ANNE GALDIER
Die
Grenzgängerin
HeRa-Verlag Königstr. 8 88422 Oggelshausen Copyright by HeRa-Buch-Verlag Alle Rechte,...
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ANNE GALDIER
Die
Grenzgängerin
HeRa-Verlag Königstr. 8 88422 Oggelshausen Copyright by HeRa-Buch-Verlag Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. 2
Teil 1
Pauline Bewährt haben sich Benzodiazepine in der Notfallmedizin, um psychovegetative Krisen zu durchbrechen. Die vom Patienten zumeist rasch empfundene, spürbare Erleichterung von quälenden Symptomen birgt jedoch Gefahren. Tranquilizer können dazu führen, daß sich der Patient seinen Problemen nicht stellt, sondern seine Seele wie in einer temperierten Glasglocke vor Alltragsstreß abschirmt. Daher sollte diese medikamentöse Therapie nur kurzzeitig erfolgen. Pauline lag am Boden und blinzelte unsicher. Das linke Auge schien getrübt. Mit dem rechten Arm stützte sie sich auf dem Boden ab, die linke Hand lag eingeklemmt unter ihrem Bauch. Vorsichtig zog sie sie hervor. Ein rasender Schmerz schoß von ihrer linken Hüfte pfeilgerade in ihren Kopf und explodierte in grellen Blitzen. Sie stöhnte und schloß die Augen. Was in aller Welt war nur mit ihr passiert? Sie spürte etwas Warmes, Feuchtes auf ihren rechten Handrücken tropfen. Sie öffnete die Augen. Wieder hatte sie Mühe, ihr linkes Auge auf die erforderliche Sehschärfe einzustellen. Dafür sah sie mit dem rechten um so besser. Und was sie sah, verwandelte ihren Magen in einen eisigen Klumpen. Eine rote Flüssigkeit rann langsam von ihrer Hand auf den hellen Teppichboden und bildete dort einen dunklen, schimmernden Fleck. Was wird ER dazu sagen? Ein Fleck auf dem Teppichboden ist nahezu das Allerschlimmste, was ihr passieren konnte, vergleichbar nur mit einem Kratzer an SEINEM nagelneuen Audi. Oder – Gott behüte – beim Abstauben die ausgeklügelte Reihenfolge SEINER vielen Muranoglastiere durcheinander zu bringen. Eines dieser kleinen Dinger fallen zu lassen, daß es am Ende gar zerbrach... undenkbar. Sie könnte sich gerade so gut vom Ulmer Münster stürzen. Einmal hatte sie Rotwein verschüttet. Es war an diesem glückseligen Abend gewesen, als sie IHM mitteilte, daß sie wieder schwanger war. ER war nicht erfreut gewesen. Beim ersten Mal war eine andere Lösung möglich, doch diesmal hatte ER sie gezwungen, das Kind abtreiben zu lassen. Aber zuvor hatte sie den Teppich gereinigt und es kostete sie Stunden, den Rotweinfleck zu entfernen, während ER ihr hilfreich zur Seite stand. Mit freundlichen Worten erklärte ER geduldig, daß kreisende Bewegungen angebracht wären, die Anzahl der Kilopond jedoch nicht ausschlaggebend für die Entfernung des Mißgeschicks sei, sondern weniger Druck durchaus zum gewünschten Ergebnis führe. Im Stillen hatte sie ihn einen grausamen Pedanten genannt. – Welch gotteslästerlicher Gedanke! Es war ihre Schuld gewesen! ER meinte es gut mit ihr. Wie um Himmels willen kam jetzt Blut auf den Boden? Blut tropfte von ihrer Stirn auf den fleckenlosen Teppich. Hatte sie sich gestoßen? Sie mußte auf die Beine kommen. Der Fleck wurde größer. Wenn er sich überhaupt nicht mehr entfernen ließe? Sie drückte die Arme durch und stemmte sich ab. Diesmal lähmte 3
der Schmerz ihren ganzen Körper. Mit dem Gesicht nach unten fiel sie stöhnend auf den Bauch und rasender Schmerz schoß wie Pfeile ihr Rückgrat hinauf. Ich sterbe, dachte sie verwundert. Ich sterbe blutend auf SEINEM geheiligten beigefarbenen Teppich und wenn ER das sieht, wird ER endgültig ausrasten! Die Vorstellung, wie ER auf dem Boden kniet und ihr Blut mit kreisenden Bewegungen und der angemessenen Anzahl von Kilopond zu entfernen versucht, brachte eine Saite in ihr zum Schwingen, die lange nicht mehr angeklungen war. Ein Kichern stieg aus ihrer Brust und eilte bis zu ihren Lippen. Trotz der Schmerzen ließ es sich nicht zurückhalten. Plötzlich SEINE Stimme, samtweich und leise. 'Hat meine Linnie noch immer nicht genug gelernt?“ Ein harter Stoß in ihren Rücken vermittelte Pauline das Gefühl, sie würde in zwei Teile gespalten. Ihr Atem setzte aus. Schwarze Punkte schossen vor ihren Augen hin und her. In ihren Ohren dröhnte es und gnädige Dunkelheit senkte sich über sie. Eine Stimme drang von fern in ihr Bewußtsein, forderte sie auf, ihren Namen zu sagen, die Augen zu öffnen. Pauline versuchte, nicht hinzuhören, aber die Stimme ließ nicht locker. Eine Frauenstimme kam näher, drängte. Sie mußte antworten. 'Pojiin' krächzte sie. Nie mehr verwendete sie ihren Kindernamen, nie mehr seit dem Moment, als ER sie liebevoll 'Linnie' nannte und vor die Wahl stellte, entweder jenen Mann zu heiraten oder ihren Sohn abtreiben zu lassen. Er hatte ihr dabei ins Gesicht geschlagen. Um sie 'aufmerksam' zu machen. Zu mehr 'Ordnung' anzuleiten. Zu ihrem Besten. Nicht die Schläge waren das Übel, an die war sie lange gewohnt. Das ungeborene Leben in ihr wollte sie schützen. In diesem Augenblick war in ihr etwas zerbrochen, etwas, das mit ihrer Kindheit zu tun hatte, mit Unschuld und Spontaneität, mit Naivität und Keckheit. Mit Magnus. Nun war sie reduziert auf Pauline. Pauline, die Untertänige. Pauline, die Gehorsame. Pauline, die Dienstbare. Pauline, die immer wieder zurückkam. Warum ließ diese penetrante Person, der diese drängende Stimme gehörte, nicht locker? Warum wollte sie immer noch wissen, wie sie hieß? Sie versuchte es nochmals: 'Pauline!' In ihren Ohren klang es wie ein Hilfeschrei. Sie fühlte, wie sie auf eine Trage gelegt wurde. Wunderbarerweise hatte sie keine Schmerzen. Schön! Sollte sie in einem Traum sein? Sie konnte die Augen nicht öffnen, etwas Dickes, Verkrustetes klebte die Lider fest. Ein nasser Lappen wurde ihr auf die Augen gedrückt und sie zuckte vor der Kälte zurück. Irgend jemand wischte vorsichtig über ihre Lider. Kein Traum. Nun konnte sie ihre Augen öffnen. Blickte in SEIN liebevolles Lächeln. Mit einem leisen Schrei wurde sie erneut ohnmächtig. Paulines Rückkehr in die Wirklichkeit vollzog sich zum zweiten Mal mühelos und abrupt. Sie wurde wach und spürte, daß sie in einem Bett lag. Ängstlich ließ sie ihre Augen umherwandern. Sie befand sich in einem Krankenzimmer, gedämpftes Licht drang durch die großen Fenster. Es war Nacht. Sie war allein. ER war nicht hier. Danke Gott für kleine Wunder. Zaghaft erforschte sie ihren Körper. Sie konnte den Kopf drehen, die Arme bewegen. Sie griff sich an die Stirn, die sich wie mit Klammern umspannt anfühlte, und tastete einen dicken Verband. Blut auf dem Teppich. Die Erinnerung kehrte zurück, Blut auf dem Teppich und ihr Kichern, das IHN zu dem Fußtritt veranlaßte, der die erlösende Ohnmacht brachte. Wie gut ER zu ihr war! 4
Von den Schultern bis zu den Oberschenkeln fühlte sich ihr Rücken wie eine einzige große Wunde an. Als sie vorsichtig die Beine bewegte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Irgend etwas war an ihrer Hüfte kaputt. Sie rang nach Atem. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Pauline erstarrte. Wie das Kaninchen die Schlange fixierte sie die langsam aufschwingende Türe. ER würde jede Sekunde hereintreten. ER würde sie anlächeln und sie würde krampfhaft eine Entschuldigung suchen für ihre Hilflosigkeit und die Umstände, die sie IHM bereitete. Dann würde ER... Eine junge Krankenschwester betrat den Raum und kämpfte mit dem Tablett, auf dem allerlei medizinische Geräte lagen, und einem Infusionsständer, den sie ungeschickt vor sich her schob. Hinter ihr betrat eine Ärztin mit forschem Schritt das Zimmer. „Sie sind wach! Das ist schön! Wie geht es Ihnen?“ Mit berufsmäßiger Geschicklichkeit ergriff sie Paulines Handgelenk und sah auf die Uhr. Pauline wußte nicht, ob sie antworten oder schweigen sollte, um die Ärztin beim Pulszählen nicht zu stören. Alarmiert sah die Ärztin hoch. „Können Sie nicht sprechen?“ Pauline errötete. „Mir geht es gut, danke.“ „Haben Sie Schmerzen?“ „Nein, wenn ich ruhig liege, gar keine. Wenn ich die Beine bewege...“ „Sie haben eine Beckenprellung. Fürs erste können Sie nicht aufstehen. Die linke Niere ist gequetscht, außerdem haben sie mehrere schwere Hämatome am Rücken, an den Hüften und an den Oberarmen. Das linke Auge ist blutunterlaufen, der Glaskörper getrübt. Sie werden einige Zeit Schwierigkeiten bei der Sehschärfeneinstellung haben, doch das wird wieder verschwinden. Die Platzwunde an ihrer Stirn mußten wir mit sechs Stichen nähen. Wer hat Sie denn so zugerichtet? Ein Gorilla?“ Pauline spürte, wie die Panik in ihr hoch kroch und ihr das Blut ins Gesicht schoß. „Ich kann mich nicht erinnern.“ flüsterte sie. Die Ärztin, eine große, blonde Frau mit schmalem Gesicht und wachen Augen, musterte sie kritisch. „Das ist vielleicht auch besser. Ich wünsche Ihnen, daß diese Erinnerungslükke, wenn sie überhaupt existiert, noch eine Weile anhält.“ Sie wandte sich dem Tablett zu und riß eine Plastikhülle auf, in der eine Spritze verpackt war. “Wir legen Ihnen nun eine Infusion und einen Katheder. In der Infusionslösung befinden sich ein Schmerzmittel und ein Beruhigungsmittel. Sie werden bald wieder einschlafen. Nach dem Frühstück werden sie geröntgt, damit wir das Becken überprüfen können.“ Pauline erschrak. „Wie spät ist es?“ „Etwa drei Uhr früh. Warum? Haben Sie etwas vor?“ Sie stach die Nadel in die Vene. Pauline spürte nichts, ihre Gedanken kreisten. Sie biß sich auf die Lippen, die sich rauh und rissig anfühlten. Die Ärztin hatte ironisch geklungen und sie konnte es ihr nicht verdenken. Aber, Himmel, sie mußte zu IHM! „Kann ich...“ Zögernd suchte Pauline nach den richtigen Worten. „... nach Hause gehen?“ Es klang kläglich. Die Ärztin, die gerade den Infusionsschlauch angeschlossen hatte, sah Pauline forschend ins Gesicht. Dann schickte sie die Schwester, die sich eben bereit machte, den Katheder zu legen, aus dem Zimmer.
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Mit ruhigem Lächeln setzte sich die Ärztin auf das Bett und ergriff Paulines Hand. „Kind!“ sagte sie, was etwas seltsam anmutete, da sie selbst nicht viel älter als Pauline sein konnte, „Kind, nun hören Sie mir mal gut zu. Ich bin nun seit sechs Jahren in diesem Krankenhaus auf der Unfallstation. Ich will nicht sagen, daß ich täglich mit geprügelten Frauen zu tun habe, aber immerhin häufig genug, um zu erkennen, was gespielt wird. Ihr Mann hat um ein Uhr nachts angerufen und einen Unfall gemeldet. Ich habe die Notärztin los geschickt. Sie berichtete, daß nach Angaben des Ehemannes seine Frau in dem Wohnzimmer von den Ausmaßen eines mittleren Ballsaales auf einen knöcheltiefen Velourteppich gestürzt sei und sich dabei Verletzungen zugezogen hat, als wäre sie einem Mähdrescher in die Arme gelaufen. Die Ohnmächtige konnte reanimiert werden, nur um sich beim Anblick des fürsorglichen Ehemannes wieder in tiefe Bewußtlosigkeit zu flüchten. Und jetzt wollen Sie nach Hause!“ schloß sie grimmig. Pauline hatte sich bei den Worten der Ärztin mehr und mehr versteift. Jetzt zog sie ihre Hand zurück. „Wie heißen Sie?“ fragte sie kühl. Die Ärztin blinzelte. „Dr. Birkle“ sagte sie endlich. Pauline fixierte das Gesicht der Frau. Sie fand es sympathisch trotz der etwas strengen Züge und der langen Nase. Doch ER muß geschont werden. Niemand darf je erfahren, was ER mit ihr anstellt, wenn ER sie zur Ordnung ruft. Sie war dumm und unzulänglich, sie mußte auf den richtigen Weg gebracht werden. Zeit ihres Lebens, das war ihre Bestimmung. Von Kindheit an. Wie bei ihrem Vater, der ihr immer wieder verdeutlichte, wie unvollkommen und fehlerhaft sie war. Alles aus Liebe zu ihr. So verhärtete Pauline ihr Herz und sprach mit aller Bestimmtheit, die sie aufbringen konnte: „Frau Dr.Birkle, wenn äh... mein... Mann gesagt hat, ich bin gestürzt, dann bin ich gestürzt. Wahrscheinlich bin ich die Kellertreppe hinunter gefallen und er hat mich ins Wohnzimmer getragen. Doch das ist jetzt zweitrangig. Meine Frage lautete, kann ich nach Hause, und Ihre Sache ist es, diese Frage mit Ja oder Nein zu beantworten.“ Pauline hatte sich halb erhoben und sank nun mit einem leichten Stöhnen wieder in die Kissen. Dr.Birkle stand auf und drehte den Schieber des Infusionsschlauches auf. Die klare Flüssigkeit begann in Paulines Vene zu fließen. Dann überprüfte sie die Befestigung der Infusionsnadel und zog die Bettdecke zurecht. Zum Schluß beugte sie sich über Pauline und sagte klar und deutlich: „Nein! Wenn es nach mir geht, dürfen Sie überhaupt nie wieder nach Hause. Ist Ihre Frage damit beantwortet?“ Pauline schloß die Augen, doch sie konnte nicht verhindern, daß Tränen über ihre Wangen rollten. Die Ärztin sah mitfühlend auf das geschundene Gesicht. „Soll ich Ihren Mann anrufen und ein wenig mit ihm sprechen?“ Pauline schoß hoch, die Schmerzen ignorierend: „Nein! Bitte, nein!“ Sie krallte sich in Panik am Arm der Ärztin fest. Dr.Birkle drückte die Patientin wieder in die Kissen, die mit einem Stöhnen die Augen schloß und die Umwelt ausblendete. Muß ja unheimliche Angst vor ihrem Mann haben, dachte Dr.Birkle. Seltsam, daß sie so dringend nach Hause wollte. Beruhigend sprach sie auf sie ein. Sie nahm eine Spritze vom Tablett und zog aus einer 6
Valiumampulle die klare Flüssigkeit hoch. Mit leichten Druck ließ sie wenige Tropfen herausfließen, um keine Luftblase zu injizieren. Sie schlug die Decke zurück, desinfizierte einen kleinen Fleck am Oberschenkel und stieß die Nadel in den Muskel. Langsam injizierte sie den Tranquilizer. Pauline hatte sich nicht geregt, wie eine angespannte Saite lag sie die da, die Hände zu Fäusten geballt. Endlich entspannte sie sich etwas, sie hielt jedoch weiterhin die Augen geschlossen. Ihr Mann durfte auf keinen Fall mit der Ärztin sprechen. Unablässig kreiste dieser Gedanke in ihrem Kopf. Kurze Zeit später hörte sie das Schnappen des Türschlosses. Langsam ließ sie den angehaltenen Atem entströmen und gab sich der wohlbekannten, entspannenden Wirkung des Valiums hin. Pauline stand in einem dunklen Zimmer. Hunderte Kerzen brannten. Die Flammen bewegten sich sanft. Sie warfen ihr flackerndes Licht wie irrlichternde Schatten durch den Raum, dessen Wände schwarz verhüllt waren. Auch der Fußboden war schwarz. Hin und wieder knisterte es, wenn eines der Lichter erlosch. Als Pauline näher hinsah, bemerkte sie, daß es rote Grablichter waren. Angst stieg in ihr hoch. Sie wollte fliehen. Ihre Beine bewegten sich nicht. Die Füße schienen am Boden fest gewachsen. Zögernd hob sie den Blick. Magnetisch wurden ihre Augen von der weißen Bahre in der Mitte des Raumes angezogen. Ein schimmerndes Grabtuch bedeckte eine Gestalt. Es reichte bis zum Boden, so daß die Silhouette eine scharfe Grenze in das Schwarz des Hintergrundes malte. Dort lag eine Frau. Regungslos. Tot. Pauline erkannte plötzlich, wer diese Gestalt war. Die Tür knarrte leise. Ein Mann trat ein. In der Hand hielt er eine brennende Kerze. Er blickte um sich. Pauline hielt den Atem an. Mit leisem Lächeln trat er vorsichtig zwischen die Grablichter und stellte das Licht auf den Boden. Als er sich aufrichtete, hatte er eine erloschene Hülle in der Hand. Langsam und sorgfältig ging er umher und ersetzte alle verlöschten Kerzen. Dann blickte er auf die Frauengestalt auf der Bahre. Mit diesem liebevollen Blick, den Pauline fürchten gelernt hatte, ging er langsam darauf zu. Pauline erstarrte und ihr Mund öffnete sich. Sie schrie... und schrie... und schrie... ... und erwachte schreiend. Mit einem Ruck saß sie senkrecht im Bett und schlug die Hände vor den Mund. Zitternd biß sie sich auf die Knöchel. Hilfe! So helft mir doch! Wo bin ich? Erst langsam kam sie zu sich. Wimmernd preßte sie die Fäuste gegen den Mund, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Wirkung der Beruhigungsspritze hatte bereits nachgelassen, obwohl noch keine Stunde vergangen war, seit sie in den Schlaf gesunken war. Kein Wunder, hatte man ihr vermutlich eine Dosis verabreicht, die sie gerade dazu befähigte, an einem normalen Tag aufzustehen. Sie zog die Bettdecke über den Kopf und preßte die Arme an den Leib. Jede Bewegung schmerzte. Als sie sich auf die Seite drehen wollte, um die Beine anzuziehen, schrie sie unwillkürlich auf. Sie konnte ihre Lieblingsstellung nicht einnehmen. Embryostellung nannte man sie, hatte sie einmal gelesen. Ein Zeichen von Rückschritt in das Kindesalter. Pauline hatte noch nie das Gefühl gehabt, diesen Lebensabschnitt verlassen zu haben und in den Kreis erwachsener Menschen eingetreten zu sein. Mit vorsichtigem Schieben des Beckens und unter Zuhilfenahme der Arme schaffte sie es, sich auf die Seite zu rollen, eine vertraute Stellung seit klein auf. Eingeringelt unter der Bettdecke hatte sie bebend gewartet, ob ihr Vater noch einmal in ihr Zimmer kommen würde. Um 'Gute-Nacht' zu sagen. Um mit 7
sanften Küssen die Schmerzen der vielen roten Quetschungen und Prellungen zu lindern, die er ihr zuvor zugefügt hatte. Doch Papa war weit fort. Sie war hier. Im Krankenhaus. In Sicherheit! Keuchend stieß sie die Decke zurück und blinzelte in das Halbdunkel. Sie brauchte unbedingt noch eine Tablette. Ein Gedanke durchzuckte ihr Gehirn und die nächste Panikwelle überrollte sie. Ihre Tasche! Die Schmerzen ignorierend, die ihr den Schweiß auf die Stirne trieben beugte sie sich zum Nachttisch und zog ihn näher zu sich. Erleichtert schluchzte sie auf, als sie die braune Wildledertasche mit dem goldenen Druckverschluß im Fach liegen sah. Sie zog sie zu sich und wälzte sich auf den Rücken. Dann mußte sie einige Zeit innehalten und die Wogen des Schmerzes, die den Rücken bis in ihren Kopf hochschossen, abklingen lassen. Sie schloß die Tasche auf, ertastete den steifen Aluminiumstreifen, schob sich zwei Tabletten in den Mund und würgte sie trocken hinunter. Nach der Tasse zu greifen ging über ihre Kräfte. Die Trockenheit in ihrem Gaumen ließ sie husten, doch endlich hatte sie die übel schmeckende Substanz geschluckt. Langsam beruhigte sich ihr Atem und die Gedanken klärten sich. Sie war im Krankenhaus und sie mußte so schnell wie möglich da raus. Heute ging nichts mehr, dazu war sie zu erschöpft. Doch morgen, spätestens übermorgen würde sie es schaffen. Langsam wirkte das Benzodiazepin, ihre Glieder wurden schwer und Nebelschwaden wabberten durch ihr Gehirn, verwischten die Angst und verwandelte die Panik in ein diffuses Muster von Gleichgültigkeit und Indifferenz. Ein angenehmer Zustand. Mittendrin wurde sie jäh aus diesem leichten Schweben gerissen. Ein Satz tauchte glasklar und messerscharf aus dem grauen Dämmern auf. ER WÜRDE SIE TÖTEN! Pauline hielt den Atmen an und versuchte, das diffuse Grau wieder herzustellen, doch es verweigerte ihr den so oft gewährten Dienst. Sie wagte nicht, eine weitere Tablette zu nehmen, da sie nicht wußte, wie hoch die Dosis der Spritze gewesen war. Sie mußte unter allen Umständen am Morgen klar und ansprechbar sein, sonst würde ihre Abhängigkeit auffallen. Also mußte sie den Gedanken zulassen und näher betrachten. ER würde sie töten. ER wollte nicht nur ihre totale psychische Unterwerfung, ER wollte ihr Leben! ER war verrückt geworden. Pauline zog schaudernd die Decke an ihr Kinn. Wie oft hatte sie schon versucht, IHN zu verlassen. Doch unwiderstehlich zog es sie zu IHM zurück, wo immer sie auch war, was immer sie auch tat. ER und das Valium, manchmal wußte sie nicht, wovon sie mehr abhängig war. ER befriedigte ihren Körper, stillte die unstillbare Lust für einige Augenblicke, ermöglichte ihr das Gefühl bedingungsloser Hingabe, die sie nie mehr bei einem anderen Menschen gefunden hatte. Nie mehr, seitdem ihre Mutter ihren Vater verlassen hatte. Pauline versuchte sich zaghaft an dem Gedanken, IHN zu verlassen. Wie auf Knopfdruck stellte sich das Gefühl der Verlassenheit ein, das sie jedesmal überfiel, wenn sie eine Trennung in Erwägung zog. Die Erinnerung daran, was ihr Vater mit ihr gemacht hatte, war wie mit einem Brandeisen in die Seele der vierjährigen Pauline eingegraben worden. Die Botschaft war klar und unmißverständlich bei Pauline angekommen. Wie oft hatte er sie grün und blau geschlagen, um sie danach um so liebevoller zu streicheln. Überall. Wie zärtlich hatte er ihre geschwollenen Lippen berührt, die wunden Stellen an Rücken und Armen und war dann tiefer geglitten. Pauline hatte gelernt still zu halten, sich nicht zu mucken bei den Schlägen 8
