C. H. Guenter
DIE HABICHTE VON EPIRUS
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. In Dublin hielt de...
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C. H. Guenter
DIE HABICHTE VON EPIRUS
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. In Dublin hielt der Astur-Club seine Jahresversammlung ab. Für Außenstehende war sie etwa so bedeutend wie ein Spaziergang am Nordpol für Eskimos. Nicht einmal der Dublin Observer schrieb darüber, und dieses Provinzblatt schrieb gewöhnlich über jeden Pups, der seinen Reportern zu Ohren kam. Vermutlich lag es daran, daß heutzutage die Aufzucht und Ablichtung von Tagraubvögeln keinen Menschen ernsthaft interessierte. Dies ebens owenig wie die Besonderheiten der Habichte aus der Familie Astur, welche der Fachmann mühelos erkannte, weil der Zahn des Oberkieferrandes sich der Spitze näherte, die Nasenlöcher oval waren, die Flügel die Hälfte des Schwanzes ein wenig überragten und die Läufe dick, breit und kurz geschildert waren. „Sorgen haben diese Leute“, flüsterte der Barkeeper einer blonden Hostess zu und sperrte die Kasse ab. „Die trinken heute nicht mal Mineralwasser.“ Es war in der Tat so, daß die zwei Dutzend Clubmitglieder, die aus aller Welt nach Dublin geflogen waren, voller Andacht dem Vortrag des Griechen lauschten. Dieser Mann aus Epirus, ein gewisser Costas Novakis, hatte wirklich Sensationelles zu bieten. „Gentlemen“, kam er zum Höhepunkt seines Berichtes. „Somit glaube ich, eindeutige Beweise dafür zu haben, daß die starke Veränderung unserer Umwelt auch das Ve rhalten der Habichte, der Astur paumbarius, beeinträchtigt hat. Die Flügelspannweite nimmt zu, sie ist in manchen Fällen um ein Viertel gewachsen, bis auf einen Meter und dreißig Zentimeter. Die Muskulatur hat sich etwa in dem Maße verstärkt, wie amerikanische Kinder größer sind als europäische. Die Farbe des Gefieders paßt sich der neuen Vegetation an. Der Habicht begnügt 3
sich nicht mehr damit, vorwiegend Federwild zu reißen. Zur Beute des Habichts gehören jetzt immer mehr Haarwild und Säugetiere. Auch das Jagdverhalten hat sich geändert, und zwar insofern…“ Der Vortrag des Griechen dauerte von elf Uhr bis in den frühen Nachmittag. Es wurde stark applaudiert. Die meisten Anwesenden baten um ein Manuskript des Vertrags. Der Präsident des Astur-Clubs nannte das Referat von Costas Novakis den seit Jahren hervorragendsten Beitrag zur Forschung. – Dann gingen die Gentlemen zum Essen. Auf dem Weg zum Speisesaal sah der Grieche – ein gutaussehender Mann, groß, braungebrannt, mit schwarzen Locken und dem Profil eines Olympioniken – die blonde Hostess stehen. „Wo kriegt man hier ein Selters?“ fragte er sie. „Die Bar ist zu, und ich bin ausgetrocknet bis zu den Zehenspitzen.“ Die bildhübsche Hostess lächelte, wie es ihr Job verlangte. „Ich besorge Ihnen eines“, versprach sie. Nach wenigen Augenblicken kam sie wieder. Im beschlagenen Glas perlte eiskaltes Mineralwasser, Der Grieche stürzte es hinunter. Dabei las er das Metallschild am Jackenrevers der Irin. L. Jordan war dort eingraviert. „Danke, Miß Jordan“, sagte er in gestelztem Schulenglisch. „Was bedeutet L? – Laura etwa?“ Die Blondine beherrschte ihr Lächeln, entblößte aber ihre weißen Perlenzähne. „Beinah erraten. Ich heiße Lorna, Sir.“ „Da hatte ich fast Glück“, sagte der Grieche . „Vielleicht habe ich zweimal fast Glück.“ „Noch ein Glas Wasser, Sir?“ Das meinte Novakis nicht. Er meinte etwas anderes, und er 4
wagte es einfach. – Wozu waren diese Mädchen schon da, wenn nicht, um die Gäste zu unterhalten. „Darf ich Sie heute abend einladen, Lorna?“ „Einladen wozu?“ tat sie erstaunt. „Das überlaß ich Ihrer Phantasie. Gehen wir in eine Bar, in ein Restaurant, in einen Club?“ Sie tat, als würde sie überlegen. Dennoch hatte er den Eindruck, daß er ihr ebenso gefiel, wie sie ihm „Besser nicht, Sir“, antwortete sie dann. „Warum nicht?“ wollte er wissen. Sie wurden gestört. „He, Novakis!“ rief der Clubpräsident. „Wo bleiben Sie? Der Shrimpscocktail auf Eis wird schon kalt.“ „Wann?“ bedrängte der Grieche die blonde Irin. Nun zögerte sie nicht mehr lange. „Um neun ist mein Dienst zu Ende.“ „Dann um neun in der Halle.“ „Um halb zehn im Cafe nebenan.“ Er nahm ihre Rechte und deutete einen Handkuß an. Warum im Cafe nebenan, fragte er sich. Diese Mädchen sind doch alle Nutten. Das ist bekannt. Also hat sie etwas zu verbergen. Sie speisten in einem exklusiven Restaurant in der Altstadt. Lorna Jordan sah in ihrem schwarzen Kleid mit dem halbrunden straßbesetzten Ausschnitt mindestens so gut aus, wie das Beste, was auf die Teller kam. Insgeheim stellte sich der Grieche die Frage, ob sie später auch so gut schmecken würde. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß der Abend in seinem Bett enden würde. Wenn dieses bildschöne Frauenzimmer mit dem blonden Zopf rund um den Hinterkopf nur halb so Klasse war, wie das Cordon bleu, dann ließ er sich das etwas kosten. – Er dachte an hundert 5
Dollar. Im armen Irland war das eine Menge Geld. – Oder war sie zweihundert wert? Nun, das würde sich zeigen. Er war kein armer Mann. Er konnte es sich leisten. – Gutes Geld für gute Arbeit war schon immer sein Grundsatz gewesen. Sie gingen noch in einen Club. Sie tranken Champagner, tanzten, und eine Striptease-Show, der Lorna Jordan mit Neugier folgte, schien sie anzuregen. Dann im Taxi kam Novakis zur Sache. Die Dollarnote hatte er schon in der Sakkotasche bereit. Er zog sie heraus, raschelte damit und stopfte sie der Irin in die Spalte zwischen ihren Brüsten. „Genug?“ Sie schien sich zu versteifen. Er spürte es, denn er war nahe an sie herangerückt. „Wofür?“ Ihre Stimme klang mit einemmal hart. „Daß du bis jetzt so nett zu mir warst und es bis morgen früh sein wirst.“ Sie faßte sich ziemlich rasch. „Ach, Sie meinen, wir vögeln jetzt miteinander.“ „Klar, was dachten Sie denn, Lorna?“ Erst holte sie die Banknote aus ihrem Ausschnitt und warf sie angeekelt zu Boden. Dann sagte sie leise: „Das muß ein Irrtum sein, Sir. Möglicherweise habe ich mich verhalten wie eine Hure. Dann ist e s meine Schuld.“ Novakis dachte, daß sie sich ziere und daß das mit zu dem Spiel gehöre. Also faßte er ihr gleichzeitig zwischen die Beine und in den Ausschnitt an den nackten Busen. Sie rutschte in die Ecke und machte sich frei. In ihren Augen schienen Tränen zu stehen. Dann holte sie aus und gab ihm eine Ohrfeige, so kräftig und blitzschnell, daß sein Kopf gegen die Türscheibe schlug. Sie bat den Taxifahrer zu halten. Der Rover bremste. Lorna Jordan stieg aus und verschwand 6
zwischen den Bäumen des Parks. Am nächsten Tag reisten die Gentlemen vo m internationalen Astur-Club ab. Der Grieche suchte die blonde Hostess, konnte sie aber nicht mehr finden. Bevor der Bus zum Flughafen abging, nahm er noch einen Scotch an der Bar. „Wo ist Lorna heute?“ fragte er den Barmixer. „Dienstfrei, Sir.“ „Haben Sie ihre Adresse?“ „Bedaure, nein, Sir.“ „Telefonnummer?“ „Bedaure, nein, Sir. Bei Lorna hat sich seit dem Tod ihres Mannes vieles geändert.“ „Lorna ist Witwe?“ „Seit kurzem, wie man hört.“ „Wie starb ihr Ehemann?“ „Man hört so vieles, Sir. Ich weiß nur, daß sie aus dem Norden kommt. Aus Ulster.“ „Kann ich etwas für Lorna hinterlassen?“ „Warum nicht, Sir?“ Er schrieb zwei Zeilen auf seine Visitenkarte, bat um einen Umschlag, schob die Karte hinein, klebte den Umschlag zu und rundete die Rechnung für den Scotch auf zehn Dollar auf. „Wo bleiben Sie, Costas?“ rief der Präsident de s Clubs. „Der Bus wartet nicht ewig.“ Sie flogen gemeinsam bis London, weil es in Heathrow weit bessere Anschlüsse nach Amerika, Afrika und Fernost gab.
Vierzehn Monate später heiratete Costas Novakis die Irin Lorna Jordan. Es war im Hochsommer gewesen, als er sie zufällig auf einem 7
Markt in Achillion traf. Sie feilschte gerade mit einem Händler um den Preis einer Ikone. „Die Hälfte des Preises ist immer noch zu viel“, sagte Novakis und trat neben sie. Sie brauchte nur einen Herzschlag lang, um ihn wiederzuerkennen. „Gut nach Hause gekommen, Mister Novakis?“ fragte sie ein wenig spitz. „Was für ein Gedächtnis“, staunte er, „Oder hat Sie unsere Bekanntschaft so tief beeindruckt?“ „Beides.“ Wie zum Trotz zahlte sie den geforderten Preis für das mit einem Heiligen bemalte Holztäfelchen. „Die Ikone ist natürlich gefälscht“, sagte Costas Novakis. „Ich weiß. Aber für mich ist das eine ebens o echte Ikone, wie ich für Sie eine Nutte war. Eine Sache ist immer das, was man selbst von ihr hält, und nicht was andere von ihr halten, Sir.“ „Ich habe mich entschuldigt“, erinnerte er sie. „Und ich habe alles vergessen.“ „Darf ich Ihnen die Ikone schenken?“ „Nein. Sie ist ja eine Imitation.“ Sie steckte die Ikone ein und schlenderte weiter, die Basttasche über die Schulter gehängt. Das zitronengelbe Leinenkleid paßte zu ihrem Haar und die weißen Sandaletten zu ihren braunen Beinen. „Darf ich Sie zum Essen einladen?“ setzte Novakis an. „Um es noch einmal zu versuchen?“ fragte sie mißtrauisch. „Ich habe immer an Sie gedacht, Lorna.“ Sie blieb stehen und blickte ihn offen an. „Erstaunlich. Ich auch.“ „Also wann?“ „Was tun Sie auf Korfu, Sir?“ „Ich kaufe hier billige Weine für meine Brennerei.“ „Dachte, Sie seien Gutsbesitzer.“ „Das bin ich auch. Ich presse unter anderem Olivenöl, fülle 8
Wein in Flaschen ab, betreibe eine Käserei, mache Konserven, züchte Schweine.“ „Und Habichte“, ergänzte sie. „Urlaub auf Korfu?“ fragte er. Sie lachte. Dieses gurrende Lachen, das tief hinten in der Kehle saß, war eines der Dinge gewesen, die ihn für sie eingenommen hatten. „Eine arme irische Witwe “, antwortete sie, „muß arbeiten. Ich bin im Hotel Akra an der Rezeption angestellt. Sie haben meist Engländer als Gäste.“ „Das Akra liegt draußen am Kap, – Heute abend also?“ „Da habe ich Dienst.“ „Ich kenne den Hotelbesitzer“, sagte Novakis. „Morgen muß ich wieder nach Hause, zum Festland hinüber. Ich hole Sie ab.“ Sie speisten der Einfachheit halber in der Taverna des Hotels. Draußen auf der Meeresterrasse hatte Novakis einen Tisch mit Kerzenbeleuchtung unter Weinlaub bestellt. Eine Kapelle spielte. Es duftete nach Hibiskus. Doch die Irin kam nicht allein. Sie brachte ein etwa fünfjähriges Mädchen mit. Es hatte rotes Haar, zu zwei abstehenden Zöpfen geflochten, Sommersprossen und eine Nase wie eine kleine Kartoffel. „Meine Tochter Diana“, stellte Lorna Jordan vor. „Aha!“ sagte der Grieche und räusperte sich. Es wurde ein ziemlich steifer Abend. Novakis hatte gehofft, der Irin diesmal näherzukommen – in allen Ehren natürlich. Weil es nicht danach aussah, daß ihm das gelänge, er sie aber begehrte und haben wollte, weil sie ihm so sehr gefiel, daß er ein wenig seinen Verstand verlor, geriet er völlig ins Schleudern. „Sie sprechen gut Griechisch, Lorna.“ „Ich gab mir ein Jahr lang Mühe es zu lernen.“ „Fast perfekt. Gewiß werden Sie verstehen, was ich jetzt sage.“ „Wenn Sie langsam sprechen, Sir.“ Er tupfte sich den Mund ab, nahm einen Schluck Wein, steckte 9
sich e ine filterlose Zigarette an und bat sie beiläufig, seine Frau zu werden. Costas Novakis und Lorna Jordan heirateten noch im August. Erst in der Hochzeitsnacht schlief sie mit ihm. Es klappte so prächtig, wie das ganze folgende Jahr ihrer Ehe. Lorna erledigte die umfangreiche Verwaltungsarbeit des Gutes und der Nebenbetriebe. Sie senkte die Kosten, indem sie das Personal auf Trab hielt und verbesserte die Gewinne durch Direktvermarktung. Den Wein lieferte sie nicht mehr an die Genossenschaftskellerei, sondern exportierte ihn an Hotels in England. Der Mehrerlös lag bei dreihundert Prozent. Ähnlich verfuhr sie mit den Produkten de r Meierei. Sie ließ den Käse am Markt in Arta verkaufen und das feine, kaltgepreßte Olivenöl, in Flaschen abgefüllt, ebenfalls. Für die Liköre und die Weine verlangte sie Dollar. Weil die Drachme ständig fiel und der Dollar stieg, machte sie auch hier satte Gewinne. Sie hatte eigentlich nur zwei Probleme: daß ihre Tochter Diana auf eine griechische Schule gehen sollte und daß sie Sehnsucht nach Irland verspürte. Dort lebte noch ihre sechzigjährige Mutter. Als Costas sie fragte, was sie sich zum Geburtstag wünsche, sagte sie: „Daß wir Diana in ein britisches Internat schicken.“ Er war gerne bereit, ihr diese Bitte zu erfüllen. Aber die nächste englische Schule gab es nur in Athen. Und für einen Mann in Epirus war Athen weiter entfernt als Dublin. Sie ließen Unterlagen von Internaten kommen und wählten ein katholisches, von Nonnen geführtes aus. „Ich muß Diana selbst hinbringen“, sagte Lorna eines Tages im Herbst. „In zwei Wochen ist Schulbeginn.“ „Dann flieg hinüber“, erklärte Costas. „Es wird ein paar Tage ohne dich gehen. Immerhin mußte ich vierzig Jahre ohne dich auskommen.“ Lorna hatte nie gefragt, warum er so lange Junggeselle geblie10
ben war, hatte aber Andeutungen entnommen, daß es eine unglückliche Affäre mit einer Sängerin gegeben hatte. Danach hatte Costas keiner Frau mehr sein Herz hinterhe rgeworfen, wie er sich ausdrückte. Von da ab hatte es nur noch Maitressen gegeben. Doch nun war er glücklich, Lorna gefunden zu haben. Er liebte sie und würde ihr treu bleiben. Auch wenn sie für eine Woche nach Irland flog. Ein Reisebüro in der Provinzhauptstadt wurde mit dem Arrangement beauftragt. Jetzt, im Spätsommer, war es schwierig, zwe i Plätze nach Irland zu bekommen. Alle Maschinen waren für Wochen im voraus ausgebucht. Lorna Jordan-Novakis erklärte sich bereit, auch einen Flug nach London zu akzeptieren. Von dort aus kam sie schon irgendwie nach Dublin weiter. Eines späten Abends rief das Touristikbüro an. „Können Sie morgen abend reisen?“ „Meine Frau fliegt“, sagte Novakis, „und meine Tochter. Ist es ein Linienflug nach Dublin?“ „Nein, ein Privatflug nach London, Sir.“ „Privatflug, was heißt das?“ „Ein Lufttaxi, Sir.“ „Meine Familie reist nicht in Zubringermaschinen“, erklärte Novakis scharf. „Verzeihung, Sir“, erwiderte die Angestellte. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nur ein Angebot. In einer King Air sind zufällig zwei Plätze freigeworden.“ „Ist das so ein Kleinflugzeug?“ „Ein Geschäftsreiseflugzeug, zweimotorig, mit zwei Piloten und dreizehn Passagieren. Es holt für die Londoner Charterfirma Air Lloyd eine Gruppe von Journalisten nach England zurück. Journalisten und Regierungsbeamte, hörte ich.“ „Und warum sind zwei Plätze frei?“ fragte Novakis. „Ein Fernsehteam erhielt kurzfristig einen Auftrag in Ägina. 11
Der Reporter und sein Kameramann mußten umbuchen.“ Das klang recht seriös. Journalisten vertrauten ihre wertvollen Köpfe gewiß nicht irgendwelchen klapprigen Mühlen an. „Und wie kommt meine Frau von London aus weiter, bitte?“ „Das ist kein Problem, Sir. Ebenfalls mit der Ai r Lloyd. Aber mit maximal nur zwanzig Kilo Gepäck.“ Novalis fragte Lorna. Lorna war einverstanden, daß er zusagte. Die Koffer waren schon gepackt. Am Spätnachmittag brachte Novakis seine Familie mit dem Landrover aus den Bergen nach Arta. Am Flugplatz ließ er es sich nicht nehmen, sie bis zu der Zweimotorigen zu begleiten. Es war ein modernes Flugzeug mit Turbopropantrieb. Es sah ziemlich neu aus. Die Piloten trugen dunkelblaue Uniformen, die Passagiere machten den Eindruck von britischen Gentlemen. Vielleicht bis auf einen, der verwaschene Jeans und ein Hemd ohne Krawatte trug. Costas Novakis umarmte seine Frau und die jetzt sechsjährige Diana. Es war der erste Abschied für länger. Sie nahmen in der Maschine Platz und winkten durch das Bulleye. Der Rumpfeinstieg klappte hoch. Die King Air startete. Der Grieche verfolgte sie, bis sie über dem Meer verschwanden. Dann fuhr er heim.
Nach dem Abendessen trank er noch eine Flasche Wein und schaltete im Fernseher durch die Programme. Von Arta bis London betrug die Entfernung zweitausend Kilometer. Viereinhalb Stunden Flugzeit, hatte man ihm gesagt. Lorna wollte sich vo n London aus sofort melden. Jetzt ging es auf dreiundzwanzig Uhr. Sie mußte längst da sein. Vielleicht rief sie auch erst aus Dublin an. Gegen Mitternacht wurde Novakis unruhig. 12
Als das Telefon durch die Wohnhalle seines Herrensitzes schrillte, zuckte er zusammen. „Lorna, Darling!“ rief er in die Muschel. „Ich war in Sorge.“ Statt einer Antwort Stille. Er vernahm nur schweres Atmen, dann eine Grabesstimme: „Hier ist das Büro der Air Lloyd London“, hörte er. „Mister Jordan?“ Er hieß zwar anders, aber sie hatten seine Nummer. „Ich bin der Ehemann. Verdammt! – Wo sind meine Frau und das Kind?“ „Das wissen wir nicht, Sir“, antwortete man ihm. „Ich übergebe jetzt an einen Beamten der Flugsicherheitsbehörde.“ „Zum Teufel, was soll das alles?“ Der Beamte beantwortete sachlich kühl die Frage des Griechen. „Sir“, sagte er. „Der Flug Nummer eins sieben null von Arta nach London konnte nicht planmäßig durchgeführt werden. Das Flugzeug landete nicht hier in Heathrow Ai rport. Es landete aber auch nicht auf einem der anderen Flugplätze zwischen Griechenland und England.“ „Gibt es denn keine Funkverbindung?“ stieß Novakis hervor. „Der Funk fiel aus unerfindlichen Gründen aus. Die Maschine wird leider vermißt. Da über dem Kontinent kein Luftzwischenfall gemeldet wurde, müssen wir davon ausgehen, Mister Jordan, daß die Maschine möglicherweise…“ „Was?“ „Über See…“ Novakis hatte das Gefühl, sein Herz setze aus. „Kann sie nicht doch noch…?“ „Die Flugdauer einer Beechraft King Air beträgt maximal sechs Stunden, Sir.“ Und diese sechs Stunden waren inzwischen längst abgelaufen. Das konnte der Grieche sich ausrechnen, ehe ihn tiefe Verzweiflung überkam. 13
Dann fragte der Beamte in London noch, ob sich im Gepäck von Lorna und Diana Jordan Gegenstände befunden hatten, die zu einem Absturz des Flugzeugs hätten führen können. „Woran denken Sie?“ fragte der Grieche tonlos. „An einen auslaufenden Füllfederhalter oder an eine Spraydose?“ „An eine Bombe, Sir.“ „Sie müssen verrückt sein“, keuchte Novakis und legte auf. Mein Gott, dachte er, warum muß mich das treffen. Warum ausgerechnet mich? 2. Die zwei Männer im Fond der Mercedes-S-Limousine unterschieden sich in der Kleidung kaum. Beide trugen weiße Dinnerjakketts zu Smokinghosen und Lackschuhen, darunter feingefältelte Hemden und Fliegen. Sie mochten ungefähr gleich alt sein, um Mitte Dreißig. Beide hatten auch dasselbe Ziel: einen Empfang der Bayerischen Staatsregierung auf Schloß Schleißheim bei München, genannt Sommerfest der Presse. Eine weitere Übereinstimmung bestand darin, daß beide auf einem Pressefest nichts zu suchen hatten. Sie waren keine Journalisten, sondern To p-Agenten. Der eine arbeitete für den Verfassungsschutz, der andere für den Bundesnachrichtendienst. Damit hörte die Übereinstimmung auf. Sie hatten verschiedene Zuständigkeiten und sahen nebeneinander aus wie Pat und Patachon. Der kleine Dicke interessierte sich für alles, was die Sicherheit der Bundesrepublik im Inneren störte, der Lange mit der Skilehrerbräune machte die gleiche Arbeit jenseits der Grenzen. An diesem Abend überschnitten sich jedoch ihre Tätigkeiten. Es 14
ging um einen lange gesuchten Terroristen, um einen Attentäter, der bereit war, sich mit seinem Opfer in die Luft zu sprengen. Der eine der beiden Smokingträger im Mercedes, der BNDAgent Nr. 18, Robert Urban, hatte den Weg des Attentäters Muhad vom Libanon bis München verfolgt und fürchtete, daß dieser Mann einen hohen Politiker aufs Korn genommen hatte. Und der kleine, dicke, deswegen jedoch nicht weniger wendige BfV-Mann Kressenstein sollte ihn unschädlich machen. Dies allerdings mit Hilfe von Polizisten in Zivil. „Das ist ein aktuelles Foto von ihm“, „sagte Urban. „Aufgenommen heute vormittag im Hotel Vierjahreszeiten.“ „Diesmal“, erklärte der BfV-Mann, „ist Muhad reif.“ „Er beginnt schon, am Baum zu faulen.“ „Wenn er uns aber im Gedränge entwischt?“ „Darf er nicht.“ „Er durfte schon eine Menge nicht.“ Kressenstein prägte sich das Gesicht des Arabers ein, behielt aber auch das Foto. „Wie kam Muhad zu der Einladung?“ „Über den Presseclub.“ „Wie wird er bewaffnet sein?“ „Mit Revolver und mindestens einer Eierhandgranate zur Selbstsprengung“, vermutete Robert Urban. „Man muß ihn auf frischer Tat ertappen.“ „Nicht zu früh, nicht zu spät. Das ist das Problem. Ich meine, wenn er dem Ministerpräsidenten die Kanone ins Kreuz stößt und ihn als Geisel nimmt, dann betrachte ich das als zu spät.“ „Logo“, sagte der Mann aus Köln am Rhein. „Optimale Koordination ist Bedingung. Auf die Sekunde genau muß das Einsatzkommando der Polizei zur Stelle sein.“ „Also immer in Muhads Nähe.“ „Natürlich fällt das auf. Er hat die Witterung einer Hyäne.“ Der dunkelblaue BND-Mercedes näherte sich Nordschwabing 15
und legte auf der alten Ingolstädter Straße Tempo zu. „Aber wir machen das schon“, meinte der Verfassungsschützer. „Wir sind ja nicht von gestern, oder?“ „Muhad ist von der ganz schnellen Truppe.“ „Und wir nicht von der Blindenanstalt.“ „Wann sahen wir gegen fanatische Attentäter je gut aus“, wandte Urban ein. „So kenne ich dich gar nicht“, bemerkte Kressenstein. „Glaub mir, das wird ein prima Match. Krüppelheim gegen Olympiaauswahl.“ „Hoffen wir es.“ Urban hatte nicht das beste aller Gefühle, und das beunruhigte ihn. Immer wenn er voller Zuve rsicht in den Ring getreten war, hatte er schwer was auf die Nase bekommen. „Wie gehen wir im Notfall vor?“ „Letaler Schuß“, entschied Kressenstein, „in den Kopf. Bist du bewaffnet?“ „Wozu? Innerhalb der Grenzen nie.“ „Ich habe eine Scorpion.“ „Mann, und das auf einem Pressefest.“ „Diesmal kriegen es unsere dreimal klugen Korinthenkacker von den Medien aus erster Hand serviert.“ Je rascher sie sich Schloß Schleißheim näherten, desto weniger wohl fühlte Urban sich. Normalerweise hätte er die Peristaltik durch einen Schluck Bourbon aus der Reiseflasche gedämpft, aber erstens hatte er sie nicht greifbar – das Dinnerjackett war schon mehrere Jahre alt und saß ziemlich straff –, außerdem machte Alkohol vor dem Dinner immer einen schlechten Eindruck. „Jetzt brauche ich einen Klaren“, sagte Kressenstein. „Gibt es nichts zu schlucken an Bord?“ In diesem Moment summte das Autotelefon. Es war ein BND-Mercedes, also hob Urban ab. Die Stimme des 16
Anrufers war ihm bekannt. Aber warum der Vizepräsident sich persönlich bemühte, war rätselhaft. Um Einsätze, bei denen seine Agenten nur Statistenrollen spielten, kümmerte er sich selten. Fast nie, konnte man sagen. „Ich brauche Sie hier“, verlangte der zweite Mann im BND. „Dringend, im Sinne von sofort.“ „Ein Abbruch der Operation ist nicht möglich“, erwiderte Urban. „Die schaffen es auch ohne uns.“ „Und wenn nicht?“ „Was hier vorgeht, ist wichtiger. Lassen Sie sich ruhig einen Feigling schimpfen. Jeder weiß, daß Sie das nicht sind. Abgesehen davon, sind Sie ohnehin nur aus Neugier dabei. Überlassen wir dem Verfassungsschutz die Glorie.“ „Aber es sieht nicht gut aus.“ „Soll ich es Kressenstein etwa persönlich beibringen? Schönen Gruß. Ich sprach eben mit seinem Boß in Köln. Von dort ist alles klar.“ „Ich sage es ihm selbst.“ Urban legte auf. Kressenstein schien zu ahnen, was lief. Das war einer jener Punkte, wo sie weitgehend übereinstimmten, nämlich, daß sie in der Lage waren, aus Mienenspiel und ein paar Worten Schlüsse zu ziehen. „Da läuft irgend etwas noch Größeres“, bedauerte Urban. „Ich fummle das schon“, versicherte der Verfassungsschützer. Sein Gesicht hatte den grünlichen Schimme r eines Kuhfladens angenommen. Es konnte aber auch an der Neonleuchtreklame einer BP-Tankstelle liegen. „Du bist entschuldigt, Dynamit.“ Die Art, wie er Urbans Kampfnamen aussprach, war nicht ganz ohne eine Spur von Verachtung. Urban zog das rechte Bein der Smokinghose hoch und zog die 17
dort eingeklemmte silberne Bourbonflasche aus der Seidensocke. „Ein Geschenk des Bundesnachrichtendienstes.“ „Statt Blumen“, sagte Kressenstein, schraubte das schmale Behältnis auf und leerte es mindestens zur Hälfte.
