runden Nase. »Sie rottet vor sich hin.« »Erhaltung der Energie«, sagte Misha kopfschüttelnd. »Sie brauchen eine Menge Energie für ihre Tricks, nicht wahr? Die muss ja von irgendwo her kommen. Was sie tun, saugt das Leben geradezu aus dem Land.« Colenna betrachtete kopfschüttelnd den Steintisch. »Sie haben diesen Tisch nur für die eine Nacht gebaut. Was für eine Verschwendung!« »Bestimmt können andere damit noch etwas anfangen«, sagte Felan, der hinzugetreten war, um sich den Tisch anzuschauen. »Sehr hübsches Design.« »Es ist kalt«, ließ sich Leonora mit leiser Stimme vernehmen. Sie stand allein in der Mitte der ruinierten Lichtung. »So, jetzt hört ihr aber alle sofort damit auf, meiner Herrin Angst einzujagen!«, platzte Drea wie eine wütende Taube dazwischen. »Sie kann diese Art von Angst nicht ertragen. Sie will nicht schlafen. Schluss jetzt damit! Sofort!« »Nicht, Drea«, sagte Leonora leise. Die Amme legte den Arm um ihre Schutzbefohlene. »Ich will dich doch nur beschützen, meine Teure.« Leonora entzog sich ihrem Arm. »Ich brauche keinen Schutz!«, sagte sie, ein klein wenig ungestüm. »Das Traumland braucht Schutz, nicht ich!« »Du denkst nicht an dich selbst«, sagte Drea. »Das wird auch nicht von mir erwartet! Und jetzt lass mich in Ruhe!« Leonora reckte das Kinn vor und schlang die Arme noch fester um ihren Oberkörper. Sie wandte Drea den Rücken
zu. »Ja, lass mich allein. Geh weg!« Die Amme schüttelte den Kopf und machte Anstalten, sie erneut in den Arm zu nehmen. »Du kannst doch nicht wollen, dass ich dich jetzt allein lasse, Darling. Nicht in dieser ganzen Trostlosigkeit.« Leonora riss sich erneut los. »Doch! Doch, ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Geh jetzt und komm nicht wieder«, sagte die Prinzessin. Sie hatte Tränen in den Augen. Roan machte einen Schritt auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen, aber ihre abweisende Körperhaltung ließ ihn zurückschrecken. »Ich will dich nicht mehr, Drea. Ich brauche dich nicht mehr.« »Nun, mein Kätzchen, wenn es das ist, was du mir sagen willst...« »Ja, genau das will ich dir sagen«, blaffte Leonora. »Und ich meine es ernst. Ich komme allein zurecht. Und tituliere mich nicht mit Kosenamen.« Die alte Amme schaute traurig aus, aber es lag auch so etwas wie Zufriedenheit in ihren Augen. »In Ordnung, Eure Hoheit. Du wirst es ja selbst am besten wissen. Du bist ja jetzt erwachsen, nicht?« »Ja!«, keifte Leonora, ohne wirklich hinzuhören. »Und jetzt hau endlich ab!« Drea schüttelte noch ein letztes Mal freundlich den Kopf, und dann verschwand sie in einer Dampfwolke, die nach frisch gebügelter Wäsche und Hafergrütze mit Zimt duftete. Tränen quollen aus Leonoras Augen und liefen über ihre Wangen. Sie stand neben ihrem Fahrrad inmitten des Verfalls und der Trostlosigkeit und sah niedergeschlagen und verloren aus. Die Luft schien kälter denn je. Nun, da der Bann gebrochen war, eilten Roan und Bergold zu ihr, um sie zu trösten. Sie ließ sich zitternd in Bergolds Arme sinken, nicht länger ein entrücktes Symbol, sondern eine verängstigte junge Frau. »Ach, Bergold, sie haben dieses Tal zerstört«, schluchzte sie
kummervoll. »Es wird alles im Nu wieder gut werden«, sagte der Historiker und tätschelte ihr aufmunternd den Rücken. »Der Schläfer wird es wieder in Ordnung bringen, sobald sich seine Laune verändert.« »Oder es wird ein Einfluss durchkommen«, erwog Roan. »Du weißt, wie schnell Dinge sich ändern können. Es wird nicht lange dauern.« »Aber es ist so trostlos!«, schluchzte Leonora, das Gesicht in Bergolds Schulter vergraben. Roan legte tröstend die Hand auf ihren Arm. Er verstand sie nur zu gut. Es war nicht nur, dass die Wissenschaftler einen Saustall hinterlassen hatten, irgendetwas stimmte nicht an dem Ort, irgendetwas war falsch. Die Farben wirkten matt. Die Blätter und Blumen waren dünn wie Papier und fühlten sich künstlich an. Wie die Wüste, durch die Roan Brom und seine Günstlinge während der ersten Stunden verfolgt hatte, war auch dieses Lager bar jeden Lebens. Nicht einmal das Summen von Insekten war zu hören. Leonora musste die Zerstörung noch deutlicher, noch schmerzlicher gespürt haben als er. Der König war das Herz des Traumlandes und sie war des Königs Tochter. Der Schläfer musste einen stechenden Schmerz des Unbehagens in diesem Bereich seines Traums gespürt haben, denn ein leichter Wind erhob sich in diesem Augenblick und bewegte das Gras zu ihren Füßen. »Da, siehst du das?«, sagte Roan. »Er hat dich gehört.« Die Prinzessin blickte auf. Ihr Gesicht war traurig; ihre Augen waren größer als zuvor und von einem tiefen, kummervollen Blau. Aber sie schaute in die Richtung, in die er zeigte. Während der Wind leise in den Wipfeln rauschte, verwandelte sich die moosige Lichtung in eine Gänseblümchenwiese. Es war, als falle ein Vorhang über den
Schauplatz eines Unfalls. Die Sonne brach durch die Wolken und ließ das Gras smaragdgrün aufleuchten. Vogelgezwitscher betörte sie mit seiner klaren Schönheit und die Sänger schwebten auf ausgebreiteten Schwingen über ihre Köpfe hinweg. Der scheußliche Gestank verflog. An seiner statt roch Roan Wildblüten und den satten, würzigen Duft von Erde nach einem Regenschauer. Auch die Menschen blieben nicht unberührt vom Wind des Wandels. Die Uniformen der Palastwachen verwandelten sich in hellrote Waffenröcke und schwarze Hosen; ihre Hüte bekamen flache Krempen und hohe Kronen und ihre Gesichter wurden edler. Der Rest der Gruppe mutierte ebenfalls, wenn auch nur geringfügig. Die Menschen wurden eine Spur schöner oder ansehnlicher, die Fahrräder bekamen neuen Glanz, so als wären sie frisch geputzt worden. Roan blieb wie immer derselbe, aber er fühlte sich sauberer durch den frischen Wind. Der Kummer in den Augen der Prinzessin linderte sich ein wenig. »Das ist doch schon viel besser, nicht wahr?«, fragte Roan sie in banger Hoffnung. Ein großer Teil des Schadens war verschwunden, aber die Gänseblümchen hatten immer noch etwas grundlegend Falsches an sich: zuviele Blütenblätter oder die falsche Farbe. Es würde mehr als eines heilenden Windhauches seitens der Schläfer bedürfen, um das zu beheben, was hier angerichtet worden war. Er und Bergold wechselten einen Blick über den Kopf der Prinzessin hinweg. Sie sollten besser weitergehen, bevor sie merkte, dass der Schaden mitnichten behoben war. »Wir müssen weiter«, sagte Roan. Er fasste Leonora unter den Ellenbogen und geleitete sie hurtig zurück zu Golden Schwinn. Sobald sie aus dem Dunstkreis der Zerstörung heraus war, gewann Leonora ihre Würde wieder zurück und entzog sich Roans Griff.
»Danke für deine Höflichkeit«, sagte sie kühl. »Schwinnie!« Das goldene Ross löste sein Vorderrad von dem Cruisers, an das es sich gelehnt hatte und kam zu ihr herübergerollt. Leonora plazierte das Fahrrad zwischen sich und Roan und schob es weg. Roan gaffte Leonora bestürzt hinterher und Bergold zog ihn weg. »Sie redet immer noch nicht mit mir«, sagte Roan. »Dabei sind seit heute früh doch schon Stunden vergangen. Was kann ich nur machen? Was hätte ich tun sollen?« »Ach, komm, Junge«, sagte Bergold geduldig, die Hände über seinem kugelrunden Bauch gefaltet. Sein Haar war zu Rot verblichen und platt und ölig nach hinten gekämmt, und seine Wangen waren rosig und dick. »Sie ist eine bessere Behandlung von dir gewohnt. Du hättest sie in Schutz nehmen müssen.« »Aber sie hat uns doch alle aufgehalten!«, verteidigte sich Roan hilflos. »Sie hat uns schließlich ein Versprechen gegeben.« »Und du willst ein verliebter Mann sein«, sagte Bergold kopfschüttelnd und schlenderte zu dem Ring aus getrocknetem Matsch hinüber, um ihn sich näher anzuschauen. Er war jetzt mit Grassämlingen bedeckt. Felan gesellte sich zu ihnen. »Was meint ihr, was das war?«, fragte er. »Ich würde sagen, eine Art Klo«, sagte Roan. »Es ist vom Schlafbereich aus leicht zu erreichen - wenn ich davon ausgehe, dass dies der Schlafbereich ist - und stromabwärts von der Kochstelle.« »Glauben Sie, sie haben es zerstört, damit wir es nicht sehen, oder hat es sich selbst zerstört?« »Ich glaube, dass alle ihre Konstruktionen in sich zusammenfallen, sobald die Energie aufgebraucht ist«, mischte
sich Colenna ein. Sie stand in der Mitte der Lichtung, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen. »Hütet euch vor der Arroganz der Verschwendung.« »Und was halten Sie von alledem?«, fragte Felan Roan, mit einer kleinen, fast versteckten Geste auf das Areal um sie herum weisend, um die Prinzessin nicht noch mehr zu beunruhigen. Leonora stand allein am Rande der Lichtung. Hauptmann Spar hatte Alette verstohlen ein Zeichen gegeben, sich hinter der Prinzessin zu postieren und sie im Auge zu behalten. »Irgendetwas, das Brom tut, pervertiert die Landschaft, wohin auch immer sie kommen«, sagte Roan, seine Stimme bewusst gedämpft haltend. Eines der Gänseblümchen zu seinen Füßen warf plötzlich all seine Blütenblätter ab. Roan und Felan wechselten einen Blick, und Roan übte ein wenig Einfluss aus, um sie wieder festzukleben. »Ich beobachte das schon von Anfang an, seit ich ihm folge«, sagte er. »Die Dinge verzerren sich, wo sie vorbeigekommen sind.« »Aber wird diese Schweinerei jemals wieder verschwinden?«, fragte Felan. »Sie haben doch den Wind der Veränderung gesehen. Er hat nur ganz wenig von dieser Entweihung ausgetilgt! Ich fürchte mich vor etwas, das einen solchen Schaden anrichten kann, dass selbst die Schläfer ihn nicht gänzlich beheben können.« »Es wird eine Weile dauern, bis es verheilt ist«, sagte Bergold begütigend. »Wenn nicht heute, dann irgendwann später.« »Äußerst beunruhigend«, sagte Felan. »Was, wenn sie das auch mit dem übrigen Traumland tun, Fräulein Colenna? Sie sind ebenfalls natürliche Wesen. Ist nicht das, was sie tun, Teil des Planes der Schläfer?« »Wenn wir dazu ausersehen sind, sie aufzuhalten, dann werden wir sie aufhalten«, sagte Colenna gewichtig, mit
professoralem Air. »Wenn nicht, dann ist auch das die Absicht der Schläfer. Aber ich glaube, wenn wir uns nicht einmischen, werden wir den Plan der Schläfer vollkommener sehen.« »Es muss sehr tröstlich für Sie sein, alles so klar geordnet und gefügt zu sehen«, sagte Felan angewidert. »Brom scheint Ihre Weltsicht aber nicht zu teilen. Was, wenn sie die Schläfer aufwecken?« »Auch das«, sagte Colenna betrübt. »Es steht uns weder zu Gebote, noch haben wir das Recht, Dinge zu verändern.« »Aber hat Brom das Recht dazu?« »Das habe ich nicht gesagt!« Wir werden versuchen, ihn aufzuhalten. Wenn wir das nicht können, dann ist es Schicksal.« Roan war zwar von einem streng traditionell ausgerichteten Historiker erzogen, aber immer dazu ermuntert worden, sich seine eigenen Gedanken zu den Dingen zu machen und er stimmte nicht mit Colenna überein. Aber dies war nicht der rechte Augenblick, das zu sagen. »Schaut nur!«, sagte Bergold, ein kleines Nest im Gras aufdeckend. Unter einem breitblättrigen Unkraut versteckt, ähnelte es einer kleinen grauen Faltschachtel aus gekauten Fasern. In ihr befanden sich Dutzende von fingernagellangen Büroklammern. Bergold nahm ein paar heraus und schaute sie sich genauer an. Die anderen, die seinen Ausruf gehört hatten, drängten sich jetzt um ihn und seine Entdeckung. »Was ist das?«, fragte Lum. »Büroklammern!«, antwortete Roan. »Brom hat hier Fahrräder abgeholt. Suchen Sie nach Spuren. Nicht nach Fußspuren - nach Reifenspuren. Sie sind nicht mehr zu Fuß.« Bergold sah sich die Schachtel näher an, dann schlug er sein Taschen-Ortslexikon auf. »Merkwürdig ist, dass diese hier nicht in dieser Gegend
beheimatet sind«, sagte der Historiker. »Es sind ganz und gar keine Mountainbikes. Seht ihr?« Er zeigte ihnen Farbtafeln mit vergleichbaren Arten. »Das hier sind Allzweck-Klammern, für jedes Gelände tauglich. Sie sind frisch ausgelegt worden.« »Könnte nicht irgendein Vogel oder ein zufällig vorbeikommender Camper eine einzelne Klammer...?«, begann Leonora, aber sie brachte den Satz nicht zu Ende. Sie wusste es besser. »Es muss eine deutliche Menge von Klammern vorhanden sein«, erinnerte Misha sie mit ernster Stimme. »Sonst passiert nichts. Eine reicht nicht aus, um weitere zu erzeugen.« »Sie haben die Vorfahren aus Mnemosyne mitgebracht«, sagte Roan niedergeschlagen. »Gereift in einer einzigen Nacht.« Der Geschwindigkeitsvorteil, den er gegenüber der Wissenschaftlergruppe zu erlangen gehofft hatte, war dahin. »Mein Respekt vor Brom wächst«, sagte Bergold. Er steckte die winzigen Drahtklammern wieder in die Schachtel und klappte sie zu. »Ich hoffe nur, er ist nicht so gut im Wecken von Leuten wie im Planen einer Expedition.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rannten Spar, Lum, Felan und Misha zu ihren Rädern und radelten hastig in entgegengesetzte Richtungen davon, um die Spur zu suchen. Doch war es schließlich Colenna, die den Weg fand; er führte, ausgehend von dem Steintisch, nach Nordosten. »Wie verschwenderisch«, sagte sie kopfschüttelnd, als sie zurück auf die Lichtung schaute. »Sie zerstören so viel und mit so wenig Grund.« »Sie wollen die Schläfer aufwecken, nur um eine Frage beantwortet zu bekommen«, sagte Roan, der hinter ihr her fuhr. »Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, eine Querfeldeintour zu machen«, sagte Felan, sobald die Gruppe unterwegs war. Dieser neue Weg war zu beiden Seiten von acht Fuß hohen Hecken gesäumt, die jeden, der vorbeikam, unsichtbar
machten. »Wir hätten sie inzwischen eingeholt haben müssen. Wo im Namen der Sieben wollen sie bloß hin?« »Zur Halle der Schläfer«, rief Spar. »Das haben sie jedenfalls gesagt.« »Aber wo liegt die? Sie ist auf keiner unserer Karten verzeichnet.« »Darüber habe ich während der letzten vierundzwanzig Stunden immerzu nachgedacht«, sagte Roan, kräftig in die Pedale tretend. »Ich habe eine Theorie. Wir müssen so denken wie Brom, uns in ihn hineinversetzen. Was wissen wir über die Schläfer?« »Es sind sieben«, sagte Lum. »Es sind nicht immer dieselben. Jeder von ihnen träumt eine Provinz.« »Ja«, sagte Bergold. »Von den frühesten Aufzeichnungen an, die wir haben, wissen wir, dass die Menschen, sobald sie anfingen, zwischen den Provinzen zu unterscheiden, entdeckten, dass es sieben Über-Bewusstseine gab. Das war nie strittig. Die Sieben ist eine wichtige Zahl im Traumland. Beobachter stellten fest, dass die Provinzen Umbrüche unabhängig voneinander erlitten, dass diejenigen, die über die Schluchten und Flüsse von einem sich verändernden Land in ein stabiles flüchteten, so blieben, wie sie waren. Bei einem Umbruch verändert sich der gesamte Charakter einer Provinz. Alle Provinzen unterscheiden sich voneinander - nur dort nicht, wo sie gleich sind, was im Allgemeinen auf ähnliche Erfahrungen hindeutet.« »Die Schläfer, ihre Anzahl und ihr Charakter, wenngleich nicht die einzelnen Individuen selbst, sind in der gesamten Geschichte unverändert geblieben, richtig?«, fragte Roan. »Richtig.« »Wir suchen also nach etwas, das sich nicht verändert hat«, sagte Roan.
Felan blies spöttisch Luft durch die Lippen. »Aber alles im Traumland verändert sich mit der Zeit. Goldminen werden zu Sandsteinhöhlen; Häuser, Paläste und Hütten werden mal zu dem einen, mal zu dem andern - und umgekehrt; Vögel und Bienen können sich paaren, weil beides Luftgeschöpfe sind.« »Aber was verändert sich nicht?«, fragte Roan. »Nichts«, antwortete Felan lakonisch. »Was?«, fragte Misha, der sich für die Geschichte zu interessieren begann. »Die Grenzen«, sagte Roan. »Aber von denen am deutlichsten die Berge. Ich gehe jede Wette ein, dass sich die Mysterien seit dem Anbeginn der Zeit nicht wesentlich verändert haben. Das Traumland hat bei all seiner Veränderlichkeit eine feste, natürliche Grenze.« »Wir bekommen ständig Besuche aus den anderen Königreichen«, gab Felan zu bedenken. »Ja, man kann die Mysterien überqueren, aber ich wette, man kann sie nicht verändern«, beharrte Roan. »Sie sind so ewig wie ...« » ... wie Ihr Gesicht«, ergänzte Felan angriffslustig. »Na und?« »Brom will zu den Bergen«, sagte Roan, über das hochnäsige Grinsen des Mannes hinweg. »Die Halle der Schläfer muss unterhalb von ihnen liegen.« »Die Berge!«, rief Leonora, so überrascht, dass sie ihr Schweigen für einen Moment vergaß. Sie warf Roan einen vernichtenden Blick zu und schaute hastig wieder weg, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Schön, aber welche?«, wollte Colenna wissen. »Zu welchen Bergen sind sie unterwegs?«
»Bestimmt haben die alten Namen irgendeine Bedeutung«, sagte Bergold. »Auch die sind in den historischen Aufzeichnungen seit dem Beginn der Geschichtsschreibung unverändert. Die Tiefen Mysterien, die Hohen Mysterien, die Heiliger Mysterien, die Dunklen Mysterien -« »-die Großen Mysterien, die Kleineren Mysterien und die Verbotenen Mysterien«, fiel ihm Misha eifrig ins Wort. »Sie sind alle so unterschiedlich wie die Sieben selbst.« Er schaute nach vorn und nach hinten zu den anderen. »Richtig?« »Ja, natürlich. Wir haben alle Erdkundeunterricht in der Schule gehabt. In welchen aber befindet sich nun die Halle der Schläfer?«, fragte Felan. »Ich habe keinen blassen Schimmer«, sagte Bergold und hob die Handflächen. »Sie sind alle gleich und gleich verschieden.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte Roan. »Ich hatte gehofft, irgendeiner von euch hätte vielleicht eine Idee.« »Ach, das ist aber nett«, sagte Felan gereizt und ließ sich zurückfallen. »Jetzt bin ich auch nicht klüger als vorher.« Colenna an der Spitze des Feldes schnaubte. »Hat niemand je einen Unterschied in der Menge an Einfluss beobachtet, der von einem bestimmten Gebirgszug ausgeht?«, fragte Roan. »Darüber findet sich überhaupt nichts in den Geschichtsbüchern«, sagte Bergold, nachdem er sein Buch zu Rate gezogen hatte. »Keine Aufzeichnungen. Deshalb war ich auch so überrascht, als du so etwas erwogst, doch es erscheint mir durchaus sinnvoll.« »Dann denkt nach, alle miteinander«, sagte Roan. Er brütete über Cruisers Lenkstange, versuchte sich an alles zu erinnern, was er in der Schule gelernt hatte. Bergold blätterte in seinem kleinen Buch, wobei er leise vor sich hin murmelte. »Schauen Sie, Sir«, sagte Lum, die Stirn gedankenschwer in
Falten gelegt, »wenn Sie vom Zentrum aus nach außen fahren, werden Sie irgendwann auf Berge stoßen. Was ist, wenn sie alle gleich sind, wie dieses Deja vu, das wir erlebt haben? Können wir nicht einfach geradeaus bis zum Perimeter des Traumlandes weiterfahren, ganz gleich, wo wir ankommen?« »Die Berge sind nicht alle gleich«, warf Spar ein, zum ersten Mal zu diesem Thema Stellung nehmend. »Ich bin in der Nähe der Alten Mysterien aufgewachsen, in der Provinz Elysien. Mein Vater nahm uns einmal zu den Dunklen Mysterien und zum Großen Meer mit. Es ist unmöglich, die beiden miteinander zu verwechseln.« »Aber die Form folgt nur der Funktion«, wandte Misha ein, zum Hauptmann der Garde aufschließend. »Es wirken viele Einflüsse auf ein geografisches Gebilde ein, nicht zuletzt auch die Stimmung der Schläfer selbst. Innerlich könnten sie einander alle gleich sein.« »Die Berge verändern sich nicht«, sagte Spar. »Sie sind, wie sie sind und wie sie immer gewesen sind.« »Das bringt mich zu einer höchst bedauerlichen Schlussfolgerung«, sagte Roan und starrte düster auf die Mutter, die Cruisers Lenkstange hielt. »Es wird nicht möglich sein, Brom zuvorzukommen, weil wir keine Möglichkeit haben vorauszusagen, wohin er geht. Wir haben keine andere Wahl, als ihm weiter zu folgen. Ich hoffe, wir finden niemals heraus, wohin sie gehen wollen, weil ich vorhabe, sie aufzuhalten, bevor sie dort ankommen.« »Sekundiert«, sagte Hauptmann Spar. »Das ist etwas, das ich verstehen kann.« »Hört, hört«, stimmten die anderen ein. »Aber ich will nicht noch einmal so einen Reinfall erleben wie zuletzt«, sagte Felan. »Können wir ganz sicher sein, dass sie diesen Weg genommen haben?« Ein kleines Tier huschte quer über den Pfad und ins
Unterholz, als die Fahrräder sich näherten. Bevor es verschwand, erhaschte Roan einen kurzen Blick auf die rote Haube, die rote Brust und den gelben Schnabel eines Kardinals und die braunen Pfötchen und den buschigen Schwanz eines Eichhörnchens. »Ja«, sagte er. »Ich bin ganz sicher.« Während sie so dahinrollten, versuchte Roan, die Prinzessin in ein zwangloses Gespräch zu verwickeln. Sie rollte zwar neben ihm her, hielt sich aber exakt in der Mitte ihrer Spur, als wäre der Pfad nur so breit und als existiere rechts von ihr nichts als die Hecke. Sogar Golden Schwinn hielt sich von Cruiser fern und dabei waren die beiden seit ihren Kleiderbügeltagen dicke Freunde. Mit den anderen führte Leonora indes angeregte Unterhaltungen - aber sie klang nach Roans Empfinden eine Spur zu fröhlich, zu gut gelaunt. Sie war immer noch wütend auf ihn und sie wollte, dass er das wusste. Roan war niedergeschlagen, er begann sich aber zu fragen, ob er nicht wirklich im Unrecht war. Wenn man bedachte, dass sie sich ewige Treue geschworen hatten, hatte sie ein Recht darauf, wütend darüber zu sein, dass er sie nicht vor den anderen in Schutz nahm. Er wünschte, sie würde ihm eine Chance geben, sich ihre Vergebung zu verdienen. Obwohl die Sonne schien, war es ein kalter Ritt für ihn. Er hatte das Gefühl, dass die Temperatur jedesmal ein wenig sank, wenn sie in seine Richtung blickte. Diese Art des Benehmens kannte er nicht von ihr. Er wusste, dass Leonora im Laufe der Jahre schlimmere Zurechtweisungen hatte erleiden müssen. Ihr Unterricht in Diplomatie hatte sie in Situationen mit männlichen Staatsgästen hineingezwungen, die rundweg beleidigend gewesen waren. Dennoch hatte sie Haltung an den Tag gelegt. Er wusste, dass sie wusste, dass es nicht in seiner Absicht gelegen hatte, ihre Gefühle zu verletzen. Ihre Stimmung musste tiefere Ursachen haben als diese kleine Nachlässigkeit auf
seiner Seite. Er schlug sich im Geiste an den Kopf und begriff. Die Prinzessin hatte Angst. Sie war eingeschüchtert und überwältigt von Broms Drohung, und sie musste schreckliche Angst davor gehabt haben, die Sicherheit ihres Zuhauses zu verlassen, um sich in ein unbekanntes Abenteuer zu stürzen. Er hatte zwar zähneknirschend eingewilligt, dass sie mitkam, aber er hatte ihr nicht im Geringsten dabei geholfen, sich auf diese für sie fremde Lage einzustellen. Roan fühlte sich noch schlechter als vorher, als er nur geglaubt hatte, sie sei wütend. Er reiste seit vielen Jahren ständig durch das ganze Traumland, stieß auf Gefahren und verließ sich auf seinen Grips und seine Erfahrung, um diesen Gefahren zu entrinnen. Sie dagegen war noch nie mit weniger als zehn Bediensteten und einem ganzen Tross von Packtieren irgendwohin gereist. Sie hatte bewusst nur ihre Amme mitgenommen. Dies war ihre erste Nacht außerhalb des Palastes, die sie nicht unter dem Dach ihres eigenen Zeltes verbracht hatte, einem wunderschönen Pavillon, der ebenso gut ausgestattet war wie der Palast, und ohne von den Höflingen ihres Vaters umgeben zu sein. Und jetzt hatte sie zu allem Überfluss auch noch ihre Amme in die Wüste geschickt. Das war ein Akt, der von allergrößtem Vertrauen in seine Führungsfähigkeiten zeugte. Roan begriff in diesem Augenblick, welche Opfer die Prinzessin auf sich genommen hatte, um ihn auf dieser gefährlichen Mission zu begleiten. Es war sehr mutig von ihr gewesen, von ihrem Podest herunterzusteigen. All ihre gewohnten Annehmlichkeiten hatte sie zurückgelassen, selbst die letzten. Es war hart für sie, endlose Stunden zu reiten, in unbekannte Gefahren hinein. Sie wusste, dass die anderen sie nicht dabeihaben wollten, aber er verstand auch, warum sie glaubte, mitkommen zu müssen. Ihr Vater, der König, hatte höchstwahrscheinlich genauso empfunden. Er hätte sein Reich bestimmt auch gern persönlich verteidigt, aber als der kluge
und erfahrene Mann, der er war, hatte König Byron diese Aufgabe anderen übertragen, wohl wissend, dass er seine weiteren Pflichten und Verantwortlichkeiten nicht vernachlässigen konnte. Und hier war Leonora, verwundbar wie ein neugeborenes Kind, ohne Ausbildung oder Erfahrung, beseelt von dem Wunsch zu helfen und gleichzeitig wissend, wie sehr ihre Gegenwart von den anderen als hinderlich empfunden wurde. Sie war noch nie mit wirklichen Problemen konfrontiert gewesen, geschweige denn mit der Möglichkeit einer welterschütternden Katastrophe. Ihre Fähigkeit, Materie zu beeinflussen, würde im Unglücksfall eine wichtige Hilfe für sie sein, aber sie fürchtete das Unbekannte. Roan schämte sich. Sie war viel tapferer als er. Sie verdiente seine volle, rückhaltlose Unterstützung und er hatte sie ihr nicht angeboten. Was für ein Tölpel er doch war! Er schwor, dass sie niemals in Gefahr geraten würde, solange sie in seiner Obhut war. Er drehte sich im Sattel um und wartete, bis er ihren Blick erhaschte, und dann schenkte er ihr ein zärtliches Lächeln, in das er sein ganzes Herzblut hineinlegte. Sie erwiderte es zögernd, scheu. Die Hecken öffneten sich schlagartig zu offenen Feldern voller Rebstöcken, die sogleich anfingen zu summen - vor lauter Glück und Wunder. Roan war verliebt und er wollte, dass die ganze Welt es wusste. Er streckte die linke Hand aus und fühlte, wie ihre schlanken Finger in seine schlüpften. Die Wärme in seinem Herzen breitete sich in seinem ganzen Körper aus und er seufzte vor Glück. Seite an Seite ritten sie eine Weile schweigend dahin. Roan war glücklicher, als er es jemals gewesen war. Colenna sah die Blicke, die zwischen den beiden jungen Leuten hin und her huschten und sie räusperte sich. »Dies ist Ihre erste lange Reise, nicht wahr, meine Liebe?«, fragte sie Leonora. »Es war bis jetzt ein schlimmer und anstrengender Ritt, nicht? Ich finde bestimmte Teile des Reisens auch weit erfreulicher als andere, das kann ich Ihnen
versichern. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Reise im Auftrage des Ministeriums - und das war auch ein undankbarer Haufen.« »O nein, das waren sie doch bestimmt nicht«, wandte Leonora höflich ein. »Ha! Sie kennen die Bürokraten nicht!« Colenna hob zu einer lebhaften Schilderung ihrer Reise in die sechste Provinz, Oneiros, an, die sie im Auftrage des Geschichtsministeriums gemacht hatte, um Dokumente abzuholen, die dort entdeckt worden waren und von denen man glaubte, sie seien über fünftausend Jahre alt. »Ich war noch ein junges Ding«, erinnerte sich die Feldbeobachterin, »und glaubte, ich könne so bequem durchs Traumland reisen, als reite ich auf einem fliegenden Teppich. Ich brannte darauf, Dinge zu sehen, die noch nie jemand gesehen hatte, und war von dem Ehrgeiz erfüllt, diejenige zu sein, deren Name eines Tages auf Steintafeln und Palimpsesten stünde. Aber es war beileibe nicht alles so nett wie die ersten paar Minuten, als ich frohen Mutes vom Schlosse wegritt - o nein!« Fröhlich schilderte sie, wie sie in verschiedene haarige Situationen geraten und sich wieder aus ihnen gerettet hatte - und das ziemlich geschickt, wie Roan fand. »Und seitdem«, schloss Colenna triumphierend, »gehe ich nirgendwo mehr ohne einen Schneebesen und ein Allzweckmesser hin. Ich nehme alles mit, egal ob ich weiß, ob ich es brauchen werde oder nicht! Ich bin gerne auf alles vorbereitet, Eure Hoheit. Sie können alles, was Sie wollen, in einer Stadt bekommen, aber zwischen den einzelnen bevölkerten Zentren gibt es eine Menge leerer Flächen.« »Manchmal«, erinnerte sie Bergold. »Ja, ich weiß, du alter Erbsenzähler«, sagte Colenra unwirsch und wandte sich wieder der Prinzessin zu »Finden Sie heraus, was Sie unbedingt brauchen, und nehmen Sie es
mit. Reisen Sie nie mit mehr, als Sie selbst tragen können.« Dann schaute sie ein wenig verzagt drein, aber Leonora merkte es nicht. Sie nickte. »Ich würde es als eine Ehre betrachten, die Habe ihrer Hoheit transportieren zu dürfen«, rettete Misha Colenna galant die Situation. »Ich auch«, sagte Roan, der bedauerte, nicht als Erster gesprochen zu haben. »Ihr seid sehr freundlich«, sagte Leonora und schaute alle drei an - Roan jedoch ganz besonders warm. Er fühlte, wie seine Hoffnungen schüchtern auf Zehenspitzen zurückkehrten. »Es tut mir sehr Leid, wie ich mich heute Morgen benommen habe.« »Unerfahrenheit, das ist alles, wenn Sie mir vergeben, Eure Hoheit«, sagte Colenna. »Nun, ich denke, bis wir wieder nach Mnemosyne zurückkommen, werden Sie ein echter Profi sein.« Leonora lächelte, wobei das Grübchen an ihrem Mundwinkel wieder erschien und ihr Gesicht entspannte sich: Aus dem wächsern-mediavalen Madonnenantlitz wurde ein liebliches, weiches Frauengesicht. Ihre Lippen wurden rot und voll, und ihre Augen weiteten sich so, dass die langen Wimpern, die sie umringten, mehr wie ein Rahmen erschienen denn wie ein Käfig. Roan schaute Misha dabei zu, wie er die Verwandlung verfolgte, und bemerkte den Moment im Gesicht des jungen Mannes, als dieser sich hoffnungslos in sie verliebte. Jeder verliebt sich in sie, dachte Roan kopfschüttelnd. Er war einfach der, der am meisten Glück hatte, da sie seine Zuneigung erwiderte. »Was ist das Wichtigste, das ich tun muss, um ein, wie Sie es ausdrücken, Profi zu sein?«, fragte Leonora ernst. »Halten Sie die Augen offen«, sagte Colenna. »Seien Sie vernünftig. Sie sind jetzt nicht zu Hause, müssen Sie wissen.« »Ich weiß.«
»Und lassen Sie die Dinge so, wie Sie sind! Hinterlassen Sie keinen Saustall. Nehmen Sie nicht mehr mit als eine Erinnerung oder eine Fotografie und hinterlassen Sie nicht mehr als Ihre Fußspuren.« »Ich habe es immer vorgezogen, Fußspuren mitzunehmen und Fotos zu hinterlassen«, sagte Roan, der sich wieder mehr so fühlte wie früher, vor der gegenwärtigen Krise. »Ich habe eine große Sammlung.« Von da an ging alles weitaus fröhlicher vonstatten. Sie kamen hervorragend voran. Misha widmete sich voll und ganz Leonora; er erzählte ihr Witze und machte ihr kunstvolle, elegante Komplimente, die sie ebenso zum Lachen brachten wie die Witze. Als die Gruppe am Ufer des Baches neben einer schönen alten Holzbrücke unter schattenspendenden Beerensträuchern eine Erfrischungspause einlegte, erzählten die anderen Geschichten. »Ich war zurzeit des letzten Umbruchs in Rem noch ein Knirps. Zum Glück gab es viele Vorboten«, sagte Lum und kratzte sich am Ohr, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Mein Dad packte uns in einen Karren und fuhr uns über die Brücke. Ich wollte draußen bleiben und zuschauen, aber er ließ mich nicht. Er sagte zu mir, ich wäre ein dummer Bengel. Heute hätte ich viel zu viel Angst, um mich in die Nähe eines Umbruches zu trauen.« »Ich auch«, sagte Misha, der nach wie vor um Leonora herumscharwenzelte. Er schenkte ihr Fruchtnektar in ihren Kelch. Das Packtier, das Drea zurückgelassen hatte, trug immer noch sämtliches Gepäck der Prinzessin, einschließlich ihres Tafelgeschirrs. »Klingt, als wären Sie vernünftig geworden«, sagte Spar. »Haben Sie schon einmal einen Umbruch gesehen?«, fragte Leonora Colenna. »Nein, noch nie«, antwortete Colenna. »Ich habe mich von
solchen Dingen immer tunlichst ferngehalten. Das ist nur vernünftig. Ich gefalle mir so, wozu ich neige zu sein. So viel ich weiß, hat Ihr Verehrer aber schon einmal einen erlebt.« »Sie?«, fragte Felan. »Das stimmt«, gab Roan zu und wandte den Blick ab. »Das war vor deiner Zeit in Mnemosyne, Felan«, bemerkte Bergold. »Ich kann wohl sagen, dass das Ereignis und das, was darauf folgte, die erstaunlichste Geschichte war, die ich jemals gehört habe, und zugleich das Schmählichste, was ich je erlebt habe. Vor zwei Umbrüchen, genau gesagt.« »Als ich ein kleiner Junge war, lebten wir in Somnus«, erklärte Roan, während er den Kanten Brot niederlegte, den er gerade mit Butter bestrich. »Mein Vater ließ mich alleine herumlaufen, während er seine Arbeit für das Ministerium erledigte. Es ging das Gerücht, dass ein Umbruch bevorstehe, Gerumpel und Gedröhn und so weiter. Aber da die Störungen örtlich begrenzt waren, sagte die Erfahrung, dass die Störungen wahrscheinlich auf einen Persönliche-Krise-Traum zurückzuführen waren. Der zuständige Schläfer hatte schon seit längerem eine Neigung zu dieser Art von Problem entwickelt, und mein Vater hoffte, den Krisenpunkt ausbrechen sehen zu können.« »Ich erinnere mich daran aus dem Kontinuitätsunterricht auf der Schule«, sagte Misha nickend. »Ein interessantes Phänomen, wenngleich ich persönlich immer lieber die Halluzinationen eines Pepperoni-Albtraums sehen wollte.« Roan grinste. »Halt dich eine Weile am Nordwestende von Celestia auf und dein Wunsch geht in Erfüllung. In der Gegend scheint es eine regelrechte Eruption zu geben. Jedenfalls beobachtete mein Vater die Erscheinungen. Ein paar von den örtlichen Kontinuitoren und Historikern hatten ihn mit Leuten zusammengebracht, die von den Umständen einer Persönlichen Krise betroffen waren. Sehr interessant.
Personenverwechslungen, grassierende Ablehnung und so weiter. Ehepaare kamen abends von der Arbeit nach Hause und waren außerstande, ihren jeweiligen Partner wiederzuerkennen, obwohl, wie ihr wisst, man fast immer sagen kann, wer wer ist, selbst nach einer Veränderung. Ich hatte auf der Reise nach dort unten ein bisschen in den historischen Dokumentationen über Persönliche-Krise-Träume gelesen - es gibt halt für einen kleinen Jungen auf einer langen Zugreise nicht viel zu tun aber für mich war da etwas nicht ganz stimmig. Es gab nämlich andere Manifestationen, die nicht mit den Beschreibungen in den alten Büchern übereinstimmten.« »Jeder Schläfer hat halt eine andere Persönlichkeit«, gab Alette zu bedenken. »Aber die Historiker dokumentieren nur solche Charakteristika, die immer dann erscheinen, wenn ein Fall eintritt«, sagte Roan. »Das ist ihre Wissenschaft, wenn ihr so wollt. Es gab Erdbeben und Gewitter. Nun können Sie sagen, beides sei typisch für eine Menge von Traumereignissen«, sagte er, die Hand hebend, als die Gardistin zum Sprechen ansetzte. »Aber diese waren nicht normal. Sie erschienen mir irgendwie... fundamental. Ich versuchte, meinen Vater zu finden, um es ihm zu sagen, als die Erde sich plötzlich vor mir auftat. Die Leute fingen an zu schreien und in Panik umherzuirren. Ein Mann sah, wie ich dastand und zuschaute, und warnte mich davor, die Grenze zu überqueren, sonst würde ich diskontinuieren. Er war sicher - so wie ich plötzlich auch -, dass ein Umbruch im Gange war.« Die anderen hielten den Atem an und Roan nickte. »Für mich bedeutete das das Zweitschlimmste nach dem Tod, meine ganze Identität zu verlieren, also hörte ich auf, nach meinem Vater zu suchen und rannte um mein Leben. Ich war sicher, dass er die Zeichen erkannt haben würde - wenigstens hoffte ich es - und dass wir uns wohlbehalten auf der anderen Seite, in Oneiros,
wiederträfen. »Alle waren in Panik. Viele waren verwirrt; sie rannten von der Brücke weg. Ich brachte sie dazu, wieder umzukehren. Bevor es mir so recht bewusst wurde, dirigierte ich einen Strom von Flüchtlingen. Die Menge wurde immer größer. Alles schrie wild durcheinander. Der Boden begann unter meinen Füßen zu rumoren, also begann ich ebenfalls zu rennen. Dann zuckte ein greller Blitz, gefolgt von dem Geräusch von Explosionen, die sich wie ein Echo fortpflanzten.« Roan fühlte, wie sich angesichts der Erinnerung sein Inneres verdrehte. Jahre waren seitdem vergangen, und immer noch durchlebte er es jedesmal wieder in voller Intensität, wenn er daran zurückdachte. »Ich dachte später immer, ich hätte mir das alles bloß eingebildet, aber ich wusste, ich fühlte den Schmerz von Tausenden von Männern, Frauen, Kindern, Tieren, Pflanzen - den des Landes selbst! Und dann«, sagte Roan, wie erleichtert, »trat ein träumerischer Friede ein, eine fast ohrenbetäubende Stille. Ich befand mich inmitten einer Menschenmenge auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich dorthin gelangt war. Sie hatten den Umbruch aus sicherer Entfernung beobachtet. Sie sagten, ich wäre einfach über die Brücke marschiert, mitten durch die Explosionen hindurch.« »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Felan mit gerunzelter Stirn. »Sie haben das alles in einem Buch gelesen.« Roan schaute ihm in die Augen. »Ich könnte mir eine solche Geschichte niemals ausdenken, Felan. Ich ... ich erinnere mich, dass ich meine Hände betrachtete. Sie schienen mir vertraut, aber sicher war ich nicht.« »Du standest unter Schock«, bemerkte Colenna klug. »In gewisser Weise«, entgegnete Roan nachdenklich und lehnte sich an einen der Brückenpfeiler, den Schatten der
Brücke suchend, damit die Sonne ihm nicht auf den Hinterkopf schien, »war es ein Augenblick großer Gelassenheit. Ich habe nie wieder einen solchen Frieden empfunden. Die Leute begannen über die Brücke auf uns zuzuschlendern. Ich erkannte nicht einen von ihnen wieder. Der Umbruch hatte sie voll erwischt. Sie gingen bald wieder zurück nach Somnus. Sie gehörten jetzt dorthin. Sie waren so verändert worden, dass sie sich in die Visionen des neuen Schläfers fügten.« »Aber du nicht«, sagte Misha. »Hast du dich überhaupt verändert?« »Nein«, seufzte Roan. »Nicht ein Stück.« »Ich glaube Ihnen nicht«, wiederholte Felan. »Nun, das tat keiner«, sagte Roan. »Mein Vater war rechtzeitig entkommen. Als Thomasen mich wiederfand, brachte er mich zurück zum Ministerium, damit sie mich zu meinem Erlebnis befragen konnten. Eine Reihe von ihnen bezichtigten uns - wie Sie - der Täuschung; sie führten als Argument ins Feld, da ich mich nicht verändert hätte, könnte ich nicht mitten in einem Umbruch gewesen sein. Noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen habe jemand so etwas erlebt wie das, was ich erlebt hätte, ohne auf irgendeine Weise anders zu werden. Einige der Chefhistoriker, darunter auch Micah, neigten zu der Annahme, ich sei lediglich von den Nachwirkungen erfasst worden und hätte dabei das Bewusstsein verloren.« »Und was taten sie?«, fragte Felan. Roan schnitt eine Grimasse und Bergold warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Das nächste Mal, als in Rem ein Umbruch drohte«, sagte der Historiker, »machte man Roan zu einem Mitglied der Delegation, die ausgesandt wurde, ihn zu beobachten, und ein paar meiner Kollegen, die hier trotz ihrer bodenlosen Feigheit anonym bleiben sollen, schlossen ihn dort ein, im Zentrum des
Geschehens. Und dann ging alles drunter und drüber. Das Land spielte regelrecht verrückt. Als er auch diesmal wieder unverändert daraus hervorkam, mussten sie ihm einfach glauben. Tatsächlich waren sie sprachlos und schämten sich ihrer selbst, weil sie gezielt versucht hatten, das Schicksal eines von den Schläfern erschaffenen Wesens zu verändern. Aber sie haben sich dafür nie bei dir entschuldigt, oder?« »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte Roan, peinlich berührt. Er aß den Kanten Brot auf und griff nach einem neuen. »Das dürfte der gewesen sein, vor dem wir weggerannt sind, Sir«, sagte Lum mit einem Nicken. »Wie war das?«, fragte Misha. »Schrecklich«, sagte Roan lakonisch. »Aber sehr aufregend. Die Welt schmolz dahin - nein, das ist nicht das richtige Wort. Es war, als werfe sie eine alte Haut ab und lege eine neue an. Und ich hatte die Chance, das Ganze zu beobachten.« »Sie sind also eine Art Monstrum oder sowas«, sagte Felan, während er sich ins Gras zurücksinken ließ und die Hände hinter dem Kopf verschränkte. »An der Stelle festgeklebt, heh?« Roan starrte ihn mit offenem Mund an, zu keiner Erwiderung fähig. Felan hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. »Er ist kein Monstrum«, sagte Leonora und sprang auf. Sie blickte zu Roan; ihre Augen leuchteten vor Stolz. »Wir werden schließlich alle von verschiedenen Schläfern geträumt. Roan ist bloß ... beständiger als die meisten, das ist alles.« Felan schnaubte. »Was war das?«, fragte Leonora und ihr Ton wurde schlagartig scharf. Das Marmorpodest erschien unter ihren Füßen und hob sie drei Fuß hoch in die Luft. Sie sah hinreißend, kühl, unnahbar und sehr mächtig aus, wie sie so dastand, als Schattenriss gegen den Himmel abgehoben. Felan setzte sich sofort auf und erhob sich auf ein Knie, um ihr seine
Ehrerbietung zu erweisen. »Was haben Sie da gerade gesagt?« »Eh... Sie haben Recht, Hoheit.« Jegliche Spur von Schnoddrigkeit war aus seiner Stimme und aus seiner Körperhaltung verschwunden. Demutsvoll senkte er den Kopf. Er hatte vergessen, mit wem er sprach und Roan empfand fast so etwas wie Mitleid mit ihm. »Ich weiß«, sagte Leonora gütig. Das Podest schrumpfte wieder in sich zusammen und verschwand im Gras. Die Prinzessin reichte Roan die Hand, auf dass er ihr von ihrem Sockel herunterhelfe. »Dieses Ding erfüllt gelegentlich seinen Zweck. Ich denke, wir sollten jetzt weitergehen, meinst du nicht auch?« »Ich danke dir«, flüsterte Roan ihr zu. Leonora schaute Roan unter ihren Wimpern hindurch an, dann blickte sie weg, beobachtete ihn aber weiterhin aus dem Augenwinkel. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie. »Ich liebe dich so, wie du bist.« Die Liebeserklärung hätte ihn eigentlich mit Freude erfüllen müssen, aber sie erinnerte ihn bloß daran, dass er anders war. Leonora musste seine Gedanken erraten haben. Sie schüttelte den Kopf mit einem wehmütigen kleinen Lächeln. Roan senkte den Kopf. Er fühlte sich mehr geehrt, als Worte es je vermocht hätten. Sie sah so bezaubernd aus, dass er seufzen musste und die Sträucher rings um ihn herum erblühten mit einem Schlag. Vögel stießen vom Himmel herab und umkreisten sie zwitschernd. Leonora errötete und versuchte, das Lächeln aus ihrem Gesicht zu verbannen, doch gab sie es gleich wieder auf. Ihre Wangen färbten sich zu einem zarten Rosa, und Roan konnte sehen, dass sie sich freute. »Würdest du mir auf mein Fahrrad helfen?«, säuselte sie. Roan hörte in der Ferne romantische Musik erklingen. »Aber sicher«, sagte er. »Von ganzem Herzen.«
12. KAPITEL »Seht euch das an!« Bolmer, der vor Taboret ritt, deutete aufgeregt zum Wegesrand. »Eine Camellia nutrans! Eine der seltensten Pflanzen auf der Welt! Unverwechselbar. Bei meinem Hut! Ich habe seit zehn Jahren keine mehr gesehen und das war in den Sümpfen der vierten Provinz.« Er verrenkte sich den Hals, um einen zweiten Blick auf die Pflanze zu erhaschen. Taboret hatte eine halbe Sekunde, um sich die seltsame, vasenförmige Pflanze, die da aus dem Gras hervorlugte, anzuschauen, ehe auch sie an ihr vorbei war. »Unglaublich!«, sagte sie, aber im hinteren Winkel ihres Bewusstseins empfand sie Langeweile. Etwas sagte ihr: »Ich habe das schon mal gesehen. Und zwar auch in einem Sumpf.« Dabei wusste Taboret, dass sie noch nie eine Blume mit vier spitzen, pinkfarben getüpfelten Blütenblättern gesehen hatte. Sie hatte noch nie viel für Botanik übrig gehabt. Unter den Lehrlingen war allein Bolmer ein solcher Pflanzenfreak. Ein anderes Zwicken in ihrem Hinterkopf sagte ihr, sie solle nicht so negativ über die Interessen anderer Menschen denken. Es war nicht gerecht. Sie wurde von Carina ausgemeckert, ohne überhaupt auch nur den Mund aufgemacht zu haben! Solche Dinge waren im Verlaufe des Tages immer häufiger passiert, zuerst so hintergründig, sodass sie es kaum merkte, und dann immer offensichtlicher, auffälliger, so wie jetzt. Ihre Erinnerungen, ja sogar ihr Bewusstsein, verbanden sich immer stärker mit dem der anderen. Taboret fühlte eine Woge der Angst in sich aufsteigen, die sie sofort unterdrückte. Wenn eine Entdeckung nicht mehr neu war, wenn Informationen sofort mitgeteilt oder erfahren werden konnten, ohne dass man sie überhaupt kannte, wo war
da die Freude? Wo der Spaß, wo die Erregung? War sie dabei, ihre Identiät zu verlieren? Nicht einmal Broms Verheißung, große Macht zu erlangen, reichte aus, um das wettzumachen! Glinn bemerkte ihre Unaufmerksamkeit und er stupste von hinten ihr Fahrrad mit seinem Vorderrad an. Erschrocken fuhr sie aus ihren Träumen auf und konzentrierte sich darauf, im Einklang mit den anderen zu fahren. Rechter Fuß runter, linker Fuß runter, rechter Fuß runter. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten und murmelte ihm ein »Danke« zu. Er nickte und zog seinen Helm ein Stück tiefer in die Stirn, damit sie seine Augen nicht sehen konnte. Rechts, links, rechts, links. Der Boss bestand darauf, dass sie im Gleichschritt in die Pedale traten. Warum erlaubte er nicht, dass sie den Pfad erkundeten oder von Zeit zu Zeit der Gruppe ein Stück vorausfuhren? Was sollte daran so schlimm sein? Auf ihrem Rad konnte sie in wenigen Sekunden wieder zurück im Pulk sein. Aber der Boss beharrte darauf, dass diese Übung, das Fahren in gemeinsamer Formation, die Lehrlinge mehr zu einer Einheit formen würde. Wenn sie sich im gleichen Rhythmus bewegten, dann war es nur noch ein kleiner Schritt bis dahin, dass sie auch im gleichen Rhythmus dachten. Dann würden sie die mächtigste Einzelgestalt sein, die in dem immateriellen Reich existierte. Falls sie die Existenz besagten Reiches nicht beendeten, indem sie ihr Experiment vollendeten. Taboret erschauerte. Rechts, links, rechts, links ... »Zeit zum Ablösen!«, verkündete Brom. Basil und Carina brachten dankbar ihre Räder zum Stehen und warteten geduldig, während die anderen ihnen halfen, die Trage mit dem WECKER von ihren Schultern zu hieven. Glinn und Taboret übernahmen die schwere Last. Taboret übernahm turnusmäßig die hintere Position, was ihr sehr gelegen kam, weil es bedeutete, dass Brom ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie wollte nachdenken, solange sie noch konnte, ohne dass er sie der Selbstständigkeit verdächtigte.
Ein Geräusch wie von einem dicken Brummer setzte in der Ferne als leises Summen ein und schwoll zu einem ohrenbetäubenden, himmelfüllenden Röhren an. Maniune, einer der bezahlten Schläger, kam herangerast und brachte sein Ross schlitternd zum Stehen, eine gewaltige Dreckwolke aufwirbelnd. Sein Reittier war zu einer von Broms neuen Erfindungen umgerüstet worden, einem Motor-Rad. Es war zehnmal schneller und zehnmal aggressiver als unmodifizierte und nicht von Motorkraft angetriebene Transportmittel. Derlei Dinge gab es in den Archiven, und sie wurden sogar von Tag zu Tag üblicher, aber die von Brom ersonnenen waren garantiert immun gegen jede Art von Einfluss. Sie würden diese Form behalten. Als sei es sich seines Status der Unveränderbarkeit bewusst, tänzelte und kurbettierte das Motorrad und erschreckte die Rösser der Lehrlinge. Ganos grünes Fahrrad stieg hoch und warf seine Reiterin in das Dorngestrüpp, das den Weg säumte. Maniune grinste. Seine Zähne blitzten weiß durch die schwarzen Stoppeln an seinem Kinn. »Schluss damit!«, befahl Brom und Maniune setzte sein Ross ein Stück zurück, in dezenten Abstand zu seinen verschreckten unmotorisierten Artgenossen. Carina schwang sich aus dem Sattel, um Gano auf die Beine zu helfen. Die kleinere Frau hatte Kratzer an den Händen und im Gesicht und warf dem Söldner einen vernichtenden Blick zu. Das taten auch die restlichen Lehrlinge. Taboret fand, dass die Anwesenheit von Söldnern ihrem hehren gemeinsamen Ziel irgendwie hohnsprach. Außerdem benahmen sie sich genauso grob wie die Zwillinge, mit dem Unterschied, dass diese wenigstens schweigsam waren. Die beiden Schläger hingegen blieben unverhohlen aggressiv und eklig. »Meldung!«, raunzte Brom.
»Sie folgen uns noch immer, Sir«, brüllte Maniune, um das Röhren seines Reittieres zu übertönen. »Habe gerade eine Nachricht erhalten. Die Ablenkung hat wie ein Zauber gewirkt - hat sie den ganzen weiten Weg bis zum Wald geschickt -, aber sie sind wieder umgekehrt.« »Wie viele?«, fragte Brom, eine Augenbraue hebend. »Zehn. Vier Soldaten von der Palastwache, darunter Hauptmann Spar selbst. Drei Historiker.« »Zu viel!«, höhnte Brom. »Sie werden sich zu einem Knoten aus Protokoll und Unentschlossenheit verheddern. Roan hätte besser daran getan, uns auf eigene Faust zu verfolgen. Ich habe einigen Respekt vor seiner Beharrlichkeit. Wir werden Plan B anwenden müssen: Tempo erhöhen und die Verfolger aufhalten.« »Und noch etwas«, sagte Maniune. »Prinzessin Leonora ist bei ihnen.« »Was?«, fragte Brom und sein hageres Gesicht wurde noch hohlwangiger. »Das ... damit habe ich nicht gerechnet.« Er legte das Kinn in die Hand und senkte die Augenbrauen, bis Taboret dachte, sie würden seine Nase bürsten. »Sie tauchte in meinen Berechnungen der Risiken nicht auf... Wie auch immer«, er reckte trotzig den Kopf hoch, »wir können uns durch ihre Gegenwart nicht aufhalten lassen. Macht weiter mit dem Plan. Haltet die Verfolger auf. Jeder hat seine Anweisungen. Wo ist Acton?« »Er bewacht noch immer den Weg, Sir«, sagte Mariune. »Gut! Wie weit hinter uns ist Roan?« »Stunden. Sie sind noch auf der anderen Seite von Hark.« »Ausgezeichnet. Seht zu, dass sie den Abstand nicht verringern. Setzt die Mittel ein, die ihr für notwendig haltet, aber stets nur gerade so viel, wie erforderlich ist. Lurry, Sie gehen mit ihnen.«
»Ja, Herr.« Der Lehrling schaute hinunter auf sein Fahrrad und dann mit fragendem Blick hinauf zu Brom. Der nickte. »Formt den Schmelztiegel«, befahl der Boss der Wissenschaftler. »Wir werden noch ein Motorrad machen und dann weiterfahren.« Keiner sagte etwas, aber Taboret fühlte, wie ein kollektives Stöhnen durch die Gruppe ging - was Brom klar spürte, denn er sandte einen grimmigen Blick an alle. Gehorsam saßen alle bis auf Taboret und Glinn ab und legten die rechte Hand übereinander. »Gano, wir werden Ihr Reittier transformieren«, sagte Brom. »Jeder konzentriert sich jetzt auf das grüne Tier. Sie alle kennen die Design-Parameter. Lassen Sie sich Zeit. Dies ist eine heikle Aufgabe. Wir wollen ja nicht, dass das Tier verendet. Wir haben nicht die Zeit, es zu ersetzen. So, langsam und vorsichtig jetzt! Wir haben keine Zeit zu verschwenden.« »War es dann nicht ein Fehler, für Proviant anzuhalten, Herr?«, fragte Bolmer. »Das hat uns Zeit gekostet und wir haben Zeugen zurückgelassen.« »Unsinn«, sagte Brom. »Wir haben ihren Geist hinreichend verwirrt. Es wird jedem, der uns gesehen hat, schwer fallen, uns zu beschreiben. Wir können einen Teil der Schmelztiegelenergie dazu verwenden, Roan in seinem Vorwärtskommen zu hemmen.« Er lächelte, und jenes träumerische, entrückte Licht war wieder in seinen Augen. »Wir werden sehen, ob wir unser eigenes Ärgernis erschaffen können. Ja, wir werden das als Erstes tun. Glinn, Sie übernehmen die Überwachung.« »Jawohl, Herr«, sagte Glinn. Der vordere Teil der Trage verrutschte ein wenig auf Taborets Schultern, als ihr Partner in seine Tasche griff und den Detektor hervorholte, den er mit sich führte. Taborets blaues Reittier tänzelte ungehalten unter ihr und
gab ein knarrendes Geräusch von sich. Das vereinte Gewicht eines Menschenwesens und eines halben philosophischen Geräts zu tragen war ein bisschen viel verlangt von einem neuen Fahrrad. Sie blickte sehnsüchtig in die Richtung Maniunes und wünschte sich, sie besäße auch ein Motorrad. Maniune, ein dunkelhaariger Grobian mit rohen Gesichtszügen, missdeutete ihren Gesichtsausdruck und machte einen Kussmund in ihre Richtung. Sie verzog angewidert das Gesicht und zog sich hinter den WECKER zurück. Wenn sie bei der Erzeugung des Ärgernisses nicht jedes Erz an Einfluss aus sich würde herausquetschen müssen, würde sie ihn mit dem, was übrigblieb, knöcheltief in Ameisen vergraben. Brom schnippte mit den Fingern, um Aufmerksamkeit zu erheischen. »Alle zusammen jetzt!« Die jungen Leute schlossen die Augen und konzentrierten sich. Taboret fühlte, wie sich die mentale Verbindung bildete, die sie mit den anderen verknüpfte. Außerstande, sie physisch zu berühren, hatte sie keine Kontrolle darüber, wie ihr Einfluss verwendet werden würde, aber sie konzentrierte sich gleichwohl darauf, ein Ärgernis zu erzeugen. Wie sah nun aber ein Ärgernis aus? Verschwommene Bilder begannen sich in ihrem Geist zu formen. Ein Ärgernis war eine vierschrötige, übelriechende Person, die sich im Bus ständig an einem rieb. Ein Ärgernis war eine Büchsenaufziehlasche, die beim Hochknicken abbrach. Ein Ärgernis war eine Reifenpanne, ein plötzlicher Windstoß, der einem die kunstvolle Frisur ruinierte, ein verlorener Notizzettel mit einer Wegbeschreibung drauf, ein Stoß gegen den Musikantenknochen. Kurz - und hier spürte Taboret Broms etwas präzisere Vorstellung - ein Ärgernis war eine Maßeinheit von auf ärgerliche Art und Weise vergeudeter Zeit und genau das war es, was hier auf dem Spiel stand: Zeit. Sie spähte aus einem Auge auf den Schmelztiegel, der sich über den aufeinanderlegenden Händen bildete. Etwas nahm
dort Gestalt an, etwas, das ganz aus verschwommenen Farben und undefinierbaren, rauhen Lauten bestand und Richtung Süden davonflog. Ohne die Augen zu öffnen, schnippte Brom erneut mit den Fingern. »Glinn! Meldung!« Die Stimme ihres Kollegen klang gedämpft. »Es ist ein Ärgernis, Herr. Ich weiß nicht, wie stabil es ist, oder ob es auch wirklich dorthin gehen wird, wo wir es hingesandt haben, weil es nun halt einmal ein Ärgernis ist. Es ist wirklich ein echtes Ärgernis«, beendete Glinn seine Meldung mit einem Schlucken. »Sehr gut«, sagte Brom und fuhr sogleich fort, ohne sich mit irgendwelchen Selbstbeglückwünschungen aufzuhalten: »Und jetzt das Motorrad! Konzentriert euch!« Für diese Transformation brauchten sie ihre Fantasie nicht. In Taborets Geist durchlief das grüne Fahrrad präzise Umwandlungsschritte bis hin zu dem hellen Scheinwerfer, der die abnehmbare Lampe am vorderen Rahmenrohr ersetzte. Das neu geschaffene Motorrad gab ein kerniges Röhren von sich und ließ mehrmals hintereinander den Motor aufjaulen. Taboret schlug die Augen auf. Die anderen hatten das inzwischen auch getan. Gano trat zu ihrem grünen Ross und berührte es mit einem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck. Erneut stieß es ein Brüllen aus, voller Freude über seine neue Stimme. »Durchchecken!«, bellte Brom. Gano schwang sich in den Sattel ihres Reittieres und drehte eine große Runde. Dann ließ sie eine Reihe von Manövern folgen, mit denen sie seine Reaktion prüfte. Sie trug ein breites Grinsen zur Schau, als sie sich wieder zu den anderen gesellte. »Nun, wenn wir das so gut hingekriegt haben, warum dann nicht auch ein Luftschiff?«, fragte Taboret, vor lauter Neid ganz vergessend, wie müde sie war. »Dann wären wir in wenigen Stunden am Ziel.«
»Nein!«, sagte Brom scharf. Er wirbelte herum und richtete seinen langen, knochigen Zeigefinger auf sie. »Das ist zu riskant. Wir müssten eins bauen, auf dessen Funktionstüchtigkeit wir uns hundertprozentig verlassen können sollten. Ein solches Schiff zu entwerfen, würde zuviel Zeit kosten. Ich lasse mich auf keine Unwägbarkeiten ein. Ich werde auf keinen Fall riskieren, dass meine kostbare Vorrichtung in der Luft zuschanden kommt. Fahrräder sind verlässlich. Sie existieren allenthalben, eine zuverlässige Erfindung. Motorräder sind eine erhebliche Verbesserung von Fahrrädern. Wir werden bald alle eins haben.« »Hoffentlich«, sagte Carina und rieb sich die schmerzende Schulter. »Meine Beinmuskeln werden vom vielen Strampeln langsam sauer. Ich hoffe, wir geraten möglichst bald in irgendeinen Einfluss, wo dieses Ding hier endlich seine eigene Fortbewegungskraft bekommt.« »Pferden muss man zu fressen geben«, erinnerte sie Basil. »Und man muss ihnen Ruhepausen gönnen.« »Das Gleiche muss man auch mit mir machen«, versetzte sie bitter. »Ich wusste, dass du das sagen würdest«, erwiderte Taboret überrascht. »Und ich wusste, dass du das sagen würdest«, fauchte Carina zurück. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram! Halt dich aus meinen Gedanken raus!« »Ich wünschte, ich könnte es«, erwiderte Taboret. Sie nahm jetzt ständig ein unterschwelliges Summen wahr, das sich aus den Gedanken ihrer Kollegen zusammensetzte. Broms Bewusstsein war ein lautes Dröhnen, das sie alle übertönte, freilich noch nicht klar erkennbar als Worte oder Gedanken. Sie kauerte sich unglücklich hinter den WECKER. »Schluss jetzt mit dem Gezänk!«, befahl Brom und fuhr unwirsch mit der Hand über die Lenkstange seines eleganten
Gefährts. Es war mehr als ein Fahrrad, wenn auch immer noch weniger als ein Motorrad, und trotzdem schien er nicht besonders oft in die Pedale treten zu müssen, um voranzukommen. Wahrscheinlich, dachte Taboret, befand es sich noch im Entwicklungsstadium, und er würde es ihnen präsentieren, sobald es soweit war. »Lurry, kommen Sie mit Ihrem Reittier nach vorn!« Unter Broms Anleitung formten sie sein Fahrrad zu einem Beiwagen um, den sie an Maniunes Motorrad montierten. Taboret zuckte innerlich zusammen, als das Ross laut aufschrie, während es in seine neue Form gequetscht und geknetet wurde. »Wir müssen unser Tempo erhöhen«, sagte Brom, als der Schmelztiegel zerbrach. »Das reicht fürs erste. Wir werden weitere Motorräder herstellen, sobald wir können. Jetzt müssen wir erst einmal zusehen, dass wir weiterkommen. Maniune, Sie erstatten bei unserem nächsten Aufenthalt Bericht. Sie haben Ihre Instruktionen. Sorgen Sie dafür, dass sie den Abstand nicht verringern können. Lurry ist mit einem gewissen Quantum an Einfluss ausgestattet, über den Sie frei verfügen können. Ich selbst will nicht gestört werden.« »Aber diese gemeinen schmutzigen Tricks könnten die Prinzessin verletzen!«, protestierte Taboret und wusste im selben Augenblick, dass ihre Sorgen von den anderen geteilt wurden. »Oder... oder sogar umbringen.« Brom schaute sie an; sein Gesichtsausdruck wirkte unbesorgt. »Wenn sie nicht verletzt werden wollen, werden sie umkehren.«
13. KAPITEL »Haben Sie das gesehen?«, fragte Lum mit weit aufgerissenen Glotzaugen. »Ja«, sagte Bergold, sehr erfreut, während er dem großen, viereckigen Vehikel hinterherschaute, bis es in der Ferne verschwunden war. »Da ist gerade eine Straßenbahn vorbeigefahren. Wir müssen der Zivilisation näherkommen.« »Aber es gibt keine Schienen!« »Die braucht sie nicht«, sagte Bergold fröhlich. »Bloß eine Straße und die haben wir ja.« Er faltete im Fahren die Karte auf seiner Lenkstange auf. »Dann lassen Sie mich mal schauen. Wenn ich mich nicht sehr vertue, befinden wir uns in der Nähe von Hark.« »Nie gehört«, sagte Colenna. »Kein großer Ort«, sagte Misha, der über Bergolds Schulter auf die Karte schielte. »Sieht so aus, als wäre es etwa so groß wie sein Name. Wa - Wooaa!« Der junge Mann stieg hoch in die Luft, im Sattel seines Rades sitzend. Wild torkelnd und hin und her wackelnd ruderte er einen Augenblick lang mit den Armen in der Luft, dann klammerte er sich verzweifelt an seinem Lenker fest, um nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Eine Weile lang sah es so aus, als wolle Mishas sonst so sanftmütiges Pferd seinen Reiter abwerfen. Stattdessen jedoch wuchs das Vorderrad auf seinen doppelten Umfang an, während gleichzeitig das Hinterrad auf die Größe eines Desserttellers schrumpfte. Misha behielt den Lenker fest im Griff und fuhr in Schlangenlinie weiter, immer noch in die Pedale tretend, die indes an der Achse des Vorderrades saßen, während die Form des Fahrrades sich abmühte, Stabilität zu erlangen.
»Alle Mann anhalten!«, befahl Roan. »Absitzen, schnell!« Roans Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Binnen weniger Sekunden formten sich alle anderen Rösser in Hochräder um. Spar starrte bestürzt zu seinem Reittier hinauf. Der Sattel war auf einer Höhe mit seinem Kopf. »Jemand soll das Ding wieder in seine alte Form zurückbringen«, klagte er. »Ich kann es so unmöglich reiten. Es ist unwürdig.« »Gern«, sagte Bergold, der sein Haar jetzt glatt zurückgekämmt trug und sich mit einem prachtvollen Schnauzbart mit gewachsten und hochgezwirbelten Enden präsentierte. Er ließ sein eigenes Tier in Lums Obhut und legte die Hände auf Spars Fahrrad. Roan fühlte, wie die Einflusswellen aus der Aura seines Freundes herausströmten, kraftvoll genug, um notfalls sogar einen ganzen Bach umzuleiten, aber sie blieben ohne Wirkung auf das Fahrrad. Stattdessen wurden einige der Pflanzen und Felsen hinter dem Fahrrad kleiner und bekamen eine symmetrische Form. »Tut mir Leid, mein Freund«, sagte der Historiker und zwirbelte verlegen an einem seiner Schnauzbartenden. »Es ist der Wille des Schläfers. Das Design der Räder muss im Einklang mit der Stimmung des Schläfers sein, der heute Hark träumt.« »Uuuh!«, krähte Leonora erschrocken. Roan wirbelte auf dem Absatz herum, bereit, sie vor jeder Bedrohung zu beschützen. Die Prinzessin hatte beide Hände an ihrer Taille, die selbst für ihre Verhältnisse unnatürlich schlank erschien. »Das Korsett«, japste sie. »Sie sind enger, als ich dachte. Große Illusionen!« Ihre Hände flogen zum Kopf hinauf. Ihr Haarzopf hatte sich gelöst und plumpste auf ihren Kopf, wo er sich zu einer dicken Masse in der Form eines Katenbrotes rundete. Die bequeme Reisekleidung, die sie trug, begann sich ebenfalls zu verändern. Ihre Reithose formte sich
zu einem langen, weiten Rock um und ihre Tunika zu einer enganliegenden Leibbinde nebst Jacke. Eine Turnüre platzte mit einem vernehmlichen >plopp< so plötzlich hinten heraus, dass Alettes Hochrad scheute. Die Kapuze, die auf ihrem Rücken hing, wurde zu einem Strohhut, der an einem Band baumelte. Statt der Juwelenfarben, die sie bevorzugte, war ihr Aussehen von einem dunklen Pflaumenton. »Oh, wie schwer das ist!«, sagte Leonora und blickte mit bestürzter Miene an sich herunter. »Und wie langweilig und unelegant!« Sie breitete die Hände aus und zwischen ihnen begann sich das stumpfe Pflaumenviolett zu einem etwas freundlicheren Rotton aufzuhellen. »Nein, nicht!«, sagte Roan hastig. »Wir wollen uns, wenn wir können, unauffällig unter die Stadtleute mischen. Wir müssen so schnell wie möglich hier durch - die Spur wiederfinden und dann nichts wie weiter.« »In Ordnung, aber gefallen tut mir das ganz und gar nicht«, sagte Leonora. Sie presste die Handflächen zusammen und die helle, warme Farbe wurde wieder dunkel und matt. Die kunstvollen Stickereien an den Handgele nken und an der Hüfte ließ sie freilich fortbestehen. »Solange wir durch Hark fahren«, sagte Colenna, »sollten wir Vorräte aufnehmen. Ich hoffe, sie haben dort Kaffee, aber jeder andere Wachmacher täte es auch.« »Gute Idee! Dann kann ich mir noch ein paar Briefmarken besorgen«, rief Felan mit einem beifallheischenden Blick zu Roan. »Da wir nicht wissen, wann wir Brom einholen werden, ist es am besten, wir sind vorbereitet«, fügte Colenna hinzu. »Ich für mein Teil habe drei Tagesrationen eingepackt.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Roan mit einem höflichen Nicken und einer Verbeugung vor der älteren Frau. »Dies ist für eine Weile die letzte größere Stadt, zumindest auf
dieser Strecke.« Colennas Kluft ähnelte der von Leonora, aber mit mehr Spitze am Hals und an den Ärmeln. Auch die Kleider der Männer hatten sich verändert. Spar schaute in seiner schwarzblauen Wolluniform mit einer doppelten Reihe von Messingknöpfen auf der Brust ziemlich unbehaglich drein. Der stattliche flachkrempige Hut, den er seit der Transformation an der Stätte des Lagers der Wissenschaftler getragen hatte, war zu einer neckischen Kappe mit einer Spitze vornedran geworden. Lum sah so aus, als gefalle ihm sein Kostüm. Seine Kopfbedeckung war jetzt ein Helm. Alette, ebenfalls in Uniform, erschien zu einem Mann mit einem prachtvollen Schnauzbart unter der Nase verwandelt. Bergold, Felan und Misha fanden sich ausstaffiert mit holzkohlegrauen knielangen Mänteln und gleichfarbigen Hosen, deren Beine sich zu den Knöcheln hin röhrenartig verjüngten. Roan veränderte seine Kleidung dergestalt, dass sie zu der der drei Männer passte, und stellte fest, dass sie sich gar nicht so sehr von dem unterschied, was er gewöhnlich bei formellen Anlässen trug. Seinen Reisehut formte er zu einem Zylinder zurück. »Nun, da wir passend dafür gekleidet sind«, sagte Roan und schwang sich in Cruisers Sattel, »lasst uns nach Hark fahren.« »Unbequeme, wacklige Missgestalt«, nörgelte Spar, während er auf den Sitz seines Rosses kletterte. »Komme mir vor wie auf dem Präsentierteller.« Sie holperten über die Eisenbahngleise und um den Bahnhof herum, ein großes, hübsches rotes Ziegelgebäude mit weißgestrichenen Fensterläden und Blumenkästen. Niemand wartete auf dem Bahnsteig, und Roan fiel ein rotgestreiftes Handsignal ins Auge, das heruntergezogen werden musste, wenn der Zug für einen Fahrgast halten sollte. Die Stadt Hark musste ziemlich klein sein. Nichtsdestoweniger war es ein Ort, der vor Geschäftigkeit
nur so brodelte. In den engen Straßen drängten sich dicht an dicht Handkarren und Pferdefuhrwerke sowie ein paar wagemutige und lärmende Motorwagen, die mit einem Knüppel gesteuert wurden. Zahllose adrette kleine Läden säumten die Hauptstraße. Offenbar war Markttag und wahrscheinlich sogar schulfrei. Die Bürgersteige waren voll von anmutigen Damen, die mit Körben bewaffnet in langen Röcken dahinglitten, und Scharen von Kindern, die an Vogelschwärme erinnerten. Roan sah eine Frau, die offenbar beim Einkaufen war, hinter der zwei kleine, haarige Tiere herliefen. Eines von ihnen riss mit seiner furchterregenden Klaue einen Stein aus dem Pflaster des Bürgersteigs, biss ein Stück davon ab, spuckte es angewidert wieder aus und warf dann mit dem Stein nach der anderen Bestie, sie nur um Haaresbreite verfehlend. Letztere grapschte im Vorbeigehen eine Apfelsine von einem Handkarren und klatschte sie ihrem Artgenossen ins Gesicht. Die beiden kleinen Monster begannen sich daraufhin zu zanken und zu balgen, bis ihre langmütige Mutter sich schließlich umdrehte und die Streithähne lauthals trennte. Eine andere Frau trat aus einer Konditorei und nickte der ersten Frau zu, als sie aneinander vorbeikamen. Ihr folgte ein kleiner Engel, komplett ausgestattet mit sämtlichem einschlägigem Zubehör - wie wallendes weißes Gewand, Schwingen und Heiligenschein. Er lächelte die andere Mutter und ihre missgeschlachte Brut geziert an und schwebte vorüber, ohne den Boden zu berühren. Die beiden kleinen Monstren wechselten einen kurzen Blick, und sobald die zwei Mütter beide woandershin schauten, schnappten sie sich Blumentöpfe von der Auslage eines Gemüsehändlers und warfen dem kleinen Engel Hände voll Blumenerde mit tödlicher Treffsicherheit auf den Rücken. Der stieß einen schrillen Schrei aus und verwandelte sich in eine Miniaturfurie mit Fledermausschwingen und nagelscharfen Klauen und
Zähnen, während er sich auf die beiden kleinen Bestien stürzte, die ihn mit Dreck beworfen hatten. Roan blieb nicht stehen, um sich den Ausgang des Zwistes anzuschauen. »Wie halten die Frauen es bloß in solchen Kleidern aus?«, ächzte Leonora, als sie auf den Hauptmarktplatz zuritten. »Ich werde gleich ohnmächtig von der Hitze!!« »Nicht verzagen, Hoheit«, sagte Colenna, die ihre enge Leibbinde und das blaue Kostüm mit Anmut und Würde trug. »Wir können ja einen Augenblick absitzen und verschnaufen.« »Der Rest von uns besorgt dann rasch die Vorräte«, sagte Roan. Er schaute sich um. »Sucht euch ein Plätzchen, wo ihr euch ausruhen könnt.« »Lieber Himmel!«, sagte Bergold. »Dieser Ort ist wie eine Zeitkapsel. Diese Kleider waren vor einem Jahrhundert in Mode. Und ich sehe nirgends Anzeichen von moderner Technologie.« »Die Dinge verändern sich in Kleinstädten langsamer als in Großstädten«, erklärte Roan. »Schaut doch«, sagte da gerade Felan und zeigte mit dem Finger auf einen offenen Platz am Ende des Blocks. »Ein Bauernmarkt. Ich würde gern das Feilschen übernehmen, wenn es euch Recht ist. Habt ihr Geld?« »Ich werde auf der Fährte bleiben«, schlug Misha vor. »Wir wollen uns nicht noch einmal verlaufen.« »Nimm ein paar von den Wachen mit«, schlug Roan vor. »Dann kannst du, falls nötig, einen Boten zu uns zurückschicken.« »Gut, Sir«, sagte Spar. »Hutchings und ich werden hier bei den Pferden bleiben.« Der Hauptmann zeigte auf Alette und Lum, die ihre hohen, wackligen Fahrräder umdrehten, um Misha zurück zu der Stelle zu folgen, an der sie die Stadt betreten hatten. Die
anderen folgten Felan zu dem Markt, wo die Budenbesitzer ihre Zelte größer machten oder sie vor andere schoben, um die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen. »Geht weiter«, sagte Felan, während er auf den ersten Gemüsestand zusteuerte. »Mir wäre lieber, wenn ihr mir nicht über die Schulter blickt, während ich feilsche. Kiebitze bringen mir immer Pech. Geht woanders hin.« »Vergessen Sie den Kaffee nicht!«, sagte Colenna. »Und was zum Naschen dazu. Kekse vielleicht.« »Husch! Weg mit Ihnen!«, scheuchte Felan sie fort. »Diskontinuieren Sie!« »Hmmf!«, schnaubte Colenna. Felan sammelte von den anderen Geld ein. Er schüttelte die Münzen einmal kurz in der hohlen Hand und ließ sie dann in seine Tasche gleiten. »Gebt mir eine halbe Stunde für alle Einkäufe«, sagte er. Zielstrebig stapfte er zu den Ständen. Roan spähte um die Ecke des Platzes und bemerkte ein handgeschriebenes Schild, auf dem >Diverses< stand. Im Schaufenster stand eine große Auswahl frischer Schnittblumen in leuchtenden Farben. Er blickte verstohlen zu Leonora und sah, dass sie es noch nicht bemerkt hatte. Roan tippte Bergold auf die Schulter. »Ich bin gleich wieder zurück. Ich muss noch kurz ein paar Sachen besorgen.« Der Historiker ließ seinen Blick in die Richtung schweifen, in die Roan schaute und lächelte. »Ich würde es als eine Ehre ansehen, die Damen ein wenig herumzuführen, bis du zurückkommst.« »Alles, was ich will, ist, mich auf etwas zu setzen, das sich nicht bewegt«, erklärte Colenna, sich mit der Hand frische Luft ins Gesicht fächelnd. »Und ein kaltes Getränk könnte mir auch gefallen.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Leonora ihr bei. Roan verneigte sich, bemüht, Bergolds Augenzwinkern nicht wahrzunehmen. »Wenn ihr mich dann entschuldigen wollt...« Der kleine Laden erwies sich als so gut sortiert wie ein Basar. Nachdem er einen hübschen Strauß pinkfarbener Rosen für die Prinzessin ausgesucht hatte, schlenderte er an den hohen Holzregalen entlang, während der dicke Ladenbesitzer die Blumen in grünes Papier einwickelte. »Ich tauche sie mit den Stielen ein bisschen in Wasser, damit sie nicht so schnell austrocknen«, sagte der Mann. »Schöner Tag, nicht?« »Ein prächtiger Tag«, sagte Roan. Da er die anderen nicht so lange allein lassen wollte, suchte er noch rasch ein paar Süßigkeiten aus sowie einige Schachteln Feueranzünder und Salbe gegen Muskelkater, deren Tubenaufdruck kühn versprach: >So gut, dass Sie gar nicht merken, dass Sie einen Körper haben. < Er legte die Sachen auf die Theke, jedesmal wenn er an ihr vorbeikam. »Waren Sie schon mal in Hark?«, fragte der Ladenbesitzer leutselig. Ein ausgeklügeltes Arrangement von Spiegeln ermöglichte es ihm, trotz der Regale und Displays stets in Blickkontakt mit dem Kunden zu bleiben. Roan war überrascht, fast jedesmal, wenn er aufschaute, den freundlichen Blick des Mannes auf sich ruhen zu sehen. »Nein, noch nie«, sagte er zu dem kleinen runden Spiegel über dem Rasierbedarf. »Es ist ein hübscher Ort. Klein natürlich. Der Bahnhof ist das größte Gebäude der Stadt. Aber es gibt eine Art von Menschlichkeit in einer Kleinstadt, wie Sie sie in der Großstadt niemals finden werden.« »Mm-hmm«, grunzte Roan unverbindlich, während er den Blick weiter über die Auslagen schweifen ließ. Gemäß Colennas Diktum wollte er sichergehen, dass er nichts vergaß, was für die Mission wichtig war. Aber er sah nichts, was ihn
dazu veranlasst hätte, sich mit der Hand an die Stirn zu schlagen. Er hatte wirklich an alles gedacht. Sie waren gut gerüstet. Nachdem er eine weitere Regalreihe abgeschritten hatte, kam er an einen Tisch mit einer großen Auswahl von Allzweckmessern von der Art, wie er selbst eines besaß. Eine vorzüglich gestaltete Illustration zeigte alle Klingen und sonstigen nützlichen Vorrichtungen, mit denen das Spitzenmodell aufwartete: Dosenöffner, Korkenzieher, Säge, Spazierstock, Regenschirm und tausend andere erstaunliche Dinge. »Ah«, machte die Stimme des Ladeninhabers aus der Ferne und seine Augen leuchteten aus einem viereckigen Spiegel zu Roans Linken. »Es ist wirklich kaum zu glauben, was sie so alles an nützlichen Sachen in diese kleinen Dinger hineinstopfen. Wirklich fantastisch.« Roan griff nach einem zierlichen Messer, dessen Gehäuse die Lieblingsfarbe der Prinzessin, Immergrünblau, hatte. Er zählte die Klingen und seine Augenbrauen hoben sich. »Ja«, sagte der Ladeninhaber, Roans stumme Frage beantwortend. »Es hat alles, was dazugehört. Allerbeste Qualität.« »Wie viel?«, fragte Roan. »Fünfzehn Hühner, der Herr.« Nicht zuviel für ein Versöhnungsgeschenk, dachte Roan. Und damit wird sie sich mehr als Teil der Gruppe fühlen, auch wenn sie noch nie im Leben eine Klinge auch nur herausgeklappt hat. »Ich nehme es«, sagte er. Er brachte das Messer unter den tausend Augen des Ladeninhabers zur Theke. Der hatte in der Zwischenzeit seine anderen Einkäufe hübsch in braunes Packpapier eingewickelt und mit einer Kordel verschnürt. »Dankeschön, der Herr« und mit geübten Handbewegungen schlug er das kleine Taschenmesser in weißes Seidenpapier
ein. »Soll es ein Geschenk sein, der Herr?« »Ja. Für eine Dame«, sagte Roan, gebannt von den flinken Händen, die hurtig zu einem Regal mit Kästchen und Schachteln an der Seite der Theke huschten und eine kleine schmale Schachtel auswählten. »Haben Sie heute schon andere Kunden gehabt? Fremde, meine ich. Blauweiß gekleidet und mit Taschenschonern?« »Taschenschonern?« Der Ladeninhaber blickte neugierig auf, während er die Schleife der Kordel festzog und Roan die Geschenkschachtel überreichte. »Jetzt, da Sie es erwähnen, es waren tatsächlich heute ein paar da, die so aussahen. Sie waren ziemlich pingelig.« Er schaute an Roan vorbei und seine Augen wurden groß. »Uh-oh, zwei Minuten vor zwölf! Ich muss pünktlich um zwölf zumachen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht ...« Roan kramte in seiner Tasche nach Geld. Der Ladeninhaber schaute zur Decke. »Moment, das macht zwei Kugelschreiber und einen Bleistift für die Süßigkeiten, eine Zeitung und einen Bleistift für die Blumen -sie sind heute im Angebot; einen Laib Brot und einen Kugelschreiber für die Salbe, und die Feueranzünder kosten einen Bleistift das Stück, der Herr. Zusammen mit dem Messer käme das dann fünfzehn Hühner zwei Laib Brot eine Zeitung und einen Kugelschreiber.« »Können Sie eine Sonntagsausgabe wechseln?«, fragte Roan, während er drei Fünf-Hühner-Münzen und eine Handvoll Silbergeld aus seiner Tasche hervorkramte. »Nein, Augenblick, warten Sie, da ist noch ein Huhn.« Er hielt dem Ladeninhaber die große Goldmünze hin. Der Mann gab ihm drei Bleistifte Wechselgeld zurück. »Nun, diese anderen Kunden - was wollten sie?«, fragte Roan. »Vielen Dank für Ihren Einkauf, der Herr. Wir würden uns freuen, wenn Sie mal wieder hereinschauen würden, wenn Sie das nächste Mal in Hark sind«, sagte der Ladenbesitzer und
bugsierte ihn zur Tür. Er drückte die Pakete, die er zuvor in einen sauberen Mehlsack gesteckt hatte, Roan in die Hand und legte den Strauß Rosen obendrauf. »Sie sollten jetzt besser gehen. Vielen Dank für Ihren Einkauf, der Herr.« Er schloss die Tür und hängte ein Schild mit der Aufschrift >Geschlossen< an die Innenseite der Scheibe. »Aber ...« Roan drehte sich auf der Schwelle um, aber das Geschäft löste sich in Luft auf, eine Lücke in der Ge schäftszeile hinterlassend - wie ein ausgefallener Zahn. »Gütiger Himmel, es hat diskontinuiert!«, rief Bergold hinter ihm. »Ich hab ihn nach Brom gefragt«, sagte Roan bekümmert. »Ich hoffe, ich habe ihn nicht in die Nichtexistenz geängstigt.« »Den? Keine Sorge.« Eine Frau, ganz ähnlich angezogen wie Leonora, den weißen Strohhut fest auf ihren kürbisähnlichen Haarturm gepfropft, verlangsamte ihren Schritt am Rande des so plötzlich ledig gewordenen Grundstücks. »Den nicht«, wiederholte sie. »Der existiert mittwochs nur halbtags. So ein Ärger. Ich wollte noch schnell ein paar Zeitschriften und Dochte für meine Gasleuchten kaufen.« »Er existiert nicht die ganze Zeit?«, fragte Colenna. »Nein«, sagte die Frau, wobei sie leicht angewidert den Mundwinkel verzog. »Lohnt sich nicht, vermute ich. Er war schon immer ein fauler Strick. Guten Tag auch.« »Guten Tag«, sagte Roan und lüftete höflich seinen Hut, als sie davonrauschte. »Zu schade auch. Der Ladeninhaber hat Brom tatsächlich bedient. Die sind übrigens für dich«, sagte er und überreichte Leonora mit einer Verbeugung den Rosenstrauß. »Wie aufmerksam von dir«, sagte sie und schaute ihn mit leuchtenden Augen an. Sie stellte sich in ihren spitzen Schuhen
auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Irgendwas für mich dabei?«, fragte Bergold neckisch. »Feueranzünder«, sagte Roan und drückte seinem Freund den Sack in die Hand. Die kleine Geschenkschachtel steckte er in seine Hosentasche, um sie später zu überreichen, in einem passenderen Moment, wenn sie unter vier Augen waren. »Eure Hoheit! Eure Hoheit!« Ein gut gekleideter Mann mit einem Zylinderhut auf dem Kopf kam auf sie zugestürmt, hastig seine Krawatte in eine Amtskette umwandelnd. Er war offenbar kurzfristig aus seinem Amtssitz geholt worden. Mehrere Männer und Frauen folgten ihm, ebenfalls mit ihrer Amtstracht angetan. »Eure Hoheit! Gütiger Himmel, wir dachten uns schon, dass Sie es sind! Überall in der Stadt ging das Gerücht. Ich bitte um Vergebung«, schwallte er und blieb völlig außer Atem vor der Prinzessin stehen. Er machte eine tiefe Verbeugung und schwenkte seinen Hut elegant an seinen Knien vorbei. »Ich bin Bürgermeister Georgeton, Oberhaupt der schönen Stadt Hark. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen, Madame. Darf ich Ihnen den Stadtrat vorstellen? Was führt Euch dazu, unser bescheidenes Nest mit Ihrem Besuch zu beehren?« Die Menge hinter ihm erwies der Prinzessin ihren Respekt: die Männer mit einer Verbeugung, die Frauen mit einem Knicks. Leonora lächelte ihnen huldvoll zu und bot ihre Hand, die der Bürgermeister mit einer Art von erstauntem Vergnügen ergriff. Ein liebenswürdiger Mann mit weißem Haar und buschigen Augenbrauen und freundlichen hellblauen Augen Roan fand ihn auf den ersten Blick sympathisch. Das Gleiche galt für Bergold, der sich sofort zu verändern begann, bis er dem Mann ähnelte. »Nun, ich bin ... auf der Durchreise«, sagte Leonora, über den Kopf des Bürgermeisters hinweg zu Roan blickend, der ihr das Wort soufflierte. »Incognito, Euer Ehren.«
»Incognito! Gewiss nicht«, sagte der Bürgermeister galant. »Wie könnte man eine so königliche Schönheit dergestalt vermummen, dass sie nicht auf den ersten Blick wiederzuerkennen wäre! Ich kränke Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich das sage!« »Nun, nein, Sie kränken mich ganz und gar nicht«, versicherte ihm Leonora mit einem verstohlenen Blick zu Roan, der seinen Gesichtsausdruck höflich neutral hielt. »Ich danke Ihnen.« »Ah, nun, da wir Ihre Verkleidung nun schon einmal durchschaut haben, können wir uns eine solche Gelegenheit wie diese nicht entgehen lassen. Sie müssen unbedingt zum Lunch kommen. Es wird nicht so fein sein, wie wir es gerne gehabt hätten«, sagte der Bürgermeister mit einem Anflug verständlichen Bedauerns in der Stimme. Doch hellte sich seine Miene gleich wieder auf. »Vielleicht kommen Sie ja eines Tages noch einmal zu uns, und dann können wir Ihnen das Bankett bieten, das Ihnen gebührt...« Leonora schien kurz davor, die Einladung anzunehmen, aber die peinliche Situation vom Morgen war ihr noch immer gegenwärtig. Roan sah die Enttäuschung in ihren Augen, als sie den Kopf schüttelte. »Es tut mir Leid, aber wir können nicht bleiben.« »O bitte, Eure Hoheit!«, ließ der Bürgermeister nicht locker, und die Ratsmitglieder taten das ihre, um der Prinzessin die Entscheidung schwer zu machen. »Tee? Champagner? Bitte gewähren Sie uns doch diese Ehre!« Roan suchte ihren Blick und er nickte und zuckte reumütig mit den Achseln. Er wusste, dass die Pflege guter Beziehungen zu ihren Untertanen eine genauso wichtige Funktion erfüllte wie jede andere, die ihnen oblag, zum Beispiel die Rettung der Welt vor der Zerstörung. Leonora lächelte wie die aufgehende Sonne und wandte sich dem Bürgermeister zu.
»Nun denn, Euer Ehren. Meine Freunde und ich nehmen die Einladung der Bürger von Hark zum Tee mit dem größten Vergnügen an«, sagte sie. Georgeton strahlte. »Vielen herzlichen Dank, Eure Hoheit! Hier entlang bitte! Hier entlang!«, schwallte Georgeton und deutete mit einer schweifenden Geste zum nördlichen Ende des Platzes. »Die Vorbereitungen haben bereits begonnen!« Roan gesellte sich zu Leonora und bot ihr seinen Arm an. Sie hakte sich bei ihm unter und schmiegte sich eng an ihn, immer noch den freudig erregten Städtern zulächelnd, die um sie herumtollten wie ein Rudel junger Welpen. »Können wir ihnen nicht sagen, warum wir hier sind?«, fragte sie Roan leise. »Haben sie nicht ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie vielleicht in Gefahr schweben?« »Haben wir ein Recht darauf, es ihnen zu sagen und ihr Leben zu zersprengen?« Roan schaute sich um. Bei all dem sorgfältig gepflegten viktorianischen Charakter der Stadt waren die Häuser letztlich doch aus Resten und Überbleibseln zusammengezimmert. »Diese Menschen sind nicht Herren ihres Schicksals. Sie sind es, mit denen Dinge passieren. Wenn wir es ihnen sagen, wird die Warnung nichts weiter bewirken, als dass sie beunruhigt sind, und es ist ja durchaus möglich, dass überhaupt nichts geschieht.« »Es würde ihnen nur Angst machen«, sekundierte Bergold. Sein Bürgermeistergesicht tauchte plötzlich neben ihnen auf und ließ Leonora vor Schreck hochfahren. »Und wenn wir versagen, werden sie es niemals erfahren, das ist alles.« »Sie sind diejenigen, die wir retten müssen«, sagte Roan. »Und das werden wir«, sagte Leonora und reckte entschlossen das Kinn vor. »Das schwöre ich.« Auf dem nächsten Platz war ein Tisch aufgestellt worden. Er war lang genug, schätzte Roan, um der gesamten Bevölkerung der Stadt Platz zu bieten. Auf einem weißen Tischtuch waren
riesige Sträuße Immergrün um das Gedeck in der Mitte des Tisches an der Stelle aufgehäuft, an der freudestrahlende Städter im Sonntagsstaat darauf warteten, die Prinzessin zu platzieren. Ihre geschmacklichen Vorlieben waren im ganzen Königreich wohlbekannt. Das makellose Porzellan passte zwar farblich nicht so recht dazu, aber diesen kleinen Makel hatte man geschickt zu kaschieren verstanden, indem man auf jeden Teller ein Sträußchen blauer Blumen gelegt hatte. »Eure Hoheit, wenn Sie bitte hier Platz nehmen würden«, komplimentierte der Bürgermeister sie gestenreich zu dem blumenumkränzten Ehrenplatz. Er bot ihr den Arm, empfand die Geste aber im gleichen Augenblick als zu kühn und sprang wieder weg, ehe ihre Fingerspitzen ihn berührten. Mit einem Lächeln in Richtung Roan ließ Leonora den albernen Strohhut zu einem eleganten Stirnreif werden, der wunderbar zu ihrer aufgeblasenen Turmfrisur passte. Roan wurde von einer uniformierten Magd zu einem der hinteren Enden der Tafel geleitet, da die Stadtleute natürlich darauf erpicht waren, so nah bei der Prinzessin zu sitzen, wie das Protokoll es gestattete. Die Balgerei um die besten Plätze hatte zur Folge, dass die Reisegruppe beisammenblieb. Felan, der die Pakete in einer riesigen Einkaufstüte bei sich trug, wurde ans Ende der Schlange gescheucht. Er packte Roan beim Arm. »Was geht hier vor sich?«, fragte er. »Ihre Hoheit hat Hark großmütig erlaubt, sie zum Teel einzuladen«, klärte ihn Roan auf. »Aber wir müssen rasch weiter«, sagte Felan. »Ich weiß«, sagte Roan, »aber es dürfte nicht allzu lange dauern.« Ihre Gefährten fanden sie und setzten sich zu ihnen. Colenna ließ sich zwischen Bergold und Roan nieder und schaute in erwartungsvoller Vorfreude, als Bedienstete in kurzen weißen Mänteln Tee, Kaffee und Limonade aus
silbernen Karaffen einschenkten und mit silbernen Zangen Sandwiches und Backwerk austeilten. »Seht nur!«, sagte sie. »Sie servieren Ihrer Hoheit die Leckereien von goldenen Tabletts. Wie lieb von ihnen. Es ist schön, zu sehen, dass diese wunderbaren alten Bräuche noch nicht überall ausgestorben sind.« Sie nickte, als die Zange der Bedienung über einem Sahne-schnittchen, einem SchokoHimbeertörtchen und einem schneeweißen Baiser verharrte. »Wunderbar! Seht nur, welch herrliche Köstlichkeiten!« Roan ließ sich eine Tasse Tee und einen Teller voll von den kleinen Delikatessen servieren, dann warteten er und die anderen. Von der Stelle aus, an der er saß, konnte er die StadtOffiziellen nicht sehen, die es als einen Verstoß gegen die guten Manieren betrachten würden, wenn jemand vor dem Ehrengast mit dem Essen begann. Dann, allmählich, wie eine langsam ansteigende Welle, nahmen die Speisegäste einer nach dem anderen ihr Besteck zur Hand und begannen zu essen. Roan stach dankbar mit seiner Gabel in das Stück Käsekuchen auf seinem Teller und nahm einen herzhaften Bissen. Er beäugte Bergold aus dem Augenwinkel. Der Historiker ließ sich sein Zitronensorbet schmecken. »Interessant, nicht?«, sagte Bergold vorsichtig. »Höchst ungewöhnlich«, meinte Roan. Der Käsekuchen hatte nach Stampfkartoffeln geschmeckt. Er brach ein Stück von einem Croissant ab und kostete es. Es sah aus wie ein Buttercroissant, aber es hatte den unverwechselbaren Geschmack von Sodabrot. Roan und die anderen tauschten Blicke aus. In ihrem Ehrgeiz, ihren Gästen etwas Besonderes zu bieten, hatten die Bürger von Hark alles, was an Eßbarem aufzubieten war, dergestalt umgeformt, dass es das Aussehen von köstlichen Spezereien hatte, aber es hatte ihnen letztlich die Kraft gefehlt, den >Köstlichkeiten< auch den entsprechenden Geschmack mitzugeben. Colenna zuckte mit den Schultern. »Es ist ein feiner Schmaus, und sehr nett von ihnen, findet ihr nicht?«,
sagte sie und nahm sich ein weiteres Sandwich vom Tablett des ihr am nächsten stehenden Kellners. »Essen ist Essen, also was soll's?« »Ja, natürlich«, sagte Roan. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, schmeckte der Stampfkartoffelkäsekuchen gar nicht mal so schlecht; der eilige Koch hatte viel Butter und Milch für das Rezept verwendet. Der Soda-Croissant war ein bisschen dröge, was sich aber mit einem ordentlichen Schlag Konfitüre aus den Porzellanschälchen auf dem Tisch tadellos ausgleichen ließ. Die Konfitüre schmeckte tatsächlich wie Konfitüre, auch wenn es sich um ordinäre Trauben- und Apfelkonfitüre handelte und nicht um die exotischen Früchte, die die bunten Farben suggerierten. Roan rief sich noch einmal in Erinnerung, dass dies keine reiche oder mächtige Kommune war; trotzdem hatten sich die Bewohner große Mühe gemacht, um den unverhofften Gästen etwas zu bieten. Er spürte leise Gewissensbisse wegen seiner Mäkeligkeit und empfand ein Gefühl tiefer Zuneigung für diese Leute. Sie bemühten sich. Sie waren nett und freundlich. Um ihretwillen, für Menschen wie sie, unternahm er diese Anstrengung, Brom aufzuhalten. Der Gedanke löste sogleich wieder Ungeduld in ihm; aus. Sie mussten weiter. Brom und der WECKER dehnten ihren Vorsprung mit jeder Sekunde, die verstrich, weiter aus. Die anderen mussten das Gleiche gedacht haben, denn sie beendeten ihre Mahlzeit so schnell sie konnten und machten deutlich, dass sie bereit waren aufzustehen, sobald Roan das Zeichen zum Aufbruch gab. Er wollte sich gerade erheben, da gingen die Trinksprüche los. »Meine sehr verehrten Damen und Herren!«, bölkte der Bürgermeister und erhob sich mit seinem Glas in der Hand. »Sehr verehrte Damen und Herren, erheben Sie Ihre Gläser! Auf Seine Ephemere Majestät!« »Auf den König!«, riefen alle im Chor. Roan stimmte mit ein und trank aus seinem Glase. Wenigstens der Wein war echt.