und nicht zu wehren bei den Liebkosungen. Bis sie eines Tages von ihrer Mami überrascht wurden. Pauline erinnerte sich noch heute an Mamis Gesicht, das von einer Sekunde auf die andere gefror. Ohne ein Wort hatte sie Pauline aus den Händen des Vaters gerissen, so daß diese aufschrie, und sie ins Auto getragen. Dann war sie zurückgekehrt und mit zwei großen Taschen wieder gekommen. Pauline hatte sich über die beiden Koffer gewundert, jedoch aus einer inneren Scheu kein Wort gesagt. Sie fuhren eine weite Strecke und Mami hat auf der ganzen Fahrt kein Wort gesagt. Endlich kamen sie zu einer großen Villa mit einem riesigen Garten und anderen Frauen mit Kindern. Nirgendwo gab es einen Mann. Es war eine gute Zeit, auch wenn ihre Mami nie lächelte. Doch dann kam noch eine schönere Zeit bei Magnus und seinem Daddy, in der auch ihre Mami langsam wieder das Lachen lernte. Bis auch diese Zeit vorbei war. Endgültig. Bestimmt die Strafe dafür, daß Mami ihren ersten Mann verlassen hatte. Und jetzt dachte sie wieder einmal daran, IHN zu verlassen! Wenn sie bei IHM blieb, würde ER sie töten. Konnte sie ohne IHN leben? Tief in Paulines Herzen regten sich zaghafter Widerstand. Die stolzen spanischen Gene schienen sich zu einer Phalanx zusammen zu schließen und mit allem Nachdruck die wenigen Überlebensstrategien zu aktivieren, die sie nicht hatte abtöten können. Sie wollte nicht sterben, wieso sollte sie sterben? Paulines Gedanken verwirrten sich und mühsam suchte sie nach dem roten Faden. Tod, irgendwie hatte es etwas mit Tod zu tun. Wen sollte sie töten? Mit höchster Anstrengung ordnete Pauline ihre Gedanken. Das passierte öfter in letzter Zeit, daß sie verwirrt wurde. Schien irgendwie mit den Tabletten zusammen zu hängen. Nun fingen auch die Kopfschmerzen wieder an. Wenn sie in den nächsten zehn Minuten keine Entscheidung traf, würde sie sie heute nicht mehr treffen. Der Dunst in ihrem Kopf würde sich mehr und mehr verdichten, die Kopfschmerzen zu einem dumpfen Dauerdruck werden und die Umwelt würde in einem diffusen Nebel verschwinden. Ein nicht unangenehmer Zustand, jedoch ein Zustand der Leblosigkeit. Der nächste Gedanke formte sich in ihrem Gehirn, die Worte tropften wie zäher Sirup ins Bewußtsein. Sie brauchte Hilfe. Einen Menschen, dem sie vertrauen konnte. Dann könnte sie es schaffen, mußte es schaffen! Wer? Sie hatte niemanden. Dafür hatte ER gesorgt. Nun rasten Ihre Gedanken wie ein Karussell in immer schneller werdenden Kaskaden. Wenn Kerstin noch da wäre! Ihre beste Freundin aus dem Internat, in das sie nach Magnus Fortlaufen gebracht worden war. Kerstin, ihre Zimmerkollegin und vertraute Freundin in vielen einsamen Stunden, Stunden des Heimwehs und der Verlassenheit, der sehnsuchtsvollen Gedanken an Mami und Daddy, der Angst vor diesem fischäugigen Partner ihres Stiefvaters, der Verwalter des Ausbildungsfonds, der einzigen Hinterlassenschaft ihrer so tragisch verstorbenen Eltern. Aber Kerstin war weit weg. Brasilien. Ein Land der Hoffnung für Leute mit Mut zum Risiko. Der letzte Brief, den Pauline erhalten hatte und ängstlich vor IHM verbergen mußte – nie könnte ER verstehen, daß es andere Menschen gab, mit denen sie ihre geheimsten Gedanken teilen wollte, Gedanken, die ER nicht kannte – war ziemlich niederschmetternd. Zwiebelfelder, hatte Kerstin geschrieben, wohin das Auge reicht, nichts als Zwiebelfelder. Einhundertfünfzig Kilometer vom Meer und eine halbe Tagesreise von der nächsten Stadt entfernt kämpften Kerstin und ihr Mann mit den 9
Imponderabilien brasilianischer Improvisationskunst, während sich die Drogenstation, an der sie arbeiteten, mit mehr und mehr Kranken füllte. Was für ein Glück, hatte Kerstin geschrieben, daß wir uns nur für vier Jahre verpflichtet haben. Wenn ich wieder nach Hause komme, kann ich mein Leben lang keine Zwiebeln mehr sehen. Kerstin schied aus. Vielleicht sollte sie Sebastian anrufen. Würde er ihr helfen können? Geduld und innere Distanz sind keine Hilfe, wenn unsichtbare Fäden das eigene Geschick in eine todbringende Richtungen ziehen, wie sehr man sich auch dagegen wehrt. Pauline knabberte an ihren Nägeln. Magnus würde sie dafür tadeln. 'Linnie' würde er sagen, 'Wenn du unbedingt an etwas kauen willst, nimm einen Schnuller, dann weiß jeder, daß du erst zwei bist!' Dabei hatte Magnus ihr zugezwinkert. Magnus! Er würde ihr helfen! Ihr großer Bruder, der immer für sie da war. Er hatte ihre Tränen getrocknet, wenn sie beim Radfahren aufs Knie gestürzt war. Er hatte ihr ein Baumhaus gebaut, schützende Höhle, in der sie unzählige Stunden verbracht hatte, träumend oder lesend, ein Refugium, verboten für jeden anderen. Magnus war es auch gewesen, der die beiden zudringlichen Nachbarsjungen verprügelt hatte, die unbedingt unter ihren Rock sehen wollten. Und Magnus war es, der ihr eine Gutenacht-Geschichte erzählte, wenn Mami ihren Ehemann auf einen seiner vielen Geschäftsreisen begleitete. Magnus, ihr vergötterter Bruder mit den weichen Händen und den ungebärdigen Locken. Sie sah ihn vor sich, wie er ihre Hände in seine schloß, ihr tief in die Augen sah. 'Linnie, ich muß fort. Weit fort. Aber du kannst immer auf mich zählen.“ Geschrieben hatte er regelmäßig. Doch Pauline hatte die Briefe nur selten erwidert. ER wollte es nicht. ER wollte sie ganz für sich. ER WOLLTE SIE TÖTEN. Sie würde Magnus schreiben. Sofort. Solange sie noch den Mut und die geistige Klarheit hatte. Zu den ältesten und am weitesten verbreiteten Stoffen mit psychotroper Wirkung gehört das Opium, der eingedickte Milchsaft aus den Samenkapseln des Schlafmohns. „Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester.“ „Sie sollten die Polizei aufsuchen. Ich bin Psychologin.“ Meine Stimme klingt freundlich und entschärft die knappen Worte. Seit einer Viertelstunde drehen wir uns im Kreis. Mein Gegenüber ist ein Mann Anfang Vierzig und spricht mit amerikanischem Zungenschlag. Auch ohne diesen wäre er durch das Fehlen jeglicher Eleganz, die seine großkarierte Jakke, das orangerote Hemd und die gemusterte Krawatte signalisieren, unschwer als solcher zu erkennen. Seine Gesichtszüge sind weich und konturlos, die blaßblauen Augen scheinen in Tränen zu schwimmen. Er blinzelt unkontrolliert. Die hellblonden Haare kräuseln sich in ungebändigten Kringeln um seine Stirne. Wenn er wie jetzt mit seinen pummeligen Händen durch die Haare fährt, legen sich die Wogen wie eine vom Wind kurz aufgewühlte See, auf die Öl gegossen wird. Schon mehrmals habe ich dieses Schauspiel fasziniert beobachtet. Sollte seine Haarpracht seinem Charakter entsprechen, würde es schwierig sein, ihn zu einer Meinungsänderung zu bewegen. 10
Ich wage einen neuen Vorstoß. „Herr Budin, mir ist nicht klar, was Sie genau von mir erwarten. Ich weiß, daß Sie als junger Mann in die Staaten ausgewandert sind, und daß Sie nun nach Ihrer Schwester suchen. Ich denke nicht, daß ich Ihnen helfen kann. Es tut mir leid.“ Der abschließende Unterton ist unüberhörbar. Er verfehlt sein Ziel. „Genau genommen ist sie nicht meine Schwester.“ Meine Geduld nimmt spürbar ab. Was hat sich Marlies dabei gedacht, mir diese Trantüte als Klienten unterzujubeln? Noch dazu mit einem dreimal unterstrichenen Vermerk 'Dringend' auf der Karteikarte des sehr amerikanisch wirkenden Herrn Magnus C. Budin? Marlies Feldmann ist über fünfzig, eine verläßliche und ergebene Arzthelferin seit Beginn der therapeutischen Praxis, die ich mit meinen Kollegen Dr. Christopher Stark führe. Hin und wieder, wenn sie den Eindruck gewinnt, wir würden eine kleine Ermahnung benötigen, um unsere Arbeit mit der notwendigen Energie in Angriff zu nehmen, kommentiert sie neue Anträge mit aufmunternden Hinweisen. So wie in diesem Fall. Herr Budin erhielt umgehend einen Termin. Nun ist er hier. Wenn es nach mir geht, würde er es nicht mehr lange sein. „Ich verstehe. Sie suchen jemanden, der nicht Ihre Schwester ist.“ Ob die Ironie ankommt? Herr Budin richtet seine wäßrig blauen Augen auf mich und scheint endlich etwas von dem wahrzunehmen, was in den letzten Minuten zwischen uns abgelaufen ist. Er verzieht leicht den Mund. „Sorry, ich habe mich unklar ausgedrückt. Ich habe einen Brief von ihr erhalten. Sehen Sie, ich mache mir große Sorgen und neige zur Weitschweifigkeit. Ich habe eine Stiefschwester, sechs Jahre jünger als ich. Meine Stiefmutter hat ihre fünfjährige Tochter in die Ehe mitgebracht, als sie meinen Vater heiratete. Das süßeste Kind, das man sich vorstellen kann, rabenschwarze Locken und glutvolle Augen, Erbe ihres spanischen Vaters. Linnie hing an mir wie eine Klette und ich betete sie an. Als ich zwanzig war, starben unsere Eltern bei einem Autounfall. Kurze Zeit später zwangen mich bestimmte Umstände, in die Staaten auszuwandern. Seit Jahren ist der Kontakt mit meiner Schwester eingeschlafen, Linnies Briefe wurden immer seltener, und ich war mit dem Aufbau meiner Firma beschäftigt. Sie kennen das.“ Ich kenne das und nütze die Unterbrechung. „Herr Budin, ich weiß nicht, was amerikanische Kollegen in solchen Fällen unternehmen. Hier in Deutschland ist ein Psychologe nicht der richtige Ansprechpartner, um vermißte Personen aufzustöbern. Dafür haben wir die Polizei. Ich erwähnte es bereits. Es tut mir leid, daß Sie Ihre Stiefschwester vermissen, aber ich muß jetzt wirklich Schluß machen.“ Ich mache Anstalten mich zu erheben. Der Blick in seinen wasserblauen Augen wird ein wenig schärfer. „Sie werden in dem Schreiben erwähnt.“ Ich sinke wieder auf meinen Sessel zurück. Bis jetzt habe ich keine weiteren Gedanken an den Umstand verschwendet, wie Budin auf mich gekommen war. „Interessant. Ist sie eine Klientin von mir?“ Er schüttelt den Kopf, ohne daß sich seine Locken um einen Millimeter bewegen. Ob er Haarspray benutzt? „Sehen Sie selbst.“ Umständlich kramt er in der Brusttasche seines großkarierten Sakkos herum und reicht mir ein unordentlich zusammengefaltetes Blatt, das 11
Spuren von Kaffee und schmutzigen Fingerabdrücken trägt. Ich nehme es mit spitzen Fingern und falte es auseinander. Das Blatt ist auf einer Seite beschrieben, die Zeilen drängen sich dicht aneinander, so daß die Buchstaben teilweise ineinander laufen. Die letzte Zeile ist an den Rand gekritzelt. 'Lieber Magnus, bitte komm und hilf mir! Ich bin in großer Gefahr. Diesmal wird er mich töten. Lieber Magnus, bitte, hilf mir nur einmal noch, du bist meine letzte Rettung! In Liebe – Linnie. Zehn Uhr – Café am Münsterplatz – ich warte!!!' Langsam lasse ich das Blatt sinken. „Sie haben Ihre Schwester nicht angetroffen.“ Diese Feststellung bedarf keiner großen kombinatorischen Fähigkeit, daher geht Budin erst gar nicht darauf ein. „Der Brief war sieben Tage unterwegs. Ich bin sofort hierher geflogen und schaffte es am siebzehnten abends gerade noch rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt. Seit drei Tagen bin ich dort. Ich werde auch weiter jeden Tag hingehen, doch -“ eine resignierende Handbewegung „ich fürchte, es ist ihr etwas zugestoßen. Sehen Sie.“ Ohne Umstände erhebt er sich und drückt mir ein Kuvert in die Hand, das ähnliche Gebrauchsspuren zeigt wie das lose Blatt. Mit Mühe kann ich die Schrift auf dem Poststempel entziffern 'Ulm, 9.5.1998' und der Stempel der Uniklinik. „Herr Budin, ich sehe, daß Ihre Stiefschwester im Krankenhaus war oder zumindest das Schreiben über das Krankenhaus absenden ließ. Darüber hinaus sehe ich, daß Sie sehr besorgt sind und teile Ihre Befürchtungen zu einem gewissen Grad. Trotzdem kann ich Ihnen nicht helfen. Haben Sie daran gedacht, daß sich Ihre Schwester noch im Krankenhaus aufhalten könnte?“ Er wischt sich über die Augen. „Sorry, ich schlafe schlecht. Ich habe mich natürlich im Krankenhaus erkundigt, erwartungsgemäß aber keine Auskünfte erhalten. Man sucht nicht nach einer Frau, von der man nur den Vornamen weiß. Wenn Linnie vor elf Tagen im Krankenhaus lag und mir diesen dringenden Hilferuf sendet mit der Aufforderung, ins 'Café am Münsterplatz' zu kommen, dann nimmt sie an, daß sie bald entlassen werden wird, oder nicht?“ Ich muß ihm zustimmen. Ein logisch und klar denkender Mann, dem nicht viel zu entgehen scheint. Er hat mich mit diesem Hinweis geködert, wo steht denn nun mein Name? „Sagten Sie nicht, ich werde namentlich genannt?“ „Sehen Sie auf die Rückseite.“ Die blauen Augen blinzeln unkontrolliert. Ich drehe das Kuvert um – nichts außer einem schmutzigen Daumenabdruck. Dann wende ich den Brief. In der unteren linken Ecke steht: Dr. Sander, Dienstag 18.30. Entgegen meinem Willen entschlüpft mir die Frage: „Wie heißt der Mann Ihrer Schwester?“ Ich erkenne sofort meinen Fehler, glücklicherweise ist Budin anderweitig beschäftigt. „Ich hatte keine Ahnung, daß Linnie verheiratet ist. Als ich das letzte Mal etwas von ihr hörte, hatte sie gerade das Internat in der Schweiz abgeschlossen.“ Ein Mann, der seine Stiefschwester sucht, die ihm einen mysteriösen Brief schreibt, in dem sie um ihr Leben bangt, ist wahrscheinlich auch kein Fall für die Polizei. Budin sollte sich besser einen Privatdetektiv angeln. „Ist Linnie der Taufname Ihrer Schwester?“ Ich will es eigentlich nicht wissen. 12
Budin lockert den Kragen seines orangefarbenen Hemdes. Dann wischt er sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Nein. Wir nannten sie von Anfang an Linnie. Sie hat genau wie ihre Mutter nie über die Zeit gesprochen, bevor sie zu uns kam. Möglicherweise wußte ich irgendwann ihren Taufnamen, aber ich zermartere mir das Gehirn, es fällt mir nicht ein!“ Erschöpft hält er inne. Ich reiche Budin den Brief und versuche mich an einer komprimierten Darstellung der Fakten. „Verstehe ich Sie richtig, Sie wollen von mir, daß ich versuche, eine Frau zu finden, die möglicherweise eine Klientin von mir ist, von der Sie weder wissen, wie sie heißt oder wo sie wohnt? Nur daß sie als Kind glutvolle Augen und rabenschwarze Locken hatte, Mitte dreißig ist und mit Kosenamen Linnie heißt? Herr Budin, das ist unmöglich.“ Wen will ich überzeugen, ihn oder mich? „Meine Schwester liebte Puppen über alles und war leidenschaftliche Bogenschützin.“ Er merkt selbst, wie lächerlich das klingt. Ich zucke mit den Schultern. Doch er läßt nicht locker. „Wenn es eine Frage des Geldes ist?“ „Nein.“ Es klingt endgültig. Seine Schultern sinken nach vorn und er breitet die Handflächen aus. Er hat Hände wie ein Baby. „Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen, Frau Dr. Sander, aber sehen Sie, ich habe keine Verwandten mehr auf dieser Welt. Linnie ist das letzte, was mir geblieben ist. Ich bin geschieden, ein vermögender Geschäftsmann und... Linnie hat mich um Hilfe gebeten.“ Die letzen Worte sind wie ein Flüstern. Mein Entschluß steht fest. „Ich bedaure, Herr Budin. So wie Sie sich das vorstellen, geht es nicht. Ich kann keine detektivischen Aufgaben übernehmen und dabei das Vertrauen meiner Klienten mißbrauchen. Gehen Sie zur Polizei.“ „Das werde ich tun, aber ich bezweifle, daß sie etwas unternehmen wird.“ Ich ignoriere diesen durchaus berechtigten Zweifel. „Sie werden vermutlich bald wieder in die Staaten zurückkehren?“ Es klingt ermunternd. Budin bleibt verbindlich. „Ich danke Ihnen, daß Sie mir zugehört haben. Ich werde hierbleiben, solange es nötig ist.“ Er hält inne, als suche er nach Worten. „Wenn Sie irgend etwas erfahren, das nicht unter Ihre Schweigepflicht fällt, können Sie mich im Hotel Intercity jederzeit erreichen. Ab zehn Uhr abends auch im Café am Münsterplatz.“ Ein Mann, der nie locker läßt. Heftig blinzelnd rückt er seine Krawatte zurecht und erhebt sich umständlich. Ich begleite ihn zur Tür und blicke mich nach Marlies um. Sie ist nirgends zu sehen, der Platz hinter dem Schreibtisch leer. „Auf Wiedersehen, Herr Budin.“ Ein letzter weicher Händedruck. Sanft schließe ich die Türe hinter ihm. Ein rascher Blick auf die Uhr zeigt, daß meine nächste Klientin bereits warten müßte. Nur eine mittlere Katastrophe würde es verhindern, daß Frau MeierHildebrand zu spät zu ihrer Sitzung kommt. Frau Meier-Hildebrand findet es schick, eine eigene Therapeutin zu haben und mit einer Menge von konstruierten Problemen aufzuwarten, die alle aus der Tatsache resultieren, daß sie zuviel Geld und zuwenig Verantwortung hat. Nach einem schnellen Blick in den Terminkalender reiße ich zuversichtlich die Türe zum Wartezimmer auf und da sitzt sie, mit tragischem Mienenspiel und sensationslü13
sternem Blick. Ich begrüße sie mit dem Höchstmaß an Enthusiasmus, das ich aufbringen kann, was immer noch mehr ist, als sie wirklich verdient. 1826 entdeckte man die sedative Wirkung der Bromide, was zu ihrer Verwendung als erste reine Beruhigungs- und Schlafmittel führte. Es ist Mittwoch abend und ich bin auf dem Weg zu meinem Partner. Chris befindet sich noch im Rehazentrum in Stuttgart. Ich vermisse ihn seit Monaten, vermisse den abendlichen Gedankenaustausch, tröste mich aber damit, daß es nicht mehr lange dauert, bis er wieder seine Praxis aufnehmen kann. Nach der Verletzung durch eine meiner Klientinnen, die ihm im psychotischen Zustand einen Bauchschuß zugefügt hatte, hat sich der Heilungsprozeß hingezogen. Fast ein Jahr war bereits vergangen, doch endlich besteht Aussicht auf Genesung. Die Autobahn Ulm-Stuttgart ist dicht bevölkert, zum Glück jedoch überwiegend in die Gegenrichtung. Die Bewohner der Landeshauptstadt strömen ins lange Wochenende, morgen ist Christi Himmelfahrt und auch vor mir liegen vier freie Tage. Nach einem späten Kälteeinbruch zu Ostern, der die Statistik der warmen Februartage wieder zurecht rückte, ist endlich der Frühling gekommen. Die Sonne scheint und beschwingten Herzens steige ich aufs Gas, um eine Kolonne von Lastwagen zu überholen. Wenn alles gut geht, würde es eines der letzten Male sein, daß ich diese Fahrt unternehme. Chris Werte waren seit kurzem im Normbereich, aber der Leiter des Rehazentrums, ein guter Freund von uns, hatte unnachsichtig darauf bestanden, daß Chris noch zwei Wochen Kondition schindet, ehe er wieder auf die Menschheit losgelassen werden würde. Dr. Gottlieb Eisele war ein liebenswürdiger und treuer Freund seit Jahren, aber ein stahlharter Despot im Umgang mit seinen Patienten, der mit abgeklärtem Lächeln die lautstarken Unmutsäußerungen seines Freundes Dr. Chris Stark verpuffen ließ. Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus, wenn ich daran denke, daß ich in wenigen Tagen meinen Partner wieder neben mir haben werde. Er fehlt mir, die langen Gespräche am Ende unseres Praxisalltags, seine spontanen Einladungen 'komm, laß uns essen gehen!', sein kritischer Verstand und seine Ruhe, die sich durch nichts erschüttern läßt. Ich hatte mich in meinem seit Jahren bestehenden Single-Dasein komfortabel eingerichtet, vermißte weder einen Mann noch eine Familie, wenn ich mir trauen durfte, so daß mein Geschäftspartner offenbar wichtige Funktionen übernommen hatte. Dieses Defizit der letzten elf Monate würde nun wieder einem geordneten Miteinander Platz machen. Die LKWKolonne scheint auch gar kein Ende zu nehmen. Ich habe den höchsten Punkt der Autobahn über die schwäbische Alb erreicht, die europäische Wasserscheide. Nun kommt der Aichelberg, der für mich schönste Teil der Strekke. An zaghaften dicken Mercedes und BWMs mit ununterbrochen auflodernden Bremslichtern vorbei die steilen Kurven ins Tal zu schießen, hat sich in den letzten Monaten zum absoluten Hit entwickelt. Mit kindlicher Freude kann ich es genießen, an denjenigen vorbeizuziehen, die kurz vorher mit doppelter PS-Leistung überheblich an mir vorbei gerauscht sind. Nach wenigen Kilometern würde die A8 dreispurig werden und die alte Hackordnung wieder hergestellt sein.