Um Mitternacht war alles gelaufen. Kressenstein hatte den Terroristen kurz vor der Tat eliminiert, und Urban hatte einen neuen Fall am Hals. „Das mit diesem Muhad ist Ihr Verdienst, Bob“, sagte der Vizepräsident. „Im Geschichtsbuch wird dereinst Kressenstein stehen. Gott sei’s gedankt.“ „Seien Sie nicht so verdammt bescheiden.“ „Bescheiden“, erwähnte Urban, „steht im Duden nahe bei beschissen.“ Aber der Vize war auch einer von den Stillen im Lande, die ihre Arbeit machten, ohne daß jedesmal eine Blaskapelle aufmarschierte. Das war einer der Gründe für ihre Freundschaft. „Also“, fragte der Vize, „was halten Sie davon?“ Urban blieb nichts anderes übrig, als die Sache, zum Zeichen dafür, daß er auf der Rolle war, noch einmal nachzukauen. „Ein Geschäftsflugzeug vom Typ Beechcraft King Air ist auf dem Flug von Griechenland nach London spurlos ve rschwunden. An Bord befanden sich dreizehn Passagiere. Zehn Journalisten, eine Touristin mit Kind und Sir Randolph Hotwater.“ „Hotwater gilt als der größte Irenfresser Ihrer Majestät, der Königin von England“, unterbrach der Vizepräsident ihn. „Das ist wichtig. Nach Meinung von MI-six-Kollegen, die uns um Hilfe bitten, und auch meiner Meinung nach, ist Hotwater der Drehund Angelpunkt.“ Urban fragte sich oft, was mit Angelpunkt gemeint war. Eine 18
Türangel etwa, drehte sich immer. Hier war der Ausdruck unpräzise. Die deutsche Sprache erlaubte sich aber keine Ungenauigkeiten. Also mußte es sich bei Angelpunkt um jenen Punkt handeln, wo die Angel, genauer, der Angelhaken, den Fisch aufspießte. Noch präziser war Analpunkt. Darüber dachte Urban gerade nach und wirkte offenbar abwesend. „Hören Sie mir überhaupt zu?“ fragte der Vize und stützte die Ellbogen in der dezent karierten Tweedjacke auf den Schreibtisch. „Irenfresser Ihrer Majestät, der Königin von England“, wiederholte Urban und verbesserte: „Mit besonderer Vorliebe für Untergrundkämpfer der irisch-republikanischen Armee in Ulster, auch Nordirland, auch Britisch Irland genannt.“ „Das die IRA-Leute für feindlich besetztes Gebiet halten, und die Engländer daraus vertreiben wollen.“ „Deshalb legen sie möglichst viele Engländer um. Die Engländer jagen sie und legen sie ebenfalls um. Und Sir Hotwater ist der Oberumleger.“ Der Vize hob die Braue links. „Haben Sie etwas gegen merry old England?“ „Ich hab nur etwas gegen sinnlose Menschenschlächterei, in der sich Katholiken und Protestanten die Köpfe einschlagen wie im Mittelalter. Im übrigen ist Hotwater ein brutaler Hund. An dem Tag, als er Mike Jordans Kopf auf der Lanze hatte, wurde seine Sanduhr zum letzten Mal umgedreht. Will sagen, man kann seine Stunden abtickern hören. Natürlich ist es nicht legitim, Menschen in die Luft zu sprengen, so wenig wie es nicht legitim ist, ihnen Prozesse zu liefern, wo von vornherein das Urteil lebenslänglich feststeht. Als Deutscher hat man es schon schwer genug, aber wenn ich etwas nicht sein möchte, dann Ire. Und deshalb bedanke ich mich auch nicht dafür, daß Sie mich mit dieser Sache betrauen. War noch was, Herr Präsident?“ Der Vize wollte seinen Best-man so nicht gehen lassen. 19
„Der britische Auslandsgeheimdienst ersucht um Fahndungshilfe.“ „Dachte, die Trümmer der King Air wurden im Ärmelkanal von Fischern treibend gesichtet.“ „Aber es gibt da gewisse Ungereimtheiten. In Athen wurde jeder Passagier, der an Bord ging, mit dem Detektor überprüft. Keiner konnte eine Waffe oder eine Handgranate an Bord bringen. Vor dem Start schnüffelten Hunde, deren Nasen auf winzige Partikel von Sprengstoffen reagieren, durch das Flugzeug, durch Cockpit, Passagierkabine und Gepäckraum. Mit Sicherheit war keine Bombe an Bord. Der Flug verlief bis Sü ddeutschland völlig normal. Dann fiel der Funk bei der Beechcraft aus. Die Radarstationen der Luftraumkontrolle verloren sie von den Bildschirmen. Vermutlich weil sie zu tief flog. Als dann wi eder ein identisches Signal auftauchte, war mehr als eine Stunde vergangen. Zu diesem Zeitpunkt, um Mitternacht vor zwe i Tagen, hätte die King Air längst in London sein müssen. Sie befand sich aber erst im Luftraum vo n Paris. – Wo war sie in der Zwischenzeit gewesen? Wo flog sie herum, wohin schlug sie einen Haken? Eine Beech ist kein Hubschrauber, der sich einfac h an den Himmel hängen kann.“ „Oder bei der Maschine über Paris handelte es sich um ein anderes Flugobjekt“, wandte Urban ein. „Klar, um ein UFO“, spottete der Vizepräsident. „Bob, Sie sind selbst Pilot. Da stimmt doch überhaupt nichts zusammen. Gehen Sie dem Rätsel nach, soweit es sich auf dem Kontinent und in unserem Nahbereich verfolgen läßt. Lord Babington bittet darum. Und Urban, Sie wissen doch, manus manum lavat, eine Hand wäscht die andere. „ Auch dies hielt Urban für ein nicht mehr gültiges Sprichwort. Schließlich gab es bei Händen so riesige Unterschiede wie zwischen Bratpfannen und Mokkauntertassen. „Ist es nicht denkbar, daß das Flugzeug irgendwo heimlich lan20
dete?“ gab der Vize ihm mit auf den Weg. „Bei Nacht und Nebel auf einer Schafweide etwa?“ „Flugzeuge sind dazu gebaut“, äußerte der Vize. Wie sich Nichtpiloten das so vorstellten! Heilige r Vater! Eine King Air im Dunkeln irgendwo in Europa abseits eines befestigten Flugplatzes zu landen und wieder zu starten, das war ungefähr so leicht, wie Tomatenflecke vom Hemd mit Milch zu entfernen oder eine Sonne an den Himmel zu malen, wenn es regnete, oder eine Rasierklinge an einem aufgeblasenen Luftballon stumpf zu machen. – Oder ein rundes Bonbon eckig zu lutschen. Heiliger Vater! „Sie hören mir schon wieder nicht zu“, rügte der Vize. „O doch.“ „Dann denken Sie dauernd an etwas anderes.“ „Stimmt“, sagte Urban. 3. Costa Novakis versuchte das Gefühl zu unterdrücken, denn er fürchtete, daß es ihn in die Zeiten der Barbarei zurückwarf. Aber was in ihm vorging, wie sich Wut und Verzweiflung zu einer Giftbrühe vermischten, für die es nur einen Katalysator gab, nämlich Rache zu üben, das verstärkte sich eher noch. Ehe es ihn umbrachte, faßte er einen Entschluß und fuhr in die Stadt zum nächsten Schrottplatz. Der letzte Auslöser dafür war ein Gespräch mit seinem Freund Tomakis von Radio Joannina, einem Sender, der speziell die gebirgige Nordprovinz Epirus versorgte. „Was hast du gehört?“ fragte er Tomakis. „Nur wenig mehr als gestern.“ „Sag es mir. Schone mich nicht“, bat der Gutsbesitzer Novakis. „Nur Trümmer, keine Leichen.“ „Was für Trümmer?“ „Kunststoffteile, solche, die leichter sind als Wasser, und irgendwelche leeren Behälter. Rettungswesten et cetera.“ „Leichen 21
schwimmen auch.“ „Nur begrenzte Zeit und wenn sie – mehr oder weniger – noch in einem Stück sind.“ „In Einzelteilen also weniger“, bemerkte Novakis. „Die holen sich dann die Raubfische.“ Der Mann vom Radiosender Joannina schwieg betreten. „Warum waren die Rettungswesten leer?“ wollte Novakis wissen. „Offenbar kamen sie nicht mehr dazu, sie anzulegen.“ „Eine Höllenmaschine also.“ „So wird von Interpol ve rmutet.“ „Und wer legte sie?“ bohrte Novakis, obwohl er es im Grunde ahnte. „Diese irischen Terroristenschweine. Aber was, zum Teufel, geht mich Irland an? Was habe ich damit zu tun?“ „Deine Familie war rein zufällig an Bord.“ „Ja, ganz zufällig wurden zwei Plätze frei“, bemerkte Novakis bitter. „Da deine Familie nichts mit der IRA zu tun hat“, fuhr sein Informant fort, „kann es bei dem Anschlag nur um Sir Randolph Hotwater gegangen sein. Er galt als brutaler IRA-Jäger und stand oben auf der Killerliste.“ Das tröstete Novakis wenig. Für ihn kristallisierten sich als Ergebnis aus dem fürchterlichen Ereignis zwei Punkte heraus: Seine geliebte Frau war tot, und Schuld daran trugen die Engländer. Im Grunde war er ein einfacher Mensch, der immer einfache Erklärungen suchte, um seine Probleme auf einfache Weise lösen zu können. „Bedaure, Costas“, sagte der Radiomann. „Mehr weiß ich nicht. Sie haben eine Untersuchungskommission gebildet und schalten auch die Geheimdienste ein. Aber es wird wenig dabei herauskommen. Darf ich dir mein Beileid ausdrücken.“ „Danke, Tomakis.“ „Was für ein Verlust.“ 22
„Und nicht einmal ein Grab“, jammerte Novakis tonlos, „um Blumen darauf zu legen.“ Novakis fuhr über die Mitsikelliberge, die das weite grüne Tal, das ihm gehörte, nach Westen hin abschlössen. Mit monotonem Nageln arbeitete der Diesel des Landrovers sich über den Paß. Oben lag schon Schnee. Der Himmel darüber war tiefblau, die Luft von wundervoller Reinheit. Novakis rollte talwärts durch Wälder mit Aleppokiefern. Später kamen Weinterrassen und Olivenhaine. In der Ferne tauchte die Stadt auf. Die Häuser waren weiß und ockerfarben. Immer wenn er auf dieser Straße nach Joannina gefahren war, hatte er geglaubt, es gäbe kein schöneres Land auf dieser Erde. Heute empfand er die Schönheit schmerzlich. Er mußte anhalten und sich übergeben.
Costas Novakis wußte genau, was er tun würde. Deshalb suchte er am Schrottplatz gezielt, „Einen Ventilator“, erklärte er dem Schrotthändler. „Fürs Auto? Fürs Schlafzimmer?“ „Für eine Lagerhalle.“ „Da brauchen Sie schon ‘ne Art Exhaustor.“ „Ja, er soll eine Menge Luft wegschaffen“, beschrieb Novakis seinen Wunsch. „Soll er Luft saugen oder drücken?“ „Ist doch egal, oder?“ entgegnete Novakis. „Vorne saugt er, hinten drückt er.“ „Na ja schon, aber soll es ein Radial- oder ein Propellergebläse sein?“ Novakis überlegte. Er versuchte, die Alternativen in seine Pläne einzupassen und winkte ab. 23
„Kein Schaufelgebläse, mehr wie ein Propeller wirkend.“ „Also System Kaplan.“ Der Schrotthändler kratzte sich am Hinterkopf, flüsterte mit seinem Helfer und bedauerte dann. „Das müssen Sie sich bauen lassen. Wir haben nur so kleine Lüfter rumliegen, wenn es eine m nachts zu heiß wird und um die Fliegen zu, verjagen. Wieviel PS sollte er denn aufnehmen?“ „Lieber hundert als fünfzig.“ „Da läuft elektrisch sowieso nichts“, meinte der Schrotthändler. „Für mehr als fünfzig KW ist unser Stromnetz zu schwach. Da brauchen Sie etwas mit Motorantrieb. Diesel oder Benzin.“ „Egal“, erwiderte Novakis. „Aber wo kriege ich so was.“ Der Schrotthändler deutete stadteinwärts. „Sie reißen gerade diesen Kinopalast ab. Der hatte ‘ne prima Klimaanlage. Vielleicht finden Sie dort, was Sie suchen.“ Im Syrto-Palast fand Novakis nichts, aber er bekam einen Tip. Im Keller der alten Stangeneisfabrik stand angeblich so ein Ding herum, ein Propellerventilator mit sechzehn Blättern auf der Welle. Durchmesser zwei Meter. Fünfzehn Zentner schwer. Sogar einen Motor gab es dazu. Angetrieben wurde das Monstrum über vier Keilriemen vo n einem luftgekühlten Magirus Diesel. – Doch der war angeblich defekt. Novakis, der etwas von Maschinen verstand, handelte und bekam ihn gratis dazu. Hauptsache, er schaffte den Schrott bald weg. Der Gutsbesitzer beauftragte damit einen Spediteur, der auch Tresore transportierte. Zwei Tage später wurde alles bei einem verlassene n Gehöft, das zu Novakis Latifundium gehörte, abgeladen. Der Hof, das Haus, die Scheune und der Schuppen lagen weit draußen, dort, wo das Tal schon schmal wurde. Den riesigen Ventilator beließ Novakis am Ende des Ansaugrohres und stellte ihn unter das Schuppendach. Damit alles fest saß, ummauerte er das Rohr mit Feldsteinen. 24
Einen Tag lang mühte er sich ab, den LKW-Diesel zum Laufen zu bringen. Es lag wohl an der Einspritzpumpe. Er brachte sie zum Boschstützpunkt. Dort stellte sich heraus, daß sie nur eingestellt werden mußte. Mit einer frischgeladenen 24-Volt-Batterie brachte er den Diesel noch am Abend auf Touren. Er hörte sich nicht gerade vertrauenerweckend an, aber er sollte ja keine Dauerläufe absolvieren. Novakis spannte auf die Antriebscheiben vo n Motor und Ventilator die daumendicken Keilriemen. Am nächsten Morgen ließ er die Apparatur an. Der Ventilator dröhnte wie eine Flugzeugturbine. Der Luftstrom saugte alles an, was nicht niet- und nagelfest war. Und genau das sollte er auch.
In diesen Wochen nach der Ernte war auf dem Gut wenig zu tun. Der Wein gärte in den Fässern, die Oliven blieben noch hä ngen. Für die Ouzo-Produktion hatte Novakis einen Brennmeister, für die Konservenfabrik einen Metzger und für die Käserei einen guten Schweizer. Den Rest besorgten die Schweine- und Ziegenhirten. Costas Novakis hatte also Muße, sich um seine Habichte zu kümmern. Frühmorgens nahm er die besten Vögel mit hinaus zur Beize. In ihrem pfeilschnellen gestreckten Tiefflug beobachtete ihr Radarauge alles, was sich am Boden bewegte. Dann erfolgte ein blitzschneller Abschwung. Die beinharten Schnäbel hackten zu, und mit voller Kraft auf die Flügel ruderten sie wieder himmelwärts. Der größte und klügste Habicht, ein wunderschöner Vogel, der oben graubraun war und unten ein helles Gefieder hatte, folgte den Pfiffen des Meisters und seinen Handbewegungen aufs Wort. Schweren Herzens beschloß Novakis, für das, was er plante, die Nachkommen dieses wunderschönen Doppelsperbers einzusetzen. 25
Von ihm stammten mehr als ein Dutzend Vögel ab. Alle waren bereits ausgewachsen und im Training. Novakis bekam stets Anfragen nach Zuchthabichten. Er hatte nie daran gedacht, aus der Nachkommenschaft seines Lieblingshabichts Vögel zu verkaufen. Sie aber für seine Rache zu opfern, dazu war er bereit. Während er sich in der Kühle des Morgens, wenn die Sonne tief stand und kontrastreiches Licht für Habichtaugen lieferte, mit den Vögeln beschä ftigte, machte er in den Nachmittagsstunden die ersten Tests mit dem Ventilator. Dann dröhnte es durch das Tal, als würden Düsenjäger starten.
Novakis baute sich ein Katapult, auch Schleuder oder Zwille genannt. Allerdings kein Katapult für Stahlkugeln oder Kieselsteine, sondern zwanzigmal größer, geeignet zur zielgenauen Beschleunigung von Krautköpfen, Melonen oder Kürbissen. Er rammte zwei Pfähle im Meterabstand in den Boden und verband sie lose mit dicken Gummischnüren, wie man sie zum Befestigen von Gegenständen auf Autodächern verwendete. Die Enden der Gummischnüre verknotete er. Durch den Knoten trieb er ein Messer, das nun, wenn man die Schnur spannte, zwischen den Pfosten hindurch in die Rohröffnung des Ventilators zeigte. Durch den Knoten lief hinten ein Seil. Das Seil diente zum Spannen des Katapults mittels einer arretierbaren Winde. Beim ersten Versuch spießte Novakis einen Krautkopf auf die Messerklinge, spannte die Gummizüge, visiserte das ganze auf den Ventilator und löste die Windensperre aus. Der Krautkopf verfehlte sein Ziel. Er krachte gegen einen Tragbalken des Schuppens. – Das System hatte also Linksdrall. Beim dritten Versuch traf Novakis einigermaßen in die Ventilatoröffnung. 26
Nun ließ er den Diesel an. Nächster Schuß. Treffer! Was die rasenden Ventilatorflügel mit dem Kohlkopf anstellten, kam hinten als gehäckselter Gemüsesalat wieder heraus. Der Ventilator verarbeitete also Krautköpfe mühelos. Deshalb ging Novakis zu Melonen über. Auch sie wurden von dem Ventilator zerbröselt und versaftet. – Nur ein kleiner, sehr harter Kürbis zeigte Wirkung. Einem dumpfen Gongschlag folgte metallisches Hämmern. Am Ende hatte der Propeller mehrere Blätter eingebüßt. Novakis hielt das für den richtigen Weg. Nun begann er tote Hühner in den Luftstrom des Ventilators zu schießen. Anfangs war es wie bei den Melonen. Hinten kam Frikassee heraus. Knochen, Fleischfetzen und Federn. – Nur mit gefrorenen Hühnern ließ sich ein zerstörender Effekt erzielen. Diese Erkenntnis führte Novakis zu einem nahezu unlösbaren Problem. – Habichte ließen sich zwar tiefgefrieren, aber dann waren sie tot. Und tote Habichte flogen aus eigener Kraft nicht dorthin, wo er sie haben wollte. Die Sache kostete Novakis schlaflose Nächte, bis er endlich die Lösung fand. 4. Die Zuständigkeit des BND, die von außen her gesehen an Deutschlands Grenzen endete, zwangen Robert Urban dazu, daß er mit dem militärischen Abschirmdienst MAD zusammenarbeitete. Als Einzelkämpfer, der sich selbst nur bedingt, anderen so gut wie nicht traute, tat er diesen Schritt notgedrungen. Sein Partner in dieser Sache, ein Major Hagen, war einer von denen, die Kartoffeln noch aus jedem Feuer holten. „Bevor wir lostigern, daß die Reifen qualmen“, sagte Urban, 27
„erst einmal etwas Theorie, Psychologie und Praxis.“ „Genau nach Lehrbuch“, spottete Hagen. „Nichts gegen Lehrbücher“, entgegnete Urban. „Nur in der Liebe taugen sie nichts.“ „Ich hatte mal ein Lehrbuch“, erzählte der MAD-Major, der aussah wie ein altösterreichischer Rittmeister, elegant, blasiert und geschniegelt, „die Vorgänge des Geschlechtsverkehrs betreffend. Ich war damals vierzehn, und die Anleitung lautete: Man nehme das steife Glied des Mannes und führe es in die Scheide der Frau. Dort bewege man es hin und her, bis ein feiner Schleim entsteht. Daraufhin fallen beide in einen sanften Schlaf. – Ich konnte mir verdammt wenig darunter vorstellen.“ „Nach diesem Lehrbuch“, schlug Urban vor, „machen wir es besser nicht.“ „Nun ja, es war auch von achtzehnhundertachtzig.“ „Heute würden Grundschüler darüber lachen.“ „Richtig. Schon der Sexunterricht an bayerischen Klosterschulen ist schärfer. – Okay, und was steht im Lehrbuch über die Fahndung nach Flug-Zeugattentätern?“ „Fangen wir bei der militärischen Luftkontrolle an.“ Sie hielten vor dem bunkerartigen Gebäude im Norden von Frankfurt und gingen hinein. Drinnen nahm sie ein Hauptmann in Empfang. Er brachte sie ins Büro des Stationsleiters. Dort hingen Wandkarten, deren Linien, schraffierte Flächen und Zahlenangaben nur Fliegern verständlich war. Es handelte sich um Karten des Luftraumes über der südlichen Bundesrepublik, auf der die zivilen und militärischen Zonen, die Flugstraßen und die Flughöhen verzeichnet waren. Während sie warteten, drangen durch die Wände des bunkerartigen Gebäudes gedämpfte Geräusche, die für einen Fluglotsen wie Musik klingen mochten. Fremde Ohren wurden durch das Chaos von Sprechfunkdurchsagen, Telefongezirpe, Fernschreiberrattern und englisch plärrenden Lautsprechern eher irritiert. 28
„Was“, fragte der MAD-Offizier, „wissen wir eigentlich über den Absturz?“ „Daß die King Air etwa zehn Meilen nördlich der normannischen Küste in die Seinebucht stürzte.“ „Gibt es Wrackteile?“ „Sie deuten auf die Wirkung einer Sprengladung auf einer Flughöhe von neuntausend Fuß hin.“ „Existieren Passagierlisten?“ „Nur unzureichende“, bedauerte Urban. „In Griechenland sagten einige Leute ab, andere kamen hinzu.“ „Wer?“ „Eine Engländerin und ihre Tochter. Genaugenommen ist sie Irin.“ „Und die anderen?“ „Die anderen waren Journalisten und Lord Hotwater. Alles überprüfbare Leute. Von ihnen kommt keiner als Attentäter in Frage.“ „Und die Piloten?“ forschte Major Hagen, „Piloten sprengen sich in der Regel höchst ungern in Stücke.“ Hagen fragte weiter: „Hat irgendeine Gruppe sich zu dem Anschlag bekannt? Araber, radikale Iren?“ „Bis zur Stunde nicht.“ „Was ist daraus zu schließen?“ wollte der MAD-Mann wissen, der sich mehr mit der Abschirmung der Bundeswehr gegen Spionage befaßte als mit internationalen Geheimdienstproblemen. „Wenn ich mit einiger Kühnheit kombinieren darf“, antwortete Urban, „dann hat die Zwischenlandetheorie viel für sich. In Athen wurde kein Fremdkörper an Bord der Maschine festgestellt. Er muß unterwegs hineingebracht worden sein. Die Te rroristen sorgten mit erheblicher Präzision dafür, daß das Flugzeug über See explodierte. Man kann also nicht feststellen, wie viele der Passagiere an Bord waren. Da sich bis heute keine Gruppe zu dem Anschlag bekannte, wäre es denkbar, daß man zumindest Lord Hotwater herausholte, um ihn als Geisel zu benutzen oder ihn in 29
die Mangel zu nehmen.“ „Daran ist nur die IRA interessiert.“ „Deshalb sind wir hier“, erklärte Urban. „Um weiterzukommen.“ Der Stationsleiter, ein Zivilangestellter der Bundeswehr, hastete herein und kam sofort zur Sache. „Der Grund Ihres Besuches wurde mir aus Bonn mitgeteilt“, begann er, „Im Gegensatz zur zivilen Luftüberwachung, die ihren Dienst eins tellt, wenn die Flughäfen dicht machen, was gegen dreiundzwanzig Uhr der Fall ist, sitzen wir rund um de Uhr an unseren Radarschirmen. – Und in der Tat…“ Der lehrmeisterlich wirkende Experte nahm eine Art Billardstock, trat damit an die Wandkarte, als wäre sie eine Schautafel, und weihte seine Besucher in alles ein, was auch ihm bekannt war. „Dies, meine Herren, ist der Weg, den ein Flugzeug, das von Griechenland nach London fliegt, in der Regel nimmt. Es fliegt, von Norditalien kommend, über Österreich in den Luftraum um München ein, nimmt dann Kurs drei-null-null Grad und verläßt unseren Luftraum wieder in Höhe von Straßburg. Auf dem Weiterflug Richtung Paris ist es möglich, daß das Flugzeug zwischen Pirmasens und Saarbrücken noch einmal kurz die Grenze der Bundesrepublik streift oder sogar überfliegt. Das ließ sich in diesem Fall nicht genau erkennen. Wir registrierten aber etwas anderes.“ „Nämlich?“ drängte der MAD-Major, um den Vortrag zu beschleunigen. „Nämlich“, fuhr der Stationsleiter fort, „daß das Flugzeug selbst auf Sprechfunk keine Reaktion zeigte und daß es die vorgegebene Flugfläche verließ, also sehr tief flog.“ „Wie tief?“ „Zweitausend Fuß und darunter.“ „Also sechshundert Meter.“ „ Und daß wir es mit unseren starken Radargeräten im Rheintal außer Sicht bekamen. Möglicherweise tauchte es noch einmal auf 30
einem Bildschirm auf, und zwar bei unserer enorm starken Station im Hundsrück. Doch unterschreiben würden wir das nicht.“ „Und warum nicht?“ fragte der MAD-Major. „War es ein so völlig anders geartetes Signal?“ „Es war ein nahezu identisches Signal, aber es tauchte erst fünfzig Minuten später auf, also mit nahezu einer Stunde Verzögerung. Wo sollte das Flugzeug in der Zwischenzeit gewesen sein?« „Am Boden“, bemerkte Urban. „Zum Teufel, aber wo am Boden, bitte?“ Urban trat an die Karte. Weil er keinen Zollstock hatte, umriß er das Gebiet mit einer Bewegung des Daumens. „Da ist doch nur Wald und Mittelgebirge, Oberst Urban.“ „Und die Amerikaner in Ramstein, merkten die gar nichts?“ „Die NATO konzentriert ihre Beobachtungen nachts vorwiegend in Richtung Osten, Das besorgen die hochfliegenden AWAC-Verbände.“ Sie traten an eine andere Karte, an jene, die alle bekannten verwendbaren und nicht verwendbaren, also nicht mehr betriebenen Flugplätze verzeichnete. Besonders hatten es Urban die Plätze im Dreieck StraßburgMetz-Karlsruhe angetan. Das Ergebnis war ein Kopf schütteln, „Danke“, sagte Urban, „Konnten wir Ihnen helfen?“ „Nein“, bedauerte Urban. Draußen fragte der MAD-Offizier: „Warum sind wir so schnell gegangen? Er hätte uns noch zu Kaffee und Cognac eingeladen.“ „Aber er wußte nichts mehr.“ „Wissen Sie was, Oberst?“ „Vielleicht“, deutete Urban an.