»Auf Ihre Strahlende Majestät!« »Auf die Königin!«, röhrte es aus dreihundert Kehlen. »Und auf unseren illustren Gast, Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin Leonora!« »Auf Prinzessin Leonora!« Alle leerten ihr Glas und stellten es auf die weiße Tischdecke. Der Bürgermeister, dessen Pokal ebenfalls leer war, schnippte mit den Fingern und drei Kellner eilten mit Karaffen zu ihm. Jetzt erhoben sich die Mitglieder des Rates und brachten der Reihe nach ihren Toast aus, mit dem gleichen vielstimmigen Echo wie zuvor beim Stadtoberhaupt. Wenn einem der Toaster nichts Gescheites einfiel, brüllte er -oder sie - einfach: »Auf den König!« Während die Gläser zum zweiten Mal wiederaufgefüllt wurden, glitt Roan von seinem Stuhl und bahnte sich seinen Weg an der langen Tafel entlang zur Prinzessin. Der Bürgermeister und die Ratsherren und - frauen plauderten mit ihr. Roan sah Leonora lächeln und freundlich nicken, aber er konnte ihre Antworten nicht hören. Die Stadtleute, die ihnen am nächsten standen, lauschten dem Geplauder stumm und mit großen, staunenden Augen und wagten vor lauter Ehrfurcht ob der Nähe zur Thronerbin kaum zu atmen. Vielleicht lag es aber auch an Sauerstoffmangel. Als Roan sich dem Ehrenplatz näherte, schien die Luft irgendwie dünner zu werden. Als er die Prinzessin schließlich erreichte, war sie so dünn, dass er kaum noch atmen konnte. Der Bürgermeister schaute sich zu ihm um, als er neben Leonoras Stuhl niederkniete. »Ach, mein lieber Herr Bürgermeister, darf ich Ihnen Meister Roan vorstellen? Er ist der Investigator des Königs«, sagte Leonora. Roan nickte, ganz darauf konzentriert, Sauerstoff aufzunehmen, ohne ins Hecheln zu geraten. »Wie ungeheuer interessant!«, sagte Bürgermeister Georgeton, sichtlich desinteressiert an der Präsenz des Eindringlings. »Eure Hoheit, som prenoplig Venre dimal
simcot lomp ital.« Leonora lachte. »Venitre dimal midgal nomig silomp. Roan moktu Benek op Lur.« »Som Poplu vog, dewep?« Georgeton wandte sich seinem Rat zu, der weise nickte. »Wie bitte?«, fragte Roan, bestürzt darüber, dass er nicht ein Wort von dem, was sie sagten, verstehen konnte, Georgeton drückte sich absichtlich so hochgestochen aus, dass keiner, der nicht von seinem oder höherem Rang war, ihn verstehen konnte. Leonora warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Findest du nicht auch, dass es mehr Freude macht, so zu reisen, dass man das Traumland wirklich erleben kann, statt einfach den Zug zu nehmen?«, fragte sie, ganz langsam und sorgfältig artikulierend, und bemüht, ihn in das Gespräch einzubeziehen. »Ich sagte gerade, dass du während der vergangenen Jahre viele Reisen unternommen hast und dich dabei vieler unterschiedlicher Transportmittel bedient hast.« »Ja, das habe ich in der Tat«, antwortete Roan, nach Luft ringend. »Du könntest ihnen einmal erzählen, scov batiluh sminit combulon da. eno, virda?« Leonora hatte ihn erneut verloren, als sie sich umwandte, um die anderen mit einzubeziehen. »Vobla Bam dininat moper Waga.« »Somibuno«, pflichtete ihr Georgeton höflich bei. »Nun«, setzte Roan an, verzweifelt nach einer Geschichte suchend, die sie belustigen würde. »Pofi nipt Jabal!«, unterbrach ihn eine blonde Ratsherrin mittleren Alters und gab wort- und gestenreich eine eigene Anekdote zum Besten. Was sie erzählte, klang interessant, und Roan mühte sich, sie zu verstehen. Er hatte das Gefühl, als müsse er lediglich seine Wahrnehmung seitwärts richten und schon würde der Wortwirrwarr sich klären. Außerdem spürte er
jedesmal, wenn er Luft holte, ein Stechen in der Seite, eine Folge des Sauerstoffmangels. Er befürchtete, wenn er irgendjemandem eine ausführlichere Antwort geben musste, würde ihm schwarz vor Augen werden. Er stand auf, um sich wieder zu entfernen. Die Prinzessin legte eine Hand auf seinen Arm. »Sami peh«, sagte sie in flehendem Ton. Er verstand die Worte nicht, aber ihre Bedeutung war klar. Geh nicht weg. Mit einem Seufzen hockte er sich wieder hin. »Roan!« Er vernahm einen Ruf vom Rande des Platzes und stand auf. Misha und seine zwei Begleiter kamen mit wehenden Rockschößen auf ihren Rädern herangeprescht. Der junge Mann, mit hochrotem Kopf und völlig außer Atem, sprang noch im Fahren von seinem Rad und bremste es im Laufen ab, bis er neben dem Tisch zum Stehen kam. Roan zog ihn beiseite und bedeutete ihm mit einer Geste, leise zu sprechen. »Wir haben die Stelle gefunden, an der sie die Stadt verlassen haben«, japste Misha schweratmend und seine langen Beine knickten fast unter ihm weg. Leonora beobachtete die beiden von ihrem Platz an der Tafel. Ihre Augenbrauen telegrafierten die Frage: »Was ist passiert?« Roan hob die Hand, um ihr zu signalisieren, sie möge noch einen Augenblick warten. »Wir sollten uns sputen und uns schnell wieder auf den Weg machen, bevor er erneut zu wandern anfängt. Es ist ein sehr aktiver Weg. Er ist überall zu finden. Er führt nach Norden.« »Bist du sicher, dass es ihre Fährte ist?« »Ja, Sir«, antwortete Lum für Misha. »Sie haben die Eisenbahngleise gekreuzt, Sir.« »Wie können Sie das wissen?«, fragte Roan, neugierig geworden. »Das mit dem >Kreuzen< ist wortwörtlich zu verstehen«,
sagte Misha. »Die eine Schiene liegt über der anderen wie ein X.« »Der WECKER entstellt die Natur immer mehr, je weiter sie gehen«, sagte Roan. »Ich hole die anderen.« Aber ihre Gefährten am Ende des Tisches hatten den Voraustrupp bereits kommen sehen und waren sofort zu ihm geeilt. Auch Spar hatte die Späher von seinem Ende der Hauptstraße aus gesehen und die Rösser heruntergeführt, um zu ihnen zu stoßen. Roan nahm einen tiefen Atemzug und ging zurück in die luftfreie Zone im Bereich der Prinzessin. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung vor dem Bürgermeister und den Ratsmitgliedern. »Eure Hoheit, womit kann ich dienen?« Leonora telegrafierte eine Frage mit den Augenbrauen und Roan nickte, den Kopf zurück in Richtung Misha neigend. Sie blickte zu ihnen hinüber, dann wandte sie sich dem Bürgermeister zu und streckte ihm die Hand hin. »Mein Herr, es war mir eine Ehre, dies Geschenk der Gastfreundschaft und Freundlichkeit von Ihnen entgegennehmen zu dürfen. Es war eine höchst willkommene Unterbrechung unserer Reise. Ich fühle mich erfrischt. Ich hoffe sehr, eines Tages wiederkommen zu können.« Der Bürgermeister und die anderen rappelten sich hastig auf, als Leonora sich von ihrem Platz erhob. Die übrigen Stadtbewohner standen in einer nach außen schwappenden Wellenbewegung von ihren Plätzen auf. »Eure Hoheit, wir sind es, die sich geehrt fühlen«, sagte Georgeton und strahlte sie an, nicht ohne jedoch vorher einen wehmütigen Blick auf Roan zu werfen. Er beugte sich über ihre Hand. »Ich danke Ihnen, dass Sie uns diese Chance gegeben haben, unsere Wertschätzung für Sie und Ihren königlichen Herrn Vater zu zeigen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch ein bisschen länger bei uns verweilen können? Wir
hätten da noch ein paar weitere Toasts, die wir gerne auf Sie ausbringen würden.« »Nein!«, sagte Leonora entschieden und zog ihre Hand zurück. »Vielen Dank. Leben Sie wohl.« »Und darf ich sagen«, fragte Roan, während er dem Bürgermeister die Hand schüttelte, »dass es schmati gobbeldiguck binreeta?« »Was?«, fragte einer der Ratsherren. »Was hat er gesagt?« Mit einem königlichen Lächeln gestattete Leonora Roan, sie zu Golden Schwinn zu geleiten und ihr beim Aufsitzen zu helfen. »Auf Wiedersehen!«, rief Georgeton und winkte ihnen mit seinem Taschentuch hinterher, als sie vom Platz ritten. »Auf Wiedersehen!«, riefen die Stadtbewohner. »Süße Träume!« »Passt gut auf euch auf!« »Lasst euch nicht von den Wanzen beißen!« »Ich wünschte, es wären bloß Wanzen«, seufzte Bergold. »Warum war Misha so aufgeregt?«, fragte Leonora Roan leise, während sie durch die verlassenen Straßen neben ihm her rollte. Sobald sie den Blicken der Harkianer entschwunden war, teilte sie ihre lästige Kluft in eine lange, leichte Hose aus glänzend weißer Seide und entledigte sich der lästigen Turnüre. Den Stirnreif ließ sie so, wie er war, und um Roans Blumenstrauß schlang sie ein Bändchen, sodass sie ihn am Ärmel tragen konnte. »Sie werden es gleich sehen, Eure Hoheit«, sagte Misha, der hinter ihnen ritt. »Da, schauen Sie!« Baken und eine geöffnete Schranke markierten die Stelle, an der die Eisenbahngleise die Straße kreuzten, die aus der Stadt führte. Der Bahnhofsvorsteher, ein hagerer alter Mann in einem blauen Uniformrock stand inmitten des Unkrauts, die Uniformmütze in der Hand, und kratzte sich den Kopf,
während er auf die Gleise zu seinen Füßen starrte. »Ich habe das Signal auf Rot gestellt«, sagte er, als Roan und die anderen ihre Fahrräder neben ihm abbremsten. »Das wird den Fahrplan völlig über den Haufen werfen.« Roan stieg vom Rad, um sich den Schlamassel näher anzuschauen. Wie Misha gesagt hatte, lag eines der Gleise über dem anderen. Das Metall war glatt und wies keinerlei Spuren von Werkzeugen auf. Alles sah vollkommen normal aus, nur dass die Schienen halt über Kreuz lagen, ohne den geringsten Hinweis darauf, wie es dazu gekommen war. »Der WECKER«, flüsterte Bergold Roan zu. »Unglaublich!« »Gibt es weiter oben auf der Strecke eine weitere Verschlingung?«, fragte Roan. »Nein, nur diese eine hier, mein Junge«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Ich habe die Strecke in beide Richtungen eine Meile abgeschritten. Zum Glück gibt es nur diese eine Verschlingung. Meine Männer können das wieder in Ordnung bringen, sobald sie aus der Stadt zurück sind. Sie haben sich einfach davongemacht, um mit den anderen an dem Festschmaus zu Ehren der Prinzessin teilzunehmen - oh, hallo, Eure Hoheit!«, sagte er und machte eine halbe Verbeugung. »Wissen Sie, das ist ja alles schön und gut, Bankette und königlicher Besuch, aber die Züge müssen pünktlich sein.« »Funktioniert die Nachrichtenübermittlung denn noch?«, fragte Leonora mit einem besorgten Blick auf die verdrehten Schienen. »Bitte senden Sie eine Botschaft an meinen Vater, den König. Er wird Ihnen Techniker schicken, die Ihnen helfen.« »Das kriegen wir schon selbst wieder hin, Kindchen«, sagte der Mann mit einem väterlichen Lächeln. »Wir werden mit Veränderung fertig. Sie liegt halt in der Natur der Dinge.« »So ist es«, sagte Colenna mit beifälligem Nicken.
»Es gibt also nichts, worum Sie sich kümmern müssten, Eure Hoheit«, sagte der Bahnhofsvorsteher und lächelte sie väterlich an. »Aber es ist nett von Ihnen, dass Sie solchen Anteil nehmen.« »Es ist unsere Pflicht«, sagte Leonora. »Aber falls Sie doch Hilfe brauchen sollten, zögern Sie nicht, uns zu bitten.« »Ich ... habe schon von Eurer Hoheits Vater gehört«, sagte der Bahnhofsvorsteher mit einem forschenden Blick auf Leonora. »Wir erhielten eine Botschaft mit allen Arten von Einzelheiten, gestern Abend schon. Soll ich ihm sagen, dass ich Sie gesehen habe, Hoheit?« »Sagen Sie ihm nur, dass ich wohlauf bin«, sagte sie, während sie sich hastig abwandte und Spar einen vielsagenden Blick zuwarf. Der Hauptmann der Garde nahm seinen Platz als Kopf der Gruppe ein. »Danke für Ihre Dienste.« Der Bahnhofsvorsteher machte eine tiefe Verbeugung vor ihrem Rücken. »Du hast deinem Vater nicht gesagt, dass du gehst, stimmt's?«, fragte Roan, als sie über die Gleise ritten. »Jetzt weiß er's eben«, erwiderte Leonora ziemlich kurzangebunden. »Wichtig ist doch, dass ich helfe, eine Bedrohung abzuwenden und unsere Heimat zu retten.« Und das ist es, dachte Roan. Der Augenblick markierte auch für ihn eine Entscheidung. Wenn er sie nach Hause zurückschicken wollte, dann wäre dies der richtige Zeitpunkt gewesen. Er hätte sie sicher und wohlbehütet hier in Hark auf den nächsten Zug warten lassen können - wann immer der auch gekommen wäre. Alle Eisenbahnlinien führten nach Mnemosyne. Doch er wusste, er konnte sie nicht zwingen zurückzukehren. Trotzdem machte er sich noch immer Sorgen, dass er sie unnötig gefährdete. Sein Gewissen quälte ihn. Wenn er auch nur einen Funken Vernunft hatte, hätte er sie bitten müssen, hier auf den nächsten Zug
nach Hause zu warten. Georgeton wäre entzückt gewesen, sie in seine Obhut zu nehmen, und hätte sie im größten Stil beherbergt und bewirtet, dessen seine kleine Stadt fähig war. Doch dann wieder sah er ein, dass für Leonora ebenso viel auf dem Spiel stand wie für jeden anderen. Sein Dilemma blieb ungelöst. Sie saß schweigend auf dem ungefügen und unbequemen Hochrad und starrte geradeaus vor sich hin, während Spar sie aus der Stadt geleitete. Sie blinzelte nicht ein einziges Mal mit den Augen, bis Roan sie schließlich aus ihren Träumen riss. »Hat es dir gut gefallen in Hark?«, fragte er. Sie blinzelte und schrak hoch. »O ja. Ja, es hat mir gut gefallen. Die Leute dort waren sehr nett, nicht wahr?« »Sie waren ganz versessen auf dich«, sagte Roan. Sie wandte den Blick zu ihm. Ihre Augen waren groß und sorgenvoll. »Wir müssen sie beschützen, Roan. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie schrecklich es wäre, wenn sie alle ... weggehen würden. Wir müssen Brom aufhalten.« »Das versuchen wir«, versicherte Roan ihr. »Wir werden alles tun, was wir können, um ihn aufzuhalten.«
14. KAPITEL Gleich hinter der Stadtgrenze von Hark verbreiterte sich die Straße zu zwei großzügigen Spuren. Nach den schmalen Waldpfaden und Stadtstraßen genossen Roan und die anderen es, sie in ihrer ganzen Breite auszunutzen und sich endlich einmal gegenseitig ausreichend Platz lassen zu können. Schon nach hundert Schritten verwandelten sich die Hochräder wieder. Roan hielt jäh mit dem Strampeln inne, als Cruiser sich einmal mehr als prächtiges Ross manifestierte und mit lautem Wiehern dagegen protestierte, dass Roan ihm mit seinen Stiefeln an den Flanken entlangschrammte. »Ah!«, rief Bergold und machte es sich glücklich im Sattel seines pink und grau gescheckten Palominos bequem. »Jetzt können wir einen kräftigen Zahn zulegen!« Die Pferde waren glücklich, nach der drangvollen Enge der Stadt endlich wieder Platz zu haben und ihre Beine einmal so richtig strecken zu können. Mishas verspieltes Tier ließ seine Beine ganz lang werden und preschte mit zwei langen, spinnenartigen Sätzen nach vorn, weit vor die ändern. Die seltsame Gangart erschreckte Colennas Mähre, die in einen wilden Galopp fiel und mit ihr durchging. Sie stürmte an dem jungen Kontinuitor vorbei und jagte davon. »Huu-aaah!«, schrie Colenna und zerrte verzweifelt an den Zügeln. »Halt! Stop!«, schrie Misha und ließ die Zügel schießen, um die Verfolgung aufzunehmen. Aber offenbar fand sein Ross, dass es die Beine genug ausgestreckt hatte, und verwandelte sich in einen hölzernen Sägebock. Misha suchte verzweifelt nach einem Halt, aber er fand keinen und flog im hohen Bogen über den Kopf des Pferdes und landete im Dreck. Das Pferd wieherte vor Lachen. Als Spar und Roan an ihm vorbeiritten,
stand er auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern, mit einem Blick, der nichts Gutes für sein Ross verhieß. Die beiden Männer trieben ihre Rösser an, um Colenna einzuholen, die weit vor ihnen in einer Staubwolke verschwand. Ein Stück vor ihr konnte Roan eine Kurve ausmachen. Bäume verhinderten die Sicht auf das Terrain dahinter. Es konnten Steine sein oder ein Sumpf oder eine Felsenklippe, hinter der niemand etwas träumte. Die alte Dame verlor ihren Strohhut, und ihr langes Haar wehte hinter ihr her, bei jedem Galoppsprung auf und ab wippend. Roan spornte Cruiser zu höchstem Tempo an. Schließlich holte er Colenna ein. Als er neben ihr dahinjagte, eine Kopflänge vor ihr, fiel er der Mähre in die Zügel. Gleichzeitig bremste er Cruiser langsam ab. Der durchgegangene Gaul fiel erst in Trab, dann in Schritt, heftig prustend und schnaubend. Die alte Frau hing über die Mähne geduckt und lachte. Ihr Gesicht war jetzt um Jahrzehnte jünger als ihr silbergraues Haar. »Meine Träume, das fühlte sich aber gut an!«, sagte Colenna und richtete sich auf, als die Stute schweratmend stehenblieb. »Sie hätten sich den Hals brechen können!«, knurrte Spar, und Roan begriff, dass er sich persönlich um Colennas Sicherheit sorgte. »Oh, mir geht es prächtig«, sagte sie, spielerisch den Arm des Hauptmanns der Garde tätschelnd. Er grunzte und wandte hastig den Blick ab. Colenna schüttelte den Kopf und flocht sich das Haar wieder zum Zopf. Erleichtert, dass sie nicht in Gefahr war, sah Roan sich die Straße an. Sie war gut gebaut, mit einem Bett aus Steinen, das von einer Schicht gesiebten Kieses bedeckt war, und verlief über Meilen unter einer Arkade von weit auseinander stehenden Bäumen. Ein Stück voraus kreuzte eine weitere, ganz ähnliche Allee die ihre im rechten Winkel. Die restlichen Reiter schlossen jetzt zu ihnen auf. Misha hatte Colennas Hut geborgen und überreichte ihn ihr mit einer galanten
Verbeugung. »Vielen Dank, mein Lieber«, sagte Colenna und setzte ihn sich wieder auf. »Tut mir Leid, euch allen einen solchen Schreck eingejagt zu haben, aber ihr müsst zugeben, diese Allee eignet sich hervorragend für ein Rennen.« »Ich dachte wirklich, Sie brächen sich den Hals«, sagte Leonora. »Die doch nicht«, sagte Felan düster. »Eher wären wir vor Angst gestorben.« »Es ist nett, dass ihr euch so um mich sorgt«, sagte Colenna ohne eine Spur von Sarkasmus in der Stimme. Felan schaute verdutzt drein, dann wendete er hastig sein Ross und ritt zurück ans Ende der Reihe. Colenna schaute ihm lächelnd nach und trabte dann friedlich an der Seite Spars zu der Kreuzung. »Korporal! Welchen Weg?«, bellte Spar. Lum kam nach vorn geritten und schwang sich aus dem Sattel, um die Straße in Augenschein zu nehmen. Roan bewunderte sein Orientierungsgeschick; auf Fuß oder Reifenabdrücke konnten sie auf der festgewalzten Kiesdecke nicht hoffen. Lums Brauner tänzelte nervös am Ende seiner Zügel. Der Korporal der Garde spähte in beide Richtungen und schüttelte den Kopf. »Es ist noch immer derselbe Weg, Sir«, sagte er. »Die Verwirrung geht nur voraus.« »Die Verwirrung ist überall, wenn Sie mich fragen«, sagte Felan leise. »Sie sind nicht seitlich abgebogen?«, fragte Roan, die Allee hinunter spähend. »Nein, Sir! Wir haben eine hübsche klare Fährte, der wir folgen können«, beharrte Lum. »Sie sind auf dieser Straße hier. Sie brauchen eine gute Straße für ihre schwere Last.«
»Also weiter dann«, sagte Roan. Spar schnalzte mit der Zunge und sein Pferd trabte voran. Von neuer Zuversicht erfüllt, ritten sie weiter, die schönen grasbewachsenen Hügel und Senken bewundernd. Die Allee wurde noch breiter, aber auch kurvig und bald konnten sie nicht mehr weit vorausschauen. Die Bäume wurden kleiner und spärlicher. »Wrrroooooawwww!« Die Pferde tanzten und scheuten, als ein riesiges schwarzes Automobil aus der Kurve vor ihnen gerast kam und geradewegs auf sie zuhielt. Roan griff geistesgegenwärtig in Golden Schwinns Zügel und zog Leonora gerade noch rechtzeitig von der Straße, als das Auto vorbeiraste, schwarzen Qualm aus dem Auspuff speiend. »Da hat's aber jemand verdammt eilig!«, sagte Alette wütend. Sie hatte wieder weibliche Gestalt angenommen, als sie Hark verlassen hatten, ihre Uniform aber anbehalten. Der zweireihige Wollmantel mit seinen silbernen Knöpfen stand ihr sehr gut. »Wenn von denen zu viele unterwegs sind, sollten wir besser runter von der Straße, Herr Hauptmann.« »Lasst uns weiterreiten«, sagte Bergold und lenkte sein Pferd zurück auf die Straße, deren Belag jetzt aus schwarzem Asphalt bestand, »sonst haben wir keine Chance, Brom noch vor Einbruch der Dunkelheit einzuholen.« »Keine Sorge«, sagte Lum. »Das schaffen wir schon, auf dieser vorzüglichen Straße.« Das Klapperdiklapp der Hufe war ein friedlicher Klang unter dem klaren, vogelreichen Himmel. Die Straße blieb nicht nur asphaltiert, sondern wurde sogar noch breiter. Ein weißer Streifen lief durch die Mitte jeder Seite und teilte die bisherigen zwei Spuren in deren vier. Statt wie bisher in Zweierreihe reiten zu müssen, konnte die Gruppe jetzt nach Belieben die ganze Breite der Straße ausnutzen. Als Misha ein
Witz einfiel, den er der Prinzessin erzählen wollte, konnte er einfach zu ihr an ihre Seite reiten, ohne Roan in den Graben abdrängen zu müssen. Nur Spar und Colenna trabten, ohne irgendjemandem von den anderen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, weiter Seite an Seite an der Spitze des Pulks. Roan sah keine Notwendigkeit, sie zu stören. Sie kamen zügig voran. » Wrooooaaaaw!« Beim Geräusch eines weiteren, diesmal von hinten nahenden, Automobiles, gab Roan jedem das Zeichen, auf das Bankett der Straße auszuweichen. Ein kleiner grauer Wagen schoss an ihnen vorbei und verschwand hinter dem Hügel. »Tüüüüüütüüüüüt!«, machte seine Hupe, als er vorbeifuhr. Gerade als Roan sie wieder auf den Macadam zurückwinken wollte, kam ein weiteres Automobil, ein rotes diesmal, laut hupend an ihnen vorbeigesaust. Unmittelbar danach fuhren drei Fahrzeuge, ein blaues, ein rotes und ein grünes, ihnen Seite an Seite auf der anderen Seite der Straße entgegen, die sich dienstbeflissen eiligst auf sechs Spuren verbreiterte. Aus beiden Richtungen kamen jetzt Autos, erst vereinzelt, dann in dichter Folge, bis sie alle Spuren füllten und Roan und seine Gruppe von der Fahrbahn drängten. Die Pferde kauerten sich ängstlich auf dem Kiesbankett zusammen, als schließlich Tausende von PKWs und Lastkraftwagen in einer ununterbrochenen Schlange in beide Richtungen unablässig an ihnen vorbeidonnerten. Ein schriller Hupton ließ Roan zusammenfahren. Cruiser bockte unter ihm und er konnte ihn nur mit großer Mühe unter Kontrolle bringen. Golden Schwinn war ganz von der Straße geflüchtet, und sie mussten mit Engelszungen auf ihn einreden, um ihn aus dem flachen Graben neben der Straße wieder zurück auf das Bankett zu locken. Roan ließ Leonora am äußeren Rand des Banketts reiten und schob sich und sein Reittier zwischen sie und die vorüberdonnernden Stahlkästen. Spar und seine Soldaten schirmten derweil die anderen gegen
den Verkehrsstrom ab. »Ist das ein Ärgernis?«, schrie Roan über den Motorenlärm hinweg zu Bergold hinüber. »Nein«, schrie der Historiker zurück. Er schob die Schutzbrille hoch, die jetzt seine Augen bedeckte. Sein Mantel hatte sich in einen langen weißen Wischlappen umgewandelt und er trug eine Kappe mit einer breiten Spitze an der Vorderseite und einem Schleier für die Nackenpartie. »Dies ist eine Vision aus der Wachwelt. Sie ist real. Man nennt es Verkehr. Es scheint ein allenthalben wachsendes Phänomen zu sein!« »Scheußlich!«, rief die Prinzessin. Roan starrte auf das bestürzende Spektakel endloser Autokolonnen, die stinkenden Qualm in die Luft pusteten und mit ihren Motoren einen unglaublichen Lärm erzeugten. Spar beorderte die fast schon panisch werdenden Pferde in eine Zweierreihe und geleitete sie nordwärts, sich am äußersten Rand des Banketts haltend. Autos fauchten und hupten sie wütend an. Die Pferde scheuten und bockten und zeigten das Weiße in ihren Augen. Roan fand, dass ihre Reiter genauso bange dreinblickten. Sie ritten voller Unbehagen neben dem gefährlichen Strom aus Stahl. Roan wurde Zeuge Hunderter Beinahe-Unfälle, wo die übelgelaunten Vehikel mit quietschenden Reifen beschleunigten, um einander auf einer einzigen engen Spur zu überholen. Ein tiefergelegtes rotes Fahrzeug mit getönten Scheiben, die so dunkel waren, dass man von außen nicht hineinschauen konnte, röhrte an ihnen vorbei, fuhr auf ein anderes Fahrzeug auf und geriet ins Schleudern. Es drehte sich, rutschte von der Fahrbahn und kam wenige Schritte vor Spar zum Stehen, mit der Schnauze in seine Richtung weisend. Seine Scheinwerfer starrten sie mit irrem Blick an und Dampf zischte links und rechts aus den Radkästen der Vorderräder. Es
ließ seinen Motor zwei, dreimal aufheulen. Es hatte vor, sie zu überrollen! Roan stürmte vorwärts, seinen Schlagstock aus dem roten Allzweckmesser ausklappend, um sich schützend zwischen das metallne Monstrum und die Prinzessin zu werfen. »Tretet zurück!«, schrie er. Die Soldaten und ihr Hauptmann gingen links und rechts neben ihm mit gezückten Schwertern in Kampfstellung, als das Auto mit durchdrehenden Hinterrädern beschleunigte und auf sie zuraste. Sein von dem Aufprall beschädigter Kühlergrill grinste sie mit einem verzerrten Totenkopflächeln an. Aus dem Nirgendwo hörte Roan plötzlich eine Trompete zum Angriff blasen. Er wappnete sich gegen den Zusammenprall, wild entschlossen, dem Monstrum den grinsenden Kühlergrill einzuschlagen. Er wusste, dass die Bestie seinen Stock in Splitter zermalmen konnte. Er wünschte, er hätte irgendeine formidablere Waffe, aber er war nicht gewohnt, eine tragen zu müssen. Sekunden bevor es sie gerammt hätte, zog das rote Monstrum scharf nach rechts und drängelte sich zurück in den Verkehrsstrom. »Puuuh!«, pfiff Lum. Er blies die Flammen an seinem Schwert aus und schob es in die Scheide zurück. »Ich dachte schon, wir müssten es mit der Waffe in der Hand zurückschlagen.« »Schade, dass wir keine Automobile haben«, sagte Felan mit neidvollem Blick auf den endlosen Fahrzeugstrom zu seiner Linken. »Dann könnten wir die Meilen richtiggehend fressen. Können wir das nicht irgendwie bewerkstelligen?« »Ausgezeichnete Idee!«, lobte Bergold. »Wir können's versuchen.« Roan dachte an den weißen Sportwagen, mit dem der Bote des Königs zum Schloss der Träume gekommen war, und versuchte, Cruiser durch schiere Willensanstrengung in eine
ähnliche Form zu bringen. Er konzentrierte sich voll, dachte an Breitreifen, Sportfelgen und Fünfganggetriebe anstelle von Hufeisen und Muskeln. Die Gestalt des Rosses schwankte und pendelte zwischen Tier und Maschine. Roan ließ sich tatsächlich für einen kurzen Augenblick in einen Schalensitz sinken, ehe Cruiser entschlossen wieder Tiergestalt annahm. Er wandte den Kopf über die Schulter und sah seinen Herrn mit vorwurfsvollem Blick an. »Ich kann's nicht«, sagte Roan. »Das Paradigma ist außerhalb meiner Kräfte. Hat irgendeiner von euch mehr Erfolg?« Die anderen schüttelten den Kopf. Das einzige, was passiert war, war, dass die Uniformen der Gardisten sich in Khakijacken und -hosen verwandelt hatten und an ihren Schwertgürteln plötzlich alle Arten von mysteriösen kleinen Beuteln und Taschen aus Leder und Stoff hingen. Roan war fasziniert von der runden blauen Kuppel, die ihre Sattelhörner ersetzte. »Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass wir nur langsam vorankommen«, sagte Bergold. »Haltet nur alle wachsam die Augen offen.« Und Roan hielt die Augen offen. Er wurde Zeuge von zwei weiteren Beinahe-Auffahrunfällen, etwa einem Dutzend kleinerer Kollisionen mit geringen Blechschäden und noch einem >Abflug<, der damit endete, dass das Fahrzeug auf dem Dach liegend im Straßengraben endete. Gleichwohl gab es in dem ganzen Chaos aber auch so etwas wie Regeln. Ihm fiel auf, dass sich der Verkehr auf der ihnen abgewandten Fahrspur schneller vorwärtsbewegte als auf der Spur zu ihrer Linken. Was, wenn es ihnen gelang, auf die schnellere Spur zu kommen? Wenn sie ganz vorsichtig und behutsam waren, konnte das ihr Vorwärtskommen erheblich beschleunigen, und ihre Chancen, Brom doch noch einzuholen, würden wieder steigen. Er legte seine Überlegungen den anderen dar. Die reagierten
mit blankem Entsetzen. »Sie sind verrückt«, sagte Felan und blickte einem Sportwagen hinterher, der in diesem Augenblick mit einem Affenzahn an ihnen vorbeiröhrte. »Wir würden alle umkommen.« »Ich will es versuchen, Hauptmann Spar, Sir«, bot sich Hutchings als Versuchskaninchen an. Als sein Vorgesetzter ihm mit einer Handbewegung die Erlaubnis erteilte, ließ Hutchings sein Ross einmal im Kreis tänzeln und begann neben dem Fahrzeugstrom herzutraben. Zu seiner Überraschung begann das blaue Sattelhorn zu blinken und zu rotieren. Hutchings beobachtete aufmerksam den Verkehrsstrom zu seiner Linken. Als wieder einmal zwei Fahrzeuge nur um Haaresbreite einen Auffahrunfall vermieden, nutzte er entschlossen die dadurch entstandene Lücke, spornte sein Pferd zu schnellerer Gangart an und stieß in die Lücke. Das Pferd fiel in Galopp. Die Fahrzeuge schienen das rotierende blaue Licht zu respektieren und drosselten für den Sekundenbruchteil, den das Pferd zum Beschleunigen benötigte, ihr Tempo. Auf wundersame Weise hielt das Pferd mit dem Verkehrsstrom mit, der sich um ein Vielfaches schneller vorwärtsbewegte, als selbst ein Rennpferd es im gestreckten Galopp vermocht hätte. »Es funktioniert!«, schrie Hutchings. »Dann kommt!«, rief Roan. Er spornte Cruiser zum Galopp an und sprengte vorwärts, bis er Seite an Seite mit Hutchings war. Der Gardist lenkte sein ROSS ein Stück zur Seite und nahm ein wenig Tempo heraus, um Cruiser Gelegenheit zu geben, sich vor ihm in den Verkehrsstrom einzufädeln. Das hatte zwar ein wildes Hupkonzert zur Folge, aber alle Fahrzeuge hielten sich brav hinter Hutchings' rotierendem Blaulicht. Einer nach dem anderen fädelten sich jetzt auch die anderen ein. Leonora spornte Golden Schwinn zu höchstem Tempo an und scherte vor allen anderen in die Fahrspur ein, eine beachtliche Lücke zwischen sich und dem
vorausfahrenden Fahrzeug offen lassend. Sofort stieß ein großes Automobil von der Überholspur in diese Lücke und schnitt sie dabei so scharf, dass es fast die blitzenden Hufe des goldenen Rosses rasierte. Schwinn scheute und wieherte vor Schreck und Entsetzen. »Keine Angst zeigen!«, rief Roan von hinten und kam an ihre Seite galoppiert. Da sie schmaler waren als die Autos, waren die Pferde auf der Schnellstraße leichter zu manövrieren. »Keine Angst zeigen. Schau ihnen nicht in die Lampen und sie werden dich nicht herausfordern. Bleib immer dich hinter dem Vordermann! Und halt die Augen offen, ob du irgendwo Brom siehst!« Sie galoppierten weiter. Roan freute sich, dass seine Hypothese korrekt gewesen war. Die Landschaft schien förmlich an ihnen vorbeizufliegen. Er ließ den anderen eine kleine Verschnaufpause, damit sie sich an den Lärm gewöhnen konnten und an die Erschütterungen, denen sie durch die schnelle Gangart ausgesetzt waren. »Und jetzt zum Überholen auf die linke Spur!«, schrie er und gab Hutchings ein Zeichen, nach links auszuscheren. Unter Anwendung der gleichen Taktik schafften sie es, sich über die mittlere Spur auf die äußere Überholspur zu manövrieren. In rasantem Tempo zogen sie jetzt an einem Wagen nach dem anderen vorbei, obwohl sie lediglich in ganz gewöhnlichem Trab ritten. » Wrrrooooaaaaawww!« Ein gewaltiges Röhren, lauter als jedes andere Motorengeräusch, das sie bisher gehört hatten, nahte von hinten, als sich die Straße auf acht Spuren verbreiterte. Es stammte von einem riesenhaften, vielrädrigen Fahrzeugkoloss. Er tauchte urplötzlich rechts von ihnen auf, turmhoch über ihren Köpfen aufragend und scherte vor Cruiser und Schwinn auf die äußerste Überholspur ein. Der Koloss spie schwarze Qualmwolken aus einem langen Schlot, der neben dem Fahrerhaus befestigt war, und hüllte die Reiter in eine dichte
Wolke aus schmierigem, übelriechendem Ruß. Alle husteten und blinzelten sich die Tränen aus den Augen. Spar stieß eine wilde Verwünschung aus, so wild, dass er eine Schleppe blauen Rauches hinter sich her zog. Weitere Lastwagen tauchten auf, füllten die Spur gleich neben Roan und zogen scharf nach links herüber auf die schnellste Spur, rücksichtslos die dahinjagenden Pferde schneidend, selbst die, die mit blauem Licht geschmückt waren. Roan spürte, dass sie einer neuen Bedrohung ausgesetzt waren. Der Graben neben der Straße schien zu steil, als dass sie in ihn hätten hinunterreiten können und das Bankett war aus hartem Beton. Wenn sie die Spur verließen, würden sie weiterrasen müssen, um die Tiere vor einem - aller Wahrscheinlichkeit nach tödlichen - Sturz zu bewahren. Der Lärm war überwältigend und der Qualm raubte ihm den Atem. »Ich ... kann ... nicht mehr«, presste Leonora unter bellendem Husten hervor. Sie hatte sich einen Schleier über das Gesicht gezogen, um sich vor dem Qualm zu schützen - doch die Luft war voll davon. »Wir müssen aber«, schrie Roan über den Lärm hinweg, ebenfalls hustend. »Wir gehen runter, sowie es irgendmöglich ist.« Er machte sich eine Gasmaske, die ihm zwar, ungefügig, wie sie war, ständig gegen die Brust schlug und seine Sicht behinderte, aber wenigstens die schädlichen Abgase aus der Luft herausfilterte. Vor ihnen stieg das Terrain neben der Schnellstraße jetzt an, um dann auf beiden Seiten jäh abzufallen, während sich gleichzeitig das Geläuf unter den Hufen der Rösser von dumpf widerhallendem Asphalt zu metallisch klirrendem Gitterwerk veränderte. Roan konnte nur ganz kurze, hastige Blicke nach unten werfen, aber was er sah, reichte aus, um zu wissen, dass sie eine Brücke überquerten. Er schaute durch das Gittergeflecht unter Cruisers Hufen nach unten und fühlte, wie sein Magen tausend Fuß tief fiel. Ein Fluss, ein winziger blauer
Faden, schlängelte sich auf dem Grunde einer tiefen Schlucht dahin. Es war der mächtige Lullay auf seiner ersten Spirale um das Traumland herum. Er sah aus dieser Höhe täuschend schmal aus. Sie verließen Celestia und kamen in die Nordostprovinz Wocabaht. Sie hatten ein großes Stück auf diesem schnellen Highway zurückgelegt. Hark hatte auf zwei Dritteln der Strecke von Mnemosyne bis zur Grenze gelegen. Als Roan erneut hinunter in die Tiefe blickte, bekam er plötzlich das schreckliche Gefühl, er könnte fallen. Je mehr er darüber nachsann, desto weicher und schwammiger wurde das Gittergeflecht unter Cruisers Hufen. Das dünne, wacklige Drahtgeflecht konnte jeden Augenblick nachgeben! Roan zwang sich dazu, aufzuhören, sich vor dem Fallen zu fürchten. Die anderen würden sonst womöglich durch das Loch fallen, das er erzeugte. Er durfte nicht zulassen, dass seine Furcht einen Unfall verursachte. Das Gitterwerk ist fest und solide, redete er sich ein. Fest und solide! Er hielt den Blick starr nach vorn gerichtet und weigerte sich standhaft, nach unten zu schauen. Er atmete erleichtert auf, als das Geläuf wieder anstieg und das Gitterwerk festem Macadam wich. Sobald sie die Brücke hinter sich gelassen hatten, tauchten wieder Pflanzen und Bäume am Straßenrand auf. Das Laub färbte sich rot und braun, in scharfem Kontrast zu dem frischen, leuchtenden Grün, das sie eben noch begleitet hatte. Roan verdickte seinen Mantel gegen die plötzliche Kälte, und ihm fiel auf, dass die Kleidung der anderen sich ebenfalls den neuen klimatischen Bedingungen anpasste, kaum dass sie die Brücke überquert hatten. Er war seit Jahren nicht mehr in Wocabaht gewesen. Die Temperatur hier war niedriger, weil die Jahreszeiten in umgekehrter Reihenfolge zu denen in den anderen sechs Provinzen abliefen, was bedeutete, dass hier bereits fast Winter herrschte. Die Historiker konnten sich auf keine gemeinsame
Erklärung für dieses Phänomen einigen, außer der nicht gerade sonderlich originellen, dass jeder Schläfer halt ein Individuum war und dass der Schläfer, der Wocabaht träumte, eben noch ein Stück individualistischer war als die anderen. Die Abgase, die aus den rülpsenden Auspuffrohren der Autos quollen, verwandelten sich in der kalten Luft in graue Wolken. Plötzlich erscholl hinter ihnen ein gewaltiges Dröhnen, lauter als alles, was sie bisher gehört hatten. Erschreckt drehte Roan sich um - und starrte mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Ein einzelnes Vehikel kam von hinten herangedonnert, aber was für eins! Seine gigantischen schwarzen Räder waren jedes für sich genommen breiter als eine ganze Spur und die mit einem silberglänzenden Grill bewehrte Frontpartie nahm die restliche Straße ein. Es kam mit verblüffender Geschwindigkeit auf sie zugerast. Statt dem Monstrum auszuweichen, ignorierten die anderen Autos und LKWs es. Sie rangelten unverdrossen weiter um die Positionen, hupend und drängelnd, mit wütend brüllenden Motoren und grell dräuenden Scheinwerferbatterien. Das Monstrum walzte einfach über sie hinweg, und wo es hergefahren war, blieb nichts zurück. »Schnell dort rüber!«, schrie Roan, auf die langsameren Spuren deutend. »Beeilt euch! Runter von der Straße!« Lum, Hutchings, Alette und Spar warfen sich in die Spur rechts neben ihnen, eine Barriere aus blinkenden blauen Lichtern formend, um den anderen einen sicheren Spurwechsel zu ermöglichen. Die Straßenmaschine kam immer näher. Roan wartete, bis Colenna, Bergold, Misha, Felan und Leonora auf den mittleren Fahrstreifen hinübergewechselt waren, bevor er die äußere Überholspur den donnernden Lastkraftwagen überließ. Einer nach dem anderen wechselten sie die Spur, oft nur um Haaresbreite einen Auffahrunfall vermeidend, immer wieder mit bangem Blick über die Schulter spähend, wie nah das dröhnende Ungetüm ihnen schon auf die Pelle gerückt war.
Roan scheuchte die Prinzessin auf das Betonbankett. Sie fiel sofort zurück und er verlor sie aus den Augen. Einer nach dem anderen ließen sich jetzt auch die übrigen aus dem Verkehrsstrom herausfallen, bis sich nur noch Roan und Spar auf der Fahrspur befanden. »Sie sollten jetzt besser springen!«, brüllte der Hauptmann, während er gerade noch mit Mühe einem plötzlich ausscherenden Pickup auswich. »Da kommt er!« »Zusammen!«, schrie Roan. »Eins, zwei...!« Die monströse Straßenmaschine war jetzt fast über ihnen. Mit einem wilden Wiehern sprang Cruiser von der Straße und kanterte hinunter in den Graben. Roan klammerte sich, tief geduckt über der Mähne des Pferdes liegend, mit Händen und Knien fest. Über Stock, Stein, Gestrüpp und sandigen Lehm rutschend und schlitternd rauschten sie fast senkrecht in die Tiefe, bis sie schließlich unsanft auf dem Grunde des Grabens landeten. Roan blieb noch einen Augenblick zusammengekauert im Sattel sitzen, bis sein Kopf aufhörte zu klingeln. Cruiser stand auf allen vieren und ließ den Kopf zwischen den Vorderläufen hängen. Roan schwang sich auf wackligen Beinen aus dem Sattel, um ihn zu untersuchen. Das Pferd schien unversehrt: keine gebrochenen Läufe, keine platten Reifen. Sein Mantel war verdreckt, aber das war der von Roan auch. Er tätschelte Cruisers Hals und das Tier lehnte sich an ihn, schweratmend. Roan fühlte sich selbst auch nicht allzu standfest auf den Beinen. »Roan? Bist du wohlauf?«, rief Bergolds Stimme von hoch oben. Roan blickte nach oben und sah die beleibte Gestalt des Historikers über die Kante herunterspähen. »Ich kann nicht glauben, dass du das überlebt hast! Dieser Graben ist sechzig Fuß tief!« »Uns geht's prächtig!«, rief Roan zurück. Cruiser hob den Kopf und gab ein schwaches, aber bejahendes Wiehern von sich. »Sind alle andern okay?« »Ja, wir sind alle in Sicherheit«, schrie Bergold hinunter.
»Schaffst du's da raus? Du musst unbedingt sehen, was passiert ist.« Roan schaute sich um. Er befand sich an der tiefsten Stelle des Entwässerungsgrabens. Vor ihm stieg der Boden an, bis er fast auf einer Höhe mit der Straße war. Er zeigte nach vorn, und Bergolds Kopf nickte, bevor er wieder hinter der Kante verschwand. Irgendetwas ist anders, dachte Roan, als er zu den anderen ritt. Irgendetwas fehlt. Plötzlich wurde es ihm bewusst: der Lärm. All die vielen Autos waren verstummt. Cruiser fand festen Halt zwischen den Felsen und bahnte sich langsam seinen Weg zu der Stelle, wo die anderen warteten. Roan ließ die Füße schlaff in den Steigbügeln hängen und starrte ungläubig auf das Straßenbett. Die Monstermaschine hatte buchstäblich die Meilen aufgefressen. Nichts war geblieben von der riesigen asphaltierten Fläche, so weit das Auge sehen konnte. Roans Gefährten standen mitten auf einer großen, ebenen Rasenfläche. »Nun, das... das war fürwahr ein Ärgernis«, sagte Misha und zeigte in die Richtung, in der das Vehikel zuletzt zu sehen gewesen war. »Den Schläfern sei Dank dafür«, sagte Colenna. »Ich habe bestimmt hundertmal gedacht, wir würden alle von diesen unsäglichen Wagen umgebracht. Jetzt sind wir die lärmenden, stinkenden Quälgeister los. Und erst diese Lastwagen! Große Güte!« »Ja, aber dafür haben wir jetzt nichts, worauf wir reiten können«, sagte Felan, das schmale Gesicht voller Missfallen. »Und dabei kamen wir so gut voran!« »Zu gefährlich«, sagte die Prinzessin mit einem Schaudern. Sie tauschte ihren Schleier und den Stirnreif gegen eine warme Kapuze aus und zurrte die Schnüre unter ihrem Kinn fest. »Brr!
Ich hasse Verkehr!« Roan schnupperte. Der Geruch der kalten Luft wurde zusehends besser, und ein neuer Wind des Wandels kam auf sie zugeweht, den Duft feuchten Grases mit sich bringend. Es begann zu nieseln. »Mit dem Wandel kommen auch seine Gefahren« sagte Bergold beschwingt. »Die Schläfer geben und nehmen oft mit derselben Hand.« »Sie müssen erstaunlich große Handflächen haben«, sagte Felan leise, was ihm einen neuerlichen strafenden Blick von Colenna einbrachte und, zu seiner offensichtlichen Überraschung, auch von Spar. »Sie müssen der Schlechteste in Ihrer Klasse gewesen sein, Kleiner«, sagte Colenna. »Wie sind Sie bloß ins Ministerium geraten?« »Wir haben jetzt keine Spur mehr«, knurrte Spar »Diese verdammte Wiese! Wir müssen zurück und die Stelle finden, wo wir sie verloren haben.« »Das Ganze hat aber auch eine gute Seite«, sagte Roan. »Die Rösser haben sich auf dem Asphalt nicht wohlgefühlt, aber sie sind bestens dafür geeignet, auf weichem Gras zu laufen, besser als jedes andere Fortbewegungsmittel. Und wir müssen weniger Angst davor haben, bei dem Regenwetter auf dem nassen Asphalt auszurutschen.« »Ein schwacher Trost«, sagte Felan düster, während er sich aus seinem Hut eine wasserdichte Kapuze formte und sie sich über den Kopf zog. Er, die Historiker, Roan, Misha und die Prinzessin hatten keine Mühe, ihre Kleider wasserdicht zu machen, aber die Gardisten, die diese Transformierungsfähigkeit nicht besaßen, brauchten die Unterstützung der anderen, um sich mit Regenzeug auszustatten. Roan half, sie mit Kommiss-Slickers und Hüten auszustaffieren. »Und wohin gehen wir nun auf diesem bestens geeigneten
Untergrund?«, fragte Bergold, während sein Ross im Gras scharrte. »Ich würde sagen, wir halten uns weiter Richtung Norden«, sagte Roan nach kurzem Überlegen. »Sonst hätte Brom sich nicht die Mühe gegeben, den Fluss hier zu überqueren.« Lum suchte das Terrain nach irgendwelchen Hinweisen ab. Als er zu den anderen zurückkam, erschien sein freundliches Gesicht ziemlich ratlos. »Es sieht ganz so aus, als wäre die Fährte zusammen mit dem Rest der Straße ausgetilgt worden. Ich weiß nicht, wo wir anfangen sollen.« »Es liegt wohl auf der Hand, dass wir ein Stück weiter wieder Spuren finden werden«, sagte Spar. »Aber wie viel weiter?« Roan spähte in alle Richtungen. Es war, als wären sie in eine Kiste gesperrt worden und der Schlüssel steckte von draußen. Die anderen schauten ihn hoffnungsvoll an. Sie erwarteten, dass er eine Entscheidung fällte. Er fühlte sich dem doppelten Druck ausgesetzt, die Verantwortung für das Unternehmen zu tragen und gleichzeitig zu wissen, dass zumindest einige von ihnen ihn für minderwertig hielten, weil er anders war als sie. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er nicht solche Angst gehabt, einen Fehler zu begehen. Es gab keinerlei Anhaltspunkte, wohin sie sich wenden sollten. Jetzt hatte er sie so weit geführt, nur um am Ende in dieser Sackgasse zu landen. Nein, warte, dachte er, während er auf eine der Baumgruppen starrte, die etwa hundert Schritte entfernt standen. Er gab den anderen ein Zeichen, zu bleiben, wo sie waren, und ritt auf die Baumgruppe zu, um zu sehen, ob sich seine Hoffnungen bestätigten. An einem der Bäume war ein Zeichen, ein weißer Pfeil, nicht größer als sein kleiner Finger. Er stutzte - und überlegte. War es ein bloßer Zufall, der diesen Fingerzeig lieferte, ein spontaner Impuls der Schläfer? Der
Pfeil war nicht gut gezeichnet. Es konnte auch ein bloßer Fleck sein, der zufällig gewisse Ähnlichkeit mit einem Pfeil hatte. Oder hatten sie gar einen Freund in Broms Truppe? Wenn es Zufall war, dann konnten sie sich bei den Schläfern bedanken. Aber wenn es Absicht war, wenn jemand aus Broms Truppe, der ihnen wohlgesinnt war, den Pfeil hinterlassen hatte, dann war ihm ein Vorteil in den Schoss gefallen, mit dem er nie gerechnet hatte. Er blickte zurück zu den anderen. Er durfte keinem davon erzählen, solange er nicht ganz sicher war. Es wäre fatal, ihnen falsche Hoffnungen zu machen. Als Roan sich bückte, um das Zeichen mit Dreck zuzureiben, sah er das, worauf er gehofft hatte, und erhob sich, um die anderen zu sich zu winken. »Das ist die Stelle!«, rief er. »Kommt rüber!« Er wusste, dass er über das ganze Gesicht strahlte. Spar und Lum kamen im Trab, gefolgt von den anderen. »Was haben Sie gefunden, Sir?«, fragte Lum. »Den Weg, glaube ich«, sagte Roan und deutete auf eine Stelle links von der Baumgruppe. Lum ritt zu der Stelle und stieß einen wortlosen Freudenschrei aus. »Sie haben Recht, Sir! Schauen Sie sich das an! Reifenspuren! So deutlich wie nur etwas. Aber sind sie nicht irgendwie seltsam?« Roan sah sich die Reifenspuren genau an. Es waren eindeutig die gleichen, und sie hatten das gleiche Profilmuster, wie er es schon auf der ruinierten Lichtung gesehen hatte, wo Brom und seine Adepten ihre Fahrräder aufgelesen hatten. Lum hatte Recht. Es gab in der Tat einen signifikanten Unterschied: viele der Spuren waren mehrere Zoll breit. Brom musste die Natur dieser Fahrräder irgendwie verändert haben. Die Abdrücke waren breit und zeugten von schwerem Gewicht. Die Gestalt war machtvoll. Roan hatte keine Vorstellung davon, wozu sie sonst noch fähig waren.
»Und es ist unheimlich hier, Sir«, fügte Lum fröhlich hinzu. »Genauso wie die anderen Verzerrungen und Verfremdungen. Wir sind wieder auf der Fährte.« »Wie wollen wir wissen, ob sie nicht noch einmal eine falsche Fährte gelegt haben?«, fragte Spar, den Blick von seinem Korporal auf Roan wendend. »Ich möchte nicht noch eine Nacht unnötig im Freien verbringen, wie gestern. Dies hatte eigentlich eine Blitzaktion mit schnellem Zugriff werden sollen.« »Aber die Bedingungen haben sich nun einmal geändert. Wir müssen ihnen einfach weiter auf den Fersen bleiben«, sagte Bergold. »Seine Majestät hat im ganzen Traumland Bekanntmachungen aushängen lassen, dass Brom aufgehalten werden soll, sobald er gesichtet wird. Doch ich glaube, wir sind immer noch diejenigen, die am dichtesten an ihm dran sind und die besten Chancen haben, ihn zu schnappen.« »Bergold hat Recht«, sagte Roan. »Wir sollten uns so schnell wie möglich auf den Weg machen. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wie groß ihr Vorsprung vor uns ist.« »Wenn sie überhaupt noch zusammen sind«, sagte Felan mürrisch. »Wer sagt uns denn, ob sie sich nicht getrennt haben, wie schon einmal gemacht? Was, wenn wir hinter der falschen Hälfte her sind?« »Wir wissen es nicht«, sagte Roan, eine Spur schärfer im Ton, als er beabsichtigt hatte. »Haben Sie schon irgendeine Antwort auf Ihre Luftpost bekommen?« »Nicht ein Wort«, sagte Felan mit besorgtem Blick. »Ich schicke am besten bei unserer nächsten Rast noch einen Brief los.« Der Hauptmann der Garde schwenkte sein Ross herum und nahm seine Stellung an der Spitze des Zuges ein. »Wir reiten geradewegs nach Wolkenkuckucksheim, wenn Sie mich fragen«, knurrte er. Ganz weit weg im Westen hörten
sie alle einen Donnerschlag, in gebührendem Abstand gefolgt von einem grellen Blitz. Dicke schwarze Wolken ballten sich am Himmel zusammen. Die Sonne verdunkelte sich zu einem gräulichen Fleck. Und dann begann es in Strömen zu regnen. »Wunderbar«, brummte Spar. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« Colenna zog Regenzeug aus ihrer Tasche und verwandelte Spars Uniform in eine wasserdichte Regenpelerine und seine Mütze in einen Südwester. »Sehen Sie, ist doch gar nicht so schlimm«, sagte sie und strahlte ihn über das ganze Gesicht an. »Sehen wir's von der positiven Seite«, sagte Bergold aufgeräumt. »Der Regen fällt gleichermaßen auf die Gerechten wie auf die Ungerechten.« Roan folgte Spars Erwiderungsschwall blauen Qualmes in den prasselnden Regenguss.
15. KAPITEL Taboret begann zu zählen, als der Donnerschlag kam. Ein eintausend, zwei eintausend, drei eintausend und dann wurde der Himmel im Norden mit kleinen weißen Zickzacklinien gepfeffert. Zwanzig eintausend. Flash! Blitze verbrannten den Himmel über ihnen zu grellem Weiß und ließen ihn als dunkle Asche zurück. Es regnete seit Stunden und ihre kalten Hände rutschten von den Tragegriffen ab. Über ihnen am Firmament stand ein massives großes T, umringt von einer ungleichmäßig kreisförmigen Isobare, die sich fast von Horizont zu Horizont erstreckte. Zahlreiche Isobaren umringten die zentrale, und im Westen konnte Taboret die Ausläufer einer langen, blauen Tiefdruckfront ausmachen, die mit blauen Halbkreisen besetzt war. Dies war einer der heftigsten Regengüsse, die sie je erlebt hatte. Wo war das Hochdruck-H, das ihnen trockenes Wetter bringen würde? Taboret traf ein Schwall Wasser von der Krempe ihrer Kappe ins linke Auge, als sie den Kopf neigte, um zu schauen. Gleich darauf musste sie den Kopf einziehen, um einem Ast auszuweichen, der sich herunterneigte und seine Ladung Regenwasser über ihrem Kopf löschte. Sie war müde und erschöpft. Die Mobilisierung des zusätzlichen Einflusses, den sie und die anderen Lurry geliefert hatten, damit er Prinzessin Leonoras Gruppe Fallen stellen konnte, dabei gleichzeitig weiterzureiten und darüber hinaus ihre Umgebung immer wieder zu transformieren, um ihr Vorankommen zu erleichtern, hatte sie völlig ausgelaugt. Brom hatte ihnen zwar eine kurze Rast zur Aufnahme einer kalorienreichen Mahlzeit gewährt, aber er gestattete ihnen keine wirkliche Erholungspause. Die Rast hatte ihrem erschöpften Körper gut getan, aber an Taborets nagenden Schuldgefühlen hatte sich nichts geändert. Sie versuchte so gut
sie konnte, ihren Abscheu gegen ihre Zwangskomplizenschaft an einem möglichen Königstochtermord zu verbergen. Und der WECKER grub sich in ihre Schultern wie eine Attacke von schlechtem Gewissen. Mehrere Male, seit sie nach Wocabaht hinübergewechselt waren, hatte Brom sie Löcher in der Realität erschaffen lassen, die ausgefüllt wurden durch: was auch immer per Zufall von dem Vakuum angezogen wurde. Statt ihre Fährte zu verwischen, hatten sie sie absichtlich deutlich sichtbar zurückgelassen, um den Investigator des Königs auf sie zu locken. Früher oder später, so Broms Kalkül, würden die Verfolger sich von den Gefahren entmutigen lassen und aufgeben. Taboret fürchtete sich vor den Löchern. Sie hatte das Gefühl, als saugten sie schöpferische Kraft aus allem und jedem, das in ihre Nähe kam. Und da Roan niemals aufgäbe, bestand die Gefahr, dass er und alle, die bei ihm waren, ums Leben kämen. Das Dröhnen eines Motors überraschte Taboret durch seine enorme Lautstärke. Brom gab ihnen das Signa zum Anhalten, als ein riesiges Vehikel am Horizont auftauchte und mit der bedrohlichen Urgewalt eines angreifenden Kamp fstieres auf sie zugedonnert kam. Taboret spähte mit zusammengekniffenen Augen. Es war das Motorrad von einem der Söldner. Das Bike war noch einmal vergrößert und aufgemotzt worden. Es war jetzt bestimmt zwanzig Fuß hoch, mit Rädern so groß wie Häuser. Oben auf dem Rad thronte ein Führerhaus, das sich aus ihrer Sicht und im Verhältnis zu der gewaltigen Maschine geradezu winzig ausmachte. Hinter der Windschutzscheibe war ein winkender Lurry zu sehen, Er trug jetzt einen Vollbart und seine Haare waren lang und zottig. Er reckte triumphierend den Daumen in die Luft. Maniune, auch er vollbärtig und von einer wüsten Haarmähne umwuchert, aber eher grimmig zufrieden dreinschauend, kauerte über dem Steuermechanismus. Als sie sich Brom näherten, schrumpfte das Gefährt rapide,
bis es wieder zu einem Motorrad mit Beiwagen geworden war. Lurrys Ross koppelte sich von dem Wirts-Bike ab und brachte erneut seine Ursprungsform zur Geltung, als sie vor dem ChefWissenschaftler ausrollten und zum Stillstand kamen. »Meldung!«, raunzte Brom. »Haben Sie Roan gefunden?« »Wir haben ziemlichen Spaß gehabt«, sagte Maniune und bleckte die Zähne zu einem breiten, schäbigen Grinsen. »Wir haben die Straße aufgerissen, auf der er sich befand.« Wie zur Bekräftigung seiner Worte gab das Motorrad einen gewaltigen Rülpser von sich. Maniune tätschelte es. Lurry grinste feist und Taboret sah plötzlich im Geiste das Bild einer sich wie ein Teppich aufrollenden Straße vor sich. »Sind sie entkommen?«, fragte sie bange und zuckte zusammen, als Broms bohrender Blick sie traf. »Wenn nicht, brauchen wir uns wegen einer Verfolgung keine Sorgen mehr zu machen.« »Stimmt«, sagte Brom. »Und?« »Er ist gerade noch rechtzeitig von der Straße gehüpft«, sagte Lurry mit höhnischem Grinsen. »Sie hätten ihn sehen müssen. Huuuiiii«, pfiff er, mit der Hand einen großen Bogen beschreibend. »Genau in den Graben.« Brom zog eine Augenbraue hoch. »Ist das alles?« »Nein«, sagte Maniune. »Wir haben ihnen ein paar hübsche Fallen gestellt. Wir haben die Fährte unberührt gelassen, so wie Sie es wollten, bis zu der Stelle, an der wir einige irreführende Spuren gelegt haben. Wenn sie es tatsächlich schaffen sollten, den Weg wiederzufinden, dann warten da noch ein paar weitere schöne Überraschungen auf sie.« Das wilde Grinsen erschien wieder auf seinem Gesicht und seine Eckzähne wurden lang, und spitz. Taboret schluckte. »Irgendwelche Neuigkeiten von unserem Freund?«
»Das findet Acton gerade heraus«, sagte Maniune und zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Da kommt er schon.« Das andere Motorrad, obgleich unaufgemotzt, von furchteinflößender Erscheinung, röhrte heran und kam schlitternd und auf der Seite liegend auf dem matschigen Untergrund zum Stillstand. »Meldung!«, blaffte Brom. »Was gibt es an Neuigkeiten?« »Sie haben immer noch keinen Verdacht«, sagte Acton und zerrte sein Tier hoch und wieder auf die Räder. Er rieb an dem Matsch, der ihm an Beinen und Brust klebte. Sein Bock schüttelte sich den Dreck vom Körper, einen Schauer schmutziger Tropfen über den Lehrlingen versprühend. »Ist das Ihre Einschätzung?«, fragte Brom kühl. »Näh, wir haben eine Botschaft von Ihrem Maulwurf gekriegt«, sagte Acton voller Bewunderung. »Es war echt clever von Ihnen, jemanden dazulassen, der für Sie spioniert.« »Clever, hmm.« Brom sann einen Augenblick nach wie er das Kompliment finden sollte und fand es im Bereich des Annehmbaren angesiedelt. »Danke. Was haben Sie mit der Nachricht gemacht?« Acton grinste. »Ich hab sie aufgegessen.« »Gut«, sagte Brom. »Vielleicht färbt dadurch ja ein bisschen von dem Scharfsinn des Verfassers auf Sie ab. Aber wir dürfen uns nicht allein auf das verlassen, was wir hinter uns gelassen haben. Wir müssen voran kommen. Leute! Formt die Gestalt! Wir werden ein Zwischenhoch genau über dieser Straße erschaffen und trockenen Fußes weiterreiten!« »Aber die Straße könnte sich verlagern«, gab Basil zu bedenken. Brom wischte den Einwand mit einer Insektenverscheuchbewegung weg. »Dann verändern wir halt die Druckzone, damit wir trocken bleiben. Wollen Sie nur
über's Wetter reden, oder wollen Sie was dagegen tun?« Müde wie sie waren, stiegen die Lehrlinge von ihren Rädern und stellten sich dankbar in den Kreis. Da Taboret an den WECKER geschnallt war, konnte sie sich nicht an der Prozedur beteiligen, aber sie war froh, ihre Energien beisteuern zu können. Wenn es eine Chance gab, wieder warm und trocken zu sein, dann sollten sie sie ergreifen. Erstaunlich, dachte Taboret. Als wir in Mnemosyne aufbrachen, träumten wir alle von Macht. Und jetzt wünsche ich mir bloß noch Kleider, die nirgendwo scheuern. Brom sammelte die Lehrlinge ein und legte seine schweren, kalten Hände auf ihre. Taboret verfolgte mit Interesse, wie das Wesen der einzelnen Lehrlinge sich ein klein wenig veränderte, wie sie voneinander bestimmte Charakterzüge übernahmen und schließlich jeder ein wenig wie Brom aussah. Sie fühlte, wie die Wärme von ihr abfloss, sich mit der der anderen zu einem Strom vereinte, der endlos nach außen floss, bis sie ein Teil der Landschaft war. Ihre Hände - nicht ihre physischen Hände, sondern metaphysische - drückten und stemmten gegen die Wolken und den Wind. Die Substanz von Luft annehmend, schufen sie einen festen eiförmigen Panzer, der eine kleine Stelle der Straße überwölbte. Schlagartig hörte der Regen auf. Ihre Hände entspannten und lösten sich. Die Grenzen wichen zurück und sie fand sich wieder in ihrem eigenen Körper zurückgelassen. Sie blickte hinunter auf ihre Hände und sah, dass sie eine andere Farbe und eine andere Struktur angenommen hatten. Auch die anderen hatten sich allesamt verändert. Es war seltsam, die Wirkung des Schmelztiegels von außen zu erleben. Dies war eine neue Funktion, für die ihre Energien genutzt werden konnten, ohne dass sie dazu die anderen berühren musste. Bevor sie zu ihrer Mission aufgebrochen waren, hatte Brom ihnen eine Liste potenzieller Entwicklungsstadien gegeben. Er hatte gesagt, dass im späteren Verlauf der Reise jeder von ihnen in der Lage
sein sollte, seine Energien aus der Distanz in den Schmelztiegel hineinströmen zu lassen, ohne mit den anderen in Blickkontakt stehen zu müssen. Taboret wandte den Blick nach oben. Es schien geradezu wie ein Wunder, wie die blauen Linien ihre Pfeile von der Straße vor ihnen abwandten und der riesige H-Ballon sich seinen Weg ins Zentrum bahnte. Sie fühlte, wie ihre Kleider zu trocknen begannen und setzte ein kleines Quentchen persönlichen Einflusses ein, um sicherzustellen, dass sie weich blieben. Der WECKER trug sich nun, da sie sich nicht länger mit anderen Misshelligkeiten abplagen musste, gleic h etwas leichter. Auf Broms Zeichen hin setzte die Gruppe sich wieder in Bewegung. Taboret schaute links wie rechts durch eine glasartige Wand aus Wasser, während sie im Trockenen in die Pedale trat. Sie passierten einen Bauern, der seine Kühe in prasselndem Regen von einem Feld auf ein anderes trieb. Der Mann gaffte sie neugierig an. Wasser lief von der Krempe seines Filzhutes. »Lasst ihn nur glotzen«, sagte Brom triumphierend. »Wir sind die Zukunft.« »So wir denn eine haben«, murmelte Gano. Taboret schaute hinter sich, aber die ältere Frau hatte sich in ihren Kragen eingemummelt und konzentrierte sich voll und ganz auf die Straße. Jetzt, da sie sich wieder besser fühlte, begann ihr Gewissen erneut an ihr zu nagen. Sie machte sich Sorgen wegen jener Löcher in der Realität, die Lurry und die Söldner hinter sich ausgestreut hatten. Sie würden womöglich jemanden umbringen, vielleicht sogar die Prinzessin! Taboret hatte Leonora stets beneidet – um ihre Garderobe, ihre Schönheit, um die Bewunderung, die die Massen ihr entgegenbrachten, aber sie hatte ihr niemals, niemals etwas Schlimmes gewünscht. Es musste doch irgendetwas geben, das sie,
Taboret, tun konnte, um mitzuhelfen, das Leben ihrer künftigen Herrscherin zu retten! Die Straße machte eine Kurve und führte durch einen Hain schmaler Schößlinge. Mit einer herrischen Geste zeigte Brom nach oben und das Hochdruckzentrum machte den Schwenk tatsächlich mit. Alles starrte mit ehrfurchtsvollem Blick nach oben und verfolgte das Wunder. Da kam Taboret eine Idee. Im letzten Moment, als sie eine ganz dicht am Straßenrand stehende Baumgruppe passierte, ließ sie ihr Hinterrad absichtlich zur Seite wegrutschen und knallte mit der Nabe gegen den Stamm eines jungen Baumes. Glinn schrie vor Schreck auf. Der WECKER reagierte sofort auf die plötzliche Verlagerung seines Schwerpunktes. Die Glocken unter der Persenning trillerten einen leisen Warnton, der wieder und wieder durch ihren Kopf hallte. Taboret knirschte mit den Zähnen. Brom schwenkte sein pedalloses Rad herum und baute sich vor ihr auf. »Was ist passiert?«, herrschte er sie mit zornesrot lodernden Augen an. »Was haben Sie getan?« »Es tut mir Leid, Herr«, sagte Taboret, die unter dem Tragholz regelrecht zusammenschrumpfte. »Ich bin bloß müde. Es tut mir Leid. Ich habe nicht aufgepasst. Der WECKER hat bestimmt nichts abbekommen, Herr. Es tut mir wirklich Leid. Ich bitte vielmals um Verzeihung.« In diesem Stil plapperte sie zerknirscht weiter, bis Brom sich angewidert von ihr abwandte. Er hasste die Zurschaustellung von Gefühlen und das wusste sie. Taboret war zufrieden. Sie hatte eine nicht zu übersehende Spur an dem Baum hinterlassen und die Funktion würde die Form beeinflussen. Die Verfolger würden jetzt den richtigen Weg erkennen, trotz Maniunes Maschine und Machinationen. Taboret strampelte grimmig entschlossen weiter, ihre
Konzentration fest auf die Straße und den Rhythmus ihrer Knie gerichtet. Sie riss ihre Gedanken von dem absichtlich herbeigeführten Unfall los und überflutete die Szene stattdessen mit Reue dafür, dass sie fast den WECKER beschädigt hatte. Brom ließ sie in Ruhe und keiner von den anderen hatte noch genug Energie zum Sprechen. »Whow!«, ließ sich Glinn von der anderen Seite der zugedeckten Trage vernehmen. Taboret rollte aus und verdrehte den Hals, um über den Rand zu spähen. Brom hatte in einer Felsennische gleich neben der Straße angehalten. Hinter ihm erhob sich eine schroffe Felswand, deren Ende sich in Dunstwolken verlor. Eine Linie nassen, dunklen Gesteins markierte die Stelle, an der sich das Wasser aus einem Quell sammelte und an der Felswand herunter in einen Teich hinter dem Obersten Wissenschaftler floss. Es war ein so schöner Anblick, dass er geradezu irreal erschien. »Hier werden wir übernachten«, verkündete Brom. »Wir haben diese Stelle früher erreicht, als ich dachte.« Er faltete seine Karte wieder zusammen, zog einen Schreibstift aus seiner Brusttasche und machte eine Notiz auf der Karte. »Gut. Wir sind ausgezeichnet vorangekommen. Wir können früh haltmachen.« »Und nicht einen Augenblick zu früh«, sagte Gano leise zu Taboret. Sie befahl dem grünen Motorrad, stillzustehen und half Taboret, den Tragholm von der Schulter zu heben. Gemeinsam senkten sie die Trage auf die Erde gleich neben der Felswand. Brom stand dabei und rieb sich die Hände über seinem kostbaren Gerät. »Dürfen wir anfangen, Herr?«, fragte Glinn. Er räusperte sich lautstark. »Herr?« Brom schien aufzuwachen, als Glinn ihn ansprach; es war, als käme er von einem sehr fernen Ort zurück. Er blickte auf und schaute Taboret ins Gesicht. Der Ausdruck in seinen
Augen war entschieden unmenschlich. Taboret glaubte in die Augen eines Wesens zu blicken, das teils Mensch, teils ... Denkmaschine war. Sie errötete, hielt aber ihr Bewusstsein davon aufrecht, wie müde sie war, und projizierte dieses Bewusstsein, so gut sie konnte. Die Maschine kaufte es ihr ab und wandte sich der Beantwortung der Frage zu, die ihr gestellt worden war. »Fangt an«, sagte Brom und unterstrich seine Worte mit einer ungeduldigen Geste. »Folgt dem Plan. Sie haben ihn, Glinn.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Taboret zog ob des kalten Tons unwillkürlich eine Augenbraue hoch. Glinn nickte bloß und wandte sich ab, den anderen bedeutend, dass sie ihm folgen sollten, weg von ihrem Boss, der sich bereits in tiefe Betrachtung seines Planes versenkt hatte. Am ersten Abend hatten die Lehrlinge noch individuelle Pläne, die sie für bestimmte Teile des Lagers geschaffen hatten, benutzen dürfen, damit sie sich daran gewöhnten, bei kleinen Gestaltungsprogrammen zusammenzuarbeiten. Diese Nacht nun gab es einen Probelauf für den Bau eines kompletten Domizils nach einem einzigen Gesamtplan. Glinn studierte das Schaubild und wies ein natürliches geschütztes Gehege aus, in das die Lehrlinge ihre Fahrräder schieben konnten. Gemäß dem Text, den Taboret über Glinns Schulter las, würde sich ein Stall mit natürlich erscheinender Tarnung um das Gehege herum aufbauen, sobald die Pläne durchgeführt wurden. Brom hatte entweder auf sehr detaillierte Nachforschungen über diese spezifische Örtlichkeit zurückgegriffen, oder die Pläne veränderten sich dergestalt, dass sie sich den Gegebenheiten anpassten. Was auch immer zutraf, Taboret fand es höchst beeindruckend. »Kommt, stellt euch auf, alle miteinander«, sagte Glinn und streckte seine Hand aus. Keiner rührte sich. Nach kurzem
Zögern legte Taboret ihre Hand auf seine und postierte sich so, dass hinter ihr genügend Platz für den nächsten blieb. Glinn warf ihr einen dankbaren Blick zu und bog den Daumen hoch, um ihre Hand ein kleines bisschen zu drücken. Sie grinste ihn an und konzentrierte sich darauf, Unterstützung für seine Bemühungen zu projizieren. Mit einem unwirschen Grunzen schloss Gano sich ihnen an, gefolgt von Carina. Nacheinander bequemten sich nun auch die anderen widerstrebend, sich aufzustellen. Taboret konnte durch die Verbindung den Unmut spüren, der Glinn entgegenschlug, weil er als Aufseher füngierte, obwohl jeder Trottel hätte wissen können, dass Brom ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte und dass niemand die Nacht in einem Bett verbringen würde, wenn sie nicht allmählich anfingen. »Alle zusammen jetzt, so, wie wir's geübt haben«, sagte Glinn und breitete den Plan über ihren Fäusten aus, damit jeder ihn sehen konnte. »Das ist Unterkunftsplan Nummer zwo. Erinnert ihr euch an die Bilder? Dann lasst uns anfangen.« Taboret schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Beugen der Realität. Die Pläne befanden sich in ihrem Geist, noch verstärkt vom Geist all der anderen. Die erinnerten sich an Details, die ihr, Taboret, entfallen waren, und ihr Gedächtnis wiederum lieferte Informationen, die Lücken im Gedächtnis der anderen schlossen. Gut gemacht bis dato. Sie genoss ihre Rolle - trotz der Zwillingsbrüder, deren irritierende Präsenz durch die Verbindung fühlbarer war denn je. Ihre Gedanken tasteten sich vor, bis sie die Felswand berührten und prallten vor der Oberfläche zurück. Sie fühlte sich hart, kalt und feucht an. Mit einem erschreckten Japsen schlug Taboret die Augen auf. Der Stein war echt. Sie konnte nicht glauben, dass der Boss von ihnen erwartete, dass sie den zu formen vermochten. Sie hatte, als sie seine grandiosen Pläne im Schloss gesehen hatte, geglaubt, er habe vor, sie mit Nebulosität arbeiten zu lassen, einer Substanz, die sich weich
und schwammig anfühlte, wie Flaum an der Grenze der Fühlbarkeit und die sich leicht modellieren ließ. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er etwas so Anspruchsvolles, ja Unmögliches probieren würde wie das Verformen von Stein. »Mach weiter«, sagte Glinns Stimme in ihrem Geist. Sie wandte den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen und er nickte ihr aufmunternd zu. Taboret blickte zu der Felswand hinauf. Nun denn, sie würde es versuchen. Es war schließlich nur das Unmögliche. Erneut schloss sie die Augen. Sie sah die Blaupausen vor ihrem inneren Auge. Lass die Steinmauern schräg nach oben wachsen, dachte sie, bis sie sich zu einem Giebeldach zusammenfügen. Über ihr schottete eine gewölbte, mit glitzernden Glaslampen behangene Decke den Himmel ab. Natürliche Spalten in der Felswand wurden zu Belüftungsschlitzen, gerade so breit, dass sie problemlos Luft bekamen, aber schmal genug, um sie gegen unliebsame Blicke von außen abzuschirmen. Unterdessen ließen die Lehrlinge die Wände nach außen wandern, bis sie ihren Kreis umschlossen. Vor ihrem geistigen Auge glätteten sich die Wände. Rote Knötchen traten aus ihnen hervor und leuchteten auf: Broms patentiertes Sicherheitssystem. Nahe der ursprünglichen Felswand formte sich eine kleine Tür, durch die nur jeweils eine Person schlüpfen konnte. Stein schmolz über sie zu einer Blende von nur einem Millimeter Dicke. Dies war eine geheime Notluke, gedacht als letzter Fluchtweg, falls während der Nacht Feinde eindrangen. Weitere Wände wuchsen aus dem Erdboden und bildeten Zimmer. Eines von ihnen umfriedete Brom und den WECKER. Ein Loch tat sich im Boden auf, und Feuer, das geradewegs vom Mittelpunkt der Erde kam, schlug fauchend aus ihm heraus. Darüber bildete sich sogleich eine Kombination aus Kamin und Herd, aus dem ein Schlot zur Decke wuchs. Als Taboret sich bewusst machte, dass sie Stein genauso leicht verformte, wie sie ihre Meinung änderte, spielte sie einen
Moment lang mit dem Gedanken, durch die versteckte Tür zu brechen und schnurstracks nach Hause zu rennen. Sie war verblüfft, verängstigt und euphorisch - alles zur gleichen Zeit. Sie hatte immer eine angemessene Kontrolle über ihre Umgebung gehabt, aber sie hätte Monate gebraucht, um das zu schaffen, was der Schmelztiegel in wenigen Augenblicken zustande brachte. Das Staunen und die Ehrfurcht der anderen brandeten durch ihren Körper und eine Woge von Schwindel brachte sie zum Schwanken. Als sie schließlich mit allen Details des Planes fertig waren, hielten sie inne. Taboret ließ den Blick um sich herum schweifen. Sie war beeindruckt - und erschöpft. »Gute Arbeit, alle miteinander«, sagte Glinn. Auch seine Stimme klang erschöpft. Er zog seine Hand unter ihrer weg, wodurch er den Bann der Gestalt brach und das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Kameradschaft erstarb. Rasch zogen auch die anderen ihre Hände weg. Taboret fühlte sich einsam und verloren, alleingelassen in ihrem eigenen Kopf. »Und jetzt lasst uns was essen und Schlaf können wir auch alle miteinander gut gebrauchen.« »Recht hast du«, sagte Basil, gleich wieder putzmunter bei dem Gedanken ans Kochen, seiner größten Leidenschaft nach der wissenschaftlichen Forschung. »Gebt mir fünf Minuten.« Er hastete davon. Taboret grinste nachsichtig hinter dem feisten Lehrling her. Sie hatte ihn nicht sonderlich gemocht, als sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren, aber jetzt gewann sie ihn allmählich lieb. Sobald das Essen fertig war, begaben sich die Lehrlinge zu Tisch. Sie waren so erschöpft und ausgehungert, dass sie nicht einmal mehr die Kraft fanden, ihre verschmutzten und verschwitzten Reisekleider zu wechseln oder auch nur wenigstens den Straßenstaub abzuklopfen. Taborets einziges Zugeständnis an die Etikette bestand darin, dass sie ihre durchgeschwitzte Jacke ablegte. Der nächste Bauplan, dachte
sie, sollte mindestens ein automatisches Reinigungssystem vorsehen, das sie säubern und waschen würde, ohne dass sie dafür irgendwelche körperlichen Anstrengungen auf sich nehmen mussten. Bis dahin mussten sie sich und ihre Kleider auf die althergebrachte Weise waschen, per Einfluss oder durch kräftiges Rubbeln. Ohne ungehobelt erscheinen zu wollen, sprang sie auf, sobald sie mit dem Essen fertig war, um die Erste in der Schlange vor dem Bad zu sein. Sie hatte bei diesem speziellen Körper besonders lange Beine und machte sich den daraus resultierenden langen Schritt ungeniert zunutze. Carina schaute ein bisschen verstört, da sie offenbar ähnliche Absichten hatte, aber sie erreichte die Tür einen Sekundenbruchteil zu spät. »Zweite«, sagte sie und bedachte Taboret mit einem vielsagenden Blick. »Tut mir Leid«, erwiderte Taboret. Das war nicht einmal gelogen, aber endlich sauber und trocken zu sein erschien ihr plötzlich wie eine Frage von Leben und Tod. Sie badete sich und wusch ihre Sachen so hurtig wie sie konnte. Während ihre Kleider noch im Wäschetrockner herumpurzelten, zog sie sich ihren Schlafanzug an und schlüpfte hinaus, um Carina das Feld zu überlassen. Ihr Feldbett stand auf dem neugeschaffenen Steinfußboden, nur eine Armeslänge von dem kleinen Wasserfall entfernt. Das Wasser floss an der Felswand herunter und sammelte sich in einem winzigen Teich, der in ein ähnlich winziges Bächlein abfloss. Weiter >stromabwärts< war das Wasser in die sanitären Anlagen kanalisiert worden, aber hier schien es noch so gut wie unverändert. Taboret war froh, dass in den Plänen des Bosses ein Bad mit inbegriffen war und sie sich nicht selbst eines machen musste. Sie war müde. Sie hatte nicht ein Fünkchen Energie mehr in sich, ganz gleich wofür auch immer. Ausgestreckt auf dem Bauch auf ihrer Koje liegend, tunkte
sie die Finger in das Wasser. Ungefähr neunundfünfzig Grad, schätzte sie. Reinheit 97%, bräunliche Färbung, wahrscheinlich aufgrund einer Kombination von Flechten und Mineralien. Mit hoher Sicherheit trinkbar. »Fühlt sich das gut an?«, fragte Glinn unvermittelt. Sie wandte den Kopf. Er stand neben ihr und beobachtete sie. »Gut?«, fragte Taboret, überrascht. Sie zog die Beine an, schwang sich herum und setzte sich auf. »Ich denke schon. Kannst du es nicht sagen?«, fügte sie hinzu, mit mehr Nachdruck in der Stimme, als sie beabsichtigt hatte. Glinn schaute weg, ein wenig verlegen. »Ich... ich habe plötzlich Kühle an meinen Fingern gespürt und ich wollte wissen, wo sie herrührte.« »Es tut mir Leid«, sagte Taboret, schlagartig von Reue erfüllt. »Du musst das auch wissen. Entschuldige. Ich wollte nicht grob sein. Stört es dich nicht, dass jeder alles weiß, was du fühlst oder denkst, wenn du in der Gestalt bist?« »Nun«, sagte Glinn und setzte sich auf das Feldbett neben ihrem. »Nicht alles.« Seine Wangen wurden rot. »Ich meine ... es gibt bestimmte Dinge ...« Er lächelte sie an und in seine sanften braunen Augen trat ein hoffnungsvoller Ausdruck. »Ich weiß, was du meinst«, sagte Taboret hastig. Ihr wurde erneut bewusst, wie sehr sie anfing, ihn zu mögen. Mit der wachsenden Stärke der Verbindung konnte sie das nicht länger vor ihm verbergen – oder vor irgendeinem anderen in der Gruppe. Und es fühlte sich, es fühlte sich fast so an, als ob er sie auch mochte. Tat er das? »Glinn, ich habe ...« »Sind wir fertig eingerichtet?«, fragte Brom. Er erschien plötzlich an ihrer Seite und baute sich vor ihnen auf. Taboret starrte hinauf zu seinen glitzernden Augen - wie eine Maus, die gebannt in die Augen eines Raubvogels blickt. »Ja, Herr«, sagte Glinn und sprang auf. »Gut! Dann lasst uns noch rasch unsere letzten kleinen Annehmlichkeiten herstellen,
bevor wir diesen Ort abschotten, damit wir nicht gestört werden.« Brom starrte auf Taboret hinunter. »Es bedarf dazu nicht des Einflusses jedes einzelnen. Dies sind kleine Aufgaben. Sie können sich ausruhen.« Taboret machte es sich dankbar auf ihrer Koje bequem und schaute zu. Ihr tat Glinn leid, der so müde ausschaute, wie sie sich fühlte. Er und der Boss machten die große steinerne Tür zu und verschlossen sie mit einem großen Schlüssel, den Glinn aus dem Schlüsselloch zog und sich um den Hals hängte. »Wollen Sie nicht den großen WECKER stellen? Ha ha ha!«, rief Lurry aus seiner Ecke des Schlafbereiches und die Zwillingsbrüder lachten. Brom warf ihnen einen eisigen Blick zu, der sie sofort zum Verstummen brachte, und Taboret kroch in ihre Koje und zog sich die Decke über den Kopf, um sich bewusst gegen ihren Anblick abzuschotten. Trotz der frühen Stunde war sie zum Schlafen bereit. Der Boss hatte die herrlich gemütliche Stimmung gründlich verdorben. Er hatte ein Talent dafür, immer gerade dann aufzutauchen, wenn sie und Glinn endlich einmal Gelegenheit für ein richtiges Gespräch hatten. Taboret bedauerte, dass sie nie erfahren würde, was entweder sie oder Glinn hatten sagen wollen, bevor Brom dazwischenplatzte. Sie hatte gewusst, was Glinn dachte, zumindest bis zu einem bestimmten Grade. Konnte er ihre Gedanken lesen? Ahnte er womöglich, dass sie die Mission verraten hatte? Taboret wusste, dass sie eigentlich Gewissensbisse oder Angst hätte empfinden müssen, aber es erschien in diesem Augenblick einfach nicht so wichtig. Sie hoffte, dass niemand ihre Träume lesen würde.
16. KAPITEL Blitze zuckten und tauchten verfallene alte Häuser auf den Gipfeln der Hügel ringsum in grelles Licht. Auf den ausgedörrten Feldern erhaschte Roan hier und da im gleißenden Licht der Blitze einen Blick auf Skelette, die an Querbalken baumelten. Kahle Bäume knarrten und ächzten im Wind. Roan spähte unter der steifen Krempe seines Hutes hervor auf die Straße. Obwohl es seit Stunden regnete, hinterließ die Fährte, der sie folgten, nur einen ganz schwachen Abdruck auf dem vollgesogenen Geläuf, so als hätten Broms Leute den Boden kaum berührt. Lum war von dieser Anomalie beunruhigt, aber Roan vermutete wieder mal eine von Broms Manipulationen dahinter. Die Rösser hatten sich in Fahrräder verwandelt, als der Regen kalt geworden war. Roan wünschte sich, er könne seine Nervenenden nach Belieben abstumpfen und trotzdem seine volle Funktionstüchtigkeit bewahren. Seine Kleider waren völlig durchgeweicht, trotz einer rasch vorgenommenen Imprägnierung und der breiten Krempe seines Hutes, die viel von dem prasselnden Regen ableitete. Neben ihm pedalte die Prinzessin tapfer und unverdrossen auf Golden Schwinn dahin. Ihr Haar war plattgedrückt von der Kapuze und kräuselte sich an ihren Schläfen zu dunklen Ringellöckchen. Es sah ganz hinreißend aus. Er hätte nichts lieber getan, als so mit ihr übers Land zu reiten, wären da nicht mehrere Faktoren gewesen, die ihm den Spaß nachhaltig verdarben: der Regen, ihre Mission und die Unannehmlichkeiten, die ein so weiter und so langer Ritt mit sich brachte. Leonora merkte, dass er sie von der Seite anschaute und klimperte das Wasser von ihren Wimpern. »Wir müssen aus diesem Unwetter raus«, sagte sie. »Im Augenblick würde es mir nichts ausmachen, wenn Brom uns
eine Bombe auf den Kopf würfe.« Roan nickte und spähte durch den strömenden Regen nach vorn, auf der Suche nach irgendeiner Zuflucht. Auf dem Scheitel der nächsten Anhöhe glaubte er rote Streifen am Himmel ausmachen zu können. »Ich glaube, ich sehe dort oben trockenes Wetter«, rief er zu Spar hinüber. »Können wir nicht ein bisschen schneller machen?« »Hah! Nichts lieber als das!«, rief der Hauptmann der Garde zurück. Er hob die Hand und gab den anderen das Zeichen, ein bisschen kräftiger in die Pedale zu treten. Der Regen peitschte Roan ins Gesicht, als seine Reifen bergab surrten. Dann und wann tauchten Bilder von Lastwagen aus den Träumen geringerer Schläfer auf dem schmalen Pfad auf und drängten die Reiter an den Rand. Die Gruppe formierte sich zu einer Einerreihe, wobei Colenna und Leonora zwischen Spar und Roan fuhren, während Drea sich zwischen Bergold und Lum eingeordnet hatte. Roan warf erneut einen Blick nach oben zu den Wolken, nach dem schmalen Streifen von Rot fahndend, den er kurz zuvor gesehen hatte. Einen Augenblick zuvor war er noch dagewesen, nahe dem nordöstlichen Horizont. Das Wetter war so unberechenbar. Wenn sie dieses Hochdrucksystem nicht bald erreichten, würden sie irgendwo Schutz suchen und warten müssen, bis der Regen aufhörte. »Wwiiiinggg«, jaulte vorwurfsvoll ein Kleinlaster, während er an ihnen vorbeizog. Ein zweiter folgte ihm dichtauf. »Woiiiingggg.« »Der Verkehr wird wieder stärker«, schimpfte Felan, laut schreiend, um den Wind und den prasselnden Regen zu übertönen. »Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Straße enger wird!« Der Junior-Historiker hatte Recht. Die Straße verengte sich zusehends unter ihren Rädern. Schon bald schien sie nicht
mehr breiter als ein straff gespanntes Seil zu sein. Die Rösser hielten nur mit Mühe die Balance auf dem schmalen Grat. Ein weiteres Fahrzeug kam ihnen entgegen. Spar entfuhr ein heiserer Schrei. Der LKW wich im letzten Moment zur Seite. Das graue Band der Fahrbahn dehnte sich wie Gummi unter seinen Rädern und er verfehlte sie nur um Haaresbreite. »Haltet durch!«, rief Roan seinen Leuten aufmunternd zu, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug. »Das trockene Wetter ist nur noch ein kleines Stück voraus!« »Hart nach rechts!«, schrie Spar. Ein Paar leuchtender gelber Kugeln kam ihnen in rasendem Tempo entgegen, die gesamte Breite der Fahrbahn einnehmend. Es war ein großer LKW, der sich mit dröhnendem Motor näherte. »Springt, Leute!« Er schickte sich an, nach rechts zu schwenken, in das rote Band, von dem Roan glaubte, es sei ein Hochdruckgebiet, aber dort, wo ein H hätte sein müssen, war ein wirbelnder, irgendwie fettig aussehender weißer Glanz. »Was ist das?«, kreischte Leonora. »Das ist ein Loch!«, schrie Bergold. »Fahrt bloß nicht da rein!« Roan japste vor Schreck und griff nach dem hinteren Schutzblech von Leonoras Fahrrad. Er verschätzte sich und quetschte sich fast die Hand zwischen Reifen und Schutzblech. Er spornte Cruiser zu schnellerer Gangart an, um an ihre Seite zu gelangen, und schubste das verängstigte Ross zur Seite, aus der Gefahrenzone. Aber der rote Begrenzungsrand stülpte sich nach außen wie ein offener Mund. Der LKW donnerte heran und drängte sie hinüber - in den Mund hinein. Die Räder quietschten vor Angst, als ihre Reifen den Rand streiften. Roan riss heftig am Lenker und zwang beide Rösser zurück, weg von dem roten Band, aber es schnellte auf sie zu, um sie zu umschlingen. Sie wurden geblendet von einem wilden Wirbel. Der Glanz verblasste, und sie fanden sich auf einer Straße,
die genauso aussah wie die, die sie gerade verlassen hatten, außer, dass es zu regnen aufgehört hatte. Roan ließ sein Rad ausrollen und sah sich um. »Was war das?«, fragte er Bergold. »Ein Loch in der Wirklichkeit«, sagte der Senior-Historiker. »Wir hatten Glück. Dieses war noch sehr mild. Uns ist nichts passiert.« »Aber wo sind wir?«, wollte Leonora wissen. »Genau da, wo wir vorher auch waren«, antwortete Bergold. »Aber die Dinge um uns herum haben sich verändert.« »Das ist nicht möglich«, sagte Lum und runzelte die Stirn. »Soldat, alles ist möglich«, belehrte ihn Spar. »Was zum Albtraum ist das denn da?« Er zeigte auf eine Baumgruppe, die umgeben war von einem breiten Band, das sich von einem Fuß über der Erde so weit nach oben erstreckte, dass Roan es mit ausgestrecktem Arm gerade noch erreichte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte Roan. Bergold schlug sein Büchlein auf und blätterte es durch. »Ist es da, um die Bäume zu schützen?«, fragte Hutchings. Er streckte die Hand aus. In dem Augenblick, als er das Band berührte, gab es einen lauten Knall, und er wurde mitsamt seinem Ross in hohem Bogen durch die Luft geschleudert, quer über die Straße, gegen eine andere, ebenfalls von einem breiten Band zusammengehaltene Baumgruppe. Die gab einen ebenso lauten Knall von sich und schleuderte ihn ihrerseits weg. Er flog auf eine dritte Baumgruppe zu, landete aber zu seinem Glück ein Stück vor ihr auf der Erde, sodass keine Berührung erfolgte. Roan und die anderen stürzten sofort zu ihm, um ihm aufzuhelfen. Ein lautes Klicken oder Knacken war zu hören, aber Roan konnte die Quelle des Geräusches nicht ausmachen. »Faszinierend!«, sagte Bergold, während er interessiert um sich blickte. »Ich habe schon von dem Bally-Effekt gehört, aber selbst gesehen hatte ich ihn bis jetzt noch nie.«
»Das könnte einen glatt umbringen«, murmelte Hutchings, während er taumelnd auf die Beine kam. Er war ganz bleich vor Schreck und sein hellbraunes Haar stand ihm zu Berge. Sein Ross, leicht angeschlagen, kreischte wild, als Misha ihm aufhalf. »Passt gut auf, dass ihr keine weiteren berührt«, mahnte Bergold. »Wir müssen zusehen, dass wir aus diesem Effekt wieder herausfinden. Haltet nach dem Schriftzug >Game over< Ausschau.« Den Bäumen auszuweichen war gar nicht so einfach. Der Wald war dicht von ihnen bewuchert. Die Gruppe musste höllisch aufpassen und sich ganz schön dünn machen, um sich zwischen zwei Gruppen hindurchzulavieren, die die Straße flankierten. Lum fuhr vorneweg, tief über seine Lenkstange geduckt und wachsam von links nach rechts schielend, als fürchte er, die Bänder könnten jeden Augenblick nach ihm ausschlagen und ihn wegkicken. Roan trat ganz vorsichtig in die Pedale, die Knie so dicht wie möglich am Rahmen haltend. Bergold zwängte seine gewohnte bequeme Leibesfülle in eine hohe, schlanke Gestalt, bis sie schließlich eine große Wiese erreichten, wo der Weg in sicherem Abstand zu irgendwelchen Bäumen verlief. »Gut gemacht, alle miteinander«, sagte Roan und wandte sich im Sattel um. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Felan, der als letzter durch die Lücke schlüpfte, berührte ein Baumband mit dem Saum seines Ärmels. Roan hörte nur halb den Knall, während er und alle anderen so hart zurückprallten, dass sie vom Weg fort und auf eine weitere Baumgruppe zu geschleudert wurden. Hals über Kopf kullerten sie umeinander, karambolierten mit vorspringenden Felsen - und auch miteinander -, ließen Wiesenblumen aufflackern wie Kerzen. Roan rappelte sich auf, und wandte sich gerade noch rechtzeitig zu der laut kreischenden Prinzessin um, um zu sehen, wie etwas, das aussah wie ein dreieckiges Tor, auf sie zu
geschwungen kam. Es erwischte sie hart am Hinterteil und beförderte sie kopfüber mitten in eine sehr komplizierte Baumgruppe, die sie in unterschiedliche Richtungen kickte. Felsen, Hügel, ja selbst Büsche waren mit den Kraftbändern umwickelt. Jedes Band, das sie berührten, schoss sie erneut quer über die Wiese. Hilflos wie Murmeln flogen sie hin und her und kreuz und quer. »Hört auf, euch zu bewegen!«, keuchte Bergold. »Haltet euch an irgendwas fest! Haltet durch!« Roan schaffte es irgendwie, auf die Knie zu kommen, als Leonora erneut auf eines der dreieckigen Tore zukatapultiert wurde. Es öffnete sich, wie als rüste es sich dafür, ihr wieder einen mächtigen Schlag zu versetzen, der sie quer über die Wiese werfen würde. Roan sprang, schleuderte sich todesmutig auf sie - und landete halb auf ihr, halb auf Golden Schwinn. Er half ihr auf die Beine, und sie standen einen Augenblick lang da, einander fest umklammernd. Schwinn lehnte an ihren Beinen, ein krächzendes Wimmern von sich gebend. Das Tor schwenkte wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Fast konnte man meinen, es sei enttäuscht, dass es Leonora nicht erwischt hatte. »Bist du okay?«, fragte Roan. Leonora nickte, löste sich aus seinem Griff und fasste nach dem Fahrradlenker, um nicht gleich wieder umzufallen. Sie zitterte. Sobald er sicher war, dass sie sich allein auf den Beinen halten konnte, eilte er den anderen zu Hilfe. Bergold und Misha hatten es irgendwie geschafft, sich gegenseitig an den Beinen festzuklammern, gleichsam ein lebendes Rad formend. Als sie an Roan vorbeikullerten, passte er genau den richtigen Moment ab und stieß sie um. Das Rad kippte auf die Seite und kam schlitternd zum Stillstand. Die beiden Männer sprangen auf und Bergold stellte seinen üblichen rundlichen Körpertypus wieder her.