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Chris sitzt schwitzend auf einem Ergometer im Fitneßraum, was ihn jedoch nicht daran hindert, mit einer jungen blonden Krankengymnastin zu schäkern. Amüsiert sehe ich ihm durch die Glasscheibe zu. Das rasche Lächeln, der intensive Blick seiner blauen Augen, die charakteristische Haltung seines Kopfes, wie habe ich das alles vermißt. Er entdeckt mich und winkt. Sekunden später kommt er aus der Tür, reibt sich mit dem Handtuch das naßgeschwitzte Haar und strahlt mich an. „Nellie! Wie schön, dich zu sehen! Du hast mich gerettet!“ Er ist außer Atem. „Seit wann muß man dich vor Blondinen retten?“ lache ich und falle ihm um den Hals. Er riecht nach Schweiß und Aftershave von Lagerfeld. Meine letzten heimlichen Sorgen bezüglich Chris' Wiederherstellung verschwinden. Chris ist wieder auf der Pirsch. Ich werfe einen Blick auf die Krankengymnastin, die sich bereits einem anderen Patienten zugewandt hat. Sie sieht umwerfend aus. Chris zieht mich am Ohr. „Keine unflätigen Bemerkungen, bitte. Ich bin im Krankenstand.“ „Dann benimm dich auch danach!“ flachse ich und löse mich aus seiner Umarmung. Wir gehen auf sein Zimmer. Während er sich duscht und umzieht, wandere ich in dem kleinen Raum umher, das sich während der letzten Monate mehr in eine Ablage für medizinische Zeitschriften und Bücher verwandelt hat. Man findet keinen Platz zum Sitzen. Eine aufgeschlagene Fachzeitschrift liegt auf dem Bett. Der Artikel handelt über neue Erkenntnisse bei der Behandlung von Epilepsie. Ich spüre jedoch kein Verlangen nach Erweiterung meines Kenntnisstandes und sehe zum Fenster hinaus auf die Straße. Die jungen Kastanienbäume sind voll hellgrüner Blätter und roter Blütenkerzen. Auf der anderen Straßenseite geht ein dicklicher Mann mit hängenden Schultern und gekringeltem Haar. Er trägt ein kariertes Sakko und für eine Sekunde meine ich, Mister Magnus C. Budin zu sehen. Das Abendessen nehmen wir in unserer Stammkneipe ein, einem kleinen Lokal in der Nähe der Klinik. Es ist wie immer gut besucht, Wortfetzen und Gelächter bilden einen freundlichen Hintergrund in der schummrigen Gaststube. Chris und ich sitzen an unserem Stammplatz in einer Fensternische. Wir haben über seine Fortschritte und seine Rückkehr in die Praxis gesprochen und die meiste Zeit herumgealbert. Meine gutmütige Spitze bezüglich seines Flirts mit der blonden Krankengymnastin hat er mit einem ironischen Hinweis auf meinen partnerlosen Zustand pariert und gemeinsam sind wir über unseren Freund Gottlieb hergezogen, der die Gelegenheit, Chris zu schikanieren, voll Inbrunst ausnützt. Jetzt schweigen wir, ein zufriedenes, friedvolles Schweigen. Ich sehe zum Fenster hinaus und beobachte, wie ein langer Tieflader mühsam in die enge Einfahrt der Tankstelle an der Ecke rangiert. Der Sattel ist vollgeladen mit brandneuen Autos und kommt der Tankstellenbeleuchtung gefährlich nahe. Ich halte den Atem an, bis er glücklich die Kurve geschafft hat. „Wenn einer deiner Klienten seine Frau umgebracht hätte, was würdest du dann tun?“ Meine Frage steht plötzlich zwischen uns, ohne daß ich sie bewußt formuliert habe. Sie erschreckt mich, aber ich ziehe sie nicht zurück. „Ihm gratulieren und die Therapie als Erfolg verbuchen!“ flachst Chris. Doch ich bin nicht mehr in Stimmung für Neckereien. In meinem Kopf hallen die Worte aus Linnies Brief 15
nach: 'Diesmal wird er mich töten'. Budins wäßrige Augen blinzeln mich an. Unbehagen steigt in mir auf, das sich zu dem Gefühl von drohender Gefahr verdichtet. Ich sehe auf meine Hände und möchte das Thema zu wechseln. Unschlüssig zünde ich mir eine Zigarette an und nehme einen Schluck Wein. Doch sei’s drum! Chris würde mir die Gespenster schon austreiben. „Gestern morgen“, beginne ich noch immer nicht völlig überzeugt, das Richtige zu tun, „als ich in die Praxis komme, hat mir Marlies eine Karte hingelegt, auf der 'dringend' steht. Du weißt ja, wie sorgsam sie darauf bedacht ist, daß wir unsere Pflicht erfüllen. Du wirst, was das anbelangt, nichts zu lachen haben, wenn du zurückkommst! Ein gewisser Magnus C. Budin will ein Gespräch mit mir. Ich habe um zwei Uhr eine halbe Stunde frei. Also sage ich Marlies, sie soll diesen Termin weitergeben. Magnus C. Budin ist pünktlich und kommt aus den USA, Delaware, wenn ich mich richtig erinnere. Er ist Deutscher, und sucht seine Schwester. Stiefschwester, um genau zu sein. Er hat sie zum letzten Mal gesehen, als sie etwa vierzehn war und er in die USA ausgewandert ist. Bis dahin hatten sie ein sehr inniges Verhältnis, dann reißt die Verbindung irgendwie ab. Er wußte nicht, daß sie in der Zwischenzeit geheiratet hat, er weiß auch nicht, wo sie wohnt oder wie sie mit Familiennamen heißt. Genau genommen weiß er gar nichts über sie, auch nicht, ob sie vielleicht in der Zwischenzeit zu hysterischen Durchbrüchen neigt. Vor wenigen Tagen nun hat er einen mysteriösen Brief erhalten, in dem seine Schwester ihn um Hilfe anfleht, da sie um ihr Leben fürchtet. Daraufhin ließ er alles stehen und liegen und flog hierher. Seine Schwester kam nicht zum ausgemachten Treffpunkt.“ „Keine Adresse auf dem Kuvert?“ In Chris' Ton schwingt leichte Besorgnis mit. „Nein. Das Kuvert trägt lediglich den Stempel der Uniklinik mit Datum vor drei Wochen und einen schmutzigen Daumenabdruck. Der Verdacht liegt nahe, daß die Briefschreiberin zu dieser Zeit im Krankenhaus war, ein nicht gerade entlastender Begleitumstand, wenn du mich fragst. Der Brief stammt von einem Notizblock, in offensichtlicher Eile geschrieben, unregelmäßige Buchstaben in einer steilen, kindlichen Handschrift, grüne Tinte und kleine Kreise statt der I-Punkte. Könnte von einer Zwölfjährigen stammen. Zwölfjährige denken nicht an solche logischen Dinge wie Namen oder Adressen, wenn sie um Hilfe schreien!“ „Die Klinik wird keine Auskünfte geben.“ „Die Klinik kann keine Auskünfte geben, weil kein Name vorhanden ist. Sackgasse.“ „Wie kam er auf dich?“ „Der Brief ist ein abgerissenes Blatt von einem Notizblock. Auf der Rückseite steht mein Name und eine Zeitangabe.“ Immer noch will ich nicht richtig heraus mit der Sprache, obwohl mir bewußt ist, daß mir das bei Chris nichts nützen wird. „Nel, du redest herum. Was für eine Zeitangabe?“ Das geht mir etwas zu schnell. Ich will den Fall nicht weiter verfolgen, ich will nicht, daß es überhaupt ein 'Fall' ist. Chris soll mich darin bestätigen. Doch dieser runzelt die Stirn. „Es ist ein Fall für die Polizei oder einen Privatdetektiv“ sage ich störrisch. Chris streckt die Hände von sich und auf seiner Stirn erscheint die alt vertraute Falte. „Wenn du dieser Ansicht bist, warum fragst du mich dann? Du willst meine Meinung, also brauche ich die Fakten.“ 16
Ich seufze. „Dienstag, 18 Uhr 30.“ Chris räuspert sich und sieht mich an. „Deine erste Frage bezog sich auf einen Mann. Erinnerst du dich?“ Er nimmt seine Gabel und stochert im Salat herum. „Budin sucht seine Schwester. Du hast den Tag und die Uhrzeit deines Klienten, du weißt also, wer es ist. Frag ihn einfach.“ Es klingt ein wenig ärgerlich. Ich schüttle den Kopf. „Es steht ja nicht da, welcher Dienstag. Ich habe immer wieder Dienstag, 18 Uhr 30-Patienten.“ „Akzeptiert. Trotzdem weißt du mehr, als du sagst. Wer ist es?“ Ich kaue an meiner Unterlippe. Soll ich nicht doch das Thema wechseln? Das unangenehme Empfinden breitet sich wieder aus. Es ist ein innerliches Frösteln, die Vorahnung einer Katastrophe. „Laß uns von etwas anderem sprechen. Bitte.“ Chris ignoriert meine Bitte und sieht mich forschend an. „Du willst es wissen und doch nicht, stimmt’s?“ Ich nicke unglücklich. Chris schiebt seinen Teller zu Seite, zieht aus seiner Brusttasche ein Blatt Papier und einen Kuli heraus, streicht den Bogen glatt und fängt an herzum zu kritzeln. Diese vertraute Geste meines Partners lassen mir die Tränen in die Augen steigen. Zumindest hoffe ich, daß diese Traurigkeit mit der Einsamkeit der letzten Monate zusammenhängt und nicht mit diesem tiefen Gefühl nahenden Unheils. Ich wußte, Chris würde nicht vom Thema loszueisen sein. Pragmatisch veranlagt sieht er die Situation unter dem Gesichtspunkt: seine Partnerin hat ein Problem, also muß es gelöst werden. So einfach ist das. Ich blinzle die Tränen weg und hoffe, daß meine Stimme unauffällig klingt. „Ich habe mich vergewissert. Das war das erste, was ich nach Budins Weggang tat. Obwohl es nicht notwendig war, ich habe meine laufenden Klienten im Kopf. Ich wußte es in dem Moment, als ich die Notiz las. Darum ist mir auch dieser Fehler unterlaufen, als ich Budin nach dem Ehemann fragte.“ Ich mache eine Pause. Es fällt mir schwer. Wenn ich Chris die beiden Namen sage, wird es ein 'Fall' werden. Wir werden darüber sprechen, die Therapiestunden nach Hinweisen absuchen, ausloten, welchem von beiden eine solche Tat eher zuzutrauen ist, und immer hoffen, daß wir uns beide irren. „Die Notiz könnte vor Monaten geschrieben worden sein.“ „Nel, das glaubst du doch selber nicht. Die Frau liegt Anfang Mai im Krankenhaus. Sie hat nur ein Blatt zum Schreiben, das auf einer Seite diese Notiz trägt. – War es übrigens dieselbe Schrift? Grüne Tinte, gedrängte Buchstaben mit kleinen Kringeln als i-Punkt?“ „Nein.“ seufze ich. „Es war blauer Kuli und eine zügige Schrift.“ Chris nickt. „Hast du neue Dienstag-Klienten in den letzten Wochen angenommen?“ „Nein.“ sage ich wahrheitsgemäß. Chris nimmt mir das Glas aus der Hand, mit dem ich in den letzten Minuten gespielt habe, und umschließt meine Finger mit festem Druck. „Nel“ sagt er sanft, „laß uns die Dinge ganz objektiv betrachten. Wenn einer deiner Klienten seine Frau bedroht, während er bei dir in Therapie ist, dann kannst du nicht einfach sagen, 'Pech gehabt!' und zur Tagesord17
nung übergehen. Ich sehe doch, es nagt an dir. Also, laß uns gemeinsam einen Weg suchen!“ Wie vorhersehbar hat Chris den Finger auf den springenden Punkt gelegt. Die Betonung liegt auf 'während er bei dir in Therapie ist'. Genau das hat mich nicht in Ruhe gelassen. Psychotherapie ist eine Ausnahmesituation, in der zu völlig fremden Menschen ein Vertrauensverhältnis hergestellt wird, das oft weit über das hinausgeht, was man zu seinen engsten Familienmitgliedern unterhält. Therapeuten wissen Dinge, über die jahrzehntelang Scham und Schuld den Mantel des Schweigens gebreitet hatten. Nur mit absoluter Offenheit kann eine Therapie fruchtbringend und erfolgreich sein. Körperliche Bedrohungen der Partner sind Verhaltensweisen, die offen gelegt werden müssen, damit entsprechende Gegenstrategien ergriffen werden können. Nun berichten Klienten nicht freiwillig Dinge, die ein schlechtes Licht auf ihren Charakter werfen. Aufgabe guter Therapeuten ist es dann, solche Defizite aufzuspüren. Ich halte mich für eine gute Therapeutin. Chris spricht aus, was ich mir nicht einzugestehen wagte. „Du fühlst dich hintergangen. Du denkst, du hast versagt.“ „Nun, wie du schon gesagt hast, kann man die endgültige Beseitigung eines Partners als effizienteste Problemlösestrategie von Beziehungskonflikten betrachten. So gesehen wäre meine Therapie wirklich ein durchschlagender Erfolg.“ Mein Lachen klingt gequält. Ich fühle mich miserabel. Chris läßt meine Hand los und greift nach meiner Zigarettenschachtel. „Gottlieb hat dir das Rauchen verboten.“ sage ich ablenkend. Chris beachtet meinen Einwurf nicht. „Nel, hör auf damit!“ Es klingt im Ansatz scharf, dahinter spüre ich Besorgnis. Das will ich nicht. Mein Partner soll sich keine Sorgen um mich machen. Er soll gesund werden und wieder mit mir zusammen arbeiten. „Entschuldige! Es ist so, wie du sagst, aber ich will es nicht so sehen. Noch nicht. Ich dachte, ich könnte die ganze Sache vergessen. Aber ein Teil meines Ichs weiß, daß das nicht möglich ist. Während ein Klient eine Therapie bei mir macht, fürchtet seine Frau um ihr Leben. Hat es vielleicht schon verloren. Ich sollte versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen.“ Ich atme tief durch und fühle mich etwas besser, daß dieses vage Gefühl des Unbehagens nun offen auf dem Tisch liegt. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, wenn ich unaufmerksam gewesen bin, zu flüchtig oder gleichgültig, dann würde ich es wissen wollen. Unbedingt. Ich sehe Chris an, der leise schmunzelnd meinen Gedanken gefolgt ist. Zufrieden nickt er. Ich atme tief durch und springe ins kalte Wasser. „Es sind zwei Männer, die abwechselnd alle vierzehn Tage am Dienstag, um 18 Uhr 30 zur Therapie kommen und das schon seit etwa einem halben Jahr. Beide Männer machen einen Medikamentenentzug und haben eine ähnliche Vorgeschichte, wenn sie auch unterschiedlichen Alters sind. Beide sind zum zweiten Mal verheiratet, beide sind in ihrem Beruf sehr ehrgeizig und beide haben beteuert, daß sie eine ausgesprochen gute Ehe führen. Der eine Klient ist Arzt, der andere hat eine Softwarefirma. In beiden Fällen hat berufliche Belastung zu einem Medikamentenabusus geführt, wobei der Arzt eine breite Palette von Neuroleptika und Tranquilizern bietet, der Softwaretyp 'nur' Tavor in rauhen Mengen schluckte.“ 18
„Wer neigt eher zu unkontrollierter Aggression?“ fragt Chris sich Notizen machend mit vollem Mund. Der tragische Unterton ist aus unserem Gespräch verschwunden, was keiner von uns vermißt. „Lothar Stillmann.“ Ich klaue ihm eine Olive von seinem Salat. „Der Arzt?“ Er spült den Bissen mit dem letzten Rest von Mineralwasser hinunter. Ich lächle. „Erstaunlicherweise nein. Du sollst nicht von dir auf andere schließen.“ Jetzt sind wir wieder das eingespielte Therapeutenteam, das konzentrierte Frage-Antwortspiel hüpft wie in Ping-Pong-Ball zwischen uns hin und her, wobei der flapsige Tonfall nicht darüber hinweg täuscht, daß hier ernsthaft gearbeitet wird. Chris droht mit dem Finger. „Drei Eigenschaften zur Person.“ sagt er mit hintergründigem Lächeln, während er den Namen notiert. Er spielt dabei auf die therapeutische Methode an, spontan einen Menschen durch drei Worte zu beschreiben, die einem ohne langes Nachdenken in den Sinn kommen. „Hoffentlich muß ich diese Sitzung nicht auch noch bezahlen!“ knurre ich. „Es reicht, wenn du die Zeche begleichst“ lacht er augenzwinkernd. Ich bin großzügig. „Da dies ein Arbeitsessen ist, werde ich es beim Finanzamt absetzen.“ Der Kellner erscheint und räumt die Teller ab. Wir bestellen Kaffee. Chris klopft ungeduldig mit dem Stift auf den Tisch. Ich zünde mir eine Zigarette an und konzentriere mich. „Lothar Stillmann: erfolgreich, schlitzohrig, verläßlich.“ Ich lehne mich zurück. „Ihre Analyse bitte, großer Meister!“ Chris betrachtet die Anmerkungen und murmelt kryptisch „Interessant. Wie paßt das zusammen?“ Ich kneife ein Auge zusammen und sage unbestimmt: „Erfolgreich und schlitzohrig? Denkst du, das schließt sich aus?“ „Warum kann man keine fünf Worte vernünftig mit dir reden?“ „Weiß ich nicht. Abwehr des zweiten Gesichts wahrscheinlich.“ sage ich leichthin. „Wie bitte?“ „Na, meine tief verwurzelten Ahnungen eben. Werde mich wohl in Therapie begeben müssen. Hast du nächste Woche einen Termin frei?“ „Dienstag, 18 Uhr 30.“ „Tut mir leid. Da kann ich nicht.“ „Schade. Aber vielleicht kannst du mir klarmachen, welche charakterlichen Besonderheiten jemanden auszeichnen, der gleichzeitig schlitzohrig und verläßlich ist?“ „Vielleicht. Stillmann ist ein tüchtiger Geschäftsmann in einem Beruf, in dem es einen großen Markt gibt. Er muß also fit sein, flexibel und anpassungsfähig, alle Tricks kennen und seinen Kunden einen Schritt voraus sein. Das nennt man im allgemeinen Sprachgebrauch schlitzohrig.“ „Nennt man das so? Du hättest gerade auch von mir sprechen können.“ „Wer sagt denn, daß du nicht schlitzohrig bist?“ 19
„Aha! Nun, dann werde ich eine weitere Zusammenarbeit mit dir wohl neu überdenken müssen. Bin ich denn wenigstens auch verläßlich?“ „Unbedingt. Ich muß da etwas klarstellen, Stillmann hat mehrmals seine Termine abgesagt, die Therapie abgebrochen, aber er hat mich nie hängen lassen. Hat immer rechtzeitig angerufen. Auch hat er pünktlich bezahlt.“ „Weißt du etwas über Aggressionen? Ist er ein Schlägertyp?“ Ich breite die Hände aus und zucke mit den Achseln. „So aus dem Stegreif habe ich nichts im Kopf. Ich erinnere mich daran, daß er sich selbst als 'cholerisches Temperament' bezeichnet, das er als Erbteil seines Vaters sieht. Mehrere Freundinnen vor seiner zweiten Ehe, aber das heißt ja nicht, daß er jede verprügelt hat.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Ich könnte ihm eine Menge aus der Anamnese erzählen, doch ich kämpfe immer noch gegen mich. Chris kratzt sich an der Nase. „Hm. Kann sein, kann nicht sein. Solche Schilderungen hören wir zu Dutzenden. Genauer nachgefragt hast du nicht?“ „Fällt mir im Augenblick nicht ein, doch wahrscheinlich nein. Ich hatte ja keine Veranlassung, er wollte einen Tavorentzug.“ „Na gut. Behalten wir die Möglichkeit im Auge.“ Er macht einige Fragezeichen neben dem Namen und schreibt 'erste Ehefrau?' darunter. Dann zieht er einen waagrechten Strich. „Und der zweite, der in Frage kommt?“ Ich zögere. „Sebastian Seibt“ sage ich schließlich, „er ist kooperativ, liebenswürdig und eigentlich zu alt für eine Dreißigjährige.“ Chris zieht die Augenbrauen hoch. „Du magst ihn?“ – „Ich mag alle meine Klienten, mein Lieber.“ Chris kritzelt auf dem Bogen herum. Ich werde ungeduldig und führe es darauf zurück, daß ich unter keinen Umständen will, daß es Sebastian Seibt ist. Mein freundlicher Elsässer mit dem kaum merkbaren Akzent und dem leisen Lächeln ist ein so angenehmer Klient, daß ich gar nicht daran denken mag, er könne eine so grauenvolle Tat begehen. Aber wahrscheinlich macht ihn gerade das zum Verdächtigen Nummer eins. Chris zieht einen weiteren Strich. „Was hast du von seiner Anamnese noch im Kopf?“ Mit einemmal befällt mich Angst. Worauf lasse ich mich da ein? Wir jagen hier doch einem Hirngespinst nach. Ich wiegle ab. „Du weißt, bei einem Medi-Entzug, der streng verhaltenstherapeutisch abläuft, steht der familiäre Hintergrund nicht im Mittelpunkt. Die Stunden, die die Kasse zahlt, sind begrenzt und reichen oft nicht einmal für einen erfolgversprechende Therapie aus. Ich streife die Familienbeziehungen, um ein Gesamtbild des Klienten zu erhalten, gehe aber nicht in nähere Details, wenn der Klient es nicht will.“ Chris faltet die Liste zusammen. „Nel, du klingst, als würdest du aus dem Lehrbuch für Klinische Psychologie rezitieren. Entscheide dich. Du kannst nicht einmal hü und dann wieder hott schreien. Bist du sicher, daß du Nachforschungen anstellen willst? Wenn nein, verschwenden wir hier unsere Zeit.“ 20
Chris hat recht. Ich werde mich entscheiden müssen. „Verzeih.“ sage ich und sehe auf die Uhr. Erleichtert stelle ich fest, daß es bereits kurz vor halb elf ist, Sperrstunde in der Klinik. Chris hat meinen Blick richtig interpretiert und winkt dem Kellner. Ich zahle und Arm in Arm gehen wir in die Klinik zurück. Im Foyer verabschiede ich mich von ihm. Er hält mich an den Schultern fest und sieht mich eindringlich an. „Verschaffe dir Gewißheit, Nellie, mein Schatz. Du hast sonst keine Ruhe. Ich kenne dich. Wenn du mich brauchst, dann laß mich dir helfen.“ Er zieht mich an sich und drückt mir einen Kuß auf die Stirn. Ich hebe hilflos die Hände hoch. „Wo soll ich denn anfangen?“ frage ich ratlos. Chris schiebt mir die Liste in die Hand und zieht spöttisch die linke Braue hoch. Doch bevor er antworten kann, dröhnt eine laute Stimme hinter uns: „Der Schlaf des Patienten ist vorrangig und zur Gesundung unentbehrlich. Also, Nel, mach, daß du fortkommst!“ Gottlieb Eisele klatscht in die Hände und scheucht mich zur Seite. Chris und ich fallen gemeinsam über ihn her und eine spielerische Balgerei beginnt. Während wir herumalbern, läuft eine junge Ärztin in weißem Mantel vorbei und wirft uns einen indignierten Blick zu. Offenbar unterdrückt sie nur aufgrund der Anwesenheit ihres Chefs eine anzügliche Bemerkung. Wir reißen uns zusammen und Gottlieb raunt mir durch die geschlossenen Lippen zu: „Da werde ich morgen einiges zu leisten haben, um meine Autorität wieder herzustellen.“ Ich verabschiede mich und vergewissere mich bei Gottlieb, daß Chris auch wirklich in zehn Tagen entlassen wird. Von der Eingangstüre aus winke ich beiden Männern zu. Auf dem Weg zu meinem Auto fühle ich mich verlassen und allein und würde am liebsten wieder umkehren. Zurück in die lichte Wärme. Zurück in ein Krankenhaus? Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen? Aus dem Lehrbuch für Pharmakopsychiatrie: Unter dem Begriff Tranquillantien werden Psychopharmaka zusammengefaßt, die zur Behandlung von Angst- und Spannungszuständen verwendet werden. Als klinischen Tranquilizer-Effekt bezeichnet man die angstlösenden, beruhigenden und emotional entspannenden Wirkungen. Ich fahre nicht gerne in der Nacht, also lasse ich mir Zeit. Kaum bin ich auf der Autobahn, fallen die Gedanken wieder über mich herein. Da ich schon immer beim Fahren am besten denken konnte, krame ich in meinem Gedächtnis und hole mir die unter der augenblicklichen Fragestellung relevanten Therapiestunden wieder ins Bewußtsein. Wie zu erwarten war, beginne ich mit Stillmann. Dienstag, 16.12. 18 Uhr 34 Guten Abend, Herr Stillmann. Bitte nehmen Sie Platz. Wie fühlen Sie sich heute? Ich habe schlecht geschlafen, Frau Doktor. Bin wie gerädert. Kam heute morgen kaum aus dem Bett. Hatte das Stangyl keine Wirkung? Nein. Das Zeug wirkt nicht so. Aber Tavor nehme ich keines mehr. Damit ging es mir am nächsten Tag noch beschissener, wie Watte im Kopf. Konnte nicht mehr geradeaus denken. Muß los davon. Sonst geht mein Geschäft flöten. 21
Dazu sind Sie ja hier. Haben Sie sich Gedanken gemacht, wieso es zu einer solchen Abhängigkeit kommen konnte? Abhängigkeit? Bin doch nicht abhängig! Nun, wenn Sie nicht abhängig sind, warum machen Sie dann eine Therapie? Weil ich nicht schlafen kann ohne Tavor! Machen Sie sich über irgend etwas Sorgen? Sorgen, Sorgen. Wer hat die nicht in dieser Zeit? Läuft ihr Geschäft schlecht? Die Firma? Nein, ich kann nicht klagen. Wir haben dieses Jahr bereits ein Umsatzplus von 37 Prozent. Dieser große Auftrag der Zeppelinwerke hat sehr geholfen. Meine Mitarbeiter und ich schuften Tag und Nacht. Ich brauche wenigstens fünf Stunden Schlaf. Was tun Sie, wenn sie nicht schlafen können? Was ich tue? Nichts. Ich drehe mich hin und her, stehe auf, lege mich wieder hin. Grübeln Sie? Hm. Ja, schon möglich. Geht einem 'ne Menge im Kopf herum. Wie man halt so nachdenkt über alles Mögliche, wenn man nicht schlafen kann. 'Man'? Wie bitte? Sie sagten 'man', meinen aber sich. Sie legen aber jedes Wort auf die Goldwaage, Frau Doktor. Also schön, ICH denke über alles Mögliche nach. Das klingt doch persönlicher, Herr Stillmann, es betrifft ja auch Sie und nicht die Allgemeinheit. Worüber denken Sie denn nach? Was passiert ist, wie es weiter geht... solche Sachen eben. Also, über die Firma, den neue Auftrag, die weitere geschäftliche Entwicklung. Haargenau. Auch über Ihre Familie? Hin und wieder, ja. Gibt es irgendwelche Probleme in Ihrem privaten Umfeld? Mit Ihrer Frau? Nein. Sie sind zum zweiten Mal verheiratet. Wie lange schon? Vier Jahre. Da ist alles in Ordnung. Und Ihre erste Ehe? Dauerte drei Jahre. Das ist fast fünfzehn Jahre her. Sie haben einen Sohn aus dieser Ehe, der bei Ihnen lebt. Seitdem er seine Lehre macht. 22
Gibt es Schwierigkeiten mit ihm? Nicht mehr. Herr Stillmann, mir scheint, was Ihre private Seite anbelangt, lassen Sie sich die Informationen wie Würmer aus der Nase ziehen. Was hat'n meine alte Ehegeschichte mit meiner Tablettenfresserei zu tun? Unmittelbar nichts, da haben Sie recht. Doch Ursachen für Abhängigkeiten liegen immer in der Vergangenheit. Zwischen Ihrer ersten und Ihrer zweiten Ehe, gab es da andere Beziehungen? Oh, einige! Längere? Das kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Einige Monate, ein halbes Jahr. Mit einer war ich anderthalb Jahre zusammen. Und wer hat diese Beziehungen beendet, Sie oder die Partnerin? Das war ganz unterschiedlich. In der Mehrzahl der Fälle? Also, meistens... ja, ich denke schon meine Exfreundinnen. Ja. Hatte schon den Verdacht, daß es keine bei mir aushält, hahaha. Bis ich meine zweite Frau kennen lernte, natürlich. Das funktioniert wunderbar. Wissen Sie, warum sich ihre Freundinnen von Ihnen trennten? Frau Doktor, ich habe nicht die geringste Ahnung! Gut, ich bin manchmal etwas aufbrausend. Erbteil von meinem Vater. Verstehen Sie, ich war mit dem Aufbau meiner Firma beschäftigt. Da hat man nicht immer Zeit, sich nach den Launen der Frauen zu richten. Die wollen mal dies, mal das und sind sauer, wenn man keine Zeit hat. Man? Wie bitte? Sie sagten schon wieder 'man'. Ist so ne Angewohnheit. In Ihrer ersten Ehe, wer hat die Scheidung eingereicht? Sagen Sie mal, warum interessiert Sie das so, wer sich von wem getrennt hat? Es ging eben nicht mehr. Basta. Herr Stillmann, ich versuche, ein Muster herauszufinden, das die auslösenden Bedingungen für Ihren Medikamentenmißbrauch erklärt. Es könnte ja sein, daß Sie nur schwer in der Lage sind, Beziehungen aufzunehmen oder es nicht lange in einer solchen aushalten. Ha. Da sind Sie aber schön auf dem Holzweg, liebe Frau Doktor. Ne, ich hatte nie Probleme, eine Frau zu finden. Wenn ich will, habe ich heute noch an jedem Finger eine. Du meine Güte, daran kann's nicht liegen. Wirklich nicht. Wie schön für Sie. Wer hat nun die erste Ehe beendet? 23