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Aus dem Kopf notierte Urban sich eine Reihe vo n Ortsnamen, deutsche und französische. „Dort gibt es überall kleine Sportflugplätze. Wo fangen wir an?“ Major Hagen hob das Telefon ab. „Damit! – Flugplätze haben Flugleiter oder zumindest einen Platzwart. Und die haben gewöhnlich ein Telefon.“ Urban nahm ihm den Hörer ab und klemmte ihn wieder in die Halterung. „Vorausgesetzt, die King Air landete dort irgendwo, dann tat sie das, ohne daß es jemand bemerkte. Es war Mitternacht, Doktor Schweitzer.“ „Sie meinen eine Landung ohne Peil- oder Sprechfunkkontakt und ohne Platzbefeuerung?“ „Sie war in jedem Fall illegal. Angenommen, ein Platzwart ist von den Attentätern gekauft ode r erpreßt worden, dann wird ihn niemand zum Reden bringen – am Telefon“, schränkte Urban ein. Also fuhren sie hin. Sie brauchten zwei und einen halben Tag, um die Plätze zu finden, die zuständigen Personen zu sprechen und auszuquetschen. Den einen ode r anderen mußten sie kräftig an der Kandare pakken. Allmählich wurde ihnen klar, daß die Flugplätze auf dem Gebiet der Bundesrepublik sauber waren. Bei den französischen Plätzen hatten die Kollegen vom Pariser SDECE vorgearbeitet. Im Grunde blieb nur noch ein Platz übrig. – Dabei handelte es sich um eine etwas größere Schafweide. Allerdings war sie im zweiten Weltkrieg von französischen Heerespionieren so planiert worden, daß Jagdflugzeuge darauf landen konnten. Der Platz wurde jetzt von mehreren Segelflugvereinen genutzt, von Clubs aus dem Saarland und aus dem Distrikt Moselle. Als sie hinkamen und die schiefe Baracke am Wiesenrand sa32
hen, den schlaffen Windsack und ganz hinten ein wenig Wald, winkte Major Hagen enttäuscht ab. „Hier doch nicht.“ Auch Urban glaubte nicht, daß sie fündig we rden würden. „Ist die Piste denn lang genug für eine King Air?“ fragte Hagen. „Wenn sie Segelflugzeuge mit Propellermaschinen hochschleppen, kann auch eine King Ai r landen und starten.“ „Sind Sie sicher, Oberst?“ „Aber es gibt keine Nachtlandeeinrichtungen. Ich meine Funkpeiler, Sprechfunkantennen, Landebahnbefeuerung.“ Sie stiegen trotzdem aus und gingen quer über den Platz. Drüben bei der Baracke tauchte ein Mann im Trenchcoat auf, das pelzkurze Haar graublond, das Gesicht grinste wie das eines Pennälers, der gerade Stinkbomben losgelassen hatte. Es war der ewig konfirmandenhafte Gil Quatembre vom SDECE, einer von Urbans ältesten Geheimdienstfreunden. Sie reichten sich die Hände, dann die Zigarettenpackungen. Quatembre war immer scharf auf Urbans Monte Christo mit Goldmundstück, Urban auf seine Gauloises eher weniger. „Das ist doch der Arsch der Welt“, sagte Gil. „Arscher als arsch“, meinte Hagen. „Kein Licht, kein Funk, also keine Landung“, zählte Quatembre auf. „Außerdem herrschte leichter Regen und hier oben, auf Sturzelbronn zu, sogar Nebel.“ Er sprach es Sürselbrönn aus. Urban schlenderte in Richtung Waldrand und dann schräg zur anderen Seite. Mit einemmal blieb er stehen, scharrte mit dem Fuß und winkte den Kollegen. Sie kamen herüber. Urban deutete zu Boden. „Und was ist das?“ „Ein Karnickelloch.“ „Lauter kleine Löcher für Minikarnickel, und alle im Abstand von dreißig Schritten. Ich will verdammt sein, wenn französische Karnickel nicht eine Menge von Geometrie verstehen. – Oder es 33
handelt sich um etwas anderes. Nä mlich um Löcher, in denen vor nicht allzulanger Zeit Teerfackeln steckten.“ Quatembre nahm sich noch eine von Urbans privaten Ägyptischen mit dem zickigen Goldmundstück. „Die Platzbeleuchtung“, staunte er. „Und sie entstand nicht durch Hokuspokus-Zauber, sondern durch Menschenhand. Wo finden wir den Platzwart?“ „Er ist im Urlaub“, sagte Gil Quatembre, „irgendwo im Süden.“ „Seit wann?“ „Seit ein paar Tagen.“ „Nach der verruchten Tat also“, bemerkte Major Hagen. „Und woher wissen Sie das, Monsieur Gil?“ „Man erzählt es sich im Dorf. Allerdings nicht ohne Kopfschütteln, denn der Alte hatte vorher dieses Sürselbrönn seit Menschengedenken nicht mehr verlassen.“ „Aber ausgerechnet jetzt.“ Sie suchten weiter. Weil der Platz immerhin die Abmessung von einem Kilometer Lange und hundertzwanzig Metern Breite hatte, also gut und gern zwölf Hektar Fläche, und weil der Boden jetzt trocken war, nahmen sie dazu ihre Autos. Sie fuhren langsam um den Platz herum, dann quer durch. Im Rückspiegel sahen sie die Scheinwerfer an Quatembres Citroen blinken. Sie trafen sich in der Mitte. Gil grinste wirklich wie ein Konfirmand. „Sind das Landespuren?“ „Sieht so aus.“ „Kufen oder Fahrwerk?“ „Ein Dreibeinfahrwerk“, schätzte Urban. Es hatte damals geregnet. Die kräftig profilierten Räder des King-Air-Fahrwerks hatten sich deutlich abgedruckt. Inzwischen war alles getrocknet, und sie konnten die Abdrücke recht gut fotografieren. Quatembre telefonierte. 34
Wenig später bekam er von seiner Dienststelle aus Paris die Bestätigung. „Ich beschrieb ihnen das Reifenprofil und die Breite. Solche Räder findet man nur bei Beechcraft und Piper.“ Sie suchten weiter nach Spuren, besonders dort, wo ihrer Meinung nach die King Air in Startrichtung gedreht hatte. Urban fühlte Quatembres Hand auf seiner Schulter. Der Franzose deutete nach Norden in Richtung Grenze. Dort bewegte sich etwas Grünes. Sie hörten einen Motor starten, dann nichts mehr. „Da war einer.“ „Vermutlich Forstbeamte.“ „Die wären herübergekommen und hätten gefragt, was wir hier treiben.“ „Ein Bauer, ein Jäger.“ „Oder Leute, die etwas suchen“, überlegte Urban. „Aber was andere finden wollen, das können wir auch suchen.“ Sie bildeten eine Reihe und gingen die ganze Landebahn ab bis zum Waldrand. Das einzige, was Urban fand, war eine Puppe. Eine Puppe aus Gummi. Sie trug Kleid und Schürze. Wenn man ihr auf den Bauch drückte, gab sie ein Geräusch von sich, das wie miau oder Mama klang. Urban untersuchte sie. „Es gibt Männer“, frotzelte Hagen, „die können es nicht lassen. Sogar Puppen ziehen sie die Höschen aus.“ Urban deutete auf einen ovalen Stempel im Gummi. „Made in Greece“, sagte er. „Hergestellt i n Griechenland.“ „Billige Kaufhausware.“ „Aber offensichtlich aus einem griechischen Kaufhaus – und woher kam die King Air?“ „Nicht aus einem griechischen Kaufhaus.“ Urban steckte die Puppe ein und wandte sich an den Franzosen. 35
„Kann man mit den Leuten vom Segelfliegerclub sprechen?“ „Das habe ich schon“, sagte Gil. „Die sind mächtig sauer. Seit zwei Monaten ist jeder Flugbetrieb in Sürselbrönn vom Ministerium verboten. Die Zone ist neuerdings Tiefflugschneise für Jagdbomber.“ „Tiefflugschneise“, sagte Hagen. „Wer noch nicht weiß, was sich darauf reimt, der hat eine Meise und ist ein ungebildeter Mensch.“ 5. Kreischend tobten die Möwen im Aufwind um den Leuchtturm. Der Turm war hundert Jahre alt und außer Dienst. Die Insel mochte etwa hunderttausend Jahre alt sein und war verlassen. Außer Möven und ein paar Schafen lebten nur elf Menschen auf ihr. Als Leben war das, was man hier tat, nicht zu bezeichnen, eher als die Befriedigung von Bedürfnissen wie essen, trinken und die Verrichtung der Notdurft. Die Insel lag im Atlantischen Ozean, in Sichtweite der irischen Küste. Früher einmal hatte sie zu Cap Erris Head gehört. Dies bis zu jener Wahnsinnsnacht, als Stürme von unvorstellbarer Gewalt sie vom Festland weggerissen hatten. Damals zogen die ersten Steinzeitmenschen keulenschwingend durch die Wälder des Kontinents. Heute gab es etwas mehr Komfort. – Nämlich Bunkermauern, zwei Meter dick und feucht, Strom von einem Dieselaggregat und Ölöfen gegen die klamme Kälte. Es gab aber auch Kühlschränke, Funkgeräte und moderne Ve rhörelektronik. – Die Insel war eine geheime Basis der Irisch Republikanischen Armee. Zwei Männer saßen vor einer Glasscheibe, die im Nebenraum nur als Spiegel zu erkennen war. Stundenlang ve rfolgten sie das 36
Verhör eines Gefangenen. Ihr Psychologe versuchte seit einer Woche alles mögliche. Ohne Erfolg. „Und wenn ihr ihn in Stücke schneidet wie eine Salami“, sagte einer der Männer auf der blinden Seite des Spiegels, „er erzählt nur Quark.“ „Okay, was nun?“ „Sack über den Kopf und Genickschuß. Denn angenommen, er käme lebend hier heraus, dann gibt es in Belfast ein Blutbad.“ Es war nur ein Vorschlag. Noch setzten sie ihn nicht in die Tat um. Der Gefangene kam zurück in seine Bunkerzelle. Doch das Verhör lief weiter. Jetzt war eine Frau an der Reihe. Sie mochte Ende Zwanzig sein, war blond und im Vergleich zu den eher grobschlächtigen Irinnen fast eine Schönheit. Das war selbst jetzt noch zu erkennen, obwohl man ihr seit einer Woche alles verweigert hatte: Wasser, Seife, Kamm, ausreichende Nahrung und jede Menschenwürde. Die Kommandanten erwarteten kein großartige s Ergebnis und ließen die alten Bänder noch einmal ablaufen. Beim Abhören verglich einer von ihnen die Aussagen der Frau mit den schriftlichen Protokollen. „Sie ist so stur wie Lord Hotwater.“ „Aber gewiß nicht so lange. Sie ist eine Frau.“ Die zwei IRA-Chefs hinter der Glasscheibe im Nebenraum verfolgten das Verhör und erörterten die weiteren Maßnahmen. „Da helfen nur Drogen“, sagte McConnor. „Die hat sie schon intus.“ „Was habt ihr ihr gegeben?“ „Verophin.“ „Ihre Sperre ist zu groß. Spritzen wir ihr ein stärkeres Kaliber.“ „Und wenn sie uns dabei draufgeht?“ „Dann kann es uns eine Million Pfund Sterling in Gold kosten. 37
Aber anders kriegen wir sie nicht weich.“ „Diese verfluchten Flintenweiber“, schimpfte McConnor. „Vergiß nicht, sie war Mike Jordans Frau. Ein Mann wie Mike Jordan heiratet nicht irgendeine Tussi vom Lande.“ „Sie ist zu intelligent. Man muß sie brechen wi e einen Ast.“ „Du brichst die Rose. Damit beginnt ihr langsamer Tod. „Laß dir etwas Besseres einfallen.“ „Ich bin nicht auf Befehl kreativ“, sagte Donally. „Dann sei es aus Not. Denk an unsere Kameraden in britischen Gefängnissen. Denk an das, was Britannien Irland antut seit Hunderten von Jahren. Denk daran und laß dir etwas einfallen, Mann!“ Donally, der IRA-Ideologe, fühlte sich gefordert und entwickelte eine perverse Idee. „Packen wir sie bei der Mutterliebe “, schlug er vor. „Nein, erst bei der Todesangst“, entschied McConnor. Die zwei Männer im Nebenraum gaben die Anweisung, Lord Hotwater bewußtlos zu spritzen und ihn mit Hilfe von künstlichem Blut, Schminke und Verbänden horrormäßig herzurichten.
Sie präsentierten den Lord, auf einer Trage, die sie mitten in den Raum stellten. Dann richteten sie di e Lampe auf ihn und zogen das Laken weg, so daß man seinen Zustand erkennen konnte. Sie gingen wieder hinaus und ließen die Gefangene mit ihm allein. Durch die Einwegscheibe beobachteten die zwe i Männer, wie Lorna Jordan aufstand, sich dem Mann auf der Trage näherte, zur anderen Seite trat und den Kopf schrägstellte. Dann stieß sie einen Schrei aus und preßte beide Hände gegen die Schläfen. „Warum“, fragte der eine Beobachter seine n Kameraden, „müssen Weiber eigentlich immer kreischen, wenn sie einen Toten 38
oder einen Verletzten sehen. Das fand ich schon im Kino imme r so was von saublöde.“ „Es gibt auch welche, die es mit Fassung nehmen.“ „Sind das nun die herzlosen oder die herzhaften?“ „Es ist eine Erziehungsfrage. Der einen wird beigebracht, sich zu beherrschen, keine Gefühle zu zeigen. Der anderen wird gesagt, laß deinen Gefühlen freien Lauf, schrei heraus, was dich quält oder schockiert.“ „Und wie wirkt das auf Lornas Verhalten? Was glaubst du?“ „Entweder es macht sie weich oder hart wi e Stein. Eins von beiden.“ Das Entsetzen war aus dem Gesicht der Gefangenen gewichen. Sie schaute sich um, als suche sie Hilfe. Zitternd stand sie da und wußte nicht, was sie tun sollte. „Gleich fällt sie um“, sagte Donally. „Da kannst du lange warten“, entgegnete McConnor. „Sie dreht gleich durch.“ „Ist alles nur äußerlich bei dieser Kanaille.“ „Was jetzt?“ McConnor griff zum Mikrofon, drückte den Knopf und sprach hinein. „Schau ihn dir genau an, Baby. – Ganz genau! – So wie er daliegt, wird deine Tochter vor dir liegen.“ Donally entwand McConnor das Mikrofon. Immer wenn man es losließ, war es abgeschaltet. „Bist du verrückt, Mann?“ „Wenn es nicht in ihr Hirn eindringt, dann in ihr Mutterherz.“ „Wir haben ihre Tochter doch gar nicht.“ „Wir kriegen die Kleine schon.“ „Du weißt, daß sie sich losriß, im Nebel davo nrannte und daß unsere Leute keine Zeit hatten, sie einzufangen.“ „Ein sechsjähriges Mädchen kriegt man immer.“ „Okay, mal angenommen, sie wurde gefunden und zur Polizei 39
gebracht.“ „Dann muß man sie von dort herausholen.“ „Das hinterläßt doch Spuren, falls es überhaupt klappt.“ „Notfalls genügt schon ein Foto der Kleinen.“ „Ich sehe das nicht so locker“, erwiderte Donally, „aber du bist der Boß.“ „Ja, ich bin der Boß, weil ich immer ein wenig mehr weiß. – Übrigens, Thomson rief vorhin an.“ „Was gibt es Neues?“ „Es tut sich etwas.“ „Wo? In Frankreich?“ „Überall. Leider auch in London. Sie haben die NATOGeheimdienste eingespannt, und es wird keine Ewigkeit mehr dauern, bis sie uns ausfindig gemacht haben. Aber dann werden wir schon lange nicht mehr hier sein.“ McConnor nahm wieder das Mikrofon. „Hast du mich verstanden, du Hure?“ fragte er die Frau im Verhörraum. „So wie er, wird deine Tochter Diana vor dir liegen. – Es sei denn, du entscheidest dich für Kooperation.“ Ihre Lippen bewegten sich, aber sie war nicht zu verstehen. „Stell dich vor das Mikro“, befahl Donally, „und mach den Schnabel auf! Nicht nuscheln, Baby.“ „Ich mache alles“, sagte sie, „was ihr von mir verlangt. Aber tut Diana nichts zuleide.“ „Dann beantworte endlich unsere Fragen.“ „Aber ich kann nicht mehr aussagen, als ich weiß.“ Sie verfiel in einen Weinkrampf. „Ich flehe euch an, habt Erbarmen.“ Nach Minuten quälenden Schweigens sagte McConnor. „Noch einmal von vorn. Erzähl uns von der letzten Woche im Leben des Mike Jordan.“ „Ich habe gesagt, was ich weiß.“ „Aber nur das“, wurde ihr entgegengehalten, „woran du dich erinnern willst, zu erinnern geruhst. Du verschweigst uns das 40
Wichtigste.“ „Warum sollte ich das?“ „Aus Besitzgier, du Griechenhure.“ „Mike starb als einer der Tapfersten und war arm wie eine Kirchenmaus.“ „Da haben wir andere Informationen.“ „Er hätte euch nie betrogen.“ „Er nicht. Aber du versuchst es.“ „Er war euer Kamerad. Ich war seine Frau. Ich bin nicht euer Feind. Warum glaubt mir denn keiner?“ „Erinnere dich“, drängte McConnor, „und hilf uns, seinen Nachlaß zu finden. Dann glauben wi r dir… Und es wird vielleicht ein Wiedersehen geben zwischen dir und Diana. Andernfalls…“ Drüben im Verhörraum ging die Tür auf. Sie trugen den bewußtlosen Randolph Hotwater hinaus. Der Psychologe, der die Verhöre führte, kam wieder. Er richtete die Lampe in Lorna Jordans Gesicht. Dann schaltete er das To nbandgerät ein. Während er Fragen stellte, schrieb er die Antworten mit. – Aber es gab nicht viel zu schreiben. 6. „Für mich ist der Fall klar“, entschied der MAD-Major. „Für mich ebenfalls“, stimmte Gil Quatembre von SDECE ihm zu. „Ich fahre nach Paris zurück.“ „Und ich nach Bonn“, sagte Hagen. Auch für den BND-Agenten Robert Urban war der Fall klar. Aber noch nicht soweit gelöst, um ihn durch eine Mitteilung an MI-6 London abzuschließen. „Was“, fragte Quatembre beim Kaffee in der Bar am Marktplatz von Sturzelbronn, „ist dir klar, Robert?“ Urban brachte alles auf einen Nenner, Ein wenig kürzer, als er 41
es nach London berichtet hätte, aber ohne viel wegzulassen. „Als die King Air in Griechenland startete, war ein Terrorist an Bord. Vermutlich in der Maske eines der Zeitungsleute. Niemand hindert einen Journalisten daran, ein IRA-Sympathisant zu sein. Er zwang die Piloten, Kurs und Höhe zu ändern. – Während er sie und die Passagiere in Schach hielt, mußten sie auf dem vorbereiteten Flugfeld da draußen landen. Dort wartete schon ein Kommando. Was dann im einzelnen geschah, ist noch reine Spekulation, Vermutlich holte man Hotwater, den IRA-Jäger Ihrer Majestät, heraus. Bei dieser Gelegenheit gelang es den Terroristen, eine präzise eingestellte Bombe in oder an der Maschine zu plazieren. Vermutlich war sie so konstruiert, daß sie außen haftete. Nach dem Start wurde sie durch eine auf Luftdruck reagierende Mechanik geschärft und beim Landeanflug oder beim Verlassen der Reiseflughöhe ausgelöst. Vielleicht war sie zusätzlich mit einem Uhrwerk gekoppelt. Jedenfalls arbeitete sie verdammt präzise.“ Major Hagen musterte Urban, als wollte er sagen: Na und, da fehlt doch die Hauptsache. Urban fuhr fort: „Sie brachten Hotwater weg. Auf irgendeine Weise gelangte das kleine Mädchen aus der Maschine. Vielleicht wurde ihr übel, und man wollte nicht, daß sie die Kabine vollkotzte. Im Nebel verlor sie ihre Puppe.“ „Keine Mutter läßt ihr Kind auch nur kurz aus den Augen.“ „Unter normalen Umständen“, schränkte Urban ein. „Aber die Umstände waren anormal. Jedenfalls“, kam Urban zum Schluß seiner Situationsanalyse, „hatten sie keine Zeit mehr, die Puppe zu suchen. Man zwang die Piloten zu starten. – Oder anders, die Piloten waren froh, wieder starten zu dürfen. Den Rest kennen wir.“ Quatembre leerte seine Tasse und bezahlte. „Aber was du hast, befriedigt dich nicht, mon ami.“ „Es genügt mir nicht“, gestand Urban. „Ich muß diesen Platz42
wart kriegen. Wie heißt er?“ „Lerond“, sagte der Franzose. „Wenn du ihn findest, und er spricht nicht, wie und warum er diesen irischen Saufköpfen gefällig war, dann klopf ihn weich.“ „Urban tut doch keiner Fliege etwas zuleide“, höhnte Major Hagen. Der Franzose, der Urban besser kannte, sagte: „Aber wenn er sich einmal anders entschlossen hat, dann ist es aus mit der Fliege.“ „Dann gnade ihr Gott“, ergänzte Urban. „Dann gilt unser alter Spruch“, fügte Hagen noch hinzu: „Keine Gewalt, aber mit aller Härte.“ Urban ließ sich von dem MAD-Mann in Saarbrücken absetzen, wo er sein BMW-Coupé in der Tiefgarage eines Hotels geparkt hatte.
Am Abend war Urban wieder in der kleinen französischen Stadt Sturzelbronn, von der er nur soviel wußte, daß keiner, den er kannte, je von ihr gehört hatte. Nach einigem Herumfragen hatte er einen Aktiven des Segelfliegerclubs gefunden. Während der etwa achtundzwanzigjährige junge Mann sein Auto wusch, hörte er sich Urbans Wünsche an. „Also, wenn es um eine verlorengegangene Puppe geht“, sagte er grinsend, „dann drei Fragen, Monsieur.“ „Sie kannten den alten Lerond?“ „Hinkebein Lerond? Na klar. Er wurde angeblich im Krieg als Beobachter abgeschossen. Aber jeder weiß, daß er beim Bodenpersonal war und daß ihm eine Hundert-Kilo-Bombe auf die Zehen fiel. Was ist mit Pierre?“ „Er macht Urlaub.“ „Ja, richtig. Als der Flugbetrieb verboten wurde, wollte er end43
lich mal los in den Süden.“ „Der Flugbetrieb wurde schon im Juni eingestellt. Warum reiste er erst in diesen Tagen?“ „Keine Ahnung, Monsieur. Das war Frage Nummer drei.“ Urban hielt sich jedoch nicht daran. „Ist Ihnen etwas von einer Notlandung letzte Woche bekannt geworden?“ „Nichts gehört und nichts gesehen.“ „Es ist aber so. Eine Zweimotorige kam gegen Mitternacht herunter und startete wieder.“ „Prima Piloten müssen das gewesen sein.“ Der Mann schamponierte seinen rostigen R5 noch einmal ein, rieb und fummelte verbissen. Urban ließ sich nicht abschütteln. „Wohin ging Lerond, wenn er in den Süden fuhr? Gibt es einen Ort, von dem er schwärmte? Sie kennen ihn doch recht gut.“ „Keine Ahnung, Monsieur.“ Vielleicht, weil der Hobbysegler ihn loswerden wollte, erfuhr Urban noch etwas, womit er nicht gerechnet hatte. „Es gibt da jemanden, der kennt Lerond besser.“ „Man erzählte mir, er sei Witwer und lebe allein.“ „Was nicht ausschließt, daß er eine Tochter hat. Oder?“ „Allerdings“, räumte Urban ein. Leronds Tochter hieß Kitty, war Fluglehrerin und wohnte nicht weit vom Flughafen. „Und sie heißt Lerond wie ihr Vater?“ „Warum nicht, Monsieur.“ „Sie könnte verheiratet sein.“ Der junge Autowäscher lachte kopfschüttelnd. „Monsieur“, rief er und spritzte mit dem Schlauch sein Auto ab. „Ein Besen wie Kitty, der kehrt viel zu gut. Da beißt keiner an. Nicht mal ein kläffender Bastard von Straßenköter.“ 44
Sie hauste in einem heruntergekommenen Chateau: Chateau de Erbenstein. Es gab mehrere Dutzend Landschlösser hier, aber keines war so verwahrlost wie Erbenstein. Das fing bei der verfallenen Parkmauer an und ging weiter bis zu dem Tor, dessen linker Gitterflügel schief in den Angeln hing. Der Park war ein mittelamerikanischer Regenwald, der Brunnen zerborsten, auf dem Rest algengrüner Brühe setzten Fliegen aller Art und Kröten ihren Laich ab. Das Schloß sah noch schlimmer aus. Das Dach war eingedrückt, Türme, Balkone, Terrassentreppen ein besserer Steinbruch. Nur im Erdgeschoß des linken Flügels waren noch zwei Fenstertüren ganz. Davor stand ein nagelneuer Citroen CX. Der Unterschied zwischen dem fabrikpolierten weißen Autolack und dem Zustand des Hauses schmerzte in Urbans Augen. Er marschierte einmal um das Chateau herum, suchte eine Glocke, fand keine und klopfte an die zwei intakten Türen. Doch niemand kam. – Aber drinnen plärrte ein Radio. Er nahm also, was er hatte, und blinzelte durch die Scheiben des weißen CX. – Zweifellos das Fahrzeug einer jungen Frau. Männer hinterließen keine Handtaschen in Ozelotimitation und keine hochhackigen Schuhe, die sie hier gegen ländliche Gummistiefel vertauschten, zurück. Männer hatten auch selten zerknüllte Kleenextücher auf dem Armaturenbrett und rosa Sonnenbrillen mit Glitzerrand. Klarer Fall. Es war das Auto von Kitty Lerond. Niemand außer ihr wohnte in dieser Bruchbude, die sie von einem Onkel ihrer Mutter geerbt hatte. – Soviel wußte Urban bis jetzt über sie. Im Begriff wieder zu gehen und sich auf die Lauer zu legen, sah Urban, daß der Beifahrersitz ungewöhnlich weit nach vorne ge45
rückt war. Er stand auf der letzten Raste. Zwischen der Lehne und der Rückbank gab es also verhältnismäßig viel Platz. Das bot einem hinten Sitzenden mehr Beinfreiheit, aber vorne konnte bestenfalls ein Kind sitzen. Doch daran hängte Urban seine weiteren Kombinationen zunächst nicht auf. Er tat es erst, als er, durch die Scheibe der rechten hinteren Tür blickend, am Wagenboden eine merkwürdige Konstruktion sah. Sie erinnerte ihn an einen StarfighterSchleudersitz, allerdings in Miniaturausführung. Zweifellos handelte es sich um einen Kindersitz. Kinder mußten bis zu einem bestimmten Alter im Auto in solchen Foltersitzen transportiert werden. – Das galt wohl auch für Frankreich. Kitty Lerond war aber unverheiratet und kinderlos. Was nicht hieß, daß sie nicht doch mit irgendeinem Kind zu tun hatte. – Urban dachte an die Gummipuppe aus Griechenland. Im Moment paßte nichts zusammen, aber im nächsten schon bedeutend mehr. Als er sich umdrehte, war es, als richteten sich Revolverläufe auf ihn. Nicht jede Frau hatte so eiskalte Augen und diesen vernichtenden Blick. Eine Rothaarige in dreckigen Jeans, einen ve rschmutzten Parker darüber, stand nur wenige Meter entfernt. Sie hatte einen Dobermann an der Leine. Der Hund hatte Combatstellung eingenommen und fing zu hecheln an. Sein intaktes Gebiß bestand aus scharfen gelblichen Reißzähnen. „Was schnüffelst du da herum?“ fragte die Frau. „Kitty Lerond?“ „Was hast du hier zu suchen, du Bastard?“ „Ich suche Sie, Gnädigste.“ „Wer bist du?“ „Robert Urban, mein Name.“ Er sprach ihn französisch aus. „Einer von diesen Aasgeierkanaillen.“ 46
„Genau diese Aasgeier interessieren mich, Gnädigste.“ „Zieh ab, Mann. Die Jagd ist eröffnet.“ Worte, was waren Worte. Sie würde ihm ja doch erzählen, was er wissen wollte. Deshalb faßte er in die Tasche. Zu schnell offenbar, denn der Hund zerrte an der Leine und begann zu knurren. Madame hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Urban verlangsamte seine Bewegung bis zum Zeitlupentempo und zog die griechische Gummipuppe ins Freie. „Kennen Sie die?“ fragte er. „Ich spiele nicht mehr mit Puppen.“ „Der Kindersitz und die Puppe passen irgendwi e zusammen.“ „Was faselst du da?“ „Ich meine den Kindersitz im Auto. Wo Kindersitze sind, sind manchmal Kinder. Und wo Puppen sind, sind meistens Mädchen. Ich fand sie draußen auf dem Flugplatz. Dort, wo Pierre Lerond arbeitet, ist seine Tochter nicht weit, dachte ich mir. In Sturzelbronn landete nachts vor einer Woche eine Zweimotorige.“ Sie zog eine Grimasse, die ihr nicht besonders gut stand. „Das ist von der Größe des Platzes her gesehen eine Unmöglichkeit.“ Urban ließ sich nicht beirren. „Und Sie sind Pilotin?“ „Ich habe nur eine Lizenz für einmotorige Sportflugzeuge.“ „In der Zweimotorigen war eine Touristin mit einem ungefähr sechsjährigen Mädchen. Sie kamen aus Grieche nland.“ „Hören Sie, Mann“, zischte Kitty Lerond. „Wenn Sie Mehl nehmen, Eier und Butter ist noch lange nicht gesagt, daß ein Kuchen daraus wird.“ Er stand da, starrte sie an und dachte: Du mußt ihr noch etwas gegen das Schienbein knallen. Anders läuft da nichts. Außerdem hatte er das Gefühl, daß sie log. Ihr Lidschlag ging zu oft. Und sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. „Ihr Vater hat damit zu tun“, behauptete er. 47
„Mein Vater ist ein alter Knacker, der mit nichts mehr zu tun hat als mit Cognac und selbstgedrehten Zigaretten.“ „Wie finde ich ihn?“ „Indem du ihn suchst.“ Er steckte die Puppe wieder ein. Das hatte also auch wenig geholfen. Teufel, dachte er, wie kommst du diesem Weibstück bei? – Keine Gewalt, hatte Major Hagen gesagt, aber mit aller Härte. Das schien auch ihre Devise zu sein. Sie handelte schneller als Urban. „Du haust jetzt ab, oder ich lasse den Hund frei.“ „Das könnte meinerseits zu Tätlichkeiten ausarten, die der Tierschutzverein mißbilligt“, höhnte er, „Er wird dich zerfleischen, Mann.“ „Dann kriegen Sie aber Ärger mit der Polizei, Gnädigste.“ „Nicht hier auf meinem Grund und Boden wegen eines Eindringlings, der mir zu nahe kam.“ „Dir“, zweifelte Urban, „zu nahe? Nicht mit Handschuhen und Sauerstoffmaske.“ Da gab sie dem Hund Leine. Der Dobermann, oben schwarz, am Bauch braun, hatte eine rosarote Zunge und Geifernässe an den Lefzen. Der Hund, gespannt wie eine Feder, wurde vo n seiner Beinmuskulatur in Richtung auf Urban geschleudert. Erst als die Flugbahn des Hundes sich nicht mehr ändern ließ, hechtete Urban zur Seite. Dem bißwütigen Dobermann verdankte er sein Leben, In derselben Zehntelsekunde fiel ein Schuß. Urbans Mauser 7,65 hing am Magnethalfter, und das Mädchen hatte keine Waffe. Urbans Mauser ging nicht von selbst los. Er trug sie niemals durchgeladen. – Der Schuß kam also oben vo m Schloß. Urban lag im Unkraut des Kiesweges. Er glaubte wahrzuneh48
men, daß sich aus einem der Erkerfenster etwas Längliches, Rohrartiges blitzschnell zurückzog. Der Hund winselte, kroch auf allen vieren zu ihm hin und suchte bei ihm Schutz, Während der Dobermann seinen Handrücken schleckte, schrie Urban: „In Deckung!“ Doch das Mädchen stand aufrecht da, wie eine total bescheuerte Walküre. „Ich sagte doch schon, die Jagdsaison ist eröffnet, Monsieur.“ Urban sprang auf, flankte über die Balustrade der Terrasse, stieg durch eine der Fenstertüren ins Haus ein, durchquerte einen Saal, die Eingangshalle und hetzte die Treppen hinauf bis zum Dachgeschoß. Er fand auch das Turmfenster. Kein Zweifel, von hier aus war geschossen worden. Am Boden lag eine leere Patronenhülse, noch lauwarm und stinkend. Nur der Schütze war verschwunden. – Mist! Er ging wieder hinunter. Der Hund schwänzelte jaulend um ihn herum, und Kitty Lerond spottete. „Genug, Monsieur?“ „Fürs erste.“ Urban zeigte ihr die Patrone. „Von einer Winchester, neun Millimeter, britisches Armeemodell.“ Dann ging er. Draußen in seinem Wagen brauchte er einen tüchtigen Schluck Bourbon. So nicht, Madame, dachte er. Nicht so, und erst recht nicht mit mir.
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7. Die Eichenwälder des Epirus wurden gelb. Der Herbst kam. Costas Novakis arbeitete an seinem Programm, so unerbittlich wie ein Racheengel. Das Training seiner Habichte beschleunigte er dadurch, daß er ihnen die Nahrung entzog. Zu fressen – frisches Fleisch, lebendes oder totes Kleingetier – fanden sie nur noch am Rand des großen Ventilators. Als sie sich an diese Art der Nahrungsaufnahme gewöhnt hatten, befestigte Novakis vor dem Eingangsrohr zu dem Ventilator ein Drahtgitter. Maschenweite zehn Millimeter. Das Gitter ließ genug Luft durch, verhinderte aber, daß seine kostbaren Vögel in den tödlichen Schlund gerissen wurden. Die nächste Stufe der Ablichtung war die, daß er die Habichte dazu brachte, die Nahrung bei dröhnendem Ventilator einzunehmen. Erst blieben sie verstört auf seinem Handschuh sitzen. Novakis hatte aber genug Erfahrung und Geduld, daß er den intelligentesten seiner Vögel dazu brachte, die angebundene zappelnde Ratte am Düsenrohr zu greifen und zu holen. Hatte erst einer der Vögel seine Scheu überwunden, taten es die anderen ihm nach, als gäbe es zwischen ihnen eine dem Menschen unbekannte Verständigungsform. In den nächsten Tagen erhöhte Novakis die Motordrehzahl bis zur Höchstgrenze. Nun war kein Habicht mehr in der Lage die Maus zu greifen. Sie wurden vom Luftstrom, der mit orkanartiger Geschwindigkeit in das Rohr gesaugt wurde, an das Gitter gepreßt. Dort hingen die kräftigen Vögel hilflos, wie von rätselhaften Kräften angezogen. – Erst wenn Novakis den Motor abstellte, konnten sie sich aus den unsichtbaren Fesseln befreien. 50
Inzwischen hatte Novakis einen der Vögel ausgesondert. Es war nicht der kleinste, aber eindeutig der schlechteste Schüler. Auch unter Habichten gab es gelehrige und renitente Tiere, welche mit rascher Auffassungsgabe und ausgesprochen dumme. Diesen Vogel beschloß er zu opfern. Es war die gleiche Prozedur wie in den letzten Tagen. Nur statt einer lebendigen Maus befestigte er einen mit Fleisch ausgestopften Balg an den Düsenrand. Dann schaltete er das Gebläse ein. – Aber diesmal hatte er das Schutzgitter entfernt. Er brachte den Vogel in Position, nahezu hundert Meter vom Ventilator entfernt. Rasch nahm er dem Habicht die lederne Balzhaube vom Kopf und ließ ihn fliegen. In gestrecktem Flug stach der Vogel wie üblich auf die Beute zu. Doch ehe er sie mit seiner eisenharten Kralle fassen konnte, hatte der Ventilator ihn eingesaugt. Der Propeller gab ein prasselndes Geräusch vo n sich. Schon blies die Maschine hinten eine rotschwarze Wolke heraus. Der Habicht verließ die Anlage wie von einem Mixer verarbeitet. Nun wußte Novakis, daß es so nicht ging. Kein echtes Flugzeugtriebwerk würde allein durch einen Habicht zum Ausfall gebracht werden.