»Puh!«, sagte er und tätschelte sich den Bauch. »Es bringt keinen Vorteil, so eine Bohnenstange wie du zu sein.« Misha grinste, und die drei trennten sich, um ihre restlichen Mitstreiter zu retten. Spar hatte das Pech gehabt, genau zwischen zwei Baumgruppen zu geraten. Sie warfen ihn wie einen Spielball zwischen sich hin und her, untermalt von ohrenbetäubendem Geklapper und Geklingel. Roan stürmte zu ihm, als er gerade mitten durch die Luft segelte und riss ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Hastig zerrte er ihn an eine Stelle, die außerhalb der Reichweite der beiden Baumgruppen lag. Als Nächstes befreiten sie Colenna, die sich in ähnlich prekärer Lage befand: Sie war genau ins Zentrum eines Dreiecks von Baumgruppen geraten. Sie stand stocksteif da, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen, aus Angst, sie könne einem der wildgewordenen Bänder zu nahe kommen. Mit Roans Hilfe ließ Spar sich ganz lange, dünne Arme wachsen, mit denen er die Ärmste blitzschnell aus der Gefahrenzone pflückte. Sie hielt sich an ihm fest, bis sie das Gleichgewicht wiedererlangt hatte und auf eigenen Beinen stehen konnte. »Wonach suchen wir?«, fragte Roan, als die Gruppe sich schließlich wieder zusammengefunden und in sicherem Abstand zum nächsten Band versammelt hatte. »Nach den Toren«, sagte Bergold und schaute sich mit suchendem Blick um. »Wenn dies ein echter Arcade-FlipperTraum ist, müssen wir durch ein Paar Tore hindurch, um hier wieder rauszukommen. Den Angaben zufolge, die in den akaschischen Aufzeichnungen stehen, ist das Gelände in Richtung der Tore abschüssig. Das wäre schon einmal ein wichtiger Anhaltspunkt.« »Nach dorthin fällt das Gelände ab«, sagte Lum und deutete mit einer Kopfbewegung nach Südwesten. »Und die Straße dort ist auch abschüssig. Ich bin ein bisschen hin und her geschmissen worden, deshalb weiß ich das.«
»Welchen Weg nehmen wir nun?«, fragte Spar Roan. Roan studierte das Gelände. Der Untergrund unter dem Gras war hart. In dieser Falte der Realität würde es keine Spur von Brom zu sehen geben. Sie würden sich schlicht erneut auf die Suche nach der Fährte begeben müssen, sobald sie erst wieder hier raus waren. »Die Richtung scheint mir die vielversprechendste zu sein«, sagte er, die Längsachse der Wiese entlang nach unten deutend. »Kommen Sie bloß nicht noch mal an irgendwas dran«, sagte Spar zu Felan. Der junge Mann starrte den Hauptmann wütend an. »Denken Sie vielleicht, ich hätte das absichtlich getan?«, fragte er empört. Spar erwiderte darauf nichts, sondern schaute ihn bloß an. »Erfolg!«, schrie Bergold, nach vorn gestikulierend. Vor ihm, am Ende eines langen, sanft abfallenden Hanges, gab es zwei dreieckige, paddelförmige Gebilde, von Bändern umschlungen wie die Bäume und mit leuchtenden Blumen besetzt. Roan beäugte sie skeptisch. Als er sich ihnen näherte, begannen sie sich aufeinander zuzubewegen. »Wir werden es nicht schaffen«, sagte er. »Die Lücke wird zum Durchschlüpfen zu eng sein.« Gerade als er das sagte, bewegten sich die Tore wie der zurück nach außen, aber dafür wuchsen bunte Felsen mit leuchtenden Blumen aus der Erde und versperrten ihnen den Durchgang. »Es vollzieht sich rhythmisch«, bemerkte Misha. »Seht ihr das? Wenn wir unsere Flucht richtig ansetzen, werden sie uns nicht berühren.« »Passt bloß alle gut auf«, warnte Bergold. »Ich habe keine Lust, noch einmal mit irgendwelchen Bäumen zu karambolieren.«
Der Lärm in der Umgebung der Paddel war ohrenbetäubend. Wann immer einer aus der Gruppe auf eine neue Stelle auf dem Boden trat, leuchteten weitere Blumen und Bäume auf, begleitet von lautem Gebimmel, Gerassel, Geklapper, Gesumme, Gepfeife und dem nun schon vertrauten Geklicker. All diese Faktoren erfüllten den Zweck, Eindringlinge zu verwirren. Roan machte sich Sorgen, sie könnten ihn davon ablenken, sicher zwischen den Toren hindurchzuhuschen. Auch machte er sich bange Gedanken darüber, was hinter den Toren lauerte. »Soll ich als Erster durch, Sir?«, fragte Hutchings und reckte die Schultern, bis er mehr nach einem mathematischen Konstrukt als nach einem Menschen aussah. »Nein«, sagte Roan. »Ich gehe als Erster.« Er schwang sich auf den nervös tänzelnden Cruiser. Durch scharfes Beobachten hatte er festgestellt, dass es einen Augenblick gab, da es möglich war, den gesamten Weg zum Tor gerade zurückzulegen, ohne gegen ein einziges Band zu stoßen. Es bedurfte genauesten Timings. Er beruhigte das ROSS mit einem sanften Druck seiner Knie, holte tief Luft und trat in die Pedale. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, da bewegten die Tore sich wieder aufeinander zu. Die Lücke zwische n ihnen wurde immer enger, bis sie schließlich nur noch knapp sechs Fuß breit war. Roan strampelte kräftiger. Wenn seine Beobachtungen stimmten, dann würde sie ihren engsten Punkt erreichen, kurz bevor er sie erreichte, und sich in dem Augenblick wieder öffnen, da er hindurch schoss. Wenn seine Berechnungen falsch waren und sie sich noch weiter schloss, würde er zwischen den Paddeln steckenbleiben. Ein Aufprall bei dem Tempo, verbunden mit einem Rückstoß auf so kurze Entfernung, würde ihm wahrscheinlich das Rückgrat brechen. Alles schien indes nach Plan zu laufen, bis er plötzlich über eine kleine Vertiefung im Rasen fuhr. Cruiser schaffte es zwar,
die Spur zu halten, als er über sie hinwegholperte, aber die Erschütterung schien irgendeine Art von Reaktion in dem seltsamen Wald ausgelöst zu haben. Ein runder Pfeiler, breit wie ein Haus, sprang plötzlich vor ihm aus dem Boden und türmte sich genau zwischen ihm und den Toren auf. Cruiser quietschte erschrocken und bäumte sich auf seinem Hinterrad auf. Roan mühte sich, das Ross unter Kontrolle zu bekommen, und drehte sich mit einem artistischen Schwenk einmal auf dem Hinterrad, um einen Sturz zu vermeiden. In akrobatischer Schräglage lenkte er das Rad um den mit einer Bande versehenen Pfeiler herum, der ihn schrill anbimmelte. Die Tore hatten sich unterdessen so weit geöffnet, wie es nur möglich war und sie begannen sich gerade wieder zu schließen. Roan trat wuchtig in die Pedale, schlängelte sich mit einem letzten artistischen Wedler zwischen den glitzernden Felsen und Hügeln hindurch und schoss durch die Lücke in die Dunkelheit. Sofort verloren sie den Boden unter den Füßen. Cruiser stieß einen schrillen Schrei aus. Roan klammerte sich am Lenker fest. Sie fielen mehrere Fuß tief. Cruiser landete hart auf einem glatten Untergrund. Roan schaute nach oben und sah, dass die Öffnung der Grube vollkommen rund war. Er hatte keinerlei Verletzungen davongetragen, obwohl ihm bei dem Fall fast das Herz stehengeblieben war. Er öffnete den Mund, um eine Warnung nach oben zu rufen. Im selben Augenblick fiel Felan fast auf ihn drauf. »Hirngespinste!«, fluchte Felan, den Rahmen seines Rosses umklammernd. Er landete aufrecht, auf beiden Rädern, und das überraschte Fahrrad sprang wie ein Ball noch einmal kurz in die Luft, ehe es zum Stehen kam. »Achtung!«, schrie Roan und stieß Felan von der Stelle weg, an der sie gestanden hatten. Der Rest der Gruppe kam einer nach dem ändern in die Grube geplumpst, begleitet von dem schon vertrauten schrillen Geklimper und Geklirre.
»Meine Sterne!«, japste Bergold, sobald sein Ross zum Stillstand gekommen war. Als der letzte heruntergeplumpst kam, knatterte eine regelrechte Salve von Klickgeräuschen los und an der Decke leuchtete in riesigen roten und gelben Lettern auf: >revO emaG.< Roan konnte die Schrift nicht entziffern. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie verkehrt herum war. »Da steht >Game over
»Dieses Arcade-Ding hat uns schön vom Weg abgebracht, nicht wahr? Die Frage ist nur: Sind wir gefallen oder wurden wir gestoßen?« »Sie meinen, Brom steckt dahinter?«, fragte Colenna. Bergold zog die Stirn kraus. »Das wäre mit einem ungeheuren Kraftaufwand verbunden«, sagte er. »Das Arcade ist ein natürliches Phänomen. Es kommt und geht überall im Traumland. Ich bezweifle, dass er so etwas für seine Zwecke nutzbar machen könnte.« »Ich halte das für möglich«, sagte Roan. »Oder vielleicht konnte er es zwar bisher nicht, aber jetzt. Es könnte doch sein, dass der Einfluss des Schmelztiegels zunimmt.« »Eine erschreckende Vorstellung«, sagte Leonora mit großen blauen Augen. »Wir müssen ihn schnappen, bevor sie so mächtig werden, dass wir sie nicht mehr aufhalten können, selbst wenn wir's wollen.« »Dann lasst uns keine Zeit verlieren«, sagte Spar grimmig und führte sie hinaus in den Regen. »Wohin?« Der einzige Weg, der sich anbot, war eine einspurige Straße, die sich hinauf in die Berge oberhalb des Flippertales schlängelte. Sie endete an einem Weg, der dahin zurückführte, von wo sie gekommen waren. Sie folgten der Straße. Die erste Biegung, die sie nahmen, auf leicht abschüssiger Straße, führte sie in eine Sackgasse, die an einem schroff abfallenden Felsvorsprung endete, unterhalb dessen sich dichter Wald erstreckte. Weder Roan noch Lum waren überzeugt, dass sie auf dem richtigen Weg waren, wenngleich genügend Verzerrung in der Landschaft war, um den Versuch gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Sie saßen neben einer kahlen Felswand ab, an deren Fuß ein Quell entsprang. Es schien, als wäre irgendwann ein bereiftes Transportfahrzeug mit der richtigen Art von Reifenprofil hier vorbeigerollt, aber
es hatte keine klare Spur hinterlassen, aus der hervorgegangen wäre, wohin es danach gefahren war. Die Spur hörte neben der Felswand plötzlich auf, als wäre sie abgeschaltet worden. Es gab sogar einen halben Fußabdruck. Roan prüfte den Kies neben dem Abdruck mit einem Zeh. Sein Abdruck lief sofort mit Regenwasser voll. Während der letzten Stunden zumindest war hier nichts vorbeigekommen. »Könnten sie von hier aus geflogen sein?«, fragte Colenna. »Das bezweifle ich«, sagte Roan, während er unter seine Krempe hervor hierhin und dorthin spähte. »Wenn sie vorher nicht geflogen sind, müssen sie einen guten Grund haben, warum sie es auch weiterhin nicht tun, sondern weiter zu Lande reisen. Aber wohin sind sie gegangen?« »Das Land könnte sich verschoben haben«, erwog Misha, während er die Spuren untersuchte. »Ich habe so etwas schon mal bei Gütertrennungen gesehen, wo jeder Partner die Hälfte vom gesamten Besitz erhält.« »Ich glaube kaum, dass Brom mitten in Wocabaht bei strömendem Regen eine Scheidungsvereinbarung ausgehandelt hat«, sagte Felan mit einem verächtlichen Grunzen. »Es gefällt mir hier nicht«, sagte Leonora und raffte ihr Cape noch ein Stück fester um die Schultern. »Es fühlt sich irgendwie... verwunschen an. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Land.« »Das ist die Verzerrung«, sagte Lum. »Es kam mir dort oben stärker vor, bevor wir abgebogen sind.« Er zeigte auf die letzte Anhöhe. »Dann sind sie auf der Straße geblieben«, sagte Felan ungeduldig. »Wir haben den falschen Weg gewählt. Was halten Sie davon?« Roan war verwirrt. »Ich könnte schwören, dass wir doch den richtigen Weg genommen haben«, sagte er.
Bergold hob den Saum seines großen Ponchos an und entfaltete die Landkarte. Wasser floss von ihr herunter, als er sie ihnen so hinhielt, dass sie einen Blick auf sie werfen konnten. »Also, das hier ist auf mehrere Meilen nach Osten oder Westen die einzige große Straße. Sie müssen sie nehmen, um weiter nach Norden vorwärtszukommen. Wenn wir auf ihr bleiben, können wir sie kriegen.« »Mein Korporal ist nicht so blöd, wie Sie alle denken«, sagte Spar mit einer ungeduldigen Geste. »Sie könnten irgendwo hier sein.« Er wischte sich den Regen vom Gesicht. »Soldaten! Sucht nach Spuren!« »Boss!«, schrie Mariune. Der Schrei riss Taboret aus tiefem Schlaf. Sie schoss erschreckt hoch. Aller Augen ruhten auf dem großen Söldner, der an der Tür Wacht hielt. »Sie sind da draußen! Sie haben uns gefunden!« »Roan? Hier?« Broms langer Laborkittel flatterte hinter ihm her, als er hinübereilte, um sich zu vergewissern. Er spähte durch das .Guckloch in der Tür zur Rechten. »Der Mann ist wirklich hartnäckig. Sie haben es geschafft, die ersten Rätsel, vor die wir sie gestellt haben, zu überwinden.« »Sie werden versuchen, reinzukommen«, sagte Acton und zückte sein Schwert. »Stecken Sie das Ding weg«, sagte Brom, das Auge nach wie vor am Guckloch. Acton schob die Waffe in die Scheide zurück, doch nicht ohne einen Ausdruck des Bedauerns. »Sie wissen nicht, dass wir hier sind. Diese Festung sieht von außen aus wie ein Berg. Es ist purer Zufall, dass sie hier sind.« »Ja, aber sie gucken schon.« »Wir sollten ihnen den Garaus machen«, sagte Maniune. »Jetzt gleich.«
Taboret starrte den Söldner entsetzt an. Den Garaus machen? Der Prinzessin? All diesen unschuldigen Menschen?« »Unsinn«, sagte Brom zu ihrer großen Erleichterung. Er wandte sich von seinem Beobachtungsposten ab und schaute seinen Henker wütend an. »Ein unangemessener Einsatz von Kraft? Und wie sollen wir dann mit unserem kleinen Spiel fortfahren?« »Ja, aber schauen Sie sie sich doch an«, sagte Acton, während er durch das Guckloch in der linken Tür schaute. »Was ist denn mit ihnen?«, fragte Brom. »Was, wenn sie uns entdecken? Wir sollten sie davon abbringen.« »Nun denn«, sagte Brom mit Belustigung in der Stimme, wenn auch nicht in seiner Miene, »dann sollten wir das mit Köpfchen machen. Warum einen Buick nehmen, wenn eine Fliegenklatsche es auch tut?« »Was ist denn ein Buick?«, fragte Acton. Brom wischte die Frage unwirsch weg. »Wir wenden die Gestalt an. Das sollte reichen, um sie zu verscheuchen, bevor sie unseren Schlupfwinkel entdecken. Viel Kraftaufwand werden wir dafür nicht benötigen. Dowkin, Doolin, ihr übernehmt das! Kommt her!« Die Zwillinge, die gerade mal wieder mitten in einer ihrer privaten Grollsitzungen waren, blickten auf. »Warum gerade wir?«, fragte Doolin. »Wieso müssen ausgerechnet wir zusätzliche Arbeit leisten? Warum nicht irgendeiner von den anderen?« »Weil ihr genügend Kraft habt, um eine kleinere Aufgabe durchzuführen. Jetzt kommt endlich her! Wird's bald!« Die Brüder, die mehr denn je wie zwei Esel aussahen, kamen zu Brom geschlurft. Die beiden Söldner gingen auf sichere Distanz. Sie hatten mittlerweile großen Respekt vor der Macht der Gestalt bekommen, erlebten sie doch täglich, zu was allem sie fähig war. Taboret hatte inzwischen gelernt, die beiden Männer besser zu verstehen. Hatte sie anfangs nur schreckliche
Angst vor ihnen gehabt, so wusste sie jetzt, in einem abgelegenen Teil ihres Bewusstseins - der, wie sie vermutete, Brom gehörte -, dass man sie zahm halten konnte, wenn man ihnen mit Selbstbewusstsein entgegentrat. Widerstrebend hielten Dowkin und Doolin ihre rechte Faust hin. Brom legte seine eigene Hand auf ihre und die weiße Wolke erschien über ihnen. Taboret fühlte, wie ihre eigene Energie angezapft wurde, und konzentrierte sich darauf, sie zu geben, statt sich darüber zu ärgern, dass sie aus dem Schlaf gerissen worden war. Sie konzentrierte sich ganz stark auf den Gedanken, die Anstrengung zu einer gutartigen zu machen, die der Prinzessin oder einem ihrer Begleiter nicht wehtun würde, und hoffte inständig, dass ihr Wille einen Einfluss auf das Ergebnis haben würde. Der Prozess dauerte nicht lange. Brom zerbrach die Verbindung wieder und schickte die Zwillinge zurück in ihre Kojen. »So«, sagte er. »Das wird ihnen das Äquivalent von geistigen Hummeln im Hintern geben. Wir wollen, dass sie sich sofort aufmachen. Außerdem haben wir noch ein paar Ablenkungsmanöver für sie inszeniert, damit sie Energie verschwenden, indem sie einem verworrenen Pfad folgen.« Maniune blieb unbeeindruckt. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir können sie immer noch allemachen, Boss«, sagte er hoffnungsvoll. Acton bekräftigte dies mit einem heftigen Nicken und legte die Hand an sein Seitengewehr. Broms Lider senkten sich halb über seine glitzernden Augen. »Nicht nötig. Es ist ein Spiel, ein Wettbewerb und wir sind auf der Gewinnstraße. Sie haben unsere Spur mit ziemlich hoher Sicherheit endgültig und unwiderruflich verloren. Sie sind jetzt vor uns. Wir können unbehelligt unser Ziel ansteuern. Geht jetzt schlafen. Wir haben morgen viel vor uns. Wir werden früh aufbrechen.«
»Nichts«, sagte Spar frustriert, als er zu Roan zurückkam. Die Prinzessin und Colenna kauerten im Schütze eines kleinen Felsüberhangs am Rande des Weges und teilten sich einen Regenschirm. Efeu und andere üppig wuchernde Pflanzen boten ihnen Windschutz - so dick wie eine Laube auf der Südwestseite des Weges. »Sie sind spurlos verschwunden.« »Es ist dieser Regen«, sagte Misha. »Wir könnten sie vielleicht wiederfinden, wenn er aufhört.« »Wir müssen eine Stelle für unser Nachtlager finden«, bemerkte Roan. Er sah sich um. »Warum nicht hier?«, fragte Felan und machte eine schweifende Handbewegung. »Das Gelände ist eben. Und von hier aus könnte ich auch gut eine Botschaft an den Palast absenden.« »Das ebene Gelände, auf das Sie hinweisen«, sagte Bergold sehr geduldig, »ist eine öffentliche Straße, mein Freund.« »Es ist eine Sackgasse«, erwiderte Felan. »Hier wird niemand vorbeikommen.« »Ich möchte lieber nicht hier bleiben«, meldete sich Leonora zu Wort, den Griff ihres Regenschirmes mit beiden Händen umklammernd. »Mir gefällt die Atmosphäre nicht. Irgendetwas fühlt sich falsch an. Die Rösser spüren es auch.« »Mir gefällt es selbst auch nicht sehr«, sekundierte Spar. Roan nickte, dabei Regentropfen versprühend. »Irgendetwas Böses ist hier vorgefallen; jedenfalls fühlt es sich so an. Es gefällt mir nicht, dass ich nicht überallhin schauen kann. Gehen wir.« »Ja, wir sollten besser weiterziehen«, sagte Bergold. »Ich bin nass bis auf die Haut und eine Ruhepause käme mir sehr gelegen. Aber nicht hier.« Roan merkte plötzlich, dass er es gar nicht abwarten konnte weiterzuziehen. »Einverstanden«, sagte er und schwang sich
auf Cruiser. »Es geht zwar bergauf, aber die Steigung ist eher sanft.« »Und was ist mit der Botschaft?«, fragte Felan. »Setzen Sie Ihre Botschaft ab und kommen Sie nach«, sagte Roan voller Ungeduld. »Wir dürften leicht zu finden sein. Es gibt nur die eine Straße. Hutchings, Sie bleiben bei ihm.« »Jawohl, Sir«, sagte der Gardist und zog ein klägliches Gesicht. Die Gruppe hatte keine andere Wahl, als weiter dem Regen zu trotzen und bergauf zu strampeln. Der Regen hatte zwischenzeitlich ein wenig nachgelassen, dann aber in voller Stärke wieder eingesetzt. Cruisers Reifen rutschten immer wieder auf dem Kiesuntergrund weg. An der ersten Kreuzung ließ Roan sie nach rechts abbiegen. Der Karte zufolge bewegten sie sich grob in Richtung NordNordost. Der bleigraue Himmel bot keine Orientierungshilfe; er zeigte weder die Sonne noch Kompasspunkte unter den blauen Isobaren. Sowohl der linke Pfad als auch der rechte schienen weiter nach oben zu führen. Roan hatte das Gefühl, als ob die Steigung in dem Augenblick schärfer wurde, als er mit dem Aufstieg begann. Die nächste Biegung bot nur noch weitere steile Anstiege. »Ich kann mich nicht an so hohe Berge auf der Karte erinnern«, schnaufte Bergold. »Ich glaube, ich hatte Recht mit meiner Vermutung«, sagte Misha nach einer Weile. »Diese Berge bewegen sich. Wir müssten eigentlich bergab rollen, aber wir strampeln noch immer bergauf.« »Die Landschaft spielt mit uns«, sagte Colenna stoisch. »Strampelt weiter. Das ist alles, was wir im Augenblick tun können.« Inzwischen wusste Roan nicht mehr, ob er vom Regen oder
vom Schweiß durchgeweicht war. Die anderen ermüdeten zusehends und der Himmel wurde dunkler. Leonora hielt sich wacker und strampelte heldenhaft, aber schließlich besaß sie einfach nicht mehr die Kraft, um ihr goldenes Ross weiter bergan zu wuchten. Roan knotete ein Seil an Schwinns Rahmen und half ihnen, eine besonders giftige Steigung hinaufzukommen, bis auch er endgültig nicht mehr konnte. Alle saßen erschöpft ab und schoben ihre müden Rösser bergauf. Weiter oben sah Roan einen flachen Berggipfel, der von Bäumen mit regenschweren Kronen geschützt war. »Wie war's damit?«, rief Bergold und knuffte ihm von hinten in die Rippen. »Das sieht ganz gut aus«, sagte Roan. »Muss es auch. Ich hoffe nur, es klart bis morgen früh wieder auf.« Auf dem Gipfel angekommen, drehte Roan sich um und ließ den Blick über das Terrain schweifen, das sie gerade durchmessen hatten. Von dieser hohen Warte aus sah die Landschaft in dem Regen ziemlich hübsch aus, wie eine Wasserfarbenmalerei. Die steilen Hänge, die sie sich hinaufgerackert hatten, hatten sich zu grünen und goldenen Wiesen und Senken abgemildert. Er hoffte, dass das nicht bedeutete, dass das Traumland selbst sich gegen sie verschworen hatte, um Brom zu ermöglichen, sein Ziel zu erreichen. Konnte es sein, dass sogar die Schläfer selbst neugierig auf die Theorie des Wissenschaftlers waren? Obwohl es immer noch heftig regnete, gaben sich Roan und die Gardisten die größte Mühe, um der Prinzessin ein angemessenes Obdach zu errichten. Sodann setzten Roan, Misha und Bergold gemeinsam ihren gesamten Einfluss ein, um alle ihre Mäntel und Capes zu einer einzigen großen wasserdichten Plane zu verschmelzen, die dem Rest von ihnen Schutz gegen den Regen bieten sollte. Sie befestigten sie mit Seilen an den Bäumen ringsherum und spannten sie zu einem notdürftigen Dach. Für die Rösser reichte der Platz freilich
nicht ganz aus, sodass diesen nichts anderes übrigblieb, als sich draußen im Regen aneinander zu drängen. »Hoffentlich fangen sie bis morgen früh nicht an zu rosten«, sagte Felan, während er seinem Ross einen letzten Klaps gab. »Es dürfte ihnen eigentlich nichts anhaben«, meinte Lum. »Es sind schließlich Allwettertiere. Meines hat jedenfalls schon Schlimmeres durchgemacht.« Mit ihrem Allzweckfeueranzünder entfachte Colenna ein mächtiges Lagerfeuer und zündete die Kohlenpfanne im Zelt der Prinzessin an. Leonora bedankte sich bei allen und zog sich in ihr kleines Zelt zurück. Die an deren machten es sich rings um das Lagerfeuer bequem dankbar für die Wärme, die es spendete. Sie ließen ihre Oberkleider ein wenig trocknen, bevor sie sich auszogen und in ihre Schlafsäcke krochen. Roans Muskeln schmerzten höllisch. Er dachte an die Tube Salbe in seiner Tasche, aber er war zu müde, um aufzustehen und sich einzureihen. Er lauschte dem Trommeln des Regens auf der Plane und dem Murmeln des Windes in den Wipfeln. »Ich glaub, ich kann mich nie wieder bewegen«, sagte Felan, als er mit einem Seufzer in seinen Schlafsack schlüpfte. »Mir ist schleierhaft, wie Brom mit seiner schweren Last einen solchen Vorsprung auf uns herausarbeiten konnte.« »Wir müssen ihn morgen einholen«, rief ein paar Schritte weiter Spar aus seinem Kommiss-Schlafsack. »Ich habe ein Wörtchen mit diesem Brom zu reden. Ein ganz persönliches Wörtchen - unter Männern.«
17. KAPITEL Ein zartes Klirren weckte Roan. Er war froh, aus dem beunruhigenden Traum zu entfliehen, den er gerade gehabt hatte. Es war der gleiche wie in der Nacht zuvor. Er hatte unter tosendem Beifall mit Dutzenden von Eiern gleichzeitig jongliert. Er wusste, wenn er eines davon fallenließe, würde er die Welt vernichten. Gleichzeitig empfand er sich als einen Schwindler, der sich für den eigentlichen, den echten Jongleur ausgab. Jeden Augenblick, fürchtete er, würde das Publikum den Schwindel durchschauen und ihn ausbuhen. Er horchte. Der Regen hatte aufgehört. Es herrschte fast vollkommene Stille auf dem Berggipfel. Er vernahm lediglich ganz leises Vogelgezwitscher in einem Baum gleich über ihm, aber das war nicht das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Die Luft war trocken und duftete nach Blumen - und noch nach etwas anderem. Er sog tief Atem ein. Es war der betörende Duft von heißem Toast und Rührei, der ihn in der Nase kitzelte. Der warme Geruch kam näher, vermischt mit einem unbeschreiblichen, exotischen Parfüm. Er schlug die Augen auf. Leonora stand über ihn gebeugt. Sie trug ihre Reisekleider. Sie kniete sich neben ihn und legte einen Finger auf ihre Lippen. »Möchtest du mit mir frühstücken?«, fragte sie ihn im Flüsterton. Roan nickte. Er schlug seinen Schlafsack auf und rollte sich auf die Füße. Es war kurz vor dem Morgengrauen. Im fahlen, rosafarbenen Licht konnte Roan die Schatten, die die anderen in ihren Schlafsäcken warfen, sehen. Er ging ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Die Prinzessin geleitete ihn auf Zehenspitzen zu ihrem Zelt. Im Innern des kleinen Zeltes war ein zierlicher Tisch für
zwei gedeckt. Der warme Schimmer zweier Kerzen fiel auf silberne Wärmepfannen, eine Porzellanschale voller Beeren nebst einem dazu passenden Krug, funkelndes Silberbesteck, eine kristallne Konfitüreschale nebst passendem Löffel, Porzellantassen, spitzenbesetzte Servietten, ein Väschen mit einer einzelnen Rose und eine Wasserkaraffe aus geschliffenem Kristall. Roan half Leonora, Platz zu nehmen, und wartete, dass sie nickte, zum Zeichen, dass auch er sich setzen dürfe. Ihm fiel auf, dass leise Musik spielte, leise genug, um das morgendliche Vogelgezwitscher nicht zu übertönen. »So!«, sagte die Prinzessin, ihre Serviette mit froher Zufriedenheit aufschlagend. »Jetzt können wir ein schönes, gemütliches Frühstück genießen, ohne irgendjemanden damit aufzuhalten. Darf ich dir von den Beeren auftragen?« »Wenn du gestattest«, sagte Roan und griff nach dem silbernen Servierlöffel. Er war voller Bewunderung für sie. Nach zwei Tagen strapaziösen Reisens war sie früh aufgestanden, um ihre Morgentoilette zu machen und dieses königliche Arrangement mit all dem Drum und Dran, das sie von daheim gewohnt war, vorzubereiten. Leonora hielt ihr Versprechen - auf ihre ganz eigene Weise. Sie würde vielleicht in einem Zelt mitten in der gottverlassensten Einöde wohnen müssen, aber sie würde es in vornehmem, königlichem Stil tun. »Das ist das mindeste, was ich tun kann.« »Lass es mich ruhig machen«, sagte Leonora und nahm ihm den Servierlöffel mit einer zierlichen Handbewegung wieder ab. Sie füllte Beeren in zwei Schälchen und goss aus dem Krug reichlich Rahm über beide Portionen. »Wie lange musst du schon wach sein, um das alles vorbereitet zu haben?«, fragte Roan und schaute bewundernd zu, mit welcher Eleganz sie ihre zierlichen Hände bewegte. »Bestimmt mehrere Stunden.«
»Ich bin sicher, ganz so lang war's nicht. Möchtest du Zucker?« »Nur ein bisschen. Und ich bin sicher, dass es Stunden waren«, sagte Roan. »Es ist, als ob ein ganzes Heer von Bedienst -« Er hielt inne. »Nein«, sagte Leonora, sein plötzliches Stocken elegant übergehend. »Nur ich.« Sie griff nach einer silbernen Kanne. Duftender Dampf stieg aus ihrer Tülle. »Kaffee, Tee oder Kakao?«, fragte sie. »Kaffee«, sagte Roan. Sie schenkte ihm Kaffee ein, und nach einer kurzen Pause, in der die Silberkanne sich leicht verdickte und sich eine breitere Tülle zulegte, sich selbst Kakao. Beides duftete ambrosisch. Roan trank einen kleinen Schluck und seufzte wohlig. »Köstlich!« Leonora strahlte ihn zwischen den Kerzen hindurch an. »Du siehst bei Kerzenschein fürwahr wunderschön aus, meine Liebe«, sagte er. Das Grübchen erschien in ihrer Wange. »Danke. Du bist sehr galant für eine so frühe Stunde.« »Du inspirierst mich halt«, sagte Roan. Hastig aß er einen Löffel Beeren. »Wünschst du dir nicht, du könntest hinter Brom herfliegen, so wie du es getan hast, als du das letzte Mal nach Mnemosyne zurückgekehrt bist?«, fragte Leonora, wobei sie ihn neckisch über ihre Schokoladentasse hinweg anschaute. »Nein«, sagte Roan, der den intimen, fast zärtlichen Klang ihrer Stimme ebenso sehr genoss wie den köstlichen Geschmack der Beeren. Ihr Streit vom Vortag war vorbei, vergeben und vergessen. Er war glücklich. »Ich kann mir beim besten Willen nichts vorstellen, was mir mehr Freude gemacht hätte als diese Mission.« »Trotz all der Gefahren, die sie mit sich bringt, trotz der
Furcht, dass dies das Ende des Traumlandes bedeuten könnte?« »Ich würde mit Freuden auf allen Komfort verzichten - für einen Augenblick wie diesen, wo ich mit dir allein sein kann«, sagte Roan, sein ganzes Herz in seine Worte legend. »Wenn die Welt jetzt unterginge, hätte ich nicht das Gefühl, irgendetwas versäumt zu haben.« Leonora schüttelte ungehalten den Kopf, beunruhigt von einem Gedanken, der ihr plötzlich gekommen war. Roan nahm ein Stück Brot und knetete es mit Daumen und Zeigefinger zu einem Taler, den er Leonora anbot. Sie nahm ihn mit einem leisen Schmunzeln über diesen kleinen Brauch aus ihrer Kindheit entgegen, aber ihr Gesichtsausdruck blieb besorgt. Roan wartete geduldig. Schließlich brach sie das Schweigen. »Roan, ich habe Angst.« »Ich auch, meine Liebe«, sagte er. »Wir können nur alles versuchen, was in unserer Macht steht.« »Wir müssen mehr als das«, beharrte Leonora. »Wir müssen erfolgreich sein.« Roan nickte resolut. »Dann werden wir das auch. Wenn ich es schaffe, Brom einzuholen, wird nichts mich daran hindern, ihn davon abzuhalten, seinen furchtbaren Plan in die Tat umzusetzen.« »Und mich auch nicht«, sagte Leonora mit einem zaghaften Augenaufschlag. »Ja«, begann Roan mit entschlossener Stimme. »Du bist Teil dieses Teams. Übrigens, ich habe ein Geschenk für dich.« Leonora schnurrte vor Entzücken, als er ihr die kleine weiße Schachtel überreichte. Sie löste das Band und er bewunderte die glatte Haut ihrer Wange und den zarten Schwung ihrer Wimpern im Schein der Kerzen. »Du liebe Güte, was ist das?« Sie blickte mit einem
Augenzwinkern zu Roan auf, als sie das Taschenmesser aus seinem Wattenest lupfte. Sie klappte aufs Geratewohl eine der Klingen heraus; es war eine Fünfzehn-Zoll-Schrotsäge. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über einen der scharfen Zähne. »Nicht gerade das übliche Geschenk für eine junge Dame.« »Aber sehr passend für eine Gefährtin und Partnerin«, sagte Roan. Leonoras Wangen erröteten vor Freude. »Ich muss ein ernstes Wort mit meinem Vater reden«, sagte sie unvermittelt. »Es ist absurd, dass er dich so um meine Hand zappeln lässt. Er macht dir überhaupt keine Hoffnungen. Ich will das nicht. Wo finde ich einen Prinzen, der all die gleichen guten Eigenschaften hat wie du? In der Wachwelt vielleicht? Dass ich nicht lache!« Sie lachte. Ihr Lachen weckte die anderen. »Ein Witz?«, fragte verschlafen Bergolds Stimme. »Ein privater«, rief Roan, über den Tisch hinweg Leonora anlächelnd. »Oh. Oh! Das sieht aber gut aus!«, sagte Bergold. Er lugte in das Zelt. Mit seinem glatten, runden Gesicht, dem lockigen Haar, dem längsgestreiften Nachthemd und der Nachtmütze sah er aus wie ein Riesenbaby. »Lass es dir schmecken.« »Danke, mein Freund«, sagte Roan. Er schaute Leonora an, deren Augen groß und dunkel vor Rührung waren - und wunderschön. »Das werd ich.« Der Historiker nahm seine Tasche und bahnte sich seinen Weg quer durch das Lager zum Waschbereich. Roan wandte den Blick wieder auf Leonora. Ihre Augen, von einem gedankenvollen Dunkelblau ausgefüllt, waren auf ihn gerichtet. »Armer Roan«, sagte sie. »Nicht nur, dass du uns führen musst, du musst auch noch mit unseren Hoffnungen und Ängsten und Launen fertigwerden.«
»Und mit meinen eigenen dazu«, sagte er. »Ich befürchte fast, dass diese ganze Mission zu nichts führt. Einige der anderen denken das auch. Ich kann es jedesmal, wenn ich eine Entscheidung fälle, in welche Richtung wir uns wenden sollen, an Felans Blick sehen. Er hält mich für einen Betrüger. Ich bin der einzige von uns, der Brom woanders als in Mnemosyne gesehen hat. Ich könnte genausogut sein Agent sein, der euch an der Nase herumführt, bis er es schafft, den WECKER losschrillen zu lassen - zum Guten oder zum Schlechten.« »Unsinn«, sagte Leonora. »Ich weiß, dass du aufrichtig und redlich bist. Ich sehe, wie du dich sorgst und quälst. Du bist ein guter Führer, ein besserer, als du glaubst. Nochmals vielen Dank für dieses schöne Ding«, sagte sie und hielt das blaue Taschenmesser hoch. »Es bekommt einen ganz besonderen Ehrenplatz.« Sie zog das kleine Goldmedaillon mit dem eingravierten großen L aus dem Ausschnitt ihrer Seidentunika und klappte es auf. Roan schaute hinüber. Es war ein ganz besonderes Medaillon, ein Geschenk ihrer einzigen Tante, der Herzogin von Elysien, einer Frau, die er sehr verehrte, obwohl sie ihm in seiner Kindheit des öfteren was mit dem Kochlöffel auf die Pfoten gegeben hatte. Leonora bewahrte ihre besonderen persönlichen Schätze in dem kleinen Schmuckstück auf. »Erinnerst du dich noch an die hier?«, fragte sie und zog eine zerknüllte und fast vertrocknete Blumenkette aus dem Medaillon hervor. »Die hast du an meinem sechzehnten Geburtstag für mich gemacht. Ich hab's dir nie gesagt, aber ich glaube, sie gefiel mir mehr als alle anderen Geschenke, die ich an dem Tag bekam.« Roan, der sich an einen Sommertag voller Erdbeerer mit Schlagsahne, Luftschlangen, Girlanden und Ballons, an einen prachtvollen, romantischen Sonnenuntergang und seinen ersten Kuss erinnerte, schüttelte erstaunt den Kopf. »Was hast du sonst noch alles da drin?«
Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, und Roan erkannte darin den Liebesbrief wieder, den er ihr während seiner ersten selbstständigen langen Reise als Investigator des Königs geschrieben hatte. Leonora entfaltete ihn und las die wenigen Zeilen still noch einmal für sich. Ihre Lippen öffneten sich zu einem sanften Lächeln. Roan brauchte den Brief nicht noch einmal zu lesen, um sich an das zu erinnern, was er geschrieben hatte. Sie faltete ihn wieder zusammen und legte ihn mit einem zarten Klaps neben sich auf den Tisch. »Ich hatte damals Angst, du würdest vielleicht nie mehr zurückkommen«, sagte sie. »Und ich hatte Angst, ich würde es nicht zurück schaffen«, gestand Roan. »Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich mich traute, so viel zu sagen. War ich zu vermessen?« »Nicht vermessen genug, wie ich fand«, sagte Leonora, schelmisch eine Braue hochziehend. Das kleine goldene Döschen enthielt außerdem ein hübsches Portrait ihrer Eltern, eine winzige juwelenbesetzte Brosche, eine Rolle Pfefferminz, ein Parfümfläschchen und einen Diamantohrring. »Dahin hatte ich den also verkramt!«, rief sie, den Ohrring mit Daumen und Zeigefinger aufhebend. »Den suche ich schon seit Monaten! Und dabei lag er die ganze Zeit in meinem Medaillon!« »Den Schläfern sei Dank«, sagte Roan. Er verputzte den letzten Bissen von seinem Toast. »Wir sollten langsam mal los. Die Sonne geht gleich auf. Ich muss die anderen aus dem Bett scheuchen.« Er schaute ihr dabei zu, wie sie ihre Schätze wieder in das Medaillon zurücksteckte, das Messer als letztes. »Ich bin beeindruckt, was da alles reinpasst«, sagte er. »Ach, das ist noch gar nichts«, erwiderte Leonora. »Du solltest mal in Colennas Handtasche schauen.«
»Das hab ich schon einmal, danke«, sagte Roan mit einem Grinsen. »Es geht das Gerücht, dass sie verheiratet war und dass ihr Mann da reingefallen ist, als er nach einem Taschentuch suchte und bis heute noch irgendwo da drin steckt.« Leonora bekam einen sentimentalen Ausdruck in den Augen. »Glaubst du, sie und Spar könnten heiraten? Er ist ein guter Mann und sie ist so furchtbar nett.« »Ich hoffe es«, sagte Roan. Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Nach meiner Erfahrung ist sie stets auf alle Eventualitäten vorbereitet, noch vor allen anderen. Wie ich sie kenne, hat sie die Hochzeitsfeier wahrscheinlich schon minutiös durchgeplant. Er weiß es bloß noch nicht.« Leonora lachte, und Roan stand auf, immer noch ihre Hand haltend. Es gab noch viel zu tun, aber es widerstrebte ihm, sie zu verlassen. Er fühlte sich gefestigt und bestärkt durch ihre Wertschätzung und war glücklich und froh über die außerordentliche Mühe, die sie sich gemacht hatte, sich in die Gruppe einzufügen. Er liebte sie wirklich sehr. Sie inspirierte ihn immer wieder aufs Neue. Das mindeste, was er tun konnte, war, ihrem Beispiel zu folgen. Er wollte gehen und sich für den Tag frisch machen und dann die Gegend ein wenig erkunden, bevor die anderen bereit zum Abmarsch waren. Er beugte sich zu ihr hinunter und küßte noch einmal ihre Hand. Sie war warm und weich und an einem Finger klebte ein winziger Klecks Himbeermarmelade. Er straffte sich und blickte ihr tief in die Augen. »Ich ... ich hoffe, sie werden so glücklich werden, wie du mich machst.« Leonora stand auf und nahm ihn in die Arme und er beugte sich und berührte ihre Lippen mit seinen. Ihr Haar fühlte sich wie Seide unter seiner Hand an, und die Kurven ihres Rückens schmiegten sich in seine Arme, als wären sie ein einziges Stück
warmen, liebenden Fleisches. Roan hatte das Gefühl, als zerplatzten; Feuerwerkskörper und erblühten zu prachtvollen, himmelfüllenden Kunstwerken. Und er hörte tosende Orchestermusik, als sie sich küßten. »Schon gut! Es reicht!«, protestierte Felan. Er saß aufrecht in seinem Schlafsack und hielt sich die Ohren zu. »Hört auf damit! Ich bin wach! Bei den Schlafgöttern, es ist noch vor Sonnenaufgang!« »Und wohin nun?«, fragte Spar, als alle kurz nach Sonnenaufgang abmarschbereit waren. Lum fing an, nach der Fährte Ausschau zu halten. »Wir halten uns wieder nach Nordosten«, sagte Roan. Er fühlte sich nicht sonderlich sicher mit dieser Entscheidung und das war ihm offenbar anzusehen. »Unser Weg müsste die ganze Zeit bergab gehen, nach gestern Abend.« »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Lum. Sein ehrliches Gesicht schien verwirrt. »Es gibt keine Verzerrung oder Merkwürdigkeit, der wir folgen könnten. Noch irgendwelche Spuren.« »Nun, es ist halt die einzige Hauptstraße in dieser Gegend«, sagte Roan, dem es widerstrebte, seine Erwägungen zu erläutern. »Brom ist aus dieser Richtung gekommen, und er muss auf dieser Straße weitergehen, falls er nicht vorhat, umzukehren und fast die ganze Strecke bis zur Brücke zurückzugehen. Ich bezweifle, dass er sich die Zeit nehmen will, noch einmal den gleichen Weg zurückzugehen, den er gekommen ist.« »Und woher wollen Sie das wissen?«, fragte Felan misstrauisch. »Ohne irgendwelche Spuren oder Hinweise?« »Schauen Sie sich doch einmal die Landkarte an«, sagte Roan. Bergold hielt sie Felan zuvorkommend hin, aber der winkte unwirsch ab.
»Ich werde diese Reise nicht weiter mitmachen, wenn Sie mir nicht wenigstens einen handfesten Anhaltspunkt liefern.« Leonora stand daneben und ermunterte ihn stumm mit den Augen. Ihr Reiseumhang war unter dem Kinn zugeschnürt und ihr gesamtes Gepäck ruhte bereits auf dem Rücken ihres Rosses. Sie konnte ihm nicht helfen und das wusste er. Wenn er ausschließlich auf ihre Unterstützung baute, würden die anderen ihn niemals für voll nehmen. Trotzdem war er unglücklich darüber, dass seine Führerschaft angezweifelt wurde. Er hasste es, im Rampenlicht zu stehen. Es wäre umso vieles leichter gewesen, wenn er allein hätte reisen können. Er war immer dann am besten, wenn er allein im Auftrag des Königs reiste, denn wenn er falsch abbog oder eine falsche Entscheidung traf, war niemand anders davon betroffen. Außerdem vermochte er, auf sich allein gestellt, ein Geheimnis sowohl zu kennen als auch zu bewahren, etwas, das nicht passieren konnte, wenn er ihnen erzählte, warum er wusste, was er tat. »Vertrauen Sie mir, Meister Felan«, sagte er, so viel Zuversicht versprühend, wie er konnte. »Es ist nur logisch. Er weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind. Er muss zusehen, dass er so schnell wie möglich sein Ziel erreicht, ohne irgendwelche Umwege.« Aber Felan war nicht überzeugt. Er fuhr fort, Roan mit seinen haselnussbraunen Augen anzustarren, so als ginge ihm das Wort >Missgeburt< durch den Kopf. Colenna und Bergold warteten einfach nur. Es fiel schwer, sich daran zu erinnern, dass erst zwei Tage vergangen waren und er musste sich als Führer eindeutig erst noch das Vertrauen seiner Gruppe verdienen. »Wir haben uns die ganze Zeit nach Spuren und Fährten gerichtet«, sagte Felan. »Warum sollen wir jetzt plötzlich blind drauflos marschieren?«
»Wir marschieren nicht blind drauflos«, gab Roan schließlich zu. Die Wahrheit zu verraten, konnte womöglich die Quelle seiner Hinweise gefährden. Er setzte zum Sprechen an, hielt erneut inne und biss sich auf die Lippe, unschlüssig, und traf dann, angesichts des Zweifels, den er in Spars und Felans Augen sah, seine Entscheidung. Er winkte sie zu sich und vergewisserte sich, dass kein Lauscher in der Nähe war, der mithören konnte. »Also«, begann Roan. »Ich erhalte seit einiger Zeit Mitteilungen von ... jemandem vor uns. Ich habe heute Morgen noch nichts von ... dieser Person gehört, aber mehrfach eindeutige Hinweise gefunden. Ich habe im Augenblick zwar keine handfeste Spur, aber ich weiß sehr wohl, in welche Hauptrichtung sie sich bewegen. Wir können sicher sein, dass wir die Spur bald wiederfinden. Es gibt in dieser Region nur eine begrenzte Anzahl von Straßen, die in der Lage sind, sie zu tragen. Nötigenfalls können wir uns in mehrere Gruppen aufteilen, um alle Straßen abzudecken.« »Von jemandem vor uns?«, fragte Felan. Der Rest der Gruppe starrte Roan mit offenem Mund an. »Sie meinen, jemand aus Broms Gruppe?« »Ein Spion?«, fragte Spar. »Sie haben einen Spion in Broms Lager?« »Einen Freund«, sagte Roan. Spar fing an zu lachen. »Sie gerissenes Bürschchen, Sie.« »Hauptmann Spar!«, rief Leonora schockiert. »Entschuldigung, Eure Hoheit, ich bitte um Verzeihung«, sagte der Hauptmann der Garde, immer noch mit einem Grinsen in seinem zerklüfteten Gesicht. »Und Sie haben uns die ganze Zeit kein Sterbenswörtchen davon gesagt. In Ordnung. Dann folgt meinem Führer. Gardisten! Aufgesessen!«
18. KAPITEL Mittag. Taboret fühlte, wie die Sonne ihr aus einem unerbittlichen Himmel auf den Kopf brannte. Wenigstens brauchte sie nach ihrer langen Schicht vom Vortag zumindest für ein paar Tage den WECKER nicht mitzutragen. Diese Freiheit bedeutete, dass sie als Bauarbeiterin eingesetzt werden konnte. Sie wusste nicht mehr, wann sie sich das letzte Mal richtig wohl und ausgeruht gefühlt hatte. Zum Glück schien ihr Körper, schlank und stark, wie er war, gut gerüstet für harte körperliche Arbeit. Ihre sonnengebräunten Arme, entblößt bis zu den Schultern, waren muskulös. Ein ziemlicher Unterschied zu dem bleichen, schlaffen Akademikerkörper, den sie gewöhnlich in Mnemosyne ausfüllte. Sie verdrängte immer wieder den Gedanken aus ihrem offenen Geist, dass es kurzsichtig von Brom war, Roan an einem Ort, an dem es nur eine Straße gab, vorzulassen. Nun mussten sie sich ihre eigene Straße durch unwegsames Terrain bahnen, um ihren Vorsprung wiederzuerlangen. Das Formen ihres Nachtlagers hatte eine Menge Schmelztiegelkraft aufgebraucht; die Aufgabe, die jetzt vor ihnen lag, sog die Gestalt bis zur Neige leer und schürfte gierig noch tiefer, gewissermaßen durch den Boden des Fasses hindurch. Aber es war zwecklos, Brom zu behelligen. Er hatte schon genug Dinge am Hals, die ihn ärgerten, da brauchte er nicht noch zusätzlichen Kummer von ihr. Der Boden hier war felsig, aber auch brüchig, fast bar jeder Vegetation. Bolmer hatte eine Ablagerung von Nebulosität in der engen Schlucht entdeckt. Die Lehrlinge gruben sie aus und schusterten daraus einen passablen Fahrdamm über die hohen Spitzen der Felsen zusammen. Nebulosität fühlte sich angenehm und weich unter den Füßen an, oder besser: unter den Rädern. Als Bestandteil des Fahrdamms sah das meiste
davon wie schwarzer Teerbeton aus, aber anfühlen tat es sich wie Schaumgummi. Mit riesigen, überdimensional aufgeblasenen Reifen an ihren aufgemotzten Fahr- und Motorrädern kurvten diejenigen Lehrlinge, die das Glück hatten, nicht den WECKER schleppen zu müssen, über die hüfthohen Felsbrocken und gähnenden Schlünde hinter die Trage, um die bereits befahrenen Nebulositätssegmente aufzusammeln und nach vorn zu transportieren, wo sie wieder für den nächsten Streckenabschnitt drangestückelt wurden. Taboret schätzte, dass sie jedes der federleichten Segmente schon mindestens tausendmal in der Hand gehabt hatte. Es war nicht so sehr das Tragen, das ihr auf den Geist ging, als vielmehr das ständige Bücken, Aufheben und wieder Bücken. Das ging unendlich langsam vonstatten und sie langweilte sich zu Tode. »Pass auf!«, schrie Glinn. Taboret fühlte, wie der WECKER klingelte, noch bevor sie es tatsächlich hörte und riss ihr scheuendes Ross von dem Nebulositätsfahrdamm herunter und auf den nächstbesten echten Fels. Ein wilder Schrei ertönte, unmittelbar gefolgt von einem schrecklich schrillen Quieken. Sie spürte Schrecken und Entsetzen, aber es war nicht ihr eigenes. Sie riss ihr Ross herum und brauste hin, um zu sehen, was passiert war. Bolmer lag auf der Sohle des Tals, ein Dutzend Fuß unter ihnen. Sein Ross war mit ihm in die Tiefe gestürzt und hing, in zwei Stücke zerbrochen, über dem Grat eines scharfkantigen Felsbrockens. Sie drehte die Maschine ihres Bikes hoch und fuhr zu ihm hinunter. Basil warf das Nebulositätssegment, das er gerade nach vorn trug, beiseite und klomm über die Felsen. »Was ist passiert?«, rief sie. »Er wollte sich gerade hinüberbeugen, um ein Segment vorne dranzulegen, als plötzlich der WECKER klingelte«, sagte Glinn grimmig. Er schwang sich von seinem Motorrad
und kletterte hinunter, um Bolmer zu helfen. »Es hat sich aufgelöst und er verlor das Gleichgewicht.« Bolmer setzte sich gerade auf. Vorsichtig betastete er seinen Kopf mit den Fingerspitzen. Er hatte rasendes Kopfweh und eine ganze Latte anderer Schmerzen, die sich durch das unsichtbare Band zu den anderen fortpflanzten. Taboret stieß ein Zischen aus, gleichermaßen vor Schreck wie vor Schmerzen. Nebulosität war äußerst empfindlich gegen den Klang von Glocken und reagierte sehr merkwürdig darauf. Manchmal veränderte sie sich nur, meistens aber löste sie sich schlicht in Nichts auf. »Wir können nichts dafür«, sagte Doolin wütend und schob seine kantige Kinnlade vor. Er war an der Vorderseite der Trage festgegurtet. »Wir sind über eine vorstehende Fuge gestolpert. Dieser Untergrund ist nicht glatt genug.« »Nein«, pflichtete Dowkin ihm bei. »Jeder versucht uns hier ein Bein zu stellen.« Schock und Empörung rasten wie eine Welle durch das unsichtbare Band. Die Brüder spürten es und saßen mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen da, als alle sie anstarrten. »Wie könnt ihr es wagen, dazusitzen und zu versuchen, euch reinzuwaschen, wenn er hätte umkommen können!«, schrie Taboret sie an. Sie wollten cool wirken, aber sie konnte spüren, dass sie Angst hatten. »Genug!«, rief Brom und richtete sich in den Steigbügeln seiner Maschine auf. Er erschien mehr verärgert und genervt denn besorgt und sie alle fühlten sein Missfallen. Taboret schluckte und verstummte. »Sie, Sie und Sie«, wies er sie und die beiden ihr am nächsten stehenden Lehrlinge an, »helfen Glinn, ihn aufzuheben und sein Ross wieder hier hochzuschaffen. Wir werden den Schmelztiegel bilden und die erforderlichen
Reparaturen durchführen.« Mithilfe der restlichen Nebulosität fertigten sie Leitern und Traggurte und hievten Bolmer behutsam aus der Schlucht und betteten ihn auf eines der intakten Fahrbahnsegmente. Glinn half ihm, sich flach hinzulegen und ermittelte das Ausmaß seiner Verletzungen. Abgesehen von seinen Blessuren am Kopf hatte er sich auch noch ein Bein gebrochen. Er stöhnte vor Schmerzen und mit jedem Schmerzstich veränderte er sein Aussehen. »Lass das«, sagte Carina und legte die Hände auf ihn, damit er still lag. Sie verfügte über umfassende Erste-HilfeKenntnisse. »Ich kann dein Bein nicht richten, wenn du ständig herumzappelst.« »Es tut weh, verflucht nochmal!«, beschwerte er sich. »Alles tut weh.« Taboret kniete sich neben ihn und spendete ihm ein wenig von ihrer persönlichen Kraft, um die Schmerzen zu lindern und er schaute sie mit dankbaren Augen an. »So, das ist schon besser«, sagte Carina. Sie bedeutete Taboret, sich auf Bolmers Brust zu setzen, und gemeinsam zogen sie und Glinn an Bolmers Bein, bis der Knochen mit einem schnappenden Geräusch wieder einrastete. Sodann nahm sie ein wenig Nebulosität und formte daraus einen Gipsverband, den sie ihm anlegte. »Können wir nicht ein wenig Gestaltenergie verwenden, um den Knochen wieder zusammenzufügen?«, fragte sie Brom, der ihre Arbeit auf dem nächsten Fels stehend überwachte. »Natürlich. Und wir müssen auch sein Fahrrad wieder zusammenfügen«, erwiderte er. Er streckte die Hand aus und die anderen scharten sich um ihn. Taboret warf über die Schulter einen Blick auf ihn, als sie ihre Position in der Formation einnahm. Seine Augen waren halb geschlossen. Er dachte überhaupt nicht an den armen Bolmer. Er war mit
seinen Gedanken ganz woanders, nämlich beim Ersinnen neuer tückischer Fallen. Es schauerte sie. Nach der Reparatur wimmerte Bolmers Ross und hielt sich dicht bei seinem Herrn, misstrauisch gegen alles, was sich bewegte. Es klapperte die anderen Reittiere bissig an, wenn sie ihm zu nahe kamen. Bolmer selbst sah aus, als hege er einen soliden Groll. Taboret wusste, dass dieser sich gegen die Brüder richtete, aber wegen des Bandes teilten sie alle die Schuld. »Bolmer, seien Sie so gut und bleiben Sie neben der Trage und lotsen Dowkin und Doolin, damit sie nicht noch einmal über einen Hubbel stolpern«, befahl Brom. »Dafür werd ich schon sorgen«, sagte Bolmer grimmig. »So, und jetzt alle an die Arbeit! Wir haben heute noch ein ordentliches Stück Weges vor uns, wenn wir im Zeitplan bleiben wollen.« Taboret, die gerade ein nebulöses Straßenbelagsegment aufhob, das so groß war wie sie selbst, hatte ein kurzes mentales Bild von einer Landkarte. Ein X in der Mitte von Nirgendwo zeigte ihre momentane Position an. Die Entfernung, die hinter ihnen lag, von dem Punkt aus, an dem sie die Hauptstraße verlassen hatten, war größer als die bis zu dem Punkt, an dem sie wieder auf sie stoßen würden. Sie war erleichtert, bis ihr geistiges Auge die Zeichenerklärung zu den betreffenden Entfernungen las. Was sie sah, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Ihr Ziel war immer noch sehr, sehr weit entfernt, besonders wenn sie jede einzelne Elle der Wegstrecke mühsam selber erschaffen mussten. Da einige der Fahrbahnsegmente unwiederbringlich verschwunden waren, als der WECKER geklingelt hatte, waren die Lehrlinge gezwungen, weitere Nebulosität zu finden und zu formen. Lurry entdeckte solche nicht allzu weit von ihnen entfernt. Diese spezielle Ablagerung war indes widerspenstig;
sie wollte unbedingt ihre Form von Rasen mit Blumen drauf behalten. Die Lehrlinge schafften es zwar, sie zu rechteckigen Segmenten umzuformen, aber die wurden mit jedem Mal, das sie hin und her getragen wurden, brüchiger. Acton und Maniune hielten zu beiden Seiten Wacht und schauten ihnen bei der Arbeit zu. Nachdem sie wieder einmal ihre Last abgeladen hatte, schaute Taboret auf, als sie sich zurück auf ihr motorisiertes Fahrrad schwang. Maniune bemerkte es und zwinkerte, als sich das nächste Mal ihre Blicke trafen, übertrieben deutlich mit dem Auge. Taboret blickte sofort weg, wütend auf sich selbst, dass sie überhaupt einen Blick an die beiden Söldner verschwendet hatte. »Warum können uns diese Kraftmeier nicht helfen?«, fragte Gano, als sie an Taboret vorbeikam, während diese gerade von hinten ein neues Segment holte. »Sie sind größer und kräftiger als wir alle«, pflichtete ihr Basil bei, als er seinerseits mit einem Segment in jeder Hand an ihr vorbeikam. »Sie haben ihren eigenen Job zu erledigen«, sagte Brom. (»Ja, faul herumhängen«, murmelte Basil.) »Wenn wir ein Stück näher an die Straße herangekommen sind, werden sie losfahren und Roan daran hindern, uns zu passieren, bis wir wieder auf ihr sind. Es wird eine Übung im Ablenken sein.« »Wenn sie überhaupt zur Hauptstraße gelangen können«, sagte Glinn mit einem Blick zurück auf den Weg, den sie gekommen waren. Da sie die Straße mitgenommen hatten, gab es hinter ihnen keine Fahrbahn. Es würde eine mühselige Plackerei werden, wenn auch nicht so anstrengend wie ihr jetziges Vorankommen. Brom spürte die heftige Verzweiflung und musterte sie alle mit forschendem Blick. Jeder widmete sich energisch seiner jeweiligen Arbeit und mied seinen Blick. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Taboret, sie wäre wieder in Mnemosyne und würde das Schloss der Träume vermessen.
»Mamovas!«, rief Brom. »Ich möchte, dass Sie Maniune und Acton begleiten. Wir brauchen Verzögerungstaktiken, die Roan daran hindern, auf dem jenseitigen Teil der Hauptstraße auszukommen, bevor wir ihn erreicht haben. Sie werden mit der Fähigkeit ausgestattet, Kraft von uns abzuziehen. Nutzen Sie Ihre Erfindungsgabe.« Mamovas grinste und zog ihre dünnen schwarzen Augenbrauen hoch. Taboret wusste, dass es ihr Vergnügen bereiten würde, den nichtsahnenden Verfolgern Fallen zu stellen. Sie hatte einen bösartigen Sinn für Humor, der an Sadismus grenzte, und würde in der Lage ein kompliziertes Spiel erkennen. »Warum nicht ich, Herr?«, fragte Taboret aus einem spontanen Impuls heraus und hob die Hand. »Sie?«, fragte Brom. »Ja, Herr. Ich würde gute Straßensperren bauen. Ich habe eine Menge guter Ideen.« Sie versuchte, nüchtern und geschäftsmäßig dreinzuschauen und präzise und logische Gedanken zu denken. Brom schaute fast freundlich auf sie herab. »Ihr Ehrgeiz ehrt Sie, aber vielleicht ein andermal«, sagte er. »Ich möchte in dieser speziellen Situation lieber auf Mamovas' besondere Talente zurückgreifen.« »Ich danke Ihnen, Herr«, sagte Taboret und stob auf ihrem Ross davon, um ein neues Fahrbahnsegment zu holen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand die Besorgnis in ihrem Gesicht sah. Wie konnte sie die Prinzessin vor Gefahr warnen, wenn sie nicht einmal vor Ort sein würde? Sie hoffte nur, dass Roan ein so großer Überlebenskünstler war, wie es die Gerüchte im und um den Palast herum besagten. Sie hoffte, er würde all sein Können, all seine Fähigkeiten und Fertigkeiten einsetzen, um die Prinzessin vor Schaden zu bewahren. Viele Segmente später sah Taboret erneut das geistige Bild
der Landkarte vor sich. Das X war inzwischen viel näher daran, sich mit der Straße zu schneiden. »Es wird Zeit, dass ihr losfahrt«, wies Brom die Söldner an. Er winkte Mamovas zu sich. Sie fügte ihr letztes Segment Nebulosität an und kam dann auf ihrem mechanischen Reittier an Broms Seite gebraust. »Zu dem Zeitpunkt, da Sie ihre Arbeit erledigt haben und wieder zu uns stoßen, werden wir nur noch ein ganz kurzes Stück vor der Hauptstraße sein. Ich muss sicher sein können, dass wir ausreichend Zeit haben, einschließlich einer zusätzlichen Marge für Fehler und Irrtümer.« »Jawohl, Herr«, sagte Mamovas. Sie sonnte sich ganz unverhohlen in der Wichtigkeit, die der Auftrag ihr verlieh und das Kribbeln der Vorfreude übertrug sich auch auf Taboret. Mamovas würde die erste sein, die eine Fernsteuerung des Schmelztiegels ausprobierte. Das Gefühl ließ ein wenig nach, als die drei Rösser über die Felsbrocken davonholperten. Auf eine Weise war Taboret erleichtert, da Acton und Maniune ihr nun nicht mehr ständig über die Schultern schauten, aber es bedeutete auch, dass auf die restlichen Lehrlinge ohne Mamovas nun erhebliche Mehrarbeit zukam. Die Landkarte verzeichnete noch ein gutes Stück schwierigen Terrains zwischen ihrem derzeitigen Standort und der Hauptstraße. »Zeit für die Ablösung«, kündigte plötzlich Doolin an. Brom blickte von seiner Karte auf. »Nein, es ist noch nicht so weit.« »Doch, ist es wohl«, beharrte Doolin. Er nahm die Hände von den Tragholmen und verschränkte die Arme. »Ist es wohl«, echote Dowkin. »Wir haben gestern Abend Überstunden für die Gestalt gemacht und außer uns brauchte das kein anderer zu tun.« »Wir haben errechnet, dass der zusätzliche Aufwand an
Anstrengung eine Stunde und zwanzig Minuten ausmacht, und wir fordern, dass unsere Schicht um diese Zeit gekürzt wird«, sagte Doolin. Er zog eine Uhr aus seiner Tasche und warf einen Blick auf das Zifferblatt. »Das wäre vor fünf Minuten gewesen; wir haben also schon wieder eine Weile über die Zeit gearbeitet, ohne uns zu beschweren.« Broms seltsames Ross trug ihn in einer Schleife zurück zu den Brüdern. Seine Reifen schwollen oder schrumpften in ihrer überdimensionierten Gabel je nach der Beschaffenheit des Geländes, sodass der Oberste Wissenschaftler stets auf Augenhöhe zu den Brüdern ritt. Taboret vermutete, dass dies den Zweck hatte, dass er sie effektvoller anstarren konnte. Seine Augen waren von hinten beleuchtete Rubine. »Meine Herren«, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Ihr Betragen ist nicht kooperativ. Denken Sie an Ihre Mitlehrlinge und wie hart sie sich abplacken.« »Keiner denkt an uns«, erwiderte Dowkin. »Ich kann sie hören. Und Sie können sie auch hören.« »Da hat er Recht«, stimmte Doolin ihm zu. »Und jetzt starren Sie uns nicht so an, Boss!« Er reckte sich vor Brom auf, sodass die Trage auf seiner Schulter sich leicht verschob. »Wir können es nicht haben, wenn uns jeder so in unseren Geist glotzt!« »Das ist Teil des Projektes«, erklärte Brom, immer noch in ganz ruhigem, nüchternem Ton. Durch das Band aber toste bereits deutlich spürbar ein Sturm. Taboret fühlte, wie ihre Nervenenden sich regelrecht sträubten. »Meine Herren«, fuhr Brom fort, »Sie haben den Bedingungen vor langer Zeit zugestimmt. Sie hatten genug Zeit, um alle Einzelheiten genau abzuwägen. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie von dem Konzept begeistert waren.« »Gut, aber das war, bevor wir es in seiner fortgeschrittenen Form erlebten«, versetzte Doolin, wobei er die Brauen
zusammenzog. »Es gibt überhaupt keine Intimsphäre mehr! Ihr alle lauscht jedem Gedanken, den wir haben!« »Das stimmt nicht«, verwahrte sich Glinn. »Wir empfangen Gefühlseindrücke und gelegentlich ein visuelles Bild, aber das ist auch schon alles.« »Ha! Wir wetten, ihr lest unseren persönlichen Äther!«, sagte Dowkin. Er errötete und versteckte den Kopf in einer Stofffalte. Taboret empfing keinerlei Bilder, aber sie vermutete, dass es irgendetwas mit seinem Liebesleben zu tun hatte. Ausgerechnet diese langweiligen Tugendbolde ... Als ob irgendjemand ein Interesse daran hätte, in dieser Art von Details herumzuschnüffeln! Glinns Augenbrauen hoben sich. »Erlebt ihr zwei vielleicht eine fortgeschrittenere Art von Gedankenübertragung?« Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, nach der Tiefe des Rots zu urteilen, in dem Doolins Gesicht erglühte. »Das geht dich überhaupt nichts an!« »Sehr interessant, finden Sie nicht auch, Herr?«, fragte Glinn. »Ja, das finde ich auch. Die Verzweigungen, hmm ...« Brom strich sich über das Kinn, für einen Augenblick verwirrt. Dann wurde sein Gesicht puterrot und Dampf quoll zischend aus seinen Ohren. »Unsinn! Wir haben keine Zeit zu verschwenden!« »Das interessiert uns nicht, oder?«, fragte Doolin, den Kopf zurück zu seinem Bruder neigend. »Nöh«, sagte Dowkin, so kampfeslustig wie eh und je aus seiner Segeltuchfalte hervortauchend. »Fair ist fair. Entweder löst uns jemand ab, oder Sie schicken uns nach Hause zurück.« »Meine Herren«, sagte Brom, wieder unter eiserner Selbstbeherrschung. Das Dampfablassen schien ihm gut getan zu haben. Er war wieder ganz der überzeugende Alte. »Wir
können Sie jetzt nicht nach Hause schicken. Sie sind Teil der Gestalt. Sie sind Teil dieser Gruppe. Wir brauchen Sie.« »Dann zeigen Sie uns, dass Ihnen etwas an unserem Beitrag liegt«, sagte Doolin. »Wir treten mit sofortiger Wirkung in Streik.« Er rührte sich nicht mehr von. der Stelle. Taboret fühlte, wenn Brom wollte, dass sie sich bewegten, würde er einlenken müssen. Ein kurzes Zucken der Zustimmung durch das Band sagte ihr, das alle anderen das auch dachten. Die Brüder, die das Gleiche spürten, grinsten gehässig. »Und wir wollen nicht mehr auf Fahrrädern fahren müssen«, fügte Dowkin hinzu. »Wir fordern, dass unsere in Motorräder umgewandelt werden, wie die der anderen auch. Es ist viel zu anstrengend, in die Pedale zu treten und dabei gleichzeitig noch dieses Ding zu schleppen. Also, Motorräder ab unserer nächster Schicht.« Taboret fühlte die Rechtmäßigkeit, die in ihrer Forderung lag. Inzwischen waren sämtliche Rösser motorisiert, bis auf die der Brüder. Aber sie bezweifelte, das die Gestalt noch Kapazitäten dafür übrig hatte, war sie doch schon bis ans Limit ausgelastet mit den übler Streichen, die Mamovas sich anschickte, der Prinzessir und ihren Begleitern zu spielen und dem kontinuierlichen Auf- und Abbauen ihrer eigenen Fahrbahn. »Wir werden Sie von Ihrer Last befreien«, lenkte Brom schließlich ein. »Das nächste Paar, das turnusmäßig dran ist, wird Ihren Platz sofort übernehmen.« Gano und Lurry stöhnten auf. Brom hob bloß die Brauen und die beiden kuschten sofort. Sie brausten auf ihren Motorrädern heran, und die beiden Brüder lenkten ihre Rösser vorsichtig zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Es war wenig Platz auf der Fahrbahn und das Umladen der Trage gestaltete sich schwierig. Taboret beging den Fehler, über die Schulter in den Abgrund zu blicken. Das schwummrige Gefühl in ihrer Magengrube, das
der Blick in die Tiefe auslöste, übertrug sich sofort auf alle anderen. »Tu das nicht!«, bat Carina und umklammerte die Tragholme so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Es ist schon schlimm genug, das auf einem Hochseil tun zu müssen.« Sobald sie von der Last befreit waren, begannen die Brüder sogleich mit Streck- und Dehnungsübungen, um ihren Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Ihr Rücken und ihre Arme verschlankten sich wieder zu üblichen Proportionen. »Okay«, sagte Doolin und klatschte in die Hände. »Und jetzt zu den Motorrädern.« »Das wird leider im Augenblick nicht möglich sein«, sagte Brom. »Bitte steigen Sie auf, damit wir weiter können.« »Wir lassen uns nicht behandeln wie zweitklassige Mechaniker«, sagte Dowkin und runzelte die Stirn, bis seine Brauen ganz dick wurden und sich über der Nasenwurzel trafen. »Na los, nun kommen Sie schon; wir haben noch genügend Kraftreserven.« »Darf ich es erklären, Herr?«, sagte Glinn mit einem fragenden Nicken zu Brom, der es ihm mit einer gebieterischen Geste gestattete. Glinn wandte sich daraufhin mit ernster Miene an die Brüder. »Wir sind im Augenblick bis an die Grenzen der Belastbarkeit beansprucht. Sollte plötzlich eine Störung oder ein Ärgernis oder ein Stimmungswandel bei einem der Schläfer auftauchen, dann würden wir diese Reserven dringend benötigen. Schaut«, sagte er, auf ihre Füße deutend. »In der Zeit, die wir gebraucht haben, um diese ... Unterhaltung zu führen, hat die Nebulosität schon wieder angefangen, sich zu verändern.« Taboret hatte es nicht einmal bemerkt, aber jetzt, da sie drauf achtete, sah sie, dass Glinn Recht hatte. Aus dem Fahrbahnsegment, auf dem sie standen, hatte Gras zu sprießen begonnen, unmittelbar unter ihren Füßen. Einige der anderen
Segmente hatten ihre Form völlig verändert. Eines war zu einer Frauenstatue mit abgebrochenen Armen geworden, eines sah aus wie der Bug einer Kogge und zwei weitere hatten sich zu goldenen Bögen verformt. Ein anderes war völlig von seinem Platz verschwunden. Taboret schaute nach unten auf den Grund des Tales. Der nebulöse Stein war zu Hunderten von Doughnuts zerborsten. »O nein, nur das nicht!«, stöhnte Basil mit einem Blick auf die Trage. »Jetzt müssen wir die alle wieder neu formen!« »Wir haben Stunden durch diese lächerliche Auseinandersetzung verloren!«, sagte Brom. Sein Gesicht, sonst eher eine hagere Totenmaske, wurde voller, sodass die Wangen herunterhängen konnten. Er schwenkte den Arm in Richtung der Nebulositätssegmente. »Dies könnte uns noch einen weiteren Tag zurückwerfen! Fangt sofort damit an, die wieder flach zu machen!« »Jawohl, Herr«, sagte Glinn. Wie immer mit gutem Beispiel vorangehend, saß er ab, stieg hinunter zur Talsohle und begann Stücke aufzuheben und wieder zusammenzufügen. Taboret warf ihm einen liebevollen Blick zu, bevor sie ihm folgte. Sie begannen damit, die wieder in Form gebrachten Segmente erneut anzufügen und die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Straßenbau in der heißen Sonne hatte wahrlich nichts Vergnügliches, aber Taboret empfand urplötzlich ein Gefühl von unbändiger Freude. Ebenso jäh begann der Motor ihres Rades zu stottern und ging aus - und verschwand ganz. In Sekundenschnelle verwandelte sich das Bike von einem motorisierten in ein unmotorisiertes und wieder zurück in ein motorisiertes. »Oh!«, rief Gano, obgleich es mehr wie ein Stöhnen klang. »Was geht da vor sich?« Alle Augen richteten sich auf Brom, dem ein Ausdruck von
tiefer innerer Glückseligkeit im Gesicht stand. »Mamovas hat soeben ihre erste Falle gestellt.« Taboret fühlte, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte. Sie strengte sich an, eine bildliche Vorstellung von dem zu bekommen, was Mamovas getan hatte, aber die andere Frau war offenbar kein so starker visueller Projektor wie Brom. Ihr Geist war eine entmutigende Öde. Taboret rutschte schuldbewusst auf ihrem Sattel hin und her. Brom richtete seinen düsteren Blick auf sie; er hielt ihr Unbehagen für Ungeduld. »Sie werden Ihre Chance bald bekommen«, versprach er. Taboret lächelte ihn beklommen an.