Die Scheidung hat meine Frau eingereicht, aber ich kam damit klar. Wie gesagt, es ging eben nicht. Waren noch zu jung, wir beide. Der Sohn blieb bei der Mutter und Sie haben Unterhalt gezahlt. Nein. Das hat meine Ex strikt abgelehnt. Sie hatte von Haus aus viel Geld, ihre Eltern waren beide tot. Sahen Sie ihren Sohn oft? Hm, nein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Ex wollte es nicht. Sie war total auf das Kind fixiert, vielleicht weil er eine Frühgeburt war. Kam sechs Monate nach der Ehe auf die Welt. Denke mir, daß die Ehe deswegen scheiterte. Es gab nur mehr 'ihren Sonnenschein' und ich war abgemeldet. Andererseits... Ja? Ach, nichts. Das ist alles schon lange vorbei. Ich war jung und wollte geschäftlich erfolgreich werden, kniete mich in die Arbeit und habe es auch geschafft. Sie wirken etwas gedrückt. Wissen Sie, ich habe mir manchmal Gedanken gemacht, ob ich meinen Jungen zu früh aufgegeben habe. Sie hat ihn nämlich mit sieben Jahren in ein Internat abgeschoben. Mein Sohn sah seine Mutter kaum mehr, ein- zweimal im Jahr. Ich war geschockt, als er es mir erzählte. Zuerst diese abgöttische Liebe und dann schiebt sie ihn ab und kümmert sich nicht mehr darum. Mit Geld läßt sich eben alles regeln. Aber das ist vorbei, er ist bei uns und wir werden die Sache schon schaukeln. Dienstag, 3. Februar, 18 Uhr 46 Herr Stillmann, erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal Beruhigungs- oder Aufputschmittel genommen haben? Das war vor vielen Jahren, als ich gerade meine Firma gegründet habe. Ich lebte praktisch nur noch von schwarzem Kaffee. Da habe ich zum Schlafen etwas verschrieben bekommen. Das legte sich dann nach einiger Zeit und ich brauchte nichts mehr. Vor einem Jahr kamen die Schlafprobleme wieder. Können Sie sich einen Grund vorstellen? Hm. Es war eine schwierige Zeit. Mein Junge kam zu uns und anfänglich hat sich meine Frau nicht gut mit ihm verstanden. Ich konnte auch nicht viel mit ihm anfangen. Er war schlampig, ließ alles herumliegen und saß nur vor dem Computer. Hatte ein Händchen, das sah man, lernte schneller programmieren, als ich es ihm beibringen konnte. Aber halt nichts Rechtes. Spiele, Spiele. Er tat nichts anderes. Bis ich dann ausgerastet bin. Hatte ihn schon am Genick gepackt. Erst als meine Frau schrie, bin ich zu mir gekommen. Da habe ich gesagt, jetzt muß etwas passieren. Wenn ich trotz Tabletten so unbeherrscht bin, muß etwas geschehen. Gab es früher einmal ähnliche Vorfälle Ihrer Unbeherrschtheit? Das ist lange her. Wie Jugendliche eben so sind. 24
Wie sind denn Jugendliche so? Na ja, da geht’s schon mal zur Sache. Eine Keilerei auf dem Dorffest oder nach einer Wirtshaustour... nichts besonderes. Wurden Sie angezeigt, sind Sie vorbestraft? Einmal mit neunzehn. Ich bekam sechs Monate Bewährung. Wie gesagt, eine Jugendsünde. Das ist vorbei? Was glauben Sie denn! Ich habe genug mit meiner Firma zu tun. Der große Arbeitsaufwand ist also die Ursache für Ihren Tablettenkonsum? Wir entwerfen Programme für Steuerungen. Wenn wir einen Auftrag erhalten, muß dieser termingerecht fertig sein. Da heißt es, sich ranhalten und auch die Nacht durchmachen. Herr Stillmann, Sie verwirren mich etwas. Nehmen Sie jetzt Beruhigungsmittel, um ihre überschießende Aggressivität im Zaum zu halten oder... Was heißt das? Überschießende Aggressivität heißt, daß Sie sich schlecht beherrschen können. Ich sagte doch, das ist lange her. Und der Vorfall mit Ihrem Sohn? Äh, also... das war ein Ausrutscher. Wie auch immer. Oder kommen Sie zu mir, um Ihre Schlafprobleme in den Griff zu kriegen? Genau das! Sie treffen den Punkt, Frau Doktor. Da habe ich so meine Zweifel. Wenn Sie sagen, daß sie zu mir kamen, weil sie trotz Tabletten so unbeherrscht waren, könnte es dann möglich sein, daß ihr erster Medikamentenmißbrauch vor vielen Jahren nicht nur mit dem Aufbau Ihrer Firma zu tun hatte? ... Möchten Sie diese Frage nicht beantworten? Wenn ich ehrlich bin, Frau Doktor, dann nein. Es ist... äh... lange her. Aber wie ich Sie kenne, werden Sie so lange darauf herumreiten, also kann ich es genauso gut gleich gestehen. Wie ich bereits sagte, wurde ich auf Bewährung verurteilt. Damals war ich neunzehn. Das war ein derartiger Schock, daß ich mir geschworen hatten, nie wieder die Hand gegen irgend jemanden zu erheben. Ich habe diesen Entschluß auch durchgehalten, obwohl es nicht leicht war. Ich bin eben ein Heißsporn. Mit zweiundzwanzig habe ich meine erste Frau kennen gelernt. Sie war wunderschön, schwarze Haare, Traumfigur, und ungeheuer feurig. Ich verliebte mich von der ersten Sekunde an in Polly, im Zug von Zürich nach Ulm. Wir sprachen die ganze Fahrt und als wir angekommen waren, gingen wir gemeinsam essen. Seit diesem Abend verging kein Tag, an dem wir uns nicht trafen. Drei wundervolle Monate lang. Plötzlich begann sich Polly zu verändern. Die täglichen Treffen fielen immer öfter aus. Zuerst hatte ich dem keine große Bedeutung gegeben, bis Polly 25
eine ganze Woche verschwunden war. Kein Anruf, niemand bei ihr zu Hause, nichts. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Nach zehn Tagen tauchte sie wieder auf, ohne ein Wort der Entschuldigung. War einfach wieder da, als ob wir uns den Tag zuvor erst verabschiedet hätten. Ich verlangte eine Erklärung, doch sie war nicht dazu zu bewegen. Lächelte mich geheimnisvoll an und meinte, jetzt sei doch alles wieder gut, sie wäre ja bei mir. Ich rastete aus und schlug ihr ins Gesicht... Herr Stillmann, das war ein schwieriger Augenblick für Sie. Sie waren sicher sehr schuldbewußt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und kam im selben Moment wieder zur Besinnung. Verfluchte mich wegen meiner Unbeherrschtheit, wollte Polly um Verzeihung bitten, aber sie... Mir läuft es heute noch kalt über den Rücken. Sie stand da, sah mich an mit einem seltsamen verzückten Lächeln. Als hätte sie es... Genossen? Ja! Es war unheimlich. Sie kam auf mich zu, unterbrach meine stammelnden Bitten um Vergebung und dann... Es war eine irre Situation, sage ich Ihnen. Einfach irre. Was war dann? Hat Sie Ihnen gedroht? Hat Sie sie verführt? Nein. Sie sagte, sie sei schwanger. Wir haben vierzehn Tage später geheiratet. Nach meiner Erinnerung hat Lothar Stillmann daraufhin seinen nächsten Termin abgesagt. Das war nicht zum ersten Mal der Fall. Reumütig rief er jedoch wieder an und erschien in vierzehn Tagen pünktlich um 18 Uhr 30. Er sprach oft über seine Firma, die Aufträge, die er erhalten oder verloren hatte. Und immer wieder über Aktien, die er von seiner Bank kaufen oder verkaufen ließ. Das war sein Steckenpferd. Er hielt sich viel darauf zugute, den Markt 'im Griff zu haben', wie er es nannte, und forderte mich immer wieder auf, eine besonders günstige Aktie gerade zum jetzigen Zeitpunkt zu erwerben. Freundlich aber bestimmt habe ich diese gutgemeinten Ratschläge abgeblockt. Ich will in keinem Fall die therapeutische Beziehung umkehren, wo der Klient der Beratende und der Therapeut der Ratsuchende ist. Doch ich gestehe, daß es mir manchmal leichtfiel. Seit Chris Unfall war es schwierig, die Praxis über die Runden zu bringen, und Marlies und ich arbeiteten oft weit über die normale Wochenarbeitszeit hinaus. Zum Glück waren mehr als die Hälfte von Chris therapeutischen Klienten zu mir gewechselt, so daß wir uns gerade so über Wasser halten konnten. Eine gute Geldanlage wäre willkommen gewesen. Dienstag, 12.Mai, 18 Uhr 53 Herr Stillmann, woran denken Sie? Wie bitte? Sie scheinen abwesend. Seit zwanzig Minuten habe ich den Eindruck, Sie sind heute nicht so präsent wie sonst. Beschäftigt Sie irgend etwas? Ach, nichts Wichtiges. Ist etwas vorgefallen? 26
Wie? Ob etwas vorgefallen ist? So könnte man sagen. Wollen Sie darüber sprechen? Nein... Ja... Ich weiß nicht. Nichts, womit ich nicht fertig werde. Davon bin ich überzeugt. Es... äh, betrifft meine Frau. Ja? Inwiefern? Sie ist abends oft weg. Allein... sagt sie. Haben Sie mit ihr darüber gesprochen? Ja. Habe sie zur Rede gestellt. Und? Sie sagt, sie macht einen Englisch-Kurs. In so einem Institut. Habe dort angerufen. Stimmt wirklich. Trotzdem sind Sie beunruhigt, vielleicht denken Sie an Ihre erste Ehe? Ich weiß nicht. Vielleicht. Will nicht, daß es so endet. Ich liebe meine Frau wirklich, Frau Doktor. Vor zwei Monaten habe ich ihr einen Urlaub in Aspen gezahlt, da sie schon immer dorthin wollte. Sie kam so glücklich wieder, braungebrannt, gut erholt und strahlend wie am Beginn unserer Ehe. Sicher bilde ich mir alles nur ein. Wir werden Mitte Juni in die Karibik fliegen. Unser erster gemeinsamer Urlaub seit zwei Jahren. Das wird mir guttun. Keine Sorge, Frau Doktor, alles in Ordnung. Haben Sie über mein Angebot nachgedacht? Herr Stillmann, ich habe Ihnen doch schon mehrfach gesagt, ich verstehe nichts von Aktien und... Das ist doch nicht nötig! Ich habe einen Brooker, der ist sensationell, sage ich Ihnen. Einfach Spitzenklasse. Nein, Herr Stillmann. Unser Arbeitsbündnis ist eindeutig und klar, ich bin Ihre Therapeutin, Sie sind mein Klient und nicht mein Finanzberater. Ich habe gehört, daß Ihr Kollege seit längerer Zeit krank ist. Sicherlich nicht einfach in der heutigen Zeit. Eine gute Geldanlage sollte man sich nicht so leicht entgehen lassen... ich weiß, ich weiß, ich darf nicht in 'man'-Sätzen sprechen. Also, Sie sollten sich das nicht entgehen lassen. Ich werde dieses Thema beenden, Herr Stillmann. Haben Sie täglich Ihre Entspannungsübungen gemacht? Das klinische Wirkprofil der Benzodiazepine wird nach dem Ausmaß ihrer dämpfenden und angstlösenden Wirkung eingeteilt. Viele Tranquilizer wirken in höherer Dosierung schlafanstoßend, weshalb sie als reine Hypnotika im Handel sind. Ich bin gedanklich so intensiv mit meinem Klienten befaßt, daß ich beinahe die Abfahrt Ulm übersehe. Es ist halb zwölf, als ich Zuhause ankomme und die Eingangstür aufsperre. 27
Ich wohne im ersten Stock eines Zweifamilienhauses am Eselsberg, dessen Parterre lange leer stand. Vor einigen Monaten ist eine Familie eingezogen, mit denen ich mich angefreundet habe, Loretta und Knut Wiedmann mit ihrem halbwüchsigen Sohn Axel. Als ich die Türe aufstoße, empfängt mich laute Musik. Wiedmanns feiern eine Party und haben jede Menge Gäste eingeladen. Die Wohnungstür steht weit offen, auf der Stiege zu meiner Wohnung sitzen Axel und einige seiner Schulkameraden mit ihren Freundinnen, haben die Köpfe zusammengesteckt und diskutieren angeregt. Überall stehen Gläser, Aschenbecher und Kerzen. Mir fällt ein, daß mich Lori bereits letzte Woche eingeladen hat. Da kommt sie bereits aus der Türe geschossen, wie immer in höchster Eile, so daß ihre lockigen Haare wie eine Bürste vom Kopf stehen. In einer Anwandlung von Tugend hat sie sich ein blaues Band um die Stirn geschlungen, über den Schlabberjeans trägt sie eine Blümchenhemd und sieht aus wie Überbleibsel von Woodstock. „Nellie! Hast du dich endlich von deinem Chris loseisen können!“ Sie springt auf mich zu, drückt mir links und rechts einen Kuß auf die Wange und zerrt mich in die Wohnung, aus der fetzige Diskomusik klingt. Ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen, schreit sie: „Knut! Komm her, Liebling. Sieh mal!“ Mit ausgestreckten Armen präsentiert sie mich ihrem Ehegespons, als wäre ich die sehnlichst erwartete Geburtstagstorte. Knut ist ein großer, kantiger Mann mit dichtem Schnauzbart und einem wasserdichten Phlegma. Schuldbewußt entschuldige ich mich für das späte Erscheinen, ich hatte Knuts Geburtstagsparty total vergessen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Knut. Der wievielte ist es denn?“ „Vielen Dank, Nel. Der neununddreißigste.“ sagt er schmunzelnd. „Deine Entschuldigung wird angenommen, wenn du feierlich versprichst, nächstes Jahr zu meinem vierzigsten rechtzeitig zu kommen. Dann feiern wir ein richtiges Fest.“ Ich zucke zusammen, da mir jemand seinen Ellbogen ins Kreuz bohrt, und sehe mich fragend um. „Diese ganze Truppe ist dir noch zuwenig? Übst du vielleicht für Wetten, daß – ich einhundertsiebenundzwanzig Personen in meiner Vierzimmer-Wohnung unterbringe?“ Knut wirft den Kopf zurück und lacht schallend. Lori eilt herbei, in jeder Hand ein Sektglas, und zwitschert glücklich: „Schön, daß ihr euch so gut versteht. Hier, zum Anstoßen! Jetzt ziere dich nicht so, mein Schätzchen. Weißt du, Nel, Knut hat immer wieder Schwierigkeiten mit Menschen, er ist einfach scheu. Entweder das oder mundfaul.“ Sie stößt ihn leicht in die Rippen. Aus der Gegend der Küche ertönt der Ruf: „Gibt’s hier irgendwo noch Orangensaft?“ – „Ich muß mich mal um die Gäste kümmern“ sagt Lori in einem Tonfall, als hätte sie bereits Stunden bei uns verbracht. Schon ist sie wieder davon gewirbelt. Knut sieht ihr zärtlich nach. Ein Partygast taumelt gegen ihn und schüttet ihm sein Weinglas über den Arm. Verdutzt starrt er erst auf sein leeres Glas und dann auf den nassen Fleck. Mit der Zeitverzögerung, die ein Übermaß an Alkohol mit sich bringt, entschuldigt er sich stammelnd. Knut meint gutmütig: „Nichts passiert.“ In diesem Augenblick dröhnt die Aufforderung 'Du mußt ein Schwein sein!' aus der voll aufgedrehten Stereoanlage. 28
Knut brüllt mir ins Ohr: „Laß uns auf die Terrasse gehen, hier drin ist man seines Lebens nicht mehr sicher.“ Ich nicke dankbar. Ich quetsche mich durch tanzende Paare, steige über ausgestreckte Beine und versuche, in keinen Aschenbecher zu treten. Aufatmend erreiche ich endlich die Terrassentür. Auf der überdachten Terrasse, die genau unter meinem Balkon liegt, ist das Gedränge nicht so groß. Ein kühler Wind weht und es riecht nach Regen und Rauch, den die vielen bunten Partyfackeln verbreiten, die bereits fast abgebrannt sind. Um einen großen Holztisch sitzen mehrere Männer und eine Frau, sozusagen der harte Kern, der Wind und Wetter nicht scheut, wenn er damit der musikalischen Überflutung der leistungsstarken Stereoanlage entfliehen kann. Außer Milli, Loris Schwester, kenne ich niemanden. Die Gruppe ist in einer heftigen Diskussion gefangen. Milli, wie immer am Rande der Distanzlosigkeit, schreit alle übertönend: „Das ist eine Überraschung, Nel Sander! Die Frau mit dem Seelenscharfblick! Hi, Nel, wen hast du denn heute alles zerlegt?“ Ich winke ab und sehe mich um, es ist kein Stuhl frei und fast hätte ich es geschafft, mich wieder zu verdrücken. Doch Knut kommt mit einem Gartenstuhl. Milli freundlich zulächelnd setze ich mich, nippe an meinem Glas und lehne mich zurück. Die heftig hin und her wogende Diskussion wird wieder aufgenommen – am Rande bekomme ich mit, daß es um die Grünen und die Zukunft der deutschen Bundesrepublik geht – und umbrandet mich wie eine gischtende See, ohne mich wirklich zu erreichen. Plötzlich durchdringt wieder Millis Stimme meine gedankliche Abgeschiedenheit. „Was sagst du dazu, Donatella?“ „Wozu?“ „Du lieber Himmel, diese Psychologen. Schweben in höheren Sphären. Wir sprechen über private Rentenvorsorge.“ „Sie sind Psychologin?“ Eine heisere Stimme. Ich mustere den Fragesteller, einen dunkelhaarigen Mann mit olivfarbener Haut und Brille. Ich bin nicht mehr ganz auf der Höhe, daher entgeht mir der herausfordernde Unterton. Ich überlege eine neutrale Antwort. In einer fremden Gesellschaft habe ich gelernt, meinen Berufsstand nicht auf einem Schild vor mir her zu tragen, da die Umgebung mit Argwohn zu reagieren pflegt. Es passiert immer wieder, daß die Leute innerlich einen Schritt zurückweichen und Mißtrauen und Vorsicht sich bemerkbar machen. Es ist diese tief verwurzelte Angst vor allem, was mit 'Psycho-' zusammenhängt, das die Menschen argwöhnisch macht. „Ich bin Therapeutin.“ sage ich neutral und leite ohne Pause zu Millis Frage über, wobei ich mich an Allgemeinplätzen orientiere. Ein Uhr nachts halte ich nicht für die geeignete Stunde, tiefsinnige Gespräche über Staatsverschuldung zu führen. „Irgendwann wird das System nicht mehr finanzierbar. Damit muß Eigenverantwortung anstelle von staatlicher Fürsorge treten.“ schließe ich und hoffe, genügend heiße Luft verbreitet zu haben, um in Ruhe gelassen zu werden. Einige Männer nicken. Mein Gegenüber rückt seine Brille zurecht und wirft sich in Positur. Ihm habe ich in die Hände gearbeitet. „Das sind doch Plattheiten, Frau Dr. Sander.“ Jetzt durchdringt die Schärfe seines Tonfalls meine Abgespanntheit. Dabei fällt mir ein, 29
daß ich bereits beim Betreten der Terrasse ein zorniges Flackern in seinen Augen zu bemerken glaubte. Ganz sicher habe ich diesen Mann noch nie gesehen. „Richtig.“ bestätige ich freundlich. Mit einem Schlag ist jeder am Tisch still und schaut auf uns beide. Spannung ist spürbar und niemand will sich diesen sich anbahnenden Kampf entgehen lassen. Ich sollte mich nicht darauf einlassen, doch leider handle ich nur allzu oft nach der Maxime: nur keinen Streit vermeiden. „Sie haben sicher den Stein der Weisen entdeckt.“ fahre ich provozierend fort. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Darum geht es doch gar nicht. Was mich aufregt, sind diese gekünstelten Worthülsen, hinter denen keine Substanz zu finden ist. Schwachsinniges Gefasel.“ Ich nehme ihn schärfer in Augenschein. Der Blick seiner dunklen Augen lodert in fanatischem Haß, die Augenbrauen sind zornig zusammen gezogen. Seine Worte sind absichtlich verletzend. Der Junge hat ein ziemliches Problem. Nun denn, das ist nicht meine Aufgabe. Ich trete den Rückzug an. „Es sind Politiker Ihres Landes. Ihr Ärger auf mich verfehlt sein Ziel.“ „Sie sind Ausländerin?“ Es klingt abfällig. „Österreicherin.“ „Politiker in Österreich sind auch nicht besser!“ höhnt er. „Da haben Sie vollkommen recht. Doch jeder tut seine Pflicht, so wie er kann.“ Ich habe noch eine Menge an Nullaussagen zu bieten. Geordneter Rückzug, doch Kapitulation ist nicht drin. „Eine schöne Pflichterfüllung! Große Worte schwingen und dabei sich den Säckel vollfüllen. Sagen einem, was man zu tun oder zu lassen hat, doch selber halten sie sich nicht daran.“ Er lehnt sich vor und fixiert mich. „Das ist in Ihrem Beruf doch nicht anders. Therapeutin, pah! Sie verkaufen Ratschläge, deren Erfolg zweifelhaft ist, da jeder schlußendlich mit sich selbst zurecht kommen muß, und verlangen auch noch Geld dafür.“ Ich bleibe verbindlich. „Natürlich muß jeder selbst mit seinen Problemen fertig werden. Doch wenn Sie sich den Fuß gebrochen haben, benützen sie auch eine Krücke.“ „Sie sehen sich als Krücke?“ „In den meisten Fällen, ja. Die Menschen, die zu mir kommen, sind mit irgend einer Situation in ihrem Leben überfordert. Oft genügt es schon, die verzerrte Sichtweise zu korrigieren, den Standpunkt zu verschieben.“ „Damit können Sie doch nichts lösen. Sie machen die Menschen doch erst krank! Wenn es keine Leute wie Sie gäbe, wären viele Menschen glücklicher.“ Jetzt klingt es verächtlich. Langsam geht mir dieser Typ auf die Nerven. „Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?“ frage ich honigsüß. Er spuckt mir die Worte entgegen. „Ich kenne eine Frau, der es ohne Therapie viel besser gegangen wäre.“ 30
Ich schweige und sehe ihn an. Dir geht es ohne Therapie auch nicht so besonders, finde ich. Lori tritt aus der Tür und bringt ein Tablett voll Kaffeetassen. Sie erfaßt die Situation mit einem Blick. „Benito, unser temperamentvoller Spanier, glaubt wieder einmal, er sei in einer Stierkampfarena, nicht wahr, Benno?“ Sie stellt die Tassen ab und grinst ihren Gast an. Dann setzt sie sich auf die Armlehne meines Stuhls und zwinkert mir zu. Ein unhörbares Ausatmen geht durch die Runde. Aus der erwarteten Kriegshandlung kann nur mehr ein Scheingefecht entstehen. Benno nimmt die Brille ab und beginnt sie emsig zu putzen. Wie auf Kommando fangen mehrere Leute gleichzeitig zu sprechen an. Lori fragt ihre Schwester, wann sie morgen nach Ulm fahren wolle. Knut beginnt eine Erzählung über die Zustände in Axels Schule. Benito wischt an seiner Brille herum und schießt dann und wann heftige Blicke zu mir. Ich kann mir seine Feindseligkeit nicht erklären. Nach einiger Zeit raunt mir Lori ins Ohr: „Ärgere dich nicht. Benno hat Probleme mit seiner Freundin. Sie ist verheiratet und er leidet sehr darunter.“ „Lori, halt den Mund!“ sagt Benito scharf, der den Inhalt von Loris Worten mitbekommen hat. Knut unterbricht seine Erzählung und läßt hellhörig geworden seinen Blick zwischen uns und Benno hin und her wandern, bereit, aufkeimende Feindseligkeit zu ersticken. Lori zuckt mit den Achseln. „Will noch jemand einen Cognac?“ Ein mehrfaches 'Ja' ertönt. Langsam beginnen die Gäste abzubröckeln. Auch ich verabschiede mich, bedanke mich bei Lori und Knut, die mich nicht gehen lassen wollen, ignoriere Benno, stapfe über Axel und seine Freunde, die noch immer auf der Treppe lümmeln, nach oben und schließe erleichtert die Tür hinter mir. Der Feiertag präsentiert sich als nebelverhangener, kalter Maitag, der in keiner Weise dazu stimuliert, sich in der freien Natur zu ergötzen. Es ist kurz nach sieben. Halb und halb hatte ich mir vorgenommen, dieses verlängerte Wochenende bei meiner Schwester und ihren Kindern in Gaißau am Bodensee zu verbringen, aber der trostlose graue Tag und die pessimistischen Wetterprognosen lassen mich dieses Vorhaben verschieben. Ich höre Lori auf der Terrasse herumwerkeln und gehe hinunter, um mich beim Aufräumen nützlich zu machen. Doch sie und Knut haben bereits die meisten Spuren der Party beseitigt. Sie laden mich zum Frühstück ein. „Weißt du, Nel“ sagt Lori mit vollen Backen, „du darfst es Benno nicht übelnehmen, daß er gestern so aufgebracht war.“ „Wer?“ Ich kann im Moment nichts mit diesem Namen anfangen. „Ach so, der Brillentyp. Kein Problem.“ Aber Lori läßt sich nicht so schnell ablenken. „Knut hat wirklich gedacht, er müsse ihn zur Rede stellen. Im Grunde ist er ein netter Kerl, aber bei gewissen Themen rastet er aus. Er steckt offenbar in Schwierigkeiten.“ „Ich?“ Knut sieht fragend hinter seiner Zeitung hervor. „Nicht du. Benno.“ Wir würden das Thema ausdiskutieren müssen, also lasse ich Lori gewähren. Sie wartet eine Bemerkung von mir auch gar nicht ab, sondern fährt ungebremst fort. „Er spricht ja nicht darüber“ raunt sie verschwörerisch und schluckt den letzten Bissen hinunter, wodurch sie um vieles verständlicher wird. Trotzdem höre ich nur mit halbem Ohr hin. Wenn 31
man beruflich Tag für Tag mit Problemen anderer Leute befaßt ist, wird die Bereitschaft, sich im Privatleben auch noch damit auseinander zu setzen, auf ein Minimum reduziert. „Ich weiß es von Milli. Ihre Arbeitskollegin... die große, schwarzhaarige, die gestern unentwegt tanzte, erinnerst du dich?“ Ich erinnere mich nicht, doch auch das nützt mir nichts. Lori stürmt im Galopp weiter. „Also, diese Kollegin... wie heißt sie nur, Knut? Mir fällt der Name nicht ein. Susanne, Maritta, irgendwie so, ist ja auch egal, also die wohnt in dem Reihenhaus neben Benno. Sie erzählt, daß er ziemlich komisch sei. Seine Freundin kommt manchmal für eine Woche, manchmal auch nur für ein paar Stunden. Ein eigenartiges Verhältnis. Beide gehen kaum aus dem Haus. Dann baut er ewig an seinem Haus herum. Dauernd kommen Handwerker. Hat zwei Wände niedergerissen und ein riesiges Wohnzimmer gemacht. Allein der Teppich muß ein Vermögen gekostet haben. Andererseits muß er ziemlich geizig sein. Spart Strom und zündet kein Licht an, denn im Abfalleimer liegen kiloweise Kerzenstummel, sagte Millis Kollegin. Deswegen war er gestern auch so sauer. Sie hat zu ihm gesagt, er müsse sich hier doch wie Zuhause fühlen mit all den Kerzen in unserer Wohnung. Er hat sie angefunkelt, daß ich dachte, jetzt passiert Mord und Totschlag. Das war kurz bevor du kamst. Wahrscheinlich hast du seine Laune ausbaden müssen. Er war ja wie eine gespannte Stahlfeder, jederzeit zum Sprung bereit. Nel, du hörst ja gar nicht zu!“ Das tat ich wirklich nicht. Meine Gedanken waren bei meinem Problem und ich hatte soeben die Entscheidung gefällt, in die Praxis zu fahren, mir die Akten anzusehen, um zu prüfen, ob es Hinweise gibt, daß Magnus C. Budins Schwester etwas mit einem meiner Klienten zu tun hat. „Liebe Loretta, ich habe dir wirklich nicht genau zugehört. Sei mir nicht böse, ich muß weg. Danke für das ausgiebigen Frühstück. Wir sehen uns! Tschüs, Knut.“ Ich verlasse die enttäuschte Lori und fahre in meine Praxis. Die Räume sind still und kalt. Mich fröstelt. Ich drehe die Heizung hoch und wende mich dem Aktenschrank zu. Meine Finger zittern, als ich die Mappen aus dem Hängeregister nehme, ich führe es auf die Kälte zurück. Ich lasse die Akten auf Marlies Schreibtisch fallen, der laute Knall durchschneidet die Stille. Sorgsam lege ich die beiden Fälle nebeneinander, Lothar Stillmann und Sebastian Seibt. Kopf oder Zahl? Ich starre die braunen Aktendeckel an. Mich überfällt plötzlich die Furcht, nach Durchsicht der Akten würde mir die Wahrheit ins Gesicht springen. In einer der Lebensgeschichte würde etwas stehen, klar und deutlich, das einen eindeutigen Hinweis auf ein Verbrechen liefert. Blödsinn! sage ich mir. Das hättest du niemals übersehen! Wenn ein solcher Vorfall Thema in der Therapie gewesen wäre, wüßtest du es! Ich schlage unentschlossen Seibts Akte auf. Seine Adresse springt mir ins Auge. Es ist ein Impuls und definitionsgemäß lasse ich mich davon leiten. Ich werde Sebastian Seibt aufsuchen. Es ist kurz nach neun. Ich werde also in eine mehr oder weniger freundliche Frühstücksatmosphäre an einem verregneten Freitag platzen, mir mit einer konstruierten Ausrede eine Tasse Kaffe erschwindeln und dabei hoffentlich Frau Seibt zu ihrem vorzüglichen Kuchen gratulieren können. Damit wäre Akte eins abgehakt. Mit raschem Schwung fege ich die Mappen in meine Tasche, lösche das Licht und eile zu meinem Wagen. Als 32
ich starte, fällt mir ein, daß ich vergessen habe, die Heizung zurückzudrehen. Marlies wird mir am Montag eine Standpauke halten. Als ich auf der Donaubrücke bin, piepst mein Handy und ich schalte die Freisprechanlage an. Eine Männerstimme überschlägt sich vor Aufregung, verhaspelt sich mehrfach, so daß ich Mühe habe, die Botschaft zu entwirren. Es ist Lothar Stillmann. Er wisse, daß heute die Praxis geschlossen sei, aber er müsse mich unbedingt sprechen. Sofort, auf der Stelle und es sei unumgänglich notwendig. Er werde jede anfallende Mark an Kosten doppelt und dreifach ersetzen, mir meine Zeit feiertagstarifmäßig vergüten... Ich unterbreche seinen Wortschwall, wische die Kostenfrage beiseite und frage nach seiner Adresse, die er mir nennt. Ich werfe einen Blick in die Umgebung und sage ihm, ich könne in fünfzehn Minuten bei ihm sein. Mit überschlagender Erleichterung in der Stimme bedankt er sich, ehe er mit dem Satz das Gespräch beendet: „Meine Frau ist verschwunden!“ Die Dosierung muß grundsätzlich individuell erfolgen. Benzodiazepine sollten in Anbetracht des Risikos der Entwicklung einer „Niedrigdosisabhängigkeit“ so kurz wie möglich, in der Regel nicht länger als 4 Wochen verordnet werden. bei Patienten mit chronischen Schlafstörungen oder Angsterkrankungen kann nach strenger Indikationsstellung eine intermittierende Langzeitbehandlung angezeigt sein. Grundsätzlich sollte Psychopharmaka dabei allmählich („ausschleichend“) abgesetzt werden. Lothar Stillmann öffnet die Tür im gelb-blau gemusterten Bademantel, darunter trägt er TShirt und schwarze Boxershorts. Seine Augen sind blutunterlaufen, das üblicherweise sorgsam gepflegte Haar steht wirr vom Kopf ab und seine Stimme zittert, als er mich hereinbittet. Von der Hektik, die er im Telefonat ausgestrahlt hat, ist nichts mehr zu spüren. Er wirkt apathisch, nahezu abweisend, als bereue er, mich angerufen zu haben. Das Erdgeschoß der einstöckigen Villa ist großräumig und hell, ein Umstand, der das Chaos nur um so gnadenloser ins Licht rückt. Hier hat wohl eine Entführung stattgefunden, denke ich, als ich mir über mehrere Schuhe und Taschen den Weg ins Wohnzimmer bahne, das nicht auffällig ordentlicher ist. Wahllos liegen Kleidungsstücke über dem Sofa, die Schubladen der Kommode vor dem Fenster sind herausgezogen und quellen über. Der dreiteilige Kasten in der Ecke steht offen. Es sieht aus, als hätte ein Tornado gewütet. Keine einzige Puppe in dem Wirrwarr. Stillmann räuspert sich hinter mir, ich drehe mich zu ihm um. „Ich bin gestern, äh, sehr spät nach Hause gekommen und habe mich gleich schlafen gelegt. Als ich vor einer Stunde aufgestanden bin, war überall dieses Chaos und Cookie verschwunden.“ „Cookie“, Himmel, welch ein Name! „ist Ihre Frau.“ konstatiere ich einfallslos. Er starrt mich an, als könne er meine Worte nicht einordnen. „Ja, natürlich!“ sagt er dann zerstreut, als sei er mit den Gedanken ganz woanders. Es wird Zeit, daß hier irgend jemand die Initiative ergreift. Unter den gegebenen Umständen bleibt nicht viel Auswahl. „Herr Stillmann, können wir uns irgendwo hinsetzen, wo wir die Sachlage in Ruhe besprechen können?“ Mit einer weit ausholenden Geste deute ich auf die reduzierten Sitzmöglichkei33