Zwei Tage grübelte Novakis über dem Problem und beschloß, wieder schrittweise vorzugehen. Doch dann kam ein Anruf aus England. Als London sich meldete, begann die winzige Flamme der Hoffnung in ihm aufzulodern. Für Augenblicke spürte er den Wunsch, das alles nicht tun zu müssen. – Doch es war nur ein Agent der Versicherung. „Wir haben Ihre Adresse von dem Reisebüro in Joannina, Sir.“ 51
„Hätte ich diese Leute doch nie damit beauftragt“, bemerkte Novakis seufzend. „Die Firma Air Lloyd und Inter Lloyd Charter LTD hat bei uns eine Insassenversicherung abgeschlossen, Sir. Sie erhalten einmal dreißigtausend Pfund laut der internationalen Quote und dazu noch einmal vierzigtausend Pfund Sterling, jeweils pro vermißte Person.“ „Das bringt mir meine Frau und meine To chter auch nicht zurück.“ „Darum geht es, Sir“, blieb der Versicherungsagent geschäftlich. „Für die Auszahlung der Summe sind zwei Dokumente erforderlich: Die amtliche Trauungsurkunde und der offizielle Totenschein. Wir nehmen an, daß Sie im Besitz des Trauscheins sind.“ „Lassen Sie mich in Frieden“, keuchte Novakis empört. „Bedaure, Sir, die Dinge müssen ihren geregelten Gang gehen. Die Policen wurden abgeschlossen, und unsere Aufsichtsbehörden sind äußerst streng. Die Schadenssumme muß ausgezahlt werden, das heißt, sobald der amtliche Totenschein vorliegt – was aber noch einige Zeit dauern kann. Bei Vermißten läuft das über me hrere Behörden. Also bitte, gedulden Sie sich noch ein wenig. Sie hören wieder von uns, Sir, sobald die letzte Hürde beseitigt ist. Wir melden uns wegen der Zahlungsform, die Sie bevorzugen. Und bitte, vergessen Sie die Heiratsurkunde nicht.“ Ehe Novakis noch etwas erwidern konnte, hatte der Engländer „Guten Abend, Sir“ gesagt und aufgelegt Es war immer so. Sie taten einem das Schlimmste zuleide, und dann trampelten sie einem noch auf den Nerven herum mit ihren Vorschriften. Am Morgen öffnete Novakis seinen Gewehrschrank und nahm Patronen verschiedenen Kalibers und verschiedener Qualität heraus. Im wesentlichen handelte es sich um Kugel- und Schrotmunition. 52
Draußen im Testgelände spickte er sowohl Zuckerrüben als auch Kohlköpfe und Melonen mit verschiedenen Patronen. Er warf den Diesel an und katapultierte die Gegenstände in den Ve ntilator. Es kam zu Schädigungen der Propellerblätter durch die Metallteile der Patronen, aber nur eine einzige zündete – eine von zwanzig. Ein enttäuschend geringer Erfolg. Daraufhin suchte Novakis im Keller des Herrenhauses nach den alten Kisten, in denen sein Vater die Uniform und die Waffen aus dem zweiten Weltkrieg aufbewahrt hatte. Neben dem schweren Bajonett und einer Armeepistole mit ansetzbarem Holzkolben fand er auch Eierhandgranaten. Er nahm sie mit hinaus ans Ende des Tales. Eine der Handgranaten machte er scharf und schleuderte sie in die Schlucht. Sie explodierte nach etwa zehn Sekunden und hinterließ schwarzen stinkenden Rauch. Die Handgranaten funktionierten also noch. Novakis wog eine davon. Der Zeiger der Waage pendelte um 1200 Gramm. Habichte rissen Beutetiere mit höherem Gewicht. Ein Habicht war also in der Lage, so eine Handgranate zu tragen. Doch litten darunter mit Sicherheit seine Geschwindigkeit und seine Kunstflugeigenschaften. Novakis entschärfte eine Handgranate und befestigte sie mit einer improvisierten Riemenkonstruktion an den Läufen eines Vogels. Der Vogel schwang sich damit mühsam empor, bewegte sich aber, als hänge er an einer langen Leine. Bald wußte Novakis, daß es mit Handgranaten nicht ging. Er mußte etwas finden, das leichter war, höchstens ein Drittel Kilo, also nicht mehr als 330 Gramm, wog und die Wirkung einer mittleren Bombe hatte. Leider war er kein Sprengstoffexperte. Also fuhr er in die 53
Stadtbibliothek und studierte die einschlägige Literatur. Auch dort fand er nicht die gewünschte Auskunft. Nun erinnerte er sich eines alten Waffengefährten seines Vaters. Der Mann war damals im Krieg gegen die Deutschen und später gegen die Kommunisten Oberst gewesen.
Oberst Postopolos lebte noch. Er freute sich, Costas, den Sohn seines besten Kameraden, zu sehen. Mit der Klugheit des alten Mannes stellte er fest: „Aber nur, um einen Tattergreis zu besichtigen, kamst du nicht vorbei, mein Junge.“ Costas Novakis setzte sich zu dem Achtzigjährigen in die Sonne und flunkerte ihm etwas vor, „Ich kenne da einen Mann in Athen. Er arbeitet im historischen Staatsarchiv und gibt ein Buch über die Heldentaten unserer Armee im letzten Krieg heraus.“ „Wird höchste Zeit, das zu würdigen“, sagte Postopolos. „Er ist Raubvogelzüchter wie ich. Als wir uns letzte Woche trafen, fragte er mich über Sprengstoffe aus. Er dachte, ein Gutsbesitzer, zu dessen Land ein Steinbruch gehört, müsse darübe r Bescheid wissen.“ „Dabei bist du ein totaler Pazifist“, sagte der Oberst. „Du hast nicht mal in der Armee gedient.“ „Ich wurde vom Dienst befreit“, sagte Novakis, „weil mein Vater in diesem Jahr starb. Also wi e erwähnt, ging es um Sprengstoffe, die im letzten Krieg verwendet wurden. Die meisten davon – TNT, Ekrasit, Donarit – sind in ihrer Wirkung weitgehend bekannt.“ „Dazu kann ich einiges beitragen.“ Der Ex-PionierOffizier begann zu erzählen. Zunächst sprach er über die Unzuverlässigkeit und die schwere 54
Beherrschbarkeit von Sprengstoffen. – Meist lag es an den Zündern. „Während des Krieges wurden diese britischen Säurezünder eingeführt. Ein Draht in einem Glasrohr sollte von einer durch Fingerdruck freigesetzten Chemikalie zerfressen werden und die Zündung auslösen. Je nach der gewünschten Vorlaufzeit wurden der Draht und die Chemikalie beme ssen. Leider gab es da nicht nur Totalversager, sondern Zeitdifferenzen von mehreren hundert Prozent.“ Novakis glaubte, Postopolos dort zu haben, wo er ihn brauchte. „Gab es auch Sprengstoffe, die ohne Zünder auskamen?“ Der Alte winkte ab. „Eigentlich nur einen. Und das ist leider der unzuverlässigste, der unberechenbarste und hurenhafteste von allen. Er hat eine fabelhafte Wirkung. Schon ein Tropfen davon genügt, um einen Mann ins Jenseits zu befördern. Aber in dem Zeug sitzt der Satan.“ Novakis stellte sich absichtlich dumm. „Meinst du Semtex, Onkel?“ „Nein, nicht diesen neumodischen Knetgummimist. Ich denke an das bestens bekannte, dreimal verfluchte Nitroglyzerin. Du kannst es behandeln wie die Prinzessin auf der Erbse, und es geht trotzdem hoch. Für den Umgang mit Nitroglyzerin gibt es nur eine Regel: Sei immer freundlich, sei nie brutal zu ihm. Es wird es dir lohnen.“ „Also schlag nie mit dem Schmiedehammer drauf“, verstand Novakis es. „Der Hammer würde es nicht überleben, auch der Schmied und die Schmiede nicht.“ Anstandshalber blieb Novakis noch eine Weile. Das heißt, auf einen Kaffee und einen Ouzo. Dann zog vom Tal ein Gewitter herauf. Er sagte, er müsse nach Hause und verabschiedete sich. Sein Problem war nun: Wie kam er an Nitroglyzerin? 55
Es war schwierig und doch leicht. So schwierig wi e alle Dinge, die sich nur durch angestrengtes Nachdenken lösen ließen. Im alten Steinbruch, wo sein Großvater und sein Vater den roten, ockergestreiften Epirus -Marmor gebrochen hatten, bis die Preise so fielen, daß sich das Schneiden nicht mehr lohnte, standen noch die Maschinen und die Hütte. In der Hütte rostete ein alter Stahlschrank. Darauf stand in roter Schrift: Explosiv! Den Schlüssel hatte nur der Sprengmeister besessen, und der hatte ihn am letzten Arbeitstag Costas Vater ausgehändigt. – Der Schlüssel fand sich, ordentlich etikettiert, unter der Hinterlassenschaft des Vaters. Novakis fuhr hinauf zum Steinbruch. Mit Hilfe von öl und Restloser ließen die Schlösser sich öffnen. Bis auf zwei Stangen Plastiksprengstoff C-7 und einer verstaubten Glasflasche war der Schrank des Sprengmeisters fast leer. Nur unten, in einer Schachtel lagen noch Sprenghütchen für Elektrozündung. Ohne die Flasche zu bewegen, säuberte Novakis das Etikett. Sein Herz schlug schneller. Es war Nitroglyzerin. Doch jetzt fingen die Schwierigkeiten erst an. Man durfte Nitroglyzerin nie in halbleeren Behältern bewegen, damit es nicht schwappte. – Die Flasche war nur zu einem Drittel gefüllt. Novakis fuhr nach Hause, beschaffte unzerbrechliche Reagenzgläser aus Kunststoff und füllte im Steinbruch das Nitro in sie um. Bis obenhin. Dann verschloß er sie mit einem Korken. Nur so, und selbst jetzt noch unter äußerster Vorsicht, ließ Nitro sich transportieren. Als Novakis die Röhrchen wog, hatten sie um 310 Gramm. Vierzig Gramm wog das Glas und der Korken. Inhalt also 270 56
Gramm reines Nitroglyzerin. – Damit ließ sich ein Bunker in die Luft jagen. Außerdem war die Portion leicht genug, um die Wendigkeit eines Habichts nicht übermäßig einzuschränken. Für den nächsten Tag plante Novakis den letzten Versuch. Das war schon in der Wo che, wo er mit Aufmerksamkeit die Zeitungen des Landes studierte. Früher hatten Ereignisse außerhalb der Provinz Epirus ihn wenig interessiert. Heute begann sein Interesse um Athen herum. 8. In der Nacht kam Urban noch einmal zurück. Es war die Stunde der Diebe, als er sich in Deckung der wuchernden Büsche vom Chateau de Erbenstein näherte. Wind fegte durch den Park und wirbelte Blätter hoch. Oben im Turm schlug ein Fensterladen auf und zu. Dort, wo Kitty Lerond wohnte, brannte kein Licht. Erst als Urban näher kam und dicht am Fenster stand, sah er hinter dem Vorhang ein rötliches Glühen. Es konnte durch die Glimmerscheibe eines Kachelofens kommen, aber auch vo n einer Radioskala. Er ließ sich Zeit und wartete. Dort, wo der weiße CX geparkt hatte, fand er nur noch die Reifenabdrücke im Kies. Kitty Lerond war also nicht da, aber in der Wohnung brannte rotes Licht. Urban steckte sich eine MC an, rauchte sie auf, schnippte die Kippe hinaus in den Teich, dann ging er ins Haus. Die Tür war nicht verschlossen und machte auch kein Geräusch. Dafür hatte die Wohnungstür im Erdgeschoß drei Schlösser. Er tastete sich weiter durch den hohen gewölbten Gang und um die Ecke. Dort führte eine Steintreppe in den Keller und eine hölzerne nach oben. 57
Offenbar benutzte Kitty Lerond den ehemaligen Dienstbotenflügel. Links sah Urban wieder eine Tür. Die Gesindewohnungen waren meist klein, hatten ein, zwei Zimmer. Vermutlich war es der Eingang zu so einer Wohnung. Die Tür war versperrt. Als er sich kräftig dagegenstemmte und die Klinke anhob, knirschte etwas, und er war drin. Eine Küche. Von dort ging es am Badezimme r vorbei in den Wohnraum. Es war das Zimmer, das mit den Fenstertüren vorne hinaus in den Park ging. Was so rötlich schimmerte, waren die Ziffern einer Radiouhr. Urban benutzte nur den Strahl seiner Punktlichtlampe. Es sah so aus, als sei die Wohnung für längere Zeit verlassen worden. Er fand keinen Koffer und in den Schränken nur die dicken Wintersachen: wattierte Jacken, einen Schaffellmantel, Stiefel. Alles war jetzt wichtig, sowohl der Inhalt des Kühlschranks, als auch das, was auf dem Renaissancetisch lag. Der Brief einer Flugschule in Metz, Abrechnungen, ein Foto von Kitty Lerond im Overall vor einer Cessna. Von einem Hinweis auf ihren Vater fand er nicht die Spur. Ergiebig waren auch die Kamine. Urban stocherte die Asche durch. Alles war verbrannt, nur ein paar Holzkohlestücke lagen drin. – Der Abfalleimer fiel ihm ein. Der Eimer war leer, säuberlich ausgewischt, nur der Fetzen eines Salatblattes klebte daran. Nichts sonst. Wohin leerte man in einem Schloß die Abfälle? In einen Kübel oder auf einen Komposthaufen. Die Wohnung gab nichts mehr her. Urban verließ das Schloß durch den Seiteneingang, suchte draußen herum und fand bei den Ställen einen Abfallhaufen. Der Wind trieb Papier und leichtes Zeug, wie Verpackungen und leere Dosen, vor sich her. Immer wenn Urban das Gefühl hatte, chancenlos zu sein, dann suchte er erst recht. Er entdeckte Papierschnipsel, mit der Hand zerfetztes Papier. Es kam aus einer Plastiktüte. Die Tüte blähte 58
sich im Wind. Jeder Windstoß fegte neue Papierschnipsel heraus. Urban sammelte sie ein, nahm die Tüte und fuhr damit ins Hotel. Niemand riß Papier in fingernagelkleine Fetzen, machte sich diese Mühe, wenn er nicht etwas vernichten wollte. Im Hotel sortierte Urban die Stücke und setzte sie zusammen. Zweifellos handelte es sich bei dem bedruckten steifen Papier um eine Ansichtskarte. Er fand blaue Fetzen, blau wie das Meer, und sandgelbe, dort wo das Meer in den Strand überging. Er fand grüne Palmen, eine Straße mit Autos, ein paar Häuser. Leider nicht genug, um bestimmen zu können, wo der Ort lag. Frankreich hatte lange Küsten, und das Mittelmeer noch viel längere. Er setzte alles zusammen. Es ergab bestenfalls das Drittel einer Postkarte – und leider ohne die Briefmarke. Urban drehte die Teile um. Mühsam konnte er etwas entziffern: Chez Maman Voisin – Bei Mutti Voisin. Voisin war ein so seltener Name wie Schmidt, trotzdem sollte Maman Voisins Pension am Meer, vermutlich in Frankreich, zu finden sein. – Bei der kolossalen Fahndungstechnik heutzutage. Vielleicht war es eine Karte von Kittys Vater. Wenn nicht, dann hatte er Pech gehabt, so wi e bisher. Meistens Pech, selten Glück, das war das Agentenlos. Agentenlos, o wie einsam bist du bloß! Er entkorkte die Flasche Rosewein, leerte sie und wünschte sich, es wäre ein mindestens sieben Jahre lang gelagerter Bourbon-Whiskey. Vielleicht hätte er auf die vergilbte Tapete so etwas wie Rita Hayworth oder Ava Gardner gezaubert. – Friede ihrer Asche. Schöne Mädchen, tote Mädchen. – Der Weg allen Fleisches. Ob gut oder schlecht, ob das Herrlichste oder das Häßlichste, es führte kein Weg daran vorbei, an der endlichen endlosen Einsamkeit. – Prost, Rita, schönste Frau der Welt! Three Cheers, Ava! Es gab mal eine Kompanie Marins, die marschierte tausend 59
Meilen, nur um die Stelle zu finden, wo du hingepinkelt hast. –
Und natürlich, á votre sante, Monsieur Urban! Mit Ihnen trinke ich am liebsten, Herr Oberst.
Zwei Tage später stand Urban Maman Voisin gegenüber. Man konnte nicht behaupten, daß es ein Marathonlauf gewesen war, eher schon ein Hindernisrennen. Erst hatte er alle Telefonbücher der französischen Badeorte von Perpignan bis Monte Carlo und von Biarritz bis Calais gewälzt. Er hatte unter Chez, unter Voisin und unter Maman Voisin nachgeschlagen. Mit unbefriedigendem Ergebnis. Entweder lief die Eintragung unter einem anderen Namen, oder Chez Maman Voisin war eine Adresse an der Küste von Spanien oder Italien. Zum Glück hatte er überall Freunde. Beim SISMI in Rom und bei der Brigada investigación in Madrid. Sie halfen ihm und stellten auch ihre Computer zur Verfügung. – Andererseits hatte Urban Bedenken gegen Spanien und Italien. Pierre Lerond war Franzose und nicht mehr der Jüngste. Wenn so ein Mann Urlaub machte oder, um es salopp zu nennen, ausstieg, dann fuhr er nicht in ein Land, dessen Sprache er nicht konnte und wo er sich nicht zuhause fühlte. Bevor Urban also die Italiener und Spanier rebellisch machte, wandte er sich an die Zentrale des französischen Geheimdienstes in Paris. Gil, der ewige Sonnyboy aus der Abiturientenriege, hatte schon die Weichen gestellt. „Wo bist du?« „In einem unaussprechlichen Ort in einem ve rwanzten Hotel, 60
Reiner Zufall, daß das Telefon funktioniert.“ „Um was geht es?“ „Um den Alten vom Segelflugplatz. Seine Tochter ist ein Biest, aber sie bemuttert möglicherweise das Kind, das zu der Puppe paßt. Als wir gerade schön im Clinch waren, wurde auf uns geschossen. Ich machte das, was man in Ganovenkreisen die Fliege nennt. Aber Fliegen kommen immer wieder auf das Stück Käse zurück. Leider ist Kitty Lerond abgeduftet wie das Odeur einer Rose nach dem ersten Frost. Aber ich fand Fetzen einer Postkarte. Sie kann von Papa Lerond stammen. Pension Chez Maman Voisin irgendwo an einem Meer, das an eine Küste brandet, wo noch Palmen wachsen.“ „Komm nach Paris“, riet Gil Quatembre. „Zu großer Umweg“, fürchtete Urban. „Umwege kosten Zeit. Ich halte hier die Stellung. Vielleicht habt ihr Erfolg.“ „Du hörst von Gil dem Gil“, versprach Quatembre. Urban hatte einen geschlagenen Tag gewartet, geschlafen, getrunken, gewartet und sich nicht weiter als zehn Meter vom Telefon entfernt. Natürlich hatte er noch auf einem zweiten Klavier gespielt. Er hatte seine Zentrale eingeschaltet. Dort gab es Leute, die Telefonbücher lesen konnten oder zumindest einen kannten, der Telefonbücher lesen konnte. Aus München Pullach hagelte es nur Fehlanzeigen. – Aber Gil der Gil hatte einen Tag mit einem Sechser im Lotto. „In Nizza“, meldete er, „gab es einen Monsieur Voisin. Nach seinem Tod hat sich das BungalowMotel umbenannt, in Chez Maman Voisin. Das steht aber nicht in allen Adreßbüchern.“ Urban bekam die Anschrift. „Du bist“, sagte er, „nicht nur Gil der Gil, du bist Gil, der große Quatembre.“ „Was ist das?“ hatte Gil gefragt. „Wie ich dich kenne, hast du 61
den Diesel schon angelassen. Gibt es Probleme, sag es den anderen. Geht es gut, dann sag es mir. C’est si bon!“ Nun stand Urban, nach einer Nachtfahrt vo n achthundert Kilometern, vor einer mütterlichen Provenzalin. Mit Perücke war sie schwarzhaarig wie eine Zigeunerin, und dem Busen nach war sie eine Amme. „Madame Voisin?“ fragte er, so lächelnd, wie es ihm angeboren war. „Maman Voisin“, verbesserte sie ihn, „seit Papa Voisin tot ist.“ „Ich möchte zu dem alten Lerond.“ „Zu bewundern, dieser Mann“, sagte sie. „Was für ein Lebenskünstler. Saufen und pennen. Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Letzter Bungalow hinten unter den Hibiskussträuchern.“ Urban ging hinüber. Zwar hielt er den Hibiskus für Jasmin, aber in Botanik war er nicht so firm. Botanik war seine echt große Bildungslücke.
Die Tür war nur angelehnt. Als Urban ihr Druck gab und sie hineinschwang, kam ihm als Begrüßung ein Schwärm Mücken entgegen. Dazu ein merkwürdiger Geruch. Er hatte Mühe ihn zu beschreiben. Süßlich, bitter, penetrant, ekelerregend – wie vier Tage alter Wurstaufschnitt, garniert mit Gammelfisch und Schweinemist. Es gab nur zwei Geruchskompositionen, die seiner Nase absolut zuwider waren. Die ätherischen öle von Knoblauch und diese. Doch gegen diesen Gestank roch Knoblauch wi e Chanel Nr. 5. Noch überlegend, ob er überhaupt eintreten sollte oder ob es gegen jede kriminalistische Erfahrung verstieß, machte er einen Schritt und noch einen. Dann allerdings brauchte er das Taschentuch. Dicht gewebte Baumwolle in mehreren Lagen hatte die Wirkung eines Kohlefil62
ters in Gasmasken. So näherte er sich der Quelle des Duftes und der Brutstätte der Fliegen. Sie war nicht weit entfernt. Nur vier Meter. Und da lag einer ohne Hinterkopf, Arme und Beine von sich gestreckt, als versuche er wie ein Vogel wegzufliegen. Die hellen Fliesen um den Kamin herum waren dunkelrot von getrocknetem Blut. Urban trat weiter in den Raum und orientierte sich, ohne etwas zu berühren. Er bewegte auch kein Glied des Toten, um anhand der Starre festzustellen, wie lange es her war, daß die Kugel ihm den Schädel halbiert hatte. Die Umstände, wie Hautverfärbung, die Fliegeneier und die Verwesung, sagten ihm genug. Es mußte den Mann, mitten im Zimmer stehend, erwischt haben. Er war gefallen wie ein Baum. Vielleicht hatte er mit instinktiver Bewegung noch versucht, sich am Kaminsims festzuklammern. Die Schußrichtung und die Waffe waren Urban unwichtig. Der Täter konnte durch die Tür gekommen sein, aber auch das große Fenster war nicht verriegelt. Geschlossen zwar, aber nicht verriegelt Urban zog sich zurück. Obwohl er alles andere der Mordkommission überlassen mußte, suchte er draußen noch ein wenig herum. Diesmal fand er keine leere Patronenhülse. Aber es war zweifellos der Schuß aus einem Gewehr gewesen, der den Alten getötet hatte. Aus ihrem Haus, in dem unten das Hotelbüro lag, kam Maman Voisin, „Wie geht’s dem alten Stinker?“ „Schlecht«, sagte Urban. „Rufen Sie…“ „Den Arzt? Mit solchen Trunkenbolden gibt es doch immer Ärger.“ „Die Polizei“, bedauerte Urban. „Hatte Lerond einen Besuch in 63
den letzten Tagen?“ „Weiß ich nicht.“ „Denken Sie scharf nach, oder Sie kriegen Ärger an den Hals.“ „Nein, Monsieur, er hatte keinen Besuch. Aber da waren ein oder zwei Anrufe.“ „Von einem Mann oder von einer Frau?“ „Es dürfte wohl die Vermittlung gewesen sein, die vom Postamt, von einem Hotel oder so.“ „Und kein Besuch? – Er wurde nämlich erschossen. Dazu gehören in der Regel zwei.“ Maman Voisin jammerte herum, rang die Hände und führte sich auf, als ginge die Welt unter. „Ich sagte zu meinem Mann immer: Ziehen wi r einen Zaun um das Motel. – Aber nein, er wollte keinen Zaun. Das sei zu teuer, die Gäste käme n sich nur eingesperrt vor. – Das haben wir nun davon.“ „Madame“, beruhigte Urban sie. „Jeder Zaun hat eine Tür. Außerdem gibt es Stemmeisen und Drahtscheren. Man kommt durch jeden Zaun, wenn man will. Machen Sie Papa Voisin keine Vorwürfe. Aber rufen Sie jetzt die Mordkommission.“ Sie hastete ins Haus. Urban hörte sie telefonieren. Da war er schon auf dem Weg zu seinem Auto. Im Kopf zählte er zusammen: Ein Schuß auf ihn im Chateau de Erbenstein, der Schuß auf den alten Lerond, und Kitty und das Kind waren verschwunden. Da fing jemand an zu mauern. – So kam eines zum ändern. 9. Der Mann kam vom Kontinent und legte die letzten Meilen von Cap Erris Head bis zur Insel mit dem Motorboot zurück. Drüben kletterte er das Kliff hinauf und fragte beim Leuchtturm nach McConnor. Er fand aber nur Donally, denn der andere war 64
unterwegs. „Was hast du mitgebracht?“ empfing Donally den stämmigen Burschen, der wie ein Friese aussah. „Befehl ausgeführt.“ „Auf dich kann man sich verlassen, Oliver.“ „Hier sind die Fotos.“ Sie waren mit einer von diesen Sofortbildkameras aufgenommen worden. Man drückte hinten drauf, und vorn summte das Bild heraus. Das erste Foto zeigte ein Mädchen mit roten Haaren, das ungefähr sechs Jahre alt war. Das Kind lächelte. „Diana Jordan.“ „Trauriger ging’s wohl nicht. Mit ein bißchen Angst im Gesicht, meine ich.“ „Nicht auf diese Entfernung.“ Foto Nummer zwei zeigte einen Mann. Er lag am Boden vor einem Kamin und sah aus, als wollte er fliegen. Sein Hinterkopf glich einem Apfel, in den man hineingebissen hatte. „Pierre Lerond.“ „Er hätte nie das Maul gehalten.“ „Seine Tochter hält es.“ „Aber wie lange noch?“ „Für Kitty Lerond hatte ich keine Order“, betonte der Mann vom Festland. „Vielleicht darf sie am Leben bleiben. Kommt darauf an. – Wo ist sie?“ „Abgehauen, als ich im Schloß auf diesen Burschen da schoß.“ Er war auf Foto Nummer drei nur undeutlich zu erkennen. Donally nahm die Lupe. Dann pfiff er. „Nicht, daß ich ihn kenne, aber ich kenne ihn. Genauer kennenlernen möchte ich ihn aber, bei Gott, nicht.“ „Einer von der Briten-Abwehr?“ 65
„Du meinst Lord Hotwaters Nachfolger. – Nein. Ich begegnete diesem Mann in einem anderen Zusammenhang. Vielleicht weiß McConnor mehr . Danke, Oliver. Gute Arbeit. Ruh dich ein paar Tage aus. Gibt bald einen neuen Job.“ Gegen Abend kam McConnor vom Fischen. Er brachte genug Thunfisch für die ganze Besatzung mit Donally suchte ihn in seinem Zimmer auf, wo er, die Flasche in der Hand, die Zigarette im Mundwinkel, auf dem Feldbett lag. „Was gibt’s?“ fragte er Donally. „Und bei dir?“ „Die Engländer sind verdammt neugierig. Sie kommen mit ihren Küstenwachbooten jetzt schon in südirisches Gewässer.“ „Das dürfen sie, wenn sie außerhalb der Dreimeilenzone bleiben.“ „Sie waren innerhalb der Hoheitszone.“ „Das dürfen sie laut Vertrag nur bei der Verfolgung von Verbrechen, soweit diese auf der internationalen Liste aufgeführt sind.“ „Ja, Rauschgiftschmuggel, Waffenschmuggel, Menschenschmuggel, Meeresverseuchung und auf der Jagd nach Terroristen. Und diesen Grund nehmen sie wohl in Anspruch.“ Donally stand am Fenster und schaute in die Dämmerung, die hier draußen sehr langsam kam. „Du meinst, sie haben uns mal wieder ausfindig gemacht“, bemerkte er. „Könnte schon sein“, sagte McConnor. „Ja, könnte durchaus sein“, stimmte Donally ihm zu. „Schau dir das an.“ Er zeigte ihm das Foto des Mannes im Park vo n Chateau de Erbenstein. Fluchend warf McConnor das Foto zu Boden. „Scheiße, verdammte Scheiße ist das!“ „Ist das dieser Commander Urban?“ 66
„Sie nennen ihn Mister Dynamit.“ „Er arbeitet für den BND.“ „Für wen auch immer er tätig ist“, äußerte McConnor, „seine Anwesenheit dort beweist, daß der Londoner MI-six den ganzen NATO-Geheimdiensthaufen alarmiert hat und für sich arbeiten läßt.“ „Gegen uns.“ Da McConnor schwieg, fragte Donally nach einer Weile. „Was nun?“ „Laß uns nachdenken.“ Sie dachten nach, faßten zusammen, was sie hatten, und kamen zu dem Ergebnis, daß sie hier auf Dauer nicht sicher sein würden, denn die Regierung von Südirland unterstützte die IRA im Kampf gegen die Engländer im Norden kaum. Dublin wollte Frieden mit London und die Verträge einhalten. Wenn etwas passierte, drückten sie beide Augen zu und schauten weg. „Unsere Stunden hier sind gezählt“, erklärte McConnor, der in der Organisation um einen Hauch mehr zu sagen hatte als Donally. „Was wir endlich brauchen, sind die neuen Waffen und Geld. Dahin gibt es nur einen Weg.“ Donally ging hinaus und ordnete an, daß man Lorna Jordan zum Verhör holte.