19. KAPITEL Die Tiere kamen in hellen Scharen aus den ockergelben Schluchten hervorgequollen, fast unter den Hufen von Spars Ross. Der Hauptmann der Garde warf eine Hand hoch und riss an den Zügeln, bis sein Ross auf dem Hinterrad hochstieg und auf der staubigen Straße tänzelte, gerade noch rechtzeitig, um eine Kollision zu vermeiden. Die anderen Reiter kamen schlitternd hinter ihm zum Stehen und starrten auf die ovalohrigen, gelbbraunbepelzten Viecher, die da über die Straße hoppelten. »Was sind das für welche?«, wollte die Prinzessin wissen. »Ich habe noch nie Riesenratten gesehen, die auf Pogostöcken springen und Handtaschen tragen!« »Die sieht aus wie Ihre«, sagte Felan zu Colenna, auf die braune Ledertasche deutend, die eines der Tiere in der Pfote hielt. »Irgendwo hier in der Nähe befindet sich eine illusionäre Ratte, die ihre Handtasche sucht. Sie sollten sie ihr zurückgeben.« »Unverschämter Rotzjunge«, sagte Colenna, »das sind alles natürliche Geschöpfe. Ich war schon mal in Wocabaht. Sie tragen ihre Jungen in diesen Taschen.« »Natürliche Geschöpfe! Ganz bestimmt nicht«, sagte Misha hoffnungsvoll. »Sie müssen ein Zeichen der Verzerrung sein. Sind sie das nicht?« »Es gibt hier keine Verzerrung«, sagte Lum entschieden, über den Boden schauend. Er straffte sich, als wäre ihm plötzlich bewusst geworden, dass er Roan unabsichtlich beleidigt hatte. »Es ist schon lange her, Sir. Alles schaut zu natürlich aus.« »Ich weiß, Korporal«, sagte Roan, der sich weigerte, Anstoß zu nehmen. »Wir werden die Fährte bald wiederfinden.«
»Nun, in Ordnung, Sir, gewiss«, sagte Lum unsicher. Roan mochte den jungen Mann. Lum war redlich und penibel und er besaß die Gabe der Loyalität. Er hatte Roan die Ehre erwiesen, ihm diese seine Loyalität anzubieten, obwohl Roan kaum glaubte, dass er sie verdient hatte. Insgeheim begann er sich Sorgen zu machen. Seit Meilen hatten sie keine Spur mehr von Brom oder dem WECKER gesehen. Hatten die Wissenschaftler gelernt, seine Spuren zu verbergen? Oder war Roan auf dem falschen Weg, wie Spar und Felan nicht müde wurden zu wiederholen? Er hatte nicht mehr als unbestimmte Hinweise von der mysteriösen Kontaktperson vor ihnen erhalten. War es ein Fehler gewesen, ihr zu trauen? Roan widerstrebte der Gedanke zutiefst, dass er einen seiner glühendsten Anhänger enttäuschte, aber was konnte er als Gegenleistung anderes anbieten als Hoffnung und eine Handvoll Luft? »Weiterreiten, Sir?«, fragte Spar ungeduldig. »Ja«, sagte Roan. »Es ist zu kalt hier, um die Pferde stehen zu lassen.« Er spornte Cruiser zum Trab an und die anderen schlossen sich ihm an. Die Gegend sah zwar aus wie eine Savanne oder eine Wüstenebene, aber den Temperaturen nach war es Spätherbst oder Winter. Der Wind war eisig. Sein Ross liebte Wärme -und er auch. »O nein!«, rief Leonora. Sie kam an Roans Seite geritten und zupfte an seinem Ellenbogen. »Sieh dir das an!« Roan wandte den Blick in die Richtung, in die die Prinzessin wies und bekam große Augen. Von links kam eine riesige graue Staubwolke auf sie zugewalzt, die sich aus der Nähe betrachtet als ein wirbelnder Schwarm von Pelztieren entpuppte, die wie kleine Bären mit sehr langen schwarzen Nasen aussahen. Waren es ...? Nein, das konnten sie nicht sein ... Aber sie tanzten Walzer, paarweise, und zu einer Musik, die nur sie hören konnten. »Das ist noch ein Ärgernis«, sagte Bergold. »Es wird gleich den Pfad vor uns kreuzen und uns wer weiß wie lange
aufhalten. Legt einen Zahn zu, vielleicht können wir ihm noch ausweichen!« »Beeilung!«, rief Leonora. Sie spornte Golden Schwinn erst zum Trab, dann zu einem schnellen Kanter an. Roan und Cruiser hielten mit ihnen Schritt. Colenna und Spar galoppierten vorneweg. Die Wolke aus walzertanzenden Bären kam rapide näher. »Achtung!«, schrie Spar mit heiserer Stimme. Roan starrte mit weitaufgerissenen Augen auf eine rasch heranrückende gelbe Wand. »Sandsturm!« Der Sturm kam zu schnell, als dass sie ihm noch hätten ausweichen können. Der wirbelnde Staub verschlang Spar und Colenna. Drei Schritte später war Roan die Sicht von einer gelben Wand versperrt. Er hob die Arme, um seine Augen gegen die pieksenden Sandkörner abzuschirmen, aber er fühlte nur den eisigen Wind, der durch seinen dicken Umhang und seine Reithose drang. Er bibberte mächtig und hielt Cruisers Zügel fest umklammert. Der Sturm entpuppte sich als nicht sehr dicht. Nach wenigen Augenblicken war er durch ihn hindurch. Erleichtert sah er, dass die anderen auch wohlbehalten waren. Spar und Colenna schienen unversehrt - mit einer bemerkenswerten Veränderung: sie ritten ... nackt. Ihre sämtlichen Kleider waren verschwunden. Colenna blickte an sich herunter, kreischte und hielt ihre Handtasche wie einen Schild vor ihren wogenden Busen. Spar brachte sein Pferd zum Stehen, drehte sich im Sattel um und starrte entrüstet auf die andern, so als wären sie für diesen Skandal verantwortlich. »Oh!«, entfuhr es im selben Augenblick Leonora. Roan wandte sich zu ihr - und schaute so hastig wieder weg, dass er sich den Nackenmuskel zerrte. Sie war nackt; ihre zarte Haut war vor Kälte gerötet. Ihr Gesicht war ebenfalls rot angelaufen, gleichermaßen vor Scham wie vor Kälte. Sie aktivierte rasch
ihren eigenen Einfluss, und dichter Nebel hüllte sie ein. Felan zügelte sein Pferd und saß im Sattel, scheinbar unbeeindruckt von der Kälte oder seiner eigenen Nacktheit und starrte Leonora unverhohlen an. Die Prinzessin schaute mit königlicher Herablassung auf ihn herab und verdichtete ihre Nebelhülle zu nahezu vollkommener Undurchsichtigkeit. Sie kramte in Golden Schwinns Satteltaschen herum, den Historiker ignorierend. Felan machte ein enttäuschtes Gesicht. »Es ist tatsächlich jedes bisschen Kleidung verschwunden!«, rief Leonora. »Ich werd Ihnen was leihen, Schätzchen«, sagte Colenna. Nach einer kurzen Visitation ihrer Satteltaschen und ihre Handtasche schaute sie auf. »Ich hab selber auch nichts mehr. Nicht ein Stück!« »Wir müssen ihr sofort was zum Anziehen besorgen«, sagte Roan. Der scharfe Wind kam wieder auf Touren. Auch er fror jämmerlich, aber Leonoras Wohlbefinden hatte Vorrang. Er griff nach dem Verschluss seines Umhangs, um ihn auszuziehen und ihr um die Schultern zu legen, aber er fühlte nur nackte Haut. Wie merkwürdig! Er fühlte an seiner Brust, um sicherzugehen, dass er sich nicht irrte. Er blickte an sich herunter, dann schaute er auf jeden seiner Arme und jedes seiner Beine und seine Verblüffung steigerte sich mit jedem Blick auf seine bloßen Gliedmaßen. Er konnte gar nicht nackt sein. Es war unmöglich. Aber er war nackt, wie alle anderen. Seine Taschenuhr und die Kette lagen, ohne Knopfloch oder Tasche, die sie hätten halten können, auf seinem Oberschenkel. Sein Portemonnaie lag ein paar Schritte hinter ihm auf der Erde. Er konnte unmöglich absitzen und es aufheben, nicht so, nicht vor allen anderen. Dies war ein demütigend peinlicher Traum. So etwas war ihm noch nie zuvor widerfahren. Was hatte Leonora gesehen? War sie peinlich berührt? Sie schaute ihn nicht an. Bestimmt absichtlich, dachte er. Er beugte sich vornüber, um seine Blöße zu verbergen, dann fürchtete er, dass
er auf diese Weise noch mehr Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Er bedeckte sie mit einer Hand und setzte sich zimperlich wieder gerade. »Bergold«, rief er heiser. Der Senior-Historiker hatte sich gerade von seinem eigenen Zustand vergewissert und kramte in seinem Gepäck nach irgendetwas, womit er seine Blöße bedecken konnte. Er blickte auf, und sein Gesicht wurde oval, als seine Kinnlade herunterfiel. »Du auch?«, fragte er verblüfft und musterte Roan mehrmals von Kopf bis Fuß, als traue er seinen eigenen Augen nicht. Roan errötete. Er wusste, dass alle ihn anstarrten. »Ich hab immer gedacht, das sei unmöglich. Das muss aber wirklich ein verdammt machtvoller Einfluss gewesen sein!« »Herr!« Ein fremder Mann trat aus dem Gebüsch am Rande des Weges und winkte. »Herr! Bitte!« Und dann wurden seine Augen ganz groß, als er die zehn nackten Menschen zu Pferde sah. »Huuch!« Spar lenkte sein Ross ganz dicht an ihn heran, sodass der Mann zu ihm aufschauen musste. Roan bewunderte Spars Selbstbeherrschung. Er wusste, dass er errötete. Der Hauptmann der Garde hatte jeglichen Ausdruck aus seinem Gesicht verbannt. »Was ist Ihr Problem, Herr?«, fragte er, mit einer starken Betonung auf dem Wort >Ihr<. Der Mann sah sehr bekümmert aus. »Ach ja. Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«, fragte der Mann. »Ob ich was kann?«, raunzte Spar und reckte seine Kinnlade vor. »Haben Sie nichts Wichtigeres zu -« »Bitte!« Der Fremde hielt eine goldene Taschenuhr hoch. Die Zeiger drehten sich wie wild gegen den Uhrzeigersinn. »Bitte! Ich muss es wissen!«
Spar bedeckte seine Blöße mit einem Arm und griff mit der Hand in eine kleine Tasche auf seinem Tornister. Er zog den Kommiss-Zeitmesser hervor, den er stets bei sich hatte und hielt ihn dem Mann so hin, dass er das Zifferblatt sehen konnte. »Halb fünf.« »Sind Sie sicher?«, fragte der Mann, die Aufziehkrone seiner Uhr zwischen den Fingern drehend. Die Zeiger bewegten sich eine Weile etwas langsamer, dann drehten sie sich wieder in die andere Richtung. »Die Verzerrung, Sir!«, sagte Lum. Er hatte ein Muttermal mitten auf seiner Brust, das rot aufleuchtete, als der Fremde ihn neugierig anschaute. »Wir sind in einem ganz dicken Knoten davon!« »Sind Sie sicher, Korporal?«, fragte Roan. Als er sprach, wandte sich der Fremde zu ihm und starrte ihn an. Roan konzentrierte sich auf Lums Augen und schaute nirgendwo anders hin. »O ja, Sir«, antwortete Lum. Er wollte seine Hand zum Zeigen heben, wurde puterrot und deutete stattdessen mit einer Nickbewegung zu einer Seite der Straße. »Da ist eine Veränderung in den Steinen dort drüben und in den Pflanzen ebenfalls.« Roan schaute. Es schien in der Tat an bestimmten Stellen irgendetwas mit der Landschaft nicht zu stimmen - aber nur stellenweise. Er nickte eifrig. »Der Schmelztiegel!«, rief Spar. »Sind wir dicht bei Brom?« »Keine Ahnung«, sagte Bergold, der immer noch in den Gepäcktaschen seines Rosses herumkramte. Das erste, was ihm in die Finger kam, war sein Bettbezug, also hüllte er sich darin ein. »Es gibt keine Möglichkeit, den Zeitpunkt ihres Vorbeikommens zu ermitteln.« »Ja, richtig, die Zeit! Sagen Sie sie mir!«, jammerte der Mann. Roan hob seine Taschenuhr vom Oberschenkel, wobei er sich vorkam, als stünde er auf einer Bühne und schaute auf
das Zifferblatt. »Ich habe vier Uhr zwounddreißig.« »Das kann auch nicht stimmen!« Der Fremde machte ein noch bedröppelteres Gesicht als vorher, und Roan fragte sich besorgt, was für eine Art von Träumer es wohl sein mochte, der einen Albtraum durchlitt, in dem er außerstande war, die richtige Uhrzeit zu erfahren. »Es könnte sich hier um einen ganz gewöhnlichen Nackt-inder-Öffentlichkeit-Traum handeln«, sagte Misha. Er hatte einen Packen seltsamer Sachen aus seinem Rucksack hervorgekramt und sich damit verhüllt und hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoss liegen. Alette hatte ihr Haar heruntergelassen und es sich über den Busen drapiert. »Dafür ist es zu stark«, sagte Bergold mit einem Kopfschütteln. »Roan hat bisher noch jeden Umbruch unverändert überstanden. Dieser Sturm muss die volle Wucht von Broms Gruppe hinter sich gehabt haben. Sie werden immer mächtiger und gefährlicher. Wir sind an einer Art Bruchstelle angelangt. Dies ist ein sehr raffinierter und machtvoller Einfluss, wenn Brom plötzlich etwas kann, was die Schläfer nicht konnten.« »Liebes Fräulein«, wandte sich der Mann fast flehentlich an die Prinzessin, »gewiss können Sie mir sagen, wie spät es ist?« »Es ist kurz vor halb fünf«, sagte Leonora. Ihre Uhr war ein zierliches Gebilde an einer diamantenbesetzten Kette, das sie aus ihrem Nebelumhang hervorzog, um einen Blick darauf zu werfen. Der Mann schüttelte betrübt den Kopf und ging zu Felan. »Können Sie ...«, begann er. Felan knurrte und erhob die Hand gegen ihn. »Würden Sie jetzt wohl hier verschwinden? Wir befinden uns auf einer wichtigen Mission.« »Dies ist auch wichtig!« »Hauen Sie ab!« Felan sah so aus, als sei er im Begriff, den
Mann zu schlagen. »Lächeln!«, rief eine fröhliche Frau, die in diesem Augenblick in die Mitte der Straße trat. Sie hielt eine große Kamera vor dem Auge und drückte auf den Auslöser. Der Blitz explodierte unmittelbar unter der Nase von Colennas Pferd, das erschrocken auf die Hinterbeine stieg. Sodann richtete die Frau ihr Objektiv auf Roan, der die Hand hob, um ihr zuvorzukommen und sie dann wieder fallen ließ, um seine Blöße zu bedecken. Der Blitz traf ihn ins Gesicht. »Für Seite eins!« Geblendet und schamerfüllt wandte Roan sich ab. »Entschuldigung«, sagte ein kleiner Junge, der an Roans Steigbügel auftauchte. »Wie komme ich zu dem Laden?« »Wo ist die Toilette?«, fragte ihn ein Mädchen von der anderen Seite. »Tut mir Leid, aber das weiß ich nicht«, sagte Roan, von einem zum anderen blickend. Würde der Schock, Erwachsene nackt zu sehen, sie ihr ganzes Leben hindurch verfolgen? »Entschuldigen Sie«, sagte eine elegante Dame mit einem riesigen roten Hut, der aussah wie ein Boot unter vollen Segeln, »aber wo ist die Damenunterwäscheabteilung? Meine Güte, schauen Sie sich einmal an! Sie sollten sich was schämen!« Dutzende von Leuten tauchten jetzt aus dem Nichts auf und mischten sich unter die Pferde und untereinander. Sie gingen von einem zum ändern, fragten nach Straßen, Behörden oder Geschäften oder baten um Hilfe bei einfachen Verrichtungen oder um Wechselgeld. Jeder von ihnen hielt inne, um auf Roan zu starren und einen Kommentar zu seiner Unbekleidetheit loszulassen. Statt sich - wie Felan - nonchalant zu verhalten, kam sich Roan mit jedem Mal, da jemand auf ihn zeigte, lächerlicher vor. »Komm mit«, sagte Bergold und eilte ihm, sein Buch
schwenkend, zu Hilfe. »Dies ist kein bloßer Nackt-in-derÖffentlichkeit-Traum. Er hat außerdem auch noch eine Unbeantwortbare-Fragen-Komponente.« Er nahm seine Zügel auf und schnalzte mit der Zunge, um sein Pferd voranzutreiben. »Halt dich hinter mir, Roan! Alle! Entschuldigen Sie mich bitte! Wenn Sie uns bitte vorbeilassen würden! Danke. Entschuldigung. Verzeihen Sie. Entschuldigen Sie bitte ...« Die Menge drängte sich weiter um sie herum und versperrte ihnen den Weg, aber Bergold führte sie langsam und geschickt hinter seinem rosa und grau gescheckten Pferd aus dem Gewühl heraus. Roan zwang sich, die Bemerkungen, die er hörte, zu ignorieren. »Lächeln!«, forderte die Fotografin sie erneut auf und blendete sie mit einem weiteren grellen Blitz mitten ins Gesicht. Cruiser wieherte und warf den Kopf hoch, aber Bergolds unerschütterlicher Hengst ging einfach weiter. »Dankeschön! Das wird morgen in der Zeitung stehen! So, und jetzt bitte noch einmal...« »Tut mir Leid«, sagte Bergold höflich, aber bestimmt. »Dies wird ein Bild, das uns zeigt, wie wir verschwinden.« »Seht nur«, sagte Colenna und deutete zum Wegesrand. »Da steht ein Feigenbaum. Schnell, einer hin!« »Ich geh schon«, sagte Misha tapfer. Er lenkte sein Pferd behutsam zu dem Feigenbaum, peinlich darauf bedacht, überflüssiges Auf-und-ab-Wippen im Sattel zu vermeiden. »Ich fri-hi-hiere so!«, sagte Leonora zähneklappernd. Roan schaute wieder zu ihr. Er konnte einfach nicht anders; sie hatte eine so vollkommene Figur, und sein Unterbewusstsein wollte sicherstellen, dass er noch einen Blick erhaschte. Zum Glück verhüllte der undurchsichtige Schleier alles - nahezu. Sie warf ihm einen neckischen Blick von der Seite zu und schüttelte den Kopf. »Hier ist etwas, Eure Hoheit«, sagte Alette und ritt an
Leonoras Seite. Sie war knallrot im Gesicht, stellte aber ihre Lehnspflicht über ihr eigenes Wohlbefinden. Sie hielt Leonora eine Handvoll wolliger Raupen hin. »Es wird ein schlimmer Winter werden; die Bäume sind voll von diesen Dingern.« »Vielen Dank, Soldatin«, sagte Leonora. »Wollen Sie nicht ein paar davon für sich selbst behalten?« »Das sind keine Kommissraupen, Hoheit«, erwiderte die Gardistin lakonisch. Roan hielt den Blick auf Leonoras Hände fixiert, als sie ein hauchzartes, aber warmes Umhängetuch aus den Raupen formte, das sie sich über die Schultern warf. Es schmiegte sich um sie, und sie kuschelte sich dankbar in die weiche, wärmende Wolle. Misha kam zurück. Er ritt an die Seite der Prinzessin und bot ihr eine Handvoll Feigenblätter dar, den Blick galant abgewandt. Leonora warf Roan einen bedeutungsvollen Blick zu, bevor sie die Hand ausstreckte, um sie entgegenzunehmen. Er und sie mochten alte Freunde sein, aber sie waren noch nicht verlobt. Roan wandte ihr den Rücken zu und blickte Felan an, der ihm dringend nahe legte, besser sofort das Gleiche zu tun. Der dürre Historiker mochte vielleicht keinen Respekt vor Roans Durchschnittlichkeit haben, aber er war nicht so dumm, seinen Einfluss zu riskieren. Misha bot auch allen anderen Feigenblätter an. Sie nahmen sie gern entgegen und zogen sich dezent zurück, um diese provisorischen Unterkleider anzulegen. Roan pappte sich die Blätter auf die Brust und aufs Hinterteil und verwandelte sie hurtig in Unterhemd und -hose. Sobald er angemessen bedeckt war, fielen die Spannung und das Gefühl von Demütigung von ihm ab. Es war ein wunderbares Gefühl, wieder Kleider am Leibe zu tragen. Sein Hirn schien sich zu entriegeln. Er konnte denken. Wie verwundbar er war, wenn schon der simple Zustand der
Unbekleidetheit ihn so gründlich verunsichern konnte! Warum hatte er nicht getan, was Leonora getan hatte: sich einen undurchsichtigen Schleier zulegen oder sich Kleider aus Luftmolekülen fertigen? Er hatte die Macht und die Fähigkeit, das zu tun, aber es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, es zu versuchen. Broms Macht hatte ihn schlicht überrascht. Er war es nicht gewohnt, sich Gedanken über die Zufälligkeit machen zu müssen, der jeder andere unterworfen war, je nach Lust und Laune der Schläfer. Er würde sich damit auseinander setzen müssen, sobald er eine Gelegenheit dazu hatte. Einstweilen warteten Aufgaben, die er bewältigen konnte, und zwar gut. »Hauptmann Spar, kann ich Ihnen und Ihren Soldaten behilflich sein?«, fragte er. Die Gardisten saßen auf ihren Pferden in einer Reihe, mit dem Rücken zum Rest der Gruppe. Keiner schaute den anderen an. Sie hatten allesamt ihre Blößen vorn und hinten mit den Blättern bedeckt, waren aber nicht in der Lage, sie in Kleidungsstücke zu verwandeln. »Wir wären Ihnen sehr verbunden, Sir«, antwortete Spar, starr geradeaus blickend. »Ich kann mit diesen verdammten Blättern nichts anfangen. Dienstuniformen bitte, wenn's geht.« »In Ordnung«, sagte Roan und rieb sich die Hände. »Dann wollen wir mal. Sie müssen mir genaue Instruktionen geben.« >»Eine Körperbedeckung in voller Länge mit Ärmeln bis zum Handgelenkknochen und Beinen bis kurz unterhalb des Fußgelenkknochens - mit neun Knöpfen vom Hals bis zum Schambein auf der Vorderseite und zwei Knöpfen zur Sicherung des Dienstrockes von mindestens 54 Quadratzoll auf der Rückseite<«, bellte Spar, als rassle er einen Paragraphen aus einem Handbuch herunter. Ohne die Blätter tatsächlich zu berühren, dehnte Roan mithilfe von Einfluss ihre Substanz so lange, bis sie den gesamten Körper des Hauptmannes vom Hals
bis zu den Knöcheln bedeckten. Feigenblätter waren wunderbar elastisch. Sie waren von Natur aus so beschaffen, dass sie jegliche Körperteile, deren Umhüllung man zur Wahrung der Schicklichkeit für erforderlich erachtete, vollständig bedeckten. >»Das Material soll aus hochwertigem rotem Tuch bestehen, Wolle im Winter, Flanell im Frühling und Herbst und Baumwolle im Sommer ...<« »Dies dürfte mindestens Herbst sein, Sir«, warf Lum hoffnungsvoll ein, auch er starr nach vorn blickend. Roan nahm die nötigen Änderungen vor und lieferte einen glatten, nicht kratzenden Wollflanell von erstklassiger Qualität. »>...Die Knöpfe sollen aus Holz oder Horn oder Kunststoff sein, je nach Verfügbarkeit der Materialien und müssen die Armee-Belastungs- und Bruchfestigkeitsprüfungen nach den Normen 245 a resp. 246 b bestehen. < Vielen Dank, Sir«, beendete Spar seine Tirade mit der gleichen Schnellfeuerstimme - doch er sah erleichtert aus. Einmal bedeckt, entspannten sich die durchgedrückten Rücken der Gardistinnen wieder. Roan fand, die Standardausführung sah warm und sogar bequem aus. Er tauschte sein Unterhemd und seine Shorts gegen einen ähnlichen Anzug aus. Colenna kehrte in einem einteiligen Unterkleid, das sie von den Schultern bis zu den Knien verhüllte, auf die Straße zurück. Von den Schultern über ihren großen Busen bis hinunter zur Taille passte es sich hauteng ihren Rundungen an, um dann locker über ihre Hüften und Knie zu fallen. Spar hielt sich weiterhin von ihr abgewandt, um sie nicht anzustarren, aber sie war so unbekümmert, als trüge sie eine Ritterrüstung. »Was jetzt?«, fragte sie die anderen. »Baströcke? Graskostüme?« »Dieses Land ist nahezu bar jeder Vegetation«, sagte Bergold mit einem prüfenden Blick um sich herum. »Wir werden uns wohl mit Schlammtuch begnügen müssen.«
»Das reicht doch! Es ist Jahre her, dass ich das das letzte Mal probiert hab«, erklärte Colenna erfreut. »Wird es denn auch bequem genug für die Prinzessin sein?«, fragte Roan, der fand, dass >Schlammtuch< irgendwie bedenklich, ja beunruhigend klang. »Ach, Roan«, sagte Leonora. Unter ihrer Wolkenhülle erspähte Roan die Umrisse knapper Dessous in Immergrünblau. Ein Gewand wie das von Colenna wäre zwar praktisch gewesen, aber er musste zugeben, dass besagte Dessous bei weitem attraktiver waren. »Wir sitzen alle miteinander im selben Boot. Ich tue das, was jeder andere auch zu tun hat.« Colenna beäugte sie. »Ich kann Ihnen ein Kleid aus Ihrem Zelt anfertigen.« »Gut«, sagte Roan. »Bitte tu das.« »Nein, bitte keine Extrawurst!«, protestierte Leonora. »Es wäre mir ein Vergnügen, Liebes«, erwiderte Colenna und bedeutete Roan mit einem Wink, sich zu entfernen. »Du gehst weiter. Wir machen's gleich hier.« Der Schlamm am Wegesrand erwies sich als äußerst geschmeidig und formbar und ließ sich problemlos zu einem festen Gewebe auswalzen, das so aussah, als wäre es mit Farben in Erdtönen bedruckt. Roan war froh über seine neuen Kleider und machte seinen Mantel und seine Mütze gegen den stetig zunehmenden Wind doppelt dick. Als er zurückkam, musste er ein Lächeln unterdrücken. Leonora starrte ihn aus Falten und Aberfalten weißen Stoffes an, der ihr sackartig über Schultern und Kopf hing. Colennas Schneidertalent war, gelinde ausgedrückt, beschränkt. Das Gewand wirkte zwar warm, aber alles andere als elegant. Roan öffnete den Mund, um das zu sagen. »Nicht!«, sagte Leonora und hob warnend einen Finger aus der Mitte ihres allumhüllenden Faltensacks. »Nicht ein Wort!«
20. KAPITEL Sie machten sich wieder auf den Weg. Die Verzögerung war ärgerlich gewesen, aber Roan war erleichtert, ein erneutes Zeichen der Gestalt gefunden zu haben, auch wenn es nicht genug war, um für alle befriedigend zu sein. Spar war beunruhigt wegen des Verlustes der Uniformen seiner Gardisten und murmelte sich düster etwas von »Mangel an Disziplin« und » ... machen uns noch zum Gespött« in den Bart. Roan vermisste am meisten seine alten Stiefel. Er hatte sie jahrelang getragen und zahlreiche Abenteuer in ihnen überstanden, den zweiten Umbruch eingeschlossen. Die Stiefel hatten sich jeder Wölbung, jeder Kurve seiner Füße angepasst. Die Ersatzschuhe, die er sich aus Feigenbaumrinde und Schlammtuch angefertigt hatte, konnten seinen alten Tretern einfach nicht das Wasser reichen, wenngleich, dachte er, als er an sich herunterschaute, ich mich mit der Zeit vielleicht an sie gewöhnen kann. Ihr Ausgangsmaterial befähigte sie, sich nach dem Entwurf ihres Herstellers zu modellieren. Schon jetzt nahmen sie mehr und mehr das Aussehen förmlicher Schuhe an, die seiner Persönlichkeit mehr entsprach. Vielleicht würden sie schon bald aus schwarzem Leder sein, mit bequemer Innensohle und extrabreiter Kappe. Plötzlich erschien ein anderes Paar Füße, in identischen Eigenbauschuhen steckend, auf Cruisers Steigbügeln. Roan fand sich unvermittelt auf dem Sozius radelnd, hinter einem anderen Mann, der über die Schulter nach hinten schaute. Es war er selbst - Roan! Es saßen zwei von ihm auf dem Rücken des Pferdes, beide in erdfarben bedruckten Mänteln und Hosen! Roan zuckte erschreckt zurück und hüpfte rückwärts aus dem Sattel. Der zweite Mann lenkte das Pferd an den Straßenrand und hielt an. Roan ging um ihn herum und starrte ihn an. Der
andere schaute mit ernstem Blick auf ihn herab. »Es ist, als blickte ich in einen Spiegel«, sagte der Mann auf dem Pferd. »Wie merkwürdig«, sagte Leonora und brachte Golden Schwinn neben ihnen zum Stehen. Sie schaute vom einen zum ändern. »Wer von euch ist der echte Roan?« Roan spürte einen Moment des Zweifels. Steckte er in seinem eigenen Körper oder nicht? Es war eigenartig, sich selbst dabei zu sehen, wie man etwas tat und seine Muskeln dabei nicht zu spüren. »Ich glaube, er«, sagte Roan und zeigte auf sein Ebenbild. »Er ist der Echte, da bin ich ganz sicher«, sagte das Double gleichzeitig. Und seine Bewegungen waren identisch mit denen, die Roan sich selbst in Spiegeln und Fenstern hatte machen sehen, aber bei diesem Mann sahen sie irgendwie bedächtiger aus. »Woher sollen wir das wissen?«, fragte Roan, immer noch verwirrt sein Ebenbild anstarrend. »Ich habe mein ganzes Leben gedacht, ich wäre ein Original.« Das Double sah ihn scharf an und fasste sich an die Wange; dann streckte es die Hand aus und berührte fast schon Roans Wange. Es/er zögerte und zog seine Hand wieder zurück. »Du siehst doch echter aus als ich«, sagte er/es. »Das wollte ich gerade zu dir sagen«, erwiderte Roan. Er hatte ein seltsames Gefühl von Desorientierung, so als schwebe er im All. Wenn er dem echten Roan gegenüberstand, wer war dann er? Und woher kam er? Vielleicht war die unwandelbare Person, die er immer gewesen war, ein entfernter Schatten dieses Mannes? Möglich war es. Ein Historiker hatte die Theorie aufgestellt, dass jede Person irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hatte, der ihr exakt ähnelte. Und das tat dieser Mann zweifelsohne. Es war allein dem Zufall zu verdanken, dass sie sich bisher noch nicht begegnet waren. Die
Legende besagte außerdem, dass man seinen Doppelgänger töten musste, wollte man nicht von ihm getötet werden. Roan fühlte einen Schauer des Entsetzens durch seinen Körper rieseln. Er wusste, er konnte sich nicht selbst töten. Würde er jetzt sterben müssen? »Bist du sicher?« Es war Leonoras Stimme, aber sie kam von einer anderen jungen Frau von betörender Schönheit, die auf einem Ebenbild von Golden Schwinn ritt. Diese Leonora hatte rotes Haar, hohe Wangenknochen und lange, fast mandelförmige Augen. Als er nach seiner Prinzessin suchte, hatte sie genau die gleichen Züge angenommen. »Ich ... ich denke, schon.« Roan studierte sein Ebenbild. »Du bist der echte Roan. Du musst es sein. Aber wer bin dann ich?« »Nein, du bist der echte«, sagte der andere, genauso ernst. Er saß ab und warf Roan die Zügel zu. »Ich nicht. Ich könnte es nicht sein. Wir hätten uns nicht begegnen sollen. Ich... ich werde gehen. Bitte greif die anderen nicht an.« Roan schaute ihn verwirrt an. »Dann ist also die Legende nicht wahr?« »Ich hoffe, nicht«, sagte der andere. Es klang derart ehrlich, dass Roan ihm einfach glauben musste. Sie stießen zugleich einen Seufzer der Erleichterung aus. Die zweite Leonora nahm sich einen Augenblick Zeit, um das Kostüm der Ersten einer kritischen Begutachtung zu unterziehen, obgleich sie in das gleiche wallende Weiß gehüllt war. Die erste Prinzessin zog ihre Röcke mit einem verstohlenen Einsatz von Einfluss glatt, sodass sie mehr einem Damenkleid als einem Zelt ähnelten. Sie nickten einander zu, huldvoll die eine wie die andere. Roan spürte, dass auf beiden Seiten ein wenig Einfluss ausgeübt wurde, um sicherzustellen, dass jede ihr allerschönstes Antlitz präsentieren konnte, während sie unter dem kritischen Blick ihres Gegenübers stand. Roan wusste, dass Leonora - seine Leonora - Angst
hatte, aber ihre Erziehung bewahrte sie davor, sie zu zeigen. Unterdessen erschienen weitere Duplikate. Zwei Mishas, lang und schlaksig, glotzten einander verdutzt an. Zwei Alettes begafften sich gegenseitig mit weit aufgerissenen Augen. »Hebe dich hinweg, böser Geist!«, brüllte Spar sein Double an und riss sein Schwert aus der Scheide. Er sprang von seinem Ross. »Geh weg, verschwinde, sonst hau ich dich in Stücke!« »Du verschwindest!«, brüllte des Hauptmanns Ebenbild mit nicht weniger Stimmvolumen. Es schwang sein eigenes Schwert und ließ es feurig auflodern. »Du widernatürliche Bestie, du! Wir wollen doch mal sehen, wer hier wen in Stücke haut!« »Sir, halten Sie sie auf!«, schrien die beiden Lums wie aus einem Munde, an die Adresse der beiden Roans gewandt. »Hauptmänner! Tut es nicht!« »Halt!«, schrien die Roans und stürzten sich zwischen die Spars, um ihnen.in den Arm zu fallen. »Die Legende ist nichts als Lüge! Er kann Ihnen nichts anhaben! Nicht kämpfen!« Aber die Spars manövrierten sich geschickt um sie herum und stürmten mit einem wütenden Schlachtruf aufeinander los. Die Prinzessinen duckten sich entsetzt und hielten sich die Augen zu. Die Spars erhoben ihre Schwerter und ließen sie herniedersausen zum tödlichen Streich - in die Luft. Die Klingen fuhren widerstandslos durch ihre Leiber und bohrten sich in den Boden zwischen ihren Füßen. Die Spars waren Luft füreinander. Sie starrten ungläubig auf die im Erdboden steckenden, zitternden Schwerter - und begannen vor Erleichterung gleichzeitig laut zu lachen. »Du!«, bellte Spar prustend. »Sieh dir das an! Wir hätten uns gar nicht gegenseitig in Stücke hauen können, selbst wenn wir's versucht hätten!« »Einander in Stücke hauen! Gut, dass das nicht geklappt hat!«, wieherte der andere. »Dann gäb's jetzt vier von uns!«
Ihre Knie sackten unter ihnen weg und sie setzten sich auf die Erde, immer noch laut lachend. Der zweite Roan schaute den Ersten an und streckte die Hand aus, um seinen Arm zu berühren. Die Finger verschwanden in dem dunkel bedruckten Ärmel, wie als tauchten sie in einen alles schluckenden Schatten. Roans Double zog seine Hand mit einem besorgten Blick zurück. Ich bin der Geist, dachte Roan, und er wusste genauso sicher, dass sein Gegenstück das Gleiche dachte. Die beiden Colennas, die sich auf der Stelle gut miteinander vertragen hatten, setzten sich an den Wegesrand und verglichen den Inhalt ihrer Handtaschen. Sie -bzw. sie - glaubten ganz eindeutig nicht an die Legende. Die Felans standen ganz in der Nähe, mit verschränkten Armen und rissen mit leiser Stimme selbstgefällig Witze auf Kosten anderer aus der Gruppe. »Dies ist nicht der Augenblick, neben sich zu stehen«, sagte Bergold und zwinkerte mit seinen großen Orangenaugen. Auch den dicken Historiker gab es in doppelter Ausführung, beide in Gestalt von Rieseneulen, die auf dem Rücken eines Pferdes hockten. Ihre klugen Köpfe drehten sich fast einmal ganz herum, um jedermanns Aufmerksamkeit zu erheischen. »Wir müssen die Köpfe zusammenstecken und uns auf unsere Mission konzentrieren. Da kommt es uns doch nur zustatten, dass es doppelt so viele davon gibt wie sonst. Köpfe, meine ich.« »Aber was wird mit unseren Doppelgängern?«, fragte Lum. »Ich finde meinen ganz in Ordnung. Ich meine, er ist immerhin ich, aber ... sind wir jetzt zu zwanzig statt zu zehnt?« »Wir sind jetzt zwei ganze Gruppen«, sagte Spar. »Ich schlage vor, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilen. Zwanzig Augen sehen mehr als zehn.« »Gute Idee«, sagte der zweite Spar. »Brom kann sich nicht lange vor uns verbergen, wenn wir zu zweit auf seiner Fährte
sind. Lasst uns losmarschieren.« »Das können wir nicht«, sagte der Bergold zur Linken. »Wir haben darüber eingehend nachgedacht«, fügte der Bergold zur Rechten hinzu. »Der eine oder andere von uns ist ein Spiegelbild, verursacht durch Einfluss.« »Das hätten wir uns auch selbst denken können«, sagten die Felans wie aus einem Mund. Ihre Augenbrauen waren zu einem buschigen, durchgehenden Wulst auf ihrer Stirn zusammengezogen. Die rechten Brauen wanderten zum Haaransatz hoch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Deshalb können wir uns auch nicht gegenseitig berühren. Wir sind sowohl der Spiegel als auch das, was sich in ihm spiegelt. Das ist schon einmal geschehen. Es gibt darüber Aufzeichnungen in den Königlichen Archiven. So weiß ich zum Beispiel, dass die Duplikate, welches von beiden auch immer ihr seid« - die Eule zeigte mit ihrem Schnabel auf die beiden Roans und die beiden Mishas - »beide Ausführungen von jedem beliebigen anderen berühren können, nicht aber einander, sodass es schwierig sein wird, festzustellen, wer ursprünglich bei wem war.« »Faszinierende Geschichten von Personenverwechslungen«, fand die andere Eule, sich für das Thema erwärmend. »In einer wirklich interessanten Aufzeichnung -« »Sind sie jetzt für immer hier?«, schrie Felan, Bergold ins Wort fallend. »Sicherlich nicht«, beschieden ihm die Eulen streng. »Und schreien Sie nicht. Wir können ausgezeichnet hören, auch wenn wir keine äußerlich sichtbaren Ohren haben.« »Der Dopplereffekt ist nur vorübergehend«, erklärte der Bergold zur Rechten. »Deshalb können wir nicht als zwei Gruppen agieren. Früher oder später werden die Doubles verschwinden, wobei sie möglicherweise einige von der
>echten< Gruppe, die sich mit ihnen vermischt, beziehungsweise, verwechselt haben, an ihrer Statt ins Nichts laufen lassen. Entschuldige«, sagte er, an den Bergold linkerhand gewandt, der sein gefiedertes Haupt auf und ab wippen ließ, um zu zeigen, dass er ihm seine Worte nicht übelnahm. »Wir gehen am besten alle zusammen weiter.« Achtzehn Leute und zwei Eulen setzten sich wieder in Bewegung, jeder Seite an Seite mit seinem Doppelgänger. Anfangs empfand Roan die Straße als überfüllt, doch dann begann er Vorteile in der Vielzahl zu sehen. Die Lums ritten vorneweg und hielten nach >Verzerrung< Ausschau. Beide Roans achteten auf Hinweise, die ihr Verbündeter in Broms Gruppe eventuell für sie hinterlassen hatte. Sechs Gardisten anstelle von deren drei hielten nach beiden Seiten der Straße hin die Augen offen, bereit, sofort zu reagieren, falls irgendwelche Bedrohungen auftauchten. Die anderen unterhielten sich miteinander, manche eher scheu und zurückhaltend, andere durchaus angeregt. Gelegentliche Wanderer oder Reisende, die ihnen zu Fuß oder zu Ross entgegenkamen, starrten mit großen Augen auf die lange Reihe gleicher Gesichter und beschleunigten ihren Schritt, aus Furcht, der Effekt könne womöglich ansteckend sein. Der andere Roan musste ihre Gedanken aufgefangen haben, denn er grinste sie schief von der Seite an. Sollten sie bei der nächsten Person, die ihnen begegnete, so tun, als belegten sie sie mit dem Fluch des Zwillingstums? Es machte eigentlich großen Spaß. Roan wünschte fast, der Effekt würde anhalten. Falls Broms Macht noch größer werden sollte, würden sie mehr Hilfe brauchen, um ihm das Handwerk zu legen, wenn sie ihn endlich eingeholt hatten. Andererseits würde es dann zwei Leonoras und zwei Colennas geben, die sie zu beschützen hätten, wodurch sie ihre Aufmerksamkeit unnötig würden teilen müssen. Die Prinzessinnen führten eine lebhafte Diskussion über Mode, ein Thema, in dem sie, was nicht überraschte,
vollständig übereinstimmten. Roan hörte nur mit halbem Ohr zu. Er hoffte noch immer, klare Hinweise auf Broms Route zu finden. Der andere Roan sah ihn gelegentlich an und schüttelte wortlos den Kopf. Auch er sah nichts. » ... Aber ich finde den noditischen Brauch mit den bedruckten Stirnbändern für Babys ziemlich albern«, sagte Leonora und hielt sich einen Armvoll Falten zur Illustration vor die eigene Stirn. »Wo sie sie doch noch gar nicht lesen können ... Sie ist weg!« »Sie ist mit Ihnen verschmolzen«, sagte Misha, vor Überraschung ganz heiser. »Gerade eben. Als sie sich den Stoff vors Gesicht hielten. Mitsamt Pferd und allem Drum und Dran! Hat sich einfach ganz plötzlich auf sie zubewegt, und schwupp, war nur noch eine von Ihnen da!« »Schade«, sagte Leonora leise und legte die Hände auf das Sattelhorn. »Wir hatten gerade so viel Spaß miteinander.« Roan spähte die Reihe rauf und runter. Alle Duplikate waren verschwunden. Zehn war ihm anfangs als eine so große Zahl erschienen. Nach dem Verschwinden des Verdopplungseffekts sah die Gruppe plötzlich so klein und einsam aus. Er fühlte sich verletzlich, so allein hier draußen mitten im Nirgendwo. Leonora spornte Schwinn an, setzte sich neben Cruiser und bot Roan ihre Hand an. Er ergriff sie und drückte sie dankbar. Was für eine wundervolle Frau sie war! Wie schrecklich es wäre, wenn sie jetzt fortgehen und nach Hause zurückkehren würde. Er hatte noch immer Angst, sie in Gefahr zu bringen, aber er würde sie fürchterlich vermissen, wenn sie nicht da wäre. »Bin ich der Richtige?«, fragte Lum, unsicher seine Arme schwenkend. »So etwas ist mir noch nie passiert.« »Ich fühle mich genauso, Korporal«, sagte Roan. »Es ist ein gutes Zeichen, wenn man sich über seine eigene Gesellschaft freuen kann«, sagte Colenna in begütigendem Ton. Bergold kratzte sich seinen gefiederten Bauch mit einer
Kralle und sagte: »Er wusste alles, was ich wusste. Wie merkwürdig, wie ungewohnt. Ich habe noch nie eine solche Geistesverwandtschaft mit jemandem erlebt. Ich hab's wirklich genossen.« Spar war sehr besorgt. »Könnte dies ein Zeichen dafür gewesen sein, dass wir im Begriff sind, in einen Umbruch hineinzureiten?« »Nein, es war bloß ein Ärgernis«, sagte Bergold mit einem Seufzen. »Ein freundliches zwar, aber im Großen und Ganzen eine gewaltige Zeitverschwendung.« »Es fühlt sich so an, als wäre es hierher gezerrt worden«, sagte der Kontinuitor, die Luft prüfend. »Oder geschoben. Da ist so etwas wie Spannung in den Fasern der Luft.« »Es ist jedenfalls ganz eindeutig künstlich«, sagte Colenna. »Brom versucht, unsere Psyche zu zermürben.« »Aber wie schafft er es, hierherzukommen und wieder wegzugehen, ohne Spuren zu hinterlassen?«, fragte Lum. »Wir kriegen nicht mehr den durchgehenden roten Faden von Verzerrung, den wir vorher bekommen haben. Ich habe ein bisschen Verzerrung nahe der Stelle gesehen, an der wir in das Ärgernis hineingerieten, aber das ist auch schon alles. Sie müssen auf der Straße bleiben, richtig? Aber sie tun's nicht. Die meisten Dinge sind wie immer und sie hinterlassen keine Reifenspuren.« »Wenn diese Ablenkungen zu uns hin geschoben worden sind, dann haben wir keine Vorstellung davon, von wie weit weg«, sagte Bergold. »Wir müssten die ganze Wildnis absuchen und würden den Ausgangspunkt womöglich niemals finden.« »Es könnte aber auch ein natürliches Phänomen sein. Es könnte mit einem sehr aktiven Teil des Geistes des Schläfers in Zusammenhang stehen«, sagte Felan, wobei er zum Himmel hinaufstarrte und auf ein unsichtbares Dokument in seinem geistigen Archiv schielte. »Ich habe schon von bis zu fünf
gleichzeitigen ...« »Unwahrscheinlich«, sagte Colenna. »Nun, es ist jedenfalls nicht so, wie es war, als wir der Fährte vorher folgten«, sagte Spar, wobei ihm deutlich anzusehen war, dass es ihm widerstrebte, seiner Angebeteten zu widersprechen. »Und wir haben keine Reifenspuren mehr gesehen, seit wir an dieser Felswand vorbeikamen.« »Ich nehme an, es wäre zuviel gehofft, dass dieser Steinschlag auf sie runtergegangen ist«, sagte Felan missmutig. »Ganz gewiss nicht!«, entgegnete Colenna. »Diese zwei Ärgernisse so dicht hintereinander beweisen, dass sie noch sehr lebendig und aktiv sind und dass wir hinter ihnen sind. Ist das nicht richtig, Roan?« Roan war dankbar für die Zuversicht, die sie verbreitete. Er fühlte sich seiner selbst sehr unsicher. Wenn sie den Glauben an ihn verlören, würden sie vielleicht umkehren. Spar würde darauf bestehen, dass die Prinzessin ihn zurück nach Mnemosyne begleitete. Roan hätte den Wunsch, den er ein paar Tage zuvor geäußert hatte, allein weiterzugehen. Er wollte diesen Wunsch nicht mehr und hatte keine Lust auf die Aussicht, der Gestalt allein entgegenzutreten. »Wir müssen Brom zu nahe gekommen sein«, sagte Bergold, seine orangefarbenen Augen zur Hälfte mit den Lidern verschleiernd. »Aber wann? Warum wussten wir nicht, dass er ganz in der Nähe war?« »Das spielt doch keine Rolle«, sagte Leonora aus tiefer Überzeugung und mit einem zuversichtlichen Blick auf Roan. »Jetzt sind wir jedenfalls sicher, dass er immer noch vor uns ist. Das war es doch, was wir wissen müssten.« »Beeilung! Kannst du nicht schneller?«, schrie Basil. »Ich mach ja schon, so schnell ich kann«, fauchte Taboret patzig zurück, ohne ihn anzusehen. Sie fügte einen Block Nebulosität an. »Meinst du vielleicht, du könntest das besser?«
Sie spornte ihr Motorrad an und knatterte in einem weiten Bogen vom vorderen Ende der Fahrbahn zurück zum hinteren, sodass sie Basils Erwiderung nicht hören konnte. Geschwächt durch Bolmers Verletzung und Mamovas' Abwesenheit, müssten die Lehrlinge doppelt so hart reinklotzen wie vorher. Die Sturheit der Zwillingsbrüder hatte sie Stunden hinter Broms Zeitplan zurückgeworfen. Der Boss war gereizt; er fragte sich, ob sie es jetzt trotz der Fallen, die Mamovas Roan gestellt hatte, um ihn aufzuhalten, noch vor ihm bis zur Straße schaffen würden. Wegen des schwierigen Geländes waren die Söldner den ganzen Nachmittag weggeblieben. Brom hatte keine neue Botschaft von seinem Spitzel erhalten. Er mochte es nicht, keine Informationen zu haben und sie alle wussten das. Wut wogte und brauste durch das geistige Band, bis Taboret das Gefühl hatte, dass wenn irgendeiner sie jetzt auch nur schief ansah, sie ihn in die Fahrbahn einbetonieren würde. Sie würden ihre Straße heute nicht mehr fertig kriegen und wenn der Boss noch so herumbrüllte. Es ging auf die Dämmerung zu. Kraft, Wille und Moral waren bis zum Äußersten beansprucht und sie waren immer noch Meilen von der Hauptstraße entfernt. Mindestens sechsmal im Laufe des Nachmittags hatten sie die schmerzvolle Erschöpfung gespürt, die bedeutete, dass Mamovas sie angezapft hatte, um Fallen und Ablenkungen zu erschaffen. Die letzte war eine Stunde zuvor gewesen, und so stark, dass Taboret sich hatte setzen und nach Atem ringen müssen. Seitdem hatte es keinen Energiediebstahl mehr gegeben. Ob das bedeutete, dass Mamovas und die Söldner sich auf dem Rückweg befanden? Ja, sie spürte im Geist ein Antwortecho auf diese Frage. Wenige Minuten später hörte sie das rasch sich nähernde Motorengeräusch der drei Motorräder. Brom gab das Zeichen zum Anhalten. Es dauerte nicht lange, bis sie die drei
Motorradfahrer sehen konnten. Mamovas sah bloß erschöpft aus, und Acton leer und ausgebrannt, aber Maniunes Gesicht war grimmiger als üblich. »Schlechte Nachrichten, Boss«, sagte er. »Wir haben von unserem Freund hinter uns gehört. Sie haben einen Spitzel in unserer Gruppe.« Brom war so überrascht, dass der rote Funke in seinen Augen für einen Augenblick erlosch. »Was? Das ist unmöglich!« »Nein, es ist nicht unmöglich«, gab Maniune kurzangebunden zurück. Taboret vermutete, dass Mamovas auch von ihm Kraft abgezapft hatte und er war nicht daran gewöhnt. Die Müdigkeit hatte sogar seine Aggressivität gemildert. »Sie bekommen Hilfe von einem von uns. Ich weiß nicht, von wem, aber ich garantiere, dass die Botschaft nicht verstümmelt war.« »Nun denn«, sagte Brom. Er wandte sich an die Lehrlinge und klatschte in die Hände. »Alle Mann aufhören mit dem, was ihr gerade tut. Ich will, dass ihr mir zuhört! Irgendjemand von uns sendet Informationen an unsere Verfolger. Das ist eine Aktivität, die ich keinesfalls gutheißen kann. Der Spitzel soll sofort vortreten! Auf der Stelle!« Taboret fühlte Broms überlegene Willenskraft durch das geistige Band strömen und ihre eigene unterdrücken. Er verstärkte den Druck, mahlte sich in ihre bewussten Gedanken wie ein Drillbohrer. Gestehe! Bekenne! Taboret fasste sich an die Schläfen, versuchte, mit den Fingerspitzen die Schmerzen aus ihrem Kopf zu pressen. Sie wünschte sich, sie hätte irgendetwas zu gestehen und sei es nur, um den Druck zu lindern. Und dann fiel ihr ein, dass sie in der Tat etwas zu gestehen hatte. Konnten sie ihren Ausrutscher gemeint haben? Es war nur jenes einzige kleine Mal, jenes winzige kleine Zeichen auf einem einzigen Baum, das ebensogut ein Unfall
hätte gewesen sein können. Sie strengte sich an, nicht daran zu denken, und versuchte, ihre Schuldgefühle zu unterdrücken, indem sie sich darauf konzentrierte, andere zu verdächtigen. Es könnte Lurry gewesen sein, der sie verpetzt hatte, dachte sie angestrengt. Oder Gano. Die war ohnehin ein höchst verdächtiger Charakter! Ihre Bemühungen schienen zu fruchten. Sie sah, wie Glinn sie mit einem neugierigen Ausdruck in den Augen ansah und versuchte kühl zurückzustarren - aber sie machte sich Sorgen. »Keiner will vortreten? Keiner will seinen Freunden und Kameraden die Peinlichkeit eines Verhörs ersparen? Na schön. Ich werde die Wahrheit schon früh genug herausfinden«, sagte Brom und hob die Hand zum Zeichen, dass sie weitermachen sollten. »Weitermachen!«
21. KAPITEL Nach einem zeitigen Frühstück bei Sonnenaufgang blies Roan zum Aufbruch. Keiner weinte dem ungemütlichsten Lagerplatz, an den man sich erinnern konnte, auch nur eine Träne nach. Alle waren erschöpft und reizbar, wie kleine Kinder. Da das Wetter noch immer herbstkalt war, musste Leonora sich zwischen ihrem Zelt und ihren Kleidern entscheiden. Roan und Misha halfen mit, aus Blättern und Ranken ein neues Zelt für sie zu fertigen. Es war sehr anstrengend, mithilfe von Einfluss etwas herzustellen, das mit etwas zusammenpasste, das jemand anderes machte. Das Ergebnis war nicht gerade berauschend gewesen, aber sie hatte sich mit keinem Wort beklagt. Für einen Augenblick bedauerte Roan, dass die Gestalt zerstört werden musste, sobald sie Brom einholten, weil das Konzept, Kräfte miteinander zu vereinen und zu bündeln, vom Grundgedanken her fantastisch war. Es war eine schlimme Nacht gewesen, voller Zufallsgeräusche und -kreaturen, die, wenngleich fremdartig in ihrer Erscheinung, gewöhnliche Traumbestien waren, wie Hedder-Fledermäuse, die sich ständig im Kopfhaar verhedderten, oder junge Monstren-im-Wandschrank, die sich mit Vorliebe in Rucksäcken und Körben einnisteten. Sie hatten nicht leicht Schlaf gefunden, trotz des anstrengenden Tages, der hinter ihnen lag, und als der Schlummer endlich gekommen war, war er voller wirrer Träume und Nachtmahre gewesen. Und zu allem Überfluss hatten sie dann auch noch mitten in der Nacht mit ihrem Lager umziehen müssen, als sich der Hügel, den sie ausgewählt hatten, als Ameisenhügel entpuppt hatte und zwar mit nachtwachen Ameisen. Und immer noch gab es keine verlässlichen Spuren von
Brom. Nach der Dämmerung war Bergold die Eule mehrere Male zu einem Erkundungsflug über die Gegend aufgebrochen, um nach Broms Gruppe zu suchen. Die Wüste und die Savanne waren kreuz und quer von Reifenspuren durchzogen, aber keine davon sah so aus, als sei der WECKER dort vorbeigekommen. Im fahlen Licht des Morgens galoppierte die Gruppe auf der Straße dahin, in der Hoffnung, auf ein weiteres Zeichen künstlicher Interferenz zu stoßen, auf eine Verzerrung oder ein Ärgernis. Roan hasste das Gefühl ständiger Vorahnung, so als käme jeden Augenblick etwas hinter einem Baum hervorgesprungen und riefe laut >Buh!<. »Ein Stück weiter voraus könnte ein Problem auftauchen«, sagte Bergold, den Kopf aus einem Kokon von Kartenblättern steckend. Er war wieder von menschlicher Gestalt, obwohl er noch immer große runde Augen und daunenartiges, flaumiges Haar hatte. »Etwa drei Meilen von hier gibt es eine Kreuzung.« Roan bemerkte drei weitere Routen, die ihren Weg kreuzten. Eine führte nach Westen, doch die anderen beiden, die nach Norden respektive Ost-Nordosten führten, waren mögliche Brom-Routen. »Aber vielleicht finden wir ja auch weitere Hinweise.« »Bestimmt werden wir das«, sagte Bergold mit einem aufmunternden Nicken. Automatisch reichte er die Karte nach vorne durch, bis sie zu Colenna kam, die sie sauber zusammenfaltete und in den Tiefen ihrer Handtasche verstaute. Colennas Schlammtuch-Kluft sah heute ein wenig anders aus als tags zuvor - wie sie selbst auch. Ihre Haut schien dunkler und sie trug eine Hochfrisur. Der Effekt war sehr modisch. Sie war eine bemerkenswert gute Tourenreiterin, und Roan konnte sehen, dass Leonora durch schlichtes Abgucken eine Menge von ihr lernte. Sobald sie die nächste Stadt erreichten, würde er
dafür sorgen, dass Leonora sich mit ihrer Familie in Verbindung setzte und dem König sagte, wo sie sich aufhielt. Es war merkwürdig, dass bis jetzt noch keine Botschaft zu ihnen durchgedrungen war. Er wusste, dass Felan mehrere Kommuniques nach Mnemosyne gesandt hatte. »Seht nur, da sitzt ein Mann an einem Tisch«, sagte Leonora, als die Kreuzung in Sicht kam. »Halt!«, rief Spar und zügelte sein Ross vor dem Mann, der ein Dinnerjacket und eine schwarze Fliege trug. Er hielt einen Stapel Papiere in der Hand. »Sir! Haben Sie zufällig eine große Gruppe von Leuten hier vorbeikommen sehen? Sie müssten auf Motorrädern gefahren sein. Sie wissen schon, Fahrräder mit Motor.« Spar mimte das Drehen am Gasgriff. »Welchen Weg haben sie genommen?« Der Mann schaute sie höflich an. »Guten Tag«, sagte er. »Unsere Richtungen heute sind wie folgt: Die Straße nach Norden, also in die Richtung« - er deutete mit der Hand nach Norden - »das ist die Landstraße, die nach der Stadt Reverie führt. Nach Süden, also in die entgegengesetzte Richtung, führt die Straße zu den Städten Hark und Lark, die schließlich in die Landstraße mündet, die nach der Hauptstadt Mnemosyne führt. Die Straße nach Nordosten ist eine landschaftlich reizvolle Straße, die nach den Dunklen Mysterien führt. Und in westlicher Richtung finden Sie die Landstraße nach der Stadt Barbandion, die durch zahlreiche kleinere Städte führt. Das Angebot wird laufend erweitert, je nach Laune des Schläfers. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.« »Hören Sie!«, blökte Spar. Er sprang mit einem Satz von seinem Pferd und schob sein Gesicht ganz nahe an das des Mannes. »Ich frage Sie nochmal: Ist eine große Gruppe mit einer abgedeckten Trage zufällig hier vorbeigekommen? Wenn ja, welche Richtung hat sie eingeschlagen? Hat sie Kurs auf die Dunklen Mysterien genommen?«
Der Mann sah ihn mit leerem Gesichtsausdruck an. »Guten Tag«, begann er von neuem, mit seinen Papieren raschelnd. »Ihre Richtungen für heute: Nach Norden ...« »Er ist bloß ein Wegweiser«, sagte Roan enttäuscht. »Auch das noch! Von allen hirnlosen Schwachköpfen der hirnloseste ...«, grummelte Spar. »Er ist kein Schwachkopf«, sagte Bergold. »Er ist nicht einmal eine Person. Er ist eine nicht-interaktive, spezifische Informationsquelle. Das bedeutet schlicht, dass wir selbst entscheiden müssen, in welche Richtung wir wollen. Was meinen Sie, in welche Richtung haben sie sich gewandt? Nach Barbandion?« »Fühlt sich nicht so an, Sir«, sagte Lum, in Richtung Westen spähend. »Ich glaube, sie sind in diese Richtung weitergefahren.« Er schaute zu dem Wegweiser, der ihn mit freundlichem Blick ansah, aber keine weiteren Informationen ausspuckte. Spar deutete auf den Weg. »Schauen Sie, Sir, wir möchten doch bloß wissen -« »Guten Tag«, sagte der Wegweiser freundlich. »Nach Norden...« »Schon gut!«, brüllte Spar. »Ich bin nicht taub!« »Kein Grund, gleich loszubrüllen, mein Lieber«, sagte Colenna. »Ich kann nichts dafür. Ich komme mir vor, als würde ich schlafwandeln.« »Ich glaube, wir sind alle noch ein bisschen benommen von dem Essen gestern Abend«, sagte Misha und gähnte ausgiebig und ungeniert. »Lasst uns Rast machen und was essen.« »Du hast wohl immer Hunger, was?«, spottete Colenna liebevoll. »Du bist immer noch im Wachstum.« »Aber schon ziemlich groß«, sagte Misha und tätschelte sich den Schädel.
»Das mit dem Essen ist eine gute Idee«, sagte Roan. »Ich habe auch Hunger. Felan, Sie verwalten unseren Proviant.« Sie führten die Pferde auf die Nordostseite der Kreuzung, wo saftiges Gras wuchs. Sobald Roan Cruiser das Trensengebiss herausnahm, begann dieser mit Appetit zu weiden und vergnügt den Kopf hin und her zu werfen. Die Pause kam ihm sehr gelegen. Roan ertappte sich dabei, dass er beim Gehen hin und her schlingerte, als säße er immer noch im Sattel. Es war wärmer hier, als es weiter südlich gewesen war - eine Wohltat für seine schmerzenden Muskeln. »Ich hab was ganz Besonderes zum Mittagessen«, sagte Felan, die ersten Anzeichen von Begeisterung zeigend, die Roan je bei ihm gesehen hatte. Er zog mit elegantem Schwung ein Tuch hervor und breitete es auf dem Boden aus. Es war ein Tischlein-deck-dich, denn als es den Boden berührte, war es bereits vollständig gedeckt, mit Geschirr, Besteck, Servietten und sogar Blumenvasen. »Es wird euch munden.« Die anderen ließen sich rings um das Tischlein-deck-dich nieder. Bergold entfaltete eine Serviette, drapierte sie über seine Hemdbrust und stopfte sich die Spitze in den Kragen. »Voila! Lammschmortopf.« Felan hob die dampfende Kasserole aus einem Korb und präsentierte sie voller Stolz. »Das beste Rezept meiner Mutter. Es hat eine Weile gedauert, die Kräuter in die zu verwandeln, die sie verwendet hat, aber gut Ding will halt Weile haben. Guten Appetit!« Felan stellte die Kasserole auf das Tischtuch und lupfte den Deckel. Der Dampf, der dem Topf entstieg, war aromatisch, aber schwer. »Schon wieder Lamm?«, fragte Bergold überrascht. »Wir hatten doch erst gestern Abend Lammkoteletts. Sie wissen sicher aus den Büchern der Konkordanz, dass Hammelfleisch ein Schlafmittel ist. Es macht einen müde. Es ist wichtig, dass unsere Sinne geschärft werden, nicht abgestumpft, mein Lieber. Sie hätten besser Huhn kaufen sollen. Ein saftiger
Hähnchenschenkel macht einen so richtig schön wach.« »Hammelfleisch war einigermaßen preiswert in Hark, und Huhn war unverschämt teuer«, versetzte Felan pampig und knallte den Deckel wieder auf den Topf, dass es nur so schepperte. »Wenn Sie's nicht mögen, dann verändern Sie's halt. Sie können doch Ihr Essen bestimmt verwandeln«, sagte er, an Colenna gewandt, die den Mund öffnete und gleich wieder schloss, weil sie keine Lust hatte, sich von ihm nochmal zu einer Auseinandersetzung reizen zu lassen. Doch diesmal schaltete sich Spar ein. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie Fatzke«, schnarrte er, mit dem Zeigefinger vor Felans Nase fuchtelnd. »Ich bin zwar nur ein alter Soldat, aber mir scheint, Sie strapazieren Ihr Glück bis zu dem Punkt, wo selbst eine Göttliche Intervention Sie nicht mehr retten kann. Sie haben kein hübsches Bett, auf dem Sie sich für ein Nickerchen niederlassen können, also hüten Sie Ihre Zunge.« »Was haben Sie sonst noch gekauft?«, fragte Misha höflich. »Vielleicht können wir den Schmortopf für heute Abend aufheben, wenn wir ohnehin zu Bett gehen wollen.« Widerwillig präsentierte Felan seinen Korb. Alle anderen Lebensmittel, die er gekauft hatte, waren genauso langweilig wie das Hammelfleisch: eine große Dose Eiersalat, ein paar schmucklose Brotlaibe, milder Käse und ein Fässchen gekochten Selleriesalates. »Aus alldem ließe sich zur Not eine passable Quiche bereiten«, sagte Colenna. »Das kostet aber einiges an Aufwand und Mühe.« »Und die gesamte Energie, die diese Mahlzeit uns eigentlich spenden soll«, grummelte Spar. »Nun, dafür hab ich's aber günstig bekommen«, verteidigte sich Felan. »Dummkopf«, sagte Spar und warf die Hände hoch. »Sie
haben keine Ahnung vom Reisen. Das nächste Mal kaufen wir lieber selber ein.« Felan war beleidigt. »Sie sollten es lieber erstmal probieren, bevor Sie herummeckern. Ich habe mir eine Menge Mühe mit diesem Schmortopf gemacht!« »Schon gut«, sagte Roan und hob beschwichtigend die Hände. »Keinen Streit bitte. So schlecht schmeckt er nicht.« »Ich habe keine Lust, unterwegs einzuschlafen«, sagte der Hauptmann der Garde. »Wir müssen wachsam und auf der Hut sein. Wir wollen was anderes zum Essen haben.« Sie kamen überein, auf Colennas Idee mit der Quiche zurückzugreifen. Roan wurde dazu erkoren, es zu versuchen. Er kostete den Käse, das Brot und den Eiersalat. Den Selleriesalat schob er nach einem Bissen beiseite. Den Rest kombinierte er, so gut er konnte. Roan musste zugeben, dass das Ergebnis nicht besonders appetitanregend war, zudem bedurfte es erheblicher Anstrengungen, zu verhindern, dass es sich wieder in seine Ursprungskomponenten zurückverwandelte. Die anderen blickten ein wenig enttäuscht drein. Wenn sie nicht so hungrig gewesen wären, hätten sie auf die Quiche verzichtet und wären weitergeritten, bis sie eine andere Nahrungsquelle erschlossen hätten. Es reichte gerade für eine kümmerliche Portion pro Nase - ohne Nachschlag. Lum und Hutchings mühten sich, nicht so dreinzuschauen, als hätten sie immer noch Hunger, aber sie kratzten ihre Teller blank bis auf den letzten Krümel. »Also, das war lecker«, sagte Misha höflich. »Hat möglicherweise sonst noch jemand irgendetwas in Hark gekauft?« »Hmmmf«, schnaubte Felan. »Das wird nicht nötig sein«, versicherte Roan dem Kontinuitor. »Wir werden mit dem auskommen, was wir haben.«
Er nahm die Kasserole mit dem Lammschmortopf, lüftete den Deckel und kostete vom Inhalt. Es schmeckte sehr hammelig und unterstrich die Müdigkeit, die er spürte. Er übte seinen Einfluss aus, um das Gericht in einen schmackhaften Hühnertopf zu verwandeln, der ausreichte, um alle einigermaßen satt zu bekommen. Er nahm eine erneute Kostprobe. Es schmeckte jetzt richtig huhnig und munterte ihn ordentlich auf. Er hielt die Kasserole den anderen hin. »Gewiss nicht vollendet, aber schmack- und nahrhafte Kost.« Felan zog einen beleidigten Flunsch und wandte sich ab. »Riecht köstlich«, sagte Bergold. »Ich glaube, ich spüre da eines der Rezepte deiner Mutter heraus.« »Missgeburt«, murmelte Felan griesgrämig in seinen Bart. »Und es gibt Brot«, sagte Colenna. »Mmmh, das sieht aber sehr lecker aus, Felan.« Der ließ sich dadurch jedoch nicht beschwichtigen und wandte ihnen weiterhin beleidigt den Rücken zu. »Felan«, versuchte es Bergold. »Warum machen Sie das für sich selbst nicht auch und setzen sich zu uns?«, Er klopfte mit der flachen Hand auf das Tuch neben ihm. Der junge Historiker ignorierte ihn. »Eure Hoheit, ich habe hier ein paar sehr leckere Trauben, die ich von den Reben gepflückt habe, an denen wir vorbeigekommen sind«, sagte Misha und holte sie aus seinem Tornister hervor. »Darf ich Ihnen welche davon anbieten?« »Danke, gern«, sagte Leonora. Sie streckte die Hand nach ihnen aus, und Misha zögerte, um vorher sicherzugehen, dass die Früchte auch sauber und makellos waren. Roan unterdrückte ein Schmunzeln. Leonora wollte den Umgang mit ihren Reisegefährten einfach ein bisschen unbefangener und lockerer gestalten, aber sie traten ihr weiterhin mit großer Befangenheit und höchster Ehrerbietung entgegen. Roan
wusste, dass sie sie alle längst in ihren Bann geschlagen hatte. Selbst Hauptmann Spar, der alles andere als glücklich darüber war, dass er eine Angehörige des Königshauses mitten in einem gefährlichen Unternehmen unter seine Fittiche hatte nehmen müssen, war von ihrer Wärme und Herzlichkeit hingeschmolzen. Alle - bis auf Felan, dessen Benehmen ihr gegenüber - wie im Übrigen auch den anderen gegenüber - sich hart an der Grenze zur Unverschämtheit bewegte. Er hatte seine Portion aus dem Hühnertopf gnädig entgegengenommen und sie mit viel Aufwand wieder in Lammschmortopf zurückverwandelt. Jetzt saß er da, mit dem Rücken zum Rest der Gruppe, und aß schweigend, mit düsterer Miene auf seinen Teller starrend. »Es tut mir Leid, Felan«, sagte Roan besänftigend. »Aber wir müssen hellwach sein. Brom ist äußerst klug.« »Hmmmf!«, schnaubte Felan und verbreiterte seinen Rücken zu einer Wand, damit niemand von ihnen sein Gesicht sehen konnte. »Kommt, kommt, hurtig jetzt«, drängte Spar, wobei er mit seiner Gabel auf den Teller klopfte. »Wir können hier nicht den ganzen Tag herumsitzen. Lass uns essen und dann müssen wir weiter.« Roan wandte sich seinem eigenen Essen zu. Die Umwandlung der Speise war nicht vollständig gelungen. Ihre Geschmacksknospen mochten sie ja vielleicht überlisten können, aber nicht ihr Gehirn. Das strenge Aroma war wohl ein wenig abgemildert, aber noch immer präsent. Ein Bissen reichte, um Roan zu zeigen, dass er die Natur einer Sache nicht völlig verändern konnte. Er wurde sofort schläfrig. Lamm war halt Lamm. »Wisst ihr, was ihm fehlt?«, fragte Colenna. »Ein bisschen Würze.« Sie fasste in ihre Handtasche und holte eine kleine hölzerne Pfeffermühle hervor. »Pfeffer. Der gibt uns ein
bisschen Pep.« Sie drehte den Kopf der Mühle und streute reichlich grauen, grünen und roten Staub auf die einzelnen Portionen. Es schmeckte sehr würzig und machte alle durstig, half aber, die Restschläfrigkeit zu vertreiben. Roan fühlte sich gleich viel besser. Aller Augen waren heller und klarer und sie bewegten sich mit mehr Schwung und Energie. Colennas Pfeffer hatte seinen Zweck erfüllt. Er sprang auf, bereit zum Weitermarschieren. »Welchen Weg denn nun, Sir?«, fragte Lum, als sie das Tischlein-deck-dich abgeräumt hatten. Er reichte das zusammengefaltete Picknick-Tischtuch Felan zurück, der es wortlos entgegennahm und in seine Satteltasche stopfte. »Ich bin nicht sicher, Korporal«, sagte Roan. Er schritt immer wieder um die Kreuzung herum und suchte nach Hinweisen. Keine der drei Straßen wies irgendeine charakteristische Eigenart auf, die sie von den anderen abgehoben hätte. Alle waren in gutem Zustand. Der Wegweiser warf ihm einen freundlichen Blick zu, blieb aber stumm. Was hatte Leonora noch gesagt? Dass er ihnen allen Auftrieb geben musste mit seiner Hoffnung und seiner Führungskraft? »Ich wünschte, wir hätten irgendeinen Hinweis darauf, wo sie waren«, sagte Misha, mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne spähend. »Was, bei all dem Einfluss, mit dem sie nach uns geschmissen haben? Ich wette, wir sind keine Stunde hinter ihnen«, sagte Bergold barsch. »Vielleicht zwei, mit dem Mittagessen.« »Vergiss nicht, die müssen zum Mittagessen auch Halt machen«, erinnerte ihn Colenna. »Eine Stunde, mehr Vorsprung haben die nicht.« »Das nützt uns trotzdem alles nichts, wenn wir auch nur eine Minute zu spät kommen«, sagte Roan. »Das wäre genau so, als
hätten wir das Schloss der Träume überhaupt nicht verlassen.« »Wir verlieren kostbare Zeit mit unserem Herumgequassel, Sir«, mahnte Spar. Colenna kam herüber und fasste Spar beim Arm. »Hetzen Sie ihn nicht so, mein Lieber.« Auch Roan brannte voller Ungeduld darauf, Brom einzuholen, bevor sein Vorsprung noch weiter wuchs. Die Reifenspuren, die sie zuletzt gesehen hatten, bewiesen, dass die meisten der Wissenschaftler auf Motorfahrzeugen unterwegs waren. Unter sonst gleichen Umständen würde die Gruppe immer weiter zurückfallen, falls sie nicht eine Menge Glück hatte. Hinter ihnen blies ein eisiger Wind. Jedesmal wenn Roan nach Süden zurückkam, begann er zu bibbern. Er bewegte sich rasch wieder weg von dem kalten Wind zur Nordseite der Kreuzung, wo es spürbar wärmer war. Die Kreuzung muss genau auf einer Temperatur-Isobare liegen, dachte er, weil weder Bäume noch irgendwelche anderen Windbrecher in der Nähe sind. Er richtete den Blick nach oben, um den Himmel abzusuchen, aber er konnte keinerlei Wetterzeichen entdecken. Auch auf der Westseite war der Wind kalt. Eigenartig, dass es an gleichartigen Orten, die nur wenige Schritte voneinander entfernt waren, solche Unterschiede geben konnte. Roan überquerte die Straße und ging zu der Straße hinüber, die nach Nordosten führte. Auch hier war es wärmer, wenngleich nicht so wie auf der Straße nach Norden, auf der die Luft fast schon heiß war. Denk nach!, mahnte er sich. Kalt, kalt, warm, heiß was bedeutet das? »Hier entlang«, sagte Roan, mit der Erregung der plötzlichen Erkenntnis. »Ich bin sicher, sie sind jetzt nord-nordöstlich von uns. Der beste Weg wäre daher die Route nach Norden.« »Was?«, fragte Felan, aus seinem dumpfen Brüten aufgeschreckt. »Aber da gibt es doch gar keine Fährte, der wir
folgen könnten.« »Die Schläfer sind uns günstig gesinnt, Meister Felan«, sagte Roan, erfüllt von echter Erleichterung. »Wir haben einen Fingerzeig.« Er legte seine Überlegungen dar und führte die anderen nacheinander zu jeder der Straßen und ließ sie die Veränderungen fühlen. Bergold nickte und Colenna blickte erfreut. Leonoras Augen leuchteten. »Du hast Recht!«, sagte sie. »Los, beeilen wir uns!« Sie brachen nach Norden auf, befeuert von Pfeffer und gutem Mut. Aber Roans Aufmunterung hatte leider nur geringe Wirkung auf ihre Rösser. Sie galoppierten zwar, was das Zeug hielt, weigerten sich aber nach wie vor hartnäckig, sich in Sportwagen, Luftschiffe oder Überschallflugzeuge zu verwandeln. Die Sympathie, die die Schläfer für ihre Mission hegten, war zwar beruhigend und erfreulich, und Roan dankte ihnen insgeheim auch dafür, aber irgendein Weg, höheres Tempo zu erreichen, wäre ihm sehr willkommen gewesen. Das Äußerste, wozu die Rösser bereit waren, schien, zu Rennrädern zu mutieren, mit schmalen Reifen, Karbonrahmen und Rennlenkern, die die Reiter zwangen, sich vornüber zu beugen und so den CW-Wert zu verringern. Die Straße war weiterhin in gutem Zustand und die Luft enthielt jenen zarten Hauch von Wärme. Was Roan indes Sorgen bereitete, war die Unzufriedenheit, die sich in der Gruppe breitzumachen begann. Dass Felan über seine >mangelnde Kompetenz< nörgelte, überraschte ihn nicht weiter, aber jetzt begann auch Hutchings etwas von >sinnloses Unterfangen< und >ich will endlich nach Hause< in seinen Bart zu murmeln. Er konzentrierte sich darauf, nach Kräften in die Pedale zu treten und das Getuschel so gut es ging zu ignorieren. »Was zum Teufel ist das denn?«, rief Spar, den Blick nach vorn auf eine Stelle gerichtet, an der die Straße in einem dichten Wald verschwand. Er bremste und zeigte nach vorn.
Aus der Seite eines hohen, rechteckigen Häuschens ragte eine orange und schwarz gestreifte Schranke quer über die Fahrbahn und versperrte ihnen den Weg. »Mautstelle! Dies ist die Straße des Königs! Sie ist frei für jeglichen Verkehr!« »Nicht, wenn Sie passieren wollen«, sagte ein großgewachsener Uniformierter am Tor. »Zahlen Sie, oder Sie dürfen nicht durch.« »In wessen Auftrag?«, fragte Spar. »Dies ist doch die Straße des Königs, oder nicht?«, erwiderte der Uniformierte. »Des Königs!« »Wie viel?«, fragte Roan und kramte in seinen Satteltaschen nach seinem Portemonnaie. »Ein Huhn pro Pferd, ein Laib pro Nase.« Der Mautstellenwärter streckte eine tellergroße Hand aus und wartete. »Das ist exorbitant!«, rief Colenna empört. »Wissen Sie nicht, wer diese Dame ist? Das ist ihre Hoheit, Prinzessin Leonora!« »Wirklich?«, fragte der großgewachsene Mann und beäugte Leonora, die ihr Bestes tat, um in ihrem Zeltkleid möglichst königlich auszusehen. Wie das Kostüm von Colenna war auch ihres während der Nacht verschiedenen Modifikationen unterworfen worden, mit dem Resultat, dass es jetzt modischer und stilvoller aussah, wenn auch noch immer genauso voluminös. Sie manifestierte eine Tiara und der Mann nickte. »Angehörige des Königshauses, drei Hühner. Zahlbar in bar.« »Unsinn!«, begehrte Bergold auf. »Entscheiden Sie sich«, sagte der Mautstellenwärter ungerührt. »Da warten noch eine Menge anderer Leute darauf, dass sie endlich durch können.« Sie drehten sich um. Auf dem, was eben noch eine leere Straße gewesen war, hatte sich inzwischen ein riesiger Stau von Menschen in Autos, Fuhrwerken, Karren, auf Pferden, Eseln, Fahrrädern und verschiedenen anderen
Fortbewegungsmitteln gebildet, die Roan nur als außergewöhnlich beschreiben konnte, wie zum Beispiel ein Waschzuber, der drei Männer mit Rudern enthielt. »Heh, Kumpel, mach voran!«, schrie ein Mann mit Sonnenbrille, der sich aus dem Seitenfenster seines Wagens lehnte. »Lass knacken!« »Meine Kinder werden quengelig!«, brüllte ein anderer Mann in einem Eselskarren. »Mach hinne!« »Na schön«, gab Roan sich geschlagen und griff nach seiner Tasche. Als er die Seite seiner Tunika berührte, fiel ihm ein, dass sie gar keine Taschen hatte. Dies war nicht seine Originalkleidung. »Einen Augenblick, bitte.« Er öffnete seinen Rucksack und kramte nach seinem Portemonnaie. »Komisch«, sagte er. Bergold beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. »Was ist?« »Meine Brieftasche ist weg. Hast du vielleicht Geld?« »Aber sicher«, sagte der Historiker. Er saß ab und griff in seinen Korb. »Also, das ist doch... Das kann doch nicht wahr sein! Meins ist auch weg! Wie einzigartig!« »Das ist ganz und gar nicht einzigartig«, sagte Colenna und schaute betroffen von ihrer riesigen Handtasche auf. »Meins ist nämlich auch weg!« Daraufhin suchten auch alle anderen nach ihrer Geldbörse - mit demselben Ergebnis. »Was ist nun?«, fragte der Wärter und baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf. Roan blickte zu ihm auf und setzte die Suche fort. »Wir können unser Geld nicht finden.« »Dann werden wir Ihnen helfen«, sagte der Uniformierte. Mehrere hünenhafte Wärter stürzten sich auf sie und kippten ihre Tornister, Rucksäcke, Satteltaschen, Körbe - und Colennas Handtasche aus. »Nein!«, schrie Misha, als die Männer Leonoras Rucksack
öffneten und begannen, ihre Habseligkeiten auszupacken und auf die Straße zu legen. »Da lassen Sie mal ganz schön die Finger von!« Er riss einem der Wärter eine zierliche Vase aus der Hand. »Misha, das geht schon in Ordnung!«, sagte Leonora, während sie einem anderen Wärter mit hochrotem Kopf einen hauchzarten Spitzen-BH entriss. »Sie machen doch bloß ihren Job. O weh! Mein ganzer Schmuck ist weg!« »Bitte lassen Sie das«, sagte Roan, während er versuchte, einem stämmigen Wärter seinen Rucksack zu entwinden. »Es ist nicht nötig, mein ganzes Gepäck zu durchwühlen. Ich sage Ihnen, wir haben das Geld für die Maut nicht. Wir kehren um und versuchen es auf einer anderen Straße.« »Wollen Sie mich an einer Amtshandlung hindern?« Der Wärter, der seinen Rucksack hielt, fuhr fort, den Inhalt auf die Straße zu entleeren. Roan konnte nur über die schiere Menge von Gegenständen staunen, die sein Rucksack barg. So konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, ein Jojo mitgenommen zu haben. Und dieses geschmacklose buntkarierte Kissen hatte er nie im Leben eingesteckt. Oder die Bowling-Trophäe! Wo kamen all diese Dinge her? »Heh, Charlie, sieh dir das an!«, rief ein anderer Wärter und hielt ein Fischbeinstabkorsett mit purpurfarbenem Spitzenbesatz hoch. Nachdem er es den Umstehenden eine Weile feixend präsentiert hatte, ließ er es auf den Haufen von Sachen fallen, der inzwischen auf Mannshöhe angewachsen war. Colenna hob es mit hochrotem Gesicht auf und steckte es unter ihren Umhang. »Sie haben Recht, hier ist kein Geld drin«, sagte der erste Wärter und warf Roan seinen leeren Rucksack vor die Füße. »Sie machen jetzt besser Platz. Und nehmen Sie Ihr Zeugs mit.« Roan hob seinen Rucksack auf und packte seine Sachen
wieder ein. Die Fahrer hinter ihm in der Schlange hupten und schrien. Roan und seine Leute versuchten, sich zu beeilen, aber ihre Rucksäcke und Tornister schienen jetzt zu klein für all die vielen Gegenstände zu sein. Roan lächelte und entschuldigte sich bei den Wartenden, aber die fluchten bloß und schüttelten drohend die Faust gegen ihn. Colennas Handtasche quoll über: aus der einen Seite ragte ein Regenschirm heraus, aus der anderen eine Thermosflasche. Roan hatte die Arme voll mit Kleidungsstücken und balancierte obendrauf ein komplettes Kochgeschirr. »Wir umgehen diese verdammte Mautstelle und schlagen uns durch die Wälder«, sagte Spar, während er ganze Berge von Militaria aufsammelte. Ein Gurt MP-Patronen rutschte ihm aus den Händen, und er musste sich bücken, um ihn aufzuheben. »Ich werde jedenfalls keine ungerechte und ungesetzliche Maut entrichten!« »Darum werden wir wohl nicht herumkommen«, sagte Roan ernüchtert. »Da! Schauen Sie!« Klingeln schrillten. Ein zweites Häuschen spross auf der rechten Seite der Straße aus dem Boden. Auf seinem Dach leuchtete in roten Neonbuchstaben: >Passieren!< Eine gelbe Lampe leuchtete daneben auf, die rote Neonschrift verwandelte sich in grüne und die orange und schwarz gestreifte Schranke hob sich. Von abseits der Straße nahte ein Pulk von Motorrädern. In seiner Mitte waren die unverwechselbaren Formen von Brom und der abgedeckten Plane zu erkennen. Sie brausten mit voller Geschwindigkeit durch das Häuschen hindurch, schwenkten wieder auf die Straße ein und röhrten davon. Die Schranke fiel und das Häuschen mit dem Schild >Passieren!< versank wieder im Boden. Roan ließ alles fallen und rannte hinter den Motorrädern her, nach Cruiser pfeifend. Die Mautstellenwärter versperrten ihm sofort den Weg.
»Das könnte Ihnen so passen!«, sagte der Oberste Mautstellenwärter. Er griff nach dem Fahrrad, das sich wiehernd aufbäumte. »Ich muss sie aufhalten!«, erklärte Roan und versuchte, sich an ihm vorbeizuzwängen und unter der Schranke hindurchzuschlüpfen. »Es sind Feinde der Krone! Sie müssen mir helfen, sie aufzuhalten!« »Waren sie das?«, fragte Lum. Die Palastwachen hatten ebenfalls alles fallen gelassen und drängten sich unmittelbar hinter ihm. »Ja! Sie entkommen!« »Hören Sie!«, sagte der Mautstellenwärter ungerührt und schüttelte drohend den Zeigefinger vor Roans Nase. »Jetzt sammeln Sie Ihr Zeug auf und gehen von der Straße runter. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« Der Hup- und Brüllchor aus der Schlange hinter ihnen schwoll an, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Leonora kam nach vorn gelaufen. »Warten Sie. Nehmen Sie das anstelle von Geld?« Sie überreichte dem Mann eine kleine juwelenbesetzte Brosche. »Nun, was ist? Reicht das für unsere Durchfahrt?« »Ihre Durchfahrt?«, fragte der Wärter und schraubte sich eine Lupe ins Auge. Seine Augenbrauen hoben sich. »Das reicht für alle!« »Jippiiieeeh!«, rief der Fahrer des Wagens unmittelbar hinter ihnen. »Dann nehmen Sie sie«, sagte Leonora verzweifelt. »Nur lassen Sie uns endlich durch!« »Ganz recht, Lady«, sagte der Wärter. Er hob die Hand und die Schranke ging hoch. Der Verkehr floss um sie herum, während sie hastig so viel wie sie konnten von ihren Habseligkeiten aufklaubten und in
ihre Satteltaschen und Tornister stopften. Roan ärgerte sich über jede Sekunde, die sich ihr Aufbruch weiter verzögerte. »Wir waren also vor ihnen! Kein Wunder, dass es keine deutliche Fährte von ihnen gab!«, rief er, während er den letzten Gurt an Cruisers Gepäckträger festzurrte. »Nun, den Schläfern sei Dank«, sagte Bergold, Murmeln und Bücher in seinen Rucksack stopfend. »Los jetzt! Auf geht's!« Sie sprangen auf ihre Rösser und strampelten sich durch das Verkehrsgewühl. Roan bedeutete den Gardisten, die Führung zu übernehmen. Er wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnten ihre Rösser in schnelle Motorräder wie die von Brom verwandeln, aber irgendwie hoffte er, dass das Recht obsiegen und sie die Geschwindigkeit, die sie benötigten, um Brom einzuholen, erlangen würden, bevor es zu spät war. Er beugte sich über den Lenker und trat in die Pedale. Sie mussten sich beeilen! »Sir«, rief Lum über den Verkehrslärm hinweg. »Hier ist keine Entstellung! Keine Verzerrung!« Roan hob den Blick. Der junge Gardist fuhr am Rande der Straße und winkte. Roan sauste an einem Eselskarren und einem pedalgetriebenen Schubkarren vorbei, um zu ihm zu gelangen. »Mondstaub, mein Sohn!«, sagte Spar und ließ sich neben sie zurückfallen. »Sie sind mit hundert Meilen pro Stunde durch das Häuschen hindurchgebraust. Da war schlicht keine Zeit, um irgendwas zu verzerren.« »Ich werde es beweisen, Sir«, sagte Lum. Er nickte Hutchings zu, der hinter ihnen radelte. Sie schwenkten von der Straße in den Wald ab und fuhren zurück zu dem Mauthäuschen. Roan schaute ihnen überrascht hinterher. Binnen einer Minute gesellte sich der junge Gardist wieder zu ihnen, aus den Wäldern zu ihrer Rechten kommend und sich durch das Verkehrsgewühl hindurch an ihre Seite schlängelnd.
»Wie ich's mir gedacht habe, Sir«, sagte er. »Keine Reifenspuren. Der Boden hätte total aufgewühlt sein müssen, er ist aber völlig glatt. Nichts außer einem kleinen Fleck Verzerrung am Rande der Straße nahe der Stelle, an der diese Mauthäuschen-Attrappe stand.« Hutchings nickte bestätigend. »Da hätten insgesamt ein Dutzend Reifenspuren sein müssen, aber es war nur eine einzige da und die hundert Schritt weiter draußen. Die kann von irgendjemandem stammen.« »Alle Mann rechts ran«, sagte Roan traurig und hob den Arm, um dem Rest der Gruppe zu zeigen, dass sie anhalten sollten. Er versammelte sie am Straßenrand. Von dort aus geleitete Lum sie zurück zu der Stelle, wo sie Brom auf die Straße hatten kommen sehen. Roan studierte den Waldboden und das staubige Ödland rings herum. Der junge Mann hatte Recht. »Es weist alle Merkmale einer künstlichen Störung auf«, stimmte Gergold ihm mürrisch zu. »Wir sind hereingelegt worden.« »Aber wir haben sie gesehen!«, rief Misha. »Sehen sie denn nicht so auch tatsächlich aus?«, fragte er Roan, woraufhin dieser nickte. »Es war ein Trugbild. Vielleicht träumen die Schläfer auch von der Störung, und sie wirft Echos«, erwog Bergold. »Es könnte gut sein, dass es überall im Traumland ähnliche Erscheinungen gegeben hat. Die Störung verschlimmert sich.« »Jetzt sind wir wieder auf Feld eins zurückgeworfen«, sagte Misha trübsinnig. »Wir wissen nicht, was wir gesehen haben. Wir können unseren eigenen Augen nicht trauen.« »Was nun, Sir?«, fragte Lum. »Wir fahren weiter«, sagte Roan.
22. KAPITEL Für den Rest der Strecke durch die Wüstenei hatten die Lehrlinge den ganzen Morgen gebraucht. Die letzten Ellen des letzten Blocks Nebulosität waren gelegt und hatten sie auf eine Fläche geführt, die glatt und stark genug war, um sie bis zur Straße zu tragen, die sie in nur mehr hundert Schritten Entfernung sehen konnten. Brom schickte die Lehrlinge los, vor der Trage herzufahren und mittels Einflusses den Sand und den weichen Matsch zu einem Pfad für den WECKER zu ebnen, ohne von ihren Motorrädern abzusteigen. Taboret war froh, der Nebulosität, die zum Schluss immer dann, wenn Veränderungen am wenigsten willkommen gewesen waren, auseinander gebröselt und weich geworden war, auf Nimmerwiedersehen sagen zu können. Erleichtert warf sie ihr letztes Stück weg. Es tupfte mehrere Mal auf und lag dann still. Sollte das widerliche Zeug wieder zu Gras und Skulpturen werden und ihretwegen verrotten! Just als sie die letzten Ellen parallel zur Straße zurücklegten, glaubte Taboret durch die Bäume eine Frau zu erkennen, die aussah wie die Prinzessin. In wallendes Weiß gehüllt, war Prinzessin Leonora umringt von Bergen von Zeug und Leuten, die mit den Armen fuchtelten. An ihren Gesichtern konnte Taboret erkennen, dass sie schrien, aber sie konnte weder Stimmen noch irgendwelche anderen Geräusche hören. Die Prinzessin sah nicht so aus, als sei sie in Gefahr, worüber Taboret sehr erleichtert war. Aber würde die Prinzessin sie sehen können, wenn sie aus ihrer Deckung hervorbrachen? Was täte Brom? »Herr! Vor Ihnen!«, schrie Lurry. Das schmale Häuschen schien regelrecht aus dem Waldboden hervorzusprießen. Brom sah es und hob die Hand.
Der Schriftzug >Passieren!< auf dem Dach verwandelte sich von Rot in Grün und die hölzerne Schranke ging hoch. Sie brausten durch die Gasse - mitsamt der Trage. Ein hochaufgeschossener Mann, in dem Taboret Roan wiedererkannte, rannte hinter ihnen her und steckte die Finger in die Mundwinkel. Offenbar stieß er einen Pfiff aus. Ein Fahrrad löste sich aus dem Rudel, das dicht zusammengekauert neben dem Häuschen zur Linken stand, und rollte zu ihm, doch ein großer Mann trat dazwischen und hinderte Roan am Aufsteigen. Das war alles, was Taboret sehen konnte, ehe sie vorbei und auf der Straße war. Der harte Belag unter ihren Reifen war eine Wohltat, die unmittelbar von den Schläfern kam. Sie war erleichtert. Wenigstens waren die Prinzessin und die anderen noch am Leben und, wie es aussah, wohlauf. Sie brauchten keinen neuen Pfeil von ihr, der ihnen den Weg wies. Sie blickte zurück zu dem Mauthäuschen, um zu sehen, ob Roan es geschafft hatte, an den Wärtern und an der Schranke vorbeizukommen. Die Schranke war nicht mehr da. Die Straße hinter ihr schien auf Meilen frei. Selbst das kleine Gehölz war verschwunden. Sie schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. »Was ist passiert?«, rief sie den anderen zu. »Was in Albtraums Namen war das?«, fragte Glinn. »Sind sie uns so dicht auf den Fersen?« »Wir sind ihnen um Meilen voraus«, rief Mamovas über das Dröhnen der Motoren hinweg. Sie sah sehr zufrieden mit sich aus. »Das war die letzte Falle. Eine doppelte Illusion mit Feedback-Charakter. Sie konnten uns sehen, aber nicht berühren, selbst wenn sie es geschafft hätten, die Schranke zu passieren. Und wir konnten sehen, was sie taten. Sie dürften dort eine ganze Weile festhängen. Sie haben nämlich kein Geld. Ich hab's ihnen stibitzt.« Sie schwenkte triumphierend
eine große Börse und steckte sie in ihre Gürteltasche. »Das ist Teil der Falle.« »Du bist mir aber eine ganz Clevere«, sagte Carina bewundernd. »Und eine echte Künstlerin dazu«, setzte Basil hinzu. Taboret fühlte, dass sie aufgrund des Bandes nicht anders konnte, als den anderen zuzustimmen, aber der private Winkel ihre Geistes hegte noch immer Bedenken hinsichtlich dessen, was vor ihnen lag. »Beeilung!«, donnerte Spar. »Sie müssen irgendwo da hinten sein.« »Aber sie waren niemals hier, Sir«, versuchte Lum, der knapp hinter seinem Hauptmann radelte, ihm zu erklären. »Das war bloß ein Bild. Es könnte ein Fantasiegebilde sein - von den Schläfern.« »Er hat es dorthin projiziert, um uns zu verspotten«, sagte Spar, während er zwei Schwestern des Heiligen Ordens in einer alten Kutsche auswich, die alle anderen auf der Straße überholten. »Brom war das. Er war schon als Junge verdammt schlau, und er ist zu einem bösen, gehässigen Mann geworden. Wartet nur ab, bis ich ihn vor den König bringe.« »Herr Hauptmann, fahren Sie langsamer!«, schrie Roan. »Auch wenn sie vor uns sind, wir werden dieses Tempo nicht lange aufrechterhalten können. Um der Prinzessin willen, halten Sie an!« Spar blickte zurück. Leonora war um mehrere hundert Schritt zurückgefallen. Roan schloss zu Spar auf und gestikulierte heftig, bis der Hauptmann der Garde bremste. »Es hat keinen Zweck«, sagte Spar, als der Verkehr auf beiden Seiten an ihnen vorbeihuschte. »Wir werden's nicht schaffen. Sie haben Motoren - und wir bloß Pedale. Sie werden
dieses infernalische Gerät zum Einsatz bringen und wir können nicht das Geringste dagegen tun. Können wir nicht umkehren, Sir? Ihre Hoheit sollte sicher nach Hause geleitet werden, bevor das Ende kommt.« »Nicht aufgeben, Herr Hauptmann«, sagte Roan, bemüht, seine Stimme möglichst zuversichtlich klingen zu lassen. »Wir werden Hilfe finden.« »Tüüütüüüt!« Ein riesiger LKW kam wild hupend von hinten herangedonnert, geradewegs auf sie zu. »Ignorieren wir ihn einfach«, knurrte Spar. »Soll er doch um uns herum fahren. Das ist bloß wieder eins von diesen Verkehrsärgernissen.« »Nein«, sagte Roan nach einem kurzen Blick. »Es ist Hilfe. Fahren Sie rechts ran!« Anders als alle bisherigen Manifestationen von Überlandverkehr sah dieses Fahrzeug real aus. Die Windschutzscheibe war durchsichtig und Roan konnte das Gesicht des Fahrers sehen. Er fuhr an den rechten Fahrbahnrand, drehte sich im Sattel um und stellte sich auf die Pedale. Er streckte den Arm aus und reckte den Daumen in die Luft, um dem Fahrer zu bedeuten, dass er anhalten solle. Die mächtige Hupe ertönte erneut, sodass die Fahrräder scheuten und bockten, aber dann bremste der LKW und kam kurz vor ihnen zum Stehen. Der Motor schnaubte noch einmal ohrenbetäubend und verstummte. Roan fuhr zur Fahrertür. »Sei vorsichtig!«, rief Leonora ihm nach. »Er könnte dich zerquetschen!« »Es ist schon in Ordnung!«, rief Roan zurück. »Wo soll's denn hingehn?«, rief der Fahrer aus dem Seitenfenster herunter. »Wir müssen jemanden einholen«, rief Roan hinauf, »und es könnte eine lange Strecke werden.« »Ich fahre eine lange Strecke«, sagte der Mann und grinste,
sodass seine Zahnlücken sichtbar wurden. »Steigen Sie ein! Ich mag Gesellschaft.« »Vielen Dank auch!«, gab Roan zurück. »Sie tun uns damit einen großen Gefallen.« Der Fahrer zeigte mit dem Daumen zum Heck des Fahrzeugs. »Schmeißen Sie sie hinten auf die Ladefläche.« »Jawoll!«, rief Spar und salutierte. »Soldaten!« Der Hauptmann befahl Lum und Hutchings, die Heckklappe an der Rückseite der Ladefläche zu öffnen. Sie pfiffen die Fahrräder in eine Reihe und schickten sie die ausfahrbare Laderampe hinauf, dann verriegelten sie die Heckklappe fest hinter ihnen. Der Fahrer beugte sich herüber und entriegelte die Beifahrertür. Roan half Leonora die Stufen hinauf in die Fahrerkabine und schob sich seitwärts an ihr vorbei, um zwischen ihr und dem Fahrer Platz zu nehmen. Zu seiner Verblüffung verlängerte sich die gepolsterte Sitzbank so lange, bis sie breit genug war, dass alle nebeneinander sitzen konnten. Einer nach dem anderen kletterte die Gruppe in die Kabine. Colenna zog als letzte die Tür hinter sich zu. Swingende, wimmernde Musik scholl aus Gittern in beiden Türen. Roan empfand sie anfangs als störend, doch sobald der Fahrer den Motor anließ, klang sie angenehm, ja geradezu anheimelnd über dem sonoren Baritongebrumm der Maschine. »Ich bin Skorvald Schlafmütz«, stellte sich der Fahrer vor. Er zog einen schweren Hebel nach hinten und stellte den Fuß auf eines der drei Pedale, die schräg aus dem Fußboden der Kabine ragten. »Das ist ein guter träumerischer Name«, sagte Roan, der die Operation mit Interesse verfolgte. »Ich bin Roan Faireven, Herr Schlafmütz.« »Nennen Sie mich einfach Skor«, schrie der Fahrer über das
Krachen des Getriebes hinweg. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Darf ich Sie mit Ihrer Ephemeren Hoheit, Prinzessin Leonora, bekannt machen?«, fragte Roan. Der Fahrer sah sie mit hellen, klaren Augen an, die aus einem Nest aus Runzeln hervorblitzten. Sein wettergegerbtes Gesicht legte sich in tausend Falten und brachte ein Lächeln hervor, während er die Hand an den Schirm seiner Mütze legte. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Hoheit. Hier!« Er griff über das Lenkrad nach einem Stapel gefalteter Papiere auf der Armaturentafel und drückte ihr eine Straßenkarte in die Hand. »Sie lotsen mich. Ich kann genausogut von Ihnen Anweisungen entgegennehmen wie von jedem andern. Wir sind auf der Landstraße 2. Wo wollen wir hin?« Leonora faltete die abgewetzte, eselsohrige Karte auseinander und fand die rote Linie der Landstraße, die aus Celestia kommend über die Brücke führte. Sie folgte ihr mit dem Finger Richtung Norden bis zu einer Kreuzung mit einer grünen Linie und schaute Roan mit einem fragenden Achselzucken an. Sie studierten die Karte gemeinsam. Die rote Linie, die dicht an der Grenze der Provinz entlang verlief, in der sie sich jetzt befanden, war mit kleinen schwarzen Punkten markiert, die Städte bezeichneten. Eine lange blaue Linie verlief von der Brücke aus deckungsgleich mit der roten, schwenkte dann für ein längeres Stück nach Osten ab, durchquerte die Wüste und stieß wenige Meilen südlich des schwarzen Punktes, der die Stadt Reverie markierte, wieder zu der roten Linie. Entlang der blauen Linie standen die Worte: >Hier Sind Sie Entlanggekommen.< Leonora schaute zu Roan auf, die Lippen zu einem Lächeln geöffnet, in den Augen ein freudiges Funkeln. »Was ist?«, fragte Bergold. Sie gab ihm die Karte und er ließ ein fröhliches Kichern hören. Jeder wollte es sehen und
grapschte die Karte aus den Händen des Letzten, der sie hielt, bis sie schließlich bei Colenna ankam. »Das war vom Schicksal so bestimmt«, sagte die ältere Frau mit einem zufriedenen Nicken. Sie beugte sich vor und zwinkerte an der Reihe vorbei Roan zu. Leonora streckte die Hand aus und die Karte wanderte wieder zurück zu ihr. »Du hattest Recht, mein Junge. Gut, dass du so beharrlich warst.« »Es mag vorherbestimmt gewesen sein«, sagte Roan, »aber das bedeutet nicht, dass wir uns jetzt bequem zurücklehnen können. Hier entlang bitte, Skor. Wir fahren in Richtung Reverie.« »Wird gemacht, mein Freund«, sagte Skorvald. Er hieb den Schalthebel nach vorn, dass es krachte. Leonora ging aufmerksam mit dem Finger auf der blauen Linie jeder Kurve nach, die die Straße machte, und nickte bei jedem Markstein, der hinter der breiten Windschutzscheibe auftauchte und wieder verschwand. Der LKW rumpelte auf eine Gabelung zu. »Jetzt rechts«, sagte Leonora, die einen Pfeil neben der rechten Abzweigung auf ihrer Landkarte sah. Skor betätigte folgsam den Blinkerhebel an der Lenksäule und der Lastwagen schwenkte nach rechts ab. Die Prinzessin und Roan wechselten einen kurzen Blick. Wenn sie ihm nicht gesagt hätte, er solle abbiegen, wäre er womöglich nicht den richtigen Weg gefahren. Sie waren Herr ihres Schicksals. Niemand leitete sie. Obwohl das Los des Traumlandes auf ihren Schultern ruhte, mussten sie gleichwohl immer noch die richtigen Entscheidungen für sich selbst treffen. Diese Erkenntnis sorgte bei Roan für nachdenkliches Schweigen, während der riesige LKW die Straße entlangbrummte. »Wir passieren jetzt die Stelle, wo die blaue Linie mit der Landstraße 2 zusammentrifft«, sagte Leonora.
»Sir, die Verzerrung!«, rief Lum. Und schlagartig spürten alle sie. Roan empfand sie als eine Art Gummihaftigkeit in der Luft, ähnlich dem wachsartigen Gefühl, das er bei seiner ersten Begegnung mit der Gestalt gehabt hatte, nur viel stärker und intensiver. Er atmete aus und ein erstaunliches Gefühl der Erleichterung nahm die Stelle des Knotens in seinem Bauch ein. »Da ist ein großer schwarzer Fleck auf der Landkarte gleich vor uns«, sagte Leonora und hielt die Karte so, dass Roan einen Blick auf sie werfen konnte. »Was ist das? Eine Stadt?« Roan blätterte zurück, um die Legende zu finden. In einer Ecke, an einer Stelle, wo die Druckerschwärze fast abgewetzt war, war ein Quadrat mit einem Verzeichnis der Symbole und ihrer Bedeutungen zu sehen. Roan fuhr mit dem Finger die Liste entlang nach unten, bis er das entsprechende Symbol fand, und zuckte zusammen. »Skor!«, schrie er. »Das ist ein Loch in der Realität!« Er hielt dem Fahrer die Karte unter die Nase. Skorvalds Augenbrauen zuckten so hoch, dass sie fast unter dem Schirm seiner Mütze verschwanden. »O nein!«, stöhnte der Fahrer, entsetzt durch die Windschutzscheibe nach vorn starrend. Und dann sah auch Roan es. Vor ihnen gähnte ein riesiges Loch in der Fahrbahn. Bäume, Häuser, sogar Vögel wurden in den wirbelnden Strudel in seinem Zentrum gesogen. Roan sah einen Laternenpfahl in ihm verschwinden. Es sah aus, als flutsche eine Spaghettinudel in einen riesigen unterirdischen Mund. Skor trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum, um dem Loch auszuweichen. Der Sog, den es ausübte, war so stark, dass er sogar noch durch die Seitenwände des Lastwagens zu spüren war. In der unmittelbaren Umgebung des Loches zerbrach die
Landschaft in riesige Schollen, die auf Rollen gelagert waren. Die Schollen stürzten in das wirbelnde Chaos hinunter und hinterließen dunkle Löcher, wo die Landschaft aus ihren Vertäuungen und Halterungen unter dem Himmel gerissen worden war. Dazwischen konnte Roan ein paar helle Lichter, schattenhafte Gestalten und heraushängende Kabelstränge und ausgefranste Seilenden erkennen. Skor trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Motor heulte auf und die Antriebsräder drehten durch. Doch als alle schon fast glaubten, der Sog risse auch sie in die Tiefe, befreite sich der LKW mit einem Ruck aus der Anziehungskraft und schoss vorwärts. »Mann, das war ja ein Riesending von einem Loch!«, sagte Bergold, aus dem Seitenfenster spähend, während die Landschaft allmählich wieder in ihren Normalzustand überging. »Es befällt alles, was sich in seiner Umgebung befindet. Und fast hätten wir dazugehört!« »Puh! Da haben wir nochmal mächtig Schwein gehabt!«, sagte Skor und wischte sich mit einem rotgepunkteten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Ein Glück für mich, dass Sie die Landkarte lesen, Eure Hoheit. Das war wirklich ein Riesending. Ohne Sie wäre ich wahrscheinlich voll und ganz hineingebrettert. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Sie studierten die Karte mit größter Sorgfalt, aber zwischen dem schwarzen Fleck und der nächsten Stadt waren keine weiteren Katastrophen verzeichnet. Der LKW erreichte die Kuppe eines Berges, unter dem sich ein Tal mit einer großen, sauber angeordneten Stadt ausbreitete und begann mit der Abfahrt. Gemäß dem Punkt auf der Landkarte, auf dem die Fingerspitze der Prinzessin verharrte, war dies die Stadt Reverie. Die blaue Linie, die Broms Route anzeigte, verlief deckungsgleich mit der roten Linie bis hinunter in den Ortskern. Der Lastwagen rollte bergab, bis er
an eine schmale Steinbrücke kam, die über einen kleinen Fluss in die Stadt führte und hielt auf einem Parkplatz. »So, meine Freunde und Freundinnen und Eure Hoheit, da wären wir denn«, sagte Skorvald und legte den Leerlauf ein. Leonora beugte sich zu ihm hinüber, um ihm die Karte zurückzugeben und küsste ihn auf die runzlige Wange. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen für Ihre freundliche Hilfe sind«, sagte sie. »Vielen, vielen Dank.« Sein Gesicht wurde noch röter, als es das ohnehin schon von der Sonne war und er zog sich verlegen den Schirm seiner Mütze in die Stirn. »Ich danke Ihnen ganz herzlich, Eure Hoheit. Es war mir ein Vergnügen. Wir haben uns gegenseitig geholfen. Ich hoffe, Sie finden, was Sie suchen.« Roan schob Cruiser über die Brücke in die Stadt, aufmerksam nach Spuren Broms Ausschau haltend. Die glatten, gepflasterten Straßen wiesen keine Reifenabdrücke auf und so mussten sie sich auf Lums Instinkt für das Aufspüren der >Verzerrung< verlassen. Seltsame kleine Abweichungen, wie Briefkästen mit Krallenfüßen oder Tauben, die Menschen fütterten, zeigten ihnen eindeutig, dass sie auf der richtigen Fährte waren. Bergold holte Romneys hilfreiche Karte hervor und schlug den Stadtplan von Reverie auf. Sie machten neben einem schmiedeeisernen Zaun Halt und entfalteten die Karte mehrere Male, bis sie den kleinstmöglichen Maßstab erreicht hatten. »Er scheint hier entlanggekommen und dann gezielt ins Stadtzentrum weitergefahren zu sein«, sagte Bergold und tippte mit dem Finger auf die Hauptstraße. Er fuhr mit der Fingerspitze die Straße entlang, vorbei an der Stelle, an der sie sich befanden, und weiter zum Hauptplatz. Ganz in ihrer Nähe läuteten Kirchenglocken die Mittagsstunde ein, und das Symbol der Kirche auf dem Stadtplan bebte aus Sympathie mit
dem Glockenturm, den sie an der nächsten Ecke aufragen sahen, gleich mit. »Leider verliert sich die Spur dort. Wo sollen wir es als Erstes versuchen?« »Dies ist eine große Stadt«, sagte Leonora mit einem Blick auf das Straßengewirr auf dem Stadtplan. »Brom kann überallhin gegangen sein.« »Sind Sie sicher, dass er überhaupt in die Stadt gekommen ist?«, fragte Felan, über Bergolds Schulter auf die Karte linsend. »Ich könnte mir denken, dass er bewohnte Gegenden lieber meidet, weil er befürchtet, dort aufgehalten zu werden. Der König hat doch sicher jede Stadt und jeden Ort im ganzen Land telegrafisch alarmiert.« »Sie werden Vorräte brauchen«, sagte Roan. »Und sobald sie die haben, werden sie unbemerkt wieder verschwinden wollen«, sagte Colenna. »Das wird nicht so leicht sein.« Misha schüttelte den Kopf. »In einer Stadt wie dieser herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.« »Eine so große Gruppe und das Ding, das sie mit sich schleppen, werden nur schwer zu vergessen sein«, sagte Felan. »Und dann ist da ja auch noch die Verzerrung, die es verursacht.« »Es ist leichter, sich in einer Stadt zu verstecken als auf dem Lande«, wandte Misha ein. »Ich werde diese Gänseblümchen niemals vergessen«, sagte Leonora mit einem Schaudern. »Es ist eine Frage der Distanz«, sagte Bergold und faltete die Karte zurück auf einen größeren Maßstab. Er deutete mit dem Fingernagel auf mehrere mögliche Routen. »Wenn er durch Reverie fährt, statt es zu umgehen, verkürzt er damit seine Fahrzeit. Wir mussten einmal um die ganze Stadt herum fahren und hoffen, dass wir seine Fährte finden. In der Stadt sind seine Auswege begrenzt. Hier haben wir eine größere Chance, ihn zu finden.«
»Das einzige, was wir tun können, ist zu fragen«, sagte Roan. »Ihre Spur zurückverfolgen können wir dann ja immer noch.« Sie fragten eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich her schob, aber sie schüttelte bloß den Kopf und ging weiter, ohne auch nur den Blick zu heben. Das Baby in dem Kinderwagen zuckte bedauernd mit den Achseln und warf Roan einen mitfühlenden Blick zu. Die Gruppe erreichte das Ende der Straße nahe der Kirche, ohne irgendjemanden zu finden, der Brom, die Trage oder eine Motorradgang gesehen hatte. »Vielleicht sollten wir fragen, wo der Marktplatz ist«, schlug Colenna vor, »Wenn sie Vorräte einkaufen müssen, wäre das logischerweise der Ort, an dem sie das am ehesten versuchen würden.« »Wir sind auf dem Wege dorthin«, sagte Bergold, wieder einmal mit der Karte kämpfend. Hutchings nahm sie ihm aus den Händen und faltete sie ordentlich zusammen. Er gab sie ihm zurück, bemüht, nicht triumphierend zu blicken. »Danke. Das ist besser. Man kann auf dieser Straße nur in eine Richtung gehen. Siehst du? Es gibt keine anderen Ausgänge. Geradeaus und dann die erste rechts.« »Wir sollten dort wertvolle Hinweise bekommen«, sagte Spar. »Und wir können die Gelegenheit nutzen, um für uns selbst ein paar Vorräte einzukaufen«, sagte Colenna, Felan warf ihr einen durchbohrenden Blick zu. Aber die Pfeile, die er mit den Augen abschoss, verfehlten ihr Ziel und landeten scheppernd auf dem Pflaster. Bergold blieb jählings stehen und breitete die Arme aus, um die anderen vom Weitergehen abzuhalten. »Uh - oh!«, presste der Senior-Historiker hervor, tiefe Verzweiflung in der Stimme. »Jetzt haben wir ein echtes Problem.« »Hast du Brom gesichtet?«, fragte Roan, in die Menge
spähend. »Nein, schlimmer«, sagte Bergold. »Schau doch! Da ist ein Buchladen. Ein großer.« »O nein!« Roan starrte hinauf zu dem leuchtend bunten Schild, das keine zwanzig Schritt vor ihnen über dem Bürgersteig hing. Ein Buchladen! Die größte Gefahr, die eine Stadt bieten konnte! Was sollten sie tun? Die Straße, die sie nehmen mussten, um zum Marktplatz zu gelangen, führte geradewegs an ihm vorbei. Er wandte sich in der Absicht hastig um, die Gruppe umkehren zu lassen und sie über einen Umweg zum Markt zu führen, doch zu spät: Die verlockende Aura von Vergnügen und erwartungsvoller Vorfreude, die der Buchladen verströmte, hatte ihn bereits umhüllt und gefangengenommen. Der Duft von Kaffee umwehte seine Nase. Er machte auf dem Absatz kehrt und starrte erneut auf das leuchtende Schild. Sein Geist umnebelte sich. Wie schön das wäre, dachte er sehnsüchtig, ein Weilchen herumzustöbern, sich vielleicht ein bisschen hinzusetzen und eine Tasse Kaffee zu trinken und zu schmökern... Nein! Was spann er da herum! Er befand sich auf einer lebenswichtigen Mission! Er musste das Traumland retten! Aber wer weiß ... vielleicht gab es Anleitungen zum Heldentum in der Soziologieabteilung ... Auch die anderen unterlagen dem Zauber. Die Pupillen vo n Leonoras grünen Augen dehnten sich über die Netzhaut, als sie auf das Schild starrte. Bergold schüttelte prüfend seine Schultertasche, als wolle er ermitteln, ob nicht vielleicht noch Platz für den einen oder anderen Band war. Alle traten einen Schritt näher und hoben bereits den anderen Fuß, um den nächsten Schritt zu tun. Roan zog sie zurück und der Bann brach für einen Augenblick. »Das muss ein sehr gutes Geschäft sein«, sagte Leonora,
Roans Oberarm fest mit den Händen umklammernd, wie als wolle sie sich an ihm festhalten. »Ich kann den Sog, der von ihm ausgeht, bis hierher fühlen. Halt mich fest, sonst erliege ich ihm.« »Ich auch«, sagte Bergold. »Wir müssen uns gegenseitig helfen.« Der Drang, in den Laden hineinzugehen, war überwältigend. Der Sirenenruf der Bücher war ein solch süßer Gesang in seinen Ohren, dass Roan sie sich zuhielt, um ihn auszusperren. Leonora schmiegte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Wenn sie dem Drang nachgaben und in den Buchladen gingen, würden sie für Stunden dort gefangen sein, von Regal zu Regal gezogen, ja geradezu gesogen, von der schieren Neugierde, jeden einzelnen Titel zu überfliegen oder ein besonders verlockendes Buch aus dem Regal zu ziehen und darin zu lesen, eingelullt von einer hypnotischen Atmosphäre der Muße, die sie die Sorgen des Alltags und der Außenwelt vergessen ließe. Ihre Sache wäre verloren, ihre Mission gescheitert. Roan ertappte sich dabei, wie er erneut einen Schritt in die Richtung des Ladens tat. Seine Füße bewegten sich aus eigenem Antrieb heraus über das Pflaster. Stop! dachte er zu ihnen. Stop! Sie konnten es sich nicht leisten, den Tag zu verlieren. Brom war nicht weit, das spürte er. Das Traumland, er musste an das Traumland denken und an die Bedrohung durch den WECKER! Aber seine Füße verweigerten den Befehl und machten sich auf den Weg zu dem Laden. »Wir haken uns alle gegenseitig unter«, sagte Roan und hakte sich bei Colenna unter. Die hängte sich bei Spar ein. Bergold nahm Leonoras anderen Arm und Misha hakte sich bei ihm ein. »Wir rennen schnell vorbei. Auf diese Weise vermeiden wir es, hineingesogen zu werden.« »Haltet euch fest«, rief Lum, als die anderen Gardisten
einander unterhakten. »Fertig?« »Fertig!«, sagte Bergold. Sie waren nur noch wenige Zoll von der Eingangstür entfernt. Der Sog war nahezu übermächtig. »Eins, zwei, drei - los!« Roan stürzte sich vorwärts. Als die Gruppe an der Tür vorbeistürmte, bekam sie die volle Wucht der Anziehungskraft zu spüren. Gib ihr nach, raunte es in ihren Köpfen. Du willst es doch selber! Alles andere kann warten. Der Kaffeeduft lockte betörend, bequeme Sitzpolster winkten verführerisch, die leuchtenden Farben tanzten, packende Titel und vollmundige Testimonials - >Ich habe dieses Buch in einem Zug gelesen>; Stephanie Queen - dröhnten verheißungsvoll in ihren Ohren. Roan fühlte, wie sein Schwung jäh erlahmte. Und er fühlte ebenso, wie auch die anderen ins Stocken gerieten. »Hilfe«, ächzte Colenna. »Nun denn!«, sagte Spar, mannhaft und wacker. Wie immer schien der Hauptmann der Garde unbeeindruckt von den unsichtbaren Mächten, die alle anderen lahmten. Spar marschierte rüstig zur anderen Seite des Buchladeneingangs, sein Ende der Schlange im Schlepptau. Er stemmte sich mit den Absätzen gegen die Kante einer etwas hervorstehenden Gehwegplatte und zog. Die anderen kamen ihm entgegengeflogen wie Korken aus einer Flasche. Roan kam stolpernd zum Stehen und schaffte es gerade noch, Leonora aufzufangen und sie davor zu bewahren, dass sie gegen die Wand knallte. Er keuchte vor Anstrengung. Eine Schweißperle kullerte ihm ins Auge. Felan stand schwer atmend gegen die Wand gelehnt. »So, jetzt seid ihr in Sicherheit«, sagte Spar und legte schützend den Arm um Colenna. »Sind Sie wohlauf? Meine Liebe? Eure Hoheit?« Colenna lehnte sich mit einem stummen Lächern an seinen
Arm und Leonora nickte. »Besten Dank, Herr Hauptmann«, sagte Roan. Seine Kehle war ganz trocken von den köstlichen Capuccinodämpfen. »Das gehört alles mit zu meinem Job«, sagte Spar. Er nahm Colennas Hand, klinkte sie in seine Armbeuge und marschierte weiter, stolz gereckt. Es war nur unwesentlich leichter, von dem Eingang wegzutreten, als es gewesen war, dem Drang zu widerstehen, zu ihm hin zu gehen. Überall um sie herum auf der Straße waren Dutzende von anderen, die nicht über die eiserne Selbstbeherrschung eines Hauptmann Spar geboten. Roan hatte Angst um sie. Einige klammerten sich verzweifelt an Laternenpfählen, Hydranten oder aneinander fest, um nicht von dem Sog fortgerissen zu werden. Eine Passantin, die nichtsahnend ihren Pudel auf der anderen Straßenseite spazierenführte, wurde von der verführerischen Anziehungskraft urplötzlich am Schlafittchen gepackt und quer über die Straße gezerrt, wo sie vom Eingang des Geschäfts regelrecht aufgelutscht wurde, wie eine Nudel vom saugenden Lippenpaar eines verspielten Spaghettiessers, gefolgt von ihrem ängstlich kläffenden Vierbeiner. »Das hätten genausogut wir sein können«, sagte Felan wehmütig. »Kommt, weiter jetzt«, sagte Roan, mit gutem Beispiel voranschreitend. »Wir sollten hier nicht herumstehen. Der Sog könnte uns aufs Neue erfassen.« Die Vorderfront des Buchgeschäfts war voller kleiner Schaufenster. In dem Fenster vor ihm stach Roan ein Titel ins Auge. >Das Buch der Liebe<, stand auf dem farbenfrohen, geschmackvoll gestalteten Deckel. Ein gutes Omen, dachte Roan und drückte die Hand der Prinzessin, die in seiner Armbeuge ruhte. Er schritt entschlossen weiter, doch dann spürte er plötzlich den unwiderstehlichen Drang, den Namen
des Autors zu erfahren. Er trat erneut vor das Schaufenster. Der Titel war klar zu erkennen, gestochen scharf, aber der untere Rand des Buches wirkte seltsam verschwommen, als hätte ihn jemand mit Seife eingeschmiert. Er wollte die Hand durch das Glas der Fensterscheibe stecken, um das Buch aufzuschlagen und die Titelseite zu lesen, als ein Schrei ihn hochfahren ließ und das Glas unüberwindlich hart und fest wurde. Er zog hastig die Hand zurück. »Komm schon«, rief Bergold. »Der Buchladen hat gerade schon wieder einen Passanten verschlungen!« »Geh nicht zurück«, flehte Leonora ihn an und hielt sich an ihm fest. Jetzt werd ich's nie erfahren, dachte er.