ten im Wohnzimmer. Dies scheint ihm einzuleuchten. „Kommen Sie in mein Arbeitszimmer.“ Er schlurft voraus, die Schultern gebeugt, der Bademantel hängt wie ein Sack an ihm und der Gürtel schleift auf dem Boden nach. Im Arbeitszimmer ist die Luft stickig und abgestanden, die Ordnung hier jedoch auffällig im Vergleich zu dem Chaos, durch das wir uns gerade durchgekämpft haben, alles liegt an seinem Platz. Das Sofa hinter der Tür ist mit Decke und Polster ausstaffiert und offensichtlich in der letzten Nacht benützt worden. Der Herr des Hauses hat also nicht im gemeinsamen Schlafzimmer übernachtet. Der Herr des Hauses wirkt wie ein Häufchen Elend, steht neben der Liege und betrachtet die Bettwäsche, als berge sie das letzte große Geheimnis der Menschheit. Ich hebe die Stimme: „Herr Stillmann, wo ist die Küche?“ Dabei berühre ich ihn leicht an der Schulter. Er fährt herum. „Küche?“ „Ich werde uns Kaffee kochen, dann können wir über alles sprechen.“ „Ach so, Küche.“ Er runzelt die Stirn, dann deutet er unbestimmt mit der rechten Hand hinter sich. „Am Ende des Flurs links.“ Wieder hält er inne. „Sollte ich...?“ Was immer er sollte, er würde keine Hilfe sein. „Nein“ sage ich bestimmt, „ich finde mich zurecht.“ Die Küche ist blitzsauber, ein angenehmer Anblick, die Einrichtung funktionell und der Kaffe dort, wo man ihn erwarten konnte. Auch die Tassen an der Waschbeckenablage sind frisch gespült und ohne Flecken. Während der Kaffee sprudelnd und spuckend durch die Maschine läuft, versuche ich mir das Verschwinden seiner Frau zu erklären. Hat Stillmann sie umgebracht? Liegt eine Leiche im Schlafzimmer? Woher kam dieser Stimmungswechsel von Agitiertheit zu Apathie? Ich stelle Tassen und Kaffeekanne auf ein Tablett und schaffe es mit einiger Mühe, die Küchentüre zu öffnen und wieder zu schließen, ohne daß etwas runterfällt. Lothar Stillmann sitzt an seinem Schreibtisch und hat den Kopf in den Händen vergraben. Ich stelle das Tablett ab und das Klirren der Tassen bringt ihn in die Gegenwart. „Nun denn.“ beginne ich zielstrebig, „Was ist passiert.“ Mein Gegenüber versucht sich zu konzentrieren. Er starrt auf einen Punkt hinter meinen linken Ohr, macht eine ziellose Handbewegung und sagt: „Das habe ich gefunden.“ Er fährt in die Taschen seines Bademantels und bringt drei zerknitterte Ansichtskarten zu Tage. Zitternd hält er sie mir entgegen und ich denke an M. C. Budin. Auf jeder steht in etwa dasselbe. Es beginnt mit 'My beloved Caroline' oder 'my sweet Caroline', ein offensichtliches Plagiat, setzt sich fort mit 'hope, to see you soon'... 'what a wonderful time we had together'... 'miss you so, my sweet darling' und endet mit 'in love for ever yours' und irgendwas, das wie Harry oder Jerry aussieht. Auf der Vorderseite tragen die Ansichtskarten die Motive eines Schiparadieses mit dem Hinweis, daß Aspen eine Insel der Seeligen sei, auf der man so gut wie alle Wintersportarten in immerwährendem Sonnenschein und Pulverschnee nach Herzenslust ausüben könne. Überrascht sage ich: „Ihre Frau heißt Caroline?“ Stillmann nickt abwesend und murmelt: „Ich nannte sie Cookie, weil... weil...“ Es ist mir gleichgültig, warum, doch mir fällt auf, daß er in der Vergangenheit spricht, als hätte er 34
seine Frau schon abgeschrieben. Wenn Cookie sich wirklich in dieses Paradies abgesetzt hat, stehen die Chancen in der Tat schlecht für Stillmann. Ich verberge meinen Gedanken. „Überrascht Sie dieser Schritt Ihrer Frau?“ „Äh, was sagten Sie?“ Er nippt unschlüssig an seiner Tasse. Klare Worte sind angesagt: „Sie hatten doch schon längere Zeit Probleme in Ihrer Ehe, Herr Stillmann. Ihre Frau hat sie wegen eines anderen Mannes verlassen. Das geht in den meisten Fällen nicht von einem Tag auf den anderen, sondern es gibt Vorzeichen, Hinweise, Andeutungen. Kurz gesagt, so etwas dauert einige Zeit, zumindest einige Wochen. Haben Sie nie an einen anderen Mann gedacht?“ Hat dich ihre Untreue so in Zorn versetzt, daß du sie erwürgt hast und nun liegt sie, in der dunkelsten Ecke des Garten verscharrt, unter der alten Trauerweide dort, die ich von hier aus direkt im Blick habe? Glücklicherweise ist Stillmann nicht in der Verfassung, subtile Gedankenschwingungen zu empfangen. Er schüttelt langsam den Kopf. „Nie. Ein anderer Mann? Ich hatte keine Ahnung, nicht den Schimmer einer Ahnung, verstehen Sie?“ Er sieht mich ratlos an, es klingt nicht überzeugend. Auch ihm fällt es auf und er beteuert erneut: „Wir waren glücklich in unserer Ehe! Ich habe rund um die Uhr geschuftet, um Geld zu verdienen, damit Cookie keine Einbuße in ihrer Lebensqualität erleiden muß. Ich wollte nicht, daß sie auf etwas verzichtet, nur weil das Geld nicht reicht. Sie hat sich den Schiurlaub so gewünscht und er war auch nicht billig. Aspen! Sie wissen ja selbst, wie teuer das ist!“ Ich weiß es nicht, aber es scheint mir kleinlich, ihn in diesem Moment darauf hinzuweisen. Die Geschichte hat etwas Rührendes. „Wie alt ist Ihre Frau, Herr Stillmann?“ „Vierunddreißig geworden im Februar diesen Jahres. Es war ihr Geburtstagsgeschenk. Der Urlaub, meine ich.“ Das könnte hinkommen. Sollte ich versuchen, zuerst meinen Verdacht auszuräumen, daß 'Cookie-Caroline' mit 'Linnie' gleichzusetzen ist oder sollte ich meiner Aufgabe als Therapeutin nachkommen? Doch irgendwie scheint Stillmann nicht bei der Sache, als wäre das Verschwinden seiner Frau zweitrangig. Er macht nicht den Eindruck, als benötige er eine stützende therapeutische Hand. Der Kaffee hat etwas Farbe auf seine Wangen gezaubert, doch der Blick ist in weite Ferne gerichtet. „Herr Stillmann, was wollen Sie von mir, was kann ich für Sie tun?“ „Äh, wie? Ach so, ja also, ich weiß auch nicht...“ seine Stimme versandet. Mit müder Langsamkeit dreht er sich um und betätigt eine Taste am Keyboard seines Computers. Der bis dahin dunkle Bildschirm springt an und gibt ein hellgelbes Feld mit allerlei Zahlen und Daten frei. Ich kann nichts erkennen. Mit zitterndem Zeigefinger weist Stillmann auf den Schirm. Seine Stimme ist heiser und krächzend, er spricht abgehackt und jedes Wort scheint ihm qualvoll über die Lippen zu kommen. „Das Konto... die Aktien... alles weg... Ich bin ruiniert!“ Vor allem zu Beginn der Behandlung kann es zu Müdigkeit und Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit kommen, bei Lang35
zeitbehandlung auch zu paradoxen Reaktionen mit Erregungszuständen oder feindseligem Verhalten. „Wo ist er jetzt?“ Chris Stimme klingt leicht verzerrt durch mein Handy. Ich bin auf dem Parkplatz vor der Uniklinik und habe ihm alles erzählt. „Er war völlig durch den Wind, stammelte wirres Zeug über Aktien und Ruin. Ich habe ihn in der Internen untergebracht, du weißt ja, Dr. Devorkian ist immer behilflich. Er war der Ansicht, der Patient leide unter schwerem Schock, und hat ihn unter Valium gesetzt. Ich erspare Stillmann auf diese Weise eine Nacht in der Psychiatrie, aber wenn er morgen nicht besser drauf ist, wird er wohl verlegt werden.“ „Hast du Cookie-Linnie geklärt?“ „Nein, Chris, habe ich nicht. Ich hatte nicht das Herz, den armen Mann, der am Rande seines wirtschaftlichen Ruins steht, mit Fragen über die Herkunft seiner zukünftigen Exfrau zu belästigen.“ „Das hast du aber schön gesagt, Nel, zukünftige Exfrau, sehr subtil formuliert. Was kracht denn da die ganze Zeit?“ „Atmosphärische Störungen, nehme ich an. Oder stehst du direkt neben deiner blonden Krankengymnastin?“ „Diese Frage werde ich ignorieren. Hast du daran gedacht, daß seine Verwirrung vielleicht auf den Mord an seiner Noch-Ehefrau zurückzuführen ist?“ „Noch-Ehefrau klingt ziemlich platt, meine subtilen Formulierung wirst du nie und nimmer erreichen. Aber ja, natürlich habe ich daran gedacht. Ehe ich ihn ins Krankenhaus fuhr, hatte ich wenig Gelegenheit, das Haus zu durchsuchen und unter der Trauerweide war kein frisches Loch gegraben.“ „Trauerweide?“ „Nichts, entschuldige, ein spontaner Gedanke, als ich im Arbeitszimmer von Stillmann saß. Hör zu, Stillmann können wir streichen. Er ist aggressiv und unbeherrscht, ich halte ihn einer spontanen Affekthandlung durchaus für fähig, aber wochenlang einen Mord zu planen, das traue ich ihm nicht zu. Lothar Stillmann hat seine Frau nicht getötet, da er einfach nicht der Typ ist, so differenziert vorzugehen. Stillmann ist ein aggressiv durchbrüchiger Mensch, der in Rage handgreiflich wird, um nicht sein Gesicht zu verlieren. Das ist zwar nichts, was ihn wesentlich sympathischer macht, aber ihm fehlt jede Finesse, die Leiche verschwinden zu lassen und mich mit einer erfundenen Story herbei zu zitieren. Wenn er Cookie umgebracht hätte, wäre sie als Krönung inmitten des Chaos im Wohnzimmer gelegen und die Polizei im Anmarsch gewesen.“ „Wenn du dich da nur nicht irrst.“ Chris klingt ziemlich überheblich. „Würde eine Frau, die mit ihrem Schilehrer durchbrennen will, Wochen vorher um ihr Leben fürchten und Panikbriefe in die Welt versenden?“ „Woher weißt du, daß er Schilehrer ist?“ „Weiß ich nicht, aber mit wem in Aspen sollte man denn sonst durchbrennen.“ 36
„Und woher weißt du, daß sie sich in Aspen aufhält? Drei Ansichtskarten, mein Gott, das ist doch noch kein Anlaß, alles stehen und liegen zu lassen, oder?“ „Die Worte waren ziemlich gefühlsbetont.“ „Komm, Nel! Das schreibt man bald einmal. Ist mir auch schon passiert, und trotzdem habe ich nicht erwartet, daß meine Flamme gleich den Kontinent wechselt. Es ist deine Annahme, daß Stillmanns Frau in die USA abgedampft ist, die auf drei windigen Ansichtskarten beruht. Eine ziemlich löchrige Indizienkette, wenn du mich fragst. Hast du wenigstens geklärt, ob sie ihre Sachen mitgenommen hat?“ Ich bin müde. „Nein, Chris, habe ich nicht. Ich hatte nicht das Herz dazu. Stillmanns Frau ist verschwunden und er sieht seine Aktien ins Bodenlose fallen. Was hättest du getan? Folter dritten Grades angewandt?“ Chris lacht glucksend. Ich höre Geräusche im Hintergrund, gefolgt von Chris eilfertigem „Komme gleich! – Also, Nel, ich muß wieder ran. Halte die Ohren steif und paß auf dich auf. Wir hören voneinander. By.“ „Alles Gute für deine Therapie.“ sage ich dem tutenden Hörer. Es ist halb zwölf und es hat wieder zu regnen begonnen. Ich beschließe, meinen ursprünglichen Plan, zu den Seibts zu fahren, auf morgen zu verschieben, mich Zuhause auf meinem Sofa einzuigeln und mich nur durch ein Erdbeben der Stärke fünf oder ähnlichen Katastrophen von einem gemütlichen Tag abbringen zu lassen. Daß meine Gedanken vorerst noch um Stillmann kreisen, kann ich jedoch nicht verhindern. Es ist weder ein Erdbeben noch eine andere Katastrophe, die mich am hellichten Nachmittag aus meiner nur mühsam gefundenen Ruhe reißt. Das Klingeln des Telefons hatte dieselbe Wirkung. Immer wieder sind meine Gedanken an der Frage hängen geblieben, was denn nun die richtige Vorgangsweise sei. Was kommt zuerst? Ein therapeutisches Bündnis oder ein Menschenleben? In meinem Zwiespalt habe ich eine Kollegin angerufen, mit der ich losen Kontakt halte und die, wie ich weiß, mir schon immer ziemlich kritisch gegenüberstand. Andererseits hat sie eine unerschütterliche Einstellung, was 'therapeutisch korrekt' ist, eine Haltung, die ich grenzenlos bewundere. Für mich ist immer wichtiger gewesen, was braucht mein Klient und was davon kann ich ihm geben. Ulla Knollenkamp war unerwartet einsichtig, sah ebenso wie ich das Dilemma, riet mir jedoch dringend, mich nicht einzumischen, sondern meine Befürchtungen der Polizei mitzuteilen. Meinen Hinweis, daß die Polizei erst nach erfolgtem Verbrechen tätig werden kann, beantwortete sie mit der spitzen Bemerkung: „Also, in deiner Haut möchte ich nicht stecken!“, wobei der verdächtig klingende Unterton mitschwang, daß es ja wohl bezeichnend sei, wem immer wieder solche Dinge passieren. Damit sagte sie mir nichts Neues. Ich verabschiedete mich und war ihr auf eine Weise dankbar. Die Bewertung war klar und wenn ich mich nicht daran hielt, mußte ich es allein mit mir und meinem Gewissen ausmachen. Ich beschloß daher, der alten Volksweisheit zu folgen und eine Nacht darüber zu schlafen. Dieser Entschluß half insofern, als ich mich anderen Dingen zuwenden und den vielen Fragezeichen in meinem Hinterkopf die stereotype Botschaft 'morgen!' entgegenhalten 37
konnte. Die dadurch gewonnene innere Distanz befähigt mich, die nächsten drei Stunden zuzubringen, ohne wie ein Tiger hin und her zu laufen. Ich hätte auch den Rest des Tages auf diese Art geschafft. Doch das Telefon klingelt. Ein fassungsloser Dr. Devorkian ist am anderen Ende der Leitung und erachtet es für angebracht, daß ich meinen Klienten umgehend aufsuche. Stillmann habe zu toben angefangen und dabei gebrüllt, er würde dieses Miststück ermorden. Dr.Devorkian entnahm den haßerfüllten Tiraden, daß Stillmanns Frau gemeint sei. Er habe nun wiederum Valium verabreicht, das zwar dämpfende Wirkung zeige, aber irgend etwas müsse geschehen, er könne sonst einen weiteren Verbleib auf seiner Station nicht mehr verantworten. Seine Alternativen macht Devorkian klar: entweder ich oder die Psychiatrie. Ich verspreche, postwendend zu erscheinen und das Thema einer Verlegung vor Ort zu diskutieren. Nur unzulänglich besänftigt beendet Dr.Devorkian das Gespräch. Stillmann ist in einem Einzelzimmer untergebracht, was unter den geschilderten Umständen zweckdienlich ist. Im Augenblick tobt er nicht, er liegt mit halb geschlossenen Augen im Bett und atmet rasselnd. Dr.Devorkian, der wie ein Schatten hinter mir hergelaufen ist, tritt an das Bett und tastet nach dem Puls. Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch. Er läßt Stillmanns Hand fallen und greift nach der Kurve. „Alles in Ordnung.“ vermeldet er nach einem kurzen Blick, „Blutdruck und Puls normal.“ Dann wendet er sich seinem Patienten zu. „Herr Stillmann!“ sagt er mit erhöhter Stimme und sein volldröhnender Baß läßt mich zusammen zucken, „Frau Dr. Sander ist hier!“ Der Patient unterbricht sein rasselndes Atmen und versucht sich aufzurichten. „Bleiben Sie liegen, Herr Stillmann. Ich komme an Ihr Bett. Vielen Dank, Doktor!“ Devorkian erkennt, wann er überflüssig ist. Wie ein rächender Erzengel rauscht er hinaus. Ich unterdrücke ein Lächeln. Dr.Devorkian ist ein feinsinniger Spezialist der inneren Organe und hat seine Patienten gerne handlich und geordnet. Abweichungen, besonders psychischer Natur, sind ihm ein Greuel. Stillmann ist wieder auf sein Bett gesunken, hat die Augen geschlossen und atmet schwer. Ich bin unschlüssig. Ein Blick auf die Kurve zeigt, daß er in den letzten anderthalb Stunden zweimal Valium gespritzt bekommen hat, und zwar eine satte Dosis, selbst wenn man seinen durch viele Tabletten geeichten Organismus zugrunde legt. Die Wahrscheinlichkeit, daß er bis zum nächsten Morgen schlafen wird, ist hoch. Ich wende mich wieder dem Bett zu und nun klingen die Atemgeräusche schwer nach Schnarchen. Ich beuge mich etwas näher, Stillmann schläft tief. Nun denn, ich würde dem guten Doktor die Leviten lesen. Wenn er schon meine Hilfe braucht, sollte er tunlichst die Patienten nicht vorher in ein künstliches Koma versetzen! Ärgerlich schnappe ich meine Tasche und will den Raum verlassen. Doch ehe ich noch zur Tür gekommen bin, öffnet sich diese und eine untersetzte Frau stürmt mit wehendem Schal herein. Mit der Linken hält sie ihren Hut auf dem Kopf fest, ihr ausgestreckter Zeigefinger zielt auf mich. „Wer sind Sie?“ keucht sie. Sie ist völlig außer Atem und muß erst nach Luft schnappen. 38
„Mein Name ist Donatella Sander... und mit wem habe ich das Vergnügen?“ Mißtrauisch sieht sie mich an. Dann drückt sie mit beiden Händen ihren Hut fest auf den Kopf, schlägt ihr Halstuch mit Grandezza um ihre Schulter und verkündet mit Fanfarenstößen: „Ich bin Klara Moffat, Lothars Schwester!“ Aha. Ein Gedanke durchzuckt mich. Frau Moffat steuert wie eine Fregatte auf ihren Bruder zu, schlägt die Hände zusammen und schreit: „Lothar! Was haben sie mit dir gemacht?“ Lothar schnarcht unbeirrt weiter. Ich trete näher und strecke ihr die Hand entgegen. „Ich freue mich, Frau Moffat, ihre Bekanntschaft zu machen.“ Sie ergreift sie zögernd. Während ich weiter spreche, nehme ich sie sanft am Ellbogen und bugsiere sie zur Tür. „Als seine Schwester wissen Sie vermutlich, daß Herr Stillmann bei einer Therapeutin in Behandlung ist. Ich bin seine Psychologin.“ Frau Moffat, die sich widerstrebend meinem Drängen gebeugt hat und mir gefolgt ist, sieht mich argwöhnisch an. „So!“ sagt sie mit reduzierter Phonstärke, „So ist das!“ Ich öffne Tür, lotse sie hindurch und nötige sie, mit mir Richtung Lift zu gehen. „Ja, so ist das, Frau Moffat. Ihr Bruder hat einen Schock erlebt und ist nun hier, um sich etwas beruhigen zu können.“ „Es ist doch nichts Ernsthaftes!“ Alarmiert entzieht sie mir ihren Arm. Wir stehen jedoch bereits vor dem Lift und ich drücke den Knopf. „Körperlich nein. Er hat ein Beruhigungsmittel erhalten und wird einige Stunden schlafen.“ Sie schenkt meinen Worten offenbar Glauben. Ihre Miene entspannt sich etwas und ihre Augen mustern mich von oben bis unten. Zeit, mein Anliegen vorzubringen. „Frau Moffat, ich würde Sie gerne für einige Minuten sprechen. Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?“ Mißtrauen kehrt in ihre Augen zurück, gemischt mit einer guten Portion Neugierde. Unentschlossen nestelt sie an ihrem Schal. Die Lifttüre öffnet sich. „Wenn Sie im Augenblick allerdings keine Zeit haben...“ meine Stimme klingt beiläufig. Die Neugierde überwiegt. „Doch, doch!“ versichert sie, „Eine Tasse Kaffee wird mir jetzt gut tun!“ und schon hat sie den Lift geentert. Im Café sind nur wenige Leute. Frau Moffat hat offenbar beschlossen, einige Zeit zu verweilen, denn sie entledigt sich ihres Hutes, ihres Schals und ihres Mantels. Alles wird säuberlich auf einem Stuhl drapiert, dann kommt noch die Handtasche dazu. Mit einem Seufzen läßt sie sich mir gegenüber auf den Sessel nieder. Sie ist nervös und will etwas los werden, ohne zu wissen, wie sie anfangen soll. Ich bin still, die schnellste Methode, jemanden zum reden zu bringen. Die Kellnerin kommt und erleichtert gibt Frau Moffat die Bestellung auf. Ich schließe mich an. „Zwei Kännchen Kaffee.“ sagt die Bedienung und verschwindet. Ich werte es als gutes Zeichen, daß Frau Moffat ein Kännchen bestellt hat, sie scheint damit zu rechnen, daß sich das Gespräch etwas hinzieht. Das ist nur in meinem Sinn. Der Kaffee wird gebracht. Ich trinke ihn schwarz, Frau Moffat benötigt Zucker und Milch. Bis beides dazugegeben und tüchtig umgerührt ist, vergeht einige Zeit. Frau Moffat trinkt 39
einen winzigen Schluck, stellt entschlossen die Tasse ab und fragt inquisitorisch: „Sind Sie Doktor?“ „Ja, ich habe diesen Titel.“ antworte ich verblüfft. „Dr. Sander. Was ist das für ein Name? Kommen Sie aus Ulm?“ Nun bin ich amüsiert. Diese Schwaben. „Nein, Frau Moffat, ich komme aus Österreich. Ist denn Moffat ein schwäbischer Name?“ frage ich unschuldig. Sie trinkt einen weiteren Schluck und gewinnt einige Sekunden. „Nein, mein Mann kommt aus Schlesien.“ sagt sie, als sei das Thema damit ausreichend erschöpft, „Doch ich bin Schwäbin!“ schließt sie triumphierend. Was erwartet sie jetzt? Soll ich ihr gratulieren? Endlich gibt sie sich einen Ruck. „Frau Dr. Sander“ beginnt sie bedeutungsschwer, „es ist gut, daß ich Sie getroffen habe. Ich mache mir Sorgen um meinen Bruder und mit Ihnen kann ich vermutlich darüber reden. Ich hätte ja nie geglaubt, daß Lothar so weit sinken würde, zu einer Psychologin zu gehen.“ Eine winzige entschuldigende Geste in meine Richtung. „Nichts gegen Sie natürlich. Wir müssen alle irgendwie unsere Brötchen verdienen...“ Sie bricht ab und bemerkt, daß sie es nur schlimmer macht. Unverdrossen nimmt sie ihr Ziel wieder in Angriff. „Ähem, wie ich bereits sagte, Lothar ist ein guter Mensch, immer behilflich. Ich habe ja weiß Gott genug am Hals mit der Pflege unserer Mutter, die seit vier Jahren schon bei uns lebt. Alte Leute kann man doch nicht einfach so ins Altersheim abschieben, nicht wahr? Jetzt gibt es ja die Pflegeversicherung. Nicht, daß ich auf das Geld angewiesen wäre. Man tut es ja auch gerne, nicht wahr? Doch ohne Lothars Unterstützung... Immer war er da, wenn man ihn brauchte. Diese Kosten, Sie ahnen ja nicht, wie teuer diese Pflegeutensilien sind! Ich sage Ihnen da ja nichts Neues, nehme ich an. Doch in den letzten Wochen war Lothar nicht mehr er selbst. Vielleicht hängt das ja mit der Therapie zusammen, die er bei Ihnen macht? Kein einziger Anruf! Verstehen Sie? Es war ihm völlig gleichgültig, ob ich bei der Pflege unserer Mutter überlastet bin. Gerade jetzt, wo mein Mann auch noch im Krankenstand ist. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, sagen Sie!“ Sie sieht mich anklagend an, als hätte mein einziges therapeutisches Ziel darin bestanden, Lothars finanzielle Zuwendungen an seine Schwester zu hintertreiben. Ich habe keine Mühe, die Botschaft zu entschlüsseln. Die liebende Schwester ist äußerst besorgt, daß die Zahlungen ihres Bruders schlagartig aufhören, ohne den Mumm zu haben, dies direkt zu sagen. Wie sie reagieren würde, wenn ich ihr von Lothars Aktiencrash Mitteilung machte? „Haben Sie denn eine Erklärung für das veränderte Verhalten Ihres Bruders?“ frage ich vorsichtig. „Pah!“ schnaubt Klara Moffat und beugt sich verschwörerisch über den Tisch. „Das muß ich Ihnen doch nicht erklären!“ Verständnis heischend klimpert sie mit den Augendeckeln, daß die falschen Wimpern gefährlich wackeln. Sie ist stark geschminkt, wie man aus der Nähe sieht, der dunkelrote Lippenstift hat Schmierspuren auf ihren Zähnen hinterlassen. Frau Moffat lehnt sich zurück und ergreift ihre Tasse. „Man weiß ja, wie das so läuft mit einer solchen Frau. Mich würde nicht wundern, wenn Lothar ihr eines Tages den Kragen 40
umdreht!“ Sie sieht mich über den Rand der Tasse kriegerisch an. Wahrscheinlich würde eher Klara Moffat ihrer Schwägerin den Garaus machen. Ich schüttle zweifelnd den Kopf, die richtige Taktik. Mit neuem Elan legt sie wieder los. „Ich könnte Ihnen Sachen erzählen, da würden Ihnen die Haare zu Berge stehen, Frau Doktor! Ich habe immer schon gesagt, Lothar, habe ich gesagt, diese Frau wird dich ruinieren. Höre auf meine Worte! Wo ist sie eigentlich? Zuhause ist sie nicht, ich war dort. Und bei ihrem kranken Ehemannes ist sie auch nicht, oder haben Sie sie dort gesehen?“ Ich kann mich nicht beherrschen. „Nein, außer sie hat sich unter dem Bett versteckt.“ Mißtrauisch kneift Klara Moffat die Augen zusammen. „Ich will nicht hoffen, daß Sie mit ihr unter einer Decke stecken!“ Da ich es herausgefordert habe, halte ich mich zurück. Es war doch keine gute Idee, mit Klara Moffat Kaffee trinken zu gehen, um sie auszuhorchen. Geschieht mir recht. „Es sieht so aus, als ob Frau Stillmann verschwunden ist“ nehme ich den Faden wieder auf. Ein letzter Versuch, mein Ziel zu erreichen und etwas über Cookie herauszufinden. „Pah! Verschwunden! Das klingt ja, als vermuten Sie, Lothar habe sie um die Ecke gebracht.“ „Sie haben doch gerade selber gesagt...“ Unwirsch unterbricht sie mich. „Ach was! Lothar ist eine Seele von Mensch und kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Seine wilden Jahre, in denen er von einer Schlägerei in die nächste stolperte, sind ja glücklicherweise vorbei. Diese Frau ruiniert seine Existenz! Also, wo steckt sie?“ Rechenschaft fordernd sieht sie mich an. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, Frau Moffat. Vielleicht ist sie verreist?“ biete ich an. Lothars Schwester rümpft abfällig die Nase. „Muß ja dauernd in der Weltgeschichte herumgondeln und 'ne Menge Geld verbrauchen. Wenn Sie mich fragen, ist sie ein Flittchen, wie es im Buche steht. Doch ich habe Lothar gewarnt! Irgend etwas geht hier vor, Sie werden noch an meine Worte denken. Es hat alles damit begonnen, daß seine erste Frau wieder aus der Versenkung aufgetaucht ist. Oh je, das hätte ich vermutlich nicht ausplaudern dürfen. Du meine Güte, schon so spät! Da muß ich mich jetzt sputen. Nett, Sie getroffen zu haben!“ Frau Moffat schnellt von ihrem Sessel hoch und streift sich in einem Bruchteil der Zeit, die sie gebraucht hat, um sich ihrer Kleidung zu erledigen, den Mantel und den Schal über, klatscht sich den Hut auf den Kopf und eilt mit einem knappen Nicken zum Ausgang. Die Bezahlung überläßt sie großzügig mir. Das war ja eine eigenartige Vorstellung. Ich sortiere das Gehörte. Da war Frau Moffats Meinung über ihre Schwägerin, daß sie ein Flittchen sei, wie es im Buche steht. Frauen, die sich 'Cookie' nennen lassen, provozieren vermutlich diese Einstellung bei konservativen Schwäbinnen. Daß Lothar eine Seele von einem Menschen ist, der keiner Fliege etwas zuleide tue, ist vermutlich schwesterlich getrübter Blick. Die Bemerkung über Lothars wilde Vergangenheit war da schon interessanter, doch diesbezüglich stand bereits etwas in meinen Aufzeichnungen.