Die Verhöre fingen immer wieder von vorne an. Das machte sie so zermürbend. Während dem Verhörführer eine Menge Peitschen zur Verfügung standen, war es stets de r geschundene Rücken des Gefangenen, auf den eingedroschen wurde. Es dauerte eine gute Stunde, bis die alten Fragen gestellt und beantwortet waren, ohne daß sich zu den früheren Antworten meßbare Unterschiede ergaben. Doch dann brachte der Experte 67
ein frisches As ins Spiel. Er hielt Lorna Jordan ein Foto vor die Augen. Sie wollte es anfassen, doch er zog es blitzschnell weg. „Wer ist das wohl?“ Sie bekam feuchte Augen. „Wer das ist, habe ich gefragt.“ „Meine Tochter“, kam es tonlos. „Sie lebt also, wie du siehst.“ „Ja, sie lebt.“ „Und sie lächelt, wie du siehst“, fuhr der Psychologe fort. „Noch lächelt sie. Aber ihr Lächeln scheint mir mehr wie das Lächeln einer Irren. Deine Tochter ist stark verhaltensgestört. Sie spricht kein Wort, sie ißt und trinkt nicht. Man muß sie zwangsernähren. Sie leidet an einem schweren Schock.“ „Eure Schuld, ihr Verbrecher“, brach es aus Lorna Jordan heraus. Der Verhörexperte, ein abgebrochener Psychologiestudent, nickte zustimmend. „Verirre du dich bei Nacht und Nebel und die liebe Mutti fährt mit einem Automobil auf und davon.“ „Ist es meine Schuld gewesen?“ ,Allein deine Schuld“, betonte der Mann der IRA. „Wenn dein Kind nie mehr seine Mutter sieht und du nie mehr dein Kind, dann ist es allein deine Schuld. Diana kann wieder völlig normal und gesund werden, wenn du endlich auspackst. Aber es wird schlimm werden, wenn du uns nicht endlich sagst, wo Mike Jordan die Waffen einlagern ließ.“ „Fragt doch die Männer, die sie mit dem LKW brachten.“ „Der fuhr auf dem Rückweg auf eine britische Minensperre. Das weißt du.“ „Mike sprach nie darüber. Er wollte mich nicht der Gefahr aussetzen, deswegen gefoltert zu werden.“ „Über Geld sprach er gewiß. – Wo hat er die Beute aus dem Bankraub bei der Royal National in Londonderry hingebaggert?“ „Er hob sie gut für euch auf.“ 68
„Leider zu gut. Er war immer ein schweigsamer Typ, dein Mike. Aber er mußte im Hagel britischer Kugeln sterben, ehe er uns mitteilen konnte, wo Waffenlager und Gelddepot sind. Wo, Lorna Jordan, ist seine Hinterlassenschaft? Wir sind die legalen Erben. Ohne die Waffen und ohne die Kohlen geht der Kampf nicht weiter.“ „Das weiß ich“, antwortete sie, „aber ich kenne das Versteck nicht. Macht mit mir, was ihr wollt, aber verschont Diana.“ Der Experte ließ nichts unversucht. Es ging schon auf Mitternacht. Donally und McConnor schauten durch den Einwegspiegel zu. Noch später kam jemand zu ihnen herein. „Bringt endlich einer Kaffee?“ fragte McConnor. „Er ist tot“, wurde ihnen gemeldet. Donally fuhr hoch. „Wer?“ „Hotwater.“ „Wie ist das passiert?“ „In der Zelle sitzend, bog er an seinem Aluminiumteller herum, bis er brach. Mit der scharfen Kante schnitt er sich die Adern auf.“ „Pulsadern kann man nähen.“ „Aber Halsschlagadern nur sehr schwer. Vielleicht in einem Operationssaal.“ Damit hatten sie ein Faustpfand weniger. Und irgendwann würde die Nachricht davon auch zu den Engländern dringen. „Noch Kaffee?“ fragte der Mann, der hereingekommen war. „Danke, keinen Kaffee.“ McConnor befahl, das Verhör von Lorna Jordan zu beenden. „Hotwater war eine prima Geisel“, meinte Donally. „Sein Leben garantierte unsere Siche rheit.“ „Jetzt nehmen sie keine Rücksicht mehr. Jetzt stürmen sie die Insel.“ 69
„Ein paar Tage bleiben uns noch, ehe es durchsickert.“ McConnor rechnete hoch und entwickelte zwe i Theorien. „Wir können Hotwater ins Meer werfen und vergessen. Man wird es erfahren und in ein Wutgeheul ausbrechen. Wir können seinen Tod aber auch nutzen und aus dem Wutgeheul ein Geschrei des Schreckens machen. Wir können etwas tun, das ihnen zeigt, daß wir noch immer die Alten sind, fest entschlossen, unsere Ziele durchzusetzen, so daß sie das Zittern kriegen.“ Donally verstand. „Du willst es so handhaben, wie vor zwei Jahren mit dem Minister von Ulster.“ „Danach war eine Zeitlang Grabesruhe.“ „Okay, machen wir es wie mit dem Minister von Ulster.“ Wenige Tage, bevor sie ihren Unterschlupf auf der Insel räumten, wurde eines Morgens vor der Residenz des Gouverneurs von Nordirland ein Paket abgeladen. Es sah aus wie ein zusammengerollter Drei-Meter-Teppich. Umhüllt war das Ganze mit schwarzer Isolierplastik, und zusammengehalten wurde es von Stricken. Der Hausmeister der Residenz wollte das Paket von der Sondermüllabfuhr beseitigen lassen. Die Männer weigerten sich jedoch, es aufzuladen. Sie behaupteten, da sei ein Mensch drin. Die Polizei kam, auch die Armee, mit gepanzerten PatrouillenFahrzeugen. Ein Bombenentschärfer machte sich an die Arbeit. Das Paket konnte möglicherweise eine n Sprengsatz enthalten. – Schließlich aber lag nichts anderes vor ihnen, als die Leiche von Sir Randolph Hotwater, dem Terroristenoberjäger Ihrer Majestät, der Königin von England. 10. An Urbans Hotelzimmertür im Negresco wurde geklopft Der Zimmerkellner klopfte anders, und sein Kollege von MI-6 70
London, den er hier treffen wollte, konnte noch nicht in Nizza sein. Aus Erfahrung wartete Urban. Wieder wurde geklopft. Diesmal fester. Er trat seitlich von der Tür in Deckung. „Entrez!“ rief er. Die Tür ging auf, aber niemand kam herein. In Deckung bleibend, wartete er, bis der Flüge l sich so weit geöffnet hatte, daß er im Spiegel gegenüber sah, wer draußen stand. – Eine Frau mit einem Kind an der Hand. Aber wer wußte, ob jemand hinter ihnen stand. Vielleicht schob man sie nur vor. „Kommt rein, ihr Hübschen.“ Kitty Lerond und das Mädchen machten ein paar Schritte und schauten sich um. „Tür zu!“ Erst als der Flügel der weißen Doppeltür zuschnappte, trat Urban aus der Deckung frei und nahm die Mauser herunter. „Was verschafft mir die Ehre, Mesdames?“ „Dürfen wir uns setzen?“ Die Frau nahm Platz, das Kind blieb stehen, steif wie ein kleiner Roboter. „Was kann ich für dich tun?“ Wenn eine Frau ihn duzte, dann tat er es auch. „Mein Vater ist tot“, sagte Kitty Lerond nicht sonderlich wehmütig. „Er hatte weniger Glück als ich in Chateau de Erbenstein.“ „Das verdankst du mir und meinem Doberman.“ „Und wie fandest du mich?“ „Du kamst nach Erbenstein mit einem Automobil, das dicht an der Mauer parkte. Flieger haben scharfe Augen. Der BMW hatte eine Münchner Nummer.“ „Na schön. Und was kann ich für dich tun?“ 71
„Die Mordkommission in Nizza rätselt herum, wer einen alten, unbedeutenden Mann wie meinen Vater getötet haben könnte.“ „Sucht nach seiner Schuld, und ihr habt das Motiv.“ „Kannst du mir die Antwort geben, Klugscheißer?“ Urban deutete auf seinen mittleren Sakkoknopf. „Ich, Madame? Wieso ich?“ Zum erstenmal sah er sie an. Sie hatte sich verändert. Sie trug keine fetzigen Jeans, sondern einen sauberen weißen Leinenrock, dazu eine blaßblaue Bluse, und sah so abgeseift aus wie ein Schornsteinfeger, der direkt aus der Badewanne kam. „Mit dir fingen doch alle Probleme an, du lausiger Bulle.“ Nun deutete Urban auf das Mädchen. „Diana Jordan?“ „Ja, der Findling aus dem Nebel.“ Urban ging in die Hocke, um mit der Kleinen zu sprechen. Er versuchte es mit Englisch, hatte aber wenig Erfolg. Diana schien ihn weder zu hören noch zu verstehen. Vielleicht sah sie ihn gar nicht. Er nahm ihre Hand, sie fühlte sich kalt und steif an. „Was ist mit ihr?“ fragte Urban. „Ein Schock.“ „Warst du beim Arzt?“ „Wozu?“ Er holte einen Spiegel, reflektierte das Sonnenlicht in Dianas Pupillen. Sie zeigten kaum Reaktion. „Tut mir leid“, erklärte er. „Erklär lieber der Mordkommission, der Sûrete von Nizza, daß ich als Mörderin meines Vaters nicht in Betracht komme, und ich sage: Merci Monsieur.“ „Sie werden dich nicht verdächtigen, Kitty.“ „Sie erfuhren von Maman Voisin, daß ich zwe imal anrief.“ Er konnte Gil Quatembre verständigen. Der würde ein paar Takte mit dem Kommissariat in Nizza reden. 72
Aber da die beiden jetzt bei ihm waren, ve rsuchte er das auszuschlachten. „Das Kind ist der Schlüssel“, sagte er. „Wann und wie wurde es von seiner Mutter getrennt?“ „Man holte die Mutter und einen Mann aus einem Flugzeug. Weil die Frau sich verzweifelt wehrte, riß das Kind sich los. Sie konnten es im Nebel nicht mehr finden. Offenbar stand das Kommando unter Zeitdruck. Sie fuhren weg. Erst am Morgen fand ich die Kleine weinend auf dem Flugfeld.“ „Die Frage lautet: Ist sie identisch?“ „Mit wem?“ „Ja, mit wem“, sagte Urban. „Augenblick bitte.“ Er holte die Gummipuppe aus seiner Reisetasche und hielt sie dem Kind hin. Diana zeigte Reaktion. Wie ein Automat griff sie nach der Puppe und drückte sie an sich. „Es ist ihre Puppe.“ Urban wollte den nächsten Schritt tun, aber Diana hielt die Puppe an sich gepreßt und verfiel wieder in Apathie. Er suchte nach einer anderen Möglichkeit. Aus London waren Unterlagen gekommen. Der Kollege, den er erwartete, wollte Einzelheiten dazu liefern. Das Material enthielt die Fotos der Leute, die beim Absturz der King Air umgekommen waren. Man hatte auch ein Foto von Lorna Jordan aufgetrieben. Urban zeigte es dem Mädchen. „Kennst du diese Frau, Diana?“ Sie reagierte wie eine Marmorstatue. „Ist das deine Mutter, Diana?“ Abermals keine Reaktion. Erst als Urban das Foto weglegte, lächelte Diana und sagte: „Mama!“ Kitty Lerond steckte sich eine von Urbans Zigaretten an. „Es ist das erste Wort, das sie sagt, seit ich sie bei mir habe.“ „Bring sie zu einem guten Arzt.“ 73
„Ich denke nicht daran.“ „Was hast du vor? Willst du Diana adoptieren?“ „Besser ein Kind adoptieren, als ein eigenes vo n irgend einem Idioten bekommen. Natürlich will ich erst ihre Mutter finden.“ „Vielleicht hat sie es überlebt“, sagte Urban und änderte seine Taktik. Aber mit Kindern umgehen konnte er nicht. Kinder machten ihn nervös. Über Diana, so fürchtete er, käme er nicht weiter. Sein Einfühlungsvermögen begann beim Seelenlebe n Achtzehnjähriger. – Also versuchte er es bei der Pilotin. „Für mich ist klar, daß du deinen Vater warnen wolltest.“ „Offenbar zu spät.“ Wenn sie traurig war, dann zeigte sie es zumindest nicht. Aber Tränenausbrüche und schwarze Klamotten waren nie ein Beweis für echte Trauer gewesen. Trotzdem konnte er ihr die Frage nicht ersparen. „Wer strafte deinen Vater dafür?“ „Wofür?“ „Daß er den Platz mit Fackeln anfliegbar machte.“ „Keine Ahnung. Es waren seine Geschäfte.“ „Wieviel bekam er dafür?“ „Geld spielte bei ihm keine große Rolle. Er lebte sparsam bis geizig. Er hat mehr Erspartes, als er je verpulvern konnte.“ „Warum tat er es dann?“ „Frag ihn doch selbst.“ „War er erpreßbar?“ suchte Urban weiter nach einem Motiv. „Ich lache! – Ein alter Mann und erpreßbar, ein Witwer, Invalide und unabhängig, der soll erpreßbar sein? Dem ist doch alles scheißegal. Womit willst du den erpressen?“ „Vielleicht mit der Drohung, ihm auch noch das andere Bein kaputtzuschlagen.“ „Naja, wehleidig war er immer“, äußerte seine Tochter wenig respektvoll. „Ach, denk was du willst. Ende der Durchsage.“ Sie drückte die Zigarette aus, stand auf, nahm das Mädchen und 74
zerrte es zur Tür. „Tu was für mich bei der Kripo.“ „Was ich kann“, versprach Urban. Dann wartete er weiter auf den Kollegen aus London. Die Frage, warum man die Mutter des Kindes entführt hatte, war noch nicht beantwortet. War es den Entführern möglicherwe ise gar nicht allein auf Lord Hotwater angekommen? – Oder war Lorna Jordan das, was man in Börsenkreisen eine Gewinnmitnahme nannte? – Oder hatte man es überhaupt nur auf sie abgesehen gehabt? – Dann wäre Hotwater nicht mehr als ein Abfallprodukt gewesen.
Der MI-6-Agent hieß Strong, und genau so sah er aus. Eine Goldrandbrille vor ernsten Augen, ein schmaler Mund, kleine Ohren, das Haar hinpomadisiert, die Krawatte genau auf 12.00 Uhr, die Hose gebügelt und die Schuhe poliert. Sein Händedruck war kurz und knochig fest „Hallo, Dynamit!“ Sie kannten sich. Gewöhnlich schickte London keinen Mann irgendwohin, sondern ließ die anderen einfliegen. Wenn sie von diesem Prinzip abrückten, dann waren sie in der Klemme. Urban war es auch, aber er zeigte es nicht Wie ein Buchhalter zu seiner Zwischenbilanz, so kam Strong gleich zum Thema. „Sie haben uns Lord Hotwater tot vor das Gouvernement in Belfast gelegt. Wie eine Abfalltüte.“ „Die IRA?“ „Wir nehmen es an.“ „Gibt es gesicherte Erkenntnisse darüber?“ „Dies allerdings nicht. Sie bekannten sich weder zu dieser 75
scheußlichen Untat, noch zu der Flugzeuggeschichte.“ „Die sich mittlerweile etwas anders darstellt“, unterbrach Urban ihn. „Erst waren wir der Annahme, es sei den Terroristen nur um Hotwater gegangen. Inzwischen wissen wir, daß sie einen Doppelschlag führten.“ „Einen Dreierschlag“, verbesserte Strong mit britischer Trokkenheit. „Hotwater, Lorna Jordan und das Flugzeug. Letzteres nur, um mangels Augenzeugen die Fahndung nach den Tätern zu erschweren.“ „Und nach den Entführten.“ „Als Motiv für die Mitnahme von Lorna Jordan glauben wir zwischenzeitlich folgendes ermittelt zu haben: Lorna Jordan war die Ehefrau von Mike Jordan, einem irischen Terroristen. Zu Lebzeiten war er so berüchtigt wie Darmgrippe. Es gelang unseren Streitkräften in Ulster, diesen Mike Jordan in eine Falle zu locken und unschädlich zu machen. Wir hätten ihn zwar tausendmal lieber unschädlich gemacht, indem wir ihn zeitlebens in eine Zuchthauszelle gesperrt hätten, als ihn mit Kugeln zu durchsieben, aber es war nicht anders möglich. Er ballerte, als er an der Wand stand, um sich wie eine Einmannarmee.“ „Mike Jordan.“ Urban erinnerte sich. „Das muß vor drei Jahren gewesen sein. Inzwischen haben sie ihn zum strahlenden Helden, zum Symbol ihres Freiheitskampfes aufgebaut.“ „Ein Terrorist“, nannte Strong ihn und schaute auf die Uhr, als müßte er in einer Stunde den Rückflug nach London antreten. „Inzwischen läuft ein erbittertes Gerangel um Mike Jordans Erbe, bestehend aus Waffenlagern und Bankkonten im Ausland. Wie in der IRA so üblich, wissen immer nur wenige Leute von diesem und jenem. Egal, ob es sich um geplante Operationen oder um Waffen und Finanzen handelt. Bevor Mike Jordan andere IRABosse einweihen konnte, starb er und nahm sein Geheimnis mit ins Grab. – Angeblich. – Man glaubt nämlich, seine Witwe Lorna wisse Bescheid. Sie verschweige die Lage der Waffendepots und 76
die Kontennummern, weil sie diesen Krieg haßt und ihn zumindest sabotieren will, wenn sie ihn schon nicht beenden kann. – Nun, immerhin brachte dieser Krieg ihren Ehemann um. Von der menschlichen Seite her ist ihre Haltung zu verstehen. Aber was interessiert die IRA die menschliche Seite. – Nach unserer Rekonstruktion versuchten sie es bei der Witwe ihres Nationalhelden erst einmal mit Güte. Aber sie schwieg. Sie wußte angeblich nichts. Nun fing man an, sie zu bedrängen, zu bedrohen. Lorna nahm ihr Kind und tauchte unter. Oder besser ausgedrückt, sie floh auf den Kontinent und weiter nach Griechenland. Dort soll sie einen Lebensgefährten gefunden haben.“ Die MI-6-Rekonstruktion belichtete die Situation zwar anders, aber doch so, daß Urban klar erkannte, daß es sich um eine interne britischirische Auseinandersetzung handelte. Der BND, in diesem Fall er, hatte damit nichts mehr zu tun. „Warum flog Lorna von Griechenland nach London?“ „Um Freunde zu besuchen. Sie hat auch noch eine Mutter. Die alte Dame ist derzeit jedoch nicht auffindbar. Aber eine Irin, die ein Jahr oder länger von zu Hause fort ist, die sehnt sich einfach nach ihrer grünen Insel. Erst recht, wenn man in dem sonnenverbrannten Griechenland lebt.“ „Wo lebte Lorna Jordan in Griechenland?“ wollte Urban wissen. „Irgendwo in Epirus.“ „Was weiß man über ihren neuen Lover?“ „Nicht Lover. Angeblich hat sie ihn geheiratet. Einen Burschen vom Lande. Bauer, Farmer, angeblich züchtet er auch Falken oder so was.“ „Ihr solltet alles tun, um sie zu finden“, riet Urban. So, wie er den Fall sah, ging es nur in dieser Richtung weiter. „Mit Ihr meinen Sie uns, den MI-six, Commander Urban. Warum klammern Sie sich dabei aus?“ „Würden Sie sich etwa um die Belange oberbayrischer Berg77
bauern kümmern?“ „Soviel mir bekannt ist, hat Ihr Hauptquartier Sie freigestellt. Und warum, glauben Sie, setze ich mich drei Stunden in ein Flugzeug, um Sie hier zu treffen? Doch nicht, weil Sie dabei sind, auszusteigen.“ „Es geht nur über Lorna Jordan weiter“, betonte Urban noch einmal. „Oder das Mädchen.“ „Es leidet unter einem Schock, an einer Sprach- und Gehörlähmung.“ „Überlassen Sie das unseren Ärzten.“ Urban, der sich innerlich von dem Fall verabschiedet hatte, hörte die Frage Strongs nicht. Erst bei der Wiederholung begriff er, wozu Strong sich entschlossen hatte. „Wo finde ich Diana Jordan?“ „Bei Kitty Lerond, die sie im Nebel fand und seitdem betreut.“ „Das ist die Tochter dieses getöteten Flugplatzwartes. Sie trafen sie hier in Nizza?“ „Heute vormittag.“ „Und wo treffe ich die beiden?“ „Da müssen Sie bei der Mordkommission nachfragen, Mister Strong. Dort hat man die Adresse.“ Eigentlich“, sagte Strong, „sollte ich heute abend wieder in London sein.“ „Und ich seit gestern in München.“ „Da der BND offenbar keine Veranlassung sieht, uns hilfreich zu unterstützen, muß ich mich selbst darum kümmern.“ Urban, der eine unfreundliche Erwiderung auf der Zunge hatte, sagte nur: „Ja, tun Sie das, Mister Strong. Und vergessen Sie Ihre Unterlagen und Ihren Hut nicht.“ Strong ließ sich mit dem Taxi zur Polizeipräfektur bringen. – Urban packte seine Sachen und verlangte seine Rechnung, um 78
dann nach München zurückzufahren, Bevor er das Negresco verließ, rief Strong an und teilte ihm mit, daß Kitty Lerond und Diana Jordan unauffindbar seien. Die Polizei habe eine Art Großrazzia nach ihnen veranstaltet, aber es gebe keine Spur. Man müsse annehmen, daß die beiden von einem IRA-Kommando gekidnappt worden seien. Nicht, daß Urban sich schuldig fühlte, aber in dieser kritischen Phase wollte er die anderen nicht im Regen stehen lassen. Jetzt kam es auf jeden Mann an. Trotzdem fuhr er zuerst nach München. 11. Die Zeitungen erreichten das Landgut in Epirus mit einem Tag Verzögerung. Deshalb erfuhr Costas Novakis es aus den Nachrichten des Senders Joannina. – So wurde er darauf aufmerksam. Die Einzelheiten entnahm er dann dem Athener Parnassos. Die Redaktion hatte sogar Fotos aufgetrieben. Spaltenbreit zeigte sie eine Gruppe von Gentlemen – alles hochkarätige britische Politiker, Wirtschafts- und Bankfachleute. Im Rahmen eines EG-Beschlusses sollten sie Griechenland besuchen, sich im Land umsehen, um dann den Kreditantrag der Athener Regierung in Höhe von zwei Milliarden ECU zu befürworten oder abzulehnen. Daß es nicht zu einer Ablehnung kam, dafür sorgte man in Athen. Man hatte die Besichtigung moderner Fabriken und Staatsgüter vorbereitet. Außerdem war man bemüht, den Briten alle Annehmlichkeiten zu bieten, ohne aufdringlich zu sein. Auf jeden Fall sollte das Programm reibungslos ablaufen. Unter anderem war vorgesehen, daß die EG-Kommission auch die holzverarbeitende Industrie in Epirus besuchte. Zu diesem Zweck mußte sie bis Arta fliegen und von dort einen 79
modernen klimatisierten Bus nehmen. „Arta!“ Novakis ertappte sich dabei, daß er den Namen immer wieder aussprach. – Ja, er kannte den Flughafen von Arta. Und es sollte am Freitag sein, also in zwei Tagen. Noch einmal ging er die Liste der Prominenten durch. Der britische Finanzminister war dabei, der Wirtschaftsminister, zwei Bankpräsidenten, Fachleute für alle möglichen Industriezweige, auch zwei hohe Gewerkschafter sowie ein Admiral und ein General. Militärs deshalb, weil Griechenland sein Verbleiben in der NATO von Finanzhilfen abhängig machte. Zwar schien die Zeit für Erpressungen dieser Art durch den Zerfall des Warschauer Paktes zu Ende zu gehen, aber bei der NATO verfolgte man nach wie vor die Politik der Stärke. Man wußte genau, daß die Sowjetunion nicht ein Jota von ihrer Machtpolitik abzurücken gedachte. – Jetzt weniger denn je. Also übermorgen, dachte Novakis, und begann, das zu bauen, was man unbedingt haben mußte, nämlich ein Alibi. Er verabredete sich mit Freunden für Freitagabend in Joannina zum Essen. Wie üblich in Griechenland, sollte es ziemlich spät stattfinden. Das Flugzeug mit der britischen EG-Kommission würde starten, solange es noch hell war. Ganz egal was geschah, die Sechsundsechzig Kilometer von Arta bis Joannina waren leicht in einer Stunde zu fahren. Novakis würde behaupten, er käme vo n seinem Gut. Niemand würde daran zweifeln. Er mußte nur dafür sorgen, daß er in Arta nicht erkannt wurde. Aber darin sah er nur ein Problem zweiter Ordnung.
Am Morgen, sehr früh, nachdem er die Arbeit des Tages verteilt hatte, verließ Novakis das Gut. Zu seinem Verwalter sagte er, daß er sich oben um die Bewäs80
serung, um die neue Pumpe kümmern würde und erst spät in der Nacht zurückkomme. Er fuhr das Tal hinauf bis zum Vorwerk, zu seinen Habichten. Unter den zehn Habichten gab es drei, die tauglich waren. Es waren die prächtigsten Vögel. Kräftig, gelehrig, zuve rlässig bei der Beize. Einen davon suchte er aus. Costas Novakis war ein Mensch des Mittelmeeres. Hilfe und Opferbereitschaft erwarteten sie nur von besten Freunden. Von solchen, für die sie sich selbst hinzugeben bereit waren. Liebe und Zuneigung waren göttliche Gefühle, aber Rache konnte einen Mann quälen wie der Teufel, bis er sie gestillt hatte. Und wenn das sein eigenes Leben kostete. Novakis zog den Lederhandschuh an, faßte in einen der Käfige und stülpte seinem Lieblingshabicht die lede rne Haube über den Kopf. Mit dieser Lederkappe über den Augen würde er sitzenbleiben und in dem Augenblick, in dem man sie ihm abnahm, den Greifflug antreten. Seit Wochen war er auf eine Beute trainiert, die Geräusche von sich gab wie das Heulen des Sturmes um die wi nterkahlen Kronen der Eichen. – Egal ob er Nahrung im Zentrum des Tosens fand oder nicht, das Geräusch war der Pfad und sein Ziel. Während Novakis die anderen Habichte fütterte, ließ er seinen Lieblingshabicht hungern. Aber er redete ihm gut zu, als er ihn mit dem Transportkäfig in den Landrover setzte. Dann ging er noch einmal zurück ins Haus. Er stieg in den Keller hinunter, sperrte die massive Tür zum Gewölbe auf, wo die Weinfässer lagerten, und holte hinten aus dem großen, nicht mehr benutzten Tausendliterfaß die Kiste. Die Phiolen mit Nitroglyzerin hatte er schon abgefüllt. Eine davon legte er in ein Brillenetui, das er mit Watte gepolstert hatte. Das Etui schob er in die Sakkotasche. Dort würde das Nitro eine 81
mittlere Temperatur behalten und so wenig Erschütterungen wie möglich ausgesetzt sein. Wenn es trotzdem reagierte, dann machte die Explosion ihn nicht zum Krüppel, sondern riß ihn in Fetzen. Im Grunde befand er sich in einem Zustand, wo es ihm gleichgültig war, ob er am Leben blieb oder starb, ob er noch lange lebte oder nur noch kurze Zeit. Novakis sperrte alles ab, dann startete er den Landrover. Der Tank war voll. Er nahm nicht die neue Teerstraße durch das Tal zurück, sondern die alte über den Paß. Einmal hielt er an. Er beobachtete den Zug der Wolken, die vo n der Küste herankamen, und hörte dem Rauschen der Bergbäche zu. Langsam fuhr er we iter. Er hatte Zeit. Das Radio ließ er ständig laufen. So erfuhr er, daß die britische Delegation am Morgen in Arta gelandet war, jetzt in der Provinz mehrere Fabriken und landwirtschaftliche Güter besuchte und am Nachmittag gegen 16.00 Uhr den Heimflug nach London antreten würde. Als sein Habicht unruhig wurde, wandte Novakis sich an ihn und sagte: „Nur ruhig, Vogel.“ Er gab den Tieren nie einen Namen, er nannte sie immer nur Vogel. „Nur ruhig, Vogel, du darfst heute noch fliegen. Ich verspreche es dir. Es wird die schönste Beize unseres Lebens.“ Der Habicht kannte die Stimme seines Herrn und gab im Käfig unter der dünnen, weißen Decke fortan Ruhe.
Der Bus mit der britischen EG-Kommission kam pünktlich nach Arta zurück. Das Regierungsflugzeug, eine Airbus A 300 stand startbereit auf dem Vorfeld. Alles lief planmäßig ab. Der Delegationsführer hatte die Be82
suchstour abgekürzt, denn alle wollten am Weekend wieder bei ihren Familien in England sein. Der Transfer ging unbürokratisch vor sich. Aus Athen lagen entsprechende Anweisungen vor. Der Doppeldeckerbus fuhr bis zur Gangway. Es gab weder Paß- noch Zollkontrollen. Bei bester Laune – sie hatten gut gegessen, würden an Bord Drinks nehmen und in zwe i Stunden in London sein – gingen die vierzehn Delegationsmitglieder mit ihren rund fünfzig Helfern und Experten an Bord. Sie verloren sich in der zweihundertzwanzig Passagiere fassenden Kabine beinah. Die Stewardessen erwarteten sie, proper und hübsch. Die Drinks standen bereit. Nur würden sie erst nach dem Start serviert werden. Der Flugkapitän ging durch die Sitzreihen, begrüßte den einen oder anderen der Gentlemen mit Handschlag und sagte lässig: „Na, dann wollen wir mal, Herrschaften.“ Er verschwand durch die Cockpittür. Die zwe i riesigen GETurbinen wurden angelassen. Sie liefen nur kurz warm. Schon kam die Rollerlaubnis und wenig später, als der Airbus A 300 am Ende der Piste stand, die Startfreigabe. Der Kapitän schob die Gashebel vor. Die Turbinen heulten auf und rissen mit ihren je 25.000 kp Standschub den Riesenvogel nach vorn. Der Start nahm seinen üblichen Verlauf. Die Passagiere wurden in die Sitze gepreßt. Erst mußte auf nahezu hundertsechzig Knoten beschleunigt werden, ehe sich die hundertzwanzig Tonnen in die Luft heben ließen. Nach etwa einer halben Meile Rollstrecke näherte der Jet sich jenem Punkt, wo ein Startabbruch nicht mehr möglich war. Plötzlich erschütterte ein dumpfer Schlag das ganze Flugzeug, dann noch einer. Das linke Triebwerk explodierte zu einem Feuerball. Abgase und Kerosin machten die linken Bulleyes undurchsichtig. Im Cockpit wurde es hektisch. 83
„Triebwerkbrand.“ „Startabbruch.“ „Feuerlöscher.“ „In Betrieb.“ Die Piloten bremsten wie die Wahnsinnigen. Triebwerkausfall in der Startphase war nahezu tödlich. Aber zu einer Katastrophe kam es in jedem Fall, wenn es nicht gelang, die Maschine abzufangen und zu evakuieren, ehe das lastwagenweise in die Tanks geschüttete Kerosin Feuer fing. Die Bremsen faßten. Das intakte Triebwerk nahm den Umkehrschub an. Dadurch wurde der Airbus aber herumgerissen. Er begann sich zu drehen und geriet mit seinem Fahrwerk von der Betonpiste auf Gras. Zum Glück war das Gras hart. Die Räder sanken nicht zu tief ein. – Trotzdem kam es zu einem totalen Chaos. Bis die Feuerwehr das Flugzeug erreichte, stand alles in Flammen. Schwarzer Rauch quoll in riesigen Wolken zum Himmel. Draußen, am nördlichen Ende der Startbahn, schon in den Hügeln, wo das Schwemmland von der Ebene in die Berge überging, stand ein Mann mit einem Fernglas. Als er genug gesehen hatte, bestieg er seinen Landrover und fuhr in Richtung Joannina. Costas Novakis hatte seine Rache gehabt. Er wußte aber, daß es nur ein Teil davon sein konnte. Sein Hirn war wie betäubt. Die Frage war, wi e lange die Betäubung anhielt.