23. KAPITEL »Nein, außer euch habe ich keine Fremden gesehen«, sagte ein Mann, den sie an der nächsten Straßenecke fragten. In dem Augenblick sprang die Ampel auf Grün - und er davon. »Nein, keinen, der so aussieht, wie Sie ihn beschreiben«, beschied ihnen eine Blumenfrau und bot jedem von ihnen ein Gänseblümchen an. Roan nahm seines mit einem freundlichen Lächeln entgegen und überreichte es Leonora. Spar sah erst die Blumenverkäuferin scharf an und dann jeden seiner Gardisten, um sicherzustellen, dass sie ja nicht etwas so Unmilitärisches tun würden, wie eine Blume von einer zuvor nicht gefilzten Zivilistin anzunehmen. Die Frau schenkte ihnen trotzdem ein wunderschönes Lächeln. »O ja, die hab ich gesehen«, sagte ein Brotverkäufer, der gerade einer Kundin einen Laib Roggenmischbrot in Minibaguettes umwechselte. »Sie haben sich nach einer Fahrradreparaturwerkstatt erkundigt. Ich hab ihnen gesagt, sie sollen da lang gehen.« Er zeigte mit einer Minibaguette auf eine Straße, die in westliche Richtung führte. »Danke«, sagte Roan und warf seinen Gefährten einen Blick gespannter Erwartung zu. Der Bäcker nickte und gab der Kundin eine Handvoll Brotkrümel als Wechselgeld heraus. »Die Verzerrung, Sir«, sagte Lum in großer Erregung. »Sie ist ganz frisch!« Er zeigte auf eine Mauer an der Einmündung einer Gasse, die aus gelblichen Ziegeln gemauert war. Roan prüfte die Backsteine eingehend und schnupperte an ihnen. Sie bestanden aus frischem Schweizer Käse. »Der Schmelztiegel muss erst vor kurzem hier vorbeigekommen sein«, sagte Bergold mit einem forschenden Rundumblick, »da bis jetzt noch niemand den Schaden bemerkt und ihn behoben hat.
»Und zwar vor ganz kurzem!«, rief Roan. Er hatte eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen und fuhr herum, um sich zu vergewissern, was es war. Er zeigte die Gasse hinunter. »Da!« Ein paar hundert Schritte entfernt, aber immer noch unverkennbar, war die höckrige Silhouette, die er in seinen Albträumen gesehen hatte: der WECKER auf seiner Trage! »Da sind sie! Auf, Leute, ihnen nach!«, rief Spar und zückte sein Schwert. Er pfiff nach den Rädern. »Sie fahren geradeaus diese Straße hinunter, Sir! Alette, mit mir nach links! Lum, Sie und Hutchings rechts rum! Wir teilen uns und dann schnappen wir uns sie. Los!« Sie schwangen sich in den Sattel und traten in die Pedale. Roan, Misha und Bergold starteten gleich nach ihnen und wuchteten sich sogleich mit kraftvollem Wiegetritt in ein Höllentempo. Diesmal würde ihnen Brom nicht durch die Lappen gehen! »Heh, wartet auf mich!«, schrie Felan, verzweifelt hinter ihnen her strampelnd. »Wir bleiben hier!«, rief Colenna ihnen nach. Die Gardisten scherten an der ersten Kreuzung nach links und nach rechts und radelten in entgegengesetzter Richtung weiter, während Roan, Misha, Bergold und Felan geradeaus weiterfuhren, hinter der auf und ab wippenden Gestalt der Trage her. Roan fühlte für einen Augenblick heftige Angst in sich aufwallen, als er sich an das letzte Mal erinnerte, da er der Macht der Gestalt gegenübergestanden hatte. Hatten selbst elf tapfere Seelen die Kraft, Brom zu besiegen? Reverie war ein anderer Fall als Hark. Die Leute, die hier lebten, hatten mehr Einfluss und damit auch mehr Kontrolle über ihre Umgebung. Roan kam durch Abschnitte der Stille, wo seine Reifen und sogar sein Atem kein Geräusch auf der backsteingepflasterten Straße hinterließen. Diese Passagen
waren indes nur kurz, und Roan fürchtete, dass der Lärm, den sie machten, Brom warnen würde, sodass er merkte, dass er verfolgt wurde. Er behielt die furchtbare Gestalt fest im Blick. Gleich würden sie Brom haben. Sie kamen der Trage immer näher. Die Gasse verbreiterte sich zu einer Straße und Roan konnte die Gruppe vor ihnen deutlicher sehen. Er zählte zwischen acht und zwölf Personen, allesamt auf Motorrädern. Roan hatte Motorräder schon früher gesehen, aber noch nie so viele von ihnen am selben Ort zur selben Zeit. Wieder die Gestalt, die die Traumland-Realität veränderte, indem sie zu viele moderne Gegenstände an einem Ort konzentrierte. Gleich würden Dinosaurier durch die stillen Straßen dieser Stadt stapfen, damit die Proportionen der Natur wieder ins Gleichgewicht kamen. Sie mussten Brom aufhalten und ihn zum Abbruch seines mörderischen Experiments zwingen. Die Silhouette der Trage schwenkte nach rechts auf einen großen viereckigen Platz mit sauber gestutztem Rasen, der von hohen Gebäuden gesäumt war. Frauen in kurzen Uniformen und Männer in weißen Kitteln mit hohem Kragen schoben Invaliden in Rollstühlen hin und her. Ein Schild am Rande des Platzes gebot: »Klinikgelände! Bitte Ruhe!« Der Lärm der dröhnenden Motoren und breiten Reifen zerriss regelrecht die Luft, als Brom vorbeifuhr, und erschütterte die Realität so sehr, dass plötzlich einige der Krankenschwestern und -pfleger anstelle ihrer Patienten in den Rollstühlen saßen und letztere, gekleidet in kurze Krankenhaushemden, sie schoben. Blumen wurden von den Beeten auf dem Platz aufgepflügt und flogen in alle Richtungen. Als Roan und die anderen über den Platz fuhren, hatte die Stille sich auf aggressive Weise bereits wieder Geltung verschafft. Obwohl die Luft noch immer voll war von fliegenden Blüten und Dreck, war er noch nie an einem Ort von solch tiefer Stille gewesen. Jedes Geräusch, das sie machten,
wurde hundertfach verstärkt. Ihr Atem klang, wie wenn Sägezähne über Holz raspelten. Roan hätte schwören können, dass er Bergold blinzeln hörte. Als Misha eine Hand hob, um eine Rose abzuwehren, die durch die Luft auf ihn zugeschossen kam, klang das, als hätte er einen Flugball aus einem Park voller Sportfans geschlagen. Das Surren ihrer schmalen Rennreifen dröhnte so laut wie Skors LKW-Motor. Roan presste mittels Willenskraft die Luft in seinen Reifen auf die Außenseite, damit sie lautlos rollten und bedeutete den anderen, das Gleiche zu tun. Vor ihnen, nur drei Blocks vor ihnen, hielten die Träger des WECKERS an. Die hagere Gestalt Broms stellte sich auf die Pedale und schaute an der Kreuzung nach links und nach rechts. Roan spürte, wie die Erregung in ihm wuchs. Er wusste, da er auf Luft fuhr, konnte er Brom und seine Leute überraschen. Er zog den Kopf ein, um einem Strauß fliegender Gänseblümchen auszuweichen. Wo waren Spar und die Gardisten? Waren sie nahe genug, um dem WECKER den Fluchtweg abzuschneiden? Noch zwei Blocks. Noch ein Block. Roan bereitete sich darauf vor, von Cruisers Rücken auf Broms Motorrad zu springen. Hatten sie erst einmal den Anführer ge schnappt, würden die anderen keinen großen Widerstand mehr leisten. Würde er dicht genug herankommen, um den Sprung wagen zu können? Noch ein halber Block. Sechs Häuser. Als sie nur noch wenige Schritte von ihrer Beute entfernt waren, streckte Felan den Arm aus und tippte Roan auf die Schulter. »Ich muss niesen«, flüsterte er und hielt sich die Nase zu. »Bloß nicht!«, flüsterte Roan entsetzt zurück. »Nicht einen Laut!« »Ich schaff s nicht mehr!«, zischte Felan. »Ich habe eine Blumenallergie. Ich hält's nicht mehr aus. Ich... ich... haa -«
»Runter von der Straße!«, zischte Roan, verzweifelt nach einer Seitengasse oder Tür Ausschau haltend, in die er Felan stoßen konnte, aber es gab keine. Felans Gesicht lief rot an, verzerrte sich, seine Nase zuckte und sein Mund öffnete sich. »Neiiinn!« »Zu spä -« krächzte Felan. »HAAA-TSCHIII!« Der Nieser klang wie eine Explosion und übertönte sogar den Lärm der im Leerlauf vor sich hin blubbernden Motorräder. Wie auf Kommando drehten alle Günstlinge Broms sich gleichzeitig herum, um zu sehen, was da hinter ihnen los war. »Jetzt ist's eh egal«, rief Roan, alle Vorsicht fahrenlassend. Sie hatten keine Zeit mehr, um auf die Gardisten zu warten. »Attacke!« Er und die anderen traten mit aller Kraft in die Pedale, um die Träger einzuholen. Doch bevor Roan die zwanzig Schritt durchmessen hatte, die sie noch von Broms Gruppe trennten, blitzte grellweißes Licht auf und blendete ihn. Er riss die Arme hoch und hielt sie schützend vor seine Augen. Cruiser quietschte laut auf. Als Roans Augen sich wieder erholt hatten, war außer ihnen niemand mehr auf der Straße. Roan fuhr noch bis zu der Kreuzung, aber es war aussichtslos. Der WECKER war fort. »Haben Sie sie gesehen?«, fragte Glinn und lenkte sein Ross neben das von Brom. Taboret war dicht genug hinter ihnen, um zu sehen, wie das Leuchten in Broms Augen sich in rote Glut verwandelte. »Ja, ich habe sie gesehen«, sagte Brom. Die Ruhe in seiner Stimme strafte die erschreckende Veränderung in seinen Augen Lügen. »Sie pirschen sich an uns heran. Das Spiel ist jetzt interessanter geworden, da sie uns eingeholt haben. Wir werden unsere eigenen Maßnahmen treffen müssen. Folgen Sie
mir.« »Nicht eine Spur«, sagte Alette, während sie ihr Ross neben Roan im Vorhof des großen Fahrradgeschäftes ausrollen ließ. Sie nahm ihre Uniformmütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das kurze rote Haar. »Sie sind nirgends zu sehen. Wir haben jede Abzweigung, jede Querstraße bis zum Stadtrand abgesucht.« »Sie haben sich in Luft aufgelöst«, sagte Bergold. »Kein unbekanntes Phänomen in dieser Welt.« »Aber eines, das nur vorübergehend ist«, sagte Leonora. »Sonst hätten sie sich schon vor Tagen ganz einfach zur Halle der Schläfer geblinzelt, ohne Fahrräder.« »Sollten wir uns nicht hier auf die Lauer legen?«, fragte Spar mit einem Blick auf die Werkstatt. »Sie brauchen eine Reparaturwerkstatt und dies ist die beste in der Stadt.« Der Hof war vollgestellt mit Rössern im unterschiedlichsten Zustand und Stadium des Verfalls. Die Mechaniker in ihren ölverschmierten Overalls musterten die Gruppe kurz mit verstohlenen Blicken, widmeten sich dann aber gleich wieder ihrer Arbeit. Sie kümmerten sich um bockige Pferde, hämmerten verbogene Fahrradrahmen gerade oder flickten Ballonkörbe. »Es gibt hier viele Stellen, an denen wir uns verstecken könnten.« »Nein«, sagte Roan, scharf nachdenkend. »Jetzt, da Brom weiß, dass wir ihn entdeckt haben, wird er sich davor hüten, hierher zurückzukehren. Sie werden eine andere Werkstatt finden. Wir werden die Stadt mit einem Netz von Beobachtungsposten überziehen müssen und darauf hoffen, dass wir sie kriegen, bevor sie die Stadt verlassen.« »Wir haben ja nicht einmal genug, um einen Kissenbezug zu weben, geschweige denn ein Netz«, sagte Felan schnippisch, obwohl er immer noch ziemlich belämmert dreinschaute, weil
er mit seinem Niesen alles verpatzt hatte. »Wo wollen Sie die Leute für diese Beobachtungsposten denn herkriegen?« Roan zeigte die Straße hinunter auf ein vertrautes blaues Licht. »Die Polizei«, sagte er. »Wir werden sie um Amtshilfe bitten.« Der große Parkplatz neben dem Polizeirevier war voll von Dienstfahrzeugen. Außer den blauen Fahrrädern standen da mehrere Mopeds, ein hoher, kastenartiger Wagen mit einer ganzen Batterie von Warnlichtern obendrauf, und Pferdekutschen, deren Antriebsaggregate aus Hafersäcken mampften, die ihnen um den Hals hingen. Die Fahrräder der Gruppe drängten sich an einem Ende des Hofes zusammen, so als ob die Einsatzfahrzeuge sie nervös machten. Roan ging voran, die große, breite Steintreppe hinauf. Als er sich der gläsernen Flügeltür näherte, schwang sie vor ihm auf. Leise, beruhigende Musik scholl ihm entgegen und ein süßer Blütenduft stieg ihm in die Nase. »Willkommen«, sagte ein freundlich lächelnder Polizist. Er hatte ein lustiges rundes Gesicht mit rosigen Wangen, das von einem hellbraunen Lockenschopf gekrönt war. Seine Uniform war von einem zarten Blau und die in doppelter Reihe auf seiner Brust prangenden Messingknöpfe wirkten so blitzeblank, dass Roan sein Spiegelbild darin erkennen konnte. »Herzlich willkommen, meine Herrschaften!« Er blickte über Roans Schulter zu den anderen. »Willkommen!« »Danke«, sagte Roan. »Wir würden gern mit dem Chef sprechen.« »Nun, natürlich«, sagte der Beamte und rief über seine Schulter: »Sergeant! Diese guten Leutchen hier würden gern mit dem Superintendenten sprechen.« Er gestikulierte sie zu einer hohen Theke, hinter der ein ebenso rotwangiger Mann mit den rautenförmigen Rangabzeichen auf den Ärmeln saß.
»Es ist mir eine Freude, dem Superintendenten zu melden, dass Sie hier sind«, sagte der Sergeant freundlich und hob einen schwarzen Telephonhörer, der größer als sein Kopf war. »Welchen Namen soll ich angeben?« »Bitte richten Sie ihm aus, es ist der Investigator des Königs mit Begleitung.« »Sehr wohl. Machen Sie es sich doch einstweilen bequem.« Der Sergeant deutete auf eine Anzahl von Stühlen und sprach leise in die Sprechmuschel des mächtigen Telephonhörers. Die Wache wirkte schmuck und makellos sauber. Das Wartezimmer war in einem hellen Orangeton gehalten und erschien licht und luftig. Leise Musik mit einem sanften Beat kam aus den Lautsprechern. Die ganze Atmosphäre war sehr entspannend. Niemand sprach lauter als in intimem Gesprächston, nicht einmal die beiden maskierten Männer, deren Aussagen gerade hinter einer gläsernen Trennwand aufgenommen wurden. Roan und Leonora kommunizierten nicht verbal miteinander, sondern telegrafierten sich Botschaften mittels ihrer Augenbrauen. »Wie seltsam einem das hier vorkommt«, sagten Leonoras Brauen. »So eine Polizeiwache habe ich auch noch nie gesehen«, telegrafierte Roan zurück. »Ob wir lange warten müssen?«, fragten Bergolds Augenbrauen. »Hoffentlich nicht«, erwiderten Roans. »Sir?« Der Sergeant lächelte sie an. »Ich störe Sie nur höchst ungern bei Ihrer Unterhaltung. Es war mir eine Freude, dem Superintendenten zu melden, dass Sie ihn zu sprechen wünschen. Es kann noch einen kleinen Augenblick dauern. Es macht Ihnen doch nichts, kurz zu warten?«
Hauptmann Spar sah ihn scharf an, da er glaubte, die Bemerkung sei sarkastisch gemeint, aber der Gesichtsausdruck des Beamten war nach wie vor freundlich und offen. »Hoffentlich nicht zu lange.« »Ganz bestimmt nicht. Da drüben im Mannschaftszimmer gibt es Kaffee«, sagte der Sergeant freundlich. »Und jede Menge Doughnuts.« Er zeigte auf eine offene Tür zu seiner Linken. Er hatte nicht übertrieben. Die Gruppe bediente sich hungrig von dem Stapel dampfenden Backwerks und von dem wirklich hervorragenden Kaffee in einem rosafarben gestrichenen Zimmer, das geschmackvoll möbliert war mit bequemen Sesseln und Fußbänken. Roan schenkte sich eine Tasse voll von dem dampfenden, tiefbraunen Nass. Dabei dachte er sehnsuchtsvoll an das Buchgeschäft und seine Espressobar. »Donnerwetter, Sir!«, sagte Lum leise, während er sich mit seinen großen Pranken ein halbes Dutzend Doughnuts und einen dampfenden Becher griff. »Kein Vergleich mit unserer Messe, was?« »Seien Sie mit Ihrem Lob mal nicht zu voreilig«, sagte Spar und beäugte skeptisch die Tabletts. »Wahrscheinlich schmecken Sie am Ende nach Tapetenkleister und Talkumpuder, so wie das Zeugs in Hark.« Aber die Leckereien schmeckten so gut, wie sie aussahen und der Vorrat schien schier unerschöpflich. Sobald ein Tablett geleert war, eilte sofort diensteifrig ein rotwangiger Beamter herbei, räumte es fort und tischte ein neues, frisch beladenes, auf. Nach einem köstlichen Imbiss, bestehend aus dampfenden Doughnuts und Capuccino, schlenderten Leonora und Roan durch das Pausenzimmer und schauten sich die Steckbriefe an den Wänden an. Dem Namen nach, der in der oberen rechten Ecke jedes dieser Steckbriefe stand, schien es sich um eine Serie von Variationen ein und desselben Mannes zu handeln,
der auf den Namen >Peter Max< hörte. Die stark stilisierten Bilder waren mit dicken schwarzen Strichen gezeichnet und mit tiefen, kräftigen, unabschattierten Farben ausgemalt. Der Hintergrund hinter jedem der Portraits war mit Sternen, Regenbogen und Gänseblümchen ausgefüllt. »Ich glaube, ich würde ihn wiedererkennen«, sagte die Prinzessin, während sie eines der Poster mit kritischem Blick betrachtete. »Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Eigenartiger Stil, findest du nicht auch? Ganz und gar nicht fotografisch. Eher impressionistisch.« »Impressionen sind wichtig in unserem Geschäft«, sagte der Sergeant, der hinter sie getreten war, fröhlich. »Der Superintendent möchte Sie jetzt empfangen.« »Ah«, sagte Roan, wobei er sich umdrehte und Leonora den Arm bot. »Das ist ja super.« Der freundliche Beamte eskortierte sie durch einen Korridor, dessen Wände mit männerhandgroßen Gänseblümchen bemalt waren. Der Effekt wirkte auf geradezu bestürzende Weise hypnotisch. Je schneller Roan ging, desto mehr versetzte ihn das Design in einen fast stuporartigen Zustand. »Locker, ganz locker«, mahnte ihn der Beamte und fasste ihn beim Arm, um ihn zu stützen. »Nur keine Hast.« Er blieb vor einer Tür stehen und klopfte. Roan schüttelte den Kopf, um ihn rechtzeitig vor der Begegnung mit dem Polizeichef wieder klar zu bekommen. »Ich freue mich außerordentlich, Sie alle kennenzulernen«, sagte der Chef der Polizei von Reverie, als der Sergeant ihnen bedeutete, Platz zu nehmen. »Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause. Nun denn, was kann ich für Sie tun?« Er wartete höflich, bis die Prinzessin sich anmutig in ihren Sessel hatte sinken lassen, ehe er selbst auf einem ausladenden, üppig gepolsterten Sessel Platz nahm. Seine Batikpolsterung vor der Blumentapete blendete Roan fast. Er öffnete den Mund,
um sein Anliegen vorzutragen. »Als Erstes«, unterbrach ihn der Superintendent, »möchte ich zum Ausdruck bringen, wie entzückt ich darüber bin, dass Sie unsere Stadt mit Ihrer Anwesenheit beehren, Eure Hoheit. Sie sind jedermanns Lieblingssteckbrief, wenn Sie mir diesen kleinen Scherz verzeihen.« »Gern«, sagte Leonora nachsichtig. Gleichwohl frischte sie ihr wallendes weißes Gewand ein wenig auf und verlieh dem Stoff einen satinartigen Glanz. »Dürften wir Ihnen jetzt unser Anliegen vortragen?« »Dafür sind wir ja hier: um zu dienen und zu beschützen und um den Menschen gute Zuhörer zu sein«, sagte der Superintendent und ließ sich behaglich in die Polster seines Sessels zurücksinken. »Schießen Sie los, Hoheit.« »Unser Problem ist folgendes«, setzte Roan erneut an. »Ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit, unsere schöne Stadt kennenzulernen«, fiel der Superintendent ihm ins Wort und richtete sich schnell wieder in seinem Sessel auf, als wäre ihm ein Gedanke in den Rücken gefallen. »Nicht sehr viel«, sagte Roan. »Bitte!« Er hob die Hand, um einer erneuten Unterbrechung durch den Polizeichef zuvorzukommen, der sich mit einem Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht wieder zurücklehnte. »Sind Sie von der Krone über eine Renegatengruppe von Wissenschaftlern, die eine gefährliche Gerätschaft quer durch das Traumland transportiert, in Kenntnis gesetzt worden?« »Nun, das ist schon möglich«, erwiderte der Superintendent. »Wachtmeister Toodle? Schauen Sie doch bitte einmal nach, ob wir irgendetwas Derartiges vorliegen haben.« »Wird gemacht, Sir«, gab der blonde Beamte mit einem lässigen Salut zurück und ging ohne Eile hinaus. »Wessen Vision von Polizei ist dies?«, fragte Spar mit einem
empörten Unterton in der Stimme die anderen. »Das ist ja wohl ein Witz!« »Es gibt solche >Taschen< wie diese im ganzen Traumland«, erklärte Bergold mit leiser Stimme. »Sie sind am Dekor zu erkennen. Besonders die Gänseblümchen an der Wand und die Steckbriefposter. Es ist eine spezielle Vision einer besonderen Gruppe von Schläfern. Wir haben festgestellt, dass sie durch eine entspannte Stimmung unter den Bewohnern charakterisiert zu sein scheint und dass sie sehr oft die Polizeiarbeit und die Arbeit anderer Behörden beeinflusst.« »Also, mir gefällt das nicht«, sagte Spar bestimmt, während er seinen Blick missbilligend über die Blumentapete und das übrige übertriebene Dekor schweifen ließ. »Es ist mir zu schick, zu etepetete.« »Hier ist es, Chef«, sagte der in diesem Augenblick zurückkommende Beamte, ein neonpinkes Blatt Papier schwenkend. »Es lag auf dem >Eingänge<-Stapel. Schrecklich weit oben.« »Ah, gut, genau da, wo es hingehörte.« Der Superintendent setzte sich eine goldgeränderte Lesebrille auf und überflog das Blatt. »Hm hm, hm hm, hm hm. Ich verstehe. Ich habe jetzt alle Details.« Er legte das Blatt auf den Tisch und beugte sich zu ihnen vor, mit den Händen ein Zelt formend. »Und was soll ich Ihrer Meinung nach nun tun?« »Wir möchten, dass Sie Brom festnehmen«, sagte Roan. »Er hält sich zurzeit hier in der Stadt auf, mit besagtem Gerät. Wir haben ihn noch vor wenigen Minuten gesehen. Er kann nicht ohne weiteres sofort wieder verschwinden. Uns liegen Informationen vor, dass er nach einer Reparaturwerkstatt sucht. Das dürfte uns genügend Zeit geben, um Zeter und Mordio zu schreien. Nehmen Sie ihn fest und beschlagnahmen Sie den WECKER.«
»Das wäre uncool«, sagte der Superintendent. Ein Runzeln kräuselte seine Stirn und entspannte sich dann wieder zu einem väterlichen Lächeln. »Zeter und Mordio? Wie ungeheuer altmodisch. Unser Job ist es, Menschen, die in Bedrängnis oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, zu helfen, damit sie nicht das Gefühl haben, sie müssten sich an der Gesellschaft rächen. Wir können nicht einfach einen Kordon um die ganze Stadt legen und ihn einfangen wie einen gemeinen Verbrecher. Stellen Sie sich einmal vor, wie verheerend sich das auf sein Selbstwertgefühl auswirken würde! Schauen Sie, Herr Roan, ich sehe unsere Aufgabe in erster Linie darin, die angegriffene oder zerstörte Selbstachtung der so genannten Verbrecher, mit denen wir in Berührung kommen, wiederherzustellen. Unser Augenmerk gilt weniger den Vorkommnissen, die sie in unsere kleine Sphäre bringen, als vielmehr ihrer seelischen und geistigen Befindlichkeit. Wir möchten denen, die Straftaten begehen, dabei helfen, zu begreifen, dass sie geliebt werden und dass sie okay sind. Wenn wir Einfluss auf ihr Verhalten nehmen, kann das irreparablen Schaden bei ihnen anrichten. Und das, Herr Roan, wollen wir doch alle nicht.« »Aber Brom scheint keineswegs Probleme mit seinem Selbstwertgefühl zu haben«, erwiderte Roan. »Abgesehen davon interessiert uns das auch herzlich wenig. Uns interessiert, was er vorhat und das ist eindeutig schlimm und hochgefährlich.« »Nun, schau'n Sie, dann brauchen Sie uns doch überhaupt nicht«, sagte der Superintendent und hob lächelnd die Hände. »Das Problem ist gelöst.« »Jetzt reicht's mir aber langsam«, sagte Roan ungehalten und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel, zum offensichtlichen Missfallen des Superintendenten. »Wir verlieren wertvolle Zeit. Hauptmann Spar, ich glaube, das fällt in Ihren Zuständigkeitsbereich.« »Richtig«, sagte Spar und erhob sich neben ihm. Er reckte
die Schultern hoch, zog seinen Gürtel straff und beugte sich über den Schreibtisch zum Superintendenten hinüber, der erschrocken in die Polster seines Sessels zurückzuckte. »Hören Sie, Herr Superintendent! Ich bin Hauptmann Spar von der Palastwache. Sind Sie ein loyaler Untertan?« »Natürlich bin ich das«, sagte der Superintendent geduldig, die Fingerspitzen gegeneinander trommelnd. »Ich bin stolz darauf, ein imaginärer Bürger des Traumlandes zu sein.« »Dann hören Sie mir jetzt mal gut zu, mein Freund«, sagte Spar, mit dem Finger vor der Nase des Superintendenten herumfuchtelnd. »Wenn Sie einen Ernstfall als Chance zur Resozialisierung von Gesetzesbrechern betrachten, dann haben Sie eine falsche Auffassung von Ihrem Job. Sie sind der Arm des Gesetzes.« Er stach bei jeder Silbe mit dem Finger auf das neonfarbene Blatt Papier, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Der Superintendent starrte ihn mit offenem Mund an. »Sie sind nicht hier, um Urteile über Straftäter abzugeben«, fuhr Spar fort. »Und genau das tun Sie. Ihre Aufgabe ist es, sie zu schnappen und das Urteil den Gerichten zu überlassen. Richtig?« »Nun, ich denke ...« »Richtig oder nicht?«, donnerte Spar. »Entscheiden Sie sich! Richtig oder nicht?« Er hieb bei jeder Silbe mit der Faust auf das neonpinke Blatt Papier. Es wurde mit jedem Hieb blasser, bis es schließlich weiß war. Spars Worte schienen auch ihre Wirkung auf das Zimmer selbst nicht zu verfehlen. Er mochte vielleicht nicht über viel kontrollierten Einfluss verfügen, aber er verstand es zu befehlen. Das heitere Orange verblasste zu einem schmutzigen Wartesaal-Gelb. Die Gänseblümchen verabschiedeten sich von der Tapete und ließen sie als trostlos angegilbte Behördenrauhfaser zurück. Aus dem Lautsprecher knarzte anstelle der lulligen Kaufhausfahrstuhlmusik jetzt der von
statischem Geknister untermalte Polizeifunk. Kurz, es sah jetzt wieder aus wie in einer richtigen Polizeiwache. »Bei den Sieben, Sie haben Recht!«, sagte der Superintendent. Auch er hatte sich verändert. Er wirkte jetzt längst nicht mehr so jovial und machte, wie Roan mit Erleichterung vermerkte, insgesamt einen erheblich kompetenteren Eindruck. Zwar blitzten die Uniformknöpfe nach wie vor makellos, aber die Uniform verdunkelte sich zu einem fast schwarzen Dunkelblau und nahm eine polizeigerechte Passform an. Der Superintendent nahm das Blatt auf, las es erneut durch und winkte mit einer zackigen Geste seinen Assistenten zu sich. Der Sergeant registrierte sofort die wundersame Verwandlung seines Vorgesetzten, und wenngleich seine Wangen auch ihren Apfelbäckchencharakter behielten, nahmen seine Augen doch einen stählernen Glanz an. Gleichwohl ließ er es sich nicht nehmen, der Prinzessin schelmisch zuzuzwinkern. »In Ordnung«, sagte der Superintendent, »dann werden wir sie halt festnehmen. Ich brauche genaue Personenbeschreibungen.« Er nahm einen Stift aus der Schale auf seinem Schreibtisch und klappte ein schwarzes Notizbuch auf. Der Sergeant zog ein ebensolches Notizbuch aus seiner Brusttasche und harrte mit gezücktem Kugelschreiber. »Es sind zwischen zehn und fünfzehn Personen«, sagte Roan und sah ihnen dabei zu, wie sie die Ziffern 10 und 15 notierten. »Brom ist mittelgroß. Als ich ihn zuletzt aus der Nähe sah, war er sehr dünn, fast schon hager, und hatte tiefliegende, verhüllte blaue Augen, deren Ausdruck ich fast als wahnsinnig bezeichnen würde.« »Ah, wahnsinnig«, sagte der Superintendent mit einer Geste in Richtung seines Assistenten, der das Wort notierte und unterstrich. »Also vermutlich gefährlich. Und wie lange ist das
her? Und wo war das?« »Vier Tage, ungefähr fünfzehn Meilen nördlich des Albtraumwaldes. Als Nächstes entdeckten wir sie hier in Reverie wieder und verfolgten sie - aber wir kamen nicht nahe genug an sie heran, um aus nächster Nähe einen Blick auf sie werfen zu können.« »Besondere Kennzeichen?« »Taschenschützer. Sie tragen sie alle«, sagte Roan. »Mit Ausnahme ihrer zwei Mietmuskelmänner.« »Hmmf! Klares Zeichen von Psychose«, meinte der Superintendent. Roan gab kurze Beschreibungen der anderen, an die er sich erinnern konnte und lieferte Details zu der Trage, mit der der WECKER transportiert wurde. Er beschrieb die Profilmuster der Fahrräder, denen sie gefolgt waren und Korporal Lum trat vor und identifizierte die spezifischen Muster in einer Musterkartei. Der freundliche Beamte notierte sich alles. »Okay«, sagte der Superintendent schließlich. Der Polizist klappte sein Notizbuch zu und schob es in die Brusttasche seiner Uniformjacke. »Wir werden das alles durch unseren Computer jagen und sehen, wie viele Veränderungen er wahrscheinlich seitdem durchlaufen hat. Der Wahn dieses Brom wird jedenfalls bestehen geblieben sein. Das steht mal fest.« »Passen Sie gut auf sich auf, Herr Superintendent«, sagte Roan. »Sie sind außergewöhnlich listenreich.« »Sie können uns nicht entwischen«, sagte der Superintendent und zog verächtlich die Oberlippe hoch. »Das hier ist unser Revier. Das überlassen Sie mal schön uns.« »So gefällt es mir schon besser«, sagte Spar. Er salutierte. »Herr Superintendent, es ist ein Vergnügen, mit ihnen zusammenzuarbeiten.«
24. KAPITEL Das Geheul von sich entfernenden Sirenen ha llte durch die Straße, als sie dem Superintendenten die Treppe hinunter und auf den Parkplatz folgten. Roan pfiff die Fahrräder zu sich herüber, während der Superintendent höchstpersönlich den verbliebenen Beamten Anweisungen erteilte. »So, meine Herren. Sie schwärmen in alle Richtungen aus. Halten Sie jederzeit Kontakt mit der Einsatzleitung«, befahl er. »Da Hauptmann Spars Leute die einzigen sind, die wissen, was diese >Verzerrung< ist, die der gesuchte Straftäter verursacht, wird Hauptmann Spar mit seinem Kontingent das Haupteinkaufszentrum spiralförmig von außen nach innen durchkämmen und die jeweiligen Einsatzgruppen, die in den einzelnen Bezirken auf Streife sind, gegebenenfalls auf die >Verzerrung< hinweisen. Murgatroyd, Sie begleiten ihn.« »Jawohl, Chef«, sagte der Angesprochene, ein tough aussehender Beamter, der auf einem arg abgewetzten blauen Ross saß. »In Ordnung! Alle Mann aufgesessen!«, rief der Polizeichef. Er selbst kletterte in die Kabine des großen kastenförmigen Vehikels, das sich knatternd in Bewegung setzte. Männliche und weibliche Beamte sprangen auf die Trittbretter an den Außenseiten des Gefährtes und klammerten sich an Haltestangen fest, als es mit heulender Sirene und rotierendem Blaulicht wild schlingernd die Straße hinunterbretterte. Beamte schossen in alle Richtungen davon. »Und nun, Officer«, sagte Spar, während er sich in den Sattel seines eigenen Reittieres schwang, »zeigen Sie uns die zweitbeste Reparaturwerkstatt in der Stadt.« »Sie sind schon hiergewesen«, sagte Lum enttäuscht, während er sein Ross zum Stehen brachte.
Murgatroyd lenkte sein Ross um eine Platte des Straßenpflasters herum, die aus rotem Schaumgummi bestand und brachte es an der Bordsteinkante zum Stehen. Er hielt sich sein Funkgerät ans Ohr. »Haben Spuren von Verzerrung entdeckt, aber kein Anzeichen von den verdächtigen Personen, Sir«, sprach der Polizeibeamte in das Mikrophon. »Werden weiter Hinweisen folgen. Ende.« Er betätigte einen Schalter an der Seite des schwarzen Kastens. Eine Klappe auf der Oberseite des Geräts sprang auf und ein kleiner Vogel kam herausgeflattert. Er drehte einen Kreis, dann flog er in Richtung der Polizeiwache davon. Roan lauschte angestrengt. In der ruhigen Wohngegend, in der sie sich jetzt befanden, müssten sie das Motorengeräusch der Motorräder eigentlich hören können. Und ja, er vernahm ein merkwürdiges Dröhnen, das irgendwo von links kam. »Probieren wir's hier entlang«, sagte er und radelte in die Richtung los, aus der das Geräusch kam. Er überließ es Murgatroyd, sie durch das verzwickte Straßengewirr zu lotsen, vorbei an Häusern und Schulen. Durch den schmiedeeisernen Zaun, der einen verregneten Park in einem Wohngebiet umfriedete, erblickte Roan eine Handvoll von Lehrlingen, die gerade nach links in eine von hohen Hecken gesäumte Allee einbogen. Er gab den anderen ein Zeichen und sie stemmten sich kräftig in die Pedale und machten sich an die Verfolgung. Trotz mehrerer Kurven und Biegungen, die die Flüchtigen nahmen, schafften die Verfolger es, die blau und weiß gekleideten Motorradreiter nicht aus den Augen zu verlieren. Da! Sie bogen scharf nach rechts um eine Ecke! Die Verfolger hefteten den Blick auf die Kreuzung und strampelten auf sie zu, was das Zeug hielt. »Das ist eine Sackgasse«, rief Murgatroyd triumphierend. »Jedenfalls war es während der Streife gestern Abend noch
eine. Jetzt haben wir sie!« Doch als sie in die vermeintliche Sackgasse einbogen, war dort niemand zu sehen - außer einem Mann, der seinen Rasen mähte, indem er eine Ziege an den Hinterbeinen ho chhielt und vor sich her bugsierte. »Sind sie womöglich an uns vorbei geschlüpft?«, fragte Misha und schaute sich verwirrt um. »Vielleicht haben sie sich unsichtbar gemacht.« »Noch ein Täuschungsmanöver?«, fragte Felan missmutig. »Nein, seht doch«, sagte Roan und zeigte zwischen zwei Höfen hindurch auf drei behelmte Köpfe, die sich von ihnen weg bewegten. Die Motorradfahrer hatten sich verdünnisiert und so langgezogen, bis sie eine gigantische Höhe erreicht hatten und nur mehr zwei Zoll breit waren. »Gardisten, mir nach!«, schmetterte Spar. Er schoss um die Ecke der Sackgasse, seine Mannen und Männinnen in Formation hinter ihm her. Wenige Augenblicke später kam er kopfschüttelnd wieder um die Ecke gebogen. Seine Leute rollten ihm mit hängenden Köpfen nach. »Sie sind entwischt.« »Wir treten auf der Stelle und die Zeit läuft uns davon«, sagte Roan. »Ich schlage vor, wir teilen uns in Paare auf und suchen weiter. Falls einer von uns sie entdeckt, folgt der andere ihnen, wohin auch immer sie gehen und der andere meldet sich bei der Einsatzzentrale und fordert Verstärkung an. Denkt daran, wir müssen Brom und den WECKER unbedingt finden!« »Wir kreisen sie ein, und dann schlagen wir zu«, sagte Murgatroyd und hieb sich mit der Faust in die geöffnete Hand. »Auf geht's!« »Gut«, sagte Roan, Er und Leonora entschieden sich, mit dem Polizisten mitzugehen. Spar ging mit Colenna Misha tat sich mit Felan zusammen, Lum mit Bergold, und das letzte Paar bildeten die beiden Gardisten.
Roan und Leonora radelten schweigend, beide Seiten der Straße nach Spuren absuchend. Mehrere Male glaubten sie einen oder mehrere Lehrlinge in einer der Seitenstraßen verschwinden zu sehen. Sie jagten ihnen hinterher, doch sobald sie die entsprechende Kreuzung erreichten, war von den Flüchtenden keine Spur mehr zu sehen. »Wir haben ganz einfach kein Glück«, sagte Leonora, als sie ihr Ross nach einer Stunde fruchtlosen Suchens ausrollen ließ. »Vielleicht haben die ändern ja mehr Glück.« Murgatroyd hielt sein Funkgerät ans Ohr. »Nein, Ma'am, leider nicht.« »Dann müssen wir halt weitersuchen«, sagte Roan. »Augenblick mal!« Die Bäume am Straßenrand wirkten auf der Gehsteigseite wie immer, aber auf der der Straße zugewandten Seite waren sie verdreht und sahen ungesund aus. Einige der Äpfel hatten es nicht einmal dabei bewenden lassen, auf die Straße zu fallen. Sie hatten sich in Holz verwandelt. Roan und Leonora wechselten triumphierende Blicke. »Sie müssen hier vorbeigekommen sein«, sagte Roan. »Wenn wir sie sehen, möchte ich, dass du auf kürzestem Wege zur Polizeiwache fährst. Und zwar so schnell du kannst, ohne anzuhalten, ohne Umwege. Ich will nicht riskieren, dass sie Gelegenheit bekommen, ihre Macht an dir zu erproben.« »Keine Sorge«, sagte Leonora. »Ich hau sofort ab, wenn wir auf sie stoßen.« »Sir!«, Lum und Bergold kamen auf ihren Rädern aus einer Passage zwischen zwei Häusern herausgeschossen. Der Historiker gestikulierte in ihre Richtung. »Wir sind zweien von ihnen gefolgt. Sie müssen hier entlanggekommen sein!«, schrie Bergold. »Ich weiß«, rief Roan zurück. »Schau dir nur mal die Bäume an!« »Siehst du sie?«
Lum stellte sich auf die Pedale und spähte die Straße hinunter. Er gestikulierte aufgeregt. »Da, Sir! Da fahren sie!« Roan sichtete den WECKER just in dem Augenblick, als seine Träger in eine Gasse vor ihnen einbogen. Er zog hart an Cruisers Lenkstange und zwang das bockige Ross, die Verfolgung aufzunehmen. Die anderen folgten ihm im Abstand von einer halben Länge. Schneller und schneller trat Roan in die Pedale, bis seine Beine sich anfühlten, als wären sie Teil seines Rosses. Schneller! Der Mann, der am hinteren Ende der Trage ritt, wandte den Kopf, um nach hinten zu schauen und seine Kinnlade klappte herunter. Er schrie seinem Gefährten etwas zu und die beiden Motorräder steigerten ihre Geschwindigkeit. In der engen Gasse flog Roan an Hauseingängen vorbei, an Leitern und Mülltonnen, an schnarchenden Schnapsleichen und Haufen von Ziegeln, Briketts, Feuerholz sowie Exkrementen, an Katzen und Hunden. Er holperte über Steine und durch Schlaglöcher. Er sah Licht vor sich. Er musste den WECKER aufhalten. Wenn jenes infernalische Gerät die Straße zu weit vor ihm erreichte, würden seine Träger Gas geben und er würde sie niemals erwischen. Schneller! Seine Muskeln fühlten sich an, als würden sie brennen. Den Polizeibeamten hatte er weit hinter sich gelassen. Die Trage rollte aus der Gasse heraus. Sonnenlicht tauchte den Rücken des Hintermannes in grelles Weiß. Roan folgte der leuchtenden Gestalt. Er kam immer näher, so nahe, dass er sie fast schon hätte berühren können. Plötzlich kam die Trage schwankend zum Stehen. Roan bremste, prallte fast auf den Mann am hinteren Ende der Trage. Er sprang von seinem Rad und rannte zu dem Mann, um ihn von seinem Ross zu zerren. Doch bevor er Hand an den Mann legen konnte, ertönte unter der Plane ein furchterregendes Geräusch. Die tiefe, dumpfe Vibration haute ihn fast aus den Schuhen. Er hielt sich die Ohren zu.
Das leise, unerbittliche Geräusch erstarb. Er war so verwirrt von dem Lärm, dass er eine Weile brauchte, bis er merkte, dass er von blitzenden Blaulichtern, uniformierten Polizisten und einer riesigen Menge von Zivilisten umringt war. Er entdeckte den Polizeichef in der vordersten Front der Menge. Neben ihm stand Brom. Seltsam, dachte Roan. Brom sah genauso aus, wie er beim ersten Mal ausgesehen hatte, als sie sich in der Wüste außerhalb von Mnemosyne begegnet waren. Aus irgendeinem Grund benutzte er die Gestalt, um in ein und derselben Form zu bleiben. Fast, dachte Roan erschreckt, so wie ich. Die jungen Männer und Frauen in Blau und Weiß hatten sich um ihren Beschützer geschart und fummelten nervös an ihren Taschenschützern herum. Die beiden Grobiane, die Roan in der Wüste angegriffen hatten, schauten trotzig und herausfordernd drein. »Sie haben ihn geschnappt!«, rief Roan froh und erleichtert. »Meinen Glückwunsch, Herr Superintendent. Es sieht so als, als wäre Ihnen gleich die ganze Bande ins Netz gegangen! Das da« - er zeigte auf die Trage mit der Plane - »ist das Gerät, von dem ich Ihnen erzählt habe. Sie müssen sofort die Krone verständigen. Sie haben ein schreckliches Unglück verhindert. Gut gemacht!« Brom hob die Hand. »Nehmen Sie ihn fest, Herr Superintendent«, schnarrte er gebieterisch. Anstelle seiner hageren Reiseform hatte er jetzt wieder seine behäbige Hof-Beleibtheit angelegt. Die lange blaue Robe war zwar ein bisschen abgewetzt von der Reise, aber die Polizisten und die Gaffer schienen es nicht zu bemerken. »Ich bin dieser ständigen Belästigungen, denen ich und mein Stab ausgesetzt sind, zutiefst überdrüssig. Wir führen ein schwieriges und geheimes Experiment für seine Majestät, den König, durch, und alles, was dieser Kerl, diese immergleiche Missgeburt, bisher getan hat, ist, mir zu folgen und Steine in den Weg zu legen.« Er wedelte mit dem Finger. Roan merkte plötzlich, dass auch der Rest seiner Gruppe da
war, ebenfalls umringt von Polizeibeamten. »Und die da auch! Das sind seine Komplizen!« »Was?« Roan traute seinen Ohren nicht. Aber der Gesichtsausdruck des Polizeichefs zeigte ihm, dass er richtig gehört hatte. Zwei Polizeibeamte traten vor und legten seine Hände in Eisen. Er wich bestürzt zurück, aber sie packten ihn bei den Armen und hielten ihn fest. Brom fuhr unterdessen mit seinem Sermon fort. »Sie sind allesamt Zeugen einer der größten Missetaten, die jemals im Traumland begangen wurde!« Seine verhangenen Augen sprühten rotes Feuer. »Dieser durch und durch böse Mann hat die Erbin des Thrones korrumpiert, die königliche Prinzessin Leonora! Schauen Sie!« Er hob die Hände, um das Bild von Leonora einzurahmen, als diese so elegant und graziös von Golden Schwinn stieg, wie sie es in ihrem wallenden weißen Gewand nur eben konnte. Roan spürte, dass Brom eine Woge des Einflusses benutzte. Das Gewand, mit dem sich Leonora so viel Mühe gemacht hatte, geriet plötzlich außer Form. Für die Zuschauer bestand nicht der geringste Zweifel, dass sie in die Falten eines Zeltes eingehüllt war, noch dazu eines, das viel zu groß für sie war. Sie raffte hastig die Zeltbahnen, die lose um sie herum schlotterten, und versuchte, sie mit Fetzen von Einfluss in eine wenigstens halbwegs passable Form zurückzuzwingen. »Da steht sie vor Ihnen«, dröhnte Brom weiter, »in armselige Lumpen gehüllt, als wäre sie die geringste unter den Gemeinen. Eine Bettlerin. Wie schändlich, wie schimpflich, wie erbärmlich! Ich schäme mich, sie in diesem bejammernswerten Zustand sehen zu müssen Es entehrt sie. Es entehrt uns alle!« Die Menge skandierte: »Schande! Schande!« Leonora wurde scharlachrot vor Scham und Wut. Zwei Frauen traten vor, die Arme voller Kleider, die sie der Prinzessin aufnötigten. Die
ließ sie gleichwohl fallen und stieß die Frauen beiseite. Sie versuchte, zu Roan zu gelangen. Die Polizisten versperrten ihr den Weg. Brom hob erneut seine Stimme. »Helft eurem Souverän! Helft ihm, seine Tochter wiederzufinden! Seht, wie dieser Kerl sie selbst jetzt noch in seinen unseligen Bann schlägt, wie sie mehr um ihn besorgt ist als um ihre eigene Sittsamkeit! »Aber ich bin aus freien Stücken mit Roan mitgegangen«, wehrte sich Leonora wütend. Die Zeltbahnen fügten sich zu einer knöchellangen, fließenden Toga von klassisch-elegantem Schnitt und als I-Tüpfelchen setzte sie sich noch ein Diadem aus goldenen Blättern auf das seidig glänzende Haupthaar. Ein ehrerbietiges Raunen ging durch die Menge. »Niemand hat mich gezwungen, mit ihm zu gehen.« »Umso schlimmer«, erklärte Brom kopfschüttelnd. Abermals hob er seine Stimme. »Er hat sie getäuscht. Natürlich verstößt es gegen das Gesetz, wenn er sie mitnimmt. Sehen Sie irgendwo eine Anstandsdame?« »Ich bin ihre Anstandsdame!«, verkündete Colenna wacker. »Ich rede von einer offiziellen Anstandsdame!«, versetzte Brom mit verächtlichem Schnauben. »Diese Kreatur kann's jedenfalls nicht sein, da dies keine offizielle Reise ist!« »Jetzt hör mal, du alter Ziegenbock!«, baute sich Colenna drohend vor ihm auf. »Sperrt sie ein! Sperrt sie ein!«, skandierte die Menge. »Halt!«, schrie Roan. Er breitete die Arme aus, so weit die Ketten es zuließen. »Es ist ganz und gar nicht so, wie ihr denkt. Die Prinzessin ist mitnichten in Gefahr. Er ist es, der euch in die Irre führt! Er ist der Missetäter, nicht wir! Herr Superintendent, Sie haben das Bulletin vom Palast - bezüglich des WECKERS. Walten Sie Ihres Amtes!« Der Polizeichef machte erst ein verwirrtes, dann ein störrisches Gesicht. »Wir haben aber auch ein Dokument vorliegen, das uns anweist,
Ausschau nach Ihrer Hoheit zu halten. Ich hätte handeln sollen, als Sie auf der Wache waren. Zu dem Zeitpunkt fand ich, dass sie so klang, als sei sie bei vollem Verstande, aber dieser Herr hier hat mich eines Besseren belehrt. Nun werde ich mein Versäumnis wiedergutmachen. Roan Faireven, ich verhafte Sie im Namen des Königs wegen Freiheitsberaubung!« Roan versuchte, die wütende Menge zu übertönen. »Sir, Sie sind dem Einfluss dieses bösen Mannes erlegen! Er gebietet über ein wirksames Machtinstrument, Schmelztiegel geheißen! Die Vorrichtung unter der Plane dort ist in der Lage, das gesamte Traumland zu vernichten!« »Eins nach dem ändern«, sagte der Superintendent mit entschlossenem Gesichtsausdruck. »Wenn es stimmt, dass Ihre Hoheit aus dem Palast entführt worden ist, dann ist es unsere oberste Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie sicher dorthin zurückverbracht wird.« »Scheißkerl, Brom!«, zischte Roan. Jetzt hatten sie ihn endlich eingeholt, waren ihrem Ziel so nahe und wieder drohte der Kerl ihnen zu entwischen! Er stürzte sich auf den Obersten Wissenschaftler und wurde von dem schreienden Mob zurückgerissen. Die Polizeibeamten mussten ihn befreien. Sie bildeten einen Kordon um ihn herum. Roan konnte den Hass und die Wut in den Gesichtern der Menschen in der Menge einfach nicht glauben. Brom schaute ihn mit milder Enttäuschung an. »Und hören Sie nur, welch schlimme Wörter er benutzt!«, rief er, seine Stimme über den Tumult erhebend. »Kann das die angemessene Begleitung für eine Angehörige des Königshauses sein?« »Nein! Nein!«, heulte die Menge. Brom mache eine tiefe Verbeugung vor Leonora. »Eure Hoheit, ich entschuldige mich dafür, dass Sie solch böse Schimpfwörter mit anhören mussten.«
Leonora schaute ihn erst verblüfft an, dann wütend. »Wie können Sie es wagen, so zu tun, als wäre nicht das Geringste passiert? Sie sind der Grund, warum wir überhaupt hier sind!« »Er muss die Ärmste hypnotisiert haben«, sagte Brom, an die Menge gewandt. »Madame, Ihr Vater ist außer sich und Ihre Mutter ist vor Kummer bettlägerig geworden.« »Das hat nichts zu bedeuten«, versetzte Leonora unwirsch. »Mutter wird schon bettlägerig, wenn ihr eine Wimper ausfällt. Und Vater weiß, wo ich bin. Wir haben ihn regelmäßig auf dem Laufenden gehalten. Nicht wahr, Felan?« »Das haben wir«, bestätigte Felan. »Ich muss bei meinen Freunden bleiben«, beharrte die Prinzessin. »Wir retten die Welt vor Ihnen.« »Ach, Eure Hoheit, er hat Sie zweifellos einer Gehirnwäsche unterzogen!«, erwiderte Brom und seine schweren Lider senkten sich halb über seine rot lodernden Augen. Roan konnte sehen, dass Leonora heftig erschrak. »Kennen Sie mich denn nicht mehr, Eure Hoheit? Ich bin Brom, der Assistent von Carodil, der Ministerin für Wissenschaft. Ihr Freund. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich hier war, um ein wichtiges Experiment durchzuführen. Ansonsten hätte dieser ruchlose Schurke« - er reckte sich hoch, damit die Menge ihn besser hören konnte - »Ihre Prinzessin bis ans Ende der Welt verschleppt!« »Sie können diese Leute vielleicht eine Weile täuschen«, sagte Roan. »Aber wir kennen die Wahrheit. Nicht wahr, Männer?« Er wandte sich zu seinen Gefährten um. »So ist es, Sir!«, schrie Lum, an den Pöbel gewandt. »Und ich bin ein Korporal der Palastwache. Wir sind unbestechlich!« »Aber ihr nehmt Befehle entgegen«, sagte Brom kühl, ohne seine Stimme heben zu müssen. »Ihr erteilt sie nicht. Und ganz
bestimmt nicht Ihrer Hoheit.« »Nun, nein...«, sagte Lum, aus dem Konzept gebracht. Brom fixierte Roan mit seinen glühenden Augen. »Sie haben die Kontrolle hier verloren. Sie werden niemals die Kontrolle haben, wo ich bin.« »Hier ist irgendein Trick im Spiel«, knurrte Spar. »Halten Sie die Augen offen.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Lum. Roan spannte sich innerlich. Er fragte sich, was Brom als Nächstes vorhatte. »Genug jetzt mit diesem Geplänkel!«, sagte der Superintendent und trat zwischen sie. »Nun, als wir den König benachrichtigten, ließ er uns wissen, dass er einen Gesandten zu uns schicke, der seine königliche Tochter nach Hause begleiten solle.« Er wandte den Blick nach oben und schirmte seine Augen mit der Hand gegen die blendende Sonne ab. »Da kommt er.« Eine elegante weiße Gestalt tauchte aus einer Wolke auf und kreiste über ihren Köpfen. Alles starrte hinauf zu dem Mann auf dem geflügelten Ross. Die Menge wich zurück, einen kreisförmigen freien Platz auf dem Pflaster freigebend und das Pferd des Ritters landete in ihrer Mitte. Er sprang mit einer graziösen Bewegung aus dem Sattel und verneigte sich vor dem Polizeichef. Sobald seine Füße den Boden berührten, verwandelte sich das Pferd in ein weißes Cabriolet, und der weiße Falke, der spiralförmig herniedergeschwebt kam und auf dem Rücksitz des Automobils landete, wurde zu einem großen weißen Jagdhund mit noblem Gesichtsausdruck. »Seid gegrüßt, Sir Osprey!«, rief Roan. »Wir brauchen Eure Hilfe hier!« Der Gesandte wandte sich um, erkannte Roan und runzelte die Stirn, als er die Ketten an seinen Handgelenken gewahrte. »Wie ich sehe, seid Ihr in Nöten mein Freund. Ich würde Euch ja gerne helfen, aber ich habe zuvörderst eine Mission zu erfüllen. Wo ist die Prinzessin? Mylady! Seid Ihr
wohlauf?« Leonora entwand sich ihren wohlmeinenden Gastgebern und reckte sich. »Helft uns, guter Herr Ritter!« sagte sie. »Ich will nicht nach Hause. Sie haben Roan arrestiert; dabei hat er nichts Böses getan. Der da ist der Mann, den es festzunehmen gilt!« Sie zeigte auf Brom. »Es tut mir Leid«, sagte der Ritter. Seine Brauen zogen sich vor Bedauern zusammen. »Meine Befehle sind eindeutig, Mylady. Mein Auftrag lautet, Euch umgehend nach Mnemosyne zurückzubringen. Sonst nichts. Ihr könnt dagegen Beschwerde erheben, sobald wir wieder in der Kapitale sind.« »Ich werde nicht mitkommen«, sagte Leonora. Sie ging zu Roan, drängte sich an den Polizisten vorbei, als wären sie gar nicht vorhanden und schlang die Arme um ihn. Er umfasste sie, so gut er dies mit den schweren Ketten an seinen Armen vermochte. »Mylady, Ihr müsst nach Hause kommen!«, sagte der Gesandte, sichtlich bekümmert. Er fasste sie sanft beim Arm. »Wenn Ihr ein wahrer Ritter des Traumlandes wärt, würdet Ihr nicht zulassen, dass ein solches Unrecht geschieht«, sagte Leonora und schüttelte seine Hand ab. Ihre Augen waren voller Tränen. Roan umarmte sie noch fester. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihm genommen wurde - weder jetzt, noch überhaupt je wieder! »Ich habe keine Wahl, Eure Hoheit. Bitte kommt mit!«, beschwor Sir Osprey sie in fast flehendem Ton. Er appellierte an Roan. »Freund, macht es uns allen doch nicht noch schwerer. Lasst sie los!« »Sie bleibt bei mir!«, sagte Roan mit fester Stimme. »Komm, Junge, wir wollen dir doch nicht wehtun«, sagte ein knorriger Polizist und packte Roan bei den Handgelenken. Den Beamten blieb nichts anderes übrig, als das Paar gewaltsam zu trennen: Leonora mit sanftem, aber unerbittlichem Druck,
Roan ohne jede Rücksichtnahme. Man bog ihm die Arme auf den Rücken und fesselte sie mit einer weiteren Kette, die noch schwerer war als die erste. »Lasst ihn in Ruhe!«, schrie Leonora. »Es tut mir Leid« sagte Sir Osprey zu Roan. »Ich werde Euren Fall dem König vortragen, sobald wir zu Hause angekommen sind.« Leonora wurde von der Menge in Sir Ospreys Automobil bugsiert. Der Ritter drückte höflich, aber bestimmt die Tür hinter ihr ins Schloss. Leonora saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz; das güldene Diadem war ihr über das rechte Ohr gerutscht. Sie hatte einen trotzigen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der für den Gesandten nichts Gutes verhieß, aber sie rührte sich nicht, als er Golden Schwinn aufhob und hinter ihr auf den Rücksitz legte. Roan glaubte, dass sie wartete, bis der richtige Augenblick kam, um dann zu protestieren. »Peregrin!«, sagte der Ritter. »Gib acht!« Der weiße Hund im Fond richtete sich auf, bleckte die Zähne und nahm eine Bewachungspose über Leonoras Haupt ein. »Herr Superintendent und Roan, ich verspreche euch, ihr wird kein Leid geschehen, bis ich sie sicher bei ihren Eltern abgeliefert habe. Lebt wohl!« Er sprang mit einem eleganten Satz über die Tür und nahm seinen Platz hinter dem Volant ein. Die Menge wich zur Seite und der weiße Sportwagen brauste davon. »Sehr schön«, sagte Roan. Er wandte sich widerstrebend von dem hinter einer Ecke verschwindenen Automobil ab und schaute den Polizeichef an. »So, diesen Haftbefehl haben Sie nun also vollstreckt. Was ist jetzt mit Brom und seinen Leuten? Nun, da die Angelegenheit mit ihrer Hoheit geklärt ist, haben Sie ja einen gültigen Vollstreckungsbefehl für die Arrestierung dieser Herrschaften.« »Das ist richtig«, sagte der Superintendent und wandte sich Brom zu. »Im Namen des Königs verhafte ich Sie wegen -« Er streckte die Hand aus, um Broms Arm zu ergreifen, aber sein
Griff ging ins Leere. »Was im Auge des Albtraums ...?« »Beim Wirbelwind der Hölle, er hat es wieder getan!«, schrie Spar. Er rannte zu der Trage - und geradewegs durch sie hindurch in die Menge auf der anderen Seite. Der verhüllte WECKER, seine Träger und ihre Rösser zerplatzten wie eine Seifenblase. »Immateriell!« Brom drehte sich noch einmal um und grinste Roan zum Abschied hämisch an, bevor auch er sich in Nichts auflöste. Nichts blieb zurück außer einem Lichtschein, der in der Luft hing, wo eben noch Broms Augen gewesen waren. Der Superintendent und seine Beamten schauten verdattert drein. »Sie sind entkommen!«, sagte Roan. »Sie haben ein Bild benutzt, um uns abzulenken und haben die Stadt verlassen. Das Gleiche haben sie schon einmal vor ein paar Tagen in Mnemosyne getan. Herr Superintendent, Sie müssen die Verfolgung aufnehmen! Helfen Sie uns! Lassen Sie mich frei!« Er streckte seine Arme mit den schweren Ketten zum Polizeichef hin und schickte sich an, zu ihm zu gehen, aber seine Füße hafteten am Boden, als wären sie dort festgeklebt. Spar und die anderen wollten ihm zu Hilfe eilen, aber auch sie klebten am Boden fest. Colenna gab einen kleinen Schrei der Verblüffung von sich und kramte in ihrer Handtasche herum. Die Reveridianer tuschelten miteinander. Roan gefiel ihre Stimmung ganz und gar nicht. Sie waren immer noch wütend auf ihn! »Wir sind nicht eure Feinde«, versuchte er ihnen klarzumachen. »Brom ist der Schurke. Er will nach wie vor unser Heimatland vernichten. Diese Affäre mit der Prinzessin ist bloß ein Vorwand.« Bei dem Wort >Affäre < verstärkte sich das wütende Gemurmel. »Ich meine, diese Angelegenheit«, besserte Roan hastig nach. Von seiner Korrektur nicht überzeugt, rückte die Menge einen Schritt näher an ihn heran und drängte die anderen um
ihn herum. »Herr Superintendent!« »Diese Leute waren bloß ein Trugbild«, sagte der Superintendent, sich an das haltend, was er begriff. »Immaterielle Zeugen. Ich kann sie nicht festnehmen, da sie nicht hier sind. Der Haftbefehl bleibt in Kraft. Wenn sie jemals wieder nach Reverie kommen sollten, werden wir dafür Sorge tragen, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Was diese Verräter betrifft« - er zeigte auf Roan und seine Gefährten -, »so werden sie sich hier vor Gericht verantworten müssen.« »Nur ich, Herr Superintendent«, sagte Roan, tapfer hervortretend. »Ich bin der Einzige, der an der Präsenz Ihrer Hoheit Schuld trägt, und der Einzige, über den Sie befinden müssen, ob er sie in Gefahr gebracht hat. Diese Soldaten sind Angehörige der Palastwache. Sie sollten nun, da die Prinzessin nicht länger bei uns ist, in die Hauptstadt zurückkehren.« »Auf keinen Fall!«, protestierte Spar. »Ich werde weitermachen. Und meine Soldaten ebenfalls.« Die anderen drei nickten heftig. »Das wäre ganz im Sinne ihrer Hoheit, richtig? Sie hatte bloß nicht mehr die Zeit, um die entsprechende Anweisung in Worte zu fassen. Wenn sonst noch jemand nicht mehr mitmachen möchte, soll er das jetzt sagen.« Er starrte Felan mit durchdringendem Blick an. »Ich nicht«, sagte der Historiker, vor dem Hauptmann zurückweichend, der so groß, bedeutend und offiziell dreinschaute, wie es nur irgend ging. »Danke, Spar«, sagte Roan, gerührt von ihrer hingebungsvollen Entschlossenheit, obwohl sie alle immer noch in Gefahr waren. Wer wusste schon, was für Gemeinheiten Brom sonst noch ausgebrütet haben mochte, während sie von seinem Trugbild abgelenkt worden waren. »Du übernimmst die Führung, Bergold. Lum wird dir helfen, sie wieder aufzuspüren. Er kann das viel besser als ich.« »Ach, Sir«, wehrte der junge Soldat ab, verlegen und
zugleich geschmeichelt. »Doch, doch, das ist schon so«, beharrte Roan und fuhr fort: »Ich komme nach, sobald ich kann.« Er rasselte mit seinen Ketten, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Findet sie. Das ist das Wichtigste von allem. Findet sie!« »Recht hast du«, sagte Bergold. Mit vor Konzentration gerunzelter Stirn übertrug er Roans schmale Gesichtszüge so gut es ging auf sein eigenes Gesicht und machte sich lang und dünn. »Ich kann deinen Platz nicht wirklich einnehmen, aber ich versuche mein Bestes.« »Ich habe schon Witterung aufgenommen, Sir«, sagte Lum. »Ihr geht jetzt besser«, sagte Roan, als die wütende Menge ihm immer dichter auf die Pelle rückte. Sie schienen größer zu werden und sahen immer gefährlicher und bedrohlicher aus. Sie schwangen Stricke, Peitschen und Mistgabeln. Einige von ihnen geiferten wie wilde Bestien. Aus Furcht, von ihnen attackiert zu werden, wich Roan zurück. Dabei verlor er seine Freunde aus den Augen. Bergold verschwand als letzter zwischen fuchtelnden Armen und wogenden Leibern, sodass Roan nun allein stand, eingekeilt von dem johlenden Mob. Sie rückten weiter gegen ihn vor, versperrten ihm die Sicht, zwangen ihn, immer weiter zurückzuweichen. »Ihr werdet wahrscheinlich warten müssen, bis ihr aus der Stadt heraus seid, ehe ihr ihre Fährte wiederfindet...!«, rief er den Gefährten hinterher, die er schon nicht mehr sehen konnte. Der Wall aus Menschenleibern umschloss ihn, ja verschlang ihn, jedes Licht und jedes Außengeräusch von ihm abschottend. Roan schrie auf, rang nach Atem. Als die Dunkelheit sich verzog, stand Roan ganz allein auf einer kleinen Fläche, vor sich eine schattenhaft aufragende, aus mehreren Rängen bestehende, voll besetzte Galerie. Er konnte die Gesichter der Leute auf den Rängen nicht gut erkennen, aber ihre wulstig vorspringenden Brauen und ihre
heruntergezogenen Mundwinkel waren voller Dunkelheit. Scheinwerfer brannten grell von der Decke herunter und verwandelten ihn in eine hell strahlende Lichtsäule. Unter seinen Händen fühlte er ein hölzernes Geländer, an dem er sich verunsichert festklammerte. Er stand vor den Schranken eines Gerichtshofes. »Ruhe im Saal! Der Gefangene möge sich jetzt zur Richterbank wenden!« Roan wandte sich langsam um und ließ dabei den Blick durch den Saal schweifen. Vor ihm ragte eine Wand aus dunklem, mit Schnitzwerk verziertem Holz in eine Höhe von mindestens zwanzig Fuß empor. Roan musste den Kopf tief in den Nacken legen, um ihren Rand erfassen zu können. Oben thronte ein Richter, angetan mit einer weiten, scharlachroten Robe, mit einer goldgeränderten Brille auf der Nase und der traditionellen weißen Perücke auf dem Haupt, die ihm bis über die Schultern wallte. »Ruhe im Gerichtssaal!«, donnerte der Richter und hieb mit seinem Hammer auf den Tisch. Dann zeigte er mit dem Hammer auf den Gerichtsdiener. »Verlesen Sie die Anklagepunkte!« Der Gerichtsdiener trat vor und entrollte ein Pergament. »Widerrechtliche Verfolgung von Hofbeamten, Freiheitsberaubung bei einer Angehörigen des Königshauses, Belästigung, Gesetzesübertretung, Amtsmissbrauch, pflichtwidrige Unterlassung, sowie diverse andere Missetaten, Übeltaten und Untaten!« Das juristische Kauderwelsch verwirrte Roan, aber was ihm am schwersten auf der Seele lastete, war nicht er selbst - Leonora fehlte ihm ganz schrecklich. Ein zweiter Mann mit Perücke und schwarzer Robe der Ankläger, schritt vor der Anklagebank auf und ab wirbelte dann plötzlich scharf auf dem Absatz herum und zeigte mit
spitzem Finger auf Roan. »Nennen Sie Ihren Namen!«, herrschte er Roan an. »Ich heiße Roan Faireven.« Roan umkrallte das Geländer. »Warum werde ich hier vor Gericht gestellt und nicht in Mnemosyne?« »Der Gefangene hat keine Fragen zu stellen!«, schnarrte der Ankläger und legte den Kopf schief, sodass er hochmütig über die Nase hinweg auf Roan herabschauen konnte. »Der Gefangene hat sie lediglich zu beantworten.« »Ich beantworte gerne alle Fragen, die Sie mir stellen«, erwiderte Roan. »Sehr gut«, sagte der Richter und ließ seinen Hammer mit Schwung herabsausen. »Wir werden Sie dem Test unterziehen. Fangen Sie an!«
25. KAPITEL Der Gerichtssaal verschwand. Roan fand sich an einem hölzernen Pult sitzend, in einem sehr kleinen Raum mit Steinwänden. Auch das Pult war sehr klein. Seine langen Beine waren angezogen, und obwohl er die Knie gespreizt hatte, bohrten sie sich gegen die Kante des verkratzten und verschrammten Pults. Vor ihm lag ein drei Zoll dicker Stoß Papier. Auf dem obersten Blatt stand >Der Test<. Roan fasste um den Stoß herum. Es gab nichts, womit er hätte schreiben können. Er hob den Stoß hoch und schaute darunter. Er hob die Tischplatte des Pults an und fand nichts in dessen metallenem Inneren außer ein paar getrockneten Nasenpopeln und die in die Farbe eingeritzte Inschrift: »Jeff liebt Mim.« Roan sah sich um. Es gab nur eine Tür in dem Raum, eine geschwärzte, eisenbeschlagene Tür, die so niedrig war, dass er sich hätte bücken müssen, um hindurchzugehen. Nicht, dass er das gekonnt hätte: sie war mit einem schweren eisernen Riegel zugesperrt, der mit einem Vorhängeschloss von der Größe seines Kopfes gesichert war. Licht fiel durch ein kleines Fenster, das in die dicke steinerne Wand eingelassen war. Er schaute hinaus und sah, dass der Raum sich in einem Turm von hundert Fuß Höhe befand. Tief unten waren gerade noch die winzigen Gestalten von Bergold und den anderen auszumachen, wie sie dabei waren, auf der Hauptstraße, die nach Norden führte, zur Stadt hinauszureiten. Es war witzig zu sehen, wie er selbst fortging. Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Ferne. Broms Gruppe war nirgends zu sehen. Sie hatten sich mit ihrem Trugbild einen guten Vorsprung verschafft. PATSCH! Ein hölzernes Lineal klatschte auf seine Finger
und Roans Hand zuckte vom Fenstersims zurück. »Willst du wohl achtgeben! Deine Zeit ist begrenzt!« meckerte eine schmalgesichtige Lehrperson in schwarzer akademischer Tracht und gleichfarbiger magisterieller Kopfbedeckung und fuchtelte drohend mit dem Lineal. Roan setzte sich brav an das Pult. Er fühlte in seinen Taschen. Sie waren leer bis auf sein Portemonnaie und sein Taschenmesser, das jedoch über keinen Schreibstift verfügte. Er nahm sich vor, das Messer bei der nächsten Gelegenheit um dieses wichtige Accessoir zu vervollkommnen. »Könnte ich bitte einen Bleistift bekommen?«, fragte Roan das gestrenge pädagogische Wesen. Es wurde größer und immer größer, bis es mit seiner viereckigen Akademikermütze an die Decke stieß. »Unvorbereitet?«, dröhnte der Proktor mit furchterregender Stimme. »Zehn Punkte Abzug!« Roan schrumpfte in sich zusammen. Der Proktor erinnerte ihn an seine frühesten und furchtbarsten Schulmeister. Gleichwohl: zwei ungespitzte HBBleistifte wurden auf sein Pult geknallt. »Danke«, quetschte er mit belegter Stimme heraus. »Gibt es auch einen Anspitzer?« »Sprechen ist verboten!« Das Lineal zuckte bedrohlich. »Wenn du diesen Test nicht korrekt fertig schreibst, schicke ich dich für den Rest deines Lebens ins Büro des Rektors!« . Mit einem wachsamen Auge auf das Lineal schielend, machte sich Roan ans Werk. Mit seinem Taschenmesser schnitzte er die Bleistiftenden rasch zu sauberen Spitzen und fegte die Späne säuberlich mit dem Handrücken in eine tintenbefleckte Mulde auf der Pultplatte. Sodann schlug er die erste Seite des Tests auf. In riesigen schwarzen Lettern stand über einer leeren Seite die Frage: WAS IST DER ZWECK DEINER REISE? Roan starrte bestürzt auf das leere Blatt. Es war ein Aufsatz-Test. Er
steckte das Radiergummi-Ende des Bleistifts in den Mund. Wie soll ich anfangen? fragte er sich. Am besten formulierte er es so einfach wie möglich. Aber würde das den Ansprüchen des Richters genügen? Von großer Angst erfüllt, setzte er die Spitze des Bleistifts auf das Papier und begann zu schreiben. »Wir versuchen zu verhindern, dass eine Vorrichtung zur Halle der Schläfer transportiert wird, die, sollte sie zum Einsatz gebracht werden, Letztere wecken würde«, schrieb er. »Es ist von lebenswichtiger Bedeutung für die Sicherheit des Traumlandes, dass die Missetäter aufgespürt, dingfest gemacht und zurück nach Mnemosyne zum König verbracht werden.« Na bitte, das war doch schonmal gar nicht so schlecht. Zumindest war die Seite jetzt nicht mehr leer. Aber seine Antwort wirkte zu kurz. Das leere Weiß darunter grinste ihn höhnisch an. Da warteten noch Dutzende leerer Seiten, die es zu füllen galt. Er musste sich mehr einfallen lassen. »In meiner Eigenschaft als Sonderinvestigator des Königs fiel mir die Aufgabe zu, die Vorrichtung zu verfolgen. Alle, die mich begleiteten, waren Freiwillige, einschließlich Ihrer Hoheit, der Prinzessin Leonora. Sie kamen mit mir, um das Traumland vor der drohenden Vernichtung zu bewahren.« Während Roan schrieb, war ihm die ganze Zeit über bewusst, dass Brom sich immer weiter entfernte. Er hatte sie an der Nase herumgeführt, kein Zweifel, und das mit einem der ältesten Tricks, die es gab, nämlich indem er sie dazu verleitet hatte, einem Lockvogel zu folgen und prompt in eine Falle zu tappen. Und sich selbst hatte Brom mit demselben Trick aus der Schlinge herausgewunden, den er schon einmal angewendet hatte. Wie hatten sie das nur vergessen können! Die Verzerrung, die der WECKER um sich herum in Reverie erzeugt hatte, war größer als alle anderen, die er bis dahin anrichtete. Wenn Bergold und Lum Glück hatten, würden sie die Fährte sofort wieder aufnehmen können; aber was, wenn
nicht? Vor Aufregung drückte er zu fest mit dem Bleistift auf das Papier, und die Mine brach ab. Roan klappte sein Taschenmesser auf, um den Bleistift wieder anzuspitzen. Sofort fuhr der Proktor herum, fixierte ihn mit strengem Blick und haute mit dem Lineal auf den Tisch. Roan zog seine Hand weg, aber das Lineal machte regelrecht Jagd auf sie. Ein klatschender Hieb erwischte ihn schmerzhaft am Handgelenk. Er riss die Hand weg und umklammerte das Handgelenk mit der anderen Hand. »Lass dir das eine Lehre sein!«, schnarrte der Proktor und wandte sich wieder von ihm weg. Roan wagte gar nicht erst zu protestieren. Er spitzte seinen Bleistift zu Ende und wandte sich wieder seinem Aufsatz zu. Die Worte kamen langsam, aber stetig. Er formulierte seine Sätze mit Sorgfalt, hob hier etwas hervor, das ihm wichtig erschien, radierte da eine gar zu blumige Wendung wieder aus. Mit einem schwungvollen Schnörkel setzte er den Schlusspunkt auf das Papier. Na siehste, das war doch gar nicht mal so schlecht geraten! Dicke schwarze Lettern erschienen unter seinem Text. >ERKLÄRE VORRICHTUNG<, lautete die Anweisung. Roan brachte alles zu Papier, was er über den WECKER wusste oder mutmaßte, einschließlich seiner Eindrücke von dem Klang seiner Glocken und der verheerenden Auswirkungen, die sein Transport auf das Land hatte, durch das er kam. Als Beispiel erwähnte er das monströse HalbEichhörnchen-halb-Kardinalvogel-Wesen, das sie gesehen hatten. >ERLÄUTERE GEFAHR FÜR DIE SCHLÄFER<, verlangte das Papier. Ungeduldig schrieb Roan nieder, was er wusste oder zu wissen glaubte über Erwecken, Umbruch und die Theorien der Historiker, was passieren würde, wenn alle sieben Provinzen
gleichzeitig einen Umbruch erlebten. Er huschte mit dem Bleistift über das Papier, füllte Seite um Seite. Als er mit der Beantwortung der Frage fertig war, kam eine weitere. Und dann noch eine. >ERÖRTERE AUSFÜHRLICH DIE LEGENDE VON DER HALLE DER SCHLÄFER. FÜHRE SPEZIFISCHE BEISPIELE AUS DER GESCHICHTSDOKUMENTATION AN.< Roan fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Warum mussten sie ausgerechnet das fragen? Er hatte keinen formellen Studiengang in dem Fach Schläferkunde absolviert, wenn man von der Pflichtlektüre zu dem Thema in der Schule einmal absah, aber das war Jahre her. Vieles von dem, was er wusste, hatte er sich durch mehr oder weniger unsystematische, beiläufige Lektüre angeeignet oder durch Zuhören bei gelehrten Diskussionen unter den Kollegen seines Vaters aufgeschnappt. Er musste sich konzentrieren. Das Schicksal des Traumlandes hing von seinen Antworten ab. Wenn er hier weiter festhing, würde Brom sein ruchloses Experiment durchführen und alles würde sich in Nichts auflösen. Wie sollte er sich da auf philosophische Fragen konzentrieren! Jetzt nur nicht in Panik geraten, mahnte er sich. Denk nach! Überlege! Er schrieb auf, was er wusste, oder an was er sich genau erinnern konnte. Die Frage zwang ihn dazu, seine eigenen Überzeugungen zu überprüfen, was dazu führte, dass er sich fragte, ob er überhaupt irgendetwas wusste oder ob alles nur Einbildung war, wie nicht wenige der Philosophen behaupteten. Die Antwort füllte viereinhalb Seiten. Zum Schluss war er sich nicht mehr sicher, ob irgendetwas von dem, was er geschrieben hatte, überhaupt einen Sinn ergab. Weitere Fragen folgten und sie wurden immer spezieller. >WAS IST DER SINN UND ZWECK DES TRAUM LANDES IM HINBLICK AUF DIE SCHLÄFER?< Er fühlte sich zunehmend unbehaglicher, als er mehrere Fragen
unbeantwortet lassen musste. In dem Maße, wie seine Nervosität wuchs, wuchs auch der Stoß Papier unter seiner Hand, bis er schließlich mehr als fünfhundert Seiten stark war. Was würde mit ihm geschehen, wenn er die Antworten nicht wusste? Würden sie ihn für immer in diesem Turm eingesperrt halten? Würde er wirklich für den Rest seines Lebens nachsitzen müssen? Er musste so schnell wie möglich hier raus und zu seinen Freunden, damit sie Brom gemeinsam weiterverfolgen konnten. Er holte tief Luft und schrieb weiter so schnell er konnte. >WARUM IST DIE PRINZESSIN LEONORA MIT DIR GEREIST? WELCHES SIND DIE RECHTE UND BEFUGNISSE DER PALASTWACHE IN SITUATIONEN AUSSERHALB DES PALASTGELÄNDES? ERÖRTERE DIE BEZIEHUNG EINES SOUVERÄNS ZU SEINEN LEHNSLEUTEN. GLAUBST DU, EINE DEMOKRATISCH GEWÄHLTE REGIERUNG WÄRE FREIEM GEISTIGEM AUSTAUSCH FÖRDERLICHER?< Ein Blick durch das Fenster zeigte ihm, dass die Sonne bereits im Untergehen begriffen war. Die Stadt Reverie ging ihren Geschäften nach, offenbar ohne zu wissen, dass der Welt ein großes Unrecht zugefügt worden war und dass ausgewiesene Schurken frei herumlaufen durften. Roan machte sich große Sorgen um Leonora. Er hielt mit dem Schreiben inne und starrte hinauf zu den Gaslampen an der Wand, während er versonnen mit seinem Bleistift herumspielte. Der Ritter brachte Leonora jetzt heim zum Palast. Würde der König sehr böse auf sie sein? Oder auf ihn, Roan? Würde ihr Davonlaufen Roans Chancen, ihre Hand zu erringen, schmälern oder gar zerstören? Das Testpapier schien seine Gedanken zu lesen. >GIB'S ZU, stand da, als er auf das Blatt schaute. DU WILLST DIE PRINZESSIN NUR HEIRATEN, DAMIT DU KÖNIG DES TRAUMLANDES WERDEN KANNST.<
»Nein, das stimmt überhaupt nicht!«, wehrte sich Roan gekränkt. Das Lineal klatschte auf seine Hand und der Bleistift flog in hohem Bogen durch das Zimmer. »Reden ist verboten!«, schnauzte der Proktor. Roan ballte die Hände zu Fäusten. Wie konnten sie es wagen, seine Liebe infrage zu stellen? Was ging die das überhaupt an? Und außerdem: Was für eine Frechheit gegenüber der Prinzessin, auch nur den Verdacht zu äußern, sie könnte Mittel zu irgendeinem Zweck sein - statt der Zweck an und für sich, der Zweck schlechthin zu sein! Ganz zu schweigen von der Geringschätzung seiner Loyalität! Er nahm den zweiten Bleistift und schrieb, von heiligem Zorn gegen seine unsichtbaren Inquisitoren erfüllt. Aber das Niederschreiben all der Gründe, warum er Leonora liebte, half ihm, sie sich selbst richtig bewusst zu machen. Warum liebte er sie? Roan empfand plötzlich weniger Angst und seine Gedanken klärten sich. Er wusste, wie er diese Frage zu beantworten hatte. Wie einfach! Er brauchte ja bloß die Wahrheit zu sagen! Leonora war unberechenbar, intelligent, herausfordernd, hingebungsvoll, mitfühlend und verantwortungsbewusst. Das waren freilich nur Etiketten. Wie konnte er jemandem nahebringen, dass ihm, wenn er sie ansah, der Atem stockte; wenn er zu heftig ausatmete, würde er die Seifenblase des Augenblicks zum Platzen bringen und sie verschwände. Für ihn war sie der Sonnenschein und der süße Duft von Rosen - und alle anderen kostbaren Dinge, die nicht greifbar waren. Es wäre einfach unlogisch gewesen, sie nicht zu lieben. Der Stoß mit den Testbögen schmolz dahin, bis es schließlich weniger als zehn waren. Roan schrieb mit flotter Hand. >ERLÄUTERE, ERÖRTERE<, verlangte das Testpapier. Roan erläuterte seine Gefühle und erörterte, wie er vom Schuljungen, der sie als eine - wenn auch königliche - Spielgefährtin betrachtet hatte, zu ihrem glühenden Verehrer herangewachsen war. Wie glücklich
er sich schätzen konnte dass sie ihm trotz seiner seltsamen Immergleichheit zugetan war, dass sie ihm Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft machte, dass sie auch dann an ihn glaubte wenn er den Glauben an sich selbst verlor. Leonora war zu einer komplexen und wunderbaren Frau gereift. Wie schnell sie es geschafft hatte, sich auf das Leben auf der Landstraße einzustellen. Er grinste in sich hinein, als er darüber nachdachte, was man wohl leisten musste, um eine Eins in romantischer Liebe zu bekommen. Sie würde ganz bestimmt eine glatte Eins kriegen. Und er? Ach, er tat halt, was er konnte. Befeuert von den Gedanken an sie füllte er Seite um Seite. Als Nächstes verlangte der Test von ihm das Verfassen eines Liebesgedichtes von mindestens acht Zeilen in jambischem Pentameter. Nicht nur, dass er sich erinnern konnte, was ein jambischer Pentameter war - er schüttelte die Verse nur so aus dem Handgelenk, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als Liebesgedichte zu schreiben. Der Stoß Papier schmolz unter seiner Hand dahin, bis schließlich nur noch ein einziges Blatt übrig war. >ERKLÄRE DIE BEDEUTUNG VON LIEBE IN BEZUG AUF DEINE PERSON.< Roans Gedanken strömten jetzt nur so und es erschienen keine weiteren Fragen. Wenn er mit dieser Frage fertig war, würden sie ihn gehen lassen müssen. Er kritzelte seine Erinnerung an das erste Mal, als ihm klar wurde, dass er in Leonora verliebt war, auf das Blatt Papier; wie sie ihn angesehen hatte, und wie er plötzlich gewusst hatte, dass er für immer ein anderer sein würde. Die Erinnerung daran war so frisch, als wäre es erst gestern gewesen. In jenem Augenblick war er erhöht und erniedrigt. Der Bleistift schrappte auf dem Papier und Roan überprüfte ihn. Die Mine war bis auf das Holz heruntergeschrieben. Er nahm sein Taschenmesser zur Hand, um ihn neu anzuspitzen und schnitzte Span um Span weg. Obwohl der Stift immer
noch drei Zoll maß, war keine Mine mehr in ihm. Er legte ihn beiseite, hob den anderen vom Boden auf und schrieb weiter. Nur noch zwei Abschnitte, dann hatte er's geschafft. Der zweite Bleistift verwandelte sich in einen Gänsekiel. Roan suchte nach einem Tintenfass, aber er konnte keines finden. Die Tischplatte des Pults war schwarz von der verschütteten und getrockneten Tinte von Dutzenden von Schulkindern aus vergangenen Zeiten. Er versuchte, vermittels Einflusses etwas davon zusammenzukratzen und zu verflüssigen, aber die winzigen Tröpfchen, die er erzeugte, wollten sich einfach nicht zu einer brauchbaren Pfütze zusammenfügen. Er stippte den Gänsekiel mehrere Male in eines der flüchtigen Tröpfchen, aber für mehr als einen Punkt oder ein Komma reichte die an dem Kiel haftende Flüssigkeit nicht. Ihm lief die Zeit davon. Brom marschierte unterdessen mit dem WECKER munter weiter nach Nordwesten. Wenn er losschrillte, dann würde es einerlei sein, wie viele von den Fragen er richtig beantwortet hatte. Er brauchte Tinte. Was konnte er stattdessen nehmen? In seiner Verzweiflung stach er mit der Spitze des Gänsekiels in eine Ader auf seinem Handrücken. Roan zuckte zusammen, als das Blut herausquoll, aber er tunkte tapfer die Federspitze in das rote Nass und schrieb damit weiter. Beeil dich, trieb er sich an, mach zu! » ... Und weil ich weiß, dass sie mich auch liebt, hoffe ich, eines Tages um ihre Hand anhalten zu können.« Triumphierend setzte er den Schlusspunkt. Der Proktor erschien an seiner Seite und raffte den Stoß Papier zusammen. »Deine Zeit ist abgelaufen«, sagte die harte, schneidende Pädagogenstimme. »Ich bin fertig«, sagte Roan. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und presste sein Taschentuch auf die blutende Hand.
»Werd nicht frech!«, herrschte der Proktor ihn an, dann wandte er sich ab und löste sich in Luft auf. Roan stand von seiner Schulbank auf, um die Glieder zu strecken. Sein Hinterteil, seine Knie, sein Handgelenk, alles schmerzte und war steif - aber er fühlte sich gut. Auch sein Geist war gestreckt worden. Was für eine Fracht von alter Geschichte er in der Erinnerung mit sich herumtrug! Er war überhaupt überrascht, dass er sich hatte erinnern können. Sogar mehr noch: Er war in der Lage gewesen, jemandem genau zu beschreiben, was er so sehr an Leonora liebte. Er wünschte sich nur, es wäre sie gewesen, der er das alles hätte sagen können. Es war allerhöchstwahrscheinlich das Beste für sie, dass sie nach Mnemosyne zurückgeschickt worden war. Sie würde zu Hause sicherer sein, aber er würde sie schrecklich vermissen. Wenn diese Mission vorüber und das Traumland gerettet war, würde er sie beiseite nehmen, an irgendeinen ruhigen Ort, wo sie ungestört waren, und ihr alle die Dinge erklären, die er über sich selbst und über sie gelernt hatte. Roan ging zum Fenster und blickte hinaus über die Stadt Reverie. Zu seiner Verblüffung ging die Sonne auf. Er hatte die ganze Nacht für den Test gebraucht. Wie weit war Bergold in dieser Nacht vorangekommen? Und Brom und seine Leute? Wo waren sie jetzt? Hatte die Schlacht ohne ihn stattgefunden? Wie lange würde es noch dauern, bis sie den Test bewertet hatten und ihn rausließen? Er begann nervös auf und ab zu schreiten. Seine Ungeduld wuchs, bis er schließlich das Gefühl hatte, er würde jeden Augenblick platzen. Er zwang sich zur Ruhe, setzte sich an das kleine Pult und streckte seine langen Beine vor sich aus. Er würde geduldig warten. Lichtfinger krochen langsam zum Rand des steinernen Fenstersimses. Roan betrachtete sie, bis sie bis zum inneren Rand reichten. KLATSCH! Das Geräusch des auf die Tischplatte knallenden Lineals ließ Roan aus tiefem Schlummer hochschrecken. Es war inzwischen helllichter Tag, und
Staubkörnchen tanzten in dem strahlenden Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Er blickte auf und schaute in das tadelnde Gesicht des Proktors. »Du hast bestanden«, sagte die dünne Stimme, wobei die Mundwinkel nach unten gezogen waren. »Deine Antworten waren befriedigend. Nicht voll befriedigend, aber befriedigend. Du kannst gehen.« So würde die Welt denn also von einem durchschnittlich bis guten Schüler gerettet werden müssen, nicht von einem Einserstreber. Roan verschwendete keine Zeit damit herauszukriegen, wer seinen Aufsatz bewertet hatte und sich mit ihm oder ihr über die Note zu streiten. Er sammelte seine Habseligkeiten zusammen und verließ die Stadt über die Landstraße, die nach Norden führte. »Sir!«, rief ihn eine Stimme an, als er die Nordbrücke überquerte, die identisch war mit der Brücke an der Südseite der Stadt. Roan wandte den Blick in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein junger Mann mit einem frischen, rosigen Gesicht und hellbraunem Haupthaar trat in Tarnkleidung hinter dem Baum hervor, an dem er sich ausgeruht hatte. »Soldat Hutchings, Sir. Ich habe auf Sie gewartet. Korporal Lum meinte, Sie würden eine Eskorte brauchen. War es sehr schlimm?« »Schlimm genug«, sagte Roan. »Aber jetzt bin ich ganz heiß darauf, endlich weiterzumarschieren.« »Ganz Recht, Sir«, sagte Hutchings. Er steckte den Daumen und den Zeigefinger in den Mund und pfiff. Roan hörte das Klirren von Geschirr. Cruiser und Hutchings' Dienstross kamen aus dem Unterholz getrabt. »Er hat draußen vor dem Gerichtsgebäude auf Sie gewartet«, erklärte Hutchings, während Roan die weiche Nase seines Reittiers tätschelte und in seiner Tasche nach einem Stück Zucker kramte. Cruiser wieherte und zermalmte glücklich das
dargebotene Naschwerk. »Wollte nicht, dass er im Pferch des örtlichen Fundbüros als herrenlos eingesperrt wird.« »Danke«, sagte Roan und schwang sich in den Sattel. Cruiser schnaubte leise und zuckte mit seinen langen Ohren. »Wie viele von den anderen sind bei uns geblieben?« »Alle, Sir«, sagte Hutchings, sichtlich stolz. »Wir sind ein echtes Team. Sie lassen Ihnen alle ihre besten Wünsche ausrichten. Sind Sie bereit? Ich habe Frühstück bei mir, das können wir beim Reiten essen. Korporal Lum sagte, er hinterließe eine Spur für uns. Glauben Sie, Meister Brom hat irgendwelche Spitzel oder Fallen für uns zurückgelassen?« »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Roan und spornte Cruiser zum Trab an. »Denken Sie immer, dass er uns zwei Schritte voraus sein wird, weil - er das nämlich ist.«
26. KAPITEL Taboret empfand ein unterschwelliges Gefühl von Kummer, als sie aus Reverie herausschossen. Brom hatte dafür Sorge getragen, dass ihre Flucht so leise wie irgendmöglich vonstatten ging. Sie hatten das Motorengeräusch ihrer Krafträder bis zur Stadtgrenze gedämpft; gleich dahinter hatte sich der eingepferchte Lärm mit einem gewaltigen Röhren Luft verschafft. Als die Ersten endlich begriffen hatten, dass sie weg waren, war nur noch eine Staubwolke von ihnen zu sehen gewesen. Ach, warum hatte Roan sie nicht überlistet? Dann wären sie jetzt schön inhaftiert und würden sicher und wohlbehalten nach Mnemosyne zurückverfrachtet. Sie wusste, dass sie nicht die einzige war, die Angst hatte. Brom war verrückt. Sie unterdrückte diesen Gedanken sofort, als er in ihrem Hirn auftauchte, aber sie fühlte, wie er leise durch das geistige Band widerhallte. Wer hatte das sonst noch gedacht? Taboret sah sich verstohlen um. Basil musste das gewesen sein. Er fuhr an der Vorderseite des WECKERS, die Schultern unter der Last der Trage gekrümmt, den Kopf ein klein wenig tiefer gesenkt haltend als nötig, damit niemand ihm in die Augen sehen konnte. Wer sonst noch? Carina? Gano? Aber dies war ein gefährliches Ratespiel. Taboret spürte ein unverkennbares Frösteln, und sie wusste, dass der Oberste Wissenschaftler selbst sie anschaute. Sie brauchte sich dazu nicht einmal umzudrehen. Sie verbannte sofort alle rebellischen Gedanken aus ihrem Kopf und konzentrierte sich darauf, mit einem Abstand von fünf Fuß - nicht mehr und nicht weniger hinter Ganos grünem Ross herzufahren. Angepasstheit, Gehorsam und Schnelligkeit, das war alles, was von ihr verlangt wurde. Carinas Reittier spannte sich, um über ein Schlagloch in der
Fahrbahn hinwegzuspringen, und landete hart auf der anderen Seite, durch die Wucht des Aufschlags seine Reifen regelrecht plattquetschend. Bolmers Ross, gleich hinter ihr, scheute vor dem großen Loch und kurvte stattdessen um es herum, wobei es Glinns Ross aus der Bahn drängte. Taboret war überrascht, denn es war ein leichter Sprung. Sofort fühlte sie, wie Missbilligung durch das Band brandete. »Halt!«, schrie Brom. »Bolmer, was ist los mit Ihrem Motorrad?« »Es wird müde, Herr«, sagte Bolmer, am Gasgriff seines Bikes drehend. Es gab ein tiefes Dröhnen von sich. »Mir fällt schon seit einer Weile auf, dass es nicht mehr so gut mit den anderen mithält. Es könnte Materialermüdung sein.« »Ich habe bei meinem eine ganz ähnliche Schwäche bemerkt«, sagte Glinn. »Sollten wir uns nicht darauf konzentrieren, neue Rösser auszubrüten? Wir haben noch reichlich Büroklammern.« »Nur wenn wir sie sofort zu Motorrädern heranzüchten können«, sagte Mamovas, der Spezialist in unbelebter Biologie. »Neue Fahrräder wären zu langsam. Jetzt da die Krone weiß, wo wir sind, müssen wir Tempo machen.« »Wusste, wo wir waren«, verbesserte ihn Brom. »Abgesehen davon wollte dieser Einfaltspinsel von einem Polizeichef nicht in die Sache hineingezogen werden. Bis der eine Nachricht von der Krone mit klaren Anweisungen erhält, uns zu folgen, haben wir unser Experiment längst abgeschlossen.« »Nun, die Rösser tun, was sie können«, sagte Glinn. »Sie müssen an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sein.« »Dann ist es Zeit für die nächste Phase«, sagte Brom »Plan 16. Wir werden sie zu einer einzigen Einheit zusammenfügen, die in der Lage ist, uns alle zusammer mitsamt dem WECKER zu tragen, wodurch die einzelnen Einheiten weniger stark
beansprucht werden. Gehen wir runter von der Straße und bereiten den Schmelztiegel vor.« Sie holperten von der Straße herunter in das dichte, würzig duftende Strauchwerk und rumpelten über Röhricht und sumpfige Stellen. Erschrockene Frösche hüpften in alle Richtungen davon, um nicht von ihnen überrollt zu werden. Als sie auf eine einigermaßen trockene Lichtung kamen, hob Glinn den Arm zum Zeichen, dass sie anhalten sollten. »Alle bis auf Maniune und Acton«, sagte Brom. »Sie müssen mobil bleiben, um unsere Passage zu bewachen.« Die Söldner zogen sich auf ein trockenes Fleckchen zurück und gingen dort auf Beobachtungsposten, während die anderen absaßen und sich im Kreis um die Motorräder aufstellten. Taboret ergriff die Hände der beiden Leute links und rechts von ihr. Basil war heute sehr klein, er ging ihr lediglich bis zur Hüfte, wohingegen Carina sehr groß und stämmig war - wie eine menschgewordene Eiche. Taboret hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick nach links wegkippen, aber Carinas starker Arm hielt sie aufrecht. »Plan 16«, kündigte Glinn an und ließ ihnen Zeit, um die genauen Details und Spezifikationen aus der Erinnerung abzurufen. Jetzt gab es kein Abschreiben von Spickzetteln mehr. »Massentransport.« Dunst stieg von dem sumpfigen Grund auf, hüllte die Motorräder ein und verwandelte sich rasch in einen Wirbelwind. Im Geiste sah Taboret ein busähnliches Gefährt vor sich, eine pferdelose Kutsche mit großen Rädern und gepolsterten Sitzen. Nein, sie hatte die Spezifikationen überschritten. Die Gedanken von jemand anderem korrigierten ihre. Plan sechzehn bedeutete: ein Minimum an Komfort, verbunden mit einem Höchstmaß an Effektivität. Die Sitze hatten lediglich eine dünne Gummipolsterung, die verhindern sollte, dass die Fahrgäste abrutschten. Der wirbelnde Wind
peitschte ihre Wangen, zerrte an ihren Kleidern. In seinem Innern verschmolzen die gebogenen Formen zu einem großen, dunklen Klumpen, der erst zusammenschrumpfte und sich dann auszuwölben begann, wobei er Höcker und Kanten annahm. Plötzlich stockte der Kraftfluss. Taboret spürte, dass jemand den Kreis durchbrochen hatte. Sie ließ ihre Kameraden los und wandte sich um, um zu schauen. Der Wirbelwind legte sich schlagartig. Ein Vehikel kam darunter zum Vorschein. Das war die einzige Bezeichnung, die sie dem Ding geben konnte. Es war anders als alles, was sie je gesehen hatte. Es entsprach auch nicht den Diagrammen, die Brom ihnen zu lernen aufgegeben hatte, bevor sie von Mnemosyne aufgebrochen waren. Dieses war ähnlich, aber auf eine perverse Art. Auf einem Chassis mit zahllosen Rädern ruhte eine unüberdachte Plattform, die mit ledernen Sitzen bestückt war. Es waren freilich keine Sitze im herkömmlichen Sinn: man musste rittlings auf ihnen Platz nehmen wie auf dem Rücken eines Schaukelpferdes. Vor jedem dieser >Sitze< hing eine metallene Querstange zum Festhalten - das war alles, was von den Motorrädern übriggeblieben war. Die Sitze waren paarweise angeordnet: jeweils drei zu beiden Seiten eines leeren Mittelganges, der groß genug war, um ihr Gepäck und den WECKER aufzunehmen. Ein kurzer Blick durch die Runde zeigte ihr, dass sie nicht die einzige war, die sich entsetzt über das Erscheinungsbild des Gefährts zeigte. »Es wird reichen müssen«, sagte Brom, dem äußerlich nicht anzusehen war, ob er ihr Entsetzen bemerkte. »Jetzt ladet rasch eure Sachen und den WECKER auf und dann nichts wie los!« Mit diesen Worten hüpfte er auf die Plattform. Er schürzte seine Robe, um sich nicht zu verheddern und schwang sein behostes Bein über den Sattel auf der Vorderseite des Vehikels. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Unsere Verfolger werden nicht ewig in Reverie aufgehalten werden.«
Taboret erkannte sofort, dass das Vehikel missraten war. Es besaß längst nicht diese Aura von Vollkommenheit, die ihre Lager oder auch ihre künstlichen Ärgernisse ausgezeichnet hatte. Es war schäbig anzusehen, wie als wäre es aus Ersatzteilen zusammengeschustert. Statt an anderen Reisenden mit Würde und Stil vorbeizugleiten, mussten sie befürchten, ausgelacht zu werden. Sie spürte die unterschwellige Enttäuschung der anderen, als sie ihre Plätze einrahmen. Glinn ließ sich neben ihr auf seinem Schaukelpferdsitz nieder und hielt sich an der metallnen Querstange fest. Taboret blickte zu ihm hinauf und er lächelte ihr zu. Sie war froh, in seiner Nähe zu sein. Er strahlte immer so viel Zuversicht aus. Zu ihrer anderen Seite stand, verborgen unter seiner Segeltuchplane, der WECKER, ein bösartiger, furchteinflößender Trumm. Brom trat auf ein großes Bodenpedal. Die kombinierten Motoren unter der Plattform nahmen mit einem lauten Dröhnen ihren Dienst auf und das Vehikel setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Groß und ungefügig, wie es war, hatte es natürlich einen riesigen Wendekreis. Brom zog es in einem weiten Bogen herum, um zurück auf die Straße zu gelangen. Unter wildem Schlingern und Schaukeln pflügte das Ungetüm durch das Sumpfgelände, das Röhricht unter seinem schieren Gewicht plattwalzend. Als es seine eigene Bahn kreuzte, sah Taboret, dass es vier Reihen Reifen unter sich hatte, die es für die Durchquerung schweren Geländes geeignet machten, nicht aber für graziöses Dahingleiten. Bräunliches Sumpfwasser spritzte rings um den Rand der Plattform auf. Brom hatte zunächst Schwierigkeiten, das Vehikel auf Kurs zu halten. Wie die Dutzend Motorräder, aus denen es sich zusammensetzte, schien es in verschiedene Richtungen gleichzeitig zu streben. Als er es schließlich schaffte, das Ungetüm unter Kontrolle zu bekommen und geradeaus zu lenken, steuerte er es zurück auf die Straße.