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Üblicherweise werden Benzodiazepine in oral fester Form als Tabletten, Kapseln oder Dragees rezeptiert, einige Substanzen liegen in Tabs-Form vor, was eine individuelle Dosierung erleichtert. Die neu entwickelte Expidet-Form, die sich in Sekunden auf der Mundschleimhaut auflöst, hat sich besonders bei geriatrischen Patienten als vorteilhaft erweisen. Ich nehme die Akte aus der Tasche, schiebe die Tassen zurück und vertiefe mich in Stillmanns Anamnese, ohne wesentlich Neues zutage zu fördern. Lothar Stillmann: dreiundvierzig, selbständig, zum zweiten Mal verheiratet seit vier Jahren. In seiner Jugend aggressiv, eine Verurteilung wegen tätlichem Angriff, Strafe als Bewährung ausgesprochen. Die erste Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden, ein Sohn, heute fünfzehn, blieb nach der Scheidung bei der Mutter und verbrachte seine Schulzeit in einem Internat. Nach Abschluß der zehnten Klasse trat er bei seinem Vater in dessen Betrieb ein. Stillmann hat eine kleine Computerfirma, in der er und zwei Mitarbeiter Software für Steuergeräte herstellen. Sohnemann nun saß zwar fleißig vor seinem Gerät, widmete sich aber mit Hingabe und Ausdauer der Programmierung von Computerspielen und war sein bester Kunde. Stillmann, cholerisch veranlagt, war nahe daran gewesen, seinen Sohn am Genick zu packen und ihn den Bildschirm von innen betrachten zu lassen. Diese Unbeherrschtheit trotz Einnahme von Tranquilizern in steigernder Dosis hat ihn alarmiert und so kam er zur Therapie. Die Lage hatte sich in dem Moment entspannt, als der Sohn in eine Schule in Stuttgart wechselte, dessen Hauptschwerpunkt auf dem Kommunikationssektor lag. Stillmann junior lebte auf, entdeckte neben seiner spielerischen Veranlagung auch genügend Ausdauer und Zähigkeit in seinen Genen und war auf dem bestem Weg, als zweiter seiner Klasse abzuschließen. Die Ehe der Stillmanns war nur am Rande Thema in der Therapie gewesen und auch nur insoweit, als das Verhalten des Vaters nicht durch die Stiefmutter sabotiert werden sollte. Seine Frau war bezüglich ihres Stiefsohnes desinteressiert und daher keine unmittelbare Gefahr für die Pläne des Klienten. Lothar Stillmann hatte seine Therapie mehrmals eigenmächtig beendet, nur um sie Monat später wieder aufzunehmen. So sprunghaft und cholerisch er sich seinem Sohn gegenüber zeigte, so entschlossen und kühl war er als Geschäftsmann. Eine sechzig Stundenwoche waren nichts außergewöhnliches, wobei Psychostimulantien eine unschätzbare Hilfe waren. Als störend empfand Stillmann deren Nebenwirkungen, wie Nervosität und Konzentrationsverlust sowie Schlaflosigkeit, die er mit Tranquilizern bekämpfte. Irgendwann lief sich die Spirale tot, die Analeptika waren nicht mehr ausreichend in der Lage, das Tavor zu übertönen und das Beruhigungsmittel schaffte es nicht mehr, Schlaf zu induzieren. Ein Entzug war die einzige Lösung. Gewissenhaft ließ er nach jeder Stunde einen Scheck auf Marlies Schreibtisch zurück. Ich schließe die Akte und mache in Gedanken einige Ergänzungen. Stillmanns Medikamentenentzug ging zügig voran, er erlernte die notwendigen Techniken der Entspannung und Gedankenveränderung und ich hatte nicht den Eindruck, daß er mir etwas vormachte und heimlich weiter Tavor schluckte. Trotzdem begann ich ihm in den letzten Wochen mehr und mehr zu mißtrauen. Lothar Stillmann verschwieg mir etwas, das an seiner Seele 42
nagte. Da war hin und wieder dieser Ausdruck von Verstörtheit in seinen Augen, der verkniffener Zug um seine Mundwinkel, und immer wieder Phasen von Unkonzentriertheit, als wäre er weit weg und mit etwas anderem beschäftigt. Aber er rückte nicht mit dem Wahrheit heraus. Allzu sehr bedrängen wollte ich ihn nicht, da der Therapieverlauf das Therapieziel nicht unmittelbar gefährdete und ich ohne Mitarbeit des Klienten ohnehin auf verlorenem Posten stand. Die entscheidende Frage, die sich aus den Unterlagen ergibt: Hat Lothar das Zeug zum Mörder? Prinzipiell hat das jeder, also muß die Frage neu formuliert werden. Wie hoch stehen die Chancen, daß sich Frau Stillmann gerade mit ihrem Schilehrer aus Aspen vergnügt? 95% – antworte ich spontan. Sind fünf Prozent Wahrscheinlichkeit ausreichend, um weitere Schritte zu unternehmen? In diesem Moment sehe ich Magnus C. Budin vor meinem inneren Auge. Wie sollte ich diesen wäßrig blauen Augen erklären, daß fünf Prozent eine vernachlässigbare Größe sind, wenn es um das Leben seiner Schwester geht? Damit festige ich meinen Entschluß, die Sache weiter zu verfolgen. Die Chance, mich rauszuhalten, war ohnehin nie besonders groß. Ich stopfe alles in meine Tasche, verlasse das Café und lasse mich vom Fahrstuhl wieder nach oben tragen. Ich will nochmals nach Stillmann sehen. Er schläft nach wie vor. Dr.Devorkian muß besänftigt werden, also widme ich ihm zwanzig Minuten. Er schenkt endlich meiner mehrfach gegebenen Versicherung, jederzeit die Verantwortung für meinen Klienten zu übernehmen, Gehör und erklärt sich bereit, Lothar bis längstens Montag auf der Inneren zu lassen. Das gibt mir drei Tage Luft. Ich versichere ihn meiner Dankbarkeit, die er mit schiefem Lächeln annimmt, und rege an, Valium nicht mehr zu verabreichen, was ihn störrisch macht. Um die mühsam geglätteten Wogen nicht aufs Neue in Aufruhr zu versetzen, verabschiede ich mich. Auf dem Parkplatz sehe ich Klara Moffat vor mir, die ebenfalls ihrem Wagen zustrebt. Die besorgte Schwester hat es mir vermutlich übel genommen, sie so eloquent vom Bett ihres Bruders losgeeist zu haben und wollte sich vergewissern, daß Lothar wirklich abgetaucht ist. Sie blickt hoch. Ich winke auffordernd und eile zu ihr. Ihr Lächeln wirkt verkrampft. „Noch eine kurze Frage, Frau Moffat. Von Frau Stillmann haben Sie noch immer nichts gehört?“ Klara Moffat zieht den Schlüssel wieder aus dem Wagenschloß und schnaubt verächtlich. „Keine Silbe. Das war ja zu erwarten, denken Sie nicht? Keine Rücksichtnahme, keine Verantwortung. Wo soll das noch hinführen? Ganz anders als Lothars erste Frau, ich sage Ihnen, ein Unterschied wie Tag und Nacht.“ Ich will zwar nicht über Stillmanns erste Frau reden, aber eine sprudelnde Informationsquelle soll man nicht leichtfertig austrocknen. „Sie sagten, die erste Frau Stillmann sei vor kurzem wieder aufgetaucht. Sie werden wahrscheinlich nicht wissen, was sie von Ihrem Bruder wollte.“ Frau Moffat plustert sich auf. Allein die Unterstellung, es könnte ihr etwas entgangen sein, trieb ihr die Röte ins Gesicht. „Meine Schwägerin – ich nenne Polly immer noch so – ist 43
eine wunderbare Frau gewesen. So freundlich und sanft. Ich habe es immer bedauert, daß wir nach der unglücklichen Scheidung jeden Kontakt verloren haben.“ „Dann waren Sie auch sicher traurig, daß die Ehe auseinander ging.“ Frau Moffat kneift die Augen zusammen. Wieder ist sie auf der Hut vor mir. „Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten meines Bruders.“ sagt sie mit Würde. „Eine Scheidung ist immer eine schlimme Sache, nicht wahr? Ich habe oft zu meinem Bruder gesagt, Lothar, habe ich gesagt, paß auf, daß du diese Frau nicht verlierst. Laß sie nicht soviel allein, unternimm etwas mit ihr, dein Geschäft wird schon nicht gleich einbrechen. Aber er wollte nicht auf mich hören. So kam es, wie es kommen mußte.“ Sie nickt mit zusammengepreßten Lippen. „Ein anderer Mann?“ Ich bin vorsichtig, will sie nicht gleich wieder gegen mich aufbringen. „Sie haben es wahrscheinlich gleich erkannt.“ „Natürlich“ erwidert sie zurückhaltend. „Ich habe es nicht in die Gegend posaunt, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber ich weiß, was ich weiß. Lothar war ahnungslos, das gute Schaf. Er ist bei Frauen immer ahnungslos gewesen.“ „Bestimmt hat sich Polly Ihnen anvertraut.“ Frau Moffat zieht ihren Schal fester um sich. „Nein.“ sagt sie bedauernd. „Meine Schwägerin war immer sehr zurückhaltend, was ihre eigene Person betrifft. Keiner von uns wußte viel von ihr. Nur daß ihre Eltern tot waren, das erwähnte sie einmal. Leider hat sie sich mir nicht anvertraut, aber ich habe doch Augen im Kopf. Polly war eine wunderbare Mutter und mein Neffe war so ein hübsches Kind, große, dunkle Augen und pechschwarze Lokken. Heute nun sieht er ja mehr wie ein Ausländer aus. Nun ja, wir werden alle älter, nicht wahr? Außer Polly. Ich könnte schwören, sie sieht keinen Tag älter aus als an ihrem Hochzeitstag. Nicht einmal in der Zeit ihrer Ehekrise hat man ihr irgend etwas angesehen. Nur daß sie in den letzten Monaten ihrer Ehe ihren Sohn immer öfter zu uns brachte. Nicht, daß ich mich beklagen will, wenn Sie verstehen, was ich meine. Doch ich hatte selber drei Töchter zu versorgen. So mußte ich ihr schließlich mitteilen, daß ich ihn nicht mehr nehmen kann. Aber wie sich herausstellte, wäre es ohnehin nicht mehr lange so weitergegangen. Tags darauf ist sie mit ihrem Sohn verschwunden. Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen.“ Ich verabschiede mich nachdenklich von Klara Moffat. War ihre Weigerung, Stillmanns Sohn zu betreuen, der Anlaß für das Verschwinden seiner ersten Frau gewesen? Wie soll ich nun weiter vorgehen? Stillmann schläft, da ist vorderhand nichts zu holen. Sebastian Seibt wohnt nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Es wäre kein großer Umweg, doch zuvor werde ich noch einen Blick in seine Akte werfen. Ich setze mich ins Auto, lege eine CD ein und vertiefe mich in meine Aufzeichnungen. Sebastian Seibt, zweiundfünfzig, seit acht Jahren zum zweiten Mal verheiratet, kinderlos. Geboren und aufgewachsen in Colmar, einziger Sohn deutscher Eltern. Vier ältere Schwestern. Seine Eltern starben bei einem Brandunfall, als Sebastian fünfzehn war. In der Nacht zum zweiten Januar hatte sich der im Wohnzimmer befindliche Christbaum wahrscheinlich infolge einer nicht gelöschten Kerze entzündet und das Einfamilienhaus fast zur Gänze 44
eingeäschert. Die Schwestern waren in dieser Nacht auf Schiurlaub im Schwarzwald. Die Eltern, die im ersten Stock schliefen, hatten keine Chance. Sebastian hatte versucht, zum Schlafzimmer vorzudringen, die starke Rauchentwicklung hatte es verhindert. Drei Feuerwehrmänner mußten den schreienden und tobenden Jungen bändigen, ehe sie ihn ins Krankenhaus zur Beobachtung bringen konnten. Dort stellte sich heraus, daß seine verwaschene Sprache und motorische Unsicherheit auf den Genuß von zuviel Alkohol zurückzuführen war – erste Suchtsymptomatik. Sie ließen ihn sich seinen Rausch ausschlafen und schickten ihn am nächsten Tag zu seinen Verwandten nach Laupheim. Die Lebensversicherung der Eltern ermöglichte Sebastian den weiteren Schulbesuch, jedoch aus dem beabsichtigten Studium der Medizin wurde nichts. Wie nach einem Strohhalm griff Sebastian nach der nächstbietenden Gelegenheit und trat nach Abschluß der Schule in den Transportbetrieb seines Onkels ein. Hier hatte sich zum Geschäftsführer hoch gedient und den Betrieb mit siebenundzwanzig Jahren übernommen, als sein Onkel sich in den wohlverdienten Ruhestand und in seine seit langem liebevoll für diesen Augenblick vorbereitete Finca auf Mallorca zurückzog. Zwei Jahre später hatte Sebastian den Betrieb gewinnbringend verkauft und sich seinem Lebenswunsch zugewandt. Er studierte Medizin und arbeitet heute als Oberarzt in einer Klinik in Laupheim. Die Beförderung war, wie er versicherte, der Anstoß zu dieser Therapie. Sein Medikamentenkonsum habe intolerable Ausmaße angenommen. Er fürchte, den Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. So geradlinig und folgerichtig sich Sebastians beruflicher Werdegang gestaltete und nur mehr sehr selten wehmütige Gedanken an eine große Karriere diesen Pfad kreuzten, so hilflos und chaotisch gestaltete sich seine Beziehung zu Frauen. Mit vier Schwestern aufgewachsen sollte er sich nach landläufiger Meinung einen ausreichenden Vorsprung im Umgang mit dem anderen Geschlecht erarbeitet haben. Weit gefehlt. Sebastians erste große Liebe ließ ihn vierzehnjährig ein kleines, spitznasiges Mädchen aus der Nachbarklasse anhimmeln. Mit inbrünstiger Geduld trottete er auf jedem Schulweg hinter ihr her und ignorierte mit störrischer Ignoranz alle abwehrenden und verächtlichen Signale seiner Angebeteten. Erst der Brand erlöste die zunehmend genervte Mitschülerin von den ihr lästigen Avancen des pickeligen Jünglings. Sebastian ließ acht Jahre verstreichen, bis er wieder ausreichend Mut gefaßt hatte, sich einer Frau zu nähern, die sich ihm praktisch auf dem Tablett anbot, der Chefsekretärin seines Onkels. Die Arbeitskollegin war neun Jahre älter, lebte in einer existentiell gesicherten, jedoch sexuell frustrierten Ehe mit einem viele Jahre älteren Mann und machte dem von seinen Pickeln befreiten, zielstrebig an seiner Karriere bastelnden Neffen ihres Chefs eindeutige Angebote. Sebastian wurde um halb sieben Uhr abends an einem grauen Novembertag im Büro seines Onkels entjungfert, ein Ort, der in der Folge nach Büroschluß zum Liebesnest umfunktioniert wurde. Ein vergessener Bericht und die demzufolge erforderliche Rückkehr des Onkels zu einem späten und äußerst ungünstigen Zeitpunkt beendete das junge Glück. Die Chefsekretärin wurde gefeuert und Sebastian 'in die Zucht genommen', ein Ausdruck, den sein sittenstrenger Onkel gerne im Zusammenhang mit seinem Neffen gebrauchte. Dieses Trauma hatte sich ebenso in Sebastian festgesetzt wie der Tod der Eltern, beide Ereignisse schienen sich im Laufe der Zeit zu verquicken und panische Schuldgefühle sollten Sebastians Inneres umschlingen. Mit fünfundzwanzig war Sebastian felsenfest der Überzeugung, er hätte das Leben 45
seiner Geliebten ruiniert, obwohl er nie wieder etwas von ihr oder über sie gehört hatte. Ebenso sicher wußte er, daß er schuld am Tod seiner Eltern war. Wenn er nicht sternhagelvoll gewesen wäre, hätte er das Feuer früher entdeckt und seine Eltern würden heute noch leben. Er ging regelmäßig zur Kirche, beichtete einmal wöchentlich und kasteite sich mit doppeltem Arbeitspensum. Alkohol mied er wie die Pest. Dafür wurden Tabletten ein ständiger Begleiter. In dieser Zeit der inneren Erstarrung traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel der Anblick eines Mädchens. Sebastian wurde wie ein Blatt im Wind von seinem Gefühlen mitgerissen und völlig außer Gefecht gesetzt. Nachdem die Angebetete Gnade vor den Augen seines Onkels gefunden hatte, da sie als Krankenschwester einem ehrbaren Beruf nachging, heiratete Sebastian Hals über Kopf innerhalb von vier Monaten. Mit stolz geschwellter Brust und einem nie gekannten Hochgefühl führte der Achtundzwanzigjährige seine Braut zum Altar. Es war der glücklichste Tag in seinem Leben. In der Rückschau schien es ihm, als sei es der einzige glückliche Tag geblieben. Die Ehe war ein Fiasko. Als auch der Nachwuchs ausblieb, zog sich Sebastian wieder mehr in sich zurück. Ohne Tabletten konnte er nicht einen Tag überstehen. Seine Frau verließ ihn bei Nacht und Nebel wegen eines anderen und ließ sich scheiden. Sebastian verkaufte den Betrieb und studierte Medizin. Gewissenhaftigkeit und Fachkenntnis zeichneten ihn aus, trotzdem blieb seine Karriere irgendwie stecken. Er war bereits knapp fünfzig, als er zum Oberarzt befördert wurde. Nach vierzehn Jahren ohne feste Bindung heiratete er zum zweiten Mal. Die Panikanfälle kamen wieder, diesmal in Gestalt von Herzattacken und Schwindel, nichts Organisches, wie er selbst am besten wußte, daher auch nichts, was nicht durch Einnahme entsprechender Mittel bekämpft werden konnte. Nach jahrelanger Medikamentenabhängigkeit kam er im Oktober 1997 zu mir in die Praxis, machte seine Vorstellungen klar und deutlich und zahlte selbst. Er veranschlagte von sich aus zwanzig Therapiestunden, kam pünktlich und regelmäßig alle vierzehn Tage und verzeichnete gute Erfolge, indem er zielstrebig alle Aufgaben erfüllte. Er war bereits frei von Medikamenten. Am Dienstag um 18 Uhr 30 sollte das Abschlußgespräch geführt werden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Chloralhydrat und Paraldehyd entwickelt. Substanzen, die bis in die heutige Zeit einen gewissen Stellenwert als Hypnotika und Sedativa behalten konnten. Das Haus, in dem Seibt wohnt, ist ein altes zweistöckiges Gebäude, von Efeu umrankt bis unter den Giebel, das einen düsteren Eindruck macht. Es steht mitten unter anderen Einfamilienhäusern, die alle aus der Zeit der Jahrhundertwende stammen. Die Rollos sind heruntergelassen und das schmiedeeiserne Gittertor geschlossen. Seibts scheinen das verlängerte Wochenende für einen Kurzurlaub genutzt zu haben. Ein blauer Honda steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite so schräg geparkt, daß ich nur mit Mühe daran vorbei komme. Im Garten des Nachbarhauses sehe ich eine Frau Unkraut harken. Ich parke vor dem Honda und steige aus. „Entschuldigen Sie!“ rufe ich dem gebückten Rücken zu. Die ältere Frau richtet sich auf und kommt mit freundlichem Lächeln auf mich zu.