Costas Novakis betrat das feine Restaurant in der Plaka von Joannina nicht als erster und nicht als letzter. Um sein Alibi aufzubauen, mußte er sicherstellen, daß keiner seiner Freunde die Idee hatte, er – Costas – komme nicht direkt von seinem Gut. Also hatte er Hemd und Anzug gewechselt. Er sah aus wie einer Feinbügelanstalt entsprungen. 84
Obwohl es vorher die üblichen Drinks gab, blieb die Stimmung gedämpft. Es gab heute nur ein Thema. Weil Novakis sich nicht äußerte, fragte ein Freund, ein Professor für Chirurgie: „Was sagst du zu diesem Flugzeugunglück, Costas?“ „Schlimm.“ „Und welch ein Wunder. Sie wurden ein wenig angeschmort, aber sie kamen alle heil heraus.“ „Wie viele waren es?“ „Ich glaube, sechzig Passagiere und sieben vo n der Besatzung.“ „Nun ja, die ließen sich schneller herausholen, als wenn die Maschine voll gewesen wäre“, kommentierte Costas Novakis. „Ich hörte nur die Hälfte der Nachrichten. Was für eine Maschine war es?“ Ein anderer kam hinzu. „British Airways. Ein Airbus. Zweimotorig. Es erwischte den linken Motor.“ „Einen Rolls-Royce?“ „Das hätte noch gefehlt. Nein, es war ein General-Electric-Trieb werk. Nicht vorzustellen, diese Panne an einem britischen Flugzeug, und dann noch mit einem eigenen Triebwerk. Nein, der Airbus hat natürlich amerikanische Turbinen.“ „Seit wann“, stellte Novakis sich dumm, „fliegt British Airways von Arta nach London in Linie?“ „Ein Sonderflugzeug. Im Auftrag der Regierung.“ Novakis spielte seine Verblüffung recht gut. „Sind das diese Leute…? Mein Gott, doch nicht die EGKommission? Na, wenn das kein Reinfall wird.“ „Was hat die Panne mit uns zu tun?“ „Nichts, wenn es nur ein technischer Defekt war.“ „Was soll es denn gewesen sein?“ Ein dritter, der Polizeidirektor von Joannina, kam hinzu. „Ich hörte etwas von Vogelschlag.“ 85
„Du meinst, ein Vogel flog in das Triebwerk? Was muß das für ein mächtiger Vogel gewesen sein.“ Alle wandten sich an Novakis, von dem sie wußten, daß er Experte für Ornithogolie war. „Was sagt der Vogelkundler dazu?“ „Ein Adler mindestens“, antwortete Novakis. „Gibt es die hier?“ „Nur in den Bergen noch ein paar davon.“ „Es soll zwei Explosionen gegeben haben. Erst im vorderen Teil der Turbine, dann im hinteren. So, als gehe eine Sprengladung hoch.“ „Adler mit Sprengladung“, höhnte der Chirurg. „Was wollen uns diese verdammten Briten damit nur wieder einbrocken.“ „Nun, man wird das Wrack untersuchen.“ „Wonach? Nach Federn und Geflügelknochen?“ „Es gab ein rasendes Feuer. Alles ist Asche.“ „Die finden immer etwas“, erklärte der Polizeidirektor, der es wissen mußte. „Alles ist abgesperrt. Die Experten aus London sind schon unterwegs.“ „Schlimm“, sagte Costas Novakis mit unbewe gtem Gesicht. „Verdammt schlimm.“ Dann wurde das Essen serviert. Nach dem letzten, dem siebenten Gang, als man dem Metaxa in rauhen Mengen zusprach, wurde von der Katastrophe in Arta nicht mehr gesprochen. 12. Der Auslandsgeheimdienst Ihrer Majestät, der MI-6, hielt ständig Verbindung mit Interpol, mit der Sabotageabwehr in Athen und den Experten des britischen Amtes für Luftfahrt. In London wurden sofort die nach Hause zurückgekehrten Besatzungsmitglieder des Airbus und auch die Passagiere verhört. 86
Die Protokolle wurden mit den wenigen Fotos und Filmaufnahmen verglichen. Zufällig hatte der Kameramann einer griechischen TV-Station den Abschied der Kommission und den Start mit Camcorder festgehalten. Leider waren einige Meter schlecht belichtet und unscharf. Trotzdem rundete sich allmählich das Bild. Alle drei Stunden fand eine Sitzung der Sonderkommission statt, um neue Erkenntnisse auszutauschen und zu analysieren. Als der große Koordinator in Krisenlagen thronte Lord Babington, nur >B< genannt, in seine m Sessel. „Gentlemen“, eröffnete er die Abendkonferenz. „Was hat sich in den letzten Stunden ergeben?“ „Es war Vogelschlag“, faßte der Vertreter des Luftfahrtamtes in ein einziges Wort. „Dann muß das ein fliegender Dinosaurier gewesen sein. Möven, Raben, Bussarde, Falken, verdaut so ein Triebwerk meist im Stil einer Wurstmaschine.“ „Der Kapitän sah einen schwarzen Schatten, Sir.“ „Wie lang und wie breit?“ „Nicht übermäßig in den Abmessungen, Sir“, lautete die Antwort. „Im Quadrat vielleicht einige Yard.“ „Lächerlich“, warf jemand ein. „Bestenfalls war das ein Habicht mit ein paar Kilo Federn, Knochen und Muskeln.“ „Genau das ist das Rätsel, Gentlemen.“ Lord Babington, bekannt wegen seines Leibesumfangs und seines trockenen Witzes, fragte: „Was nun, wenn dieser Vogel Sprengstoff gefrühstückt hatte?“ Anstandshalber wurde gelacht, aber nicht sehr. Man kam zu dem Ergebnis, daß alles ein Zufall gewesen sein konnte. Allerdings sprengte es die Zufallsquote erheblich. „Und was, Gentleme n, wäre es bitte sonst gewesen?“ Darauf gab es zu dieser Stunde noch keine klare Antwort. Nicht einmal Vermutungen wurden gewagt. Denn man hatte noch kein 87
Motiv. Und ohne Motiv ging gar nichts. Also suchten sie nach einem Motiv. „Nächste Sitzung zweiundzwanzig Uhr“, entschied der MI-6Chef, was ungewöhnlich war. Um diese Zeit pflegte er in seinem Club zu speisen, zu trinken und Havannas zu qualmen, wie weiland Winston Churchill, mit dem er übrigens viel Ähnlichkeit hatte.
Aus Griechenland kamen neue technische Informationen. Die Unfallforscher der britischen Luftfahrtbehörde analysierten sie und berichteten darüber bei der Spätkonferenz. „Betrifft die Brandursache unseres Airbus A-dreihundert in Arta. Die Triebwerkreste wurden zerlegt. Man fand Abrisse be i Verdichterschaufeln, die typisch sind für äußerst massive Fremdkörpereinwirkung. Die abgescherten Turbinenschaufeln durchschlugen mit der Rasanz eines Geschosses das innere Gehäuse, dann die Führungsbleche des Mantelstromes und die Treibstoffleitungen. Sie drangen bis in die Tragfläche vor und schlitzten dort die Tanks auf. Die Tanks waren randvoll.“ „Dachte, sie seien ausströmsicher“, wurde eingewendet. „Das ja, aber immer nur bedingt. Auf dem Gebiet der Sicherheit wurde viel erreicht, aber immer nur bedingt. Natürlich kann man einem Flugzeug absolut unzerstörbare Treibstofftanks einbauen.“ „Und warum tut man das nicht? Ist es eine Kostenfrage?“ „Nein, Sir“, lautete die Antwort. „Eine Gewichtsfrage. Unzerstörbare Tanks müßten aus Panzerstahl bestehen. So ein Tank wäre schwerer als das ganze Flugzeug, und die Maschine käme nie vom Boden weg.“ Lord Babington drängte: „Die Splitter rissen also die Tanks auf. Warum brannte alles 88
gleich lichterloh?“ „Vermutlich war der eindringende Gegenstand mit Sprengstoff gekoppelt, Sir.“ „Ein eiserner Vogel, konstruiert wie eine Granate oder wie eine Rakete. Warum geben Sie nicht zu, daß eine Sam sieben oder eine Stinger in das Triebwerk geschossen wurde.“ „Weil“, beantwortete der Experte diesen Einwand, „Raketen oder Flakgranaten keine Federn haben, Sir. Man fand nämlich an unverbrannten Stellen des Triebwerkauslasses – es gibt immer solche Stellen – winzige Spuren von Haaren, Federn, Blut sowie Sprengstoffpartikel. Das Blut wurde analysiert. Es stammt ve rmutlich von einem Vogel.“ „Ist das alles?“ bohrte B weiter. Der Experte hatte noch ein letztes Beweisstück. Es entstammte der Auswertung eines Films aus der Kamera eines im Tower von Arta anwesenden TV-Reporters. „Ziemlich weit entfernt, über das Ende der Startbahn hinaus, in den Hügeln, wurde mit Teleobjektiv ein Fahrzeug fotografiert. Die Bilder sind unscharf, denn die Distanz vom Tower zum Objekt beträgt zwei Meilen und die Luft flimmerte. Das Foto wurde vergrößert. Man erkennt darauf einen Landrover, einen hochgewachsenen, schlanken Mann, der an einem Käfig hantiert. Der Käfig steht auf der Motorhaube des Geländewagens.“ Anhaltende Stille trat daraufhin im Konferenzraum im zweiten Stock der alten MI-6-Zentrale am St. James Park ein. „Später war der Landrover verschwunden“, kombinierte Lord Babington. „Leider ja, Sir.“ „Mann und Autonummer sind nicht zu identifizieren.“ „Leider nein, Sir.“ „Noch mehr so erfreuliche Geschichten aus Griechenland?“ Einer der Anwesenden hob den Bleistift, 89
„Nachrichten aus Belfast, Sir.“ „Dann lassen Sie es heraus. Übler als jetzt kann mir nicht mehr werden.“ „An der Leiche…“ „Wessen Leiche?“ „An Lord Hotwaters Leiche wurde folgendes festgestellt: Der Tod trat primär durch Verbluten ein. Aber sekundär durch die wechselweise Injektion von zu hohen Dosen an Beruhigungs- und Weckmitteln. Sie bewirkt Herzmuskelschädigung, was äußerst schmerzhaft sein und zu Selbstmord führen kann.“ „Diese Barbaren.“ „An der Umhüllung der Leiche aus schwarzer Isolierplastik fand man Muscheln, Sand und Reste von getrockneter Seewassergischt, also Salz, Plankton et cetera.“ Babington schaute sich hilfesuchend im Kreise um „Bringt uns das vorwärts, Gentlemen?“ „Die gefundenen Muschelreste deuten auf Muscheln hin, wie sie nur an der irischen Nordwestküste vorkommen. – Vorwiegend vorkommen“, schränkte der Mitarbeiter ein. „Aus den weiteren Komponenten, aus der Feinstruktur des Sandes und der Rekonstruktion der Zusammensetzung des Meerwassers – es ist relativ frei von Schwermetall, Tankerölrückständen oder Dünnsäure aus Verklappungen – dürfen wir schließen, daß die Küste, an der der Tote auf ein Wasserfahrzeug gebracht wurde, abseits der Schifffahrtslinien Hegt.“ Ungeduldig steckte der MI-6-Chef seine kaltgewordene Havanna wieder in Brand. Er zog heftig daran, paffte und äußerte ungeduldig: „Und?“ Dann paffte er wieder und murmelte aufs neue: „Und, und…?“ „Nördlich der irischen Achill-Islands gibt es so abgelegene Seegebiete. Außerdem beobachteten unsere Küstenwachboote, die in der Donegal-Bai stationiert sind, gewisse Aktivitäten vor Erris 90
Head.“ „Was für Aktivitäten?“ „IRA-typische. Sie entdeckten dort eine Insel mit einem verlassenen Leuchtturm. Zwischen der Insel und dem Festland findet häufiger unregelmäßige r Bootsverkehr statt. Die Insel scheint bewohnt zu sein, aber tagsüber läßt sich niemand blicken. Sie sind wie Raubtiere, die erst nachts ihr Versteck verlassen. Unsere Funküberwachung glaubt auch Morsesignale von dieser Insel geortet zu haben. Manchmal, bei Windstille, wurde schwarzer Dunst über der Insel ausgemacht. Offenbar die Abgase eines Diesel-Stromgenerators.“ Der MI-6-Chef delegierte die Sache an seinen Verbindungsmann zu jener Behörde, welcher in Britisch-Irland die Terrorbekämpfung oblag. „Aber halten Sie mich auf dem laufenden“, wünschte er. „War sonst noch etwas, Gentlemen? Hoffentlich nicht.“ Es lag noch eine Meldung vor. Man hielt sie jedoch für weniger bedeutend, weil sie zur Hälfte aus Klatsch bestand. „Noch lassen sich kaum Schlüsse daraus ziehen“, äußerte der zuständige Sachbearbeiter. „Es dreht sich um die Mutter dieser recht ominösen Lorna Jordan. Wir wissen, daß sie in Ulster lebt. Wir wollten sie aufsuchen, aber es hieß, sie sei verreist. Vermutlich wurde sie von der IRA in eines ihrer Erholungsheime nach Südirland verbracht, damit sie keinen Quatsch redet. In der Republik ist sie natürlich nicht zu finden. Unser Fahnder sprach mit einer Nachbarin. Nachbarinnen wissen oft mehr über einen als man selbst. – Die Nachbarin behauptet, daß Lorna Jordan nach dem Tod ihres Mannes einen Job in einem Hotel in Dublin annahm, als Hostess oder wie immer das heißen mag. Dort soll sie einen reichen Griechen kennengelernt haben. Als die IRA ihr dann immer mehr auf die Füße stieg, ging sie nach Korfu. Dort arbeitete sie ebenfalls in einem Hotel und soll ihrem Griechen wiederbegegnet sein. Angeblich wurde sie im September von 91
ihrer Mutter erwartet. Sie hatte die Absicht, ihre Tochter Diana hier in einem Internat einzuschulen.“ Der MI-6-Chef erwähnte das Naheliegendste: „Hat sie den Griechen geheiratet?“ „Die befragte Nachbarin behauptet es. Sie meinte aber auch, daß die Mulligans – Lorna Jordan ist eine geborene Mulligan – eine ziemlich verlogene Bande seien, denen man nicht alles glauben dürfe.“ „Name, Wohnort, Beruf des Griechen?“ „Sorry, Sir“, wurde geantwortet. „Daran arbeiten wir noch.“ „Das ist umgehend festzustellen“, forderte Babington. „Und wenn Sie alle Hotelgästelisten der letzten fünfzig Jahre durchakkern. Guten Abend, vielmehr, gute Nacht, Gentlemen.“ Lord Babington war nicht der einzige, der diese Nachtkonferenz ermüdend fand, aber er war der einzige, der sich zu gähnen erlaubte. 13. Nach einer nächtlichen Tausendkilometerfahrt vo n Nizza nach München stellte Robert Urban sein BMW-Coupe in der Tiefgarage ab. Die Maschine knisterte. Der Wagen stank wie ein abgehetzter Gaul, nur stank er nach öl, Benzindunst und Auspuffruß. Und ein wenig auch nach heißem Gummi. Urban schlug dem 633 CSI auf die Motorhaube, wie man einem Pferd auf den Hintern haute, nahm seine Reisetasche und fuhr mit dem Lift in sein Penthouse. Es waren nur drei Stationen. Parterre, erste Etage, dann die Etage Urban. Der Lift summte ohne Halt durch. Er war erst gewartet worden und lief wie gebuttert. Die Treppenhausbeleuchtung war so geschaltet, daß sie solange brannte, wie der Lift sich bewegte, und noch eine halbe Minute länger. Die Lifttür glitt auf. Urban schlenderte an der Glaswand 92
vorbei, die paar Meter über den Marmo r zu seiner Wohnungstür. Beinah wäre er über etwas gestolpert. Daß der Hausmeister oder seine Putzfrau blaue Müllsäcke liegen ließ, nahm er nicht an. Er schaute also genauer hin. Da bewegte sich der blaue Stoff. Etwas Helles schälte sich aus einem Schlafsack. Der Reißverschluß wurde von innen geöffnet. Eine weibliche Person krabbelte ins Freie. – Sie trug Jeans, darüber Hemd und Pullover. „Madame Lerond!“ staunte Urban. „Was sehen meine müden Augen.“ „Mach schnell, Robert“, sagte sie. „Sperr auf, ich muß dringend aufs Klo.“ Er sperrte die drei Schlösser auf. Sie drängte hinein, suchte, fand die richtige Tür und kam erst wieder, als er inmitten seiner Klamotten – Reisetasche, Trenchcoat, Legionärshut – im Sessel fläzte und an einem Bourbon nippte. „Krieg ich auch einen?“ Er deutete zu dem Renaissancetisch, auf dem alles stand: Flaschen, Gläser und Mixzutaten. Dabei musterte er sie von schräg unten. Sie sah aus wie ein Gullyputzer. „Geh dorthin, wohin du gehörst. Auf die Müllhalde.“ „Da war ich schon.“ „Dann fahr zur Hölle.“ „Da komme ich her.“ Er steckte sich eine MC an. „Und von dort ausgerechnet zu mir. Womit habe ich das verdient.“ „Du bist meine Bezugsperson.“ „Ich gab dir weder meine Telefonnummer noch…“ „Ich kenne Leute, die haben mir geholfen, anhand deines Autokennzeichens deine Adresse zu finden.“ 93
„Halfen sie dir auch, dich mit einer Zirkuskanone als lebende Kugel von der Riviera übers Gebirge nach München zu schießen?“ „Das hätte wohl mit einer sanften Landung nicht geklappt“, ging sie auf seinen Ton ein. „Ich bin Berufspilotin. Ich besorgte mir in Nizza eine Einmotorige und kam auf einem Sportflugplaz bei Fürstenfeldbruck gerade an, als sie das letzte Bier kippten.“ Kopfschüttelnd hörte er sich alles an. Er mußte es sich anhören. „Und das alles nur so, aus Jux und Tollerei?“ „Nein, nicht nur so.“ „Verdammt, warum bist du nicht schon in Nizza zur Sache gekommen?“ Sie erklärte es mit wenigen Worten. „Als wir zur Polizeipräfektur gehen wollten, hielt ein Auto neben uns. Zwei Männer stiegen aus und fragten irgendwas. Sie nahmen uns in die Mitte. Einer hatte eine Pistole, der andere ein Messer. Sie rieten uns, unauffällig einzusteigen. Das taten wir wohl oder übel. Sie fuhren bis zur Autobahn nach Genua. Dort warfen sie mich raus und suchten mit Diana das Weite.“ Urban zeigte sich völlig unbeeindruckt. „Wie sprachen die Männer?“ „Englisch.“ „Du kannst Englisch?“ „Nun ja, Pilotenenglisch. Ich habe die Funk- und Blindfluglizenz. Dazu braucht man Englisch.“ „Wie sahen die Burschen aus?“ „Ganz normal, wie du und ich.“ „Pardon, ich sehe nicht aus wie du. Dort ist mein Badezimmer. Da gibt es einen Spiegel. In den schau hinein, dann weißt du, was ich meine . Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?“ „In meiner Lage? Der Vater ermordet, der Übe rfall, das Kind 94
entführt, die hätten mir doch kein Wort geglaubt, sondern mich in den Knast geschmissen.“ „Na und“, bemerkte Urban. „Ein Segen für die Menschheit.“ „Wie meinst du das?“ fragte sie. Wenn sie trotzte, hatte sie eine Oberlippe wie die Moreau, ein wenig aufgeworfen. „Du kommst doch nur zu mir, weil du Schiß hast, oder?“ „Wenn Schiß dasselbe ist wie Angst, Todesangst, eh bien, dann trifft es zu. Ich bin aber auch in Sorge um Diana. Nicht, daß mir das Kind ans Herz gewachsen wäre, aber sie ist, wie soll ich sagen…“ „So hilflos“, half er ihr. Bevor sie sich niederließ und ihm die Polster versaute, nahm er sie beim Arm und zog sie ins Badezimmer. „Los, ausziehen. Die Lumpen verbrennen wir im Kamin.“ „Und was ziehe ich an?“ „Soviel ist immer im Haus.“ Er bugsierte sie unter die Dusche und stellte sie an. Die Dusche ging mindestens eine Viertelstunde lang, dann summte der Fön, und dann summte Madame Lerond: Sur le pont d’Avignon.
Sie hatte das große Badetuch um den Körper und das kleine Frotteetuch als Turban gewickelt. „Besser so?“ Obwohl man nur die Beine vom Knie abwärts und das, was oberhalb der Brüste vorhanden war, sah, strahlte sie die alte Energie und Bissigkeit aus. Objektiv gesehen, war sie keine Schönheit. Bestenfalls mittelmäßig. Schmale Stirn, lange Nase, schmale Lider und einen strengen Mund, aus dem zwei Reihen von Tigerzähnen blitzten. „Wenn wir Autos wären“, bemerkte Kitty, „wäre ich das alte 95
Modell. Ich brauche noch Super verbleit.“ Sie nahm das Glas und schluckte tüchtig. Was Trinken betraf, war sie alles andere als eine Zicke. „Erzähl!“ bat Urban. „Der Flieger liebt stets die Todesnähe “, sagte sie. „Aber glaub mir, ich habe schon Wahnsinnslandungen gemacht, im Nebel, bei null Sicht, bei Gewitter, im Hagel, im Sturm, auf winzigen Plätzen im Gebirge. Aber nie hatte ich solche Angst wie gestern in Nizza…“ Sie setzte sich. Durch die Körperbewegung ging das Tuch auf. Ihre Nacktheit war nicht zu übersehen. Sie hatte nichts gegen seinen Blick, sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich ihres Körpers schämten. Nur als sie sah, daß es ihn zu erregen schien, wikkelte sie sich wieder in das Tuch. „Das fehlte noch“, sagte sie. „Was?“ „Liebe machen. In meiner Situation wäre das reiner Selbstmord, oder?“ „Der Flieger liebt die Todesnähe“, erwiderte er. „Ich fliege alles, von Phantom bis Boeing und Helikopter.“ „Dann sind wir ja Fliegerkameraden oder so. Ein Herz und eine Seele.“ „Nun mal ohne Dramatik. Du willst dir und Diana helfen, deshalb bist du hier angetanzt. Nur aus diesem Grund. Und natürlich, um mich wiederzusehen. Aber mußtest du dich deshalb gleich mit Parfüm übergießen?“ „Dein Parfüm stinkt nach Puff“, sagte sie. „Es ist nicht meines.“ „Klar, es gehört der Dame, deren Klamotten du für mich übrig hast.“ Aus Erfahrung wußte er, daß eine Konkurrentin immer unbeliebt war, zehn hingegen weniger. 96
„Hier gehen so viele aus und ein.“ „Und keine hat dich bis heute an Land gezogen?“ „Es gab Versuche.“ „Wo? Im Bett?“ Er wechselte abermals das Thema. „Du warst länger als eine Woche mit Diana zusammen. Könntest du etwas beitragen, das uns weiterhilft?“ Kitty Lerond dachte nach. „Sie liebt Tiere.“ „Katzen, Hunde?“ „Vor allem Vögel. Sie konnte einen sitzenden Vogel greifen, ehe er wegflog. Sie nahm ihn auf ungewöhnliche Art, wie man eben einen Vogel festhält, mit flachen Händen und von hinten. Sie war sehr geübt darin. – Ich glaube, sie haben zu Hause gezähmte Vögel. Ihr Vater züchtet sie. Große Vögel.“ „Große Vögel?“ überlegte Urban. „Puter, Pfaue?“ Natürlich hatte er von der Airbuskatastrophe in Arta erfahren. Sogar mehr als andere. Angeblich waren ein Vogel und Sprengstoff im Spiel. „Adler, Falken, Habichte?“ „Greifvögel, denke ich.“ „Sie nannte den Mann Vater?“ „So verstand ich es. Wenn man sie fragte, wie sie heiße, sagte sie Diana Jordan Nomakis, Novakis oder Novalis.“ „Novalis war ein deutscher Dichter. Bleiben wi r bei Nomakis oder Novakis. Nannte sie einen Ort, eine Stadt?“ „Nein, sie sagte immer nur zu Hause.“ „Zu Hause“, kombinierte Urban. „Eine Engländerin mit Kind und ein Grieche. Die Entführung. Sie müssen sich geliebt haben,“ „Kommt selten vor“, meinte Kitty. „Soll es aber geben.“ „Ob so ein Mann aus einem Orkan von Gefühlen heraus sich rächen könnte?“ „An wem?“ 97
„Es ging durch die Zeitungen, daß am Absturz der King-Air die IRA beteiligt ist. Und es gibt genug Leute, sogar sehr vernünftige Leute, die den Engländern die Schuld an dem irischen Desaster zuweisen.“ „Ich kenne mich in der Politik nicht aus“, gestand Kitty. „Sie ist heute so und morgen anders, Warum also soll ich mich damit befassen.“ Urban führte das Gespräch wieder zu den Anfängen zurück. „Wieviel Geld bekam dein Vater?“ „Ein Taschengeld vielleicht.“ „Dann starb er für einen verdammt geringen Lohn.“ „Und ich?“ fragte sie bitter. „Ich sterbe völlig umsonst.“ Urban goß Bourbon ein, legte eine Platte auf und machte im Kamin Feuer. Es war schon vorbereitet. Er ging ins Bad, kam mit ihren dreckigen Sachen wieder und warf alles in die Flammen. Turnschuhe, Jeans, BH, Slip und Hemd. Dabei ging er in die Knie und sorgte dafiir, daß das Zeug einwandfei verbrannte. „Alles Wahnsinn, oder?“ sagte Kitty. „Wahnsinn hat, wie man behauptet, Methode.“ „Er ist wie eine ansteckende Krankheit, wie ein Strudel.“ „In einen Sog kann jeder hineingezogen werden“, fügte Urban hinzu. „Ist das in unserem Fall denkbar?“ „Ich möchte dir ein Szenarium ersparen, das dir heute nacht den Schlaf raubt. Denk daran, daß schon mal ein Krieg anfing, nur weil ein Mann am Broadway in New York mit dem Absatz auf einer Apfelsinenschale ausrutschte, und daß es zu einer der schlimmsten Naturkatastrophen kam, nur weil ein einsamer Pelztierjäger im hohen Norden sich im falschen Augenblick ein Lagerfeuer ansteckte. Es gibt keine Stabilität Alles ist labil, alles balanciert auf der Kippe, auf der Spitze. Alles ist jederzeit jeden Augenblick möglich.“ 98
,,Du machst mir Angst“, sagte sie. „Darauf trinken wir noch einen.“ Urban überlegte. Sollte er sofort London anrufen? – Nein, dazu war es noch zu früh. Aber die Zusammenhänge wurden jetzt deutlich. – Die Entführung von Lorna Jordan, der Mann, der sie liebte, ein Greifvogelzüchter. Der Airbus war durch Vogelschlag zum Wrack geworden. Man hatte einen Mann mit einem Landrover beobachtet – Noch etwas fiel ihm ein: Waren nicht beide Flugzeuge, die King-Air und der Airbus von einem Flugplatz in der Provinz Epirus gestartet? „Du willst mich loswerden“, befürchtete Kitty. „Ich denke nur nach.“ „Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Jetzt bin ich ausgelutscht, und du willst mich loswerden.“ „Ich bin nur müde“, gestand er. „Zwischen tausend Kilometer fliegen und fahren ist ein Unterschied.“ Er ging hinauf und warf ihr ein Kissen und eine Decke von der Galerie herunter. „Wenn das Telefon geht oder die Glocke, kümmere dich nicht darum. Was zu futtern findest du im Kühlschrank oder in der Vorratskammer. Gute Nacht.“ „Guten Morgen“, sagte Kitty. Die Sonne ging gerade auf.