Es stand jetzt außer Frage, dass sie für den ganzen Rest der Strecke bis zu den Bergen auf den Hauptstraßen bleiben mussten, dachte Taboret. Zum Glück gab es bis dahin nur kleine Orte. Sie würden leicht zu verfolgen sein - und schwer zu vergessen. Sie hoffte bei den Schläfern, so sie denn existierten, dass der Investigator des Königs freikäme und sie noch rechtzeitig einholte. Aber wie ginge das? Als die Wissenschaftler aus Reverie abgehauen waren, hatte der Pöbel lautstark ihren Kopf gefordert, wegen der vermeintlichen Entführung der Prinzessin. Womöglich waren sie gelyncht worden oder lebenslänglich hinter Gittern gelandet. Sie hatte die Legenden über Roan gehört, wie er aus einigen furchterregenden Abenteuern entkommen war. Sie hoffte, er würde auch diesem entrinnen und zwar schnell. Die Plattform schwankte nach links und Glinn landete fast auf ihrem Schoß. Brom fuhr immer noch so, als wäre er allein auf der Plattform: Er nahm scharfe Kurven mit zu hohem Tempo und bremste scharf vor Hindernissen an, denen es auzuweichen galt. Sie wünschte, sie führe auf ihrem eigenen Motorrad und einen Augenblick lang glaubte sie fast zu spüren wie es nach ihr rief und sie anflehte, es aus der Zwangsverbindung mit den anderen zu befreien. Eigentlich, dachte sie, dürfte es kein individuelles Besitzstreben mehr geben, und sie tadelte sich dafür, dass sie dennoch welches empfand. Dieses Motorrad war kein langgehegtes, liebgewordenes Eigentum. Es war erst vor wenigen Tagen aus einer Büroklammer erzeugt worden. Warum bereitete es ihr solches Unbehagen, in einem Massentransportmittel zu reisen? Sie schlief in Lagern, die sie mithilfe des Schmelztiegels für sie alle errichteten. Es lag wohl daran, dass das Motorrad für sie persönlich, für ihren persönlichen Gebrauch angefertigt worden war, und es für die Gruppe zu requirieren war so, als nähme man ihr einen Teil ihrer Individualität. An dem Motorrad hing sie mehr als an
irgendeinem Bestandteil eines Lagers, wie zum Beispiel einem Kochherd oder einer Latrine. Sie spürte, dass alle anderen das Gleiche dachten. Sie alle fühlten, wie ihre Identität sich auflöste, in der Gestalt aufging und dort mit den anderen verschmolz, genau wie diese Massenmonstrosität unter ihren Füßen - und das gefiel ihnen nicht. Es machte sie grantig. Private Gedanken standen hoch im Kurs. Die Gruppe durchlief regelmäßig Phasen, wo jeder alles hören konnte, was die anderen dachten; darauf folgte dann stets eine Art von Reaktion, bei der jeder gegen das Zusammengehörigkeitsgefühl rebellierte und sich gegen alle fremden Gedanken abschottete. Taboret nutzte einen dieser kostbaren Augenblicke, um den Gedanken zu fassen, dass sie vielleicht ein weiteres Zeichen für Roan hinterlassen sollte, damit er ihnen folgen konnte. Sie hoffte bei den Schläfern, dass der Investigator des Königs sie rechtzeitig einholen konnte. Aber wie? Es beunruhigte sie, dass es so leicht gewesen war, diese Polizeibeamten in Reverie durcheinanderzubringen. Diese Reise besaß keine Ähnlichkeit mehr mit einem legitimen Experiment. Sie wurde mehr und mehr ... ungesetzlich. Roans Anschuldigungen hatten sie wirklich verunsichert. Vielleicht sollte Roan die Möglichkeit gegeben werden, sie solange aufzuhalten, bis jeder die Sache in Ruhe noch einmal durchdacht hatte. Sie begann - sehr zu ihrem Entsetzen ernsthaft an dem zu zweifeln, was Brom sagte. Der Gedanke, Mittäterin bei einer kriminellen Handlung zu sein, gefiel ihr ganz und gar nicht. Die einzige Möglichkeit dass der Investigator des Königs sie finden konnte war die, dass sie einen weiteren Fingerzeig hinterließ, der auf ihre Fährte wies. Das scheußliche Vehikel kam an eine Kreuzung, und Brom stoppte, um eine Schar von Gänsen vorbeizulassen. Taboret ergriff den Moment von Privatheit in ihrem eigenen Geist.
Sollte sie? Brom bemerkte ihre Unsicherheit. Er wandte sich um und schaute ihr voll ins Gesicht. Seine leuchtenden Augen loderten vor Argwohn. Taboret fühlte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie wollte die Augen schließen, besaß aber nicht die Kraft, sich von Broms durchdringendem Blick zu lösen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick vor Entsetzen in Ohnmacht fallen. Furcht war genauso ansteckend wie Gähnen. Ein anderer wurde von ihrer Furcht berührt und sandte einen eigenen emotionalen Eiszapfen durch das geistige Band. Taboret japste, als ein unbekanntes Gefühl von Entsetzen zu ihr zurückkam, und fuhr herum, um zu schauen, wo es herrührte. Gab es da noch etwas anderes, das sie bedrohte? Die Unsicherheit jedes einzelnen brach wie ein Schwall hervor und ergoss sich in die emotionale Suppe. Was taten sie da? Wer waren diese Fremden, mit denen sie da reisten? Das Experiment konnte doch eigentlich gar nicht gelingen, oder? Das Feedback der Angst raste immer schneller durch den Kreis. Wenn Fahrräder durch den Schmelztiegel zu einem einzigen Vehikel vereint werden konnten, konnte das Gleiche dann nicht auch mit Menschen geschehen? Mit ihnen? Brom spürte, was sich da zusammenbraute. Er stand auf und hob beschwichtigend die Arme. »Ruhe! Ich verlange Ruhe!«, schrie er. Aber es war zu spät. Die Plattform begann unter seinen Füßen zu beben und sich aufzuwölben. Taboret wurde aus ihrem Sattel-Sitz am äußersten linken Rand des Vehikels geschleudert und landete hart in dem flachen Graben neben der Straße. Sie vernahm ein lautes Krachen gleich hinter sich, gefolgt von dem unverkennbaren Dröhnen einer WECKERglocke. Sie umschlang ihren Kopf mit beiden Armen und blieb still liegen, bis das Geräusch aufhörte.
Dann wälzte sie sich herum, sodass sie auf Händen und Knien lag und verharrte für einen Augenblick kopfschüttelnd in dieser Stellung. Das Haar, das um ihr Gesicht herum hing, war rot, nicht blond, wie es seit dem Morgen gewesen war. Sie mussten wieder in eine Einflusswolke geraten sein. Aber nein, das stimmte nicht. Als sie aufschaute, hatte sich das Vehikel erneut in eine klappernde Herde einzelner Motorräder zurückverwandelt, in deren Mitte die Trage mit bedenklicher Schlagseite, hing. Acton und Maniune waren sofort zur Stelle und halfen, Brom und die anderen aus dem Schlamassel zu befreien. Einige von ihnen waren wie sie aus dem Sattel geworfen worden, aber die, die weiter innen gesessen hatten, in der Nähe des WECKERS, hatten Pech gehabt. Sie steckten in der Straße fest, die vom Läuten der Glocken in Sirup verwandelt worden war. Aber der Schaden beschränkte sich nicht auf die Straße. Die Pflanzen um sie herum waren mutiert, von Gummibäumen zu ... künstlichen Gummibäumen mit Rinde aus buntem Papier und Blättern aus Folie; und durch das Unterholz rannten kleine Tiere, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Glinn hob den Arm, zum Zeichen, dass er Hilfe brauchte und Taboret und zwei von den anderen bahnten sich über umgestürzte Motorräder einen Weg zu ihm. Alle hatten Prellungen und Schürfwunden davongetragen und die Motorräder waren allesamt verkratzt und verbeult. Brom sprang auf und zog die Plane vom WECKER. Er schien unversehrt, abgesehen von einem kleinen Kratzer am Gehäuse, aber schon diese kleine Macke schien den Obersten Wissenschaftler regelrecht zur Raserei zu treiben. »Ihr Narren!«, schrie er und Dampf entwich zischend aus seinen Ohren. »Ist euch eigentlich klar, was ihr mit eurem Gefühlsausbruch hättet anrichten können? Schaut euch das an!«
»Das kriegen wir wieder wegpoliert, Herr«, sagte Glinn, der geduldig wartete, während Basil und Carina ein Motorrad von seinem Bein hoben. »Wir haben Metallpolitur und Polierwatte in unserem Werkzeugkasten.« Seine ruhige Stimme schien Brom für den Augenblick zu besänftigen, aber nur solange, bis er sich umwandte und Taboret zu Gesicht bekam. Sie zuckte unter seinem lodernden Blick zusammen und wich zurück, wohl wissend, dass sie an dem Zusammenbruch schuld war. Glinn musste ihre Angst gespürt haben, denn er streckte den Arm aus und legte die Hand auf ihren Arm. »Es hat weder Knochen- noch Kurbelwellenbrüche gegeben. Es gibt lediglich eine kleine zeitliche Verzögerung, Herr. Wir können schon in ein paar Minuten weiter.« »In Ordnung«, sagte Brom, unbesänftigt, die Augen halb geschlossen. »Aber wir werden das Ganze noch einmal von vorn beginnen müssen. Und diesmal werden sich alle voll konzentrieren. Es darf keine Uneinigkeit mehr geben.« Wieder starrte er Taboret mit funkelnden Augen an, aber Glinns warme Hand auf ihrem Arm bewahrte sie davor, in Panik auszubrechen. »Jawohl, Herr«, sagte Taboret gleichmütig. Und in der Tat empfand sie jetzt nicht einmal mehr Angst vor Brom. Von dem Augenblick an, als Glinn sie berührt hatte, hatte sie jenes fast telepathische Gemeinschaftsempfinden erlebt, das der Gestaltverbindung folgte, und sie hatte gewusst, dass er sie mochte und sie intelligent und attraktiv fand. Er fühlte, dass neben ihr auf dem kurzlebigen Bus zu sitzen mehr als angenehm war. Er sehnte sich danach, dass sich dieses Erlebnis wenn möglich wiederholte. Taboret versuchte ihre Empfindungen von Freude vor den anderen zu verbergen und gestand, dass sie ihn auch gern hatte. Sie genoss seine Gegenwart und seine Unterstützung und wusste in dem Augenblick, dass er ihre diesbezüglichen Gedanken und Gefühle aufgefangen hatte. Als
Brom sich abwandte, um jemand anderen auszuschimpfen, erhaschte Glinn ihren Blick und lächelte warm. Die tiefbraunen Augen, die er heute hatte, waren gut geeignet zum In-dieSeele-blicken. Taboret spürte ein leises freudiges Kribbeln, als sie sich erneut der Arbeit zuwandte. Sobald alle Motorräder wieder aufrecht standen, der WECKER aus dem Sirup gezogen und die Blessuren der Lehrlinge verarztet waren, ließ Brom sie erneut die Gestalt formen. »Plan 16«, sagte er. »Und diesmal macht es richtig. Die Spezifikationen sind euch bekannt.« Aber es gelang auch diesmal nicht. Taboret beobachtete mit Bestürzung, wie die Motorräder sich zusammenkauerten, müde und erschöpft ausschauend. Je mehr die Gestalt versuchte, sie zum Verschmelzen und zum Verändern ihrer Form zu zwingen, desto schlapper wurden sie. »Wir werden wohl oder übel wie bisher auf einzelnen Rössern weiterreiten müssen, Herr«, sagte Glinn und zerbrach den Kreis. Taboret empfand Erleichterung, als der weiße Dunst sich verzog, und sie spürte durch das Band, wie diese Erleichterung von den anderen geteilt wurde. »Sie können sich nicht so rasch schon wieder so drastisch verändern. Sie sind schließlich bloß Materie. Sie besitzen nur minimale eigene Energie. Wenn wir sie überbeanspruchen, riskieren wir, sie ganz zu verlieren.« Brom überprüfte die Motorräder selbst und setzte einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf, der seine Gereiztheit kaschierte, die noch immer deutlich greifbar in der Luft hing. »Na schön. Dann versuchen wir es halt später noch einmal.« Jeder zog sein murrendes Motorrad aus der Masse der Rösser heraus und saß auf. Fast jeder hatte die eine oder andere Blessur. Jedes Motorrad wies mindestens eine Delle oder Macke auf. Basil war fast hinter dem WECKER gewesen. Er
bewegte sich sehr langsam und schonte sein linkes Bein. Bolmer hielt sich den linken Unterarm. Dies war sein zweiter schwerer Unfall und er war ziemlich bissig. »Wenn ihr euch alle nur richtig konzentriert hättet«, schimpfte er, während er sich den geschwollenen Arm massierte, »hätte das Ding gehalten und keiner von uns hätte sich wehgetan.« »Tu nicht so, als ob du der Turm der Kraft wärst«, erwiderte Carina mit verächtlichem Schnauben. »Es war ihre Schuld«, sagte Lurry, auf Taboret zeigend. »Sie hat damit angefangen.« »Freunde, bitte!«, sagte Glinn, um sie abzulenken. »Ist irgendjemand ernsthaft verletzt? Nein? Sollten wir dann nicht besser weiterfahren? Wir wollen doch bis zum Einbruch der Dunkelheit noch ein gutes Stück Weges zurücklegen.« »Ja«, sagte Gano mit einem mitfühlenden Blick auf Taboret. »Es ist ja nicht so, als ob irgendjemand sich abstrampeln müsste. Kommt, Leute.« Taboret war froh und dankbar, aber sie ließ sich ans Ende der Reihe zurückfallen. Sie hoffte, allein fahren zu können, so weit weg wie möglich von den Launen der anderen. Ihre Prellungen befanden sich größtenteils auf der linken Körperseite. Es war in der Tat ein Glück, dass sie nicht in die Pedale zu treten brauchten. Zu ihrer Bestürzung entschied sich Bolmer, auf seinem verbeulten Motorrad neben ihr zu fahren. Die Motoren sprangen an, nicht ohne das eine oder andere protestierende Stottern und die Gruppe fuhr weiter. Vorneweg, flankiert von dem Söldnerpaar, saß Brom auf seinem Ross, hoch aufgerichtet, den Hals nach vorn gereckt. Taboret wusste, dass er jetzt nicht mehr über sie nachdachte. Er war mit seinen Gedanken weit weg; wahrscheinlich war er dabei, über eine Lösung für das Massentransportproblem nachzusinnen. Bolmer begann über irgendetwas herumzunörgeln; Taboret stellte ihre
Ohren sofort auf Durchzug. Schnell, sagte ihr Gehirn, als sie spürte, wie der Druck der Beobachtung durch den Boss von ihr wich, jetzt sieh zu, dass du deinen Fingerzeig hinterlässt. Die glatte, frisch gepflasterte Fahrbahn bot keine Möglichkeit, eine Botschaft für ihre Verfolger zu hinterlassen. Es gab keine Schlaglöcher oder ausreichend breite Fugen, in denen man mit dem Reifen hätte hängenbleiben können, um einen Sturz hinzulegen. Die Bäume, die die Straße in kleinen Gruppen flankierten, waren jung und dünnstämmig. Sie waren kaum breit genug, um ACHTUNG mit dem Finger auf irgendeinen von ihnen zu schmieren. Und was würde sie sagen, wenn einer von den gedungenen Schlägern noch einmal umkehrte und ihre Botschaft sah? Nein, es müsste ein deutlich erkennbarer, bezeichnender Gegenstand sein, der sich aus keinem anderen Grund auf dieser Straße befinden konnte, und es müsste etwas sein, das als zufällig dort liegend durchgehen konnte. Sie kamen durch ein kleines Städtchen. Brom befahl ihnen, den WECKER als Heuwagen zu tarnen. Taboret hatte erst wieder Gedankenfreiheit, als sie am letzten Haus vorbei gekommen waren. Ihre Chance kam unmittelbar danach, an der nächsten Querstraße. Auf der Landkarte vor ihrem geistigen Auge, die sie mit allen anderen in der Gestalt teilte, sah sie, dass sie zur Grenze zwischen Wocabaht und Rem führte. Brom war so sehr damit beschäftigt, darauf aufzupassen, dass der WECKER ohne anzustoßen die scharfe Biegung nach links nahm, dass die Fahrer am Ende des Pulks für einen Augenblick unbeobachtet blieben. »Halt!«, rief Brom. »Lurry, Sie und Basil, strengen Sie Ihren Verstand an. Wir benötigen ein Abschreckungsmittel, das wir hier an dieser Stelle zurücklassen. Nur für den Fall, dass.« »Aber Roan und seine Leute sind in Reverie in Haft!«
protestierte Glinn. »Die Haft ist nur vorübergehend«, belehrte ihn Brom. Er wandte sich zu Basil. »Bleiben Sie hier, bis Sie den Auftrag erledigt haben und kommen dann nach.« Taboret konnte Basils Widerstreben spüren, aber er gehorchte und lenkte sein Motorrad an den Straßenrand. Kurzentschlossen riss sie den obersten Knopf von ihrer Tunika. Als sie um die Ecke fuhr, ließ sie ihn auf der neuen Straße ganz dicht an den Büschen fallen, damit die Verfolger erkennen könnten, welchen Weg sie genommen hatten, und gewarnt waren, dass sich etwas vor ihnen befand. So, jetzt war es vollbracht. Wenn Roan und seine Freunde es bis hierher schafften, würden sie es sehen. Der Rest des Nachmittages verging ereignislos. Jeder fing an, sich wieder zu entspannen und das geistige Band begann sich mit oberflächlichen Gedanken zu füllen. Taboret unterdrückte die Angst, die sie empfand, dass irgendjemand ihre hochverräterische Tat beobachtet haben konnte. Sie versuchte zu vermeiden, allzu tief in den beständig dahinplätschernden Gedankenfluss hineingesogen zu werden, aber sie musste andererseits kooperieren und Teil der Gestalt sein - oder Brom erklären, warum sie es nicht tat. Zum Glück gingen auch Gano, Basil und Carina die ständigen Übergriffe auf ihre privaten Gedanken zunehmend gegen den Strich. Und keiner verspürte ein gesteigertes Interesse, persönlich die intimen Gedanken der Zwillingsbrüder kennenzulernen, die innen genauso abstoßend und widerwärtig waren wie außen. Dank den Sieben - so sie denn existierten und Taboret hoffte inbrünstig, dass sie es taten -, dass Glinn da war. War dieses warme, flaumige, verschwommene Gefühl bloß das geistige Band, das sprach? War sie jetzt dauerhaft mit der gesamten Gruppe verbunden, im Laboratorium und außerhalb? Würden sie eine Massenehe oder irgendeine ähnlich geartete Bindung
eingehen, wenn dies alles vorbei war? Der Gedanke stieß sie zutiefst ab. Nein, dachte sie, als sie ihre Gefühle sorgfältig überprüfte, ich empfinde noch immer keine Zuneigung für Brom oder Doolin und Dowkin. Sie vermutete, dass es später dazu kommen konnte - und hoffte aufrichtig, dass es das nicht tun würde. Die Gefühle, die sie hatte, galten allesamt ausschließlich Glinn. Dann und wann fühlte sie, wie ein Funke der Erwiderung von ihm durch das Band zu ihr zurückkam. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Fahrt endlich zu Ende war, damit sie ihn beiseite nehmen und herausfinden konnte, ob sie sich die quälenden Bilder, die ihr im Kopf herumspukten, ausgedacht hatte. Die Vorfreude nahm sie so gefangen, dass sie die Sache mit dem Knopf ganz vergaß. Sie fiel ihr erst wieder ein, als sie die Stelle erreichten, die Brom für das Nachtlager ausersehen hatte. »Taboret, an deiner Tunika ist der oberste Knopf ab«, sagte Gano, als sie an ihr vorbeifuhr, um ihr Motorrad in dem rasch errichteten behelfsmäßigen Pferch zu parken. Taboret wurde sofort rot. »Wirklich?«, fragte sie mit Unschuldsmiene. Sie fühlte an den lose hängenden Fäden, und alle Gedanken, die sie am Nachmittag gehabt hatte, kamen wie eine Flutwelle zu ihr zurück. »Sie muss ihn in dem allgemeinen Tohuwabohu verloren haben, als die Plattform auseinander brach«, sprang Glinn ihr bei. »Es ist überhaupt ein Wunder, dass dabei niemand ernstlich zu Schaden gekommen ist.« Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Schlampigkeit«, schimpfte Brom, urplötzlich neben ihnen auftauchend. Taboret fuhr erschreckt hoch. Er musterte ihre Tunika und sah sie mit einem Blick äußersten Abscheus an. »Bringen Sie das wieder in Ordnung. Es beeinträchtigt Ihr
Erscheinungsbild.« »Eh, hm«, stotterte sie und griff sich an die Kehle Sie wünschte sich, dass Glinn ihr wieder beispringen würde, und wunderte sich gleichzeitig über die Schwierigkeiten, die sie damit hatte, etwas zu erwidern. Sie war noch nie in die Verlegenheit gekommen, jemanden zu brauchen, der für sie sprach. Was war mit ihr los? Die Anspannung begann ihr das Gehirn zu vernebeln. »Ich habe kein Nähzeug, Herr«, brachte sie schließlich heraus. »Improvisieren Sie«, sagte Brom kurzangebunden. Er ließ mittels Willenskraft einen kleinen runden Stein vom Boden in seine Hand springen. Er drückte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger platt. Zwei kleine Löcher erschienen in ihm. Er warf ihn ihr zu. Geistesgegenwärtig fing Taboret ihn auf, bevor er sie im Gesicht treffen konnte. Sie raffte allen Einfluss zusammen und vollendete die Umformung des Steines, indem sie ihn weiter abflachte und die Grate am Rand glättete. Mit einem weiteren Einflussstoß verlängerte sie sodann die herunterhängenden Fäden unter ihrem Kragen und befestigte den steinernen Knopf. Sie hatte Nähen immer gehasst. Brom wurde es überdrüssig, ihr beim Herumfummeln mit den Fadenenden zuzuschauen, und er ging weg, um nach dem WECKER zu schauen. Wenigstens hatte er sie nicht weiter wegen des verlorenen Knopfes gelöchert. Während sie den letzten Knoten abband, dankte Taboret ihrem Glücksstern -oder wem auch immer, der auf törichte junge Wissenschaftlerinnen aufpasste, und sputete sich, um ihre Pflichten beim Aufschlagen des Lagers zu übernehmen.
27. KAPITEL Roan und seine Leute ritten weiter. Er und Hutchings hatten stundenlang in vollem Galopp reiten müssen, um Bergold einzuholen. In dem Augenblick, als er aufgetaucht war, hatte Bergold seine Gestalt wieder in eine Version seiner üblichen Erscheinung zurückverwandelt: kleiner, rundlicher und entspannter. Er ritt auf seinem roten Wallach ein Stück neben Roan her. »Puh! Es ist ganz schön anstrengend, du zu sein«, sagte Bergold mit einem breiten Lächeln zu seinem Freund. »Ich hatte eigentlich nie so richtig zu würdigen gewusst, wie schwer es ist, immer gleich zu bleiben.« »Es fällt leichter, wenn du es schon lange Zeit gemacht hast«, sagte Roan leichthin. »Hast du Ihre Hoheit noch gesehen, bevor du Reverie verließest?« »Nein«, sagte Roan. »Sir Osprey ist vor euch weggefahren.« Er seufzte und starrte verloren zum fernen Horizont. Ein paar von den Pogostock-Hüpfratten sprangen durch die Landschaft, schwarze Silhouetten vor dem gelben Himmel. Die Sonne war im Untergehen begriffen. »Sie werden inzwischen zu Hause sein.« »Es wird ihr schon gut gehen, mein Lieber«, versuchte Bergold ihn aufzumuntern. Roan nickte. »Also, ich werde sie vermissen«, sagte Colenna, während sie sich im Sattel umwandte und den Ellenbogen auf ihre Handtasche stützte. »Sie war ein tapferes kleines Mädchen.« »Ich werd sie auch vermissen«, sagte Roan. Die Worte waren so unzureichend, sie fühlten sich an wie der Korken in einer Flasche - berstend voll mit Gefühlen, die mit Macht unter
ihm aufwallten. Jeden Augenblick würde der Korken hochgehen und alles würde herausplatzen in einem brodelnden Strom von bewegten Worten über wahre Liebe und heißen Trennungsschmerz Doch nein. Er fand keine Worte. Alle Worte, die er hatte waren in Reverie zurückgeblieben, auf unzähligen Bögen Papier. Alles was ihm geblieben war, waren Kummer, Sorge und Enttäuschung, die sein Herz und seinen Magen zu einem einzigen traurigen Wirrwarr verknoteten. Sein einziger Trost war, dass sie jetzt sicher war vor den Gefahren, die vor ihnen lagen. »Sie wird wissen wollen, wie wir vorankommen. Ich leihe Ihnen gern ein paar Briefmarken, wenn Sie ihr selbst eine Botschaft schicken wollen«, erbot sich Felan höflich. »Ich komm gern darauf zurück«, erwiderte Roan überrascht. Der jüngere Historiker wirkte zahmer als früher. Roan fragte sich, welche Art von Druck die anderen auf ihn ausgeübt hatten, nachdem sie Reverie verlassen hatten. Hauptmann Spar machte einen selbstzufriedenen Eindruck. Gewalt war ganz bestimmt nicht angewendet worden, aber wo Felan früher keck und aufmüpfig gewesen war, erschien er jetzt geradezu zivil und zurückhaltend. Den anderen war das auch aufgefallen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, erkundigte sich Colenna. »Haben Sie womöglich Fieber?« »Mir geht's gut«, erwiderte Felan ohne seine übliche Pampigkeit. »Ich bin vielleicht ein wenig müde. Ich bin das Reisen nicht gewohnt.« »Es war gut, dass Sie bei der Gruppe geblieben sind«, sagte Roan. »Trotz Hauptmann Spars sanfter Überzeugungstechniken. « »Häh?«, rief der Hauptmann der Garde von der Spitze des Zuges, eine Unschuldsmiene aufsetzend. Felan lachte. »Es war eigentlich gar nicht so schlimm. Was haben die in Reverie mit Ihnen angestellt?«
»Aufsatztest«, sagte Roan, wortkarger, als er eigentlich gewollt hatte, aber er hatte einen großen Teil seines Vokabulars bei der Prüfung aufgebraucht. Felan schauderte zusammen. »Sie haben mein Mitgefühl.« »Es wird langsam dunkel«, verkündete Korporal Lum. »Wir sollten allmählich daran denken, eine geeignete Stelle für unser Nachtquartier zu suchen. Wir könnten sonst womöglich geradewegs in eine von Meister Broms niedlichen kleinen Monstrositäten hineintappen, ohne sie zu sehen.« »Ich würde einiges darum geben, einmal zu sehen, wie er Ärgernisse kontrolliert«, sagte Bergold nachdenklich. »Das wäre eine große Hilfe.« »Brom glaubt wahrscheinlich, dass wir noch in Reverie sind«, sagte Felan. »Er ist vor uns aufgebrochen.« »Unterschätzen Sie Brom nicht«, sagte Roan, eine Augenbraue hochziehend. »Er ist intelligent und er ist listig.« Er borgte sich die Landkarte von Bergold aus und hielt Colennas Mehrzwecklampe darüber. »Nicht allzu weit vor uns befindet sich ein Hügel, der einen guten Blick über eine Kurve bietet. Falls er sich nicht in der Zwischenzeit abgeflacht oder eingeebnet hat, würde er einen guten Platz für ein einigermaßen gut zu verteidigendes und trockenes Lager abgeben.« »Da wir gerade von trockenen Lagern sprechen«, sagte Bergold und stieß Roan in die Rippen, als er sich die Karte zurückholte. »Erinnerst du dich noch, wie wir in dieser WadiStadt in der Nähe von Buchara waren?« Roan lachte, für den Augenblick aus seinem Kummer herausgerissen. »Und ob! Ich dachte, es wäre der netteste Ort, an dem ich je gewesen war, bis wir feststellten, dass das Ganze eine Fata Morgana war.« Er wandte sich zu den anderen, um es ihnen zu erklären. »Wir waren dort, um eine Flotte von Wüstenschiffen zu treffen, die eine lebende Sphinx gesichtet
hatten und uns ihren Bericht anzuhören. Wir tranken Sorbets und lagen faul am Pool eines Luxushotels herum, als plötzlich alles verschwand und wir allein platt im Sand lagen. Der echte Wadi war meilenweit entfernt.« »Du warst ja noch vergleichsweise fein raus«, sagte Bergold schmunzelnd, während er die Karte wieder zusammenfaltete, »aber ich war gerade im Wasser, als das Trugbild in sich zusammenfiel. Sand, Sand, Sand und nochmal Sand.« Er drückte Colenna die Karte in die Hand. »Könntest du das mit dem Zusammenfalten vielleicht übernehmen, meine Liebe? Die Karte mag mich einfach nicht. Ach, das waren noch Zeiten!« Roan lächelte. Das waren in der Tat glücklichere Tage gewesen als diese. Er und Bergold hatten viele schöne Zeiten miteinander erlebt. Während er sich an sie zurückerinnerte, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie sehr er den Historiker mochte und respektierte. Es war eine große Erleichterung, ihn auf dieser Reise bei sich zu wissen. Immer wenn er kurz davor war, die Hoffnung aufzugeben, verstand es Bergold, ihn und die anderen wieder aufzumuntern. Er war ein Mann von überraschendem Einfallsreichtum. Es kam ihm geradezu unglaublich vor, dass es erst ein paar Tage her war, dass die Gruppe von der Hauptstadt aufgebrochen war. Roan fand, dass er sich seitdem verändert hatte, wenn auch ausschließlich innerlich. Er war selbstbewusster geworden - und hatte zugleich an Selbstsicherheit eingebüßt. Ersteres, weil er in die Rolle des Führers hineingewachsen war und über das Maß an Kooperationsbereitschaft, das die Gruppe ihm entge gengebracht hatte, überrascht gewesen war. Letzteres, weil ihm bis dahin nie bewusst gewesen war, was es bedeutete, für das Leben so vieler anderer verantwortlich zu sein. Der gute Bergold schien exakt derselbe zu sein, stets freundlich und durch nichts aus der Ruhe zu bringen, welches auch immer sein äußeres Erscheinungsbild war.
Roan rutschte mit seinem schmerzenden Hintern auf dem Sattel hin und her, um eine Stelle zu finden, die auf dem harten Ritt noch nicht wundgescheuert war. Er freute sich schon darauf, ihn mit der Salbe aus seinem Rucksack einzureihen, sobald sie angekommen waren. Die Dämmerung brachte eisige Kälte mit sich. Der Winter nahte mit Riesenschritten in Wocabaht. Der Wille des Schläfers beschwor Tiere und Anblicke herauf, die fremd waren für jemanden, der in Celestia aufgewachsen war. Kleine graue Bären mit doppelten Daumen, die sich an Baumstämmen festklammerten, starrten sie mit großen traurigen Augen an, als sie vorüberfuhren. Nachtvögel stießen von oben herab und schwirrten über ihre Köpfe hinweg. Mit einem erschreckten Aufschrei wich Spar einem aus, der haarscharf an seiner Kappe vorbeischoss. Die Schatten wurden zwischen den spärlichen Bäumen und Büschen tiefer und warfen seltsame, unerwartete Formen auf ihren Pfad. Die Pferde schritten behutsam vorwärts, alle Sinne auf das Äußerste angespannt. Roan dachte, dass dieser Wald so beschaffen war, wie der Albtraumwald Millennien oder Billennien zuvor ausgesehen haben musste. »Habt ihr das gehört?«, fragte Lum plötzlich in die Stille hinein, »Hörte sich an wie >bssp<.« »Strahlenwaffen->Bssp<, Insektenspray->Bssp< oder vielleicht irgendein Tier->Bssp«, fragte Bergold und kramte in seinem Rucksack herum nach einem nützlichen Buch. »Das kann ich nicht sagen, Sir«, sagte Lum und schluckte tief. »Diese ganzen Termini technici sagen mir nichts.« Doch im gleichen Augenblick kam von hinten ein Geräusch, das keiner Erklärung bedurfte: ein stetiges rhythmisches Dröhnen. »Pferde!«, rief Misha. Sie hielten an und lauschten. Roan horchte angestrengt.
»Es könnten Brom und seine Leute sein«, sagte Felan und lenkte sein Ross hurtig hinter Hutchings und Alette. »Ich glaube, es ist nur ein einziges Pferd«, sagte Lum. Hauptmann Spar zückte sein Schwert. »Es könnte eine Falle sein. Soldaten, Achtung! Colenna, leuchte mal! Wir wollen doch sehen, womit wir es da zu tun haben!« Roan packte seinen dicken Stock und beugte sich tief über den Hals seines Pferdes. Cruiser gab ein leises Wiehern von sich. Was spürte das Ross? Colenna hielt ihre Lampe in die Höhe. Der starke Lichtkegel brannte die Schatten weg - und erfasste die Gestalt eines goldenen Rosses mit einem goldhaarigen Mädchen auf seinem Rücken. Es riss den Arm hoch, um seine Augen gegen das blendende Licht abzuschirmen. Roan erkannte es sofort. »Leonora!«, schrie er. »Dreht dieses Ding runter!«, rief Leonora. »Ihr blendet mich!« Colenna kurbelte sofort die Helligkeit herunter, bis die Fackel nicht mehr als ein simpler brennender Kien war. »Eure Hoheit!«, schrie Spar. »Was machen Sie denn hier?« Roan wartete gar nicht erst auf die Antwort. Er sprengte zu ihr, hob sie schwungvoll über seinen Sattelbogen und küßte sie mit der ganzen Innigkeit und dem ganzen Hunger von jemandem, der zehn Aufsatztests hinter sich hat. Sie sah müde aus, aufgelöst, mit den Nerven fertig, aber sie war schön wie eh und je - und sie war da. Ihre Augen, glänzend und dunkel in dem flackernden Licht der Fackel, funkelten, als sie sich in seinem Arm zurücklehnte, um ihm ins Gesicht zu schauen. »Das ist aber eine wunderbare Begrüßung«, sagte sie und strich ihm spielerisch über die Wange. »Oh, setz mich noch nicht ab. Mir tut das Hinterteil so weh, dass ich kaum sitzen kann.«
»Wo kommst du her?«, fragte Bergold. »Ich dachte, der Ritter hätte dich nach Hause gefahren.« »Ich konnte doch nicht zulassen, dass ihr alle ohne mich weiterfuhrt«, sagte Leonora, behaglich an Roans Brust gekuschelt. Golden Schwinn rieb seine Nase an der von Cruiser und knabberte an seinem Zügel, so als wäre er froh, ihn wiederzusehen. »Ich wartete, bis wir irgendwo anhielten, um nach dem Wieg zu fragen. Als Sir Osprey sich bei dem Wegweiser nach dem Weg erkundigte und nicht auf mich achtete, nahm ich heimlich mein Ross aus dem Auto, fertigte ihm ein Scheinbild aus ein paar Stöcken und machte mich durch die Wälder davon. Jetzt wird Sir Osprey mit etwas, von dem er glaubt, es sei ich, nach Hause kommen und bis dahin haben wir Brom hoffentlich eingeholt. Ich musste den Hund am Sitz anketten und meinen Geruch verändern. Es tat mir Leid, dass ich das tun musste«, sagte sie mit sichtlichem Bedauern, »aber er hätte mir sonst nachspüren können. Danach folgte ich einfach den Straßen, die nach Norden führten.« »Gut gemacht, meine Liebe«, lobte Roan sie. »Eine heroische Orientierungsleistung.« »Danke«, sagte Leonora. »Du hättest uns völlig verpassen können«, sagte Bergold besorgt, obwohl er sich genauso freute, sie zu sehen, wie Roan. »Du hättest von Vandalen überfallen werden können, oder oder von einem Schlagloch verschluckt werden können oder in eine Anomalie verschwinden können.« »Du musst sehr erschöpft sein, meine Liebe«, sagte Colenna. »O ja, und wie«, sagte Leonora. Der Arm, den sie um Roans Rippen geschlungen hatte, spannte sich für einen Augenblick in stummem Druck. Dann kuschelte sie sich noch enger an ihn. »Es tut mir auch ein bisschen leid dass ich den Gasthof verpasst habe, in dem wir heute Nacht hätten absteigen sollen, mit richtigen Badezimmern! Aber ich musste zu euch zurück!
Ich gehöre doch zur Gruppe, oder nicht?« »Natürlich!«, rief Roan und drückte sie mit einer Mischung aus Freude und Bestürzung an sein heftig klopfendes Herz. Der Kummer, den er empfunden hatte, als sie abgeholt worden war, hatte sich in Schuldgefühle verwandelt. Sie war wieder in Gefahr. Sollte er nicht lieber versuchen, sie dazu zu überreden, alleine wieder zurückzukehren? Er suchte Hauptmann Spars Blick. Der schüttelte den Kopf, langsam, aber traurig. Es hatte keinen Sinn. »Aber ihr wartet, bis ich Brom wiedersehe«, sagte Leonora und der Ton ihrer Stimme verhieß nichts Gutes für den abtrünnigen Wissenschaftler. »Wartet nur.« »Wie weit ist es noch bis zu diesem Hügel?«, fragte Felan ein paar Meilen weiter. Es wurde mit jeder Sekunde dunkler. »Ich bin zwar nicht den ganzen Weg von Reverie bis hierher im Affenzahn galoppiert, aber mir tut der Hintern auch ganz schön weh.« »Es ist nicht mehr allzu weit«, sagte Bergold. »Laut Karte befindet er sich gleich hinter einer kleinen Stadt. Ah! Und da kommt die kleine Stadt ja auch schon!« Felan spähte zu den wenigen kleinen Hütten, in deren Fenstern warmes, flackerndes Licht zu sehen war und aus deren Kaminen sich kleine Rauchwölkchen kringelten. »Das ist die Minimaldefinition von einer Stadt, wenn Sie mich fragen«, sagte er. »Ich stamme aus einem solchen Ort«, nahm Misha das kleine Dorf in Schutz. »Er besteht in jeder Weise als Gemeinde. Das kann man nicht anders sagen.« »Ah, nun, das ist alles, was zählt«, sagte Bergold. »Es hat durchaus etwas für sich, einfach zu leben, da man nie weiß, was die Schläfer als Nächstes geben oder wegnehmen werden.«
Fast noch während er das sagte, schwollen die kleinen Hütten plötzlich zu riesigen herrschaftlichen Wohnhäusern an, mit hell leuchtenden Lampen und gepflasterten Vorhöfen, die sich dicht an die kleine Straße drängten. Roan erhaschte einen Blick auf eine große schwarze Scheibe aus Metall, aus der ein dünner metallner Arm ragte, montiert auf einen Pfahl im Hinterhof eines der Häuser und auf einen Swimmingpool im Hinterhof eines anderen. »Du lieber Himmel!«, sagte Leonora. Sie saß erneut auf ihrem eigenen Ross, wiederhergestellt nach einer Behandlung mit Roans Heilsalbe. »Ist das nun modern oder altmodisch?« »Modern, meine Liebe«, antwortete Colenna. »Keine erwähnenswerten Verzierungen, wie du siehst.« Ein Mann und eine Frau hörten sie vorbeifahren und kamen heraus, um zu schauen, was da los war. Trotz ihrer imposanten Häuser trugen sie einfache, weite Kleider, sauber geflickt, genau das Richtige für die Arbeit auf dem Feld. Der Mann trug eine Schirmmütze und einen Bart. Die Frau trug ein schlichtes langes Kleid und ein Kopftuch. Sie standen auf der Eingangsstufe ihres großen Hauses und schauten zu, wie die Gruppe vorbeifuhr, als wohnten sie einer Parade bei. »N'Abend«, rief Roan ihnen zu. »N'Abend, der Herr«, riefen sie zurück. »Brom ist hier vorbeigekommen«, sagte Lum, den Boden nach Spuren absuchend. »Aber wir sollten besser bald anhalten. Ich kann kaum noch etwas sehen.« »Es ist nicht mehr weit«, sagte Bergold. »Gleich kommt eine Kreuzung und ein kurzes Stück danach folgt dann auch schon die Hügelkuppe.« »Was ist das denn da?«, fragte Colenna, nach vorne spähend. Sie hob ihre Laterne, um besser sehen zu können, aber das war gar nicht mehr nötig. Der orangefarbene Gegenstand mitten auf der Straße leuchtete hell und er hatte obendrauf ein rotierendes
Licht, das in regelmäßigen Abständen aufleuchtete und wieder erlosch. »Das ist eine Absperrung«, sagte Bergold, als sie näherkamen. »Was soll die hier? Es finden doch gar keine Straßenbauarbeiten hinter ihr statt. Seht doch.« »Vielleicht will sie uns warnen, dass demnächst welche stattfinden«, erwog Felan. Aber die Straße schien vollkommen glatt und in bestem Zustand. »Wartet mal einen Augenblick«, sagte Roan. Er hatte etwas anderes entdeckt, auf der anderen Seite der Fahrbahn, kurz vor der Absperrung. Er lenkte Cruiser an die Spitze der Reihe und hob den Arm, zum Zeichen, dass sie anhalten sollten. Er schwang sich aus dem Sattel und ging zu dem Gegenstand, um ihn aufzuheben. »Sieht aus wie ein Knopf, mein Lieber«, sagte Colenna, die ihm über die Schulter schaute. »Es ist auch einer«, sagte er, den Gegenstand zwischen den Fingern drehend. Ein Stück Faden hing noch aus den Löchern. »Ich frage mich, wie er da hingekommen ist.« Roan wog den Knopf noch einen Augenblick lang in der Hand. Er wollte ihn gerade in seine Tasche stecken, als ein Körper schwer auf seinem Rücken landete. »Runter, Sir!«, schrie Lum ihm ins Ohr und drückte seinen Kopf nach unten. »Alle runter!« Die anderen legten sich auf den Boden und zogen ihre Tiere mit sich nach unten, als ein Lärm wie von hundert Unwettern über ihre Köpfe hinwegbrandete. Roan blickte kurz nach hinten, um sich zu vergewissern, ob die anderen Gardisten die Prinzessin schützten, dann vergrub er seinen Kopf unter den Armen. Keine sechs Fuß von ihm entfernt schlug etwas mit einem saugenden, schlürfenden Geräusch auf dem Boden auf. Er schielte unter seinen Armen hervor. Wo eben noch Büsche und Gras gewesen waren, gähnte jetzt ein riesiges,
ausgezacktes Loch im Erdboden. »Da geht es!«, schrie Misha. Roan und Lum sprangen auf, um zu schauen. Roan hatte schon einige Male sichtbare Wellen von Einfluss gesehen. Er war bereits von Ärgernissen belästigt worden und Löchern in der Realität ausgewichen, aber dies war das erste Mal, dass er eines sah, das aussah wie ein von innen nach außen gestülptes Loch. Vor dem dunklen Hintergrund der anbrechenden Nacht sah es aus wie ein riesiger schmieriger Fleck aus leuchtenden Farben: grün, orange, ein kränkliches Braun und Grau - alle zusammengehalten von einer wirbelnden schwarzen Masse. Es raste über den Boden wie ein Tornado, Bäume, Felsen, Gras und alles andere, was es berührte, mit sich reißend. »Es bewegt sich auf die Häuser zu«, sagte Bergold. »Großer Schläfer, du hast Recht!« Roan sprang auf Cruiser und spornte das Ross an, auf die Häuser zu. »Wir müssen die Leute dort warnen!«, schrie er. Cruiser sprang über den Graben, den das umgestülpte Loch in die Fahrbahn gerissen hatte und nur seine angelegten Ohren verrieten seine Angst. Roan war zu besorgt um das Schicksal der Dorfbewohner, als dass er sich um sich oder sein Tier Gedanken gemacht hätte. Sie konnten dem tanzenden Hunger immer noch ausweichen. Die Dörfler aber waren zu Fuß und unvorbereitet. »Kommt raus!«, schrie er verzweifelt gegen das Tosen des Windes an. »Gefahr! Kommt aus euren Häusern raus! Lauft weg!« »Was?« Der Mann, der nach draußen gekommen war, um ihnen zuzuwinken, erschien mit einer Laterne an der Tür seines Hauses und lehnte sich hinaus, um zu schauen, was los war. Seine Kinnlade fiel herunter. »Was in Albtraums Namen ist das?«
»Rennen Sie!«, schrie Roan ihn an, als das Loch scharf nach rechts schwenkte und geradewegs auf das Haus zusteuerte. »Nein, nicht dorthin!«, schrie er, als der Mann verängstigt und verwirrt seine Laterne fallen ließ und auf das Loch selbst zurannte. »Halt! Nicht dahin!« Das wirbelnde Vakuum spaltete einen Baum der Länge nach und verschluckte die eine Hälfte, den zerfetzten Rest wie einen geknickten Mast zurücklassend Rücksichtslos riss es die Ecke eines nahegelegenen Hauses mit. Dann hielt es auf den Mann zu, der wie gelähmt dastand und hilflos zu ihm hinaufstarrte, als es ihn vorn Boden auflutschte. Mit einem verzweifelten Schrei verschwand er in dem Wirbel aus wütender Farbe. »Dämon!« Seine Frau kam aus der Tür gerannt und stürzte zu der Stelle, an der er zuletzt gestanden hatte. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen und schrie händeringend: »Dämon, nein! Nein!« Das Loch in der Wirklichkeit brauste an ihr vorbei, als wäre sie eine Fremde auf der Straße und pflügte durch ihr Haus. Das Gebäude erzitterte und explodierte dann in einem Hagel aus Splittern und Scherben. Roan erreichte die Frau, zog sie zu sich herauf auf Cruisers Rücken und steuerte das Ross aus dem Pfad der Verwüstung heraus. Stücke des Hauses regneten auf sie herab, aber die Frau schien es nicht zu bemerken. Sie führte leise Selbstgespräche, als Roan sie in der Mitte der Gruppe absetzte, und blickte zu keinem von ihnen auf. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Leonora. Sie trat zu der Frau und legte den Arm um ihre Schultern. »Er ist fort«, sagte die Frau und starrte über ihre Schulter zurück auf die Trümmer ihres Hauses. Ihr Gesicht war bleich vor Schreck und Entsetzen. »Einfach weg.« »Sie konnten es nicht verhindern«, sagte Leonora in besänftigendem Ton. »Gegen Einfluss kann man halt nichts
ausrichten.« »Des Schläfers Wille«, sagte die Frau tonlos. »Das ist wahr. Kann bitte einer von euch ihr etwas zu trinken holen?«, bat Leonora und führte die Frau zu Golden Schwinn. Das Ross verwandelte sich gehorsam in eine Sitzbank und die beiden nahmen darauf Platz. »Wie lange waren Sie zusammen, Sie und Ihr Mann?« »Unser ganzes Leben«, sagte die Frau. Dann brach sie in Tränen aus. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er fort ist!« »Na, na«, versuchte Leonora sie zu beschwichtigen. Sie griff in die Luft - nach einem Taschentuch. Die Frau schluchzte in das Quadrat aus Stoff. Die Prinzessin tätschelte ihr die Schulter und murmelte nette Worte. Colenna füllte einen kleinen silbernen Becher mit Weinbrand aus den Tiefen ihrer Handtasche, und Leonora drängte die Frau, ihn zu leeren. Sie kippte den Schnaps herunter und die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Sie hatte vorher wie vierzig ausgesehen. Jetzt wirkte sie wie achtzig. Roan stand daneben, sprachlos angesichts einer solchen Tragödie. Was sollte er zu jemandem sagen, der gerade die wichtigste Person in seinem Leben verloren hatte? Er wusste, wie er sich in einem solchen Fall fühlen würde. Er hatte eine Kostprobe von dem, was Gram und Trostlosigkeit bedeuteten, zu schmecken bekommen, als man ihm Leonora in Reverie weggenommen hatte und er wollte dergleichen nie wieder in seinem Leben spüren. »Lassen Sie uns Ihre Nachbarn suchen, meine Liebe«, sagte Colenna, wie immer in derlei Krisen an den nahe liegenden, praktischen Dingen orientiert. »Ich geh schon«, sagte Spar, der irgendetwas tun wollte, um zu helfen. »Nein, schicken Sie Alette«, sagte Leonora, die jetzt rundlich und mütterlich anmutete. Sie wiegte die zutiefst
bekümmerte Frau an ihrer Schulter und ließ sie sich dort ausweinen. Die Gardistin machte sich auf den Weg in die Dunkelheit. »Ihr anderen - würdet ihr ihre Sachen holen?« Roan eilte sofort los. Weitere Dorfbewohner kamen jetzt zögernd aus den anderen großen Häusern, mit Fackeln und Laternen bewaffnet. Roan erklärte ihnen die Lage. »Wir nehmen Jennet selbstverständlich auf«, sagte eine Frau. Sie war etwa im gleichen Alter. »Ich weiß noch was Besseres«, sagte ein großer, dünner Mann. »Wir bauen ihr ein neues Haus, eins, das noch schöner ist als das alte. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Ich habe gutes Holz, mit dem ich einen Anbau errichten wollte.« »Ich habe noch ein paar Dachschindeln übrig«, sagte ein anderer. »Und wir haben Farbe«, ließ sich eine Frau vernehmen. Und in Nullkommanichts sprudelten sie über vor Plänen, während sie geschäftig herumwuselten und Jennets verstreut herumliegende Habseligkeiten aufsammelten. Roan lauschte ihnen voller Bewunderung. Er wusste, selbst wenn die Spenden nicht ausreichten, sie würden nicht rasten und nicht ruhen, bis ihre Nachbarin wieder ein anständiges Dach über dem Kopf hatte. Als er zu den anderen zurückkehrte, hatten zwei von den Nachbarsfrauen Leonoras Platz eingenommen und trösteten ihre Freundin. »Das Ding kann kein Zufall gewesen sein«, flüsterte Leonora Roan zu. »Es hat auf uns gewartet, stimmt's? Brom steckt dahinter, nicht?« »Höchstwahrscheinlich«, sagte Roan. »Diese Fallen werden von Mal zu Mal gefährlicher. Ich glaube, er verfällt langsam dem Wahn.« Eine der Nachbarsfrauen trat jetzt vor Leonora und machte
einen Hofknicks. »Es ist schon ganz dunkel, Eure Hoheit«, sagte sie. »Sie sollten zum Übernachten zu uns hereinkommen. Es wäre uns eine große Ehre.« »Ganz herzlichen Dank für Ihr freundliches Angebot, aber wir müssen weiter«, sagte Leonora, im Schein der Fackeln einen kurzen Blick mit Roan wechselnd. Er wusste, dass ihr der gleiche Gedanke durch den Kopf ging wie ihm. Falls Brom ihr noch weitere Fallen gestellt haben sollte, wollte sie auf keinen Fall, dass sie noch einmal bei irgendwelchen unschuldigen Unbeteiligten zuschnappten, nicht mit solch schrecklichen Resultaten. Sie beugte sich zu Jennet hinüber, fasste sie bei der Hand und gab ihr einen Kuss. »Sie haben gute Nachbarn«, sagte sie. »Sie werden im Nu ein neues Haus für Sie fertig haben. Sie werden bestimmt wieder auf die Beine kommen und ihr Leben weiterleben können.« »Was ist das Leben ohne ihn?«, fragte die Frau bekümmert. »Mein Sohn hat uns immer bekniet, zu ihm an die Grenze zu ziehen, wo es sicherer ist. Wir könnten dort dem Umbruch aus dem Weg gehen, hat er gesagt. Jetzt ist es zu spät. Wenn der Umbruch denn kommen soll, dann soll er mich halt holen.« »So dürfen Sie nicht denken«, sagte Leonora mit fester, aufmunternder Stimme und schlüpfte wieder in ihre mädchenhafte Gestalt für die Weiterreise. Sie drückte Jennets Hände. »Bitte lassen Sie sich nicht von solch dunklen Gedanken beherrschen. Was ist mit Ihrem Einfluss? Sie haben doch auch welchen! Jeder hat welchen!« »Sie haben ja Recht«, sagte die Frau und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie stand auf. »Ich will ja nicht, dass durch meinen Kummer am Ende noch die Früchte auf dem Feld verdorren. Mein Mann hätte mir das niemals verziehen. Er hat immer so hart gearbeitet.« Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen, aber sie trocknete sie tapfer und reckte
entschlossen das Kinn vor. »Ich danke Ihnen, Eure Hoheit. Sie sind genauso gut, wie Sie schön sind.« Sie küßte das Mädchen auf die Wange. Die Nachbarsfrau führte sie in ein anderes Haus, hinter dessen reich verzierten Glasfenstern bernsteinfarbenes Licht einladend brannte. »Wird das ausreichen, um ihr zu helfen?«, fragte Misha, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Nein«, sagte die Prinzessin traurig. »Aber es ist alles, was wir tun können.«
28. KAPITEL Das Aufschlagen des Lagers begann allmählich zur Routine zu werden, zu einer fast angenehmen sogar, da inzwischen jeder genau wusste, was von ihm erwartet wurde. Taboret bekam ihre Aufgabe von Basil zugewiesen, der für diesen Tag der >Diensthabende< war, und machte sich sogleich daran, Zweige für Fackeln zusammenzubinden, die rings um das Lager aufgestellt werden sollten. Mittels Schmelztiegelkraft würden sie später in wunderschöne schmiedeeiserne Kerzenleuchter verwandelt werden. Die reinen und ordentlichen Teile ihres Geistes, von denen Taboret wusste, dass sie allein ihr gehörten, fanden Freude daran, etwas auf eine Weise aus Rohmaterialien zu erschaffen, die bis dahin im Traumland unbekannt gewesen war. Trotz ihrer Zweifel und bösen Vorahnungen genoss sie das Gefühl, über große Macht zu gebieten. Die Stelle, die Brom für das Nachtlager ausgesucht hatte, schien sehr gemütlich. Es war eine haarnadelförmige Rinne, die vor langer Zeit im Traum irgendeines Schläfers die Biegung eines Flusses gewesen war. Jetzt war das Flussbett ausgetrocknet und übersät mit Schößlingen, nicht breiter als Taborets Zeigefinger. Der Eingang und der Ausgang lagen sehr dicht beieinander, leicht im Auge zu behalten und zu bewachen. Die Tatsache, dass sie auf der Hut sein mussten, erinnerte sie daran, dass sie wieder einmal die Sache verraten hatte. Der Knopf, den sie hinterlassen hatte - sie hoffte, dass irgendjemand ihn sehen würde. Ob die Polizei in Reverie Roan ins Gefängnis gesteckt hatte? Oder gar Schlimmeres? Sie hatte von Schlossundriegel gehört. Obwohl sie nicht wusste, wo das war, waren die Bilder die dieser Name immer in ihrem Geist heraufbeschworen hatte, grausig. Taboret drängte die
Erinnerung an den verlorenen Knopf in die Hinterstube ihres Geistes und zwang sich dazu, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Verschmelze mit den anderen und niemand wird irgendeine Diskrepanz in deinen Gedanken bemerken. Aber es fiel ihr schwer. Jedesmal wenn Brom in ihre Nähe kam, rechnete sie mit einem Vorwurf. Er hatte sie nun schon seit einiger Zeit auf dem Kieker. Schluss damit, ermahnte sie sich, denk jetzt an Kerzenleuchter! Sie entdeckte Glinn im Küchenbereich. Er stapelte Steine aufeinander, um daraus den Tisch und die Bänke für das Speisezimmer zu bauen. Taboret schaute ihm liebevoll zu. Sie arbeiteten seit fast einem Jahr zusammen und sie hatte nie mehr als einen Kollegen in ihm gesehen. Wie blind sie gewesen war! Er musste ihren Blick trotz der räumlichen Entfernung gespürt haben, denn er schaute auf und lächelte sie offen an. Sie fühlte, wie ihr dieses kleine, warme Kribbeln den Rücken rauf und runter lief. Und plötzlich schoss eine heiße Woge panischer Angst durch ihren Körper. Was würde Glinn tun, wenn er erfuhr, dass sie eine Verräterin war? Glinn reckte sich hoch und winkte sie zu sich. Sie schüttelte den Kopf und tat so, als habe sie Schwierigkeiten mit dem Zusammenbinden von einigen der Zweige. Dies war die letzte Fackel. Wenn sie die fertig hatte, würde sie keinen Vorwand mehr haben, nicht zu ihm zu gehen und ihm zu helfen. Er warf ihr dieses alberne schiefe Grinsen zu, das sie immer so gemocht hatte. Okay, sie würde zu ihm gehen, aber sie nahm sich fest vor, ihre Gedanken im Zaum zu halten. »Ich sehe, du bist fertig«, sagte er, als sie sich zu ihm gesellte. »Möchtest du mir helfen?« »Natürlich, gern«, sagte Taboret. »Was soll ich tun?« Glinn schaute zu den anderen hinüber. Alle schienen sehr beschäftigt zu sein, oder sie blickten absichtlich nicht in ihre Richtung. Selbst Basil hatte ihnen den Rücken zugekehrt und
war damit beschäftigt, auf Flaschen gezogene Krauter aus seinem Rucksack auszuwählen. »Komm mit hierher«, sagte Glinn und eskortierte sie hinter den Kopfstein-Herd. »Wir können die Isolierung abstützen und dadurch helfen, Brennstoff zu sparen.« Taboret durchschaute den Vorwand sofort als solchen. Basil kümmerte sich nämlich stets persönlich um den Herd und seine Utensilien, und er wachte eifersüchtig über dieses Privileg und wäre niemals auf die Idee gekommen, irgendjemanden um Hilfe zu bitten. Etwas Schmackhaftes brutzelte in einem großen Topf auf einer der beiden Flammen vor sich hin. Taboret schnupperte im Vorbeigehen. Pfeffer, dachte sie. Es könnte noch eine Prise gebrauchen. Ihr wurde bewusst, dass sie zumindest einen kleinen Teil von Basils Feinschmeckermentalität erworben hatte. Wer weiß, was - oder wer - jetzt sonst noch mit drin war. Die Gewissensbisse kehrten zurück und sie unterdrückte sie energisch. »Komm schon«, sagte Glinn. »Ich möchte mit dir reden.« Er ergriff ihre Hand und zog sie in eine Art Alkoven, bestehend aus der Rückseite des Herdes und einer über hängenden Felswand, die ihn fast berührte. Zwischen ihnen sah sie Carina vorbeigehen. Carina warf ihr einen schelmischen Blick zu und zwinkerte vielsagend. Taboret wurde plötzlich bewusst, dass sie nicht verstehen konnte, was die andere Frau dachte. Sie starrte Glinn mit offenem Mund an. »Was hast du getan?«, fragte sie ihn. »Ich habe uns ein Stück Privatsphäre spendiert«, sagte er. Er schloss sie in die Arme, und sie spürte, wie es an allen möglichen Stellen kribbelte. Ein wenig nervös legte sie ebenfalls die Arme um ihn. Seine augenblickliche Gestalt war schlank, fast dünn. Sie konnte beinahe seine Rippen fühlen, aber es lag noch eine ordentliche Schicht Muskeln über ihnen und das war beruhigend. Glinn senkte den Kopf, bis sein
Gesicht sanft ihr Haar berührte und ging mit seinem Mund langsam hinunter an ihr Ohr. Sein sanfter Atem jagte ihr erneut einen Schauer über den Rücken. »Ich weiß, was du getan hast«, sagte er ganz leise. »Ein Stück zurück auf dem Weg.« Sie fuhr so heftig hoch, dass sie fast das Gefühl hatte, ihre Knochen würden ihr aus der Haut hervorbersten. Er drückte sie noch fester an sich. »Nun krieg keine Panik. Es ist in Ordnung.« »Ich habe doch gar nichts getan«, protestierte sie und legte die Hände auf seine Brust, um ihn von sich weg zu schieben. »Dann ist der Knopf wohl von ganz allein abgerissen?«, fragte er, ohne sie loszulassen. Sie konnte fühlen, wie sein Geist gegen ihren drückte, aber es war nur seiner, kein anderer. Wollte er sie zu einem Geständnis zwingen? Sie Brom melden? »Nein, es war ein Unfall«, sagte sie. »War es nicht«, sagte Glinn leise. »Ich weiß, dass du ihn absichtlich fallengelassen hast, damit jemand, der uns folgt, die Abzweigung nicht verpassen würde. Bitte, sag mir die Wahrheit. Wir sind gegen die anderen abgeschirmt, aber diese Abschirmung hält nur kurze Zeit. Brom wird Verdacht schöpfen, wenn wir zu lange aus der Schleife raus sind. Also, mach schnell!« »Ja, ich hab's mit Absicht gemacht«, sprudelte Taboret heraus, bevor sie sich bremsen konnte. »Und es war nicht das erste Mal.« Sie hielt inne und schlug beide Hände vor ihren Mund. Aber statt dass ihr Magen vor Schuldgefühlen Purzelbäume schlug, fühlte sie sich erleichtert. Es tat gut, jemanden zu haben, mit dem sie ihr Geheimnis teilen konnte, jemanden, dem sie vertrauen konnte. Aber konnte sie das wirklich - ihm vertrauen? In dem Augenblick merkte sie, dass sie nicht nur ihre eigene Erleichterung fühlte. Sie konnte fühlen, wie Glinns Nacken- und Rückenmuskeln sich entspannten, aus Sympathie mit ihren eigenen.
»Ich bin froh«, sagte er und schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie zu scharf beobachtete. Alle gingen immer noch mit einem Schmunzeln im Gesicht an ihnen vorbei. Er zog ihre Hände wieder herunter auf seine Hüften und nahm sie erneut fest in die Arme. »Ich habe es übrigens auch gemacht. Ich habe den ganzen Weg über Spuren für den Investigator des Königs hinterlassen.« »Du?« »Ja. Willst du wirklich helfen?« »O ja«, stieß Taboret atemlos hervor. »Aber wie?« »Hilf mir«, sagte Glinn. »Ich kann Brom nicht alleine aufhalten. Selbst zu zweit schaffen wir das nicht. Roan muss uns einholen und seine Kraft mit unserer bündeln. Mit seiner Hilfe können wir die Gestalt selbst gegen Brom wenden.« »Aber dir vertraut er, du bist sein Stellvertreter, sein zweiter Mann«, sagte Taboret bestürzt. »Wie kannst ausgerechnet du derjenige sein, der versucht, ihn aufzuhalten?« Glinn verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Weil das, was er tut, nicht mehr vernünftig ist. Ich fand das Experiment anfangs interessant. Außerdem glaubte ich, er habe die Genehmigung, es durchzuführen. Ich hätte wissen müssen, dass der König niemals seine Erlaubnis dazu geben würde, die Schläfer zu wecken. Jetzt ist es zu spät. Und ich bin mit schuld daran, weil ich zu fasziniert war von dem Projekt, um mir die möglichen Folgen vor Augen zu führen. Willst du mir helfen?« Sein Plan war ebenso verwegen wie aufregend. Ihre Stimmung hob sich sofort, nun da sie wusste, dass sie nicht mehr alleine war mit ihrer Angst und ihren Gefühlen. »Natürlich will ich«, antwortete sie und veränderte ihre Haltung ein wenig, sodass sein Oberarm sich bequem in die Kuhle zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter schmiegen konnte und der andere um ihre Hüfte lag. »Ich würde so oder so auch weiter Spuren hinterlassen. Ich habe schon die ganze
Zeit ständig Angst, dass eine der Fallen jemanden töten könnte. Ist das der einzige Grund, warum du mich unter vier Augen sprechen wolltest?« Glinn lächelte sie mit seinen sanften braunen Augen an und er bekam kleine Lachfältchen. Er blickte hinunter auf ihren Mund und dann wieder in ihre Augen. »Du weißt, dass das nicht der einzige Grund ist. Du kannst hören, was ich gerade denke.« Mit Freude und großer Genugtuung sah Taboret, dass er sie küssen wollte und sich in seiner Schüchternheit nicht recht traute. Ihr ging es nicht anders. Er fühlte das und sein Blick wurde ganz zärtlich. Ganz langsam und behutsam senkte er den Kopf und seine Lippen suchten ihre. Sie legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund ein ganz klein wenig - und wartete. In dem Augenblick, da ihre Lippen sich berührten, hatte sie das Gefühl, als explodierten Leuchtraketen der Freude in ihrem Innern. Sie schloss ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. Die Berührung ihrer Körper war genauso schön und angenehm wie die Berührung ihrer Geister. »Ich sagte, das Essen sei fertig!«, tönte Basils Stimme über ihre Köpfe hinweg. »Kommt, ihr zwei, alle warten nur noch auf euch!« Ein wenig verschämt lösten sie sich voneinander. »Und denk dran«, sagte Glinn, so leise, dass sie ihr rechtes Ohr nah an seinen Mund halten musste, um ihn verstehen zu können. »Ein Fehler, und Brom weiß, was wir machen. Er braucht uns für die Gestalt, aber nicht so dringend, dass er ertappte Verräter in seiner Umgebung dulden wird. Schotte deine Gedanken ab. Die Sicherheit des Traumlandes hängt davon ab.« »Ich werd dran denken«, sagte sie. Aber es war zu verlockend, so nahe dort bei ihm im Schatten der Bäume zu stehen. Sie wandte ihm das Gesicht zu, um noch einen Kuss von ihm zu bekommen, und Glinn konnte sich nichts
Schöneres denken, als ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Als sie schließlich zu den anderen an den Tisch kamen, grinsten Dowkin und Doolin sie spöttisch an. »Wohl ein paar biologische Experimente auf eigene Faust unternommen, was?«, fragte Doolin. Taboret fühlte sich so wunderbar, dass der Spott ihr nichts ausmachte. Sie warf jedem der beiden Brüder ein freundliches Lächeln zu und setzte sich auf ihren Platz. »Was ist gegen außerlehrplanmäßige Aktivitäten einzuwenden?«, fragte sie und fühlte, dass sie dabei schmunzelte. »Solange unsere Arbeit nicht darunter leidet!«, dröhnte Brom vom Kopf des Tisches. »Das tut sie selbstverständlich nicht, Herr«, sagte Glinn, ein wenig beunruhigt. Er saß ihrem Chef genau gegenüber und schaute ihm ins Gesicht. »Ich wollte Ihnen noch sagen, Herr, dass ich da ein paar Ideen habe, wie wir unsere Geschwindigkeit steigern können, ohne die Rösser überzustrapazieren ...« Bei Tageslicht besehen, erwies sich die Verzerrung, die der Landschaft zugefügt worden war, als ein nahezu ununterbrochenes Band, das sich vor ihnen erstreckte. Lum schüttelte den Kopf und schob sein Fahrrad zurück zu den anderen. »Sie benötigen meine Fähigkeiten nicht mehr, Sir«, sagte er zu Roan. »Diese Spur könnte selbst ein Blinder mit Krückstock nicht verfehlen.« »Sind Sie sicher, dass es keine schädlichen Nachwirkungen auf zufällig Vorbeikommende hat?«, fragte Misha mit einem skeptischen Blick auf halb geschmolzene Felsbrocken und Vögel mit Backenbärten, die in den Bäumen ringsherum saßen.
»Dürfte es eigentlich nicht«, sagte Bergold, unschlüssig. Heute trug er einen krausen blonden Bart, den er nachdenklich kratzte. »Aber ich weiß es wirklich nicht. Ich habe so etwas wie die Gestalt noch nie zuvor gesehen. Fest steht auf jeden Fall, dass Brom sich keine Mühe mehr gibt, seine Spur zu verwischen.« »Ich bin nicht sicher, ob er das überhaupt noch kann«, sagte Roan. Die Pflastersteine bildeten eine mosaikartige Steppdecke unter den Reifen seines Rosses, die fast zu weich war, um drauf zu fahren. »Was wir hier sehen, ist schlimmer, als es je zuvor gewesen ist. Aber es gibt einen kleinen Trost. Wenn der WECKER solch schädliche Nebenwirkungen verursacht, muss er durch so wenig bewohnte Gegenden fahren wie möglich, aber weil er so schwer und unhandlich ist, muss er auf Hauptstraßen bleiben. Das heißt, wir brauchen ihm nicht querfeldein zu folgen.« »Es werden Städte an jeder Straße am Rande der Provinz liegen«, sagte Leonora mit besorgter Stimme. »Bis dahin werden wir ihn ganz bestimmt eingeholt haben«, sagte Roan. Er hoffte, dass er sich zuversichtlicher anhörte, als er es war. »Aber wohin genau in den Bergen will er?«, fragte Felan. Bergold schlug die Landkarte auf. »Brom hat uns anfangs, als wir uns an die Verfolgung machten, ganz schön durch die Gegend gescheucht«, sagte der Historiker, »aber ich glaube nicht, dass er es sich jetzt noch leisten kann, Zeit zu vergeuden. Da wir uns jetzt in Richtung Nordosten bewegen, nehme ich stark an, dass er zu den Dunklen Mysterien will. Wohin genau, kann ich natürlich nicht sagen.« »Er muss Meilen vor uns sein«, sagte Spar. »Wir brauchen Motorfahrzeuge, so wie er sie hat.« »Wir brauchen keinen physischen Transport, wenn wir Glück haben«, sagte Bergold. »Arbeiten wir weiter hart daran,
dass wir unser Ziel erreichen und wir werden uns dieses Glück verdienen. Wir sind falsch an diese Sache herangegangen. Unsere Rösser sind altmodisch und wir können keine Düsenmaschinen oder Autos oder Flugzeuge aus ihnen machen. Das können nur die Schläfer und das auch nur aus einer Laune heraus. Man darf nicht darauf zählen.« Misha nickte. »Das ist auch die Lehrmeinung nach der Kontinuität. Was können wir also tun?« »Wir haben alle zu einem gewissen Grad Einfluss«, sagte Bergold. »Benutzen wir ihn. Streben wir weiter rechtschaffen voran und hoffen auf Glück. Die Schläfer haben uns als Problemlöser erschaffen und sie werden das unterstützen. Ich habe immer festgestellt, dass ich umso mehr Glück habe, je mehr ich mich auf ein Ziel konzentriere.« »Nein, nein«, wandte Colenna ein. »Es wird von uns erwartet, dass wir uns mit dem zufriedengeben, was die Schläfer schicken, und nicht, dass wir es verändern.« »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Leonora. »Sonst hättest du Mnemosyne niemals verlassen.« »Ich bin mitgekommen, um jemanden aufzuhalten, der den Willen der Schläfer zu beeinflussen trachtet, aber doch nicht, um die Dinge selbst zu verändern!« »Dies ist der Punkt, in dem Brom und sein Schmelztiegel uns gegenüber im Vorteil sind«, sagte Roan. »Sie haben sich die ganze Zeit auf ein einziges Ziel konzentriert und deshalb waren sie uns immer einen Schritt voraus. Wir müssen sie unbedingt einholen. Also müssen wir zusammenarbeiten.« »Kobolde und Wandschrank-Monster, was glauben Sie denn, was wir die ganze Zeit getan haben?«, fragte Felan. »Wir müssen noch weitergehen, als wir es bisher getan haben«, sagte Roan. »Es schadet nicht, auf Glück zu hoffen, Colenna. Unser Endziel ist dasselbe: Brom aufzuhalten. Über die reine Lehre streiten können wir uns immer noch, wenn alles
vorüber ist.« »In Ordnung«, sagte die ältere Frau mit einem halb bewundernden schiefen Grinsen in seine Richtung. »Waffenstillstand.« »Sehr schön«, sagte Roan und er streckte ihr die rechte Hand hin. »Broms Methode scheint mir vernünftig. Lasst uns einander bei den Händen fassen, zum Zeichen, dass wir an einem Strang ziehen und dasselbe Ziel verfolgen.« Bergold und Leonora folgten seiner Aufforderung sofort. Die anderen zögerten einen Augenblick, bevor sie es ihnen gleichtaten. Spar und Felan schauten drein, als kämen sie sich ein bisschen albern vor, streckten dann aber ebenfalls die Hand aus, um die anderen anzufassen. Roan empfand den Körperkontakt als beruhigend und krafteinflößend. »Auf unser gemeinsames Ziel«, sagte er. »Auf unser gemeinsames Ziel«, echoten sie. »Gut. Dann lasst uns jetzt weiterreiten«, sagte Roan. »Das ist verblüffend«, erklärte Felan, als sie durch ein Feld aus vierblättrigen Kleeblättern fuhren. »Ich bin schon oft gereist. Warum ist mir das noch nie passiert? All diese Glückssymbole?« »Eine Kombination verschiedener Umstände«, sagte Bergold. »Die meisten von uns verfügen über einen nicht unbeträchtlichen eigenen Einfluss. Als weiteren Faktor würde ich die Laune der Schläfer nennen. Und vielleicht trifft es zu, was in der Vergangenheit gesagt worden ist, dass nämlich die Wirkungen sich verstärken oder vervielfältigen, wenn man sich den Sieben nähert.« Roan dachte, dass er an das letztere glaubte, da Bergold zuletzt seine Gestalt häufiger als je zuvor verändert hatte. Sein Bart war jetzt rot, und er rauchte eine lange, dünne Pfeife. »Das würde bedeuten, dass Broms Schweinereien immer schlimmer werden, je weiter wir kommen«, sagte Leonora.
»Nun, tun sie das nicht auch?«, fragte Misha. »Ja, aber werft mal einen Blick hinter uns«, sagte Bergold und deutete mit dem Stiel seiner Pfeife nach hinten. »Unsere eigene Passage hat einige der schädlichen Auswirkungen des WECKERS wieder getilgt. Wir üben bereits einen wohltuenden Einfluss auf das Land selbst aus.« Roans Zuversicht wuchs. Sie kamen sehr gut voran. Die Schwammigkeit des Weges war in einen Vorteil umgeschlagen, da die Rösser sich von Fahrrädern in Pferde zurückverwandelt hatten, die jetzt fröhlich dahinflogen. »Seht nur, was ich gefunden habe«, sagte Hutchings. Er zeigte ihnen eine doppelte Handvoll rötlich schimmernder Münzen. »Pfennige!« »Glückspilz«, sagte Felan. Pfennige hatten im Traumland keinen monetären Wert, aber sie waren als Glücksbringer begehrt. Hutchings zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ja, das ist wahr! Nehmen Sie sich einen, Sir. Und Sie auch«, sagte er, an Roan gewandt. »Jeder soll einen Glückspfennig bekommen. Das verleiht uns noch einmal zusätzlichen Schwung.« »Alles hilft«, sagte Bergold, als er seinen Glücksbringer erfreut entgegennahm. »Das ist eine seltsame Manifestation von Schläferwillen. Seht euch das mal an!« Er zeigte auf einen weichen Hügel in der Mitte des grünen Feldes zu ihrer Linken. Er sah aus, als wäre er aus handgroßen bunten Stoffflicken gehäuft. »Alette!«, befahl Spar. »Gehen Sie mal nachschauen, was das ist!« Die Gardistin trabte hinüber zu dem Hügel und kam mit einem Armvoll Textilien zurück. »Es sind Socken, Sir. Strümpfe und Leggings und Socken. Alle von einer Sorte.« Sie fing an, sie zu sortieren. Plötzlich griff Felan zielsicher in den Haufen und zerrte eine
königsblaue Socke mit einer seitlich auf der Wade aufgestickten Raute heraus.« »Das ist meine!« Roan starrte ihn überrascht an. »Sie scherzen.« »Nein, ich scherze nicht«, sagte Felan beleidigt. »Meine Mutter hat mir diese Socken vor Jahren geschenkt. Sie sagte, sie wären einzigartig ....« »Nun ja, sie sind unverwechselbar«, sagte Colenna und ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Felan ignorierte sie. »Irgendwann ging eine von ihnen bei der Wäsche verloren. Ich fand sie nie wieder. Ich bin sicher, das ist sie.« Er verstaute sie sorgfältig in seiner Satteltasche und zog die Nase hoch, als die anderen kicherten. »Dies ist ein Glücksort«, sagte Bergold mit fröhlichem Gesicht. »Alle möglichen Sachen, die irgendwann einmal verlorengegangen sind, finden sich hier wieder. Womöglich stoßen wir auf Dinge, die wir schon als Kinder verloren haben. Ich habe mich oft gefragt, wohin Sachen eigentlich verschwinden.« Hinter einer Kurve kamen weitere Kleiderhaufen in Sicht. Roan entdeckte den Glanz frisch gewienerten schwarzen Leders und stieß einen Freudenschrei aus. »Siehst du eine Socke?«, fragte Leonora. »Nein, aber meine Stiefel!« Er gab ihr Cruisers Zügel in die Hand und glitt aus dem Sattel, um seine Stiefel zu holen. Und gleich neben ihnen fand er den Anzug, der ihm bei dem Ärgernis vom Leib gezerrt worden war, sowie sein Unterzeug und seine Socken und seinen seidenen Zylinderhut. Unweit von ihnen lag ein kleiner Haufen hauchdünner, immergrünblauer Dessous, die nur Leonora gehören konnten. Er stand auf und winkte die Gruppe zu sich herüber. »Dies ist ein gutes Omen«, sagte Bergold, als er seine
Kleider ausschüttelte. Sie waren ein wenig zu lang für seine derzeitige Figur, aber er packte sie trotzdem ein. »Ein ausgezeichnetes sogar.« Sie drehten einander den Rücken zu und schlüpften in ihre richtigen Kleider. Mit großem Vergnügen band Roan seine Seidenkrawatte und zupfte den Knoten so zurecht, dass er sich von ihm nicht geknebelt fühlte. In den Taschen seines Anzuges fand er allen möglichen Kleinkram wieder, den er im Laufe der Jahre verloren hatte, unter anderem eine BaseballEintrittskarte, eine Münze mit einem Büffel drauf und einen Plastik-Decoderring, ein altes Familienerbstück. Die Straße führte aus dem breiten Tal heraus und in eine enge Passage zwischen hohen Wänden aus grauem Stein, die sie von beiden Seiten immer mehr einzwängte, bis sie schließlich nur noch in einer Reihe reiten konnten. Plötzlich kam die Reihe zum Stillstand. Roan richtete sich in seinen Steigbügeln auf, um zu schauen, was los war, aber das Einzige, was er sah, war Spars Hinterkopf. Der Pfad war zu eng, als dass die Rösser aneinander vorbeigekonnt hätten. »Warum halten wir?«, rief Felan von hinten. Seine Stimme hallte durch die enge Schlucht. »Ich kann nicht durch!«, rief Spar zurück. »Hier ist eine Schranke! Wir müssen womöglich rückwärts wieder hier raus!« »Was gibt es links und rechts von Ihnen?«, fragte Roan. »Nun, nichts!«, sagte der Hauptmann, die Wände mit beiden Händen abtastend. »Die Seiten sind aus glattem Stein - nein, warten Sie. Hier ist ein metallener Schlitz neben mir, ungefähr so breit wie mein Daumennagel.« Roan schaute auf seinen eigenen Daumennagel. »Die Pfennige!«, schrie er. »Probieren Sie's mal mit den Pfennigen, die Hutchings Ihnen gegeben hat, Spar!« »Ja, Sir«, sagte der Hauptmann der Garde unsicher. Er schob
die Hand in seine Satteltasche, was in der Enge gar nicht so einfach war und steckte einen Pfennig in den Schlitz. Kurz darauf war ein mahlendes Geräusch zu hören, gefolgt von einem rostigen Kreischen. »Sie geht hoch!« Er ritt durch die Schranke. Sobald er hindurch war fiel sie mit einem dumpfen, schweren RUMMS! wieder herunter und nun stand Colenna vor ihr. »Jetzt bin ich dran«, sagte sie. Roan sah, wie sich ihr linker Arm zur Seite bewegte und hörte das mechanische Surren. »Sie hebt sich«, sagte sie. »Wie ein Eingangstor.« »Ich wusste doch, dass die Pfennige zu irgendetwas gut sein würden«, sagte Hutchings fröhlich, als sie aus der engen Schlucht herausritten und wieder in ein weites Tal kamen. War der Himmel vor dem Tor noch klar gewesen, so war es jetzt windig und feucht. Der Boden um sie herum wirkte nass, als hätte es kurz zuvor geregnet. Ein Berg mit einem gespaltenen Gipfel erhob sich unmittelbar im Westen, und in der Ferne, am nördlichen Horizont, sah Roan die Konturen einer Gebirgskette. Das Land, das sie gerade verlassen hatten, war nicht mehr als sanft hügelig. »Wo sind wir?«, fragte Lum. Bergold holte die Landkarte hervor und ließ seinen Blick über das Gelände ringsum schweifen. »Ich würde sagen, hier«, sagte der Historiker und zeigte auf einen Punkt nicht weit von der Grenze zur nächsten Provinz. »Wie kann das möglich sein?«, fragte Spar. »Wir dürften eigentlich allenfalls bis hier gekommen sein.« Er setzte seinen Daumen auf eine Stelle viel weiter südlich. »Wir wollten Transport«, sagte Bergold. »Wir haben ihn bekommen.« »Also sind uns die Schläfer noch immer wohlgesonnen«, sagte Misha, über sein ganzes jungenhaftes Gesicht grinsend.
»Dies ist besser als das Deja vu.« »Sie gewähren ihre Gunst niemals umsonst«, rief Bergold ihnen in Erinnerung. »Wir müssen weiter wacker vorwärts streben. Wenn wir nachlassen, kann es passieren, dass sie unser Glück mit einem Fingerschnippen in Pech umschlagen lassen. Einfach so.« Er schnippte mit den Fingern und eine Blume fiel vom Himmel. Er schaute nach oben. »Ach, es ist ein Baum, der seine Blüten abwirft.« »Noch ein Loch in der Realität«, sagte Colenna mit Genugtuung. »Alles nach dem Willen der Schläfer. Dieses Mal war es gut für uns. Brom kann sie nicht dazu bringen, zu zerstören, es sei denn, die Schläfer wollen es so. Er kann uns nur in sie hineinsteuern, oder, wenn diese böse Macht, die sie da besitzen, so groß ist, sie in unsere Richtung schieben.« »Also kann es sein, dass der Mann, der durch das Loch gefallen ist...«, fragte Leonora zaghaft, die schrecklichen Geschehnisse der vergangenen Nacht wieder vor Augen. »Noch am Leben ist, meine Liebe«, vollendete Roan, so zuversichtlich klingend, wie er nur konnte. »Und vielleicht kann er sogar wieder nach Hause gehen.« Leonora sah erleichtert aus. »Falls die Träumer, die ihn träumen, nicht aufwachen«, sagte Felan, immer sogleich mit der negativen Alternative zur Hand. Die Prinzessin runzelte die Stirn und begann sich sofort wieder Sorgen zu machen. Roan wandte sich zu Felan und starrte ihn wütend an. »Oder wenn er nicht dort umkommt, wo er gelandet ist...« »Schluss jetzt damit!«, schnarrte Spar. »Immer fröhlich und positiv gestimmt sein, schon vergessen?« »Es besteht Hoffnung«, sagte Bergold und tätschelte Leonora beruhigend die Hand. »Es besteht immer Hoffnung.« Roan nickte ernst und ritt schweigend neben ihnen her.
Für ihn war der schwierigste Teil beim Bewahren einer positiven Einstellung jener kleine Zweifel, der immer noch in seinem Herzen nagte. Es fiel ihm schwer, sich auf die Rettung der Welt zu konzentrieren, wenn ein Teil von ihm nicht wirklich glaubte, dass Brom der Welt ein Ende setzen konnte. Ganz gleich welch grandiose Pläne er auch haben mochte, er war selber immer noch eine Schöpfung der Schläfer und sie hatten Macht über ihn. Und dennoch musste Roan an die Bedrohung glauben. Er musste sich zwingen zu glauben, dass Broms Erfolg das Ende von allem, was er kannte und liebte, bedeuten konnte. Zu seiner Überraschung fürchtete er die bevorstehende Katastrophe nicht, aber er war wütend darüber, wütend, dass Brom und seine Adepten es wagten, um der Antwort auf einer Frage willen die in Angst und Schrecken zu versetzen, die Roan liebte. Nicht, dass es Dinge gegeben hätte, die der Mensch nicht wissen sollte, aber es gab einige, die einen so hohen Preis hatten, dass der Mensch besser die Finger von ihnen lassen sollte. Brom hätte das Potenzial für Gefahr in Betracht ziehen müssen, die anderen widerfahren könnte. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, wusste Roan nicht, was er täte, wenn er Brom schließlich einholte. Er machte sich Gedanken darüber, was er mit ihm tun würde. Er war so wütend ... war er imstande, jemanden zu töten? Aber er musste sich beherrschen. Er konnte nicht einfach das Gesetz brechen, nur weil Brom es gebrochen hatte. Er war Roan, der Investigator des Königs, ein Repräsentant der Krone und des Volkes des Traumlandes. Wenn er etwas so Schlimmes tat, würde der König von ihm enttäuscht sein und er würde Leonoras Liebe nicht länger verdienen. Aber er wusste wirklich nicht, wie er sich verhalten würde, solange er nicht mit der Situation selbst konfrontiert war. Er hatte während dieser Reise bis jetzt eine Menge über sich selbst gelernt, aber das nicht - noch nicht.