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„Grüß Gott.“ Neugierig sieht sie mich an. „Guten Tag. Wissen Sie zufällig, ob Ihre Nachbarn verreist sind?“ Sie blickt auf das Nebenhaus und zuckt die Schultern. „Den Herrn habe ich heute mittag gesehen, als er den Müll rausbrachte.“ „Ach so. Ich dachte nur, weil die Läden herunten sind.“ Sie senkt ihre Stimme. „Das ist nichts Ungewöhnliches. Die Rollos sind meistens herunten. Keine Ahnung, warum. Gerade gestern sagte ich zu meinem Mann, als ob jemand gestorben sei.“ Hat sich denn die ganze Welt gegen mich verschworen? Ich wechsle das Thema. „Lebt Herr Seibt schon lange hier?“ „An die zehn Jahre werden es schon sein. Kaufte das Haus von den Müllers. Zwei so nette Leute. Mußten ins Altersheim. Na ja, die Kinder haben sich nicht um sie gekümmert. War sozusagen das erste, was sie taten, als die beiden alten Leute tot waren. Verkauften das Haus und stritten sich ums Erbteil.“ Leise mit der Zunge schnalzend schüttelt sie den Kopf. „Ja, das ist nicht einfach, sich an neue Nachbarn zu gewöhnen. Frau Seibt ist ja noch recht jung, nicht?“ Neugierig kommt sie ein paar Schritte näher. „Um einiges jünger als er!“ Es klingt bedeutungsschwanger. „Kennen Sie die beiden?“ „Frau Seibt nicht persönlich. Ihn treffe ich hin und wieder. Beruflich, sozusagen.“ „Aha. Er ist ja Arzt in einer Klinik, sagte er mir einmal. Sehr zurückhaltend. Freundlich, aber zurückhaltend. Es ist schwierig, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Sind Sie auch Ärztin?“ Wenn ich hier etwas erfahren will, hilft nur mehr die direkte Variante, sonst stehe ich morgen noch hier. „Ich bin eine Kollegin von Herrn Seibt. Haben Sie seine Frau in letzter Zeit gesehen?“ Sie senkt die Stimme. „Nein. Schon lange nicht mehr. Vor acht Jahren, als sie geheiratet haben, da kam sie manchmal zu mir. Fragte mich wegen des Gemüses und den Blumen um Rat. Hatte keine Ahnung von Gartenbau. Pflanzte irgend etwas in die Beete, aber sie hatte die schönsten Tomaten.“ schloß sie neidisch. „Jetzt ist davon nicht mehr viel zu sehen.“ Ich deute auf den Garten, der die kühnsten Erwartungen eines glühenden Verfechters von Naturgärten übertroffen hätte. Sträucher und Wiese in prächtigen Farben, doch ohne erkennbare ordnende Hand. „Eine Schande!“ Die Nachbarin nickt. „Seitdem der Garten so verwildert ist, fressen uns die Schnecken das ganze Gemüse weg.“ „Frau Seibt hat ihre Gemüsezucht aufgegeben?“ „Ja. Seit Jahren macht sie nichts mehr. Ich sehe sie kaum noch. Habe gerade gestern zu meinem Mann gesagt, es ist, als ob Frau Seibt verschwunden sei. Nie mehr zu sehen und den ganzen Tag die Rollos herunten. Wie man halt so schwätzt, verstehen Sie?“ 47
Ein Mann erscheint an der Terrassentür und ruft etwas. Ich verabschiede mich und die Frau eilt ins Haus. Gedankenvoll gehe ich an die Tür und drücke den Knopf unter dem Schild: Fam. Seibt. Ich höre die Glocke, aber nichts rührt sich. Ich warte einige Zeit. Als sich auch auf mein zweites Klingeln niemand meldet, kehre ich zu meinem Auto zurück. Der blaue Honda steht immer noch da. Eine Frau sitzt darin und starrt auf das Anwesen der Seibts. Aber meine Gedanken sind nicht bei dem blauen Wagen, sondern bei dem Gespräch mit der Nachbarin. Entweder muß Frau Seibt ein sehr zurückgezogenes Leben führen oder sie wohnt kaum hier. Das erste könnte bedeuten, daß sie sich mit blauen Flekken nicht außer Haus begibt, das zweite, daß sie einen Freund hat. Bevor ich jedoch diese Gedanken weiter verfolgen kann, klingelt mein Handy. Dr.Devorkian teilt mir mit, Herr Stillmann sei wach. Ob ich mit ihm sprechen und seinen Geisteszustand überprüfen würde? Im stillen seufze ich, daß mir wohl nichts anderes übrig bleiben wird, laut vermelde ich meinem besorgten Kollegen, daß ich umgehend erscheinen werde. Stillmann ist in der Tat wach, doch noch etwas dösig. Ich setze mich ans Bett und versuche behutsam, ihn zum Sprechen zu bringen. „Herr Stillmann, wie geht es Ihnen?“ „Cookie... es ist aus. Eine Mordswut... alle Weiber sind gleich... genau wie Polly...“ „Polly?“ „Meine erste Frau. Lief einfach davon.“ „Warum lief sie davon?“ „Weiß nicht. Nahm meinen Sohn und verschwand.“ Er keucht angestrengt. Ich warte, bis er sich etwas beruhigt hat. Dann reiche ich ihm das Glas. Dankbar nimmt er einen kleinen Schluck. „Haben Sie Polly in letzter Zeit gesehen?“ Stillmann läßt beinahe das Glas fallen. „Woher wissen Sie das?“ flüstert er. Ich nehme ihm das Glas ab und stelle es zurück. „Was wollte sie von Ihnen?“ Seine Hände fahren unruhig über die Decke, ein Muskel zuckt an seiner rechten Schläfe. Die Worte kommen undeutlich und verwaschen. „Ihren Sohn sehen, aber...“ „Aber?“ „Benno wollte nicht. Sagte, er habe genug von ihr, sie habe sich jahrelang nicht um ihn gekümmert. Aber es schien ihr nichts auszumachen. Sie war... komisch. Völlig gleichgültig. Erst will sie unbedingt Benno sehen und als ich ihr sage, er lehne es ab, reagiert sie nicht darauf. Plaudert über alles Mögliche. Ich... mache mir Sorgen.“ „Um Ihre erste Frau?“ „Nein, um Benno, meinen Sohn. Sie führt... irgend etwas im Schilde... kenne sie...“ Er wird zunehmend unruhiger, seine Blicke schießen hin und her, als ob er auf der Flucht wäre. Sein Atem geht rasselnd. Als ich ihm den Tee reiche, winkt er ab. „Frau Dr. Sander, meine erste Frau ist nicht normal. Sie ist irgendwie... gestört. Benno hatte eine Katze, schwarz-weiß, ein junges, zutrauliches Tier. Als Polly verschwand...“ er greift sich an den Hals, als würde er an den Worten ersticken, „da habe ich das Tier gefunden.“ Die Worte 48
werden immer leiser. Ich lege meine Hand auf seinen Arm und drücke ihn beruhigend. Er sollte loswerden, was ihn belastete, auch wenn es schon so lange her war. Vermutlich war die Katze fortgelaufen und überfahren worden. Tiere reagieren mit Flucht, wenn die vertraute Umgebung fehlt. Aber ich habe mich gründlich geirrt. Mit einem tiefen Atemzug fährt er fort. „Sie hat... hat ihn gejagt mit ihrem Bogen. War immer auf der Jagd nach streunenden Katzen oder Hunden. Sie hat ihn... mit dem Pfeil... an die Schlafzimmertür... genagelt, ehe sie das Haus verlassen hat. Ich hätte sie umbringen können, kalten Herzens, glauben Sie mir das?“ „Ja, Herr Stillmann, dieses Gefühl in einer solchen Situation ist sehr verständlich.“ Ein kalter Knoten bildet sich in meinem Magen, Wellen von Sorge und Mitgefühl überrollen mich, bringen meine Ohren zum Dröhnen. Ich wende meine ganze Routine auf, um mich zu beruhigen. Es ist nicht dieses krankhafte Verhalten, das mich erschüttert. Es ist die Assoziation des Pfeils, die in mir diesen mächtigen Sturm auslöst. Wann habe ich davon schon gehört? Auf der Party bei Lori und Knut? Ich muß mich unbedingt daran erinnern. Stillmann beginnt wieder zu sprechen und bringt mich in die Gegenwart zurück. „Cookie... verschwunden mit... dem ganzen Geld.“ Dieser dauernde Wechsel von einer Frau zur anderen verwirrt mich. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen. „Warum hat Cookie Sie verlassen. Hatten Sie Streit?“ „Riesenkrach... War wohl etwas heftig. Reizte mich bis zur Weißglut.“ Ich bin alarmiert. „Haben Sie sie verletzt?“ „Quatsch. Habe sie nicht berührt.“ „Worüber haben Sie sich gestritten?“ „Wollte an mein Geld. Sehe jetzt endlich klar. Zahle ich ihr heim...“ „Was meinen Sie damit?“ Langsam fallen ihm die Augen zu. „Ist wieder verheiratet. Hatte sicher schon während der Ehe was mit ihm.“ „Ich spreche von Ihrer zweiten Frau, Herr Stillmann, von Cookie.“ Meine Stimme klingt fest und soll ihn vom Einschlafen abhalten. „Cookie...“ Es ist ein kaum verständliches Murmeln. „Alles zu Ende.“ Sein Mund bleibt offen, der Kopf fällt zur Seite und es ist nur mehr leises Schnarchen zu hören. Seufzend stehe ich auf. Die Situation wird immer verworrener. Sollte Chris mit seinen Unkenrufen doch recht behalten? Einer Affekthandlung habe ich Stillmann immer für fähig gehalten. Ich sehe bereits seine Frau, vom Ehemann im Blutrausch hingemetzelt, vor meinem geistigen Auge und erteile meiner blutrünstigen Phantasie einen energischen Rüffel. Unschlüssig werfe ich einen Blick auf meinen Klienten und habe gute Lust, ihn so lange zu schütteln, bis er wieder wach ist und mir die Antworten gibt, die ich so dringend benötige. Doch ich verkneife mir diese Regung, da wahrscheinlich nicht viel Konkretes aus ihm herauszubringen wäre. Ich nehme meine Handtasche hoch und denke dabei an Lothars Schwester. 49
Wieder öffnet sich die Tür mit Schwung und herein stürmt abermals Klara Moffat. Sie wirft nur einen kurzen Blick auf ihren Bruder, dann baut sie sich vor mir auf und streckt den Zeigefinger wie eine Lanze gegen mich. Scheint eine charakteristische Handbewegung zu sein. Sie steht unter Dampf wie eine Diesellok in voller Fahrt. Ergeben begrüße ich sie. „Haben Sie das gewußt, Frau Doktor?“ Sie schießt jede Silbe wie einen Pfeil auf mich ab, ich schaudere bei dieser Gedankenverbindung. Der Einfachheit halber sage ich: „Nein. Ich hatte keine Ahnung.“ Der erste Angriff ist abgewehrt. Sie zieht die Hand zurück und zerrt sich den Schal vom Hals, als drohe sie zu ersticken. „Also wissen Sie noch gar nichts.“ „Nein“ beteuere ich nochmals. Nun wendet sie sich dem Bett zu und läßt ihre Augen abfällig über die schlafende Gestalt schweifen. „Daß er aber auch gar nichts dazu gelernt hat aus all seinen Frauengeschichten!“ sagt sie kalt. „Cookie, diese Schlampe, ist in die USA abgehauen.“ Sie holt tief Luft und fährt flüsternd fort. „Ich habe Lothars Konten überprüft, es ist alles futsch.“ „Sie sind sicher?“ „Natürlich bin ich sicher. Kein müder Pfennig ist mehr da. Ich kenne mich schließlich mit seinem Computer aus. Habe jahrelang die Buchhaltung gemacht.“ Ihre Stimme klingt kalt. „Nein, ich meine, daß Cookie in den USA ist?“ Nun fixiert sie mich mit steigenden Mißtrauen. „Ich habe die Buchungsbestätigung des Reisebüros in meiner Tasche.“ Sie kippt ohne Umstände ihre Tasche auf Lothars Bett aus, hält mir ein Formular unter die Nase und ihre Stimme zittert. „Flug 211 der Swissair von Zürich nach Denver, Colorado am 20.Mai um 23 Uhr 20, genügt das?“ Stillmann wird unruhig und murmelt weinerlich „Cookie...“ Klara Moffat deutet auf ihren Bruder und fragt: „Weiß er es schon? Ist das der Grund für seinen Zusammenbruch?“ Ich strahle sie an und muß mich beherrschen, Klara nicht um den Hals zu fallen. In mir hat sich ein Knoten gelöst. Stillmann ist unschuldig! Voll Freude verabschiede ich mich von Frau Moffat, die meine Begeisterung nicht begreift und mir mißtrauisch hinterher ruft. Wahrscheinlich ist sie immer noch der Meinung, ich hätte mit Cookie gemeinsame Sache gemacht.
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Teil 2
AGNES 1952 war das Jahr der Entdeckung des ersten Monoaminoxidase(MAO)-Hemmers Iproniazid. Die psychische Wirkung dieser ursprünglich für die Behandlung der Tuberkulose entwickelten Substanz fiel bei der klinischen Prüfung in Form euphorisierender und stimulierender Nebenwirkungen auf. Schwester Agnes hob den Kopf und schlüpfte in ihre Schuhe. Klingel aus Zimmer 209, der Motorradunfall. Sie nahm ihren Schlüsselbund aus der Tasche und eilte hinaus. Es war still auf dem langen Gang. Einer der Gründe, warum sie gerne Nachtdienste macht. Die Station ist ruhig, keine herum schwirrenden Ärzte, die hundert Sachen gleichzeitig anordnen. Keine kleinen Kinder, die man aus dem Stationszimmer scheuchen muß. Und keine lästigen Angehörigen, die alle fünf Minuten eine Vase für die Blumen brauchen. Die Patienten schlafen. Außer den Alten. Doch die sind meist geduldig, in Pflegeheimen in der Kunst geschult, die Zeit zuzubringen und nicht mehr als nötig Forderungen zu stellen. Und die Frischoperierten. Die wollen etwas gegen die Schmerzen. Wahrscheinlich auch der Motorradunfall. Sie hätte das Schmerzzäpfchen gerade so gut gleich mitnehmen können. Sie drückte gegen die Tür von Zimmer 209. Warum alle Krankenzimmertüren so schwer zu öffnen sind? Ein rascher Blick in die Runde. Der Patient im rechten Eck hatte die Nachtlampe an. Sie beugte sich über ihn und sagte halblaut: „Fehlt Ihnen etwas?“ „Die Schmerzen, Schwester.“ Es klang heiser. Sein Gesicht war grau. Automatisch greift Schwester Agnes nach dem Puls. Er war schwach und unregelmäßig. Sie tastete nach dem Blutdruckgerät in ihrer linken Tasche, wickelte die Manschette um den Oberarm und mußte zweimal herum schlingen, so dünn war der Arm des Mannes. Während sie mit der rechten Hand den Ballon betätigte, steckte sie sich die Stöpsel in die Ohren. Nur das leise Zischen des Luftdruckes, der in die Manschette schießt, war zu hören. Langsam ließ sie die Luft herausströmen. „Ich darf Ihnen im Augenblick nichts geben. Ihr Blutdruck ist zu niedrig. Ich hole den Arzt. Er wird gleich hier sein.“ Beruhigend drückte sie seine Hand. Dann löste sie die Manschette. Beim Verlassen des Raumes spürte sie im Rücken, wie ihr die ängstlichen Augen des Patienten folgten. Der diensthabende Arzt war neu im Krankenhaus, dies sein zweiter Nachtdienst. Schwester Agnes überlegte, ob er wohl sauer war, um halb drei geweckt zu werden. Ärzte reagieren ganz unterschiedlich, wenn sie im Nachtdienst raus müssen. Da sind die Gewissenhaften, die man bei jeder Kleinigkeit zu wecken hat, die über alles Bescheid wissen müssen und die es übel nehmen, wenn Schwestern eigenständig handeln. Dann sind da die Karrieristen, die beim ersten Anschlagen des Telefons senkrecht auf der Matte stehen, viel fragen 51
und meist wenig von den Antworten aufnehmen, rasch handeln, um dann die Anweisung zu widerrufen. Alles nach dem Motto: keinen Fehler machen, der der Karriere hinderlich ist. Oder die Faulen, die man fünfmal anpiepsen muß, bis ein genervtes „Was ist jetzt schon wieder!“ zurück kommt. Am liebsten sind Schwester Agnes die Altgedienten. Die knurren zwar, aber sie handeln sofort, wenn es nötig ist. Der Neue war noch nicht einzuordnen. Mal sehen, dachte sie, während sie die Nummer wählte. Nach dreimaligen Läuten legte sie den Hörer auf, denn sie wußte, der Piepser war angesprungen. Schwester Agnes setzte sich an den Schreibtisch des Stationszimmers und schlüpfte aus den Schuhen. Das war eine hektische halbe Stunde gewesen. Der Neue hatte zum Glück erkannt, was los war. Nun lag der Motorradunfall seit fünf Minuten im OP. Notoperation. Sie sah auf die Uhr. Nach halb vier. Da wird er vor sechs Uhr morgens nicht mehr gebracht werden. Dann hatte sie Dienstschluß. Sie machte ihre Eintragung und kehrte zu ihren Gedanken zurück, aus denen sie durch den Alarm aus Zimmer 209 gerissen worden war. Schon als sie zum ersten Mal den Namen des Neuzugang gesehen hatte, war es ihr kalt über den Rücken gelaufen. Sie hatte sich zurückgehalten, obwohl der Drang, ins Zimmer zu stürzen und dieser Frau von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, übermächtig gewesen war. Aber dann hatte die Patientin geklingelt, um einen Umschlag gefragt und gebeten, einen Brief aufzugeben. So sind sie ins Gespräch gekommen. Die Patientin hat in der Tat schrecklich ausgesehen. Kalte Wut war in Schwester Agnes hochgestiegen, als sie die Verletzungen gesehen hatte wie immer, wenn sie mit dem Ergebnis von nackter, roher Gewalt konfrontiert war. Das linke Auge war fast zu geschwollen, ein Pflaster verdeckte die genähte Platzwunde an der Stirn, die Lippen aufgequollen und blutig. Die Verletzungen, die man nicht auf den ersten Blick sehen konnte, standen in den Krankengeschichte. Nierenquetschung, Beckenprellung, Hämatome. War es Mitleid, das sie angetrieben hatte, mit der Patientin ins Gespräch zu kommen, oder war es das Drängen ihrer Erinnerungen? Sie hatte natürlich keinerlei Hinweise auf ihre eigene Vergangenheit abgegeben. Meistens hatte sie Paulines Hand gehalten und zugehört. Mit fassungslosem Entsetzen hat sie der Schilderung zugehört. Ihr Partner, hatte Pauline berichtet, sei sehr jähzornig und sie fürchte nunmehr um ihr Leben. Er kontrolliere sie, strafe sie, wenn sie etwas vergesse. Das komme leider öfter vor. Wenn sie die Garagentüre offen lasse oder die alte Uhr nicht aufziehe. Agnes sah das schimmernde Rotbraun des Rosenholzes vor ihrem geistigen Auge, das helle Glänzen des schweren Pendels mit dem großen Messingteller und den zylindrischen Messinggewichten, die geschnitzten Kapitälchen an der geschwungenen Glastüre der großen Pendeluhr, die jeden Sonntag aufgezogen werden mußte. Stumm war sie neben der Patientin gesessen und hatte sich weit fort gewünscht. Fort von den zerreißenden Schmerzen in ihrer Brust und fort von den erstaunlichen Schilderungen, die sie hörte. Konnte sich ein Mensch so verändern? Mit wachsendem Unglauben hörte sie Pauline zu, einige Verhaltensweisen des Ehemannes waren so vertraut, daß ihr die Tränen kamen. Doch da gab es noch andere Erlebnisse, von denen Pauline mit ihrer flüsternden, monotonen Stimme berichtete, die Agnes in wachsendes Entsetzen versetzte. Dieser Mann war ein brutaler Sadist, dem es Vergnügen bereitete, Schmer52
zen zuzufügen. Schwester Agnes war hin und her gerissen zwischen Mitleid und Unglauben. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr, wühlten Bilder ihrer eigenen Vergangenheit auf, schoben sich vor die Erzählungen dieser armen, geprügelte Frau, die offensichtlich die Wahrheit sagte. Irgend etwas zwang Schwester Agnes, wieder zu kommen, sich während ihres Nachtdienstes an das Bett zu setzen und den detaillierten Schilderungen der Grausamkeiten zuzuhören, die sie, je länger sie dauerten, um so weniger mit den Bildern in ihrem Inneren in Beziehung bringen konnte. Hin und wieder war Schwester Agnes der Verdacht gekommen, die Patientin sei unter starken Beruhigungsmitteln. Nachforschungen in der Kurve hatten jedoch nur eine einmalige Diazepaminjektion nach der Einlieferung zutage gefördert. Deswegen hielt sie noch manchmal Paulines Hand, um das typische Entzugszeichen, Schwitzen der Handinnenflächen, zu prüfen. Paulines Hände waren heiß und trocken. Nach drei Tagen hatte sie bei der Übergabe erfahren, daß Pauline auf eigene Verantwortung nach Hause gegangen sei. Schwester Agnes starrte das Telefon an. Seit Tagen ist Pauline entlassen und noch immer hat sie sich nicht gemeldet. Sie hatte sich an Agnes geklammert, ihr das Versprechen abgerungen, für sie da zu sein, wenn sie in Not käme. So verzweifelt hatte sie Agnes bedrängt, die keinem Patienten ihre private Adresse gab, daß diese sich schlußendlich bereit erklärt hatte, Pauline die Durchwahl des Dienstzimmers zu geben. Agnes konnte sich nicht vorstellen, daß Pauline ihr Versprechen vergessen hatte. Irgend etwas war passiert. Sie stand auf und kramte in der Ablage für Altpapier, das geshreddert werden sollte, und zog ein Blatt mit Aufklebern hervor. Auf einem Zettel notierte sie die Adresse. Sie würde zu Pauline nach Hause fahren. Unverbindlich, selbstverständlich. Sie mußte sich Klarheit verschaffen. Auch auf die Gefahr hin, ihrem geschiedenen Mann wieder unter die Augen zu treten. Plötzlich schrillte das Telefon. Der Wirkungsmechanismus der Benzodiazepine ist weitgehend geklärt. Es wird vermutete, daß die Bindung eines Benzodiazepins an seinen Rezeptor eine komplexe Reaktionskette auslöst, die sich hemmend auf neuronale Abläufe auswirkt, womit Angst und Spannung reduziert werden. Der Freitag morgen zieht strahlend schön herauf. Ich bin so erleichtert über die gestrige Entwicklung, daß ich Chris anrufe, um ihn zu einem freien Tag zu überreden. Offenbar hat er keinen Termin bei seiner blonden Krankengymnastin und ist sofort einverstanden. Die Decke falle ihm ohnehin bereits stündlich auf den Kopf, meint er. Er schlägt vor, ins Donautal zu fahren und den Tag mit einem köstlichen Essen im 'Donaublick', einem kleinen Hotel unweit von Beuron, zu krönen. Die Idee gefällt mir ausgezeichnet, so daß ich mir Fragen nach der Erlaubtheit spare. Wie die Diebe schleichen wir aus der Klinik im festen Vertrauen darauf, daß unser Freund Gottlieb Eisele diesen schönen Tag nützen und ihn mit Golfspielen verbringen würde. Im Donautal lassen wir den Wagen hinter dem kleinem Tunnel stehen und wandern den Fluß entlang. Tief atmend sauge ich den Duft der Bäume ein, lasse mich von Bienen und 53
Schmetterlingen umschwirren, mit einem Wort, werfe den Alltag von mir. Das Ufer der Donau ist mit üppigem Grün überwuchert und als wir ein schattiges Plätzchen finden, setzen wir uns ins Gras. Erst beim Mittagessen auf der Terrasse des 'Donaublick', wo uns die Wirtin mit dem blödsinnigen Namen Donaufee wie alte Bekannte begrüßt und noch immer Chris bevorzugtes Lagerbier im Kopf hat, nähern wir uns dem Thema. Die Zeit der Ruhe hat meine Gedanken geklärt. „Nun, wie stehen die Aktien?“ fragt Chris neugierig. Ich berichte von Stillmann, verschweige jedoch die Verwicklungen mit seiner ersten Frau. Es würde meinen Partner nur aufregen. Chris Augen glitzern vor Vergnügen. „Du lieber Himmel! Da hast du unserem lieben Devorkian aber einiges zugemutet. Dein Klient ist ja ein richtiger Hitzkopf. Du hättest ihm sein Tavor lassen sollen, Nel. Beruhigt wenigstens.“ Ich knuffe ihn in den Arm. „Du übersiehst eine Kleinigkeit. Lothar hat seine Frau nicht umgebracht. Cookie-Baby wedelt mit ihrem Jerry-Darling in Aspen über die Pisten und verpraßt dabei Stillmanns Geld.“ „Hast du eine Aversion gegen Frauen, die Cookie heißen?“ Chris zieht seine linke Augenbraue hoch. „Immer schon gehabt.“ „Bist du wirklich sicher, daß er keinen Dreck am Stecken hat? Vielleicht hat er gemeinsam mit seiner Schwester seine Frau um die Ecke gebracht.“ Ich mahne mich zur Geduld. Chris in seiner Fürsorge ist manchmal ziemlich anstrengend. „Ganz sicher. Punkt.“ sage ich im Brustton der Überzeugung, woraufhin mir Chris einen kritischen Blick von der Sorte 'vielleicht-wirst-du-dich-noch-wundern' zuwirft. Wie soll ich es Chris erklären? „Ich habe keine Ahnung, warum Klara Moffat eine solche Show abziehen sollte, wenn es nicht der Wahrheit entsprechen sollte. Wie ich dir bereits zu erklären versuchte, ist Stillmanns zweite Frau mehr dem schnöden Mammon zugetan, was sich allein aus der Tatsache ergibt, daß sie seine Konten abgeräumt hat. In ihr Persönlichkeitsschema paßt, mit dem Schilehrer durchzubrennen. Frau Moffat wiederum hat ebenfalls Stillmanns Geld im Auge, also würde sie doch nicht eine solche Geschichte erfinden, in der das, was sie am meisten begehrt, nicht mehr vorhanden ist.“ Die Ungeduld, die in mir aufgestiegen ist, läßt sich nicht mehr verbergen. Chris scheint immer noch nicht restlos überzeugt und zieht zweifelnd die Augenbrauen hoch. „Nel, ich habe dich immer schon für viel zu gutgläubig gehalten. Du bedenkst nicht...“ Er trifft direkt ins Schwarze. „Wie war das? Bis jetzt war ich gut genug, die Praxis über Wasser zu halten, damit du einen nahtlosen Einstieg hast, wenn du dich entschließen könntest, dich von deiner blonde Krankengymnastin loszureißen!“ Es klingt ziemlich nach Eifersucht, finde ich, doch mit mir geht der Gaul durch. Wenn Chris unbedingt Krieg will, bitte sehr. Ich habe noch jede Menge Munition. 54