Urban wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er sie neben sich fühlte. Sie war nackt, und wie es schien, hatte sie Übertemperatur. „Ich fand alles“, flüsterte sie. „Nescafe, Schinken, Eier, Toast, nur keinen Mann.“ „Jetzt hast du ihn.“ „Und ich will ihn haben.“ „Warum gerade diesen?“ 99
„Weil er gerade da ist.“ „Du bist nicht wählerisch, he?“ „Nun halt endlich dein verdammtes Lästermaul und laß uns abheben.“ Sie war Pilotin und Fluglehrerin. Sie wußte, wi e man mit einem Steuerknüppel umging. Sie fand ihn sowohl bei Tag als auch im Dunkeln. Sie ging nicht grob mit ihm um, sondern wie ein guter Flieger, feinfühlig, fast zärtlich. Sie hielt ihn dort, wo jeder Pilot den Steuerknüppel hatte, nämlich zwischen den Beinen. Doch dann überkam sie wohl die Lust am Kunstflug. Mit einem wilden Schrei zog sie de n Knüppel an sich und brachte sich und Urban in einen Vollgas-Steigflug mit Überschlag, auch Looping genannt. Aus dem Looping heraus machte sie eine Rolle, indem sie sich auf ihn wälzte. Dann ging es mit Power weiter. Sturzflug, abfangen, hoch zum Turn, abkippen, trudeln, erneutes Abfangen. Immer tiefer, immer höher und immer schneller. Und dann, als sie völlig atemlos war, immer langsamer, bis zum Stillstand. „War es das?“ fragte sie. „Ich würde sagen, zur Meisterin der französischen Nordostprovinzen reicht es allemal.“ „Du bist ein frecher Hund.“ „Aber brave Hunde magst du nicht.“ „Ich hasse sie.“ „Los, dann gib es ihm. Tritt ihn, schlage ihn, nimm die Peitsche.“ „Das würde dir so passen.“ Sie drehte sich um und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen. Irgendwo in der Ecke seines Kopfes begann es leise zu ticken. Die Zwerge traten zur Frühschicht an und begannen im Bergwerk seines Gehirns mit ihren Pickeln nach verborgenen Schätzen zu schlagen. Urban liebte das nicht allzusehr. Vor allem, wenn die Zwerge zum Akkord übergingen. – Er wußte aber aus Erfahrung, daß der Schmerz auch wie ein reinigendes Gewitter durch das 100
Hirn fegen konnte und daß er beim Abziehen starke Energie und Aktivität hinterließ und die Hellsichtigkeit eines Radars. Um diesen Zustand so rasch wie möglich herbeizuführen, griff er zum Beschleuniger. – Er war weiß und rund. Eine Tablette von Onkel Thomapyrin. Weil er fürchtete, daß es ein hartes Gefecht werden würde, löste er sie vorschriftswidrig in Whisky auf. 14. In einer kombinierten Aktion betraten Einheiten der britischen Antiterrorgruppe und das Küstenschutzkommando der irischen Republik die Insel. Sie fanden sie geräumt vor, hatten aber Fachleute bei sich, die auch dort etwas entdeckten, wo nichts war. Man nannte sie die Korinthenkacker, und sie gingen sofort ans Werk. Zunächst fertigten sie eine Grundrißskizze des alten Leuchtturms und der Nebengebäude an. Die einzelnen Zimmer beschrifteten sie mit Funk-, Aufenthalts-, Schlaf-, Büro- und Lagerraum. Im Keller gab es Räume, die sich als Zellen für Gefangene eigneten. Weiter hinten war die Küche, oben im Turm hatte sich offenbar ständig ein Wachposten aufgehalten. Die Funkgeräte waren abgebaut. Der Dieselgenerator stand im Freien unter einem Wellblechdach. Der Motor war kalt, aber sein Öl war noch nicht geliert. Es stank so, als sei es vor kurzem noch durch den Schmierkreislauf gepumpt worden. „Sie waren vor vierundzwanzig Stunden noch hier.“ „Aber jetzt sind sie fort, verdammt“, fluchte der britische Einsatzleiter. Verräterisch war immer der Abfall. Die Inselbesatzung hatte ihn verscharrt, aber die Hunde erschnüffelten ihn. Sie gruben danach und begannen zu sortieren. Was sie fanden, war ein Querschnitt durch die Zivilisation die101
ses Jahrzehnts. Leere Konservendosen, leere Fertiggerichtpackungen, Brotreste, Gemüseabfälle, Verbandszeug, Einwegspritzen, Ampullen, Flaschen für Bier, Wein und Whisky, Fischköpfe, Knochen von Schweine- und Hammelkoteletts, Mineralwasserbehälter aus Plastik, Kippen von Zigaretten und Zigarren. ,,Die ließen es sich gutgehen.“ „Aber einigen ging es weniger gut“ „Hotwater, meinen Sie, Sir.“ „Wir brauchen Hinweise darauf, was sie weiterhin vorhaben.“ „Das würde bedeuten, die Zukunft aus Abfall zu lesen, Sir.“ „Laßt es uns wenigstens versuchen.“ Die Leute von der Marine drängten zur Abfahrt. Sturm war gemeldet. „Sekunde noch“, sagte einer der Müllexperten und sortierte Papierfetzen. Dann winkte er dem Einsatzleiter. „Interessant, Sir.“ „Was ist das? Ein Kontoauszug?“ „Eine Quittung für Umtausch von Sterling in Valuta“ „Welche Valuta?“ „Unter Valuta verstehe ich ausländische Währung, Sir.“ „Was kann Pta bedeuten?“ „Pesetas. Spanisches Geld also.“ „Verdammt und zugenäht, was suchen die in Spanien? Erholung oder was? Sie sind mit Mann und Maus abgezwitschert. Aber sie können doch nicht alle nach Spanien gehen.“ „Dafür wäre die Summe, Pesetas im Wert von zweitausend Pfund, auch zu klein.“ Sie konnten rechnen, wie sie wollten. Die IRAGruppe hatte einen Vorsprung, der ausreichte, um gemütlich bis an jede Küste der Iberischen Halbinsel zu gelangen. Mit den wenigen Erkenntnissen, die sie gewo nnen hatten, verließen sie die Insel wieder. Die irische Polizei bekam eine Fotosammlung der in Frage kommenden IRA-Leute. 102
Große Hilfe war von den Republikanern nicht zu erwarten. Wenn sie die Häfen und Flugplätze überwachten, dann taten sie es nur pro forma. Denn erstens waren die IRA-Leute vermutlich schon außer Landes, zweitens würden die Südiren wohl eher durch Wegschauen aktiv als durch Festnahmen.
Zurück in London, wurde alles auf den Tisch gelegt. Er bog sich unter der Last der Fakten, aber die entscheidenden Hinweise fehlten. „Auf jeden Fall war eine Frau auf der Insel“, sagte einer von der Antiterrorgruppe. „Wir fanden Reste eines Schminkkoffers. Sie haben ihn zwar verbrannt, aber die Flasche mit dem Nagellack überstand das Feuer.“ „Jeder macht mal einen Fehler“, bemerkte Strong. „Nur wir machen sie am laufenden Band.“ Er ging in sein Büro und rief in München an. Nach längeren Versuchen bekam er Urban in Pullach an den Draht. „Auf der Insel fanden wir nur Wind, Regen und ein paar wilde Ziegen.“ „Und Spuren, hoffentlich.“ „Davon später“, sagte Strong, „Zunächst einmal meinen Dank und meine Anerkennung. Der Ti p mit Novakis war in Ordnung. Und der Tip mit den Vögeln auch. Da sich die Versicherung der Lloyd-Air hinter der Pflicht um Kundenschutz und Geheimhaltung verschanzte, half es uns, die Adresse des Griechen schneller zu finden. Wir konnten uns die Gästekartei eines bestimmten Dubliner Hotels viel gezielter vornehmen. Vor zwe i Jahren hielt dort der sogenannte Astur-Club seine Jahresversammlung ab. Diesem Club gehören Gentlemen an, die sich mit der Aufzucht und Ablichtung von Tagraubvögeln befassen. Ein ziemlich exklu103
siver Sport. Ich würde sagen, Golf ist eine Breitenbewegung dagegen. Der Name Astur kommt irgendwie aus dem Lateinischen und hat mit diesen Krummschnäbeln zu tun. – Kurzum, unter den Gästen war auch ein gewisser Costas Novakis, Gutsbesitzer aus Epirus. Stinkreicher Knabe. – Zur selben Zeit wurde Lorna Jordan auf der Angestelltenliste geführt. – Die genaue Adresse des Griechen bekamen wir mit Hilfe eines britischen Astur-ClubMitgliedes. Inzwischen ist auch die griechische Polizei informiert. Wir fliegen jetzt hin. In einer Stunde geht es los. – Nun habe ich ein Attentat auf Sie vor, Dynamit.“ „Ich bin raus aus dem Fall“, betonte Urban erneut „Vorgestern nacht waren Sie aber noch mittendrin. Haben Sie die letzte Information nicht vo n dieser reizenden Französin?“ „Ich würde sagen, das ist ziemlich privat.“ „Wir sind eine Institution, Commander, und keine Privatleute.“ „Mich kriegen Sie nicht mehr in Ihren Verein, Strong.“ „Nun ja“, der Brite schien aufzugeben. „Grüßen Sie mir Ihre Propellermaus.“ „Die bringt inzwischen wieder Flugschülern das Starten und Landen bei.“ „Okay, und wir marschieren in einer Stunde ab. Übrigens, wir kommen über München.“ „Na, dann gute Reise, Strong.“ Irgendwie zog der Engländer das Gespräch hin. Warum, zum Teufel, legt er nicht auf, dachte Urban. Dann ließ Strong es heraus. „Übrigens, es braut sich wieder etwas zusammen. Diesmal in Spanien.“ „Dann kann unser Habichtsexperte wohl nichts damit zu tun haben.“ „Vermutlich nahmen sie diese Frau mit, ihre Gefangene, Lorna Jordan. Können Sie mir erklären, warum? – Und warum entführten sie in Nizza die kleine Diana?“ 104
,,Familienzusammenführung“, bemerkte Urban bitter. „Wie wir diese Bande kennen, läuft da etwas mit Erpressung. Man spielt die Mutter gegen das Kind aus. Oder auch Mutter und Kind gegen den Vater.“ Daß Novakis nur der Stiefvater war, spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle. Aber wenn er aus Haß gegen die Engländer den Airbus zerstört hatte, dann konnte er durchaus erpreßbar sein. „Ist Ihnen jetzt klar, warum wir so dringend in Epirus gebraucht werden, Commander?“ „Sie ja, ich nicht.“ „Und was, zum Teufel, suchen die in Spanien?“ „Diese spanische Spur, ist die überhaupt gesichert?“ „Soweit Devisenquittungen das zulassen. Haben Sie nicht dicke Freunde bei der Madrider Brigada investigación, Commander?“ „Oberst Segovia. Wenn einer diese IRA-Leute in Spanien findet, dann er.“ „Können Sie in dieser Richtung etwas für uns fummeln, Commander?“ Urban wollte die Freundschaft mit Erneste nicht unnötig belasten. „Bitten Sie doch auf der offiziellen Schiene um Amtshilfe.“ „Okay, das werden wir.“ „Möglicherweise ist Spanien nur eine Irreführung.“ „Sie meinen, diese Bande reist über Spanien nach Rom, München oder nach Bonn? Möglich wäre alles. Warum soll der nächste Anschlag nicht überall stattfinden, nur nicht in Spanien.“ Dem konnte Urban wenig entgegenhalten. Al lmählich wurde ihm klar, daß die Sache kein ausschließlich britisches Problem mehr darstellte. „Spanien“, erwähnte Strong noch einmal. „Was halten Sie davon, wenn wir uns auf dem Flug nach Griechenland darüber unterhalten. Wir könnten kurz in München zwischenlanden und Sie mitnehmen.“ 105
„Ach, gehen Sie zum Teufel, Strong.“ „Genau dahin bin ich unterwegs“, sagte der Engländer und wußte, daß er Urban überrede t hatte.
Der Lear-Jet des MI-6 landete am frühen Nachmittag in Joannina in der griechischen Nordwestprovinz Epirus. Am Flugplatz wartete ein Armeehelikopter. Der griechische Einsatzleiter, ein Major der Abwehr, ließ sofort starten, als die drei Engländer und Robert Urban Platz genommen hatten. „Wir fliegen nur wenige Minuten“, erklärte er. „Eine kurze Information, Gentlemen. Seit Ihrem Anruf heute morgen halten wir Novakis’ Gut unter Beobachtung.“ „Ein ausgedehnter Besitz?“ fragte Strang. „Ja, ein Traumgut. Novakis besitzt praktisch ein ganzes Gebirgstal, oval wie eine Fischplatte, elf Kilometer lang und in der Mitte vier Kilometer breit. Zu dem Gutsbetrieb gehören eine Kellerei, eine Brennerei, eine Ölpresserei, eine Molkerei mit Käserei, eine Getreidemühle, Schweine- und Viehzucht, und jetzt baut er gerade eine Fabrik für Fleisch- und Wurstkonserven auf. Ein tüchtige r Mann.“ „Die Habichtzüchterei“, erwähnte Urban, „betreibt er als Ausgleichssport.“ Der Grieche bestätigte das. „Was man so hört.“ „Was hört man so noch?“ „Novakis ist ein grundseriöser Mann. Alter Landadel. Er heiratete spät, wie es hier in der guten Gesellschaft üblich ist. Politisch steht er mitte rechts, ein konservativer Liberaler. Er ist fromm, geht zur Kirche, zahlt brav seine Steuern. Das Wunschbild von 106
einem Bürger.“ „Die sind mir immer verdächtig, diese Musterknaben“, bemerkte Strong. „Hat die Familie Leichen im Keller?“ Der Grieche schien es wörtlich zu nehmen. „Davon ist mir nichts bekannt.“ Urban, der nur Gast war und sich zurückhielt, versuchte ihm zu erklären, daß es sich dabei um ein Sprichwort handle. Gemeint sei, daß jeder, de r hart arbeitete, auch die Ellbogen benutzte und auf seinem Weg zu Reichtum und Macht Verlierer zurückließ. Die Rothschilds hielten es da nicht anders als die Astors in den USA, die Krupps in Deutschland, die Onassis in Athen. – So war das mit den Leichen im Keller gemeint, „Genaugenommen“, gestand der Major, „um ehrlich zu sein, brauche ich nicht mehr zu wissen, als daß es hier oben einen Mann namens Novakis gibt. Normalerweise werden wir für andere Aufgaben eingesetzt. Für die Abwehr und die Bekämpfung von Staatsfeinden.“ „Dann liegt Novakis möglicherweise durchaus auf diesem Gebiet“, fürchtete Strong. Der schwere Sikorsky-Helikopter flog etwa in Kirchturmhöhe über das Land. Von oben wirkte es eher italienisch als griechisch. Sofern man unter dem typischen Griechenlandbild blaues Meer, weiße Häuser und schwarze Zypressen verstand. Das Land war hügelig, bewaldet, die Städte mehr ockerfarben. Es gab viele kleine Flüsse, die nicht ausgetrocknet waren, sondern Wasser führten. Und überall ragten irgendwelche Gebirgsketten empor. Unter den Gipfeln waren die Berge, wie meistens in Griechenland, verkarstet und mit Macchie überwuchert. Strong geriet ins Schwärmen. „Homer, die Ilias, die Odyssee!“ sagte er. „Zwar führten alle Wege nach Rom“, scherzte der englisch 107
sprechende Major, „aber immer über Griechenland.“ Mykene“, zählte Strong weiter auf, „Agamemnon, Menelaos, Achilles, die schöne Helena, die treue Penelope !“ „Und Costas Novakis“, riß Urban ihn aus seinen Träumen. Nicht, daß Urban ein ungebildeter Prolet gewesen wäre, aber er war hier, um einen Fall zu klären, und nicht, um die griechische Mythologie zu studieren. „Singe, o Göttin!“ zitierte der verzückte Strong den Dichter Homer. „Singe, o Göttin, vom Zorn des Peleiaden Achilleus und welch endloses Leid er schuf den Achäern.“ Der Major blickte Urban an. – Urban hob die Schultern. Aber dann ging der Hubschrauber herunter und landete bei einer Gruppe militärischer Fahrzeuge mit Tarnanstrich. Der Hauptmann des Kommandos erstattete Me ldung. „Keine besonderen Vorkommnisse. Auf dem Gut da unten herrscht das übliche Treiben.“ „Fahren wir zu Novakis“, befahl der Major.
Der Einsatz verlief normal, wenn man davon absah, daß Costas Novakis nicht zu Hause war. Der Major schnappte sich den Gutsverwalter. „Der Herr ist seit zwei Tagen verreist“, erfuhren sie. „Sagte er, wohin er reist?“ „Mit keinem Wort. Es ging zu schnell. Er bekam völlig unerwartet Besuch und folgte den zwe i Herren, man kann sagen, auf dem Fuße.“ „Wie sahen die Besucher aus?“ Der Gutsverwalter schaute sich die Engländer an, als gebe es da Ähnlichkeiten. „Ja, wie eigentlich. Was soll ich sagen.“ 108
„Möglichst die Wahrheit.“ „Sie trugen Anzüge in Grau. Sie waren mittelgroß, eher kräftig und hatten Barte.“ „Das Haar?“ „Sie trugen Hüte.“ „Die Bärte?“ fragte Urban. „Wohl eher heller.“ „Als?“ „Hierzulande Bärte im allgemeinen sind.“ Strong zeigte ihm Fotos. Der Verwalter war unsicher. Dann fragte Strong: „Fährt Novakis einen weißen Landrover?“ „Ja, es gehört einer zum Gut.“ „Wo hält er seine Falken?“ „Habichte. Es sind Habichte.“ „Als ob das jetzt nicht scheißegal wäre“, murmelte Strong. „Wo sind die Viecher?“ „Draußen, weiter oben zum Paß hinauf.“ „Führen Sie uns hin, Mann!“ „Jetzt, so spät? Es wird bald Abend.“ „Wenn wir weiter hier rumstehen, wird es noch später. Aber nicht nur, weil es Abend wird“, befürchtete Strong. Der Verwalter fuhr voraus, sie hinterher. Erst folgte die Straße einem Bach. Dann kam eine Brücke und die Steigung. Weiter oben stand ein Bauernhof oder das, was man bei Gütern Vorwerk und bei Festungen Außenfort nannte. Sie rollten in den offenen Hof hinein. Der Verwalter führte sie ins Haus, wo die Habichte normalerweise hausten. Die Käfige waren alle offen und leer. „Wie viele Tiere hat er?“ „Zehn oder mehr.“ „Er konnte sie nicht alle mitnehmen“, meinte Urban. „Dazu 109
braucht er einen Raubtiertransporter.“ „Hielt Novakis sich oft hier oben auf?“ wollte Strong wissen. „In letzter Zeit ja“, antwortete der Verwalter. Während drinnen diskutiert wurde, ging Urban hinaus und über den Hof zu einem Gerät, das ihm sofort aufgefallen war, als sie hereinkamen. Unter dem Schuppendach stand auf gemauertem Sockel ein verbeultes rostiges Rohr von gut zwe i Metern Durchmesser. Am Ende des Rohres war ein Vielblattventilator angeflanscht, der über Scheiben und Keilriemen von einem LkW-Diesel angetrieben wurde. Hinten im Schuppen war alles voll vo n vergammelten Kraut- und Rübenresten, von Vogelfedern und Kleingehacktem. Es stank wie die Pest. Urban, mit technischer Phantasie begabt, kam zu dem Schluß, daß Novakis hier seine Testversuche vorgenommen hatte. Der Ventilator im Rohr sollte ein Düsentriebwerk simulieren. Offenbar hatte er seine Habichte dazu gebracht, hineinzufliegen. Die Vorrichtung war vermutlich mittels Sprengstoff Zerstört worden. Wahrscheinlich hatte Novakis seine Vögel damit gespickt. Nach Durchführung der Versuche war Novakis zur Tat geschritten und hatte Erfolg gehabt. – Nun waren er und seine Vögel verschwunden. Wie es hieß, sei er abgeholt worden. Wer nicht in Betracht zog, daß Novakis unter dem Druck einer Terroristengruppe seine flugzeugkillenden Habichte anderswo zum Einsatz bringen sollte, der handelte grob fahrlässig. Die Engländer und die Griechen kamen aus dem Haus. Urban unterrichtete sie. Sie schauten sich die Vorrichtung an, bekamen lange Gesichter, und der Grieche sagte: „Für uns bestand leider kein Anlaß, diesen Mann zu beobachten.“ „Keiner muß sich einen Vorwurf machen, Major“, erwiderte 110
Urban. „Ich würde mir gerne noch einmal das Haus ansehen. Vielleicht gibt e s irgendwo eine versteckte Giftküche.“ Sie suchten im Parterre, im Obergeschoß, unter dem Dach, dann im Keller und im hinteren Keller. Dort, in einem alten Gärbottich, der offenbar ausgedient hatte, entdeckte Urban eine Flasche . Auf dem kaum lesbaren Etikett stand etwas in griechischen Buchstaben. Der Major entzifferte es und reichte Urban schulterzuckend die Flasche zurück. ,,Nilroglyzerin.“ Von da an stellten sich nur noch zwei Fragen. Der ganze Fall war auf diese zwei Fragen reduzierbar: Wo waren die Terroristen – und was hatten sie vor? Die Fahndung wurde europaweit ausgeschrieben. 15. Die Kommandos der IRA bewegten sich in drei Gruppen durch Spanien nach Süden. Die Gruppe eins, bei der sich Lorna Jordan befand, wurde von McConnor angeführt. Sie hatten in Frankreich einen gebrauchten Citroen Break gekauft und in der Nähe von Biarritz, bei Irun, die Grenze überquert. Da sie sich sicher fühlten – wer ahnte schon, daß Sie eine Operation in Spanien planten – hatten die drei Männer im Citroen sich kaum getarnt. Sie verwendeten lediglich gefälschte britische Pässe. Unterwegs hatte es die erwarteten Probleme mit Lorna Jordan gegeben. Man hatte sie mit in Te e aufgelösten Barbituraten ruhig gestellt. Doch auf Dauer konnte das keine Lösung sein. Deshalb nahm McConnor sich die ehemalige Genossin vor. „Hör zu, Lorna“, sagte er. „Wir können dich so mit Drogen vollpumpen, daß du dort hingehst, wo Mike Jordan schon vor dir 111
hinging, nämlich über den Jordan.“ Genüßlich ließ er das Wortspiel wirken, ehe e r fortfuhr: „Allmählich glauben wir dir, daß du keinen Schimmer davon hast, wo unser hochverehrter Mike, Ehre sei seinem Gedenken, die Waffen und das Geld versteckte. Und du kennst uns ja. Wir sind keine Unmenschen. Leben und leben lassen, in Freiheit, Wonne und Glück. Du bist eine hübsche Frau und hast noch ein langes Leben vor dir. Du könntest in den Genuß dieses Lebens kommen, wenn du genau das tust, was wir von dir erwarten.“ „Wo ist Diana?“ war ihre einzige Reaktion. „Jetzt stellt sie sogar noch Forderungen!“ rief der Fahrer nach hinten. Doch McConnor hatte offenbar einen humanen Tag, Vielleicht lag es auch an seiner guten Stimmung. Sie waren in einem aufregend schönen Land unterwegs und hatten phantastische Pläne. Die Welt war ahnungslos, was auf sie zukommen würde. Wenn es klappte, dann hauten sie diese verdammten Engländer damit glatt aus Ulster heraus. „Deiner Tochter geht es gut“, sagte McConnor. „Du darfst mich beim Wort nehmen. Und das heißt was. Noch nie hat McConnor sein Wort gebrochen, weder im Guten noch im Bösen. Schätze, du bekamst ein paar Beweise davon ab. – Also nochmal, Baby. Wir haben etwas vor, das den verdammten Britenärschen Feuer unterm Hintern machen wird wie noch nie etwas zuvor. Wenn du mitmachst, dann wirst du alles wiederkriegen, was dir in den letzten Wochen vorenthalten wurde. Diana, deinen Ehemann und die Freiheit. Einverstanden?“ Weil sie schwieg, kam McConnor so in Wut, daß er brutal ihr Handgelenk verdrehte. „Hast du zugehört?“ Sie nickte. „Hast du mich verstanden?“ Sie nickte wieder. 112
„Machst du mit?“ Da nickte sie zum dritten Mal. An der Straße nach Burgos bezogen sie ein kleines Hotel. Es war dunkel, als sie ankamen. Beim Essen wurde McConnor ans Telefon gerufen. Die Männer der zweiten Gruppe kannten McConnors Fahrplan und die Namen der Hotels, wo sie übernachten würden. „Bei uns ist wieder alles klar“, sagte Donally. „Was war unklar? Macht er Probleme?“ wollte McConnor wissen. „Das nicht, aber wir liegen im Plan zurück. Wir hatten Ärger mit der Lichtmaschine. Mußten sie tauschen. Jetzt fahren wir die Nacht durch.“ „Dann bis morgen.“ „Okay bis morgen.“ Die Gruppe von Donally war mit einem Charterflugzeug vom süditalienischen Brindisi nach Barcelona geflogen. Dies nach einer stürmischen Motorbootüberquerung der Adria. In Barcelona hatten Sympathisanten einen Ford-Kombi bereitgestellt. Auf der Autobahn vor Valencia war ihnen der Strom weggeblieben. Zum Glück trieb den Ford ein batterieunabhängiger Diesel an. Sie hatten eine Werkstatt aufgesucht. Der Mechaniker hatte in Valencia eine neue Lichtmaschine besorgt und eingebaut. Zeitve rlust fünf Stunden. Diese Zeit mußten sie durch Nachtfahrt wieder einholen. Wenn sie Erfolg haben wollten, dann mußten sie pünktlich zur Stelle sein. Denn auch die andere Seite würde den Fahrplan auf die Minute einhalten. Hinten saß Novakis, und noch weiter hinten im Kombi rumorten die letzten zwei Habichte in ihren zugedeckten Käfigen. „Deine Geier sollen gefälligst die Schnäbel halten“, sagte Donally. 113
„Die Tiere sind durcheinander“, erklärte Costas Novakis. „Dann beruhige sie.“ „Ich versuche es ja.“ „Gib ihnen Opium ins Futter.“ „Gern“, sagte Novakis. „Das würde euch so passen. Erst die Arbeit, dann der Genuß.“ Novakis versuchte eine Erklärung. „Die lange Autofahrt, dann die Reise im Boot, der Flug, das alles irritierte die Vögel. Sie haben keinen Verstand, nur Instinkt. Den Instinkt kann man nicht beeinflussen.“ „Du trimmst sie gefechtklar“, forderte Donally. „Und du spurst, oder es ist aus.“ „Mein Leben bedeutet mir nichts mehr.“ „Und das deiner Frau?“ „Sie ist tot.“ „Und wenn sie gar nicht so tot wäre, sondern nur entführt, was dann?“ „Warum“, fragte der Grieche, „quälen Sie mich auch noch – und wie kamen Sie überhaupt auf mich?“ „Ganz leicht“, sagte der IRA-Mann. „Die Vögel, dann der Anschlag auf die Regierungsdelegation. Es war nicht schwer, die letzte Zeile auf den Reim zu bringen.“ „Was seid ihr bloß für Kanaillen“, entsetzte der Grieche sich. Darüber brachen die Iren in helles Gelächter aus. „Wer von uns beiden?“ fragte Donally, als er sich wieder gefangen hatte, „wollte eigentlich den Ai rbus mit sechzig Menschen an Bord in der Luft zerblasen. Du oder wir?“ „Das ist etwas anderes“, brach es aus Novakis heraus. „Klar, es gibt das Besondere und das ganz Besondere. Der eine lebt für seine persönliche Rache, der andere für die Freiheit seiner Nation. Das ist der Unterschied.“ „Nein“, sagte Novakis nach einer Pause. „Nichts unterscheidet uns. Wir sind alle Bestien.“ 114
„Die nur das eine wollen“, setzte Donally hinzu. „Sie wollen irgendwie überleben.“ Sie fuhren durch bis zum Nachmittag. Dann hatten sie die Ve rspätung eingeholt. Sie erreichten das Ziel der Tagesetappe, eine kleine Stadt am Golf von Almeria. Abends rief McConnor an. „Wir sind in Cordoba“, sagte McConnor. „War ‘ne verdammt lange Etappe.“ „Treffpunkt morgen wie vereinbart.“ „Was von der dritten Gruppe gehört?“ fragte Donally. „Ich dachte, ihr hättet Kontakt.“ „Er kam nicht zustande durch unsere Panne.“ „Zum Teufel, wo stecken die?“ fragte McConnor.