29. KAPITEL Taboret spürte weder ihr vom Reiten wundes Hinterteil noch ihren Sonnenbrand, und selbst die gemeinen Sprüche, die die beiden Brüder immer wieder gegen sie losließen, prallten wirkungslos an ihr ab. Sie war glücklich. Jedesmal wenn Glinn in ihre Richtung blickte oder auch nur an sie dachte, empfand sie eine wohlige Wärme in ihrem Innern. Sie wusste sofort, was er dachte, und sie wusste, dass es ihm genauso ging. Die Landschaft sah farbiger aus als zuvor. Die Bäume waren höher. Das Zwitschern der Vögel klang fröhlicher, und alles nur, weil er bei ihr war. Sie wusste, dass sie schrecklich subjektiv war und es war ihr gleich. Ihre Romanze war natürlich Zielscheibe vieler Frotzeleien seitens der anderen Lehrlinge. »Glaubst du, es ist ein Nebeneffekt der Gestalt?«, fragte Carina neckisch, während sie Richtung Nordosten ritten, in das sich zusehends verschlechternde Wetter hinein. »Wer ist wohl als Nächster dran?« Taboret zog die Kapuze ihrer Parka zurück, um der älteren Frau eine Fratze zu schneiden. »Du«, sagte sie ebenso neckisch. »Du wirst dich in die Zwillinge verlieben und zwar gleich in beide.« »Das glaube ich wohl kaum!«, rief Carina zurück und lachte. Die Brüder warfen ihnen einen grimmigen Blick zu und Taboret spürte dunkle Gedanken, die von ihnen kamen. Taboret war froh, dass sie und Glinn halfen, die Stimmung der Gruppe zu heben. Brom war seit dem frühen Morgen übelgelaunt, da er zum dritten Mal vergeblich versucht hatte, die Motorräder in einen brauchbaren Lastwagen zu verwandeln. Er hatte es nicht vermocht, die Gestalt dazu zu bringen, genügend Kraft zu entwickeln, um ein dauerhaftes Gefährt zustande zu bringen. Selbst mit Glinns Input
funktionierte die Transformation in eine einzelne Einheit nicht so, wie Brom es geplant hatte. Er wusste nicht warum, und das ärgerte ihn. Seine Gefühle drangen durch das Band, mit dem Effekt, dass sich alle unwohl fühlten. Ständig murmelte er etwas von »den einzelnen Willen beherrschen«, was Taboret beunruhigte. Sie waren Wissenschaftler und keine geistlosen Ferntransportarbeiter. Die Rösser protestierten schon gegen die rüde Behandlung, und sie fürchtete, dass sie am Ende ihrer Kräfte sein würden, bevor sie ihr Ziel erreichten. Sie bemühte sich nach Kräften, den Gedanken zu vermeiden, das sehr gut zu finden. Aber Brom hatte es zumindest geschafft, die Motorräder mittels der Gestalt auf ein höheres technisches Niveau anzuheben. Die Motoren liefen leiser und runder, was die Anzahl der zufällig beim WECKER ausgelösten >Fehlalarme< senkte. Taboret fand, dass dies ein kleiner Trost war. »Dies ist die letzte Stufe vor der vollständigen Integration«, sagte Brom, halb zu sich selbst, halb an die Adresse Lurrys gerichtet, der neben ihm fuhr. Lurry war ein guter >Leiter.< Taboret war die Unterhaltung ebenso verständlich, wie wenn sie in ihm wäre. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Ich werde die Feinabstimmung der Parameter noch weiter vorantreiben. Wenn alles klappt, werden wir am Ende nicht bloß einen Superlaster haben, sondern auch noch einen Supermenschen als Fahrer! Ein Wesen! Eine Einheit!« Die Gestaltenergie veränderte sich fast von einer Stunde auf die andere. Taboret beobachtete eine zunehmende Einheitlichkeit im Verhalten der Lehrlinge. Beim Mittagessen griffen alle nach dem selben Teller. Und alle richteten sich auf, als einer von ihnen über einen Höcker in der Fahrbahn fuhr. Zuerst hatten sie es nacheinander getan, doch inzwischen taten sie es jedesmal gleichzeitig. Die zunehmende physische Koordinierung beunruhigte Taboret. Glinn, der neben ihr fuhr, musste ihre Besorgnis gespürt
haben. Er streckte seine behandschuhte Hand aus und drückte ihre. Sie mimte einen verstohlenenKuss in seine Richtung, und er neigte den Kopf zur Seite, als wolle er den Kuss mit der Wange auffangen. Gano wurde zufällig Zeuge dieses kleinen Intermezzos und neckte sie. Taboret fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden, aber sie wusste, dass Glinn das eigentlich nichts ausmachte. Sie hatte bisher noch nie viel Geduld mit Liebhabern gehabt, die ständig um ihre >Einzige und Ewige< herumscharwenzelten, aber sie hatte sich auch noch nie empfänglich für Zuneigung werden lassen. Sie hatte immer gedacht, ein Ehe- und Familienleben, wie das jener Dorfbewohner, durch deren kleines Nest sie jetzt gerade fuhren, sei öde und langweilig, jedenfalls nichts, was sie für sich persönlich wollte. Jetzt aber würde ein kleines bisschen von dem Geregelten, von dem Langweiligen, das sie immer so abgelehnt hatte, eine schöne, ganz neue Erfahrung sein, wenn sie es denn überhaupt noch erleben würde, sie zu machen. Wenn die Schläfer erwachten, würde alles anders werden oder sterben oder verschwinden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte diese Vorstellung ihr noch nichts ausgemacht. Warum hatte sie ihr eigenes Leben so geringgeschätzt? Jetzt, da es womöglich fast vorbei war, gab es plötzlich jemanden, um den sie sich sorgte. Sie wollte wissen, was passieren würde, wenn zwei Menschen zueinander fanden und ihr Leben miteinander teilten. Broms Experiment würde das unmöglich machen, nicht nur für sie, sondern für all die vielen Liebespaare im Traumland. Und Familien, dachte sie errötend und mit einer wachsenden Neugier, zu erleben, wie es sein würde, selbst eine zu haben. Der Schrei eines Kindes ließ sie und all die anderen Lehrlinge gleichzeitig nach rechts blicken. Ein kleines Mädchen rannte lachend durch den Garten einer Kate. Taboret fühlte, wie ihr beim Anblick des kleinen Mädchens ganz elend
wurde. Sie wollte das Experiment unbedingt stoppen, aber sie befürchtete, dass es dazu zu spät war. Glinn machte ihr Hoffnung. Er glaubte, dass er wusste, was zu tun war. Daran klammerte sie sich. Eines Tages würden sie vielleicht zusammen ein eigenes kleines Labor haben, vielleicht an einem Ort wie diesem. Ein Jungwissenschaftler oder zwei, die auf dem Küchentisch Destillationskolben in die Luft jagten ... Sie hörte auf, auf die kleine Stadt zu starren und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Zu ihrem Entsetzen starrte Brom sie an, mit rot lodernden Augen. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie gedacht hatte, ohne ihre Gedanken durch den üblichen Dunstschleier aus Gehorsam und Zuversicht zu filtern. O nein! Was hatte er gehört? Hatte sonst noch jemand zugehört? Aber Brom drehte sich wieder um und fuhr weiter, ohne einen seiner üblichen bissigen Kommentare. Vielleicht hatte er gerade mal den äußersten Rand ihrer Unzufriedenheit aufgeschnappt und sparte sich seine Gardinenpredigt für später auf. Sie kauerte sich über ihre Lenkstange und versuchte, ihre Gedanken noch einmal durchzugehen. Sie fühlte sich noch immer verwirrt, als sie über die Landzunge kamen und die Bronzebrücke sahen, die nach Rem führte. Sie war sehr schön mit ihren kunstvoll verzierten Bögen und Stützen, die auf Granitpfeilern ruhten, die rings um die Wasserlinie grün von Algen waren. Die Straße verlief an ihr vorbei, statt auf sie zu und zwei schimmernde Gleise zogen sich über sie. Es war eine Eisenbahnbrücke. »Die Brücke muss halb so alt wie das Traumland sein«, sagte Bolmer. »Metallkonstruktionen wie die sind schon seit Ewigkeiten nicht mehr üblich.« »Du hast die Seele eines Architekten«, sagte Basil. Aber Taboret wusste, dass sie alle das Bild in ihrem Geist sahen und es mit Bolmers Interesse und Fachkundigkeit bewunderten. Sie hoffte, dass sie, sollte sie das Experiment überleben, ein bisschen von dem, was die Gedanken der anderen in ihr
Gedächtnis gelegt hatten, behalten würde. Zu beiden Seiten entlang der Böschung über der Kluft konnte sie zahlreiche kleine Dörfer ausmachen, jedes mit seinem eigenen kleinen Steg auf die andere Seite. Einige von ihnen bestanden schlicht aus ein paar von Seilen gehaltenen Planken, andere waren kunstvolle Konstruktionen. Konnten sie tatsächlich als Fluchtwege in Zeiten des Umbruches dienen? Auch fragte sie sich schuldbewusst, ob sie überhaupt irgendeinen Zweck erfüllen würden, wenn sie und der WECKER die Schläfer erreichten. Es war lustig, auf der einen Seite Eiszapfen zu sehen, während sich auf der anderen Palmen in der Brise wiegten. Brom dirigierte sie nach links. »Wir werden hier hinüberfahren!«, verkündete er. Er rollte vorwärts, und die Reifen seines Motorrades verbreiterten sich und bekamen Rillen, die genau auf das linke Gleis passten. Lurry veranlasste hastig die gleiche Modifikation an seinem Motorrad und rollte auf das rechte Gleis. Als sie und Glinn Seite an Seite über die Brücke fuhren, riskierte Taboret einen kurzen Blick in die Tiefe und bekam sofort einen Schwindelanfall. Dies war eine der Facetten des gemeinsamen Wahrnehmens, die sie gar nicht mochte, da sie gewöhnlich nicht an Höhenangst litt. Mitten auf der Brücke, genau auf halber Strecke, schlug das Wetter von Winter in Sommer um. Es war ein heißer Tag in Rem. Alle Lehrlinge begannen sogleich mit dem Abwerfen mehrerer Textilschichten. Und, wie üblich beim Übergang von der Einflusssphäre des einen Schläfers in die des nächsten, veränderten sich auch ihre Körper. Als Taboret die Pullover, wollenen Unterhosen, die Parka und ihre Stiefel abgelegt hatte sah sie zu ihrer Freude, dass sie etwas weiblichere Formen bekommen hatte, die in deutlichem Kontrast zu ihrem gewohnten, eher an praktischer, nüchtern funktionaler Zweckmäßigkeit ausgerichtetem Körpertypus standen. Hatte es
etwas mit Wunschdenken zu tun? Handelte es sich hierbei um einen unbewussten, nichtintellektuellen Versuch, Glinns Aufmerksamkeit auf sie zu lenken? Wie auch immer, es funktionierte. Glinns warme Gedanken waren wärmer als zuvor. Bei der nächsten Rast, die sie einlegten, würde sie dafür sorgen, dass sie wieder Gelegenheit bekamen, für eine Weile für sich zu sein. Sie holperten das Schotterbett des Schienenstranges hinunter, bis sie wieder eine Straße fanden. Brom dirigierte sie nach rechts, sodass sie nun in nördliche Richtung fuhren. Ein paar Meilen weiter tauchte plötzlich ein breiter, scharfkantiger Schatten über ihren Köpfen auf. Taboret blickte gerade noch rechtzeitig hoch, um zu sehen, wie der riesige, weißköpfige Vogel zur Landung knapp neben Brom einschwebte, bevor er sich in einen kleinen rechteckigen Briefumschlag mit einer Adlerbriefmarke in der rechten oberen Ecke verwandelte. Lurry sprang diensteifrig von seinem Bike, um ihn für seinen Herrn aufzuheben. Brom riss den Umschlag auf und las das aus einem Blatt bestehende Schreiben. »Sie sind uns dicht auf den Fersen«, sagte er, und niemand musste fragen, wen er meinte. »Wir brauchen wieder etwas zur Abschreckung.« Er musterte der Reihe nach seine Adepten und sein lodernder Blick blieb an ihr hängen. »Sie.« Er drehte den Kopf, bis sein Blick Glinn fand. »Und Sie. Gehen Sie mit Acton und Maniune mit. Roan hat die Brücke noch nicht überquert. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen. Männer, hier sind eure Instruktionen!« Er wandte sich den beiden Söldnern zu und sprach leise mit ihnen. Taboret versuchte über Lurry zu lauschen. Was für eine Art von gemeinem Hinterhalt wollte Brom ihnen diesmal legen? Sie musste jedoch feststellen, dass der Boss einen Privatsphären-Schutzschild errichtet hatte, auf genau die
gleiche Weise wie sie und Glinn am Abend zuvor. Mist! Sie fragte sich, warum er sie aussperrte, und kam zu dem Schluss, dass er das schon die ganze Zeit getan haben musste, aber dass das Band nicht stark genug gewesen war, als dass sie das hatte merken können. Schließlich hob Brom den Blick. »Glinn, geben Sie Basil Ihren Ärgernis-Detektor. Wir wollen doch nicht auf irgendwelche Hindernisse stoßen, während Sie weg sind.« »Ja, Herr.« Glinn löste die goldene Kette und händigte Basil das armbanduhrgroße Gerät aus. Taboret fand Broms Gesichtsausdruck rätselhaft. Er wirkte enttäuscht. Konnte es sein, dass er dachte, Basil sei nicht so geschickt darin wie Glinn, die kleine Anzeige zu lesen? Sicher, das philosophische Gerät war eine hochkomplizierte Maschine, aber es war genauso leicht zu benutzen wie ein Kompass. Sie empfand Stolz bei dem Gedanken, dass in den Augen ihres Bosses Glinn als nicht so leicht ersetzbar galt. »Fahrt sofort los«, befahl, Brom. »Wir werden weiterfahren, bis wir unseren optimalen Haltepunkt erreichen. Diese Ablenkung muss so wirksam sein, dass wir Roan ein für allemal vom Hals haben. Ihr werdet die Gestalt-Kraft einsetzen. Zapft euch ab, was immer ihr braucht, aber es muss effektiv sein. Wir vertrauen euch die gesamte Kraft-Bank an.« Taboret nickte feierlich. Sie brachte ihr Motorrad hinter Acton in Position. Glinn fuhr hinter ihr her und Maniune bildete den Schluss. Als das Geräusch von Broms Kavalkade hinter ihnen verebbte, verspürte Taboret den plötzlichen Drang, ihr Ross zu beschleunigen und auf dem schnellsten Weg nach Hause zu fahren. Sie wandte sich zu Glinn um, der den Kopf schüttelte. Er hatte etwas vor, das spürte sie. Sie würden den Hinterhalt legen, genau so, wie Brom sie angewiesen hatte, und dann einen Weg finden, wie sie die anderen davor bewahren
konnten, in ihn hineinzutappen. Das würde nicht einfach sein mit den beiden Schlagetots im Nacken. Die Straße verbreiterte sich und Glinn lenkte sein Ross neben sie. »Ich bin froh, dass er uns beide geschickt hat«, sagte sie so leise, dass die Wahrscheinlichkeit, einer von den Söldnern könne sie hören, gering war. »Es ist schön, eine Weile mit dir allein fahren zu können«, stimmte Glinn ihr mit einem Lächeln zu. Taboret warf den Kopf hoch. Ihr Haar, für gewöhnlich nicht ihr Prunkstück, wogte und kräuselte sich betörend um ihr Gesicht. »Hey, ihr zwei Turteltauben!«, rief Acton höhnisch über seine Schulter. »Wenn ihr rumknutscht, haben die anderen dann wenigstens auch was davon? Häh?« Er wieherte laut über seinen eigenen Witz. »Häh? So nach dem Motto, du gehst ihr an die Möpse und die anderen kriegen auch eine Handvoll ab? Jedenfalls besser als diese Feelarama-Kinos, von denen sie in der Wachwelt reden, häh? Schade, dass wir nicht Teil eures intimen kleinen Kreises sind, häh? Ich hätt nichts dagegen, 'n Stückchen davon abzukriegen!« Acton konnte eine fundierte wissenschaftliche Erklärung und ein paar IQ-Punkte gut gebrauchen, da er selbst keine hatte. Taborets Augen sprühten Blitze. Mit einer flinken Handbewegung pflückte Glinn sie aus der Luft, ehe sie Acton treffen konnten. Taboret schaute ihn überrascht an. Dann wurde ihr klar, wie recht Glinn hatte. Wenn sie sich die beiden Söldner zum Feind machten, würden sie sie unter Garantie die ganze Zeit über nicht mehr aus den Augen lassen. Taboret schämte sich für ihre Unbesonnenheit. Glinn war bei weitem der bessere Stratege. Er dachte immer weiter voraus. »Unser Privatleben geht Sie nun wirklich nichts an, meine Herren«, sagte Glinn gelassen. »Erzählen Sie uns lieber ein paar Einzelheiten über die Mission, die vor uns liegt.«
»Die werdet ihr kriegen, sobald wir vor Ort sind«, erwiderte Acton. »Richtig, Manny?« Es herrschte drückende Hitze, und ihre Kleider verdünnten sich noch mehr. Taboret ertappte sich dabei, dass sie Glinn betrachtete. Die Gestalt, die er jetzt hatte, war ein schöner Körper, schlank, kräftig, mit großen Händen, Händen, die zupacken konnten. Aber war er nicht über die meisten seiner Verwandlungen hinweg attraktiv gewesen? Er musste einfach eine hübsche Grundform haben. Sie fragte sich, was er wohl von ihr halten mochte - und empfing einen kurzen Impuls von Wahrnehmung durch das Band. Er fand sie hübsch. Sie spürte, wie sie errötete und hoffte, dass Acton nichts davon mitgekriegt hatte. Er fuhr jedoch mit seinen anzüglichen Bemerkungen fort; zum Glück gingen sie größtenteils im Gebrumm seines Motorrades unter. An einer Stelle, wo die Straße die Gleise kreuzte, lag ein Haufen nebulöser Steinbrocken auf der Fahrbahn. »Stop!«, schrie Maniune. Er schwang eines seiner muskulösen Beine von seinem Motorrad und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Sattel. »Er selbst hat sie bemerkt, als wir hier herauf kamen«, sagte er zu den Lehrlingen. »Er will, dass ihr da draußen ein Loch fabriziert.« Er deutete mit einem Nicken auf den Weg, den sie gerade gekommen waren. »Und ihr sollt dieses Zeug zum Befestigen nehmen. Lasst es weit offen, damit die Dinge von der anderen Seite aus ihm rauskommen können. Das hat er gesagt. Und macht es gut, klar?« »Klar«, sagte Glinn und schlenderte die Straße hinunter. »Komm mit, Taboret. Wir werden es so gut machen, wie wir können.« Taboret verstand. Sie würden ihren Hinterhalt legen, aber so offensichtlich, dass niemand, der Augen im Kopf hatte, in ihn hineintappen würde. Sie raffte ein paar Hände voll Nebulosität
von dem Haufen auf und folgte ihm. Sie knetete den Pseudostein zu Zeltstangen und Himmelshaken, während Glinn die Stelle inspizierte, an der das Loch sein sollte. Er zeigte ihr, wo sie die Stangen hinstellen sollte und half ihr, die Himmelshaken auf beiden Seiten der Straße in die Luft zu hängen. »Es wird nicht lange halten, wenn jemand hineinreitet«, sagte er, nachdenklich sein Kinn kraulend, eine Geste, die er bei Brom aufgeschnappt haben musste, »also werden wir uns darüber keine Gedanken machen. Es ist nicht dazu gedacht, lange zu halten, sondern lediglich dazu, Roan und die anderen abzuschrecken. Er wird es rechtzeitig bemerken.« Glinn streckte seine Hand aus und wartete darauf, dass sie ihre Hände auf seine legte. Als Leitung für den gesamten Schmelztiegel zu dienen, gab Taboret das Gefühl, als sei sie die Düse eines Feuerwehrschlauches. Ungeheure Kraft, die zugleich von überall und nirgendwo herzukommen schien, strömte in sie hinein und sprühte aufwärts in ein gleißendes Netz. Es war zuviel auf einmal. Sie konnte es nicht beherrschen. Sie fühlte Panik in sich hochwallen und stellte im Geiste den Fuß auf den Schlauch. Aber Glinn war vorbereitet. Mit einer sanften geistigen Berührung half er ihr, den Fuß wieder vom Schlauch zu nehmen und den Energiestrom zu kontrollieren. Sie fühlte mehr als dass sie sah, wie sich die Bresche im Gewebe der Wirklichkeit zwischen ihnen auftat. Das Loch begann als ein winziger, gleißend heller Lichtstrahl, der rasch die Ränder der Natur wegbrannte, bis Taboret hindurchsehen konnte in jene andere Sphäre jenseits des alltäglichen Daseins. Dort lauerte der Wahn, hatte man ihr einst als Kind erzählt. Wahn und Formlosigkeit. Glinn ließ ihre Hand los und trat zurück, das Loch zwischen ihnen ausdehnend. Taboret befürchtete zuerst, das
Unterbrechen des Kontaktes würde die Gestalt beenden, aber ihre Form hatte sich inzwischen weit über die primitive Struktur des ersten Tages hinaus weiterentwickelt. Das Band hielt. Sie packte entschlossen den Rand des Risses auf ihrer Seite und zog ihn weiter nach außen. Das hierdurch entstandene Rechteck war wie ein feines, silbergraues Spinnennetz, das sich in einer scheinbar unendlichen Spirale zu einer unsichtbaren Mitte hin verjüngte. Wenn man es zu lange anstarrte, erfasste einen ein unwiderstehlicher Schwindel. Taboret wandte den Blick ab und lauschte dem leisen Tosen. Sie fand, dass es sich anhörte wie ein langgezogener Schmerzensschrei. Ganz so als hänge er eine Gardine auf, befestigte Glinn seine Seite des Loches und kam dann zu ihr herum, um das Gleiche auf ihrer Seite zu machen. Taboret hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick in ein hysterisches Lachen ausbrechen. Chaos, sauber gerafft und befestigt. »Und wenn er es nicht rechtzeitig sieht?«, fragte sie im Flüsterton. Glinn gab keine Antwort. Das brauchte er nicht. Sie wusste es auch so. Er legte den Arm um sie und drückte sie. Sie war froh und dankbar. Er fühlte sich so real an. »Saubere Arbeit«, sagte Maniune. Er und Acton kamen herüber, um das Werk zu begutachten. Die zwei stämmigen Männer prüften das Netz von oben bis unten und nickten anerkennend. »Das war dann soweit alles?« »Das war dann soweit alles«, sagte Glinn und klopfte sich den Staub von den Händen. »Es ist eine tödliche Falle, wie man sie besser nicht stellen kann. Ich glaube Meister Brom wäre sehr zufrieden.« »Gut«, sagte Maniune. »Dann wollen wir sie mal testen.« Jeder der beiden packte einen Arm Glinns und dann drängten sie ihn rückwärts zu dem Loch. Glinn wand sich nach Kräften und suchte verzweifelt nach einem Halt, aber die beiden
Grobiane waren darauf vorbereitet. Mit einem gemeinen Grinsen auf seiner brutalen Visage rammte Acton Glinn die Faust in den Magen und Glinn sackte mit einem Stöhnen in sich zusammen. Taboret schrie auf, sprang auf Maniunes Rücken und trommelte wild mit den Fäusten auf seinen Kopf. Der Schläger schüttelte sie mühelos ab, hob Glinn vom Boden auf und warf ihn in das Loch. Mit einem Schrei verschwand Glinn. Taboret rannte zum Rand des Loches. »Glinn!« Die infernalischen Winde zerrten an ihrem Gesicht. Alles, was sie sehen konnte, war wirbelnde Nicht-Existenz, die ihren Sinnen trotzte. Sie steckte den Arm in das Loch, in der verzweifelten Hoffnung, ihn zu finden. Aber es gab keine Spur von ihm, nicht die geringste. War er zu einer Singularität reduziert worden? Ihr Blick tanzte mit dem grauen Wirbel. Sie tastete mit ihrem Geist nach ihm, aber das Band war zerrissen. Plötzlich fühlte sie sich von hinten gestoßen. Die Söldner wollten auch sie in das Loch werfen! Taboret wand sich und krallte sich an den Armen fest, die sie vorwärts schoben. »Nicht!«, schrie sie, beide Arme verzweifelt umklammernd. Sie fand ein Gesicht: das von Maniune. »Bitte! Helfen Sie mir, ihn wieder rauszuholen!« »Der ist hinüber«, sagte Maniune ungerührt, aber sein Gesicht war bleich vor Entsetzen. Er hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewusst, was Chaos war. »Der Boss mag keine Verräter. Er will, dass ihr beide ausgelöscht werdet. Wir werden den Job erledigen.« »Bitte, tun Sie's nicht!«, flehte Taboret. Sie krallte sich an beiden fest, an sie geklammert mit einer übernatürlichen, von Gestaltenergie verstärkten Kraft. »Bitte! Sie haben doch gesehen, was mit ihm geschehen ist! Er wurde in Stücke gerissen! Bitte töten Sie mich nicht!«
»Na gut«, sagte Maniune. »In Ordnung, wir lassen dich am Leben. Aber damit das klar ist: wenn du nicht brav bist, dann bist du als Nächste dran! Es wäre uns ein Leichtes, dich auch hineinzuwerfen.« Er zeigte mit dem Daumen auf die wirbelnde Masse. Taboret hatte das Gefühl, als zerrisse es ihr schier das Herz. Vielleicht war das das Beste, was ihr passieren konnte. Wenn Glinn tot war, was hielt sie dann noch am Leben? Sie fühlte sich in ihrem Innern wie tot. Taboret ließ sich von den Männern absetzen und strich sich über ihre Kleider und ihr Haar, das sich genauso leblos anfühlte wie ihre Seele. Sie konnte nicht einmal weinen. »Ich werde mich benehmen«, sagte sie. »Gut«, sagte Maniune erleichtert. »Das dürfte reichen. Damit wird sich der Boss zufriedengeben.« »Hey, sie hat mir ganz schön einen verplättet«, beschwerte sich Acton und rieb sich den Nacken. »Stell dich nicht so an«, sagte Maniune mit einem wütenden Blick auf seinen Spießgesellen. »Du wirst schließlich dafür bezahlt.« »Aber was hat Meister Brom gesagt, was wir jetzt als Nächstes tun sollen?«, fragte Taboret. »Er will, dass wir uns vergewissern, dass eure Falle auch funktioniert. Er traut euch nämlich nicht über den Weg. Nun, sie wird schon funktionieren, weil, wenn sie das nämlich nicht tut, nun, du weißt schon ...« Maniune schwenkte die Arme hin und her, eine werfende Bewegung simulierend. Taboret hatte keine Schwierigkeiten zu verstehen, was er damit meinte. Sie wandte sich um und schaute zu dem Loch - und sah zwei unirdisch anmutende Lichter, die aussahen wie Augen. Sie erschauerte. Maniune pfiff die Motorräder zu sich und sie fuhren auf dem Schienenstrang zum Fluss hinunter.
»Hier entlang, Sir«, sagte Lum, auf die Brücke deutend. Roan schaute auf das verschlackte Gras und die aufgepflügten Pflastersteine, die den Weg zu den schimmernden Gleisen markierten. Teile der goldbraunen Brücke wanden und krümmten sich und wölbten sich auf: die Folge des WECKERtransports. »Warum mögen sie wohl über eine Eisenbahnbrücke gefahren sein?«, fragte Misha. »Alles andere könnte zu dicht an bewohnte Gegenden herankommen«, erklärte Bergold und warf einen Blick in beide Richtungen der Schlucht. Die nächsten Überquerungsmöglichkeiten waren in beiden Richtungen eine gute Viertelstunde scharfen Ritts entfernt. In der Zeit würde Brom seinen Vorsprung wiedererlangt haben. Roan war nicht gewillt, ihm auch nur einen Zoll zu schenken. »Wir werden die Rösser zu Fuß hinüberführen müssen«, sagte Roan. »Die Träger sehen schwächer aus, als sie sollten.« »Hmmf!«, schnaubte Colenna. »In Anbetracht dessen, was hier rübergerollt ist, ist das kein Wunder.« Nachdem sie ihr bedeutet hatten, einen Sicherheitsabstand einzuhalten, begaben Spar und Lum sich vorsichtig auf die Brücke. Misha und Felan kamen als Nächste. Danach reihten sich die anderen ein. Roan bildete den Schluss, bereit, jeden sofort zurückzureißen, der den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. Als Spar sich vorwärtsbewegte, gab die alte Brücke ein lautes, herzzerreißendes Stöhnen von sich. Der Hauptmann zuckte einmal kurz zusammen, ging aber weiter. »Nicht zu dicht hintereinander!«, rief Felan denen zu, die hinter ihm gingen. »Dieses Ding kann jeden Augenblick nachgeben.« Roan blickte nach unten. Die Schlucht war tief, und der Fluss an ihrem Grunde strömte so schnell dahin wie jeder Zug, der über diese Gleise gefahren war. Er ließ sich einen Schritt
hinter Leonora zurückfallen und gab ihr einen Augenblick Zeit, um ein paar Schritte Vorsprung vor ihm zu gewinnen. Eigenartig, dass, obwohl die Brücke so schwere Schäden erlitten hatte, die Gleise selbst unversehrt geblieben waren. Es lag eine Permanenz, eine Art unerschütterlicher Dauerhaftigkeit in der Eisenbahn, die tief im Gefüge des Traumlandes verwurzelt war. Brom mochte sie vielleicht pervertieren können, aber zerstören konnte er sie nicht. Als schließlich Roan an der Reihe war, setzte er vorsichtig einen Fuß vor den ändern. Jeder Träger, jede Stützstrebe der Brücke schien auf ihrer gesamten Länge von fünfhundert Fuß in ein anderes Material verwandelt worden zu sein: Kork, Kreide, Käse, Leder, Gummi, Diamant. Spar stieß einen wortlosen Schrei aus und Roan hob den Kopf. Das Geräusch, das den Hauptmann der Garde aufgeschreckt hatte, erreichte jetzt auch ihn. Ein Zug nahte! Roan ließ den Blick über die Brücke wandern. Die erste Welle war bereits jenseits des Scheitelpunkts des mittleren Bogens. Konnten sie und ihre Rösser sich an die Seite quetschen und den Zug an sich vorbeirasen lassen? Nein. Diese Stützbögen konnten unmöglich das Gewicht des Zuges und zusätzlich auch noch das der Gruppe tragen. Der Zug würde in die Tiefe stürzen, in den Fluss und wahrscheinlich jeden an Bord mit in den Tod reißen. »Kehrt um!«, schrie Roan. Er wendete Cruiser und gab ihm einen Klaps auf das Hinterteil, um ihn anzutreiben. »Kommt zurück! Ich werde den Lokführer warnen!« Das Tuff-tuff-tuff wurde lauter. Leonoras langes Kleid wickelte sich plötzlich um ihre Beine und zerteilte sich in zwei Hosenbeine, sodass sie sich freier bewegen konnte. Sie schwenkte Golden Schwinn herum. Auch die anderen kehrten um. Roan winkte sie an sich vorbei, damit er nach vorn rennen und den Zug anhalten konnte.
»Nicht drängeln«, warnte Bergold, während er seine kurzen Beine streckte, um von Schwelle zu Schwelle zu hüpfen. Colenna folgte ihm mit einem Schritt Abstand, wobei sie genau schaute, wohin er seine Füße setzte, bevor sie in seine Fußstapfen trat. »Sonst bricht sie noch unter unserem Gewicht zusammen.« »Beeilt euch!«, rief Felan vom Schluss der Reihe. »Der Zug kommt immer näher!« »Beeilt euch!«, rief Roan. »Beeilt euch!«, schrie Spar. Das Rattern und Rumpeln begann durch die Schlucht zu hallen. Der Zug war noch immer hinter dem dichten Buschwerk auf der Spitze der Felsenufer verborgen. Roan hüpfte von Schwelle zu Schwelle, so schnell er sich eben traute. Denschläfernseidank waren seine Beine so lang, dass der Abstand zwischen den Schwellen kein Problem für ihn darstellte. Was, wenn die Lokomotive auf die Brücke kam? Wenn der Lokführer scharf bremste, würde das Gewicht der hinteren Waggons ausreichen, um den vorderen Teil mit der Lok vor dem Abstürzen zu bewahren? Er blickte nach hinten. Die anderen passierten gerade den Scheitelpunkt des Bogens. Der Zug kam jetzt immer näher. Er glaubte nicht, dass er ihn retten konnte. Würde er wenigstens sich selbst retten können? Zwei gleißende weiße Scheinwerfer leuchteten durch das Buschwerk und kamen wenig später auf den Schienen auf ihn zugerast. Das Rattern schwoll zu ohrenbetäubendem Lärm an. Roan starrte auf die Lichter. Was er sah, wirkte anders als alle Lokomotiven, die er je gesehen hatte. Das gelbbraun-goldene Schuppenmuster der Frontpartie sah aus wie der Kopf eines Tieres - eines Reptils. Die Lampen waren Schlitzaugen. Roan starrte das Ungetüm mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an. Es waren in der Tat Augen! Und es war in der Tat auch gar kein Zug! Es war eine Klapperschlange von der Größe eines Zuges!
»Lauft!«, schrie Roan seinen Freunden hinterher. Die Schlange glitt vorwärts. Ihr langer Schwanz zitterte und brachte dabei das Geräusch hervor, das sie irrtümlich für das Rattern eines herannahenden Zuges gehalten hatten. Aber was da nahte, war schlimmer als ein Zug. Die Schlange riss ihr riesiges rosafarbenes Maul auf und bleckte ihre mannshohen Fänge, von denen das Gift tropfte. Immer schneller kam sie heran, darauf aus, die winzigen Menschlinge zu verschlingen. Gleichzeitig begann die Brücke sich unter ihrem Gewicht zu biegen. »Wir müssen springen!«, schrie Roan. Es blieb keine Zeit mehr. Er schwang sich über das Geländer und die Brücke brach über ihm zusammen, als er in den tiefen Schlund fiel.
30. KAPITEL
Taboret konnte sich einen leisen Aufschrei nicht verkneifen, als die Brücke zusammenbrach und ihre Trümmer in die Schlucht fielen. Die Riesenschlange, die Menschen, die Rösser, alles purzelte die steilen Böschungen hinunter in die Tiefe. Sie rannte zum Ufer und teilte die Büsche mit den Händen. Sie suchte das Wasser nach Leibern ab. Ob noch jemand am Leben war? Die Schlange tauchte kurz an der Wasseroberfläche auf. Ihre Augen erloschen, und sie zerbrach in Stücke, jedes ungefähr so groß wie ein Eisenbahnwaggon und wurde von der Strömung davongetragen. Sobald sie aus dem Weg war, konnte Taboret Köpfe an der Wasseroberfläche auftauchen sehen. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Versteck dich, Naseweis!«, schnarrte Maniune hinter ihr. Sie zog einen Tarnmantel aus dem Schmelztiegel und fuhr fort, die silbrigglänzende Oberfläche nach weiteren Überlebenden abzusuchen. Broms Geist zerrte an ihrem, er wollte mehr wissen, mehr sehen. Sie schob den Kopf ein Stück weiter aus dem Gebüsch. Die Rösser der Verfolger verwandelten sich in Pferde zurück. Sie schwammen zum gegenüberliegenden Ufer und krabbelten auf den Sandstrand, wo sie sich trockenschüttelten. Ihre Reiter waren weniger leistungsfähig; die Strömung riss sie mit sich und spülte sie ein ganzes Stück weiter an beide Ufer des Flusses, sodass sie weit zerstreut waren. Taboret vermochte beim besten Willen nicht zu sagen, wie viele es waren. »Hallo?«, krächzte unter Husten und Prusten eine leise Stimme. »Ist da irgendjemand?« Taboret schaute nach unten. Eine schlanke Gestalt in Weiß klammerte sich an die Felsen fast unmittelbar unterhalb von
ihnen. »Ist da oben jemand?«, wiederholte die Stimme. »Wenn ja, bitte helfen Sie mir!« Taboret riss Mund und Augen weit auf. Es war Prinzessin Leonora! »Eure Hoheit!«, schrie sie. Taboret war entsetzt. Sie hatte geglaubt, die Prinzessin sei wohlbehalten zurück in Mnemosyne. Sie durfte auf keinen Fall zurück ins Wasser fallen. Sie würde ertrinken. »Die Prinzessin?«, zischte Maniune. »Schnappen wir sie uns!« Taboret stieß ihn aus dem Weg und legte sich bäuchlings auf den felsigen Boden. Während sie sich mit der einen Hand an den Zweigen festhielt, streckte sie die andere nach der Prinzessin aus. Die Zweige zerkratzten ihr das Gesicht. Sie spuckte Blätter aus. »Eure Hoheit, kommen Sie an meine Hand heran?«, rief sie. Ihre Stimme wurde durch ein Echo verzerrt, aber die junge Frau schien sie verstanden zu haben. Eine Hand tauchte aus den tropfenden Falten ihres Kleides auf und reckte sich nach oben. »Wo sind Sie?«, rief Leonoras Stimme. »Ich kann Sie nicht sehen!« Taboret ließ ihren unsichtbaren Schutzschild fallen. Sie erwischte das Handgelenk der Prinzessin, fasste nach, bis sie es fest im Griff hatte und zog. »Ich mache mich so leicht wie möglich«, rief die Prinzessin. »Helfen Sie mir«, rief Taboret keuchend über ihre Schulter in Richtung der beiden Söldner. »Ziehen Sie uns raus!« Maniune und Acton packten sie bei den Beinen und zogen sie nach hinten. Taboret fasste die Prinzessin mit der freien Hand unter die Achsel, sobald sie konnte, und hielt sie in
festem Griff, während die zwei Männer sie auf sicheres Terrain schleiften. Leonora kroch noch ein paar Schritte auf den Knien und hielt dann an. Sie rieb sich die Ellenbogen, die zerkratzt und aufgeschrammt waren. Sie versiegelte ihre Wunden und blickte dann auf zu ihren Rettern. »Den Schläfern sei Dank, dass Sie zur Stelle waren«, sagte sie erleichtert, während sie ihr nasses schwarzes Haar zurückstrich und das Wasser aus ihren Kleidern wrang. »Ohne Ihre Hilfe wäre ich da nicht mehr herausgekommen. Wohnen Sie hier in der Nähe? Ich denke mir, die meisten Leute leben an der Grenze. Es ist dort sicherer, nicht wahr? Meine Freunde werden schon nach mir suchen. Haben Sie zufällig welche von ihnen gesehen?« Leonoras freundlicher Gesichtsausdruck verwandelte sich schlagartig in einen solchen des Entsetzens, als sie Taborets weißblaues Sommerkleid und den Taschenschützer sah. Blitzartig sprang sie auf und rannte fort wie ein aufgescheuchtes Reh. Doch ebenso flink hatten Maniune und Acton sich getrennt, ihr den Weg abgeschnitten und sie rücklings in die Büsche gestoßen, wo sie nicht flüchten konnte. »Nicht so hastig, Ma'am«, sagte Maniune mit einem höhnischen Grinsen und beugte sich über sie. »Wir freuen uns schließlich, Sie bei uns zu Besuch zu haben.« Die Prinzessin starrte sie beide entsetzt an und holte tief Luft, doch ehe sie schreien konnte, hatte Acton schon seine Pranke auf ihrem Mund. »Hah! Dies ist sogar noch besser als eine Falle!«, rief Maniune triumphierend. »Die gibt eine gute Geisel ab!« Bei diesen Worten begann Leonora sich zu verändern, wurde größer und stärker. Sie hatte nicht die Absicht, irgendjemandes Geisel zu sein. Ihre Kleider verwandelten sich in einen ledernen Harnisch und ein Schwert tauchte in ihrer Hand auf. Taboret staunte sie voller Bewunderung an. Leonora gebot über ein verblüffendes Maß an Einfluss. Gleich würde sie sich
befreien - und sie wahrscheinlich alle drei töten. Maniune fuhr Taboret an, die zu Leonora rannte, um ihr zu helfen. »Verdammt, bring sie unter Kontrolle! Bring sie zum Schweigen!«, knurrte der Söldner. »Nimm ihr das verdammte Schwert weg! Sofort! Du weiß ja, was dir sonst blüht!« Mit großem Widerwillen sandte Taboret einen Stoß Gestaltenergie gegen Leonora. Das Schwert löste sich in Luft auf, und die Faust, die es gehalten hatte, schrumpfte wieder zu einer zarten Frauenhand. Leonora wand sich verzweifelt im eisernen Griff ihrer Fänger. Sie sah in dem mächtigen Waffenrock zierlich, ätherisch, wunderschön und zerbrechlich aus - und ungeheuer wütend. Die Männer packten sie bei den Handgelenken. Mit einer trotzigen Kopfbewegung verwandelte sie ihre Kleider wieder in das königlich weiße Gewand und dann starrte sie Taboret wütend an. Sie öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. »Es tut mir leid«, sagte Taboret, die sich sehnlichst wünschte, sie könne der Prinzessin alles erklären. »Ich kann Sie nicht schreien lassen. Ich muss tun, was sie sagen, sonst... Sie werden Ihnen nichts zuleide tun, das verspreche ich Ihnen.« Leonora reckte die Nase in die Luft und blickte weg. Taboret fühlte sich wie eine Verräterin. »Kommen Sie«, sagte Maniune. Als Leonora sich nicht rührte, stemmte er die Absätze in den Boden, bückte sich und warf sie sich kurzerhand über die Schulter. Die Prinzessin trat, keilte und haute nach ihm, so gut sie das mit dem Kopf nach unten und den Beinen nach oben vermochte. Der Grobian ignorierte ihr wütendes Gezappel. Dank Taboret war sie nicht stark genug, um ihm wehzutun. »Meister Brom wird sehr zufrieden mit uns sein.« Hinter sich konnte Taboret immer noch Stimmen hören, die sich gegenseitig - und den Namen der Prinzessin - riefen. Schweren Herzens folgte sie den beiden Männern die
Uferböschung hinauf. Roan stand auf der Spitze des Felsens über den leeren Pfeilern der zusammengebrochenen Brücke, die Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt. »Leonora!« Er neigte den Kopf, um zu lauschen, aber er hörte nur sein eigenes Echo. Stunden waren vergangen, seit sie aus dem Fluss geklettert waren. Binnen kurzer Zeit waren alle anderen sicher und wohlbehalten geborgen worden, wenn auch mit der einen oder anderen Blessur. Auch Golden Schwinn war aufgetaucht, mit leerem Sattel, aber Leonora war ihrem Pferd nicht gefolgt. In äußerster Sorge war Roan auf dem Fußweg zu beiden Seiten der Schlucht von Dorf zu Dorf geeilt und hatte sich erkundigt, ob irgendjemand die Prinzessin gesehen hatte. Aber es hatte sie niemand gesehen. Besorgte Bürger aus jedem Dorf waren aus ihren Häusern gekommen, um ihm bei der Suche zu helfen. Sie durchkämmten jetzt beide Uferbänke, immer wieder laut den Namen der Prinzessin rufend. »Leonora!«, schrie er und wurde allmählich heiser. Das Schlimmste war, dass er selbst die Schuld an allem trug. Warum hatte er sie nicht sogleich wieder nach Mnemosyne zurückgeschickt, als sie mit den Rössern in der Wüste aufgetaucht war? Warum hatte er zugelassen, dass sie ihn auf einer derart gefährlichen Mission begleitete? Es war alles seine Schuld. Er hatte keine Ahnung, ob die Schlange sie verschlungen hatte, oder ob sie in dem reißenden Fluss ertrunken war, oder ob sie ein Stück weiter flussabwärts herausgekommen war und jetzt irgendwo wartete und sich wunderte, wo sie blieben. Er hoffte, Letzteres wäre der Fall. Roan hatte nicht die geringste Idee, wie er dem König die Nachricht vom Verschwinden seiner Tochter beibringen sollte. Er würde wahrscheinlich den Befehl erhalten sich zu diskontinuieren. Sollte er an Leonoras Tod schuld sein, würde er das ohnehin tun. So war sie denn nach der Episode in Reverie zu ihm
zurückgekehrt, nur um gleich wieder verloren zu gehen. Genau dies hatte er von Anfang an befürchtet. Als Bergold auf der Flucht vor der Schlange von der Brücke gefallen war, hatte er sich in eine Robbe verwandelt. In dieser Gestalt hatte er die letzten Stunden damit verbracht, den Grund des Flusses nach Spuren der Prinzessin abzusuchen. Roan hatte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen und fragte sich, ob er irgend etwas gefunden hatte. Er ließ erneut den Blick über die Wasseroberfläche schweifen. »Leonora!«, schrie er. Das Echo seines Rufes hallte über das Wasser. »Da unten ist sie jedenfalls nicht«, sagte Bergolds Stimme. Roan drehte sich um und schaute in die sympathischen braunen Augen der Robbe. »Ich konnte keine Blutspuren oder Stofffetzen entdecken. Es gibt überhaupt keinen Hinweis dafür, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein könnte, mein Freund. Sie wird ganz bestimmt weiter flussabwärts irgendwo auftauchen, und irgendjemand wird schon dafür sorgen, dass sie nach Hause kommt. Sie ist robuster, als du glaubst.« Seine schwarzen Schnauzbarthaare hoben sich zu einem Anflug seines üblichen fröhlichen Grinsens, und Roan wusste, dass er sich genauso Sorgen machte wie er. »Du wirst sehen. Wenn wir nach Mnemosyne zurückkommen, wird sie uns schon am Stadttor empfangen und uns mit Fragen bestürmen, noch ehe wir von unseren Rädern gestiegen sind.« Er blies die Backen auf und schüttelte seinen nassen, glänzenden Kopf, das Wasser in hohem Bogen um sich herum versprühend. »Sie ist mutig, das habe ich immer schon gesagt«, warf Spar mit brummiger Stimme ein. Seine Augen waren rot und die Falten um seinen Mund waren tief eingraviert. »Niemals aufgeben.« Colenna legte ihre Hand auf seine Schulter. »Ein Ideal kann man nicht töten, Roan.«
»Wir müssen weiter«, sagte Roan schließlich. »Wir müssen unsere Mission, die Rettung des Traumlandes, zu Ende bringen, was auch passiert. Leonora würde es so wollen. Aber ich möchte, dass jemand hierbleibt, für den Fall, dass sie hierher zurückfindet. Falls sie hierher zurückkehren sollte, dann soll er sie unverzüglich zum Palast bringen. Ich will sie nicht noch einmal in Gefahr wissen.« »Alette, Hutchings, übernehmen Sie das!«, befahl Spar. »Setzen Sie die Suche fort. Einer von Ihnen hält hier die Stellung.« »Jawohl, Sir«, sagten die Gardisten wie aus einem Mund und nahmen Haltung an. Golden Schwinn quiekte mitleiderregend und Cruiser lehnte sich gegen sie und rieb mitfühlend seinen Vorderreifen an ihrem. Alle waren tief betroffen. Alle wollten Roan irgendetwas Aufmunterndes sagen, aber als sie seinen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck sahen, zogen sie es vor zu schweigen. Zu niedergeschmettert, um etwas zu sagen, saß Roan auf und fuhr voran, die Landzunge hinauf. Sie fuhren mehrere hundert Schritt die Schienen entlang bergab, bis sie zu der Stelle kamen, wo über ihnen die Hauptstraße kreuzte. Lum spornte sein Rad an und strampelte die Böschung hinauf. Oben angekommen, sondierte er das Terrain, während die anderen ihre Rösser zu Fuß den steilen Hang hinaufschoben. Die Brauen des jungen Korporals hoben sich, als sein Blick sich auf etwas rechts von ihm heftete, und er sprang vorwärts, um es aufzuheben. »Sehen Sie sich das an!«, sagte er und hielt Roan eine Handvoll getrockneter Blumen hin. Roan nahm sie entgegen. Es war die Blumenkette, die Leonora in ihrem Medaillon aufbewahrte. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. »Das ist ihre«, sagte er bestimmt. Er steckte sie ganz vorsichtig in seine Uhrentasche. Sie war einer ihrer Schätze.
Sie würde sie wiederhaben wollen. »Sie musste sich außerhalb des Wassers befinden, um sie hier liegenzulassen«, frohlockte Bergold. »Sie lebt! Das hab ich dir immer gesagt, mein Junge!« Roan lächelte. Eine Zentnerlast fiel ihm von der Seele. Er schaute sich um. »Aber wohin ist sie gegangen? Warum hat sie nicht hier auf uns gewartet?« »Wahrscheinlich ist sie zu Fuß losmarschiert«, sagte Felan. »Wir haben ihr Ross. Wir werden sie rasch eingeholt haben.« »Welche Richtung?«, fragte Colenna. »Auf dieser Straße sind keine Fußspuren zu erkennen«, sagte Lum. »Aber sie muss ja von irgendwoher gekommen sein«, sagte Roan. »Helfen Sie mir, die Stelle zu finden. Wir verfolgen ihre Spuren zurück. Irgendwo muss es ja einen Hinweis geben.« Spar rief seine Gardisten zurück. Von neuerwachter Hoffnung beseelt, begannen alle, die Ränder der Straße abzusuchen. Misha war es schließlich vorbehalten, das aufgewühlte Stück Gras am Rande des Steilufers zu finden, und gleich darauf entdeckte Hutchings eine Kiesflache, die so aussah, als sei jemand darübergelaufen. »Hier!«, schrie er. Lum rannte zu ihm, um die Stelle zu untersuchen. »Hier ist es, Sir!«, rief er. »Ich sehe Fußspuren! Gleich hier!« »Sind es Leonoras?«, fragte Roan. Der Korporal sprang von seinem Ross und kniete sich auf den Boden in das Unkraut. Dann hob er das Gesicht. Er strahlte. »Sieht aus, als wären es die Schuhe, die sie heute trug, Sir. Flache Sohlen und Absätze. Sie sind sehr nass geworden, Sir, aber ziemlich klar zu identifizieren. Sie ist dort vom aus dem Wasser gekommen.« Lum zeigte auf eine Stelle am Rande
des Felsens, wo das Unkraut plattgetreten und zerrissen war. Colenna fasste sich mit beiden Händen ans Herz. »Dann ist sie also wohlauf? Aber wo ist sie?« »Das dort sind aber nicht die Fußabdrücke einer Frau«, brummte Spar und deutete auf andere Spuren auf dem groben, sandigen Boden. »Nein, Sir, das sind sie nicht«, sagte Lum. »Das sind die Abdrücke von Reitstiefeln. Sie stammen von einem großen Mann. Es sieht so aus, als habe er mitgeholfen, sie hochzuziehen. Bis dort geht sie selbst. Und plötzlich hören ihre Spuren auf. Er muss sie von dort an getragen haben.« »Lieber Himmel!«, rief Colenna besorgt. »Hoffentlich ist sie wohlauf.« »Hier gibt es eine Menge Fußspuren. Möglicherweise waren noch mehr als eine weitere Person dabei, aber das ist schwer zu sagen.« Lum folgte vornübergebeugt der Spur, sorgfältig die Abdrücke studierend. Roan hielt sich klopfenden Herzens hinter ihm. »Die Abdrücke enden natürlich an der Straße, Sir.« Bergold klatschte mit der einen Flosse gegen die andere. »Dieser Bote, Osprey. Er muss uns eingeholt haben. Verlasst euch drauf, er hat ihren Streich entdeckt und ist sofort hinter ihr her, um seinen Auftrag zu vollenden. Und genau hier hat er sie erwischt und sie, als sie sich wehrte und abhauen wollte, kurzerhand geschultert und zu seinem Fahrzeug getragen. Glaub mir, mein Freund«, sagte er, an Roan gewandt, »genau so war's. Er hat sie zurück in die Hauptstadt gebracht, genau so, wie wir gehofft haben.« Roan war immer noch beunruhigt. »Warum hat sie uns dann keine Nachricht hinterlassen?«, fragte er. »Warum hat sie die Blumenkette dort fallengelassen? Wenn es wirklich der Ritter war, der sie geschnappt hat, dann hätte sie doch gewiss noch genügend Zeit gehabt, eine ordentliche Nachricht zu schreiben und sie an irgendeinen Baum zu heften.«
Bergold verdrehte belustigt die Augen. »Das letzte Mal, als er sie auch nur einen Moment aus den Augen ließ, ist sie ihm sofort entwischt, nicht wahr? Er ist wahrscheinlich sofort gesprungen, damit sie gar nicht erst die Gelegenheit bekam, es wieder zu versuchen. Dieses Ding da, mit dem er kam, kann doch fliegen, nicht?« »Ja«, sagte Roan erleichtert. Sein Sinn für das Praktische kehrte wieder zurück. »Gut, dann ist sie also wieder auf dem Weg nach Hause. Den Schläfern sei Dank. Felan, ich werde mir nachher etwas von Ihrem Schreibzeug ausborgen, damit wir sie beruhigen können, dass wir alle wohlbehalten sind.« »Natürlich«, sagte Felan. Er hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht, als sie mithalfen, Bergold in seinen Sattel zu hieven. Sein Ross hatte sich entgegenkommenderweise in einen breitrückigen Esel verwandelt, ausladend genug, um der Robbe komfortablen Transport zu bieten. »Roan, ich freue mich für dich.« »Danke, mein Freund«, sagte Roan gerührt. »So, und jetzt lasst uns wieder die Fährte des WECKERS aufnehmen. Lum schwang sich auf sein Ross. »Hier entlang, Sir«, sagte er. Die Verzerrung hatte die Straße zu einem schimmernden, kurvigen Glasband zerschmolzen, das es den Rössern schwer machte, das Gleichgewicht zu halten. Sie bewegten sich langsam und vorsichtig in einer Reihe in der Straßenmitte vorwärts, Lum vorneweg. Nach wenigen hundert Schritt stieß der junge Korporal einen wortlosen Schrei aus und hob die Hand, zum Zeichen, dass sie anhalten sollten. Er sprang von seinem Ross und stakste unsicheren Schrittes auf etwas zu, das auf der Straße lag und hob es auf. Er brachte es Roan. »Gehört das auch ihr?«, fragte er. Es war das Miniaturportrait des Königs und der Königin. Roan runzelte
die Stirn. »Ja, das ist auch ihres. Sie bewahrt es in ihrem Medaillon auf.« »Siehst du«, trötete Bergold, »noch ein Zeichen, das beweist, dass sie hier entlang gekommen ist. Sie streut uns Brotkrumen, damit wir ihre Fährte verfolgen können.« »Aber sie würde dieses Portrait niemals so mir nichts dir nichts wegwerfen«, sagte Roan. Seine Besorgnis wuchs. Ein Stück weiter hob Lum ein blaues Seidenhalstuch auf, das Roan auch schon bei Leonora gesehen hatte. Gleich darauf fand Lum einen Flacon Parfüm, Leonoras Lieblingsduft. Die Schlussfolgerung, dass sie freiwillig mit ihrem Retter mitgegangen sei, büßte mit jeder neuen Entdeckung an Wahrscheinlichkeit ein. »Sie ist in Gefahr«, sagte Roan und berührte dabei die Tasche, in die er all die kleinen Schätze gesteckt hatte, als könne er durch sie ihre Gedanken erspüren. »Sie lässt diese Sachen fallen, um uns mitzuteilen, dass sie in Nöten ist. Sie wagt es nicht, etwas Deutlicheres zu tun, zum Beispiel, die Gegenstände in SOS-Botschaften umzuwandeln.« »Unsinn!«, entgegnete Felan. »Dieses Medaillon ist wahrscheinlich kaputtgegangen, als sie die steile Uferböschung hinaufgeklettert ist, und jetzt fallen die Erinnerungstücke, die sie darin aufbewahrt hat, heraus, ohne dass sie's merkt.« »Nein«, sagte Roan entschieden. »Sie hängt an diesen Erinnerungsstücken. Wenn sie herausgefallen wären, hätte sie das mit Sicherheit bemerkt. Ich weiß, dass sie in Gefahr ist. Diese männlichen Fußabdrücke - sie müssen von einem von Broms Leuten stammen. Sie haben uns dabei beobachtet, wie wir ins Wasser gefallen sind und sie haben Leonora am Ufer aufgelauert und in ihre Gewalt gebracht, als sie herausstieg.« Bergolds Schnurrbartenden senkten sich. »Dann haben wir doppelt Grund, Brom so schnell wie möglich einzuholen.«
Roan nickte, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Seine seltsamen Gefühle machten grimmiger Entschlossenheit Platz. Sie würden Brom einholen und sie würden ihm und seiner monströsen Maschine den Garaus machen. Wenig später tauchten weitere Erinnerungsstücke aus Leonoras Medaillon auf und Roan steckte sie in seine Tasche zu den anderen. Das Taschenmesser, das er ihr geschenkt hatte, war jedoch nicht darunter. Hatte er es womöglich übersehen? Nein, ganz sicher nicht. Sie musste es noch bei sich haben. Es war ein machtvolles Symbol ihrer Zugehörigkeit zu der Gruppe jener, die sich aufgemacht hatten, das Traumland zu retten, und überdies ein höchst nützliches Werkzeug, von dessen Existenz Brom nichts ahnte. Selbst in dieser bedrohlichen Lage behielt sie kühlen Kopf! Roan war entschlossener denn je, sie zu finden und in Sicherheit zu bringen. »Eure ephemere Hoheit«, sagte Brom und blies sich für einen Augenblick zu seiner stattlichen Hof-Erscheinungsform auf, als er sich vor Leonora verbeugte. Danach ließ er sich sofort wieder auf seine hagere Reisegestalt zurückschrumpfen. »Das ist aber eine freudige Überraschung!« Als Leonora den Mund öffnete, um ihm eine wütende Replik zu geben, wandte er sich an Taboret. »Sie können ihre Stimme wieder freigeben«, sagte er. »Sie kann hier keinen Schaden anrichten.« »Jawohl, Herr«, antwortete Taboret schweren Herzens. »...Sie es wagen!«, schrie Leonora, mit der Wucht eines jäh sich öffnenden Dampfventils in Ton ausbrechend. »Mein Vater wird Sie für Ihren Verrat für drei Ewigkeiten in einen Albtraum einkerkern lassen!« »Verrat?« Brom setzte eine Unschuldsmiene auf, aber in seinen Augen loderte rotes Feuer. Leonora sah das und wich
einen Schritt zurück. Dabei stieß sie gegen den hinter ihr stehenden Maniune, der seine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Taboret verargte es ihr nicht im Geringsten, dass sie vor Broms sengendem Blick zurückschrak. »Aber davon kann doch überhaupt keine Rede sein, teure Madame. So wie ich es mit den Augen meiner Untergebenen hier sah«, er zeigte auf Taboret, »haben wir Sie vor dem sicheren Untergang bewahrt. Ist es nicht so?« »Ja«, sagte Acton. »Und nun«, fuhr Brom fort, die Augenlider halb schließend, »bieten wir Ihnen unsere Gastfreundschaft und unsere Fürsorge an. Nach allem, was Sie durchgemacht haben, stehen Sie offensichtlich unter Schock. Sie werden mit uns reisen, bis ...« »Bis was?«, fragte Leonora. Sie klang tapfer, zitterte aber. »Bis zum Ende«, ergänzte Brom lakonisch. »Ihr Plan ist monströs«, sagte Leonora und jetzt sprühten auch ihre Augen wütende Blitze. »Sie nehmen irgendeine unausgegorene, halbgare Theorie, die das Leben von Millionen gefährdet, und stehlen sich davon wie Diebe, während mein Vater Ihnen sagt, dass Sie es nicht tun sollen ...« Brom schnippte mit den Fingern und Leonoras Stimme riss ab. Sie starrte ihn weiter mit funkensprühenden Augen an. Wenn sie der Telepathie mächtig gewesen wäre, dann hätte Brom jetzt eine ordentliche Packung davon verpasst gekriegt, da war Taboret sicher. »Genug!«, verkündete Brom und setzte einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf. »Carina! Kommen Sie her und helfen Sie Ihrer Hoheit in trockene Kleider. Behalten Sie sie gut im Auge. Und was Sie betrifft«, er wandte sich Taboret zu und öffnete die Augen, bis das rubinrote Feuer sie mit schlotternder Angst erfüllte, »wir beide werden uns jetzt über Ihren Ungehorsam unterhalten.«
31. KAPITEL Broms Gardinenpredigt war eine von der geharnischten Art gewesen und sie hatte vor aller Augen und Ohren stattgefunden. Er hatte Taboret mehrere Tage beobachtet, wie es schien, und Vorkommnisse registriert, die sie völlig vergessen hatte, als sie mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Hause zu fahren - oder irgendetwas anderes getan hatte, das nicht dazu angetan gewesen war, dem höheren Nutzen der Gestalt zu frommen. Er wusste alles über ihre kleinen Verfehlungen, sogar über den Vorfall mit dem Knopf wusste er Bescheid. Taboret war so tief erschüttert, dass sie bereit war, sich dem Schmelztiegel voll und ganz hinzugeben. Sie hörte, wie die anderen über sie kicherten und herzogen. Taboret fühlte sich so, als würden auch ihre letzten persönlichen Erinnerungen und Gedanken aufgestöbert, ans Licht gezerrt und wie ein Packen Spielkarten an die zehn anderen ausgeteilt. Sie lachten über peinliche Momente, während sie hervorgezerrt und immer wieder aufs Neue ausgespielt wurden. Die letzte Demütigung, ein Eimer Teer, gefolgt von einem Sack Federn, war über ihr ausgekippt worden. Es tat nicht weh, aber es war erniedrigend und stank in der heißen Sonne. Die anderen sprachen nicht mit ihr, aber sie konnte ihre Gedanken hören und sie konnten ihre Gedanken hören. Sie wusste, dass Gano und Carina und sogar Basil mit ihr fühlten, aber sie wagten es nicht, mit derselben Quaste geteert zu werden. Nach Teer stinkend, fuhr Taboret allein am Ende der Reihe, hinter Carina und der Prinzessin, die Glinns Motorrad bekommen hatte. Es kümmerte sie nicht mehr, ob ihr ihre Individualität, ihre Identität gestohlen wurde. Sie würde tun, was immer Brom von ihr verlangte. Wenn sie nach Mnemosyne zurückkehrte, war es ohnehin vorbei mit ihrer Karriere, schon allein deswegen, weil sie an dem großen
Experiment teilgenommen hatte. Glinn, der hätte erklären und bestätigen können, dass sie beide es durch ihr Handeln dem Investigator des Königs möglich gemacht hatten, ihnen auf den Fersen zu bleiben, war für immer verschwunden. Sie tastete sich vorsichtig durch das Band, um nach irgendeiner Spur seines Geistes zu suchen, und fühlte ein klaffendes, glinnförmiges Loch an der Stelle, wo er sich hätte befinden müssen. Ein Teil ihres Herzens war mit ihm gegangen. Die anderen Lehrlinge schraken zurück, wenn ihr Geist sie berührte, beleidigt darüber, dass sie nicht an das Experiment glaubte. Insgeheim, mit dem bisschen, was noch von ihren privaten Gedanken übriggeblieben war, glaubte sie, dass einige von ihnen ihre Ansicht teilten, aber Angst hatten, diesen Gedanken auch nur zu denken, um sich nicht der Komplizenschaft verdächtig zu machen. Das geistige Band war jetzt ein verdammtes Ärgernis. Wann immer sie einen der anderen über sie nachdenken hörte, war es stets missbilligend und verächtlich. Sie fühlte sich sehr einsam. Zu ihrer Bestürzung fuhr sie noch immer im gleichen Rhythmus wie die anderen, ging aus dem Sattel, wenn sie es taten, drehte den Motor hoch, wenn sie es taten, ja sie kratzte sich sogar, wenn sie es taten, was eine ekelhafte Angelegenheit war, wenn man Teer an den Händen hatte. Leonora tat sich ziemlich schwer mit dem Motorradfahren, obwohl sie langsam fuhren und die Straße eben und glatt war. Taboret hatte Mitleid mit ihr, doch es gab nichts, was sie hätte tun können, um ihr zu helfen. Ihr Zugang zur Gestaltenergie unterlag ständiger Kontrolle, und ihr persönlicher Einfluss reichte nicht aus, um die Prinzessin von ihrem Stimmknebel zu befreien, geschweige denn, ihr zur Flucht zu verhelfen. Der Wald verdichtete sich hier zu voller sommerlicher Laubpracht. Sie konnten sich vielleicht dort hinein flüchten, aber das Dickicht, das ihnen Schutz bieten könnte, würde sie zugleich auch am Vorankommen hindern.
»Eine starke Einflusswolke«, sagte Basil, die Anzeige auf dem Detektor ablesend. »Kein Ärgernis, aber sehr kraftvoll. Sie kommen jetzt immer häufiger vor, seit wir die Brücke überquert haben. »Wo?«, fragte Brom. »Ganz in der Nähe«, erwiderte Basil und bremste. »Sie wird die Straße überqueren. In sechs Sekunden. Fünf, vier, drei...« Gano und Bolmer, die an den WECKER geschnallt waren, lenkten ihre Maschinen an den Straßenrand und hielten an. Taboret kam neben ihnen zum Stehen. Bolmer wandte sich sofort von ihr ab, aber Gano sah sie mit einem verwirrten, gequälten Blick an. Dowkin und Doolin rollten vorbei, in wütendem Ton leise miteinander sprechend. Eingehüllt in ihren eigenen Schutzpanzer, segelten sie stracks an Basil und Brom vorbei und geradewegs in das orangefarbene Licht, das sich quer über die Straße wälzte. »Stopp, fahrt nicht da 'rein!«, schrie Basil erschrocken, seinen Detektor hochhaltend. Die Motorräder der Brüder quiekten und schrien. »Da ist ein ...« »... Einfluss«, sagte Doolin und stellte sich auf alle vier Pfoten. »Ich weiß. Ich habe ihn gefühlt. Halt's Maul!« Seine Stimme war ein fettiges, ranziges Grunzen und seine winzigen Äuglein starrten sie alle mit bösartigem Blick an. Er war zu einem Schwein geworden. »Warum hast du ihn nicht eher gewarnt?«, fragte Dowkin, während er seinen Bruder mit entsetztem Gesichtsausdruck von den rosafarbenen Ohren bis zu seinem Kringelschwänzchen musterte. »Ich hab es sofort gesagt, als ich es wusste«, gab Basil gereizt zurück. »Weshalb habt ihr den Warnruf nicht durch das Band gehört? Die anderen haben ihn doch auch gehört!« »Schau ihn dir nur an!«, heulte Dowkin und kniete sich neben das Schwein, das mit gespreizten Beinen über seinem
umgestürzten Motorrad stand. »Tu was!«, grunzte Doolin und beschnüffelte den Boden mit seiner rosafarbenen Schweineschnauze. »Beide zusammen jetzt«, sagte Dowkin. Er presste die Stirn an die seines Bruders und beide schlossen die Augen. Ihre Umrisse verschwammen ein wenig, doch als der Einfluss sich verzog, war einer von ihnen immer noch ein Schwein. Taboret schaute sie an und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Es bestand kein großer Unterschied zwischen ihrem üblichen säuerlichen Gesichtsausdruck und dem hängebackig missmutigen Flunsch des Schweines. Prinzessin Leonora, die im Damensitz auf dem Sattel von Glinns Motorrad saß, gab ein amüsiertes Schniefen von sich. Die Brüder beehrten sie und ihre Gefährten mit einer hasserfüllten Grimasse und versuchten es dann ein zweites Mal. Diesmal flimmerten sie zusammen, als sie die Gestalt selbst anzapften. Taboret bekam es mit der Angst; sie hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick mit hineingezogen und sich als teerummanteltes Schwein wiederfinden. Demschicksalseidank schlug indes auch dieser Versuch fehl. Dowkin blickte auf, Verzweiflung in seinem unschönen Gesicht. Er appellierte an Brom. »Boss, wir brauchen Ihre Hilfe! Lassen Sie uns den Schmelztiegel errichten und ihn wieder identisch mit mir machen!« »Unsinn!«, schalt Brom sie. »Sie verschwenden bloß Zeit. Er wird sich zu gegebener Zeit schon wieder zurückverwandeln. Die Kraft des Einflusses hat ihn zwar voll erwischt, aber seine Verwandlung ist nur vorübergehender Natur, wie alle Veränderungen im Traumland. Setzen Sie sich wieder auf Ihr Motorrad, damit wir weiter können. Wir sind fast am Ziel.« »Nein«, begehrte Dowkin auf. »Wir wollen identisch sein.« Er setzte sich neben seinen Bruder auf die Erde und gab sich
ein Schweinegesicht und Schweinsohren -mehr vermochte er nicht mit seinem Quantum an persönlichem Einfluss. »Unter gewöhnlichen Umständen sehen wir immer gleich aus«, grunzte Doolin. »Wir spielen hier mit einer gefährlichen Kraft. Sie entblößt uns unserer üblichen Abwehrkräfte.« »Das stimmt«, sagte Dowkin und legte den Arm um den speckigen Hals seines Bruders. »Unsere Identität. Wir gehen keinen Schritt weiter, bevor Sie sie nicht wiederherstellen.« Brom schaute mit wütendem Gesichtsausdruck vom einen zum ändern - und bekam seinen Rochus doppelt von den Brüdern zurück. »Nun denn, meinetwegen«, sagte er, sichtlich angewidert und stieg von seinem Beförderungsmittel. »Törichte, kleinliche, gefühlsduselige Leute, die sich mit Kinkerlitzchen aufhalten, wo ich an so viel zu denken habe. Bildet den Schmelztiegel!« »Was ist mit Ihrer Hoheit?«, fragte Carina, mit dem Daumen über ihre Schulter zeigend. »Ganz einfach«, sagte Brom. Mit einer lässigen Hand bewegung verwandelte er das Motorrad, auf dem Leonora saß, in einen Metallkäfig. Urplötzlich ihres Sitzes beraubt, landete Leonora auf ihrem Hinterteil im Gras. Sie japste erschrocken. Taboret zuckte zusammen und machte Anstalten, zu ihr zu eilen, aber die Gestalt-Kraft zog sie unwiderstehlich zurück zu der Stelle, an der die Lehrlinge sich versammelten. Brom hielt sie an einer sehr kurzen Leine. Sie sah Leonora mitleidsvoll an, aber das einzige, was sie zurückbekam, war ein wütender Blick. Was die Prinzessin dabei sagte, blieb unhörbar, aber was es bedeutete, war nicht zu übersehen. Es bedurfte nur eines sehr geringen Maßes an GestaltEnergie, um die Zwillinge wieder in ihren Normalzustand zurückzuversetzen. Taboret ärgerte sich darüber, dass sie Zeit und Energie für die beiden aufwenden musste, aber der Teil
von ihr, der jetzt das Bewusstseirt der Brüder enthielt, war wütend auf alle anderen, weil sie nicht schneller machten. Und das allgegenwärtige Brom-Gefühl erfüllte sie mit Ungeduld und Furcht. Taboret war überrascht und hoffte, dass sie es rechtzeitig verbarg. Sie konnte auch die Begeisterung der anderen Lehrlinge über die Einheit fühlen und wünschte sich, sie könne sie aufrichtig teilen, statt einen Schub Kontakteuphorie aus dem Band zu bekommen. War ihnen denn nicht klar, dass sie alle dabei draufgehen konnten? Sie hoffte, dass es ihr gelänge, ihre eigene Angst zu verbergen, entschied dann aber, dass es einerlei war. Sie blockte so viel sie konnte von dem Band ab, und die anderen waren froh, sie mit ihren Gedanken allein lassen zu können, als es vorbei war. Doolin zog einen Spiegel hervor, um sein frisch wiederhergestelltes Antlitz zu begutachten. Dowkin stolzierte fast vor seinen Bruder herum vor lauter Stolz und Freude. »Das ist schon besser«, sagte er. »Es ist nicht Recht, wenn wir nicht gleich aussehen.« Taboret hörte ein Kreischen über sich. Der große Postadler schwebte ein und landete auf einem Ast gleich neben Brom. Sobald der Oberste Wissenschaftler nach ihm griff, verwandelte er sich in ein Briefcouvert und flatterte ihm in die Hand. »Ah, die neueste Nachricht«, sagte Brom, nachdem er ihn aufgerissen und die inliegende Botschaft überflogen hatte. »Sie haben es geschafft, wieder aus dem Fluss rauszukommen.« »Zu schade«, sagte Maniune und ließ ärgerlich den Motor seiner Maschine aufjaulen. »Ich war sicher, sie würden ertrinken. Sie müssen gute Schwimmer sein.« »Ja«, sagte Brom geistesabwesend, während sein Blick weiter über die Nachricht huschte, die in großer Hast gekritzelt worden zu sein schien. »Ja, sie sind zu dem Schluss gelangt, dass wir Ihre Ephemere Hoheit in unserem Gewahrsam haben,
aber sie kehren trotzdem nicht zurück. Ganz schön hartnäckig, nicht?« »Dumm«, sagte Acton. »Setzen Sie eine Botschaft ab«, sagte Brom, an Gano gewandt. »An die Adresse von Meister Roan. Sagen Sie ihm, wenn sie ihre lästige Verfolgung einstellen, werde die Prinzessin sicher und wohlbehalten zurückgebracht, sobald unser Experiment abgeschlossen ist. Lassen Sie offen, was passieren wird, wenn er die Verfolgung nicht einstellt. Unterdessen müssen wir uns sputen. Wir sind fast am Ziel. Aus dem nächsten Bericht unseres Freundes werden wir ersehen, ob sie unser Angebot angenommen haben oder nicht.« Taboret vernahm ein erneutes Japsen und schaute über ihre Schulter zu Leonora, deren Augen weit aufgerissen und deren Augenbrauen weit hochgezogen waren. Sie sah aus wie jemand, der gerade eine bestürzende Entdeckung gemacht hatte.
32. KAPITEL Der riesenhafte weißhäuptige Vogel kreiste herab, schlug ein paarmal mit den Schwingen und landete sanft auf der Straße unmittelbar vor der Reihe von Fahrrädern, um sich sogleich in einen Luftpostbriefumschlag zu verwandeln. Spars Reittier bekam einen solchen Schreck, dass es scheute, und der Hauptmann der Garde musste kräftig in die Rücktrittbremse steigen, um es zum Stehen zu bringen. Roan sprang von Cruiser, um den Umschlag aufzuheben. Er riss ihn auf und las die darin enthaltene Botschaft. Wütend zerknüllte er den Brief in der Hand. »Was ist?«, fragte Bergold, die Schnurrbartenden hoch aufgerichtet. »Lies selbst«, sagte Roan grimmig und drückte seinem alten Freund den zerknüllten Umschlag in die Hand. Er traute seiner eigenen Stimme nicht. Bergold entfaltete das zerknüllte Schriftstück und breitete es auf seiner Lenkstange aus. »Ja, das bestätigt unsere Vermutungen. Wie kann er nur denken, dass wir den Rückzug antreten? Dass er die Prinzessin in der Gewalt hat, spornt uns nur zu noch größeren Anstrengungen an, ihn einzuholen.« »Er muss irgendein Mittel haben, unsere Bewegungen zu beobachten«, sagte Colenna und kramte in den Tiefen ihrer Handtasche nach ihrem Taschentuch. »Ob wohl diese Kollektivkraft, über die er da gebietet, ihn auch zum Hellsehen befähigt?« »Es muss so sein«, sagte Felan. »Wie könnten sie sonst wissen, was wir tun?« »Er blufft«, sagte Spar. »Sie werden nicht wagen, der Prinzessin wehzutun. Sagt dieser aufgeblasene Wichtigtuer das?«
»Nein«, antwortete Bergold. Er knüllte den Brief wieder zu einer Kugel zusammen, die er einen Augenblick spielerisch auf seiner Nasenspitze balancierte, bevor er sie Roan zuwarf. »Dann reiten wir also weiter«, sagte Spar. »Richtig, Sir?« »Ja«, sagte Roan und schwang sich wieder in den Sattel Cruisers, der mit zitternder Lenkstange dastand, die Erregung seines Herrn teilend. »Brom hat soeben seine letzte Chance auf Gnade verwirkt.« »Wir werden ihn in Stücke reißen«, sagte Spar und spornte sein Ross an. »Und was dann noch von ihm übrigbleibt, kippen wir in einen Sack und bringen es in die Hauptstadt zur Gerichtsverhandlung. Ich werde ihm höchstpersönlich eine Besichtigungstour durch seine Innereien spendieren. Und«, er blickte über die Schulter zu Roan, »ich werde ...« Aber Roan starrte entsetzt am Hauptmann der Garde vorbei. »Spar, halt!«, schrie er. Er griff nach der Heckstoßstange von Spars Fahrrad, und Colenna lehnte sich gegen ihn, gerade noch rechtzeitig. Spar hielt plötzlich an, so jäh, dass er sich um ein Haar mit seinem Fahrrad überschlagen hätte. In der Mitte der Straße hing ein unregelmäßiges Rechteck aus grauem Film, so schien es zumindest. Aber als Roan es anschaute, bildete sich ein Muster in ihm heraus, einem gigantischen Spinnennetz ähnlich, das sie vorwärts zog wie hilflose Fliegen. Das Graue zerrte an seinem Geist, wie als dürste es nach seinem Leben. Roan erschauerte und wandte den Blick von ihm ab. Der Bann brach. Es war das größte Loch in der Wirklichkeit, das er je gesehen hatte. »Albträume!«, stieß Misha atemlos hervor. »Das kann man wohl sagen«, bestätigte Bergold. »Sie wären um ein Haar da hineingefahren, Spar«, sagte Felan, das Gesicht blutleer vor Schreck. »Ich habe es gesehen«, sagte Spar gereizt. »Es war ja fast so
unübersehbar wie die Nase in Ihrem Gesicht. Es zeugt nicht gerade von großem Scharfsinn bei Brom, das Ding mitten auf der Straße aufzuhängen wie ein Bettlaken zum Trocknen. Fahrt drum herum!«, rief er den anderen zu, eine Spur eindringlicher als nötig. »Lum, Hutchings, Alette, Achtung! Auf Abstand bleiben!« Roan steuerte Cruiser und Schwinn nach links und manövrierte sie an den Felspflöcken vorbei, die das Einflussnetz offenbar an Ort und Stelle fixierten. Er spürte die Anziehungskraft, die das Loch ausübte. Sie war ungemein stark. Brom und seine Adepten spielten mit gefährlich starken Kräften. Wenn man es nicht im Zaum hielt, konnte ein Loch von dieser Größe eine große Stadt verwüsten. »Beeilung«, rief Spar. »Wenn wir uns der Anziehungskraft dieses Lochs zu lange aussetzen, zerrt es uns am Ende noch wer weiß wohin!« »Wer ist denn das?«, schrie Misha, aufgeregt zeigend. Roan japste vor Schreck, als erst eine Hand, dann eine zweite aus dem Innern des Loches auftauchte und sich verzweifelt am unteren Rand des Loches festkrallte. Die Finger waren blutig und von Brandblasen übersät. Sie stürzten zu den Händen. »Könnte es die Prinzessin sein?« »Zurück!«, schrie Spar. »Es ist eine Falle!« »Nein«, sagte Colenna und hielt sich an Misha fest, ihn gleichsam als Anker benutzend. »Da ist ein Mann drin. Er kann sich gerade noch mit letzter Kraft festhalten.« Sie steckte ihren Arm in das Loch, und Misha nahm all seine Kraft zusammen und stemmte die Absätze in den Boden, um sie festzuhalten. »Können Sie mich hören?«, rief Colenna in das Loch. »Nehmen Sie meine Hand!« »Ich kann nicht«, war eine schwache Stimme über das Tosen hinweg zu vernehmen. »Helfen Sie mir!« Colenna warf einen ungeduldigen Blick auf den Kreis der Männer. »Nun tut doch etwas!«
Roan nahm ein Seil aus seiner Satteltasche und klappte die Kletterhakenklinge seines Taschenmessers aus. Er knotete das Seil daran fest und steckte die Klinge in den Erdboden. Dann ließ er das Seil in das Loch flutschen. Es wurde sofort straff, als der Sog es zu packen bekam und wirbelte kreisförmig herum. Das Seil fest umklammert haltend, bewegte sich Roan vorsichtig, Zoll für Zoll, zu dem Loch. Sein Haar peitschte seine Ohren und Augen, aber er erhaschte trotzdem einen Blick auf eine Gestalt mit dunklem Haar, die sich an einem Büschel Festigkeit festkrallte, die Teil der Barriere zwischen Realität und Chaos war. »Kommen Sie an das Seil?«, schrie Roan dem Mann zu. Das Gesicht des Mannes wandte sich nach oben, zu ihm. Er hatte die Augen so fest zusammengekniffen, dass sie fast geschlossen waren. Er hing nahezu waagerecht in der Luft, die Füße dem saugenden Schlund zugewandt. Er schüttelte den Kopf. »Ich traue mich nicht.« »Ich glaube, ich gehe besser für ihn rein«, rief Roan über die Schulter nach hinten. Er griff nach dem Seil und legte es in einer Schlaufe um seinen Arm. Das herumwirbelnde Ende scheuerte an seinem Handgelenk, peitschte unablässig seine Haut. Er ließ das Seil einen oder zwei Fuß schießen und bereitete sich darauf vor, in das Loch zu steigen. »Nicht Sie, Sir«, sagte Lum und hielt ihn an der Schulter fest. »Wir können nicht riskieren, Sie zu verlieren. Ich mach's.« »Nein, ich geh runter«, sagte Alette, an Spar gewandt. »Ich bin gut im Abseilen.« »Also, jetzt entscheidet euch endlich«, drängte Colenna händeringend. »Hauptsache, es geht einer runter.« Wie als wollte er seine Zustimmung zeigen, krallte sich der Mann noch fester an das Büschel Festigkeit. Roan und Misha tasteten mit den Händen über den Rand, bis
sie die Handgelenke des Mannes fanden und zogen. Felan und die Gardisten hielten sie an ihren Gürteln und Beinen fest. Bergold stand daneben und feuerte sie mit heiseren Schreien an. Das Vakuum, das an ihnen zerrte, entwickelte einen ungeheuren Sog. Roan fühlte mehrmals, wie seine Beine vom Boden abhoben. Allein der grimmigen Entschlossenheit Spars und Alettes, die ihn mit eisernem Griff festhielten, hatte er es zu verdanken, dass er nicht in die nächste Welt hineingerissen wurde. Er konnte kaum etwas sehen in der wirbelnden Leere. Der Fremde ließ mit einer Hand los und packte Roans Ärmel. »Fertig?«, schrie Roan. »Versuchen wir's mit einem einzigen kräftigen Ruck! Eins .. .zwei.. .drei!« »Drei!«, schrie Misha und warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach hinten. Der Mann kam aus dem Loch herausgeschossen wie ein eingefetteter Flaschenkorken und landete auf ihnen. Er lag einen Augenblick ganz still da, dann hob er matt den Kopf. »Danke«, japste er. Sie halfen ihm, sich aufzusetzen. Er war jung, vielleicht Mitte zwanzig, mit einem dichten Schopf schwarzen Haares und sonnengebräunter Haut, die gerade begann, ihre Farbe wiederzuerlangen. Eine Seite seines Gesichts zierte eine gewaltige Quetschung und seine Hände waren blutig. Colenna hatte schon einen Wattebausch und ein Fläschchen Desinfektionsmittel aus ihrer Tasche hervorgeholt, noch bevor Roan überhaupt danach fragen konnte und behandelte bereits die aufgerissenen Hände des Mannes. »Moment mal«, rief Spar, urplötzlich hinter ihnen auf tauchend. »Schaut euch mal seine Kleider an! Er ist einer von Broms Leuten! Korporal, nehmen Sie den Mann fest!« Roan musterte die Kleidung des jungen Mannes. Er trug tatsächlich die blau-weiße Kluft des Wissenschafts ministeriums, aber er hatte alle Bleistifte aus seinem
Taschenschützer verloren. Er schüttelte protestierend den Kopf. »Den haben sie als Köder hiergelassen«, sagte Lum und starrte ihn finster an. »Nein, ich bin kein Köder«, sagte der Mann und schluckte heftig. »Sie haben mich da reingeworfen; wollten mich töten. Roan, Sie kennen mich doch. Mein Name ist Glinn.« »Die würden doch alles behaupten«, knurrte Spar und schob sein Gesicht ganz dicht an das des jungen Mannes. »Traut ihm bloß nicht!« »Aber ich kenne ihn tatsächlich«, sagte Roan, den Hauptmann zur Seite schiebend. Er hockte sich neben den Lehrling. »Glinn, warum haben die Sie in das Loch geworfen?« Glinn stöhnte auf und drückte den Eisbeutel, den Colenna ihm gegeben hatte, auf seine geschwollene Gesichtshälfte. »Weil ich Hinweise für Sie zurückgelassen habe, damit Sie unsere Spur weiterverfolgen konnten. Brom muss es irgendwie gemerkt haben.« »Sie waren das also?«, fragte Roan. Glinn rappelte sich mit zitternden Knien auf, und Roan half ihm dabei und stützte ihn, damit er nicht gleich wieder zu Boden sackte. Sie waren ungefähr gleich groß. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen sind. Ohne Ihre Hilfe hätten wir Ihre Fährte ein Dutzend Mal verloren.« »Nun, jetzt brauchen wir sie nicht mehr«, warf Spar trocken ein. »Dieser verdammte WECKER zieht eine Schneise der Verzerrung hinter sich her, so breit wie das große Außentor.« »Was?«, fragte der Lehrling, vor lauter Schreck auf seinen immer noch wackligen Beinen ins Schwanken geratend. Höflich wies er den von Colenna hilfreich dargebotenen Weinbrand ab. »Was für eine Verzerrung?« »Diese Vorrichtung Ihres Herrn verzerrt die Realität « sagte
Bergold und deutete mit einer Flosse den Weg hinauf und hinunter. »Und es ist immer schlimmer geworden, je länger Sie unterwegs waren. Schauen Sie doch einmal auf den Weg. Sehen Sie diesen Verglasungseffekt? Schauen Sie sich das Eichhörnchen an... beziehungsweise, den, eh, Raben ... oder was auch immer es ist.« Glinns Blick schweifte über die schimmernde Obe-fläche der Straße und verharrte schließlich auf der seltsamen Misch-Kreatur, die auf der Lehne einer naher Parkbank kauerte. »Ich habe dergleichen noch nie gesehen«, sagte er, vor Schreck ganz blass. »Wir haben unsere Spur kaum je zurückverfolgt und ich war ständig voll und ganz mit anderen Dingen beschäftigt. Wie unaufmerksam ich war, wie blind! Welche Scheußlichkeiten!« »So, einen der Vögel hätten wir damit schon mal im Sack«, sagte Spar zu Roan. »Die anderen werden wir auch noch schnappen. Sollen wir ihn fesseln?« »Ich werde ganz bestimmt nicht weglaufen«, beeilte sich Glinn zu versichern. »Ich möchte mich nützlich machen, Ihnen helfen. Seit wir Mnemosyne verlassen haben, versuche ich, Brom zur Rückkehr zu bewegen.« »Das ist bloß wieder so eine Falle«, sagte Hutchings und legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes. »Nein, ehrlich«, wehrte sich Glinn. »Ich will Ihnen nichts Böses. Ich wünsche genauso wie Sie, dass dieses Experiment abgebrochen wird! Als Carodil und der König nein zu dem Plan sagten, habe ich versucht, Brom zum Bleiben und zur Fortführung seiner Studien zu bewegen, aber er war nicht von seinem Vorhaben abzubringen und überredete meine Kollegen, mit ihm zu kommen. Ich wurde schlicht überstimmt. Es war nicht möglich, ihm mit Argumenten beizukommen. Als Brom mir sagte, dass Sie uns verfolgen, war ich erleichtert. Ich dachte mir, wenn Sie uns erst eingeholt hätten, könnten wir Brom gemeinsam überzeugen, dass es besser sei, wenn er
umkehre.« »Hat nicht geklappt, oder?«, sagte Felan, unbeeindruckt. »Nicht sehr gut«, räumte Glinn ein und ließ den Kopf hängen. »Ich blieb bei der Gruppe, um die Stimme der Vernunft zu mimen. Dabei ist mir dann was... passiert.« »Und was?«, fragte Bergold. Glinn zuckte mit den Achseln. »Ich hab mich verliebt. Sie hat mir geholfen, aber dann fing sie an, auf eigene Faust Hinweise zu hinterlassen. Sie ist eine gute Wissenschaftlerin. Selbst sie war entsetzt, als sie begriff, was wir da taten. Ich vermute, sie ließ unbeabsichtigt einen Gedanken entschlüpfen und Brom kam uns auf die Schliche. Sie ist noch in seiner Hand. Brom ist... nicht gerade zuvorkommend gegenüber Abweichlern.« »Wir werden sie retten, aber wir müssen vor allem Leonora raushauen«, sagte Roan. »Er hat sie irgendwo ganz hier in der Nähe geschnappt. Ist sie wohlauf?« Glinn schloss die Augen. »Ich denke schon. Alles, was ich im Augenblick erkenne, ist ein Schwein. Aber ich kann Ihnen sagen, wohin sie wollen.« »Gut«, erklärte Spar. »Dann brauchen wir uns darüber schon mal nicht den Kopf zu zerbrechen. Und wo wollen sie hin?« Glinn wollte antworten, aber Roan hob hastig die Hand. »Sagen Sie nichts. Stehen Sie in irgendeiner Art von telepathischer Verbindung mit Brom?« »Das Band ist eine Funktion der Gestalt«, sagte Glinn. »Ich werde Ihnen später alles genauer erklären, aber Sie haben Recht. Brom und seine Leute können mit meinen Augen sehen, ja, sogar hören, was ich sage.« Er drehte sich um, hielt die Hände hinter den Rücken und machte schlangelnde Bewegungen. »Schlangen?«, riet Bergold. »Ein Fluss?« Glinns Hand machte ein >OK<-Zeichen.
»Dem Lullay folgen?«, fragte Roan. Die Hand wackelte hin und her, ein >Nein< signalisierend, dann beschrieben die beiden ersten Finger eine bogenförmige Bewegung. Glinn schüttelte den Kopf. »Ah, über ihr hinweg.« l »Zu den Dunklen Mysterien?«, fragte Felan, Die Hand signalisierte erneut ein Nein, und Glinn drehte sich ein Stück herum, bis sein Hinterteil mehr nach Norden wies, dann schlug er die Hände über seine Ohren. »Ah! In den Tiefen Mysterien«, rief Bergold und klatschte in die Flossen. Er tippte Glinn aufs Knie. Der Wissenschaftler nahm die Hände von den Ohren. »Wo in ihnen?«, fragte Bergold. »Sie sind groß.« Die Hand vollführte wieder eine schlangelnde Bewegung. »Am Fluss?« Die Hand machte ein >OK<-Zeichen dann bog sie sich nach oben und tätschelte Glinn auf den Rücken, da, wo sein Herz saß. Der Lehrling bei saß wahrlich biegsame Handgelenke. »Zu seinem Herzen?« »Er meint die Quelle!«, rief Bergold. Er und Roan breiteten die große Landkarte zwischen sich aus. »Aber da ist nichts außer dem Wasserfall und flussaufwärts endet das Traumland.« >Nein<, signalisierte die Hand. Sie beschrieb erneut einen Bogen, diesmal mit der Wölbung nach unten. Roan nickte. Drunter hinweg. Glinn hielt sich erneut die Ohren zu. »Zu seiner Quelle«, sagte Roan. »Die Halle ist unter dem Wasserfall.« Er tippte dem Lehrling auf die Schulter. »Sehr interessant«, sagte Colenna. »Wisst ihr, es gibt Theorien, die in diese Richtung gehen, aber bis jetzt hat es noch nie jemand geschafft, den Wasserfall zu durchdringen. Meinen Studien zufolge ...« »Nicht«, sagte Glinn mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Denken Sie dran, alles, was ich höre, hören sie auch.« »Aber wir haben doch nur Mutmaßungen angestellt«, sagte Colenna. Sie zog eine große Schiefertafel und ein Stück Kreide aus den Tiefen ihrer Handtasche. Sie wandte die Tafel Roan
und den anderen zu und begann darauf zu schreiben. Sie muss mal Grundschullehrerin gewesen sein, dachte Roan, während er voller Bewunderung zuschaute, wie sie verkehrt herum und von rechts nach links schreibend vollendet geschwungene Lettern auf den Schiefer zauberte. »Was er sagt, ergibt Sinn«, schrieb sie. »Der Lullay war stets ein Symbol des Großen Unbewussten. Die Schläfer, so sie denn überhaupt irgendwo sind, könnten sehr wohl dort sein.« Roan nickte beifällig. Sie würden in diese Richtung fahren. »Aber ich muss Sie warnen«, sagte Glinn, als sie fertig waren, »es gibt einen Spitzel in diesem Lager, der Brom jeden Ihrer Schritte meldet.« »Wer?«, fragte Roan schockiert. »Wer ist es?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte Glinn, bewusst auf die Bäume starrend und nicht auf sie. »Ich weiß nicht, wer es ist. Brom hat uns seinen - oder ihren - Namen nie wissen lassen. Er oder sie führt Sie schon die ganze Zeit über nach Broms Anweisungen in die Irre. Aber ich bin ein schlimmerer Spitzel. Als Teil der Gestalt bin ich für die anderen wie ein offenes Tor. Alles, was ich weiß, wissen auch sie. Sie ist bisher noch immer instabil und zeitweilig unterbrochen, aber sie können mit meinen Augen sehen und meine Gedanken hören. Sie können sogar aus der Ferne meine Kraft anzapfen. Ich kann das auch, aber ich bin nur ein kleiner Teil eines großen und mächtigen Ganzen. Sie sind mehr als ich, viel mehr, und könnten deshalb allen Einfluss zurücksaugen, den ich einzusetzen versuche. Sie dürfen in meiner Gegenwart nichts äußern, von dem Sie nicht wollen, dass Brom es erfährt. Wahrscheinlich weiß er mittlerweile auch schon, dass ich bei Ihnen bin. Sie müssen äußerst achtsam sein.« »Wir sollten Sie am besten fesseln und hier zurücklassen«, sagte Spar unwirsch. »Sie haben doch bloß vor, uns einzulullen und dann: kawumm« Einige der anderen murmelten beifällig.
Roan konnte ihnen keinen Vorwurf machen, aber er hatte Glinn als einen aufrichtigen Ehrenmann in Erinnerung. »Nein, ehrlich, ich bin fest gewillt, Ihnen zu helfen«, verteidigte sich Glinn. »Was kann ich denn nur tun, damit Sie mir glauben?« »Wo ist die Prinzessin Leonora?«, fragte Roan. Glinn schloss wieder die Augen. »Ich kann sie jetzt sehen, aber nur verschwommen. Das bedeutet, dass nur einer oder zwei von ihnen sie gerade anschauen. Sie ist am Leben und wohlbehalten.« »Den Schläfern sei Dank dafür!«, rief Roan erleichtert aus. »Die arme Leonora! In den Händen dieser skrupellosen Schurken!« »Wir wurden zusammen mit Broms zwei gedungenen Halunken ein Stück des Weges zurückgeschickt, um eine Falle zu stellen. Sie müssen sie entführt haben, als Sie ihr gerade den Rücken zuwandten. Sie eignet sich hervorragend als Geisel. Ihre Sicherheit liegt Ihnen am Herzen und Brom weiß das. Ich kann das in seinem Geist fühlen.« »Sie müssen mit uns kommen. Wir werden Ihnen die Augen verbinden«, sagte Roan. Er fühlte in seiner Tasche nach einem Taschentuch und zog Leonoras blaues Seidentuch hervor. »Bleiben Sie bei uns. Wir haben eine gute Landkarte. Wird er zurückkehren?« »Das bezweifle ich. Er wird wissen, dass ich Ihnen das gesagt habe, aber er kann es sich nicht leisten, Zeit damit zu verschwenden, dass er umkehrt, um mich zu holen. Er wird zusehen, dass er vorankommt. Ich würde es genauso machen. Es ist nur logisch.« Er hielt still, während Roan ihm das Tuch um die Augen band. »Glauben Sie diesem Mann nicht«, meldete sich Felan verblüfft zu Wort. »Er ist ein Verräter! Er hat einmal das Vertrauen von Leuten missbraucht, weshalb sollte er das nicht
auch ein zweites Mal tun?« Glinn schüttelte den Kopf. »Denken Sie, was Sie wollen. Meine Aufgabe als Wissenschaftler ist es, die Wahrheit herauszufinden, und ich wäre wahrlich ein erbärmlicher Wicht, wenn ich mich an dieses Credo nicht hielte.« Vorsichtig hoben sie ihn auf Golden Schwinn, der sich das nur deshalb gefallen ließ, weil er etwas trug, das nach der Prinzessin roch. Roan redete sanft und begütigend auf das Ross ein, bis Glinn sicher im Sattel saß. »Wir müssen uns beeilen«, drängte Glinn. »Dies ist das letzte und entscheidende Stück.« Spar wies seine Gardisten an, den Wissenschaftler in die Mitte zu nehmen, als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, bevor er sich selbst an die Spitze der Gruppe setzte und voranritt - der sanften Anhöhe zu, die den Lullay-Fluss vor ihren Blicken verbarg. Roan hielt sich neben Golden Schwinn, um ihn durch seine Gegenwart zu beruhigen. Er wünschte sich, jemand würde ihn beruhigen. Ein Spitzel in ihren Reihen. Wer konnte das sein? Er mochte alle seine Gefährten und vertraute ihnen. Sie hatten ihm während dieser ganzen beschwerlichen Reise fest und treu zur Seite gestanden, trotz all der Strapazen und drohenden Gefahren für Leib und Leben. Konnte es tatsächlich sein, dass sie es aufgrund der Machenschaften irgendeines Verräters nicht geschafft hatten, Brom einzuholen? Hatte ihn jemand absichtlich in die Irre geführt? »... Was meinen Sie?«, fragte Glinn. »Wie bitte?«, fragte Roan. Der Wissenschaftler hatte mit ihm gesprochen und Roan hatte nicht ein Wort mitbekommen. Glinn wandte ihm sein verbundenes Gesicht zu. »Wir können genau dorthin gehen, wo Brom mit dem WECKER hin will, oder Sie folgen weiter dieser Spur«, sagte er. »Unter den meisten Umständen würde ich die erstere
Alternative empfehlen, weil wir nicht weniger als acht verschiedene Pläne mit Abweichungen in der angezeigten Route auswendig gelernt haben, aber Sie sind um das Wohergehen Ihrer Hoheit besorgt.« Das brachte Roan in ein Zwickmühle. »Würde er Leonora etwas antun?«, fragte er bange. »Nicht bevor er die Halle der Schläfer erreicht«, sagte Glinn und neigte den Kopf in die Richtung, aus der er den Klang ihrer Stimme vernahm. »Er wird es nicht wagen. Sie ist die einzige wirklich wirksame Waffe, die er gegen Sie in der Hand hat. Sie - und die Entfernung.« »Wir müssen ihn aufhalten, bevor er dort ist«, sagte Roan und scharte die Gruppe um sich herum. »Wer von Ihnen auch immer es war, der Brom über unsere Schritte auf dem Laufenden gehalten hat: Sie können ihm ausrichten, dass wir ihn kriegen werden und dass ich persönlich dafür sorgen werde, dass er für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.« »Können wir unsere Geschwindigkeit denn überhaupt steigern?«, fragte Lum. »Ich kann die Gestalt anzapfen«, bot Glinn an, »aber bedenken Sie, dass Brom uns die Energie jederzeit wieder entreißen und zurückziehen kann. Er könnte sogar versuchen, uns über mich unter Kontrolle zu bekommen. Wir sind alle so nahe daran, zu einer Einheit zu verschmelzen, dass ich unentwegt darum ringen muss einen klaren Kopf zu behalten. Falls er es denn versuchen sollte, bliebe Ihnen womöglich keine andere Wahl, als mich zu töten, um die Verbindung zu unterbrechen.« »Keine Angst, mein Junge«, sagte Spar, auf den Knauf seines Schwertes pochend. »Also denn, gib uns einen Schub!« »Zum Fluss«, sagte Roan. Zuerst kaum merklich, dann immer schneller, begannen die Räder ihr Tempo zu steigern. Ihre Reifen verschmälerten sich
um die Hälfte, dann noch einmal um die Hälfte und sausten surrend über den Asphalt. Beim nächsten Einfluss-Schub verwandelten sie sich in Pferde zurück. Bergold wurde von einer Sekunde auf die andere wieder von der Robbe zum Menschen und krallte sich am Rücken seines dicken Gaules fest, der sich im gleichen Augenblick zu einem langbeinigen Rennpferd verschlankte, das so ruhig und glatt dahinflog wie ein stromlinienförmiger Hochgeschwindigkeitszug. Immer schneller trommelten die Hufe über den glatten Straßenbelag. Die Landschaft huschte vorbei, und Roan konzentrierte sich nur noch auf das, was vor ihm lag: Leonora, Brom und der WECKER.
33. KAPITEL »Die Zeit ist gekommen«, sagte Brom. Er stand mit erhobenen Händen neben seinem Motorrad am Straßenrand. »Maniune, Acton, auf eure Posten! Wir dürfen nicht gestört werden.« Taboret hob den Kopf. Über den Landzungen vor ihnen sah sie das majestätische Panorama der Tiefen Mysterien: breite, mächtige Gipfel, die sich purpurfarben, fast schwarz, gegen den Himmel abhoben und von weißen Wolkenkrausen umkränzt waren. Dort, auf der anderen Seite des mächtigen Lullay-Stromes, lag die Antwort auf die Frage, die Brom stellte, und dort würde das Ende sein - von allem, so wie sie es kannte. Eines stand jedoch fest: in ihrem nächsten Dasein würde sie ganz gewiss nicht geteert und gefedert herumlaufen. Sie ekelte sich vor ihrem eigenen Geruch und blieb an allem kleben, einschließlich dem Sattel und der Lenkstange ihres Fahrrades. Broms dröhnendes Organ riss sie wieder aus den Gedanken über ihre erbarmungswürdige Lage heraus. »Die Zeit ist gekommen, da die Gestalt ihre letzte Verheißung erfüllt!«, verkündete er mit Stentorstimme. »Dass die Herstellung der Einheit beim letzten Mal misslang, lag daran, dass ich bei unserer Vereinigung nicht genügend Führerschaft walten ließ und so die emotionale Rückkopplung nicht hinreichend zu kontrollieren vermochte. Diesmal wird die Einheit von Bestand und Dauer sein. Ich selbst werde die Transformation lenken, und wir werden zu jener einzigen, machtvollen Entität verschmelzen, die zu erlangen wir mit all unserer Kraft angestrebt haben! Und dann können wir die letzten Schritte hin zu unsrem Ziel zurücklegen, gleich als trügen wir Siebenmeilenstiefel! Wir werden eins sein!« Jaaa, kamen die Gedanken-Stimmen durch das Band.
Taboret fühlte die Erregung, die ihre Mitlehrlinge erfasst hatte und schaute sie voller Verzweiflung an. Nein! dachte sie, aber ihre Gedanken unterlagen schon nicht mehr ihrer Kontrolle. Zehn andere Geister zerrten und sogen an ihr. Gegen ihren Willen erschien das Diagramm vor ihrem geistigen Auge, das Diagramm eines gigantischen zusammengesetzten Wesens, und das wunderbare beräderte Transportmittel, mit dem es fahren würde - und das den WECKER mit einer solchen Leichtigkeit trug, wie einer von ihnen jetzt einen Bleistift trug. Die Prinzessin, die zu einer eisblassen Schönheit mit durchsichtiger blauweißer Haut geworden war und die sich weigerte, selbst nachdem der ihr auferlegte Schweigebann wieder gelüftet war, mit einem von ihnen zu sprechen, saß hochmütig ab und kehrte Brom demonstrativ den Rücken zu. Der Rahmen des grünen Motorrades wölbte sich nach oben und nach außen wie eine riesige Spinne, die nach ihrer Beute schnappt, und verwandelte sich in einen Käfig, der sie umfing. Sie wirbelte herum, knapp davor, etwas zu sagen, besann sich dann jedoch eines Besseren und reckte hochmütig die Nase in die Luft. »Lehrlinge, schiebt eure Motorräder zusammen!«, befahl Brom. »Und dann kommt her zu mir!« Wie ferngesteuert stiegen die Lehrlinge gleichzeitig von ihren Motorrädern. Taboret versuchte sich zu widersetzen, aber sie fühlte sich von schierem Einfluss mit Macht zu der Stelle gezogen, an der der Schmelztiegel gebildet werden würde. Ein Impuls, der nicht der ihre war, zog ihre Hand unwiderstehlich in die Mitte des Kreises. »Müssen wir das anfassen?«, fragte Lurry, vor dem braunen Teerschmier auf ihrer Haut zurückzuckend. Der größte Teil der Federn war inzwischen in dem ekligen Pamp versunken oder einfach von ihr abgefallen. »Gewiss nicht«, sagte Brom. »Ich denke, die Sache ist
geklärt.« Er ließ die Hand von seinem Kopf bis zu den Füßen nach unten gleiten und Taboret fühlte, wie frische Luft über ihren Körper strich. Sie blickte an sich herunter und stellte fest, dass sie sauber war. »Danke, Meister Brom«, sagte sie mit einem Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit. Er beachtete sie nicht, sondern starrte ins Leere, um die Parameter der finalen Transformation vor seinem geistigen Auge zu visualisieren. Taboret legte ihre Hand auf die Ganos und wartete, dass Dowkin ihre bedeckte. Als die Kraftwelle schließlich durch sie hindurchströmte, fühlte sie sich anders an als bis dahin. Diesmal war sie kohärenter, allumfassender. Broms Geist durchdrang alles, steuerte, lenkte, führte, kontrollierte, sodass sie selbst keinen bewussten Einfluss auf die Form hatte, die die Dinge annahmen. Als Erstes veränderten sich die Motorräder. Der weiße Dunst waberte um sie herum auf und hüllte sie vollständig ein. Als er sich verzog, stand ein einziges Gefährt da, ein riesiges Motorrad mit sechs Lenkern. »Konzentriert euch darauf, eins zu werden!«, befahl Brom. »Ja«, sagte Doolin. Er trat einen Schritt näher an Dowkin heran und die beiden bewegten sich langsam aufeinander zu und ineinander. »Schaut uns an!«, schrie Dowkin. »Wir sind ineinander! Fantastisch!« Sie begannen ihre Gestalt zu verlieren, verbreiterten und verflachten sich zu einer einzigen quellenden Masse, die in die Lehrlinge floss, die unmittelbar neben ihnen standen. Taboret fühlte, wie die Transformation bei ihr begann. Sie stieß noch einen letzten Schrei des Protests aus, dann wurde ihre Zunge zu einer Sehne und ihre Zähne verwandelten sich in Flechsen. Ihre Gliedmaßen streckten sich und wurden steif. Es tat scheußlich weh. Ihr Schädel wurde zu einer Kniescheibe
und ihre Beine streckten, spreizten und wölbten sich und formten sich zu einem einzigen großen Fuß. Sie fühlte, wie der Fuß sich hob und auf ein Fahrradpedal senkte, das so groß war wie ein Bett. Sie hätte vor Schmerzen laut geschrien, wenn sie über irgendeine physische Ausrüstung verfügt hätte, mit der sie dies hätte tun können. Broms Stentorstimme dröhnte durch sie hindurch. »Alle miteinander jetzt!«, schrie die Stimme. Taboret konnte nicht mehr mit ihren eigenen Augen sehen, sondern nur noch mit denen Broms, der das Haupt des gigantischen Körpers darstellte, in den sie sich verwandelt hatten. Sie waren größer als die Bäume ringsum. Im Norden lag der Fluss - und der mächtige Wasserfall, hinter dem sich ihr Ziel verbarg, die Halle der Schläfer. Im Süden sah sie - sahen sie - eine Staubwolke und die winzigen Gestalten, die den Hang herauf auf sie zu geritten kamen. Der große Mund verzog sich zu einem Lächeln. Zu spät. Mit der Linken hob das gigantische Gestalt-Wesen den WECKER auf und griff dann mit der Rechten nach Leonora. Taboret fühlte, wie eine Schockwelle durch das ganze riesige Wesen raste, als es entdeckte, dass es keine rechte Hand am Ende seines Armes gab. Glinn! dachte Taboret. Das hätte seine Position sein sollen und er war fort. Das Monstrum brüllte seine Enttäuschung hinaus, so laut und dröhnend, dass der Erdboden erzitterte. »Jene Gipfel dort sind die Tiefen Mysterien«, sagte Bergold mit einem Blick auf das gewaltige Massiv, nachdem er seine Karte herausgezogen hatte. Er übergab die Karte Misha zum Zusammenfalten. »Die ältesten Träume des ganzen Kollektiven Unbewussten sind in der Nähe der Berge überall im Traumland gesehen worden, aber die tiefsten Archetypen kommen am meisten hier vor, an der Quelle des Lullay: Dinosaurier,
Vulkane, Geister, Höhlenmenschen, Engel, allesamt Dinge, die übriggeblieben sind aus der Zeit, als die Welt der Schläfer noch jung war.« Roan erhaschte aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Unterholz. Er richtete sich mit einem Gefühl tiefer Befriedigung im Sattel auf. »Da geht mein Höhlenmensch«, sagte er. »Seht doch!«, schrie Misha aufgeregt. »Ein Drache! Ein großer grüner Drache!« Die riesenhafte schuppengepanzerte Bestie rauschte über ihre Köpfe hinweg, scheinbar die Wolken mit den Spitzen ihrer Schwingen streifend. »Oh-ho-huch! Er kommt zurück!« »Ducken!«, kreischte Felan. Die Gruppe krabbelte hastig ins Unterholz, die protestierenden Rösser hinter sich her zerrend. Der Drache flog einen zweiten Angriff, dann rauschte er von dannen, auf der Suche nach leichterer Beute. Bergold zog sein Notizbuch hervor und kritzelte erregt ein paar Notizen hinein. »Das wird mindestens eine Zeitung wert sein«, sagte er. »Mein Hut!« »Nein!«, schrie Glinn mit furchterregender Stimme. Roan streckte die Hand aus, um ihm zu helfen. Der Wissenschaftslehrling zerrte wie wild an seinem Gesicht, riss sich die Binde von den Augen. In ihnen stand blankes Entsetzen. »Was ist los?«, fragte Roan. Glinn schaute ihn an, als wollte er etwas sagen, dann leerte sich sein Gesichtsausdruck. Es verlor nicht bloß seinen Ausdruck, sondern auch seine Züge. Glinns Kopf wurde rund und schwoll an und verschmolz mit seinen Schultern und Armen zu einem Zylinder aus Fleisch, wie - wie ein Handgelenk. Die furchtbarste Transformation aber durchliefen seine Beine. Sie schrumpften und verschmolzen miteinander, dann zerteilten sie sich in fünf Auswüchse aus Fleisch und Knochen,
an deren Enden sogar Nägel wuchsen. »Bei meiner Seele!«, stieß Bergold atemlos hervor, fasziniert starrend. »Er wird zu einer Hand! Einer rechten Hand!« Der Unterarm, der einmal Glinn gewesen war, wankte und sackte vornüber. Golden Schwinn wieherte vor Angst, als ihr plötzlich die riesigen Finger über die Augen fielen und ging durch, einen hilflos hin und her und auf und ab wippenden Glinn im Sattel. Roan sprang auf Cruisers Rücken und spornte ihn zu einem kurzen Galopp an. Er sprengte hinter Schwinn her, bis er ihr den Weg abschneiden und ihr in die Zügel fallen konnte. Auch Cruiser hatte mächtig Respekt vor der Riesenhand, aber er verhielt sich einigermaßen ruhig, während Roan den Unterarm so über Schwinns Sattel legte, dass er nicht so leicht herunterfallen konnte. Die anderen schlossen zu ihnen auf. Bergold sah Roan mit fragendem Blick an. »Wenn etwas so Entsetzliches mit diesem jungen Mann geschieht, was wird dann erst Leonora widerfahren?« Es gibt keine andere Hand, dachte die Massen-Intelligenz zu Brom, als sie auf den Arm starrte, der am Ellenbogen endete. Ich/wir kann/können entweder die Prinzessin oder den WECKER halten, aber nicht beides. »Wir können wohl beides haben!«, schrie die allesüberwölbende Brom-Intelligenz. »Ergreift das Mädchen, steigt auf das Rad und tretet in die Pedale!« Gehorsam beugte sich der riesenhafte Körper zu dem winzigen Mädchen in Weiß hinunter. Leonora wich vor ihm zurück und griff nach den Gitterstangen ihres Käfigs, um sich daran festzuklammern. Im selben Augenblick, da Taboret dies sah, wurde ihr bewusst, dass es keinen Käfig mehr gab. Das Material, aus dem er bestanden hatte, war in das gigantische Fahrrad mit eingeflossen. Brom/der Einheitskörper fasste mit dem Stumpf seines
rechten Armes nach der Prinzessin, aber er griff um sechs Fuß exakt die Länge des fehlenden Gliedes - zukurz. Leonora rappelte sich auf und wich zurück. Brom/der Körper versuchte erneut, sie zu packen. Er musste sie haben. Er brauchte sie als Faustpfand. Aber sie hatte nicht vor, sich widerstandslos verschleppen zu lassen. Sie öffnete etwas zwischen ihren Händen und richtete einen Feuerstoß aus einem Flammenwerfer auf den Armstumpf. Das Brom-Wesen zuckte zurück. »Narren! Ihr habt ihr eine Waffe gelassen!«, donnerte Brom. »Konzentriert euch auf die Gestalt! Lasst uns einen neuen rechten Arm wachsen! Sofort! Schöpft die Kraft!« Aber Taboret wusste, dass er bei seinen Berechnungen einen Fehler gemacht hatte. Die Gestalt hatte keine Kraft und keine Konzentration mehr zur Verfügung. Ihre gesamte Energie erschöpfte sich in der Aufrechterhaltung des Riesen, zu dem sie geworden war. Sie gerieten ins Wanken. Leonora starrte sie voller Entsetzen an. »Nein, konzentriert euch!«, schrie Brom. »Wir sind eins!« Und binnen eines verblüffenden Augenblicks waren sie ein einziges Wesen. Plötzlich begann das Wesen kleiner und schwächer zu werden. Taboret wusste jetzt, warum dergleichen in der Geschichte des Traumlandes noch nie erfolgreich durchgeführt worden war. Nun da sie alle eins waren, hatten sie nur mehr die Kraft einer einzelnen Person. Der Schmelztiegel konnte mit nur einem Teil nicht existieren. Im selben Moment, da sie dies dachte, begann die Gestalt zusammenzubrechen. Der Dowkin-Doolin-Teil der Vereinigung machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung und Wut über das neuerliche Scheitern des Versuchs. Der Taboret-Gano-Basil-LurryBolmer-Carina-Mamovas-Teil war entsetzt. Der Brom-Teil versuchte mit dem Macht- und Kontrollverlust fertigzuwerden, musste aber einsehen, dass er ohne Glinn keine gute rechte
Hand hatte. Taboret fühlte und hörte das alles, war ein Teil davon und wusste, dass ein Teil von ihr Glinns Fehlen betrauerte, zugleich aber auch Schadenfreude empfand. Mit einem lauten Brüllen richtete sich das Gestalt-Wesen wieder auf und reckte sich zum Himmel empor. Es brauchte mehr Kraft, doch dies war alles, was sie waren. Abermals versuchte es, mit dem Stumpf seines rechten Armes nach Leonora zu greifen. Dabei stieß es gegen den WECKER, den es noch immer in der Linken hielt. Der Schall der Glocken hallte wider von Baum zu Fels und ging durch Taborets Zähne, die jetzt Flechsen waren. Leonora wartete nicht länger. Sie drehte sich um und schlug sich in die Wälder. Gut, dachte Taboret. Lauf nur zu! Lauf, so schnell du kannst! Die Glocken läuteten, hallten durch ihren Kopf. Das GestaltWesen bäumte sich noch einmal mühevoll auf, ehe es zusammenbrach und ineinanderpurzelte zu einem Haufen aus Menschen, Kleiderbügeln und Fahrrädern, obendrauf die Trage mit dem WECKER. Als sie zum Ufer des Flusses kamen, fing der über Roans Sattel hängende Arm, der Glinn war, plötzlich an zu zappeln und zu zucken. Roan zügelte Cruiser und schaute fasziniert zu, wie das riesige Glied sich Stück für Stück in Beine, Arme und einen Kopf aufgliederte und schließlich ein Gesicht bekam. Einen Augenblick später hing ein wiederhergestellter Glinn bäuchlings über dem Sattel. Sein Mund öffnete sich und er japste. »Irgendetwas geht da vor«, stieß er keuchend aus. »Ich bin schwach. Mein ganzer Einfluss ist von der Gestalt aufgesogen worden. Ein Unglück ist geschehen. Eine Katastrophe.« »Leonora!«, rief Roan erschrocken und half dem Wis senschaftler, sich aufrecht zu setzen. »Ist sie wohlbehalten? Wo ist sie?«
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Glinn und zog die Brauen zusammen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er seinen Geist klären. »Brom muss den finalen Plan durchgeführt haben, aber ich glaube, dass es nicht gut gegangen ist. Ich kann nichts sehen. Damit meine ich: durch die Augen von irgendjemand anderem. Irgendetwas ist da passiert.« Golden Schwinn und Cruiser stimmten ein aufgeregtes Wiehern an. Roan sah sie überrascht an. »Leonora muss hier irgendwo in der Nähe sein«, sagte er. Mit allem, was er an Einfluss aufbieten konnte, formte er die zwei Pferde in angeleinte Bluthunde um. Sie rannten sofort los, die Nasen dicht am Boden. Vom unteren Teil des Haufens aus Menschen und Gegenständen schaute Taboret nach oben, froh, wieder mit ihren eigenen Augen sehen zu können, und das erste, was sie sah, war eine Kette aus Büroklammern, die über Broms Nase hing. »Fasst euch bei den Händen!«, sagte Brom heiser. »Fasst euch bei den Händen!« Taboret suchte und fand ihre Hände. Sie glaubte, überhaupt keine Kraft mehr in sich zu haben, aber sie streckte eine Hand aus und half, den Schmelztiegel zu formen. Ein Schock durchfuhr sie, als Broms Finger sich mit ihren verschränkten, weil nur noch so wenig von der Kraft seiner Persönlichkeit in ihnen zu spüren war. Zu ihrem geheimen Entzücken konnte sie Broms Gedanken - wie auch die der anderen - nicht mehr vernehmen. Sie war tatsächlich in der Lage, sich auf seine Hände zu konzentrieren, auf die trockenen Fingerspitzen, die leicht feuchte Haut und die ebenso feuchte Handfläche, die sich weitete, während sie sie festhielt. Er veränderte sich in einem Stoß von Einfluss, obwohl er sich mit aller Kraft dagegen sträubte, genauso wie alle anderen auch.
Der Nebel stieg zwischen ihnen auf, aber es war nur ein schwacher Nebel. Gleichwohl reichte er aus, um den WECKER von ihrem Rücken herunterzuwälzen. Er war schwer wie ein Felsbrocken. Als sie alle endlich wieder auf den Beinen waren, machte Brom eine Bestandsaufnahme. »Wir haben nicht genug Fahrräder für alle, und wir haben keine Zeit, darauf zu warten, bis weitere herangereift sind«, sagte er. Taboret musste zweimal hinschauen, bis sie begriffen hatte, dass fast alle Motorräder sich in schlichte Fahrräder zurückverwandelt hatten. Maniune und Acton kamen zurückgerast und stellten sich auf die Pedale ihrer Rösser. »Was ist passiert?«, fragte Maniune und kam mit quietschenden Reifen vor den traurigen Überresten des einstigen einen großen Rades zum Stehen. »Wir hörten die Glocken läuten und dann verlor dieses Ding seine ganze Kraft.« »Die Gestalt war überlastet«, sagte Brom, mit den Gedanken schon beim nächsten Problem. Er zeigte auf mehrere Haufen von Fahrradteilen. »Setzt die zusammen! Und die da auch!« Die Lehrlinge bückten sich, um die Teile aufzuheben und sie nach den Anweisungen ihres Herrn wieder zusammenzufügen. Taborets Muskeln waren steif, aber sie war wieder gänzlich sie selbst. Sie machte sich bereitwillig an die Arbeit, glücklich über die wiedergewonnene Privatheit ihrer eigenen Gedanken, die wieder so rebellisch sein konnten, wie sie es wollte. Traurig wurde sie nur bei dem Gedanken, dass dies gleichzeitig bedeutete, dass sie nun nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Glinns Gedanken zu lesen. Doch was machte das jetzt, da er tot war, noch aus? Dann und wann kam es ihr fast so vor, als spüre sie seine Präsenz noch, als wäre er noch am Leben, aber sie verwies das ins Reich der Fantasie, etwas, mit dem sie nicht sonderlich begabt war - aber die Liebe machte halt manchmal
seltsame Dinge mit einem. Typisch für das Traumland, wo Trugbilder und Illusionen der Stoff waren, aus dem das Leben war. »Nun machen Sie schon, Meister Brom, wir müssen weiter!«, drängte Acton ungeduldig, während er einen Armvoll Räder und Zahnräder auf den großen Haufen schmiss. Er sah nicht annähernd mehr so bedrohlich aus wie vorher. Taboret fragte sich, ob auch er durch die Kraft des Schmelztiegels aufgemotzt worden war. Sie kurvten um ihn herum und schichteten Fahrradteile zu Haufen auf. »Sie sind uns dicht auf den Fersen.« »Wir arbeiten an der Situation, sehen Sie das nicht?«, fuhr Brom ihn an. »Helfen Sie mit oder gehen Sie aus dem Weg!« Dowkin und Doolin saßen beieinander auf dem Boden neben dem Haufen kaputter Fahrradteile. Ihre langen, schmalen Gesichter blickten düster und kummervoll drein. »Es war fast perfekt«, sagte Doolin. Taboret war überrascht, dass sie sie immer noch auseinander halten konnte, auch ohne die Hilfe des Bandes. »Wir sind wieder separate Wesen. Das ist nicht gut.« »Wir müssen einen Weg zurück zu jenem Zustand finden, Bruder«, sagte Dowkin. »Ich kann mit den Berechnungen anfangen.« »Es war von Anfang an eine Verschwörung«, sagte Doolin mit einem düsteren Blick zu den anderen. »Wir hatten ein vollkommenes Band. Sie haben es erst kopiert und dann haben sie's zerrissen.« »Dowkin! Doolin!«, schrie Brom und warf ihnen einen Armvoll Lenker.zu. »Genug! Baut die zusammen!« Mit einem mürrischen Grunzen standen die Brüder auf und machten sich an die Arbeit, leise miteinander murmelnd. Die restlichen Fahrräder wurden notdürftig zu Tandems und Trandems zusammengefrickelt und für den Transport des
WECKERS zu den Ufern des Lullay-Flusses wurde ein behelfsmäßiges Joch zurechtgebastelt. Taboret ließ sich ein Stück zurückfallen, in der Hoffnung, sich in einem günstigen Augenblick unbemerkt ins Unterholz schlagen zu können, aber Broms persönliches Radar spürte sie sogar am Ende des Haufens auf. »Du und du« - er zeigte auf Lurry -, »ihr nehmt die Trage. Den Rest von euch werden wir für die finale Konstruktion brauchen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Beeilung!« Der silberne und der goldene Bluthund schwenkten vom Weg ab, Roan an ihrer Leine hinter sich her ziehend. Sie stürmten ins Gehölz, schnupperten an Bäumen, wühlten sich durch Farnkraut und platschten durch Bäche. Die Bäume wichen hierhin und dorthin aus. Roan verhedderte sich mehr als einmal in den Leinen, als er versuchte, nicht in die Landschaft zu rennen. Ein Stück vor ihm raschelte etwas im Unterholz. Die beiden Hunde reckten den Kopf himmelwärts, hüben ein lautes Freudengeheul an und krabbelten vorwärts in das Gestrüpp. »Wer ist denn da?«, rief eine Stimme zaghaft über das erregte Freudengebell der Hunde hinweg. »Oh, Schwinn!« »Leonora!«, schrie Roan und rannte dorthin, von wo die Stimme gekommen war. Er zwängte sich durch ein Gebüsch aus blühendem Flieder. Und da stand sie, die Prinzessin, der Sicherheit halber hoch auf ihrem Sockel, und sah genau so aus, als wäre sie selbst eine exotische Blüte. Die Hunde tollten und tanzten um sie herum, sprangen hoch, um ihr die Füße zu lecken und wickelten sich dabei mit ihren Leinen um den Sockel. Roan hätte es ihnen am liebsten gleich getan. Sein Herz floss über vor Liebe und Freude. Er stürzte zu ihr und sie sprang von ihrem Piedestal herunter und umschloss ihn in inniger Umarmung. Die Musik, die er in jener Nacht auf dem
Hügel gehört hatte, erfüllte die Luft. »Mein Liebling, ich dachte schon, du seist tot und dann war ich so wütend und traurig«, sagte Roan zwischen heißhungrigen Küssen, während alle seine Gedanken wild durcheinanderpurzelten. »Wir sind gekommen, um dich zu retten.« »Warte, bis ich dir erzähle, was geschehen ist«, sagte Leonora. »Wenn ich nur dieses elende Pferd aus ihrem Einfluss freigekriegt hätte, dann hätte ich schon vor Ewigkeiten wieder bei dir sein können. Sie hätten mich nie und nimmer mehr eingeholt. Ich habe dir so viel zu erzählen.« Jetzt kamen die anderen durch das Unterholz gebrochen und scharten sich um sie herum, um die Prinzessin willkommen zu heißen. »Meine teure Lady, ich bin ja so froh!«, sagte Bergold. »Mein armer junger Freund hier hat Todesängste ausgestanden.« »Wir freuen uns, Sie wohlbehalten und bei guter Gesundheit vorzufinden«, sagte Felan und lächelte sie erleichtert an. »Ich habe deine Schätze gefunden«, sagte Roan und zog die Gänseblümchenkette aus seiner Westentasche. Er faltete sie vorsichtig in ihre Hand. »Ich wusste, dass du sie nicht achtlos weggeworfen haben konntest.« Leonora küßte Roan noch einmal ganz innig, dann löste sie sich aus seinen Armen. »Danke, mein Liebling«, sagte sie mit einem süßen Lächeln. »Einen Augenblick.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verpasste Felan eine schallende Ohrfeige - so fest, dass er rückwärts taumelte. Ohne bewussten Impuls reagierten Roan und die anderen Männer, wie alle Gentlemen des Traumlandes reagierten, wenn eine Dame zeigte, dass sie gekränkt worden war. Sie schnappten sich Felan, schleppten ihn zum nächsten Fluss, in
diesem Fall zufällig der Lullay und warfen ihn in hohem Bogen hinein. »Warten Sie! Halt! Blubb!«, schrie Felan, einen Mundvoll Wasser ausspeiend. Ohne zu warten, bis er wieder auf die Uferbank zurückkrabbelte, ging Roan zu Leonora zurück. »So, und jetzt erzähl uns bitte, was er getan hat«, sagte Roan. Die Prinzessin stand da, die Hände in die Hüften gestemmt und tappte ungeduldig mit dem Fuß. Sie war wütend. »Felan hat uns verraten«, sagte sie mit blitzenden Augen. »Er ist Broms Spitzel!« »Felan?«, fragte Roan, während er zuschaute, wie der Historiker ein Stück weiter flussabwärts spotzend, prustend und triefend die Uferbank heraufgekrabbelt kam. »Er hat Brom die ganze Zeit über Berichte per Luftpost zugesandt«, sagte die Prinzessin. »Einer von ihnen traf zufällig gerade ein, als ich bei ihnen war. Er hat sie über jeden unserer Schritte auf dem Laufenden gehalten, von dem Augenblick an, als wir von zu Hause aus aufgebrochen sind!« »Er muss der Übeltäter sein«, sagte Glinn. »Sie hätten uns schon vor Tagen eingeholt, wenn er nicht gewesen wäre.« »Was?«, fragte Spar. »Was?«, fragte Bergold. Sein sonst so freundliches Gesicht lief purpurrot an. »Wer ist denn das?«, fragte Leonora und drehte sich zu Glinn um, den Wissenschaftler in Augenschein zu nehmen. Ihre Augen weiteten sich, als sie den blauweißen Rock und den Taschenschoner sah. Sie ballte die Fäuste. »Das ist ein tapferer Mann und ein wahrer Freund des Traumlandes«, erklärte Roan und legte die Hände auf ihre Schultern, um sie zu besänftigen. »Er war es, der die Spuren für uns legte.«
»Du bist der Spitzel?«, schnarrte Spar, als Felan sich tropfend zurück zu der Gruppe planschte, Wasser aus seinen Schuhen schüttelnd. »Du hast überhaupt niemals Berichte nach Mnemosyne gesandt? Du hast uns mit voller Absicht durch den Albtraumwald gejagt?« Der Historiker tauschte seinen einfältigen Gesichtsausdruck gegen einen hochmütigen aus. »Ha!«, sagte er. »Ich dachte, das hätten Sie schon vergessen.« »Vergessen!«, brüllte Spar. »Stimmt das?«, fragte Roan. »Natürlich stimmt das«, versetzte Felan keck. »Es überrascht mich nicht, dass eine eingesichtige Missgeburt wie Sie es nicht geschafft hat, von alleine darauf zu kommen. Nicht einer von euch ist auch nur annähernd in der Lage zu begreifen, was Brom da eigentlich vorhat. Unser ganzes Leben ist eine Lüge, solange wir nicht herausfinden, was es mit den Schläfern auf sich hat.« »Aber ich begreife es«, meldete sich Glinn zu Wort. »Ich war einer von den Lehrlingen, die bei der Erstellung der Konstruktionsparameter für das Projekt mitgewirkt haben. Das Läuten des WECKERS könnte zur völligen Vernichtung führen. Und wenn nicht dazu, dann ganz gewiss zu Aufruhr, Schrecken und Gefahr für zahllose Traumländer.« Felan tat unbeeindruckt, aber Roan konnte sehen, dass Glinns Worte ihn zutiefst verunsichert hatten. Leonora war wütender denn je, aber wie wütend Felans Verrat erst Bergold machen würde, hätte Roan sich nicht im Traum vorstellen können. Er hatte seinen Freund noch nie so aufgebracht erlebt. »Du junger Narr!« Der Senior-Historiker wuchs zu einem Hünen von acht Fuß Höhe, mit Händen so groß wie Wassermelonen. Er hob Felan hoch und warf ihn in hohem Bogen in den Fluss, wo er mit einem lauten Platsch versank. »Meinetwegen braucht er gar nicht mehr aufzutauchen«,
sagte Spar, während er den Blick über die Oberfläche des Lullay-Flusses gleiten ließ. Kurz darauf, tauchte ein dunkler Kopf aus dem Wasser auf. »Ach, zu schade! Er kann schwimmen.« Die Gestalt, die dem Wasser entstieg, war eine andere als zuvor. Felan hatte sich gewandelt. Er war kleiner und mickriger, fast wie ein Wurm. Aber diesmal kam er nicht zu ihnen zurück, als er - in gebührendem Abstand zu ihnen ans Ufer watete. Er wandte sich sogleich nach Süden und schlug sich ins Gehölz. Das Blattwerk schloss sich hinter ihm und fort war er. »Den wären wir los«, sagte Spar. So ausführlich und detailliert wie sie konnte, schilderte Leonora ihnen den Aufstieg und Fall des Gestalt-Wesens. Roan hörte gespannt zu, sichtlich erschüttert. »Den Schläfern sei Dank, dass er gescheitert ist«, sagte er. »Es wird sie freilich nicht aufhalten«, sagte Glinn. »Aber sie werden von nun an nur noch viel langsamer vorankommen. Jetzt haben wir die Chance, sie doch noch einzuholen.« »Was ist mit Ihnen?«, fragte Bergold, die Augenbinde hoch haltend. Glinn schüttelte den Kopf. »Die werde ich jetzt nicht mehr brauchen. Die Gestalt ist zerbrochen. Ich bin frei. Abgesehen davon macht es nun auch nichts mehr aus, wenn er mit meinen Augen sehen kann. Er ist fast am Ziel.« Die Gruppe saß wieder auf und ritt am Ufer des Flusses entlang nach Westen, bis sie an eine Stelle kam, an der das Ufer zu Matsch aufgewühlt war. »Hier steckt überall Unheimliches«, sagte Lum. »An dieser Stelle sind sie ins Wasser gegangen«, sagte Roan. »Aber worauf?« »Brom ist von ungeheurem Erfindungsreichtum«, sagte Glinn. »Er ist imstande, ein Segelboot aus einem Ziegelstein
und einem Bettlaken zu zaubern. Nicht auszuschließen, dass er tatsächlich etwas in der Art machen musste. Er hat ein Händchen dafür, widerstreitende Kräfte für sich einzuspannen.« »Welche Richtung nehmen wir?«, fragte Roan. »Flussaufwärts«, sagte Glinn. »Zur Quelle.« »Folgt mir«, rief Roan. Er ließ Cruiser ein Dutzend Schritte rückwärts trippeln, dann spornte er ihn an und sprengte geradewegs auf das schimmernde Wasser zu.
34. KAPITEL Taboret hielt sich am Bug des Schnellbootes fest. Es war kein schönes Boot, aber es erfüllte seinen Zweck. Brom hatte die übriggebliebenen Rösser in ein einzelnes Wassergefährt umgewandelt, das jetzt den Fluss hinauf hüpfte. Er hatte die restlichen Fahrräder mit Büroklammerketten und Kleiderbügeln aneinandergehakt, und das Gefährt sah aus, als wäre es aus zufällig herumliegenden Altteilen zusammengeschraubt worden. Der Oberste Wissenschaftler stand an der Ruderpinne auf dem Heck und starrte mit seinen lodernden Augen geradeaus nach vorn. Die Gestalt war nahezu ausgebrannt. Sie würde nie wieder genug Kraft mobilisieren können, um sie zu einer Einheit zu formen, aber für den Antrieb ihres Bootes reichte es gerade noch. Und das war in diesem Augenblick das einzige, was zählte. Brom war auf ein einziges Ziel fixiert, und er drängte sie unerbittlich vorwärts, auf dieses Ziel hin. Um den Kraftfluss des Schmelztiegels in Gang zu halten, mussten sie Körperkontakt zueinander halten. Brom hatte einen der übriggebliebenen Kleiderbügel genommen und daraus Handschellen gemacht, um sie alle zusammenzuhalten, bis sie den Wasserfall erreichten, den Taboret jetzt bereits sehen konnte. Er reichte bis an den Himmel. Jedesmal wenn das Boot mit dem Bug auf eine Welle klatschte, ertönten die Glocken und verwandelten Dinge in ihrer Umgebung. Taboret war es leid, jedesmal ihre Gestalt zu verändern, wenn das passierte. Mit Fingernägeln, die sich inzwischen zu regelrechten Krallen ausgewachsen hatten, krallte sie sich an der Bordwand fest und sehnte sich danach, dass die Reise endlich vorüber wäre. Sie mussten die Halle der Schläfer vor Roan erreichen. Er
war nicht weit hinter ihnen. Der Investigator des Königs war nicht die einzige Gefahr, mit der sie konfrontiert waren. Haie, groß genug, um sie in einem Stück zu verschlucken, verfolgten das Schiff, seit sie es zu Wasser gelassen hatten. Rieseneidechsen mit unheimlichen Augen starrten sie durch die Bäume an. Titanen so groß wie Bäume bewarfen sich mit Felsbrocken und lachten mit tiefen, dröhnenden Bassstimmen, die die Erde erbeben ließen. Und Taboret war sicher, mindestens einen Drachen gesehen zu haben. Wenn sie sich nicht bald bis zu der Halle durchschlugen, würden ihre lauten Motoren noch mehr ungebetene Schaulustige anlocken. »Festhalten!«, schrie Brom, als sie das riesige Becken des Wasserfalles erreichten. Das Sprühwasser durchnässte sie bis auf die Haut, und die Wucht der herunterstürzenden Wassermassen trieb das kleine Boot immer wieder nach außen zurück und mehr als einmal wäre es um ein Haar gekentert. Wasserschlangen umkreisten den Rumpf und warteten darauf, dass kleine Leckerbissen, wie zum Beispiel Menschen, über Bord fielen. Taboret wich von der Bordwand zurück und fand sich unversehens mit dem Rücken gegen die verhüllte Seite des WECKERS lehnend. »Wir müssen unter dem Wasservorhang durch!«, rief der Oberste Wissenschaftler. »Gebt acht, alle miteinander! Öffnet uns einen Durchgang. Konzentriert euch darauf, geradewegs hindurchzustoßen! Setzt allen Einfluss ein, den ihr habt! Jetzt!« Taboret hatte geglaubt, dass nichts mehr in ihr übrig sei, aber langsam teilten sich die Säulen der herabdonnernden grauen Wassermassen und ein schmaler, dunkler Spalt tat sich auf. Sie starrte darauf, während sie das Wasser von ihren Wimpern blinzelte. Der Spalt war nie und nimmer groß genug für ihr Boot! Brom lehnte sich vornüber und drehte den Gashebel voll auf. Das Läuten der Glocken ging im ohrenbetäubenden Donnern des Wasserfalls unter. Verängstigt kauerte sich Taboret in den Bug und half mit, das Boot mittels Willenskraft
durch den Spalt in der Kaskade in die dahinter liegende Höhle zu zwängen. Die Wassermassen drückten gegen die unsichtbare Substanz ihrer Barriere. Taboret fürchtete, dass sie nicht halten würde. Sie betete, Roan möge dicht hinter ihnen sein. Cruisers breite, weit auseinander gespreizte Hufe stampften mit lautem Klatschen über die Wasseroberfläche, kleine Gischtfontänen aufwirbelnd, wässernen Staubwolken gleich. Die anderen ritten wie an einer Perlenschnur aufgereiht hinter ihm her, über Wellen und Schaumkronen hinwegspringend. Roan warf einen Blick über die Schulter auf Leonora, die sich mit einem grimmigen Ausdruck an Golden Schwinns Mähne festkrallte. Da jedes Gefährt sich seinen Umständen anpasst, verwandelten sich die Rösser in Seepferdchen, als Roan sie in den Fluss hatte sprengen lassen. Die Hippocampi hatten zwei breite, flossenartige Vorderfüße, einen langen, geschwungenen Rücken und eine Schwanzflosse ähnlich der eines Fisches. Roan fand, dass sie sehr schön aussahen, aber ihr Aussehen war jetzt nicht so wichtig: was zählte, war ihre Geschwindigkeit. Stromaufwärts zu reiten, war genauso anstrengend wie bergauf zu galoppieren, aber die Rösser schienen willig und der Einfluss ihrer Reiter war ungewöhnlich stark. Roan war sicher, dass es damit zu tun hatte, dass sie den Schläfern so nahe waren. Die Strömung des mächtigen Lullays war hier, an seinem Ursprung, genauso stark wie eineinhalb Weltumdrehungen weiter, wo er im Herzen des Kontinents in den Nachtliliensee mündete. Dies war der Ursprung allen Lebens im Traumland, das Symbol des Kollektiven Unbewussten. Entlang dem gesamten Ufer kletterten oder flogen Lebewesen aus ihm heraus, Lebewesen, wie Roan sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die meisten von ihnen waren schöne, wahre
Widerspiegelungen des Geistes der Schläfer. Viele waren furchterregende, lebendige Albträume, Manifestationen der Schwierigkeiten und Probleme, die sie zu lösen versuchten. Dies geschah auch an anderen Stellen an den Ufern des LullayFlusses, aber hier häufte es sich. Er wünschte sich, die Mission wäre nicht so dringend, sodass er einige der aus den Fluten auftauchenden Lebensformen studieren und dem König darüber berichten könne. Aber daraus würde nichts werden, wenn ihre Mission nicht erfolgreich war. Das Rauschen des großen Wasserfalls drang an ihre Ohren. Er schien von den Gipfeln des Mysterien-Massivs, vom Himmel selbst, zu fallen. Obwohl sie noch Meilen von dem Katarakt entfernt waren, hing bereits jetzt sein Wasserschleier in der Luft. Roan blinzelte sich die Nässe aus den Augen und richtete den Blick auf die Fälle. Überwölbt von schillernden Regenbögen und von Wolken überdacht, ergossen sich die Wassermassen über farbenprächtige Felsen von der Größe eines Palasts in die Tiefe. Sie wirkten grandios, einschüchternd und gewaltig. »Da sind sie!«, rief Lum über das Tosen des Wassers. Er beugte sich hinüber und zeigte nach vorn. Roan folgte der Linie seines ausgestreckten Armes, bis er das winzige graue Boot im Herzen des Beckens entdeckte. Ein dunkler Spalt tat sich in der Wand aus Wasser auf und das Boot verschwand darin. »Sind sie untergegangen?«, schrie Leonora. »Nein, sie sind hindurchgeschlüpft!«, schrie Roan zurück. »Hindurch!«, schrie Misha. »Unmöglich!« »Nicht für die Gestalt!«, rief Glinn ihm zu. »Sie hat immer noch Kraft!« »Wir müssen schneller sein!«, brüllte Bergold gegen das Tosen des Wasserfalls an. »Wir müssen fliegen, wenn wir sie noch kriegen wollen!«
Fliegen? Roan überlegte. Ob sie das konnten? Bis jetzt hatten sie das noch nicht zuwege gebracht. Aber so nahe bei den Schläfern sollte selbst der kleinste Gedanke ausreichen, um einen Wandel herbeizuführen. Konzentrier dich auf die Aufgabe, die vor dir liegt, dachte Roan. Alles hängt davon ab. Er zog an Cruisers Zügel, zog den Kopf des Seepferdchens immer höher. Cruisers Rumpf löste sich von der Wasseroberfläche. Seine flossenartigen Füße verwandelten sich in Schwingen und mit einem mächtigen Sprung schnellte er empor. Er flog! »Folgt mir!«, schrie Roan. Roan vernahm Schreie hinter sich, als die anderen ihre Rösser hochzogen und sich in die Luft emporschwangen. Er hörte, wie Leonora kreischte. Roan drehte sich um, besorgt um ihr Wohlbefinden - doch ihr Gesicht war von wildem Entzücken erfüllt. Auch Bergold stieß einen jubelnden Freudenschrei aus, als sein Reittier seine rosafarbenen Schwingen neben Schwinns goldenen ausbreitete. Sie flogen! Spar und die anderen Gardisten flogen in einem tropfenförmigen Luftgefährt mit einem großen goldenen Stern auf beiden Seiten, einem kreisenden Propeller auf dem Dach und einem blitzenden Blaulicht am Schwanz. Es war ein wunderbares Gefühl, wieder zu fliegen. Der frische Wind peitschte seine Wangen und zerrte an seinem Haar. Wenn es nicht so eine dringende Mission gewesen wäre, hätte Roan das Erlebnis noch viel mehr genossen. Der Himmel hier oben erschien viel blauer und die Wolken kamen ihm höher und weißer vor als an jedem anderen Ort, an dem er je gewesen war. Die tosende Wand des Katarakts ragte jetzt unmittelbar vor ihnen auf, eine Säule aus Saphir, die sich bis zum Rande des Himmels selbst emporreckte. Der feine Sprühregen durchnässte sie alle und der Wind zerrte an den Schwingen der Flugpferde. Niemand hatte es seit dem Beginn der
Geschichtsschreibung je geschafft, den großen Wasserfall zu durchdringen und lebend zurückzukehren, um den Historikern zu berichten, was sich dahinter verbarg. Roan oblag es nun, das Kunststück, dessen Zeuge er soeben geworden war, zu wiederholen und sie alle sicher hindurchzubringen. Würde die Kraft der herabstürzenden Wassermassen sie alle in die Tiefe reißen? Konnte es sein, dass ihre Mission in einem feuchten Scheitern endete? Das darf nicht sein, dachte Roan. Sie mussten Brom schnappen. Wenn die Wissenschaftler durchkommen konnten, dann schafften sie es auch. »Habt keine Furcht!«, schrie Roan und stählte sich. »Glaubt fest daran, dass ihr es könnt und ihr werdet es können!« Er lenkte Cruiser geradewegs auf die wogende Wand zu. Cruiser schlug mit seinen großen Schwingen und stieß einen schrillen Kriegsschrei aus. Roan lehnte sich über seinen Hals und hielt sich an der gefiederten Mähne des Rosses fest, all seine Willenskraft darauf gerichtet, den Katarakt aufzureißen, damit sie hindurch konnten. Er war von solcher Entschlossenheit erfüllt, dass die tosende Flut sich nicht stärker anfühlte als eine Dusche, die auf seinen Rücken prasselte, während er unter dem Vorhang hindurchritt, mitten in eine riesige Höhle hinein. Er steuerte Cruiser auf einen steinernen Sims zu. Der Pegasus breitete seine Schwingen aus und schwebte in einem langgezogenen Gleitflug in die Tiefe. »Bitte lasst mich nicht wieder abstürzen!«, sandte er ein Stoßgebet zu den Schläfern. »Zu viel steht auf dem Spiel. Keine Fallträume, bitte! Nicht hier!« Die Schläfer mussten sein Flehen erhört haben. Das geflügelte Pferd landete sanft auf festem Grund, trabte noch ein paar Schritte und schüttelte sich trocken. Roan schwang sich von Cruisers Rücken und schaute sich um. Was er sah, erfüllte ihn mit ehrfurchtsvollem Staunen.
Was für ein Ort! Er hatte noch nie eine so riesige Höhle gesehen. Sie fühlte sich an, als wäre sie älter als die Zeit selbst. Der Wasserfall schien sich sowohl über als auch unter ihr zu befinden, aber sein Rauschen klang seltsam gedämpft. Der Fluss verlief auch unter dem Boden der Höhle. Dieser zweite Arm vereinigte sich mit dem ersten hinter dem Vorhang der Fälle, als füge er dem Ganzen eine geheime Zutat bei, die der Koch niemandem zeigen wollte. Beleuchtet von dem azurblauen Licht, das durch den nassen Vorhang sickerte, präsentierten sich die steinernen Wände und der Boden der Höhle in einem satten, kräftigen Bernsteingelb. Funkelnde Brocken von leuchtendem Edelstein, der erfüllt war von innerer Glut, waren zu Mosaiken gefügt, die zu komplex schienen, als dass schlichter menschlicher Geist sie hätte begreifen können. An der Rückseite der Höhle, am oberen Ende einer glatten Steinrampe, wölbte sich der Bogen eines riesigen Torweges, durch den das mildeste Licht fiel, das Roan je gesehen hatte. Von den Wissenschaftlern oder dem WECKER war nichts zu sehen. Sie mussten bereits durch das Tor gegangen sein. Das Verhängnis konnte jeden Augenblick über sie hereinbrechen. Er rannte auf das Tor zu. Die anderen würden ihm schon folgen. »Hiahhhh!«, kam ein wilder Schrei. Ein Körper landete von hinten auf ihm und zwang ihn in die Knie. Der größere von Broms zwei Söldnern zerrte Roan hoch, und der kleinere holte aus, um ihm die Faust in den Magen zu rammen. Blitzschnell mobilisierte Roan seinen Einfluss, um sich dem Griff des größeren zu entwinden. Er versuchte, in den Steinsims hineinzuspringen, sein alter Trick - aber der widerstand ihm. Der Stoff, aus dem das Heim der Schläfer bestand, stieß gewöhnlichen Einfluss von sich ab. Stattdessen machte Roan sich so glitschig, dass die beiden Grobiane ihn nicht zu fassen bekamen. Der größere versuchte ihn zu packen, doch er entschlüpfte ihm mit Leichtigkeit. Dabei lief er jedoch
geradewegs in eine rammende Gerade des kleineren. Der Schlag tat höllisch weh, richtete aber wenig Schaden an, da die Faust von seinem glitschigen Körper abglitt. Roan schlug zurück und wich den Schlägen des Söldners aus, so gut er konnte. Der Kerl drosch verbissen auf ihn ein und trieb ihn zurück gegen die Höhlenwand, wo der andere Rohling wartete. Roan blickte zu dem hohen Torbogen und sein Herz hämmerte. Brom musste jetzt fast fertig sein. Jeden Augenblick würde der WECKER losschrillen. Er musste die beiden Kerle unbedingt abschütteln! Ein lautes, stotterndes Platschen, gefolgt von einem Schrei, ließ sie alle erschreckt hochfahren. Bergold hatte sich durch den Wasserfall gekämpft. Sein geflügeltes Ross verlor kurz an Höhe, heruntergezogen vom Gewicht seiner vollgesogenen Schwingen und nach unten gedrückt von der Wucht der herniederprasselnden Wassermassen. Doch es fing sich blitzschnell wieder und flog zu dem Sims. Bergolds Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Dicht hinter ihm kamen die anderen; wie an einer Perlenschnur aufgezogen brachen sie einer nach dem anderen durch die durchsichtige Wasserwand. »Helft mir!«, schrie Roan. Sieben gegen zwei, da sollten sie mit ihren Gegnern rasch fertig werden können. Leonora und Colenna verharrten auf ihren Rössern in der Luft und flatterten um den Sims herum. Misha, Bergold, Glinn und die Luftquirle der Gardisten nahmen Kurs auf Roan. Doch kaum waren seine Freunde gelandet, da tauchten wie aus dem Nichts zwei weitere Söldner auf und stürzten sich auf sie. Auch die teilten sich in zwei weitere und in einer Kettenreaktion entstanden im Nu so viele Söldner, dass Roan zu zählen aufhörte. Die beiden, die ihn festhielten, begannen wieder auf ihn einzuprügeln und schnitten ihm jedesmal den Weg ab, wenn er ihnen entschlüpfte und die Richtung wechselte. Roan erkannte, dass sie ihn zum Rande des Simses drängen wollten. Wenn er in die Fälle stürzte, würde er vom Sog erfasst und in
die Tiefe gezogen werden. Gegen diese tosende Strömung würde er keine Chance haben. Er musste seinen Grips benutzen. Mit einer ruckartigen Bewegung seines Handgelenks ließ er den Stock aus seinem Taschenmesser herausschnappen und ging in Verteidigungsstellung. Hauptmann Spar stieg aus seinem Helikopter und sondierte sogleich die Lage. »Keine Angst, Sir!«, schrie er. »Die Königliche Garde Seiner Majestät ist für jede Eventualität gerüstet! Sie, Lum, da rüber! Alette, Sie dort rüber! Hutchings, in die Mitte! Der Rest«, schrie er, den Arm nach vorn über den Kopf schwingend, »folgt mir!« Dutzende von Spars kamen hinter dem Original aus dem Hubschrauber gequollen. Die anderen drei Gardisten vervielfältigten sich solange, bis auch sie eine ganze Legion bildeten. Mit dem Schlachtruf »Das Traumland!«, warf sich die königliche Armee in die Schlacht. Roan duckte sich blitzschnell unter einer Geraden des größeren der beiden Grobiane weg und knuffte den kleineren mit seinem Stock in die Nieren. Der fiel auch sogleich um, aber die Originale erhielten Verstärkung durch Heerscharen von Duplikaten, die sich mit obszönen Schlachtrufen ins Getümmel stürzten. Roan postierte sich mit dem Rücken zur Wand und teilte Hieb um Hieb mit seinem Stab aus. Dessen Spitze wetzte sich unter der Wucht der ohne Unterlass auf ihn einprasselnden Schwert- und Keulenhiebe langsam aber sicher ab. Jedesmal wenn er einen Kontrahenten niederstreckte, nahm ein neuer dessen Platz ein. So sehr er auch stieß und hieb und rackerte, der Feind schien an Zahl nicht geringer zu werden. Plötzlich brachen Dutzende von Hutchings', Seite an Seite mit ebenso vielen Alettes, durch die Linie der identischen Rohlinge. Drei Lums bildeten eine Abwehrbarriere und zogen Roan zu einer Steinrampe, auf der sie bereits Bergold und die
Frauen verteidigten. Unter sich sah Roan, wie hundert Spars in Keilformation gegen ein Meer von Söldnern vordrangen und sie langsam zurückdrängten. Ein Heer von Alettes mit Glinn an der Spitze marschierte heran, um sich mit den Spars zu vereinen. Im gleichen Augenblick kam Misha durch die Menge gepurzelt und landete zu ihren Füßen, die langen Arme und Beine von sich gespreizt wie eine Spinne. Hinter ihm durchbrach einer der kleineren Söldner mit gezücktem Schwert den Kordon und machte einen Ausfall gegen Roan, mit der Spitze seiner Klinge auf sein Herz zielend. Roan nestelte an seinem Klappmesser herum. Der Raum war zu eng, um seinen Stab auszuklappen. Er sprang zurück, gerade noch rechtzeitig, um dem Stoß des Söldners auszuweichen, worauf dieser aufs Neue attackierte. Bergold schlug die Landkarte auf, warf sie dem Grobian über den Kopf und zog ihm sein kondensiertes Archiv hart über den Schädel. Der Schurke taumelte und sank bewusstlos zu Boden. »Das«, sagte Bergold, wobei er die Karte triumphierend schüttelte, »war das Beste, zu dem sie auf dieser ganzen Reise gut war.« Erstaunlicherweise konnte er sie diesmal mühelos zusammenfalten und zurück in seinen Ranzen stecken. »Wunderbar! Das war das letzte Mal, dass ich die benutze, bis ich Romney wiedersehe.« Alle Spars hoben den Kopf und riefen Roan zu. »Los, los, Junge, Junge! Dies, dies ist deine, deine Chance!« Ohne eine Antwort abzuwarten, wateten sie zurück in die Schlacht. »Was glaubt ihr, wie die das angestellt haben, sich so zu vervielfältigen?«, fragte Roan, als er, Leonora, Bergold, Misha und Glinn die Rampe hinauf rannten, zur inneren Halle. »Mir fällt da eine Stelle aus einem Gedicht aus der Wach weit ein«, sagte Bergold. »>Meine Kraft ist wie die Kraft von zehn ...< An den Rest kann ich mich nicht erinnern. Sie scheint
bei den Schläfern eine Vielfachsaite zum Klingen gebracht zu haben.«
35. KAPITEL Sie blieben auf der riesigen steinernen Schwelle stehen, hielten einen Augenblick inne und starrten in den dahinterliegenden Saal. Das erste, was Roan auffiel, war die Stille. Sie konnten weder das Kampfgetümmel noch das Rauschen des Wasserfalles hinter sich hören. Auf der anderen Seite des Portals war alles ruhig. Die Stille fühlte sich an, als herrschte sie dort seit dem Anbeginn der Zeit. Der innere Saal war viel größer als die Eingangshalle. Die Halle der sieben Schläfer sah genau so aus, wie Roan sie sich immer ausgemalt hatte: mit einer mächtigen, gewölbten Decke, die von juwelenbesetzten Bossen gestützt wurde. Das Licht, gespendet von verhüllten Wandleuchtern, war gedämpft, damit es die, die dort ruhten, nicht störte. Dies war eine Stätte der Ruhe. Die Schläfer selbst waren Riesen. Jede(r) der Sieben lag auf seinem - oder ihrem - hohen, plattformartigen Bett, umgeben von Nachtkonsolen und Tischen, auf denen kostbare Dinge wie Fotografien, ausgestopfte Tiere und Stapel von Büchern lagerten. Roan betrachtete sie voller Ehrfurcht. Dies also waren die Schöpfer, die seine Welt erschaffen hatten. Er nahm seine Mütze ab und formte sie und seinen Anzug zu ihrem förmlichsten Schnitt um. Die anderen waren genauso von Ehrfurcht ergriffen wie er. »Dies ist die Wachwelt«, sagte Misha in atemlosem Flüsterton. »Wenn wir da hineingehen, hören wir auf zu existieren!« »Nein, dieser Saal existiert nicht in irgendeinem realen, physischen Sinne«, sagte Bergold mit kaum hörbarer Stimme. »Er ist ein Echo der Schläfer, so wie sie sich in den fernen Winkeln der Wachwelt befinden, versammelt hier am Rande
des Traumlandes.« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Man könnte sagen, es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen und der Beginn der ihrigen. Wir existieren lediglich in ihren Postulaten, doch hier sind wir an einer Schnittstelle und können mit ihnen in Verbindung treten. Von hier, von diesem Ort aus, fließen alle Dinge und hierher kommen die Antworten auf ihre Fragen zurück. »Warum ist dieser Ort dann nicht besser abgesichert?«, fragte Misha. »Es gibt nicht mal eine Tür.« »Der Wasserfall ist Schutz genug«, sagte Bergold. »Ich weiß selbst nicht, wie wir es geschafft haben, heil da durchzukommen.« »Aber irgendjemand muss es vor uns versucht haben!« »Würdest du die Schläfer herausfordern?«, fragte Roan. »Wir sind nur hier, weil wir vom Schicksal dazu bestimmt sind«, sagte Colenna mit hochgezogener Augenbraue. »Oh«, wisperte Leonora, den ehrfurchtsvollen Blick zur Kuppeldecke und den fernen Wänden werfend, »ist das riesig hier!« Das Echo ihrer Stimme verhallte zu einem unterschwelligen Getuschel, das sich durch den riesigen Saal fortpflanzte und eine leichte Unruhe auslöste. Die Schläfer murmelten und bewegten sich im Schlaf. Einer der Riesen, ein Mann mit leuchtend güldenem Haar, murmelte etwas in seinen Bart und verschob seine hellblaue Seidenbettdecke ein wenig mit dem Fuß. Ein anderer, eine Frau mit teakholzbrauner Haut und einer Stupsnase, stieß unter ihrer kunstvoll gewobenen Decke einen melodischen Seufzer aus. Ein dritter Schläfer wälzte sich auf seinem riegigen Bett auf die andere Seite, sodass er Roan und den anderen das Gesicht zuwandte. Er trug einen rostfarbenen Schlafanzug und seine zwei Decken waren rot und blau. Seine Augen waren geschlossen, aber einer seiner Mundwinkel kräuselte sich zu einem Lächeln. Sein dunkles Haar hing
zerzaust über sein Kopfkissen. Roan starrte auf das Gesicht. Er fühlte, wie ihm die Kinnlade herunterfiel. Plötzlich ergaben die seltsamen Träume, die er sein ganzes Leben lang gehabt hatte, einen Sinn. Der Schläfer sah aus wie er! Er glotzte mit offenem Mund. Dann wandte er sich mit fragendem Blick an die anderen, um sich die Bestätigung zu holen, dass auch sie sahen, was er sah. Sie starrten allesamt auf den Schläfer. Ohne den Blick von dem Riesen abzuwenden, streckte Leonora die Hand nach ihm aus, um sich zu vergewissern, dass er noch immer neben ihr stand. Sie ließ den Blick von dem Riesen auf ihn und wieder zurück zu dem Schläfer gleiten. Auch ihr Mund stand vor Verblüffung offen. »Dann träumst du also eine der Provinzen des Traumlandes«, sagte Bergold in gedankenvollem Flüsterton. »Ich frage mich nur, welche.« »Das bin nicht ich«, sagte Roan, unwillkürlich seine Stimme hebend. Die Schläfer bewegten sich. Das Geräusch verhallte in der drückenden Luft. »Pssst!«, wisperte Bergold und legte die Hand auf den Mund seines Freundes. »Doch, das bist du.« »Das können wir später immer noch klären«, zischte Glinn. »Wir müssen uns um Brom kümmern! Da sind sie!« Und da waren sie in der Tat! Geradezu winzig anmutend neben den riesigen Betten, waren die Wissenschaftler just in dem Augenblick dabei, in der Mitte des riesigen Saales den WECKER aufzustellen, der, verglichen mit den gigantischen Schläfern, wie ein Spielzeug aussah. Eine beleibte Gestalt, Brom höchstselbst, stand ein wenig abseits von den anderen und beaufsichtigte den Vorgang. In der Hand hielt er einen Messingschlüssel, der so lang war wie sein Arm. Die Lehrlinge arbeiteten leise und schweigend; die Werkzeuge, mit denen sie die Einstellungen an dem Gerät vornahmen, waren abgepolstert. Zur Vermeidung
zufälliger Geräusche hatten sie ihre Schuhe mit Leinenbeuteln umhüllt. Die Vorsichtsmaßnahme erschien Roan in Anbetracht dessen, dass der Oberste Wissenschaftler vorhatte, in wenigen Minuten den Lärm zu entfesseln, der das Ende der Welt bedeuten würde, geradezu absurd. Ein paar von den anderen stellten Überwachungsgeräte und große Filmkameras auf oder postierten sich mit gezücktem Notizblock, um das Ereignis für die Nachwelt festzuhalten. Der WECKER sah, seiner Plane entledigt, durchaus bedrohlich aus. Die pervertierte Sonne am oberen Rand seines unter Glas liegenden Zifferblattes sandte ein bösartiges Licht aus. Roan hatte jetzt noch mehr Angst vor dem, was passieren würde, wenn die Schläfer erwachten. Wenn er aus dieser Welt verschwand, würde er - oder vielmehr, sein Träumer - in der anderen Welt sterben? Er war nicht bereit, sein Leben hier aufzugeben. Er wollte nach Hause zurückkehren und seine Liebste heiraten. Sie durften nicht länger warten. Sie wussten nicht, wie lange es dauern würde, bis Brom mit seinen Vorbereitungen fertig war. Die Wissenschaftler konnten sich nicht von hier zurückziehen oder riskieren, ihr Experiment aufzugeben. Roans dringendstes Ziel war, den WECKER unschädlich zu machen, bevor er losschrillen konnte. Roan gab den anderen ein Zeichen, sich zu verteilen und dann begannen sie vorzurücken. Taboret arbeitete hochkonzentriert an der ihr zugewiesenen Aufgabe. Diese stand seit langem fest und bestand darin, die Zahnräder der Uhr zu ölen, damit sie nicht quietschten. Brom hatte ihnen zuvor noch einmal eingeschärft, dass er keine mündlichen Anweisungen mehr geben würde, sobald sie erst in der Halle waren. Aber jeder einzelne von ihnen wusste, was er zu tun hatte. Dem Diagramm nach gab es genau zehntausend Räder und
Zahnräder im Innern des Uhrwerks. Hundert auf die Kraft von zweien. Obwohl die Gestalt zerbrochen war, gab es noch immer Restspuren von Überlappung und BewegungsSynchronizität mit den anderen Lehrlingen. Sie ertappte sich dabei, gelegentlich gerade dann aufzuschauen, wenn die anderen es ebenfalls taten. Die Zwillingsbrüder waren die einzigen, die den Verlust von Übereinstimmung und Zusammenklang ehrlich betrauerten. Die Atmosphäre war frisch, aber nicht unfreundlich. Sie konzentrierte sich auf ihren Job, um nicht über das nachzudenken, was gleich passieren würde. Brom würde die Uhr mit dem großen Schlüssel aufziehen. Der WECKER würde klingeln und die Schläfer würden alle aufwachen. Wenn nur Glinn jetzt hätte bei ihr sein können, hier am Ende der Welt, dann hätte sie glücklich und zufrieden diskontinuieren können. Ein Gedanke drang in ihren Geist. Aber ich bin hier, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie blickte auf. Glinn kam ihr entgegen, gesund, schön und offensichtlich heil an Körper und Geist. Er musste ein Trugbild sein. Glinn war tot. Nein, sagte die stimmlose Stimme. Ich bin hier. Er lächelte. »Glinn«, sagte sie laut. Und das Unheil nahm seinen Lauf. Dieses einzige laut ausgesprochene Wort >Glinn< löste erneut Unruhe bei den Schläfern aus. Ein Teppich von den Ausmaßen einer Insel rollte sich plötzlich auf und hätte Roan schon in sich eingewickelt, wenn er sich nicht mit einem hastigen Hechtsprung auf den Steinboden gerettet hätte. Schwärme von Fledermäusen fielen wie eine dichte, lautlos wirbelnde Wolke von der Decke und legten sich wie ein Bahrtuch über alle Anwesenden, jeden Laut mit ihren riesigen flanellnen Schwingen erstickend. Roan stieß sie von sich, bemüht, dabei kein Geräusch zu machen, aber das war nahezu unmöglich. Der Aufschlag eines Schuhs auf dem Boden, ein
Ächzen oder ein unterdrückter Schmerzensschrei lösten noch mehr Reaktionen bei den Schläfern aus, was wiederum zu weiterem geballten Auftreten von Trugbildern führte. Jeder Laut wurde sofort von Stille aufgeschluckt, kaum dass er erzeugt worden war, aber sie alle störten die Ruhe der Schläfer und erzeugten weitere Illusionen, die sie verteidigen sollten. Roan musste all seinen Verstand aufbieten, um sich nicht in den Wahnsinn treiben zu lassen. Zum Glück ging es den Wissenschaftlern um keinen Deut besser. Roan wühlte sich aus den alles einhüllenden Falten von Fledermaus-Stoff heraus und kickte seine Stiefel von den Füßen. Auf den Ballen seiner nackten Zehen rannte er leichtfüßig zu Brom, ließ seinen Stock aus dem Taschenmesser herausschnappen und umwickelte ihn mit dem Stoff seines Mantels. Brom wischte und krallte die letzte der Fledermäuse von seinem Gesicht und schleuderte sie von sich weg. Er drehte sich um und sah Roan auf sich zugerannt kommen. Mit rot lodernden Augen streckte er ihm die Hände entgegen, um ihn abzufangen. Ein mächtiger Kraftstoß schoss Roan entgegen und prallte ihm gegen die Brust. Roan wankte, blieb aber nicht stehen. Er pirschte sich an Brom heran und hielt ihm die offene Hand entgegen, stumm nach dem Schlüssel verlangend. Die roten Augen sprühten Funken, und Brom wirbelte den Schlüssel im Kreis, ihn in einen riesigen Messingstab verwandelnd. Du wirst den Schlüssel bekommen, sagte eine Stimme in Roans Kopf. In deine Magengrube! Brom fintierte mit dem Bart des Schlüssels in die Richtung von Roans Kopf, dann drehte er blitzschnell das andere Ende nach oben und zielte auf Roans Unterleib. Roan hatte fast vergessen, mit welch schmutzigen Tricks und Finten Brom im Zweikampf operierte. Er rettete sich mit einem
hastigen Rückwärtssprung aus der unmittelbaren Gefahrenzone und schaffte es gerade noch, Brom auszuweichen. Gleichzeitig holte er mit seinem Stock aus und traf Brom an der Schulter. Brom starrte ihn hasserfüllt an, das Gesicht rot angelaufen aber er biss die Zähne zusammen und schaffte es, den Schmerzensschrei zu unterdrücken. Es war klar, dass er die Abwehrmaßnahmen der Schläfer nicht auslösen wollte, bevor er mit seinem Experiment fertig war. Er winkte seine Assistenten herbei, die mit nervösen Blicken über die Schulter auf die riesigen Gestalten der Schläfer zu ihm gestürmt kamen, um sich in das Getümmel zu werfen. Brom hieb erneut mit dem Schlüssel nach Roans Kopf. Roan schaffte es gerade noch im letzten Augenblick, den Streich mit seinem Stock abzublocken und die messingne Stange nach unten auf den Boden zu drücken. Er schwang sein Bein darüber - in der Absicht, den Fuß auf den Schlüssel zu stellen und ihn am Boden festzunageln, damit Brom ihn nicht mehr als Waffe benutzen konnte. Doch der Oberste Wissenschaftler reagierte blitzschnell. Er riss den Schlüssel unter Roans Fuß weg und rammte ihn mit dem Bart vorneweg in Roans Magengrube. Roan taumelte japsend zurück und Brom stieß ihm den Schlüssel auf den nackten Fuß. Tränen schossen Roan in die Augen, aber er schluckte den Schrei, der aus seiner Brust herausbersten wollte, tapfer herunter. Ich darf nicht schreien, dachte er. Ich darf nicht schreien. Es war schwer, mit jemandem zu kämpfen, ohne dabei Geräusche zu machen. Brom holte abermals aus. Roan wich mehrmals hintereinander aus oder duckte sich weg, wobei er versuchte, den richtigen Moment abzupassen, um die Arme hochzureißen, den Schlüssel zu packen und ihn seinem Gegner zu entwinden. Die anderen Lehrlinge umringten Roan und versuchten, ihn bei den Armen und Beinen zu fassen zu kriegen. Zum Glück für ihn waren sie mehr für wissenschaftliche Aufgaben geeignet als für strategische. Sie kamen sich öfter gegenseitig ins
Gehege, als dass sie den Investigator des Königs behindert hätten. Roan warf Hände voll Einfluss in jede Richtung, gut abgepolstert, damit er ordentlich Wirkung erzielte, aber möglichst keine Geräusche machte. Wissenschaftler flogen in alle Richtungen, viel weiter, als Roan sie normalerweise hätte schleudern können. Die räumliche Nähe der Schläfer schien eine Überlast an Reaktion zu verursachen. Er verstärkte seine Kontrolle und warf nur noch wohldosierte Prisen von Einfluss. Das erwies sich freilich als Fehler: Dadurch, dass sie jetzt sanft landeten, waren seine Feinde in der Lage, sofort wieder aufzuspringen und ihn erneut zu bestürmen. Bergold tauchte in der Gestalt einer fettbäuchigen Python neben Roan auf. Er ließ seine gespaltene Zunge einmal spielerisch vor- und zurückschnellen, bevor er seinen langen Schwanz wie eine Peitsche um die Fesseln eines der beiden identischen Lehrlinge, die im Begriff waren, sich auf Roan zu stürzen, wickelte und ihn zum Straucheln brachte. Misha schubste den anderen Zwilling, sodass dieser in Bergolds Schlingen fiel. Die Historiker-Schlange wickelte sich um ihn und drückte zu. Der Zwilling ließ japsend Luft ab und lief rot an. Die Lehrlinge schienen die Gruppe des Königs von allen Seiten zu bedrängen. Misha formte mittels Einflusses eine Rolle Tau. Der junge Mann verschwand in der Mitte einer Rolle von der Größe eines Brunnens. Die Zwillinge klommen an den Seiten des Haufens hoch und sprangen auf ihn. Roan verlor sie aus dem Blick, als zwei weitere Lehrlinge mit der Persenning von dem WECKER auf ihn springen wollten. Er wickelte sie in ihren eigenen Teppich ein und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einem Hieb von Brom auszuweichen. Er setzte nach und versuchte, Brom den Schlüssel aus den Händen zu schlagen. Ohne ihn war der WECKER nutzlos. Ein Mann in Blau und Weiß versuchte, Colenna in ein
Spitzen-Kräuterkissen von der Größe eines Fasses zu stecken. Sie zog eine Schere hervor und zerschnipselte es blitzschnell in kleine Fetzen von Spitze und Kräutern. Roan hatte Angst, dass das schnipp-schnapp der Schere einen erneuten Aufruhr bei den Schläfern auslösen würde und er hatte Recht mit seiner Befürchtung. Die Schnipsel flatterten nach oben statt nach unten und fügten sich zu Strängen zusammen, die Colenna mit dem Angreifer verbanden. Roan hörte das schnipp-schnapp ihrer Schere, sah sich aber das Ergebnis nicht an. Zwei Frauen jagten Leonora durch den Schlafsaal und versuchten, sie in die Enge zu treiben. Roan war hin und her gerissen, ob er von Brom ablassen sollte, um ihr zu Hilfe zu eilen, aber das erwies sich als unnötig. Wo Einfluss regierte, war sie autark. Sie rannte zu einem riesigen Plüschteddybären, belebte ihn und hetzte ihn auf die beiden Frauen. Das letzte, was Roan von den Frauen sah, war, dass sie vor dem freundlich aussehenden Stofftier flüchteten, das mit glasig dreinblickenden Knopfaugen hinter ihnen her tappte. Leonora schien sich rasch mit der plötzlichen Verstärkung ihrer natürlichen Talente zurechtgefunden zu haben. Es sah sogar ganz so aus, als mache es ihr geradezu Spaß, ihre neugewonnenen Fähigkeiten zu erproben. Roan bewunderte sie. Als sie seinerzeit ausgezogen waren, Brom zu stellen, hatte er Leonora für eine hilflose Hofdame gehalten, die vielleicht eine gewisse Erfahrung darin besaß, häusliche oder diplomatische Krisen zu bewältigen, aber nicht dafür gerüstet schien, mit Gefahr umzugehen. Doch sie hatte mehrfach den Nachweis erbracht, dass sie sich hinter ihren weit erfahreneren Gefährten nicht zu verstecken brauchte. Roan hatte keine Zeit, über die Ironie, die darin steckte, nachzudenken. Drei der männlichen Lehrlinge umkreisten ihn und drangen auf ihn ein. Roan vollführte einen Rundumschlag mit seinem Stock, der sie zurückspringen ließ. Den dritten des
Trios erwischte er voll an der Schläfe und der junge Mann brach ächzend zusammen. Der würde erst einmal für eine Weile nicht wieder aufstehen. Bevor Roan sich umdrehen konnte, stellte ihm ein anderer von den dreien von hinten ein Bein und brachte ihn zu Fall. Alle drei setzten sich auf ihn und bearbeiteten ihn wild mit den Fäusten, alle Vernunft und alle Vorsicht fahren lassend. Zähneknirschend bäumte sich Roan mithilfe eines Einflussstoßes auf und schleuderte die drei zur Decke. Damit sie beim Landen keinen Lärm machten, formte er ein riesiges Netz, das sie auffing und sich sogleich fest zuzog, sodass sie wie Fische im Netz zappelten. Keine weichen Landungen mehr. Die Übermacht war zu groß. Als er wieder auf den Beinen war, sah er Brom. Der Oberste Wissenschaftler hatte sich das Kampfgetümmel zunutze gemacht und war zum WECKER zurückgerannt. Nichts schien ihn von seinem schändlichen Vorhaben abbringen zu können. Brom steckte den langen Messingschlüssel auf die Welle auf der Rückseite des WECKERS und begann ihn aufzuziehen. Roan stürzte zu ihm und stieß ihn zurück, weg von dem Gerät. Er durfte nicht zulassen, dass der WECKER losschrillte. Eher würde er sterben. Brom hielt den Schlüssel immer noch umklammert. Er nahm ihn in beide Hände und schwang ihn wie eine Keule, nach Roans Kopf zielend. Roan versuchte, sich mittels eines rasch errichteten Schutzschildes dagegen zu wappnen, aber Brom war genauso stark wie er. Der Wissenschaftler stieß Roans Einfluss-Schutzschild beiseite, sodass Roan für einen Augenblick verwundbar war, was Brom sofort mit einem wuchtigen Schlag auf Roans Haupt ausnutzte. Blut lief ihm in die Augen, und er sank auf Hände und Knie, und Brom hob den Schlüssel hoch über seinen Kopf, um ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Plötzlich tauchte ein riesiger Schatten über ihnen auf. Bergold, in Gestalt einer gigantischen roten Eule, schwebte
lautlos über sie hinweg. Er fuhr blitzschnell seine Krallen aus, riss Brom den Schlüssel aus den Händen und schwang sich mit mächtigem Flügelschlag wieder empor, den Obersten Wissenschaftler unbewaffnet zurücklassend. Roan kam taumelnd auf die Beine. Er stürzte sich auf Brom, umschlang ihn mit den Armen und formte eine Glasblase um sie beide herum. Das Glas war dick und wirkte wie eine Lupe. Alles um sie herum sah größer als als vorher. Roan fühlte sich wie ein Staubkorn im Universum und nur er stand noch zwischen ihm und seiner Vernichtung. »Halt ein, du Tor!«, zischte er Brom an. »Wenn du sie weckst, bedeutet das das Ende für uns alle.« Er packte Brom bei den Haaren und drehte seinen Kopf zum nächsten Bett, in dem sein Avatar schlief. »Du darfst ihn nicht wecken.« Brom starrte Roan mit seinen lodernden Augen an, dann blickte er über Roans Schulter, dann wieder auf Roan und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske der Bestürzung. »Nein!«, hauchte er tonlos. »Das ist unmöglich!« Dann riss er sich aus Roans Umklammerung los. Die Glasblase zerbarst, und er begann zu kämpfen wie ein Dutzend rasender Riesen, tretend, keilend und hauend - mit aller Kraft, die ihm geblieben war. »Nein!«, kreischte er. Sofort flutete die Abwehr der Schläfer wallend über den Lärm, unterdrückte und erstickte ihn. Monstren und Ärgernisse attackierten Roan von allen Seiten. Telefonverkäufer beschworen ihn, Rangiergleise zu kaufen. Pfadfinderinnen in grünen Röcken boten ihm Plätzchen an. Männer in langen safrangelben Kutten steckten ihm Blumen ins Gesicht. Und die ganze Zeit über bearbeitete ihn Brom mit Fäusten und Fußtritten. Roan verteidigte sich so gut er konnte, mit erhobenem Stock so viele Schläge abblockend wie eben möglich, sorgsam darauf bedacht, nur die geringstmöglichen Dosen an Einfluss einzusetzen, um die Ärgernisse zu vertreiben. Er musste seine ganze Konzentration auf seinen Widerpart gerichtet halten und
durfte nicht zulassen, dass irgendwelche Ablenkungen seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Er hatte jetzt einen neuen Vorteil. Broms Verstand hatte sich verflüchtigt und mit ihm seine überlegene Einflusskontrolle. Faktisch musste Brom jetzt anfällig sein für Einflusskontrolle. Roan wich seinen Fäusten aus, schlug mit seinem Stock zurück und versuchte, sich auf eine sichere Transformation für den Obersten Wissenschaftler zu konzentrieren. Aber er rutschte auf einem Fleck seines eigenen Blutes aus, als eine Miniaturfurie, erzeugt von dem Lärm des Getümmels, auf ihn herabstieß und ihn an den Haaren riss. Roan strauchelte, knallte auf den Boden und verlor dabei seine vielklingige Waffe. Der Stock glitt aus dem Mantel, der ihn umhüllte und schlitterte scheppernd und klirrend über den Boden, weiteren Aufruhr bei den Schläfern auslösend. Roan kroch auf allen Vieren hinter ihm her, um ihn zu erhaschen, aber Brom erwischte ihn als Erster, schnell wie eine Schlange und zog ihn Roan mit voller Wucht über den Rücken. Roan fiel platt auf den Bauch. »Roan!«, schrie Leonoras Stimme auf und wurde sofort von alles erstickender Stille verschluckt. Roan hielt nach der Prinzessin Ausschau und ließ dabei Brom für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen. Der Oberste Wissenschaftler nutzte die Gelegenheit, um ihm mit dem Stock kräftig auf die Schulter zu hauen. Roan japste und fiel. Brom holte erneut aus. Roan raffte sich mithilfe von Einfluss wieder auf die Beine. Dabei schnellte er fast in die Luft: zu spät hatte er daran gedacht, seine Kraft zu dämpfen. Brom schwang den Stock nach ihm. Roan griff zart in den Stoff der Materie und hüllte ihn in Stricke und Ketten, damit er stillhielt, bis sein Zorn verraucht war. Brom tat das alles mit einem Hohnlächeln ab und stürzte sich mit hoch erhobener Waffe auf ihn. Roan wurde von dem Angriff überrascht. Brom sprang auf ihn, presste den Stock quer über seinen Hals und begann ihn zu würgen. Leonora wollte Roan zu Hilfe eilen, besann sich dann aber
eines Besseren. Stattdessen hob sie einen der Metallstäbe vom Boden auf und schlug damit so fest sie konnte gegen die Glocken des WECKERS. Das Geklingel hallte durch den Saal. Eine der Schläferinnen gähnte im Schlaf und begann sich zum Rand ihres Bettes zu wälzen. Ein anderer zuckte und tastete nach dem riesigen, dampfenden Becher, der auf seinem Nachtschränkchen stand. Ein Dritter fing an sich zu räkeln und schließlich lag keiner von ihnen mehr still. Alle, Wissenschaftler wie Angegriffene, hielten für einen Augenblick im Kämpfen inne und starrten auf die riesigen Betten. Leonora stand neben dem WECKER und sah, was sie angerichtet hatte: Die Schläfer erwachten. »Ja!«, schrie Brom frohlockend. Er stand auf und warf den Stock weg. Er hob die Arme in freudigem Triumph. »Ja, mein köstliches Experiment! Endlich sehen wir das Ergebnis! Wacht auf, alle miteinander! Wacht auf!« »Nein!«, schrie Roan. Er warf sich auf die Glocke des WECKERS und hielt den Rand mit beiden Händen fest, um das Klingeln zum Verstummen zu bringen. Mit einem Knurren haschte Brom nach seinen Beinen und versuchte ihn wegzuzerren. Das Dröhnen der Glocken drang unmittelbar in Roans Kopf. Er biss die Zähne aufeinander und ignorierte die Schmerzen. Die Glocken versuchten ihn zu verändern, aber er, der Unveränderliche, widerstand ihnen. Er bot all seinen Einfluss auf, um das Klingeln zu stoppen. »Psst«, flüsterte Roan, all seine Willenskraft einsetzend, damit sein Wunsch sich erfülle. »Ruhe! Silentium!« Das Geschrill der Glocken verstummte. Roan stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Die Schläfer versenkten sich langsam wieder zurück in ihre Träume, doch die Realität war erschüttert. Der Raum war voll von Illusionen, Trugbildern, Ärgernissen und Einfluss - aber nicht genug, um die Welt zu
zerstören. Broms rote Augen quollen ihm vor Wut fast aus dem Kopf. »Du Narr!«, schnarrte er. Er stürzte sich wutentbrannt auf Roan und wollte ihm an die Gurgel. Roan ließ sich von dem WECKER heruntergleiten, ganz vorsichtig, damit er ja nicht wieder zu läuten begann. Er wich vor ihm zurück und zog Brom dadurch mitten in das Chaos. Dann ließ er blitzschnell, ehe der Oberste Wissenschaftler zurückblicken konnte, eine Einflussfontäne aufwallen, die einen Ring aus Feuer um den WECKER legte. Das würde die Lehrlinge für den Augenblick davon abhalten, das Werk ihres Herrn zu vollenden. Der Saal hatte sich mit Manifestationen von Träumen gefüllt, um die Schläfer vor der unerwarteten Störung zu schützen. Teppiche wirbelten herum wie fallendes Herbstlaub, ließen Menschen durcheinanderpurzeln wie Bowlingpins. Monstren kamen unter den Betten hervorgekrochen und drohten die Menschen zu zerfleischen. Eine Schar von kleinen grauhaarigen Damen trat auf den Plan und beendete entschlossen die Rangeleien und Kämpfe, die überall in dem riesigen Saal stattfanden. »Na, na, was würde deine Mutter wohl dazu sagen?«, herrschte eine Großmama einen kleingewachsenen, missmutig dreinschauenden Lehrling an, der gerade die Bergold-Eule attackierte. »Spiel ordentlich!« Er ignorierte sie und haute nach Bergold. Die Eule flatterte außer Reichweite, aber die Großmama packte den Lümmel bei einem seiner Ohren und zog ihn zur Tür des Saales. »Du gehst jetzt auf dein Zimmer, junger Mann!« Einer nach dem ändern wurden die Lehrlinge von Ärgernissen davongetragen. Die Zwillingsbrüder wurden, nackt ausgezogen und blau angepinselt, zu Pferde von der Siebten Kavallerie verschleppt. Die beiden älteren Frauen
schlossen sich einer Horde fröhlicher junger Menschen in grellbunt geblümten Hemden und Shorts an, die einen Tanz vollführten, der unter anderem darin bestand, dass sie sich rhythmisch mit den Armen und den Köpfen berührten und zappelten auf und davon in die schattigen Tiefen des Raumes. Binnen kürzester Zeit waren alle Wissenschaftler verschwunden - bis auf eine junge Frau, die in Glinns Armen lag und ihm mit einem Audruck der Verzückung in die Augen schaute. Roan hatte keine Zeit, sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Unvermittelt fand er sich mit verbundenen Augen von einer Schar kleiner Mädchen in Abendkleidern und mit Schleifen im Haar im Kreis herumgewirbelt. Als ihm die Augenbinde abgenommen wurde, war er allein - und sah sich einmal mehr Brom gegenüber. »Jetzt sind nur noch wir zwei übrig«, sagte der Oberste Wissenschaftler. Sein breites Gesicht War zu einer hasserfüllten Fratze verzerrt. Er wischte einen von den Schläfern gesandten Kissenhagel beiseite, als wäre es Konfetti. Sein Wahn mochte ihn vielleicht der Kontrolle beraubt haben, aber er verlieh ihm Kraft. Roan stählte sich. Okay, dachte er zu dem Schläfer mit seinem Antlitz. Wenn ich wirklich in irgendeiner Verbindung zu dir stehen sollte, dann hilf mir gefälligst jetzt! Brom hob die Hände und sie waren voller Feuer. Er knetete daraus einen Ball und schleuderte ihn mit beiden Händen auf Roan. Roan warf sich zur Seite. Der Feuerball sauste mit einem prasselnden Geräusch an ihm vorbei. Brom formte noch einen und einen dritten. Roan konterte mit Händen voll Anti-Luft, die die Feuerbälle ausblies, als wären sie Kerzen. Brom klatschte in die Hände. Die Feuerbälle verschwanden, aber an ihrer Stelle begannen jetzt unsichtbare Wände voller Stacheln Roan von allen Seiten zu bedrängen und einzuquetschen.
Bloß nicht schreien, mahnte er sich, obwohl er vor Schmerzen keuchte. Denk nach! Mit einer Woge seines eigenen Einflusses machte er die Stacheln stumpf, aber Broms wahngespeiste Kraft drückte die Wände weiter nach innen. Roan spürte, wie seine Knochen knirschend gegeneinander mahlten. Er rief seine letzten Kraftreserven ab, um sich gegen den ungeheuren Druck zu stemmen, der ihn schier plattzudrücken drohte. Der Flammenring um den WECKER erlosch jählings. Roan schaute Brom an. Der Oberste Wissenschaftler lächelte. Mit einem Stoß Einfluss zerstörte Roan eine der Wände, aber die anderen drei bildeten ein Dreieck, das noch enger und beklemmender war als zuvor das Viereck. Er nahm all seine Kraft zusammen und haute eine weitere Wand raus - um nun zwischen zweien eingekeilt zu sein wie in einem Schraubstock. Roan stemmte sich mit den Ellenbogen gegen sie, vor Anstrengung keuchend. Er wurde langsam müde, durfte aber nicht nachlassen. Alles Sein hing von ihm ab. Brom kam ganz nah an ihn heran, den Anblick seines Feindes in höchster Bedrängnis sichtlich genießend. Roan schaffte es irgendwie, eine der beiden Wände in Nichts aufzulösen, aber die letzte und stärkste von allen verschob sich, bis sie vor ihm war und drückte ihn gegen das Bettgestell, das zu seinem riesenhaften Avatar gehörte. Roan legte alle Kraft, die ihm noch verblieben war, in einen einzigen Stoß. Die Wand zerbarst laut in unsichtbare Scherben. Brom heulte vor Wut auf, als der Kraft-Rückstoß ihn traf. Die letzte Spur von Menschlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Eine Veränderung kam über ihn. Ihm erwuchs rauhes, schwarzes Fell, und seine Zähne wurden zu langen, krummen, nadelspitzen Stacheln. Er war jetzt wirklich gefährlich, aber auch verwundbarer als zuvor. Roan hielt Ausschau nach Bergold oder Misha oder irgendeinem von den anderen, der ihm helfen konnte, aber er sah niemanden. Er wusste, dass
seine Freunde irgendwo im Saal waren, aber die Schläfer hatten ihn dazu auserkoren, diese letzte Schlacht zu schlagen. Er musste sie allein ausfechten. Brom drang auf ihn ein, die Augen zu rotglühenden Schlitzen verengt. Roan wusste, dass Brom jetzt wirklich anfällig für Wandel war. Sein Herz beharrte noch immer auf Gnade, ungeachtet seines Zornes. Mach ihn harmlos, sagte sein Geist selbst noch, als die Bestie ihre Krallen hob, um ihm die Gurgel zu zerfetzen. Roan wehrte sich mit all dem Einfluss, der ihm zu Gebote stand. Er rupfte der Bestie das rauhe Haar gleich büschelweise aus und flocht es zu langen Stricken, die sich um das Brom-Monstrum wanden und seine Arme an den Körper fesselten. Roan ließ die krallenartigen Zehennägel der Bestie wachsen und in den honigbraunen Steinfußboden dringen, sodass Brom sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte. Vielleicht würde der Oberste Wissenschaftler umgänglicher sein, wenn er sich erst wieder beruhigte. Die Bestie wand sich in ihren Fesseln, vor Wut schnaubend und knurrend. Roan wich zurück und rüstete sich für eine neue Verwandlung, so sie denn vonnöten sein sollte. Mit einem mächtigen Brüllen, das von der riesigen Weite des Saales aufgeschluckt wurde, sprengte Brom seine härenen Fesseln. Verblüfft schaute Roan zu, wie Brom seine Füße Zeh für Zeh aus ihrem steinernen Gefängnis befreite und erneut gegen ihn vorrückte. Brom konnte nur gerade so eben die Realität lenken, und trotzdem konnte er die Barrieren, die er errichtete, niederreißen wie eine Sense, die durch Grashalme fährt. Die Bestie schwoll an, bis sie fast so groß war wie die Betten der Schläfer. Roan versuchte, sie unter Kontrolle zu bringen, aber sein Einfluss verhielt sich so merkwürdig, dass er seine Kontrolle überflügelte. Die Pupillen von Broms Augen wurden zu Schlitzen. Rauch quoll aus den riesigen Nüstern, die sich in seiner langgezogenen Fratze gebildet hatten. Er zerrte mit den Krallen
an seiner Brust und enthüllte giftgrüne Schuppenhaut. Seine Arme dehnten sich in die Länge und Breite und wurden zu durchsichtigen Segeln, die sich aufblähten und die Sicht auf den Rest des Saales verdeckten. Roan erkannte in ihm den Drachen wieder, den Brom und die Gestalt am Königshof von Mnemosyne ins Leben gerufen hatten. Er warf weiteren Einfluss, in der Hoffnung, die Bestie unter seine Kontrolle zu bringen, aber alle seine Vorstöße gingen ins Leere und mehrten den Stoff des Drachens nur. Broms Augen loderten vor Freude. Der Drache war eine Manifestation seiner Selbst, aber er war auch ein echter Teil des Kollektiven Unbewussten. Da er eine natürliche Kreatur war, konnte ein bloßer Traumländer ihn nicht vernichten, und Roan hatte weniger Wirkung auf ihn, als er es auf eine gewöhnliche Albtraumbestie, wie Brom es eben noch gewesen war, gehabt hätte. Roan sauste zurück, verzweifelt versuchend, Kontrolle über die Teile des Drachens zu erringen, die Brom waren - doch sie schienen vom Rest nicht unterscheidbar. Der Brom-Drache sog mit einem zischenden Geräusch Luft ein und schickte sich an, ihn mit seinem feurigen Brodem zu versengen. Roan fertigte einen Schild aus all seiner ihm noch verbliebenen Kraft und ließ sich dahinter auf die Knie sinken. Brom exhalierte. Er wappnete sich gegen den Feuerstoß, der gegen seinen Schutzschild brandete. Er zuckte vor der Hitze zurück und flehte im Geiste die Schläfer um Hilfe an. Schickt etwas, bettelte er. Irgendetwas! »IBM verkaufen! Nein, kaufen! IBM kaufen!« Plötzlich sah er sich von einer Horde von Männern und Frauen in weißen Hemden und Krawatten umringt, die aufgeregt in ihre Handys schnatterten. Sie zogen Roan hoch und packten den Drachen bei seinen Krallen. Sie wirbelten Brom herum, geheimnisvolle Beschwörungsformeln intonierend. »Microsoft bei 130! AT&T bei 45! P&G bei 80!«
»Nein!«, schrie, nein brüllte Brom in wilder Verzweiflung. »Ihr dürft mich nicht um meine Rache bringen! Ich muss ihn töten! Lasst mich los!« Immer noch laut Kurse schreiend, formten die Investmentbanker eine Polonäse, schnappten sich Roan und Brom und zogen mit ihnen Richtung Tür. Der Brom-Drache versuchte sich loszureißen, aber sie hielten ihn fest in ihrer Mitte und ringelpiezten schwatzend, schnatternd und tanzend zum Ausgang. Während er dahingezerrt wurde, verwandelte sich der Drache wieder in einen Menschen und Stück für Stück verwandelte sich sein weißblaues Gewand in einen anthrazitfarbenen Business-Anzug. Ein Handy erschien unvermittelt in seiner Hand und sein Gesicht nahm einen Ausdruck äußersten Entsetzens an. Auch er wurde zum Börsenjobber. Die Riege cha-cha-chate weiter Richtung Türschwelle. Über ihr öffnete sich ein Tunnel, voll mit wirbelnden grünen Ziffern und fließenden Reihen fremdartiger Akronyme. Roan kämpfte gegen die Arme, die um seine Hüfte lagen und ihn festhielten, aber dieses Ärgernis war von den Schläfern gesandt worden und daher weit stärker als sein Einfluss. Die Polonäse bewegte sich unerbittlich auf den Tunnel zu. Brom kreischte in blankem, ja blankenesem Entsetzen. Roan wehrte sich mit jeder Unze Kraft, die er hatte. Kurz bevor sie die Schwelle erreichten, versetzte der Mann hinter Roan ihm einen kräftigen Schubser, der ihn zu Boden schickte und warf ihm einen fröhlichen Gruß zu, bevor er durch das runde Portal verschwand. Die Investment-Broker verschwanden nacheinander durch den leuchtenden Tunnel mitsamt Brom. Er hatte das Handy am Ohr und er telefonierte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Wie passend, dachte Roan, der Oberste Wissenschaftler war Teil des Ärgernisses geworden. Der Tunnel entschrumpfte ins Nichts und Stille senkte sich über den großen Saal.
Roan rappelte sich auf und rannte zurück, um zu sehen, wo die anderen Wissenschaftler geblieben waren. Er stürzte hinaus in das Vorzimmer, nach Lebenszeichen Ausschau haltend. Draußen war niemand bis auf Spar und seine Gardisten, vier schlaksige, schnurrbärtige Soldaten in wollenen Uniformen mit Gamaschen und flachen Blechhelmen, die um ein kleines Lagerfeuer herum auf dem steinernen Sims lungerten. Spar schnippte eine Zigarettenkippe zwischen Daumen und Zeigefinger weg und stieß die anderen an. Sie erhoben sich respektvoll. Roan suchte den Raum ab. Die beiden Söldner lagen neben ihnen auf dem Boden, sauber verschnürt und verknotet. Von Brom war nichts zu sehen. »Ist alles vorbei?«, fragte der Hauptmann und schaute zu Roan auf. »Ja«, sagte Roan, der es selbst kaum zu glauben wagte. »Es ist alles vorbei.« Auf Zehenspitzen führte Roan sie zurück in die Halle der Schläfer und sah sich um. Im Saal herrschte friedliche Ruhe. Alle Trugerscheinungen waren fort. Seine Stiefel standen ordentlich neben der Schwelle bei den anderen, wo er sie zurückgelassen hatte. Sie waren geputzt und blankgewienert. In der Mitte des Saales stand der WECKER. Er war in einen Bernsteinblock eingeschlossen, wahrscheinlich von den letzten Spuren der Aufmerksamkeit der Schläfer, bevor sie sich wieder ihrem Schlummer hingegeben hatten. Roan ging zu ihm und prüfte die Festigkeit des Materials mit all seiner Kraft, und stellte fest, dass er den Block nicht von der Stelle bewegen konnte. Er war fest und solide, auf allen Ebenen. Vielleicht hatten seine Freunde Recht, dass er und der Avatar eine Menge gemein hatten: auch sie zogen es vor, unschädlich zu machen, ohne zu zerstören. Er war zufrieden. Der WECKER würde nie mehr dazu verwendet werden können, ihre Ruhe zu stören. Das Traumland würde nie wieder etwas von ihm zu befürchten haben. Die Schläfer würden tief und fest weiterschlummern,
wie sie es vom Anbeginn der Welt an getan hatten. Neben dem Bernsteinblock hatte jemand eine transparente Kuppel errichtet, die aussah wie eine halbe Seifenblase. Darunter standen Bergold, Misha, Colenna, Glinn mit seiner Geliebten und die Prinzessin Leonora und starrten hinauf zu dem Schläfer, der Roan war -und doch nicht war. Roan und die Gardisten traten durch die nachgiebige Wand der Seifenblasenkuppel und gesellten sich zu ihnen. Leonora schaute Roan liebevoll an, und er legte den Arm um sie. Sie war sicher und ihr Reich war es auch. Sie hatten es geschafft. »Es ist eine schalldichte Blase«, erklärte sie, hinauf zur Kuppel deutend. »Wir können hier drinnen sprechen. Sie haben sich nicht die kleinste Winzigkeit bewegt, seit wir die Kuppel errichtet haben.« »Gut durchdacht«, sagte Roan. Leonora lächelte. »Ich hatte das Beispiel eines guten Führers vor mir.« »Es ist ein Wunder hier drin, Sir«, sagte Lum, während er sich mit großen, fast aus den Höhlen quellenden Stielaugen umschaute. Sein Blick fiel auf den Schläfer über ihnen. »Große Nacht!« »Das bin nicht ich, Korporal«, sagte Roan, aber es nützte nichts. Der junge Soldat starrte ihn mit einer Mischung aus Entzücken und Ehrfurcht an. »Denk an den Nutzen für die Historiker überall«, sagte Bergold, fröhlich Notizen in den leeren Seiten seines Taschenarchivs machend. »Die Schläfer selbst aus nächster Nähe beobachten zu können! Jeder einzelne von ihnen wird diese Gelegenheit wahrnehmen wollen.« Roan lachte leise in sich hinein. Glinn stellte Roan seine junge Frau vor. »Das ist Taboret. Ohne sie hätte ich das nicht so gut schaffen können, wie ich es tat.«
»Ich wollte doch nur versuchen zu helfen«, sagte die junge Frau schüchtern. »Ich war unvorsichtig, aber ich bin froh, dass es letztlich doch geklappt hat. Ich habe getan, was ich konnte. Prinzessin, es tut mir leid, dass ich Ihnen ... dass ich Ihnen solche Dinge antun musste.« »Ich verstehe«, sagte Leonora und tätschelte ihr die Hand. »Ich trag Ihnen nichts nach.« Taboret sah erleichtert und tief beeindruckt aus. Glinn drückte sie ganz fest an sich. »Wir schulden Ihnen unseren Dank«, sagte Roan zu ihnen. »Ihnen beiden. Ich werde es in meinem Bericht an den König erwähnen.« »Ich hoffe, Sie legen ein gutes Wort bei Carodil für uns ein«, sagte Glinn. »Jemand wird für Broms Taten Rede und Antwort stehen müssen.« »Das wird kein Problem sein«, sagte Leonora in bestimmtem Ton. »Ich werde meinem Vater alles erklären - das heißt, alles, was ich erklären kann.« Sie sah Roan bedeutungsvoll an. »Wie seltsam«, sagte er, hinauf zu dem großen Gesicht starrend. »Dann gab es also doch die ganze Zeit über einen Grund, warum ich mich nie verändert habe. Ich war ein Bild, das von jemand anderem geträumt wurde, der so aussah wie ich.« »Unglaublich«, sagte Colenna. »Du - oder vielmehr: er muss eine sehr gefestigte Persönlichkeit sein. Es hat Tausende von Schläfern gegeben, seit die Welt begann, und ich habe noch nie von einem Mann gehört, der sein ganzes Leben lang derselbe blieb. Jemand hätte die Verbindung ahnen müssen.« »Wie konnten sie das wissen?«, fragte Leonora. »Noch nie hat jemand seinen Weg hierher gefunden.« »Weißt du was?«, sagte Bergold mit einem leisen Kichern, an Roan gewandt, »ich habe die Daten nie nachgeprüft.« Er zog das kleine Archiv aus seinem Beutel und blätterte es durch. »Ja«, sagte er, mit dem Finger auf einen Eintrag tippend. »Du
wurdest zurzeit eines Umbruchs geboren. Wusstest du das?« »Ja. Mein Vater hat es mir erzählt«, sagte Roan. »In welcher Provinz war das?«, fragte Leonora. »Celestia«, sagte Bergold mit einem breiten Lächeln. Die anderen stießen wortlose Ausrufe aus. »Ja, das stimmt. Es sieht so aus, als ob du das Zentrum des Traumlandes träumtest. Und ich kann mir niemanden vorstellen, in dessen Händen wir besser aufgehoben wären.« »Bergold!«, protestierte Roan. »Er ist nicht ich!« »Es ist eine Tatsache, mein Junge«, sagte Bergold und klopfte ihm auf die Schulter. »Und an Tatsachen kannst du nicht vorbei, genauso wenig, wie du das Gesicht verändern kannst, mit dem du geboren wurdest. Und jetzt sehen wir, was für ein edles Antlitz das ist, was? Das würde erklären, warum du dich nie verändert hast. Du bist für den Job geboren. Du träumst uns alle.« »Ich bin kein Schläfer!«, begehrte Roan auf. »Er ist einer. Er träumt mich auch!« »Psst«, sagte Bergold und legte den Zeigefinger auf seine Lippen, als der Roan-Riese sich räkelte und seine blauen und roten Decken mit dem Fuß zurechtzog. »Beruhige dich. Er fühlt deine Erregung, selbst wenn er dich nicht hören kann.« »Das erhebt dich weit über uns arme Sterbliche«, wisperte Leonora andächtig. Ihre Augen waren groß und leuchtend und sie sah herzallerliebst aus. »Was bedeutet es, wenn du mich träumst?« Roan nahm sie stürmisch in die Arme und küßte sie. »Es beweist, dass du wirklich die Frau meiner Träume bist«, sagte er. »Ich könnte mir keine vollkommenere Geliebte vorstellen als dich, sonst, denk ich mir, hätte ich - Er - es getan. Warum lächelst du?« »Ich hab gerad nachgedacht«, sagte sie, das Medaillon an
ihrem Hals mit verträumtem Blick zwischen den Fingern drehend. »Jetzt kann mein Vater eigentlich überhaupt nichts mehr dagegen einzuwenden haben, dass du mich heiratest.«