Die dritte Gruppe des IRA-Kommandos saß in Portugal fest. Es lag zum Teil daran, daß keiner von den Männern im Umgang mit sechsjährigen Mädchen Übung hatte. Dazu kam, daß die Kleine störrisch war und nie das machte, was man von ihr verlangte. Sie schrie, wenn man sagte; Sei still! Sie war überdreht und schlief selten. Sie aß nicht, wenn man ihr etwas gab, und sagte nicht, ich muß aufs Klo, sondern zog die einfachere Lösung vor. „Verdammt, sie hat schon wieder in die Hose gepißt“, schimpfte Oliver, der zweite Mann des Teams, der hinten neben Diana saß und alle Hände voll mit ihr zu tun hatte. „Laß sie drauf sitzen“, riet der Fahrer ihm. „Verdammter Bastard, du bist sechs Jahre alt!“ schrie Oliver sie an. Diana heulte los, und als Oliver sie füttern wollte, biß sie ihm in den Finger. „He, spinnst du!“ rief er. Aus dem Daumen floß Blut, und Diana lachte zum ersten Mal. 115
„Dieses Biest treibt mich in den Wahnsinn.“ „Was machen wir mit ihr an der Grenze?“ Die Grenze war nicht mehr weit. Sie wußten sich nicht anders zu helfen. Sie fesselten und knebelten Diana und versteckten sie zwischen den Koffern hinten im Lieferwagen in einer Ecke. Dank der gelockerten EG-Bestimmungen durften sie ohne lange Formalitäten mit ihrem englischen Bedford mit Londoner Kennzeichen nach Spanien einreisen. Dann fing das Malheur, das sie in Lissabon aufgehalten hatte, wieder an. Sie hatten verunreinigtes Benzin getankt. Der Dreck hatte sich durch die Treibstoffleitung über die Pumpe bis zum Vergaser vorgearbeitet. Jetzt machte er ihnen das Leben schwer. Sie retteten sich bis Merida. Dort hielten sie vo r einer GMVertretung. Die hörten sich das Problem an. „Da hilft nur, den Tank abzulassen, zu spülen, Leitungen durchzublasen, Vergaser und Pumpe zerlegen und reinigen.“ „Wie lange dauert das?“ „Bis morgen abend, weil ich erst morgen früh damit anfangen kann. Hab keinen Mechaniker frei und auch keinen Satz Dichtungen.“ So lange Zeit hatten sie nicht. „Und die andere Lösung, Maestro?“ „Ich weiß keine andere, Senores.“ „Es gibt immer zwei, Chef.“ Der Meister kratzte sich im Brusthaar und meinte: „Vielleicht reicht ein Filter vor der Pumpe.“ Der Filter wurde montiert, der Vergaser grob ausgeputzt. Der Motor lief. Weiter ging’s. Sie kamen einigermaßen voran. Es war schon spät. Sie hatten noch zweihundert Kilometer bis Sevilla und dann noch einmal hundertachtzig bis La Linea. Aber kein Stück Autobahn. 116
Ab 19.00 Uhr warteten die anderen. „Schaffen wir’s?“ fragte Thomson. „Wenn die Karre läuft, schon.“ Jetzt wurde Diana wieder quengelig. „Sie hat Fieber“, befürchtete der Mann, der sich um sie kümmerte. „Das Biest ist ein Genie der Verstellung. Mal friert sie, dann ist es ihr zu heiß. Dann hat sie keinen Hunger, dann wieder kaut sie an ihren Fingern herum.“ „Kümmere dich nicht um sie“, sagte Oliver. „Drück drauf, und sieh zu, daß du dich an die Verkehrsregeln hältst. Die Polizei macht hier kurzen Prozeß.“
Es war bereits 21.00 Uhr, als sie endlich an der Plaza der kleinen Stadt nahe der Küste eintrafen. Sie fuhren einmal herum und sahen die vo n McConnor bezeichneten Autos parken. Den Citroen Break und den Granada-Kombi. In jedem Wagen saßen zwei Personen. Im Citroen ein Mann und eine Frau, im Ford zwei Männer. Da jeder Wagen normalerweise mit vier Persone n besetzt war, schlössen sie daraus, daß McConnor und Donally sich in einer Bodega aufhielten. Sie parkten ebenfalls. Einer blieb bei Diana, zwe i suchten die nächste Kneipe ab und fanden ihre Kameraden. Sie hockten in einer Nische und schlangen ein Abendessen hinein. McConnor blickte sie vorwurfsvoll an. „Setzt euch. Was hielt euch auf?“ „Erst der Balg, dann der Wagen.“ „Den Balg seid ihr bald los.“ „Der Bedford läuft wieder.“ 117
„Für den Rückzug“, entschied Donally, „nehmen wir den Citroen Break. Der ist schneller und bietet Platz genug für uns alle. Parkt die Autos beim Campingplatz. Und beseitigt alle Spuren. Papier, die leeren Flaschen, die Kippen im Ascher und vo r allem Fingerabdrücke. Nehmt zum Abwischen Benzin.“ McConnor schaute auf die Uhr. „Zeitvergleich, Jetzt ist es einundzwanzig Uhr fünfunddreißig. Wenn alles glatt marschiert, ist es in elf Stunden soweit. Und morgen um diese Zeit sind wir längst in Madrid untergetaucht.“ „Wie geht es weiter?“ wollte Thomson, der Fahrer des Bedford, wissen. McConnor nannte ihm den Namen einer Pension gleich um die Ecke in der Calle Ambrosia. „Dort bringt ihr das Kind hin, und wir bringen die Frau. Drei Mann bleiben im Haus zur Bewachung. Der Patron weiß Bescheid. Er ist Sympathisant von uns. Alter Franco-Kämpfer. Aber laßt euch nicht blicken. Paßt auf die Frau und das Kind auf. Wenn Mutter und Tochter wieder glücklich vereint sind, werden sie wohl keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Wir übrigen sechs und dieser Vogelzüchter beziehen Position. Sobald alles vorbei ist, bringen wir ihn zu seiner Familie.“ Donally erhob einen Einwand. „Er kann uns beschreiben und uns die Polizei auf den Hals hetzen.“ „Damit würde er die Polizei auch auf sich selbst hetzen. Er hat genug Dreck am Stecken. In Griechenland und erst recht hier. Sie werden alle drei gefesselt. Der Patron des Hotels wird sie erst zufällig morgen abend entdecken. Dann beträgt unser Vorsprung zehn Stunden, das sind fast tausend Kilometer.“ „So ist es geplant, und so wird es gemacht.“ „Habt ihr mit dem Falkenheini gesprochen?“ „Ja, mit Hammer und Meißel.“ „Was meint er?“ 118
„Es ist durchführbar. Er garantiert, daß sein Habicht das Ziel auf eine halbe Meile wittern wird. Und es ist nur etwas mehr als eine halbe Meile.“ „Und das Ziel, wird es pünktlich sein?“ „Auf die Minute. Aus Tradition und um ein Zeichen der Zuverlässigkeit abzugeben. Die Bedeutung solcher Herrschaften besteht in ihrer Leitbildfunktion.“ Sie speisten in Ruhe zu Ende. Dann gingen drei von ihnen hinaus. Drei andere kamen herein. Sie wurden ebenfalls präzise unterrichtet. Ab 23.00 Uhr lief die Operation. Kurz vor Mitternacht durfte Lorna Jordan ihre Tochter endlich wiedersehen. Es war das erste Mal, daß Diana sich von ihrer alten Gummipuppe trennte, sie achtlos beiseite warf und ihre Mutter umarmte. 16. Auf dem griechischen Provinzflugplatz von Joannina landete der Armeehubschrauber beim letzten Licht. Die Spezialisten der britischen Antiterrorgruppe und der BNDAgent Robert Urban stiegen aus. Strong schaute sich um. „Wie wär’s mit einem Tee?“ „Darf auch Kaffee sein“, sagte Urban. „Aber egal was es ist, es löst unser Problem nicht.“ Sie schlenderten auf die Bar im Abfertigungsgebäude zu, als einer aus der Gruppe Strong ansprach. „Ich muß dringend zurück nach London“, sagte er. „Sie wissen warum, Sir.“ „Ach ja“, schien Strong sich zu erinnern, „Aber das klappt not119
falls auch ohne Sie, Sergeant.“ „Ich bin eingeteilt, Sir.“ „Die nehmen auch einen anderen.“ „Dann kommt der ganze Personalplan durcheinander, Sir“, entgegnete der Spezialagent. „Nun, eine Stunde hin oder her, was macht das aus.“ „Ich muß Koffer packen, baden, mich umziehen und würde gerne noch eine Runde schlafen, Sir. Um sechs Uhr habe ich mich im Buckingham Palace einzufinden.“ Es hätte gegen alle Grundsätze von Strong verstoßen, wenn er einen Beamten daran gehindert hätte, seinen Dienst nach Vo rschrift auszuüben. Er blieb stehen und wandte sich an seinen deutschen Kollegen. „Keinen Kaffee. Vielleicht ist an Bord noch etwas in der Thermos, wenn wir alles zusammenschü tten.“ „Sie fliegen also direkt nach London.“ „Wir setzen Sie in München ab. Dabei bleibt es. Der Agent kommt schon noch rechtzeitig zu seiner geliebten Königin.“ Da fiel Urban etwas ein. „Sie macht eine Weltreise?“ „Nur Saudiarabien und Indien stehen diesmal auf der Speisekarte.“ Sie hatten kehrt gemacht und marschierten auf den spitznasigen weißen Lear-Jet zu, als Urban glaubte, der Blitz treffe ihn. Er packte Strong am Sakkoärmel. „Gelten noch die alten Traditionen?“ „Wenn sie gut sind, halten wir eisern daran fest“, versicherte Strong. „Die Königin besucht auf ihren Weltreisen doch stets die britischen Auslandsstützpunkte.“ „Nun, was davon übrig blieb. Malta ist weg, Aden beim Teufel…“ „Gibraltar“, sagte Urban. „Gibraltar gibt es noch.“ 120
„Na ja, Gibraltar schon. Salut der Flotte, Empfang beim Gouverneur, eine Stunde Aufenthalt.“ „Die IRA-Leute“, erläuterte Urban seine Gedanken, „sind in Spanien untergetaucht, und es ist anzunehmen, daß sie Costas Novakis und seine Habichte bei sich haben.“ Strong blieb ruckartig stehen. „O verdammt und zum Teufel!“ fluchte er völlig unenglisch. „Klar, sie wollen nach Gibraltar. Warum habe ich nicht daran gedacht, alter Junge.“ Der Jet hatte Funkverbindung mit MI-6-Headquarters. Strong gab das Ergebnis in Epirus durch und dazu eine Lageanalyse. Dann wandte er sich an den Kapitän. „Sofort starten!“ „Es bleibt bei der besprochenen Route?“ „Nein.“ Strong setzte sich in den Sessel neben den Mann, der die Königin auf ihrer Reise als Leibwächter zu begleiten hatte. „Sie können ja später bei Ihrer Majestät zusteigen.“ „Moment bitte, soll das etwa heißen…?“ „Richtig. Wir fliegen nach Gibraltar“, antwortete Strong.
Flugzeit drei Stunden zwanzig, hatte der Kapitän gesagt. Ankunft in Gibraltar kurz nach 22.00 Uhr. Strong, der hochrangigste Engländer an Bord, telefonierte über die NATO-Relaisstationen mit London und Gibraltar. Dazwischen kam er wieder zurück, fläzte sich neben Urban und versuchte den abgebrühten Profi zu spielen. „Wissen Sie, wieviel Zeit uns bleibt?“ „Ungefähr zehn Stunden“, schätzte Urban. „In diesen zehn Stunden müssen zwei Formationen organisiert und in Bewegung gesetzt werden: verstärkte Sicherheitsmaßnah121
men auf dem Flugplatz in Gibraltar und die Suche nach dieser IRA-Bande.“ „Ja, es bleibt einiges zu tun“, fürchtete Urban. „Aber was, wenn sie etwas ganz anderes planen und an einer anderen Stelle zuschlagen?“ „Die IRA schlägt immer dort zu, wo sie Britannien am empfindlichsten trifft“, meinte Urban. „Ich fürchte nur, sie werden sich nicht nach Gibraltar hineinwagen.“ „Sie müssen es, wenn sie dort aktiv werden wollen.“ „Nicht unbedingt“, behauptete Urban. „Oder würden Sie, wenn Sie schon heiße Suppe essen müssen, in den Topf steigen und sie dort löffeln oder sich die Suppe im Teller munden lassen?“ „Ich verstehe wirklich nicht, was Sie damit meinen, Commander.“ „Zunächst“, antwortete Urban, „werden die Akteure vermeiden, vom britischen Grenzposten erkannt und eliminiert zu we rden.“ „Aber ein Anschlag läßt sich, wenn überhaupt, nur von Gibraltar aus durchführen. Ein Schlag in Gibraltar ist nur von Gibraltar aus möglich.“ „Wann“, fragte Urban, „waren Sie zum letzten Mal auf der Festung?“ Strong rechnete. „Mag ein paar Jahre her sein.“ „Wie reisten Sie nach Gibraltar?“ „Letztes Mal mit dem Schiff. Vorher mit de m Flieger.“ „Aber nie mit dem Auto.“ „Welcher Engländer reist schon durch das unfreundliche Spanien nach Gibraltar ein. Außerdem war bis vor wenigen Jahren die Grenzstation La Linea geschlossen. Die Spanier hatten einen Zaun gebaut und das Tor versperrt.“ „Dann allerdings“, seufzte Urban, „können Sie es nicht wissen.“ „Ich weiß nur, daß wir in Gibraltar jeden Mann auf die Beine bringen müssen, um diese IRA-Bande zu sprengen.“ 122
„Was ich insofern als unnötige Horrormache und Kraftvergeudung ansehe, als ein Anschlag auf das Regierungsflugzeug auch ganz anders zu machen ist“, kritisierte Urban. „Sie meinen, sie starten die Habichte in Spanien und lassen sie bis Gibraltar fliegen.“ Urban gab eine Lageschilderung. „Wenn Sie vom Festland her nach Gibraltar reisen, fahren Sie in La Linea über die Grenze, dann eine schnurgerade Straße entlang. Nach ungefähr einem Kilometer kreuzt eine Piste, so breit wie vier Autobahnen, im rechten Winkel die Straße. Wenn Sie Pech haben, dann ist die Schranke zu. Die Ampel zeigt Rot. Sie stehen da, schalten den Motor ab und warten. Mit einemmal dröhnt mit ohrenbetäubendem Lärm ein riesiger Düsenjet vor Ihrer Nase vorbei. Denn die Straße von La Linea nach Gibraltar kreuzt genau die Startbahn des Flugplatzes.“ „Das wußte ich nicht, habe ich nie bemerkt“, gestand Strong. „Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Distanz von Spanien zum Flugplatz von Gibraltar?“ „Tausend Meter“, schätzte Urban. „Wieviel Yards entspricht das?“ „Etwas mehr. Ein Yard sind ja nur einundneunzig Zentimeter.“ „Sie mit Ihrem verdammten metrischen System“, fluchte Strong. „Habichte fliegen nach allen Systemen, nach Zoll, Fuß, Werst und Kabellängen.“ Für Strong, der sich als das verantwortliche Gehirn fühlte, war dies alles ein Grund zum Verzweifeln. „Am besten, die Königin läßt Gibraltar sausen“, schlug Urban vor. „Das wird sie nicht tun. Niemals. Kein britische s Staatsoberhaupt ist jemals auch nur einen ve rdammten Inch von seinem Protokoll abgewichen, nur weil irgendwo Bombenleger lauerten. 123
Eher stirbt der Monarch als ein Monument von Mut und Tapferkeit.“ „Besser fünf Minuten feige“, kommentierte Urban, „als ein ganzes Leben tot. Aber es ist Ihre Tradition, nicht die unsere.“ Möglicherweise lag es auch an der britische n Irlandtradition, daß dies alles überhaupt stattfinden konnte, daß Agenten starben, Flugzeuge abstürzten, Unschuldige ermordet wurden. „In Spanien sind uns fahndungs- und abwehrmäßig leider die Hände gebunden.“ „Aus guter Tradition“, betonte Urban bissig. „Aber die Spanier können nicht zulassen, daß…“ „Zumindest können die Spanier nach Vorschrift handeln, den langsamen Gang einschalten, mal hier, mal dort ein bißchen we ggucken. Genau das könnten sie.“ Strong saß nervös da, sprang auf, ging nach vorn ins Cockpit, telefonierte, kam noch nervöser wieder. „Die Fahndung in Gibraltar läuft trotzdem.“ „Klar. Muß wohl.“ „Und der Reiseplan Ihrer Majestät bleibt, wie er ist.“ „Aus Tradition.“ „Unser Minister spricht mit dem Minister in Madrid.“ Urban lächelte. „Dann spricht der Außenminister in Madrid mit dem Innenminister in Madrid. Das dauert Stunden. Danach spricht der Innenminister beim Frühstück mit dem Regierungschef. Der ist ein guter Demokrat und entscheidet nichts ohne das Parlament. Zumindest ruft er den Sicherheitsausschuß zusammen. Dieser bildet einen Krisenstab, der zunächs t die Lage gemeinsam mit den Polizeipräfekten in Südspanien berät. Die Truppen kommen dann nächste Woche zum Einsatz.“ Strong war jetzt glatt überfordert und einem Infarkt nahe. „Commander Urban“, keuchte er. „Sie haben doch Freunde in Madrid bei der Brigada investigación Können Sie den Ablauf 124
nicht beschleunigen?“ Urban streckte den Kaffee mittels Scotch, dann strich er nachdenklich um den Rand der Tasse. „Wo ist das Telefon?“
Sie hatten etwas Gegenwind aus Nordwest. So verzögerte sich die Landung in Gibraltar um zehn Minuten. Ein Mannschaftswagen der Armee brachte sie zum Einsatzstab der Sicherheitskräfte. Er war in einem Nebengebäude des Flugplatzes zusammengetreten. „Die Frage, was wir tun müssen“, sagte der kommandierende Brigadier, „ist noch relativ offen.“ „Was heißt das, Brigadier?“ „Eine Landung bei Regen, Nebel oder Stur m verringert die Chancen dieser Mordvögel bis auf Null. Und ganz schlechtes Wetter, bei Unterschreitung der Landeminima, könnte den Jet Ihrer Majestät dazu bringen, weiterzufliegen.“ „Und wie wird das Wetter?“ fragte Urban. „Leider gut, Sir.“ „Was können Sie also tun?“ „Im Notfall die Landerichtung ändern.“ „Das stört diese abgerichteten Killerhabichte nicht im geringsten“, fürchtete Urban. „Wie steht e s mit Scharfschützen?“ „Sie werden beiderseits der Landepiste postiert. Sie feuern auf alles, was kreucht und fleucht.“ Leider hatte diese Maßnahme ihre Grenzen. Der Anflug erfolgte immer vom Meer her. Draußen in der Bucht sah es mit der Aufstellung von Scharfschützen und ihrer Zielsicherheit schon bedeutend schlechter aus. Urban ließ sich über alle Maßnahmen informieren. Er selbst 125
konnte nichts dazu beitragen. Er hatte hier weder Sitz noch Stimme. Außerdem gab es an den Maßnahmen wenig zu verbessern. Er entschloß sich, nach Spanien hinüberzufahren. In La Linea traf Urban einen Major der BIS in Zivil. Er erläuterte ihm anhand der Karte die Situation und zeigte ihm Fotos. „Wann kommt die Lady?“ fragte der Spanier. „Um zehn.“ „Noch ist es Nacht.“ „Klar, daß Sie die Terroristen jetzt nicht finden können. Schminken wir uns das ab. Außerdem sehen solche Leute im Einsatz ganz anders aus. Die Rothaarigen sind blond, die Kahlköpfigen behaart, die Behaarten kahl. „Merda“, fluchte der Spanier. „Was schlagen Sie vor, Commander Urban? Mein Chef, Coronel Segovia, riet mir, ich sollte mich weitgehend auf Sie verlassen. Sie wüßten schon, was zu tun sei.“ „Wie viele Männer haben Sie?“ „Wie viele brauchen wir?“ „Lassen Sie alles, was Sie haben, durch die Straßen patrouillieren. Ihre Leute sollen die Augen offenhalten, vielleicht finden sie die Autos der Terroristen oder ein Kind, eine Frau und ihren griechischen Ehemann. Das da sind die Fotos.“ Der Spanier betrachtete sie lange. „Eine blonde Frau, Anfang dreißig. Ein großer Mann, kräftig, dunkler Typ, Mitte vierzig. Ein Kind, ein Mädchen, etwa sechs Jahre alt, mit Puppe.“ „Richtig. Eine Gummipuppe.“ „Ich sage das meinen Leuten und werde dafür sorgen, daß es sich in ihren Hirnen festbrennt.“ „Buenas dias, Major.“ „Gracias, Caballero“, sagte der Spanier lächelnd.
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Urban brütete über der Karte von La Linea und überlegte, wie und von welchem Punkt aus er es tun würde, wenn er IRA-Mann wäre. Er hatte eine Idee, verwarf sie aber. Es war eine warme Nacht. Der Rotwein hatte ihn erhitzt und ermüdet. Er trat auf den Balkon der Polizeipräfektur und steckte sich eine MC an. Es ging auf 3.00 Uhr. In der kleinen Stadt war es ruhig. Nur von ferne hörte man noch Flamencomusik und Kastagnettenklänge, aber sehr gedämpft. Urban sah um die Plaza herum die Posten gehen. Sie waren teils in Uniform, teils in Zivil. Sie blieben stehen, redeten miteinander und gingen weiter. Sie verschwanden in den Gassen, in den Straßen, kamen anderswo wieder zum Vorschein. – Alles bestens. Urban ging hinein und fragte in der Zentrale: „Was gibt es?“ „Nada más, Senor!“ lautete die Auskunft. Nichts Neues also. Er legte sich auf das Sofa, um ein wenig zu entspannen. Er schlief ein. Plötzlich wurde er wachgerüttelt. Jemand hatte Licht gemacht und hielt ihm etwas entgegen. Urban konnte nichts erkennen, nur riechen. Es stank nach Lutschbonbons und Gummi. Urban richtete sich auf und faßte nach dem Ding. Er hatte es schon einmal in der Hand gehabt. Vor Wochen. Er hatte es gefunden. Klar, auf dem Sportflugplatz in Frankreich, in Sturzelbronn. Es war die Puppe aus Griechenland. „Ist es die?“ fragte der BIS-Major. Urban suchte am Rücken der Puppe nach dem Stempel. „Kein Zweifel. Wo fand man sie?“ „Vor einer Hotelpension. Der Patron ist nicht besonders gut be127
leumundet. Er war schon immer fanatischer Francoanhänger. Die Puppe wurde offenbar verloren.“ „Oder absichtlich weggeworfen“, sagte Urban, „und liegengelassen. Wir müssen los. Das erfordert eine verdammt lautlose Operation. Wie viele Experten für einen lautlosen Einsatz haben Sie?“ „Was befürchten Sie?“ fragte der Major. „Diese Iren ballern rücksichtslos. Kugelfeste Westen, Gesichtsschutzmasken und Helme sind das mindeste, was Ihre Leute brauchen.“ „Haben wir. Wann greifen wir an?“ „Jetzt“, schlug Urban vor. Die spanische Spezialeinheit, die bei der GSG-9 ausgebildet worden war, riegelte die Straße und das Haus von allen Seiten ab. Dann öffneten sie die Türen. Die vorne, die hinten, die zur Küche. Vor den Türen zu den Baikonen und oben vor den Zimmertüren warteten sie, Auf ein Sprechfunksignal drangen sie von ihren Positionen aus vor und besetzten gleichzeitig die Wohnung des Patron und die Aufenthaltsräume in den zwei Stockwerken. Kein Schuß fiel. Es kam zu einem Handgemenge. Die Iren verteidigten sich mit Fäusten und Messern, am Ende mit den Zähnen. Nach wenigen Minuten war alles vorbei. Einer der IRA-Männer war schwer verletzt. Die anderen wurden gefesselt und zum Verhör in die Präfektur gebracht. Urban zerschnitt die Plastikfesseln, mit denen man Lorna Jordan-Novakis und Diana zusammengebunden hatte. „Sie haben es hinter sich“, sagte er. „Und Costas?“ „Den holen wir auch noch heraus, wenn Sie uns helfen.“ „Wie kann ich?“ „Sie haben uns schon einmal geholfen“, sagte Urban. „Diana hat ihre Puppe geopfert.“ 128
„Sie weinte danach, aber ich dachte… es ist wie ein Hilfeschrei, für den Fall, daß man uns sucht. Die Puppe, Sie kennen die Puppe, erzählte Diana mir. Es war weniger als eine Flaschenpost, die ein Schiffbrüchiger in der Südsee ins Meer wirft.“ „Sie war nicht ganz so lange unterwegs“, scherzte Urban. „Was hat die Gruppe vor?“ „Man sagte mir, Diana und ich kämen wieder zusammen, wenn Costas mitmacht.“ „Wobei?“ „Ich weiß es nicht genau. Er soll das gleiche tun, wie in Arta. Was geschah in Arta?“ „Er soll die Maschine Ihrer Majestät mit Hilfe vo n nitroglyzeringefütterten Habichten beim Start oder während der Landung sprengen. Aber wie machen sie es. Wo haben sie sich versteckt. La Linea ist nicht Belfast.“ „Sie sind wie die Ratten“, sagte Lorna entsetzt. „Sie brauchen dazu einen hochgelegenen Punkt.“ „Hier gibt es keine Hügel“, erklärte der Polizeichef. Zwei Mann blieben zum Schutz der Irin und ihrer Tochter zurück. „Ich bringe Ihnen Costas“, versprach Urban, „wenn ich irgendwie kann. – Für eine Weile“, setzte er noch hinzu. Denn daß der Grieche wegen des Airbus-Anschlags bestraft würde, war klar. Doch das war nicht seine Sache. Sie fuhren zur Präfektur. Die Spanier verhörten die Iren und gingen nicht eben zärtlich mit ihnen um. „Es sind neun Männer“, hatte der BIS-Mann in Erfahrung gebracht. „Also fehlen noch sechs.“ „Mehr sagen sie nicht.“ „Mehr wissen sie vielleicht auch nicht.“ „Nur, daß ihr Boß McConnor heißt.“ 129
„Ich kenne McConnor, er könnte ebensogut auch Luzifer heißen.“ „Was machen wir mit dem Sprechfunkgerät der Iren, wenn Anfragen durchkommen?“ „Legt eine Störung drauf, riet Urban. „Nur ein einziges falsches Wort, und sie sind gewarnt.“ Er winkte dem BIS-Major in den Nebenraum. Dort sagte er ihm, was er von der Sache hielt. Es ging auf 7.30 Uhr. Es war schon hell. Die Sonne ging auf. In drei Stunden landete die Regierungsmaschine Ihrer Majestät, der Königin von England, in Gibraltar.
Erst suchten sie alle Dächer, Terrassen, Balkone und Dachböden von größeren Gebäuden ab. Speziell um die siebenstöckigen draußen im Neubauviertel kümmerten sie sich. – Wenn Novakis hier seine Habichte starten ließ, hatten sie knapp einen Kilometer bis zum Ziel. Aus Gibraltar kam die Meldung, daß die Regierungsmaschine in London abgeflogen sei und eher einige Minuten früher landen würde, als vorgesehen. Inzwischen war ganz La Linea abgesucht worden. Ohne Ergebnis. Ungefähr dreißig Minuten vor der Ankunft der Königin in Gibraltar wandte Urban sich erneut an den spanischen BIS-Major. „Versuchen Sie es noch einmal bei der Kirche“, drängte er. „Dort sind sie nicht. Wir haben den Turm mit Ferngläsern kontrolliert.“ „Und wenn sie Deckung bezogen haben?“ „Nicht anzunehmen.“ „Schauen Sie besser nach.“ „Die Kirche ist versperrt.“ 130
„Einer muß den Schlüssel haben. Oder?“ „Der Priester ist seit gestern bei seinem Oberhirten, dem Bischof in Algeciras.“ „Dann treten Sie die Tür ein.“ Der Major winkte ab. „Die Kirche steht unter Denkmalschutz.“ „Die Königin von England auch.“ „Angenommen, die Iren haben sich in der Kirche verschanzt und verteidigen sich, dann gibt es ein Blutbad.“ Urban überlegte. Welche Taktik ließ sich anwe nden. Die Iren würden die Kirche außen, innen und besonders den Turm sichern. Sie beobachteten den Platz vor der Kirche und den Turm. Unter den Spitzbögen des Daches hingen nur die Glocken. „Keinerlei Bewegung. Da ist nichts.“ „Trotzdem müssen wir sichergehen.“ Der Major zivilisierte seine Männer. Sie nahmen die Gesichtsmasken und die Helme ab. Mit den Waffen unter den Regenmänteln näherten sie sich der Kirche des St. Fennin und nahmen die angewiesenen Positionen ein. Zwei verdächtige Gestalten standen vor der Kirche herum. Auf ein Zeichen des Majors hin wurden sie blitzschnell gefangengenommen. Sie wehrten sich kaum. Sie waren völlig überrascht. Die zwei Iren hatten die Außensicherung gebildet. Nun stiegen die Spezialisten der BIS durch die Sakristei ein. An einer der Säulen lehnte ein Mann mit MPi. Er rauchte. Um ihn herum lagen Zigarettenkippen. Ein Spanier schlich sich ein. Der Ire hörte ihn, fuhr herum. Da traf ihn ein Handkantenschlag an der Kehle. Nun standen sie nur noch drei Männern gege nüber – vermutlich den Entschlossensten – und Costas Novakis. Urban, der das Kommando begleitet hatte, sagte: „Bringt Lorna Jordan.“ 131
„Für Novakis erhöht sich die Gefahr dadurch.“ „Sie halten Novakis unter Druck, Major. Wenn er Lorna sieht, handelt er vielleicht ganz anders.“ Lorna Jordan wurde geholt und, von oben nicht erkennbar, in die Kirche geschmuggelt. Die Spezialisten der Antiterrorgruppe hatten inzwischen den Turmaufgang gefunden. Die Tü r war verriegelt. „Einschlagen!“ befahl der Major. „Jetzt geht es ums Ganze.“ In wenigen Minuten würde die Königin in Gibraltar landen. Die Turmtür war aus Eisen. Also stopften sie das Schloß mit Sprengstoff voll und zündeten ihn. Die Tür fetzte aus dem Mauerwerk. Ein Mann mit schwarzverbranntem Gesicht taumelte ihnen blutend und blind in die Arme. Die Spanier stürmten den Turm. Von oben wurde gefeuert. Gegen die Mauer gepreßt erkämpften sie sich Stockwerk um Stockwerk. Eine Handgranate rollte ihnen entgegen und explodierte. Getroffene schrien, MPis ratterten, „Halt!“ schrie einer von oben. Er stand am Geländer. Vornübergebeugt warf er eine Eierhandgranate. Dann wurde er von einer Kugel getroffen und fiel hinterher. Die Spanier sprangen in Deckung. Der Ire fiel auf seine eigene Handgranate, genau in dem Augenblick, als sie explodierte. Irgendwo fing etwas zu brennen an. Durch den Qualm zog Urban Lorna Jordan nach oben. Jetzt, wo sich alles zuspitzte, fürchtete er, sie noch zu brauchen. Wieder MPi-Schüsse von oben. Aber die Spanier eroberten Stufe um Stufe. Endlich sahen sie im Glockenturm zwei Männer und zwei Käfi132
ge. In jedem Käfig hockte ein graubrauner Vogel. Einer der Männer blutete an der Stirn und links über dem Coltgürtel Dorthin preßte er seine Hand, so als wollte er eine Quelle verstopfen. Die andere Hand war gegen den Mann mit griechischem Aussehen gerichtet und hatte eine Pistole umklammert. „Noch einen Schritt, und er ist erledigt.“ In der Ferne, vom Meer her, vernahm man das anschwellende Singen von Düsentriebwerken. „Los! Die Käfige auf!“ schrie McConnor. Er stand nicht mehr kerzengerade da, sondern taumelte schon deutlich. Die Spanier bildeten eine waffengespickte Mauer. Hinter ihnen ging ein Scharfschütze in Stellung. Mit fliegenden Händen begann Novakis einen Käfig zu öffnen. Urban zog Lorna Jordan die letzten Stufen herauf und schob sie nach vorn. Die Mauer der Spanier öffnete sich. „Bei Gott!“ schrie Lorna. „Tu’s nicht!“ Im selben Augenblick erkannte Novakis seine Frau. In seine Züge trat Verzweiflung und Ratlosigkeit. Jetzt, wo Lorna ihm so nahe war, hatte er eine 38er an der Schläfe. „Mach schneller!“ befahl McConnor keuchend. „Ich zähle bis drei.“ Doch da hatte der Scharfschütze ihn längst im Visier. „In die Hand“, flüsterte Urban dem Scharfschützen zu. „In die rechte Hand.“ Novakis zögerte. In dem Augenblick, als McConnor beschloß, es selbst zu tun und die Mordvögel auf ihren Todesflug zu schicken, zerschmetterte die Scharfschützenkugel sein Handgelenk. Aus McConnors 38er löste sich der Schuß. Aber er ging vorbei. Die Kugel flog hinauf. Sie schlug an den uralten Bronzeglocken quer und brachte sie zum Tönen, Das irritierte McConnor. Die Spanier warfen sich auf den IRA-Führer und übermannten 133
ihn, trotz heftiger Gegenwehr. Dann war erst einmal Stille und tiefes Atemholen. McConnor hockte da und starrte auf sein zerschmettertes Handgelenk. Costas Novakis umarmte Lorna, und drüben in Gibraltar setzte die Regierungsboeing zur Landung an. Die Spannung löste sich. Als Urban den Turm verließ, sah er, wie Lorna Jordan sich breitbeinig vor McConnor aufbaute und ihm ins Gesicht spuckte. „Wie du mir, so ich dir!“ hörte er sie zischen. Dann versetzte sie ihm noch einen Tritt mit dem Fuß. Irgendwo im Hintergrund stand Mister Strong vom MI-6 und grinste zum ersten Mal. Urban ging es darum, daß die verhafteten Iren nicht Zeugen davon wurden, daß ihr Pech von ihm ausging. Denn irgendwo, in der allerhintersten Ecke seine s Herzens, empfand er Sympathie für ihren Kampf. Mochte die Welt auch Abscheu dafür zeigen, was ging es ihn an. Die Welt zeigte stets Abscheu für Verlierer und ihre Zuneigung für Gewinner. – Aber die Welt liebte schließlich auch gewisse Fernsehserien. Urban fühlte sich nicht als Sieger. Er hatte seinen Job gemacht, wie ein gutes Werkzeug. Wie der Schneidestahl an der Drehbank, wie der Hobel über dem Holz, wie eine Feile, ein Messer, eine Schere. Auch alles nur Erfindungen des menschlichen Gehirns zur Bearbeitung des Schwächeren. Strong nahm ihn in seinem Dienstwagen mit nach Gibraltar, der Stadt am Affenfelsen. „Wenn Sie Engländer wären“, sagte Strong, „würde Ihre Majestät Sie sogleich adeln.“ Bestellen Sie Ihrer Majestät, dachte Urban, daß ich darauf pfeife. „Beinah wäre es die Hölle geworden, Commander.“ „Ach, zum Teufel mit der Hölle!“ sagte Urban. 134
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