„Jetzt werde nicht ärgerlich!“ „Ich bin nicht ärgerlich! Ich bin sauer! Warum willst du es nicht begreifen, Stillmann ist kein Mörder!“ „Um so besser. Dann wirst du vielleicht netterweise...“ „Jetzt reicht's!“ Ich funkle ihn an. Innerhalb von Sekunden ist der Streit eskaliert und wir fahren aufeinander los wie zwei Kampfhähne. Chris Augen sprühen Funken. So habe ich ihn lange nicht mehr erlebt. Meine Gereiztheit schlägt so schnell um wie sie gekommen war und voll Verblüffung frage ich: „Was tun wir hier eigentlich?“ Chris unterbricht sich im Wort, kratzt sich an der Nase und meint vergnügt: „Wir streiten. War ja auch höchste Zeit. Dieses harmoniesüchtige Geplauder geht mir schon längst auf den Geist.“ „Das ist doch die Höhe! Du wagst es wirklich, dich auf einen Kampf mit mir einzulassen? Nicht einmal in absoluter Topform hast du den Funken eine Chance gegen mich. Aber in deinem angegriffenen Zustand brauchst du ein Ventil, also werde ich großmütig über deine Launenhaftigkeit hinwegsehen.“ Chris wird ernst. „Ich bin nicht launenhaft, Nellie, ich bin ungeduldig. Ich möchte wieder nach Hause, mein Leben wieder aufnehmen, Klienten behandeln...“ „...Blondinen verführen.“ „Genau. Mich nervt die Therapie, mich nervt Gottlieb, mich nervt meine Schwäche und dann kommst du mit deinem überheblichen: Ach-ich-weiß-ja-ganz-genau-was-da-passiertGetue, und da soll man nicht in Saft gehen.“ „Entschuldige. Ich wollte nicht überheblich sein. Du machst dir Sorgen um mich, weil du fürchtest, mir könnte etwas passieren. Ich mache mir Sorgen, weil ich nicht weiß, ob die Frau eines meiner Klienten ermordet wurde. Können wir als Arbeitshypothese davon ausgehen, daß Stillmann nicht mehr auf der Liste steht, OK?“ „Gut. Dann ist es Seibt.“ „Wenn überhaupt ein Verbrechen geschehen ist.“ Der Einwand schien mir wieder einmal berechtigt zu sein. Chris nickt. Er setzt sich etwas schräg, um der Sonne zu entgehen. „Warst du dort?“ Ich zünde mir eine Zigarette an. „Ich war dort. Seibt war nicht Zuhause oder hat nicht aufgemacht. Ich sprach mit der Nachbarin. Eine alte Klatschbase, wenn du mich fragst. Obwohl es irgendwie komisch ist, wenn stimmt, was sie mir erzählt hat. Die Ehefrau sei oft tagelang nicht zu sehen und die Rollos sind meistens heruntergelassen.“ „Welche Hinweise ergeben sich aus deiner Therapie?“ Ich schließe die Augen und konzentriere mich. Sprechen wir über Ihre Panikattacken, Herr Seibt. Zum ersten Mal trat ein solcher Anfall auf, als sie etwa siebzehn waren. Ist das richtig? Ja. 55
Können Sie den Anlaß schildern? Ich erinnere mich sehr genau daran. Ich machte bei meinen Onkel die Lehre als Transportkaufmann. Daneben führte ich bereits die gesamte Buchhaltung, nach Dienstschluß und am Wochenende. Mein Onkel hatte damals sechzehn LKWs und transportierte überwiegend im Nahverkehr. Erst nach der Übernahme des Geschäftes habe ich den Betrieb ausgeweitet. Als ich ihn verkaufte, hatten wir 34 LKWs und fuhren zum Großteil Fernverkehr im gesamten europäischen Raum. Aber das nur nebenbei. Eines Samstag nachmittags saß ich wieder über meinen Büchern. Ich hatte ein kleines Zimmer über der Garage, es war heiß und stickig und es half nicht viel, daß ich das Fenster offen hatte. Dadurch hörte ich meine Schulkameraden draußen herumtoben. Mit einem Mal wurde mir heiß und schwindlig, ich bekam keine Luft mehr und mir wurde schwarz vor Augen. Was haben Sie gemacht? Jemanden um Hilfe gerufen? Wen sollte ich schon um Hilfe rufen? Mein Onkel war Samstags nach dem Essen nie zu hause, entweder auf dem Fußballplatz oder mit der Feuerwehr unterwegs. Meine Tante hatte nichts übrig für mich. Das heißt, so stimmt das nicht. Sie schätzte mich, wenn ich Reparaturen im Haus ausführte, die Fenster strich oder den Keller aufräumte. Aber krank sein... nein, nein, das war unmöglich. Es war ohnehin eine übermenschliche Leistung, daß man von ihr verlangte, ihren Neffen großzuziehen. Wenn sie Kinder hätte haben wollen, hätte sie selbst welche bekommen. Das war nicht einfach für Sie, Herr Seibt. Ich habe das nicht so empfunden. Irgendwie konnte ich meine Tante verstehen. Sie hatte ihr Leben eingerichtet und es war eine große Umstellung, als ich ins Haus zog. Ihr Verständnis ehrt Sie, Herr Seibt. Doch Sie haben sich sicher ziemlich verlassen gefühlt. Na ja, das war eben so. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wirklich? Aber nun haben Sie einen gute Job, Arbeitskollegen, eine Frau... Ja, natürlich. Das kann man nicht vergleichen, nicht wahr? Was haben Sie dann gemacht? Die Zähne zusammen gebissen. Bis um sechs mußte die Monatsabrechnung fertig sein. Mein Onkel kontrollierte jedesmal. Gab es mehrere solcher Attacken zur damaligen Zeit? Leider, ja. Ich habe mir Valium besorgt, dann waren sie verschwunden. Hat Ihr Arzt Sie denn nicht vor diesem Medikament gewarnt? Ich hatte sie nicht vom Arzt. Zu unserem Hausarzt konnte ich nicht gehen, da hätte mein Onkel alles erfahren. Damals durfte man auch noch nicht den Arzt frei wählen. Also habe ich mir das Mittel anderweitig besorgt. Wollen Sie sagen, wie? Nein. Ich will niemanden in die Pfanne hauen. Es ist zwar schon lange her... trotzdem. 56
Ich unterbreche meine Erzählung. „Es spricht alles dafür, daß Seibt ein verantwortungsvoller Mensch ist, der sich in andere einfühlen kann und Freunden die Treue hält.“ Chris kaut an einem Strohhalm seines Campari Soda. „Er hat Verständnis für seine Tante und verrät den Medikamentenbeschaffer nicht.“ „Richtig.“ „Trotzdem muß er stinkwütend auf seinen Onkel gewesen sein, der ihn ausbeutete und keinen Freiraum ließ. Und daß seine Tante ihm täglich vorhielt, er sei eine Last, ist auch nicht unbedingt einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung förderlich.“ „Da stimme ich dir zu. Er leidet sicher unter einer Aggressionshemmung.“ „Die brüchig werden kann. Hast du bemerkt, daß er davon spricht, einsam zu sein und auf deine Bemerkung, er habe Frau und Kollegen, gar nicht eingeht?“ „Das habe ich bemerkt.“ „Und? Sagt es dir nichts?“ „Was soll es schon bedeuten? Daß Seibt psychisch belastet ist, habe ich nie in Abrede gestellt.“ „Ich denke eher daran, daß seine Ehe belastet ist. Du kennst ja die Stories in den Zeitungen, wo der unauffällige Nachbar still und heimlich seine Familie ausrottet und niemand kann sich erklären, wie es dazu kam.“ „Hast du schon wieder Angst um mich?“ „Du siehst an mir, wie schnell etwas passieren kann.“ Unbewußt fährt er sich über seine Bauchdecke. Ich kann es ihm nachfühlen. „Frau Kroeger war schwer traumatisiert aus ihrer Kindheit und stand außerdem unter Neuroleptika. Das kann man nicht vergleichen. Ich habe es dir schon oft gesagt, es tut mir unendlich leid...“ „Nellie!“ Er drückt meine Hand, „Keine Schuldgefühle. Solche Sachen passieren eben. Gottseidank selten genug, aber sie passieren. Ich will, daß du wachsam bist. Stillmann hat den Hang zum Prügeln, Seibt ist ein Dampfkessel ohne Ventil. Also sieh dich vor! Das wollte ich damit sagen. Erzähl weiter.“ Herr Seibt, als Arzt haben Sie ja genaue Kenntnis davon, welche Wirkungen und Nebenwirkungen die Medikamente haben, die Sie einnehmen. Wenn Sie sie trotzdem nehmen, heißt das, daß sie stark unter Druck stehen. War Alkohol ein Mittel, um sich zu beruhigen? Das liegt schon einige Zeit zurück. Als meine Eltern starben, habe ich mir geschworen, keinen Alkohol mehr zu trinken. Ich war damals fünfzehn, als meine Eltern bei einem Brand ums Leben kamen. Am Silversterabend hat mein Vater eine Flasche Marillenlikör geöffnet, den er jedes Jahr aus dem Urlaub in der Wachau mitbringt. Ich durfte ein kleines Glas trinken. Am Abend darauf, als meine Eltern dann zu Bett gegangen waren, habe ich den Christbaum angezündet, eine Platte aufgelegt und mir den Marillenlikör geholt. 57
Ich habe mich sehr erwachsen gefühlt und die ganze Flasche ausgetrunken. – Ich habe Ihnen bereits erzählt, was passiert ist. Meine Eltern verbrannten und ich verbrachte eine Nacht zum Ausnüchtern im Krankenhaus. Ich kam dann zu meinem Onkel. Er hatte keine Kinder und wollte, daß ich das Geschäft übernehme. Ich hatte keine Möglichkeit, meinen Traumberuf zu lernen. Also ging ich bei ihm in die Lehre. Wenn ich etwas mache, mache ich es richtig. Ja, um den Preis ihrer Gesundheit. Ich habe noch eine Frage zu diesem Abend des Brandes. Sie sagen, Sie haben die Kerzen des Christbaums angezündet, Platten gehört und sich dem Marillenlikör gewidmet. Warum mußten Sie warten, bis Ihre Eltern schliefen? ... Wollen Sie nicht antworten? Mein Vater war... sehr streng zu mir. Er hat meine Mutter angebetet, die beiden hatten nur Augen füreinander. An mir ließen sie ihre Launen aus. Er hätte mich totgeschlagen, wenn er gemerkt hätte, daß ich Alkohol trank. Hat er nicht selbst Ihnen den Schnaps gegeben? Ja, damit ich ein Mann werde. Das war seine stehende Redensart. Sebastian, mach dies, laß das, sonst wirst du nie ein Mann. Ich habe hundert Regeln gehört, was zu einem wirklichen Mann gehört, aber keine einzige, wie man selbständig wird und sein Leben meistert. Litten ihre Schwestern auch unter ihrem Vater? Meine Schwestern hatten einander. Vier Mädchen sind eine Einheit, die sich schützen kann. Aber ich möchte nicht sagen, daß ich gelitten habe. Ich hatte zu essen und ein Dach über dem Kopf. Um Himmels willen, Herr Seibt! Sehen Sie doch, wie sehr Sie Ihre Gefühle unterdrücken mußten. Dieses überzüchtete Verständnis führt zu einem emotionalen Stau, der schädlich ist. Ich denke nicht, daß ich meine Gefühle unterdrückt habe. Denn tief in meinem Herzen habe ich meine Eltern gehaßt, wenn Sie dieses starke Wort erlauben. Mit Tabletten war der Haß erträglich. Gefühle werden dann unterdrückt, wenn sie nicht kommunizierbar sind. Haben Sie darüber gesprochen? Nein. Chris unterbricht mich. „Augenblick, Nel. Mir kommt da ein Gedanke. Steht zweifelsfrei fest, daß der Brand ein Unfall war?“ Ich bin bestürzt. „Du meinst, Seibt hat seine Eltern umgebracht?“ „Möglich. Die Umstände sind günstig, die Schwestern außer Haus, die Eltern schlafen im Obergeschoß und er selbst kann jederzeit den Schauplatz verlassen.“ 58
„Drei Männer mußten ihn bändigen, damit er nicht ins brennende Haus rennt, um seine Eltern zu retten.“ „Hat er dir erzählt.“ sagt Chris maliziös. „Hat er mir erzählt!“ bekräftige ich. „Er sagt, er haßt seine Eltern.“ „Himmel, jeder zweite Klient sagt, er haßt seine Eltern. Wenn alle zum Mörder würden, hätten wir keine Übervölkerung.“ „Na ja, behalten wir diesen Punkt im Auge. Weiter im Text.“ Doch ich muß erst diesen Gedanken zu Ende verfolgen, doch ich finde nichts, was Chris' Annahme wahrscheinlich macht. „Du irrst dich!“ sage ich abschließend. Hassen Sie Ihre Eltern immer noch? Nein. Es ist zu lange her. Deswegen nehme ich keine Tranquilizer. In den letzten Jahren brauchte ich sie, um in der Klinik über die Runden zu kommen. Was würde denn passieren, wenn sie keine Tablette nehmen? Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Ich würde zusammenbrechen, einen Schreikrampf bekommen, tödliche Fehler machen, irgend etwas dieser Art wahrscheinlich. Verfolgen wir nun Ihren Tagesablauf, Herr Seibt, sofern es im Zusammenhang mit Ihrer Medikamenteneinnahme steht. Das erste Tafil nehme ich morgens nach dem Aufstehen. Wie fühlen Sie sich da? Schlapp. Als könnte ich den Tag nicht meistern. Ist es vorgekommen, daß Sie den Tag nicht gemeistert haben? Ja. Nein. Nicht direkt. Sehen wir uns das genauer an. Sie wachen auf, was passiert dann? Wenn der Wecker klingelt, stelle ich ihn ab und bleibe noch etwas liegen. Wie lange? Vielleicht für ein bis zwei Minuten. Und was machen Sie in der Zeit? Nichts. Ich liege nur so da. Denken Sie? Wahrscheinlich. Ja. Woran denken Sie? Was heute alles auf mich zukommt. Was auf der Station los ist. Was passiert sein könnte. Was könnte denn passiert sein? Eine Krise bei einem Patienten. Ein Exitus, ein Herzinfarkt, so in etwa. Würde man Sie in einem solchen Fall nicht verständigen? 59
Natürlich. Haben Sie kein Vertrauen zu Ihren Mitarbeitern? Selbstverständlich habe ich das. Es ist nur so, in manchen Fällen haben nicht alle den Überblick. Man kann etwas übersehen, falsch einschätzen. Ich mache mir lieber ein eigenes Bild. Denken Sie an noch etwas außer an medizinische Krisen? Die Verwaltung der Klinik macht mir immer wieder Schwierigkeiten, der Medikamentenverbrauch ist zu hoch, die Liegezeit zu lang. Dann muß ich zum Verwaltungsdirektor. Diese ewigen Erklärungen stören mich. Warum läßt man uns nicht in Ruhe arbeiten? Das beunruhigt Sie? Beunruhigen... ja, vielleicht. Der Gedanke daran macht mich krank. Mit Benzos geht es besser. Gut. Wir haben also folgende Situation: Nach dem Aufwachen kommen Ihnen katastrophisierende Gedanken, die Sie in Unruhe und Angst versetzen. Zur Betäubung dieser Gefühle nehmen Sie Tranquilizer. Was passiert mit Ihren Emotionen? Wie... was passiert damit? Na, irgendwohin müssen die Gefühle. Sie unterdrücken Sie. Sind sie damit verschwunden? Wahrscheinlich nicht. Sehen Sie. Haben Sie eine Möglichkeit, Ihre Gefühle auch mal zu spüren? Vielleicht zu Hause, bei Ihrer Frau? Äh, ja. Oh ja. Zuhause habe ich kein Problem, meine Gefühle auszuleben. Unterstützt Ihre Frau Ihren Medikamentenentzug, Herr Seibt? Paula? Selbstverständlich. Sie würde nie etwas tun, was mir schadet. „Seine Frau heißt Paula, Nel. Das ist ziemlich weit weg von Linnie, findest du nicht?“ „Du hast recht. Aber Kindernamen folgen nicht immer einer zwingenden Logik. Soll ich weiter sprechen oder streichen wir ihn? Dann können wir dieses leidige Thema abschließen.“ „Das können wir immer noch. Ich muß sagen, deine Therapien sind richtig spannend. Du solltest ein Buch schreiben! Wie ging's weiter? . Kennen Sie Ihre Frau schon lange? Wir sind seit acht Jahren verheiratet. Sie war meine Patientin im Krankenhaus. Sie wurde mit einem Blinddarmdurchbruch eingeliefert und hatte bereits eine Bauchfellentzündung. So haben wir uns kennen gelernt. Meine Frau stand ganz allein auf der Welt. Sie hat Ihnen leid getan? 60
Vielleicht. Sie war freundlich, aufmerksam und häuslich. Manchmal etwas unselbständig und leichtfertig, doch damit kann ich umgehen. Was heißt das? Ach, sie vergißt oft Dinge. Sie läßt zum Beispiel immer das Garagentor offen. Unser Nachbar hat mehrere Katzen, die verrichten ihre Notdurft in unserer Garage... Chris kichert. „Hat er wirklich 'Notdurft verrichten' gesagt?“ „Unterbrich mich nicht dauernd, ich verliere sonst den Faden. Ja, er hat wirklich 'Notdurft verrichten' gesagt. Was ist daran auszusetzen?“ „Klingt wie meine Großmutter, Gott hab sie selig. Sagt doch heute kein Mensch mehr.“ Ich werfe Chris einen unwilligen Blick zu. In manchen Dingen bin ich etwas eigen. Ich habe ein altes Erbstück, eine Standuhr, die pünktlich jeden Sonntag aufgezogen werden muß. Da bin ich heikel, das gebe ich zu. Meine Frau ist da etwas lockerer. Aber es gibt nie Streit. Nie? Nein. Ich finde streiten reine Zeitvergeudung. Können Sie Ihre Frau fragen, ob sie zu einem Paargespräch kommen möchte? ... Herr Seibt, haben Sie mich verstanden? Gibt es irgend ein Problem? Selbstverständlich nicht. Ich werde sie fragen. Im Augenblick ist es unmöglich, da sie im Krankenhaus liegt. Im Krankenhaus? Ist es etwas Ernstes? Sie ist die Kellertreppe hinunter gefallen, sagte sie. Aus den Tiefen meines Gedächtnisses sind diese Worte hervor geströmt. Chris und ich sehen uns wortlos an. „Wann war dieses Gespräch?“ „Das letzte Mal, als er bei mir war. Der zwölfte, glaube ich.“ Chris klatscht in die Hände. „Das paßt! Linnie schreibt am neunten einen Brief, vier Tage später sagt Seibt, seine Frau ist im Krankenhaus, weil sie die Kellertreppe hinuntergefallen ist. Er hat sie verprügelt.“ „Er könnte sie verprügelt haben.“ korrigiere ich. Es ist ein hartes Stück Arbeit, Chris zu überzeugen, daß er nach Stuttgart ins Rehazentrum zurück muß. Erst der Hinweis, wir würden uns lächerlich machen, wenn wir zu zweit bei Seibt auftauchen und dieser macht uns freundlich mit seiner Gattin bekannt, überzeugte ihn. Zumindest teilweise. Widerstrebend willigt er ein, nicht ohne mir während der Fahrt ununterbrochene Verhaltensmaßregeln in Form von 'paß ja auf!' und 'sei vorsichtig' und 61
fromme Wünsche in der Art von 'hoffentlich passiert dir nichts' oder 'Gott beschütze dich' mitzugeben. Sein letzter Auftrag lautete: „Nel, ruf mich sofort an, wenn du bei Seibt warst, hörst du? Auf der Stelle! Ich will wissen, was geschehen ist!“ Ich verspreche es hoch und heilig. Auf der Fahrt zurück nach Ulm versuche ich, das Persönlichkeitsprofil von Seibt in Übereinstimmung mit einem prügelnden oder mordenden Ehemann zu bringen. Seibt ist groß, schlank und hat schüttere, blonde Haare. Seine Augen sind grau und sein Händedruck kräftig. Er ist pünktlich, freundlich und kooperativ, Eigenschaften, die man als Therapeut schätzen lernt. Zugegeben, er war ein emotionaler Krüppel mit zwanghaft kontrollierenden Zügen und einer Suchtstruktur. Machte ihn das zum Mörder? Ist er deswegen gewaltbereit? Ließ er Zuhause seinen aufgestauten Gefühlen freien Lauf? Fragen über Fragen. Hätte ich es sehen können? Sehen müssen? Nein, sage ich mir, bei nüchterner Betrachtungsweise in gar keinem Fall. Nicht mit dem Wissenstand, den ich hatte. Aber ich hätte nachfragen können. Etwa in der Art: Sie sagten, Zuhause leben Sie Ihre Gefühle aus. Können Sie mir ein Beispiel nennen? Ob er daraufhin geantwortet hätte: Indem ich meine Frau grün und blau prügle, sei dahingestellt. Auf der realen Ebene habe ich mir nichts vorzuwerfen. Ein dumpfes Gefühl des Unbehagens bleibt. Nun stellt sich auch wieder diese Ahnung kommenden Unheils ein. Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Ich fahre den Parkplatz Aichen an, wähle die Unfallklinik und frage nach dem Diensthabenden. Es ist eine Frau Dr.Birkle. Ich komme gleich zur Sache. „Frau Dr.Birkle, mein Name ist Dr. Donatella Sander, ich bin Psychotherapeutin. Ich hätte Sie gerne in einer Angelegenheit, die einen meiner Klienten betrifft, gesprochen. Wann haben Sie Dienstschluß?“ „Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, das wissen Sie!“ Es klingt abwehrend. „Frau Doktor, das weiß ich. Ich will keine Auskünfte von Ihnen, es geht mehr um die Bestätigung einer Annahme. Ich bin auf dem Weg in die Klinik und bitte Sie um ein paar Minuten Ihrer Zeit.“ „Ich habe heute Dienst. Melden Sie sich im Stationszimmer im vierten Stock. Aber ich sage Ihnen gleich, Sie vergeuden Ihre Zeit.“ Sie klingt immer noch schroff. Der Parkplatz an der Klinik ist beinahe leer. Da ich schon mal im Krankenhaus bin, besuche ich erst noch Lothar Stillmann. Er ist gerade dabei zu packen. „Sie gehen nach Hause?“ „Ja. Was soll ich hier noch. Ich habe meinen Schock überwunden.“ „Haben Sie Ihre Schwester gesprochen?“ Er knurrt mich an. „Und ob! Klara ist außer sich, weil ich nun blank bin und sie nicht mehr unterstützen kann. Sagen Sie, Frau Dr. Sander, sind alle Frauen ausschließlich auf mein Geld aus?“ Ich tätschele ihm beruhigend den Arm: „Das kommt Ihnen nur so vor, Herr Stillmann“ und unterdrücke rechtzeitig eine Bemerkung hinsichtlich meiner Rechnung. „Wie geht es nun mit Ihnen weiter?“ 62
Stillmann kramt in einem schwarzen Etui. Interessiert sehe ich ihm zu. Er zieht doch tatsächlich ein Scheckformular heraus und beginnt es auszufüllen. „Aber das hat doch Zeit!“ protestiere ich. Er richtet sich auf und sieht mich verschmitzt an. „Wenn Sie sich Sorgen machen, daß der Scheck nicht gedeckt ist.“ Ich schüttle den Kopf. „Ich habe gerade mit meiner Bank telefoniert. Cookie hat nur das Konto abgeräumt. War zwar 'ne ziemliche Stange Geld drauf, aber ich bin nicht ruiniert. Sehen Sie, Frau Doktor, Sie hätten meinem Rat folgen sollen und Aktien kaufen! Ich habe Ihnen immer gesagt, ich habe einen sensationellen Brooker. Mittwoch war ich den ganzen Tag unterwegs und er konnte mich nicht erreichen. Cookie war in der Bank und wollte meine gesamten Aktien verkaufen. Das kam ihm spanisch vor, er wollte sich zuerst mit mir beraten. Obwohl sie eine Verfügung hat, hat er die Aktien ihrem Zugriff entzogen und auf einem anderen Konto deponiert. Daher habe ich gestern in meinem Computer nichts gefunden.“ Mit Schwung unterschreibt er den Scheck und reicht ihn mir. Ich breche in Lachen aus, in das sich eine gute Portion Erleichterung mischt. Dr.Devorkian betritt im selben Augenblick die Szene. „Alles fröhlich? Wunderbar. Ich habe gehört, sie gehen nach Hause, Herr Stillmann. Sehr schön. Die Papiere holen Sie an der Pforte ab. Auf Wiedersehen, Herr Stillmann. Ich muß weiter. Nel, wir sehen uns hoffentlich nicht so bald auf dienstlicher Ebene wieder. Ich würde es vorziehen, dich privat zu treffen.“ Mit freundlichem Nicken war er wieder aus der Tür. „Was meinte er damit?“ fragt Stillmann mißtrauisch. „Es war ein Gefallen, den er mir erwies, als er Sie auf seiner Station aufgenommen hat.“ Stillmann interessiert sich nicht für die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen mir und Dr.Devorkian. „Ich war ziemlich durch den Wind. Bin froh, daß ich mich beruhigen und ausschlafen konnte. War die erste Nacht, die ich ohne Tavor durchgeschlafen habe. Bin gar nicht dazu gekommen, ihm zu danken.“ Ich verbeiße mir ein Lachen und unterdrücke aus therapeutischen Gründen den Hinweis, daß 10 mg Valium meist denselben Effekt zeigen. Stillmann könnte wieder auf den Geschmack kommen und vorerst bin ich nicht imstande, einen weiteren Medikamentenentzug bei ihm durchzuführen. Schnell verabschiede ich mich und wünsche ihm alles Gute. Im vierten Stock ist gerade Übergabe für den Nachtdienst. Die Schwester kommt mir vage bekannt vor, doch ich kann sie nirgendwo unterbringen. Auch sie scheint mich zu kennen, denn sie starrt mich erschrocken an, ehe sie den Blick abwendet. Ich sehe auf ihr Namensschild: Sr. Agnes. Ich bin mir sicher, noch nie mit einer Schwester Agnes zu tun gehabt zu haben. Frau Dr.Birkle ist eine Frau Mitte dreißig mit einer langen Nase und krausen blonden Haaren. Sie verhält sich nicht ganz so schroff wie am Telefon, doch immer noch reserviert. In groben Zügen schildere ich ihr mein Anliegen. „Wenn meine Vermutung richtig ist, hatten Sie vor etwa drei Wochen Frau Seibt auf Ihrer Station. Ich habe Anlaß anzunehmen, daß die Verletzungen von Frau Seibt Merkmale von tätlichen Angriffen aufwiesen.“ 63
Sie zieht die Augenbrauen zusammen und ihre Miene verdüstert sich. „Es waren keine 'Merkmale von tätlichen Angriffen', es waren brutale Verletzungen. Die arme Frau ist nur um Haaresbreite schweren inneren Blutungen entgangen.“ Ich atme durch. Endlich die Bestätigung. Budins Schwester liegt zur fraglichen Zeit im Krankenhaus. Sie hat Verletzungen, die von Tätlichkeiten herrühren. Linnie fürchtet in ihrem Brief an ihren Bruder um ihr Leben. Die Notiz auf der Rückseite hat zu den beiden in Frage kommenden Klienten geführt und Stillmann ist nicht mehr verdächtig. Magnus C. Budin – du und deine Beharrlichkeit. „Vielen Dank, Frau Dr.Birkle. Es ist erschreckend, wie hilflose Frauen immer wieder brutalen Männern in die Hände fallen.“ „So hilflos war Frau Seibt gar nicht. Sie wußte ganz genau, was sie wollte und hat es auch dementsprechend formuliert. Aber das sagt natürlich nicht viel aus. Sind Ihre Fragen damit beantwortet?“ Ich hatte meines Wissens nur eine Frage gestellt, aber Angebote sollte man nicht ausschlagen. „Haben Sie mit dem Ehemann gesprochen?“ Sie zögert unmerklich. „Nein. Die Patientin wünschte es nicht, sie wollte auch unter keinen Umständen, daß über ihren Aufenthalt irgend jemandem Auskunft gegeben werde. Andererseits machte sie von Anfang an klar, daß sie wieder nach Hause zu ihrem Mann gehen würde.“ Ich denke über das Gehörte nach. „Wissen Sie noch, wie lange die Patientin stationär war?“ Frau Dr.Birkle beginnt, ihren Auskunftsschalter zu schließen und blickt durch mich hindurch. Also versuche ich es andersherum. „Nach meinen Informationen ist die Patientin bereits entlassen.“ stelle ich in den Raum. „Ich weiß nicht, wozu Sie mich noch fragen, wenn Sie bereits alles wissen. Ja, sie ging am 11. vorzeitig auf eigene Verantwortung.“ „Sie haben Sie nach Hause gehen lassen?“ Das ist eine spontane und darüber hinaus unpassende Bemerkung, wie mir sofort klar gemacht wird. Frau Dr.Birkle erhebt sich und mustert mich kalt. „Meine Patientin wollte nach Hause. Genau genommen, wollte sie bereits eine halbe Stunde nach Aufnahme nach Hause. Denken Sie nicht, daß Sie den Mund etwas voll nehmen? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist der Ehemann bei Ihnen in Therapie und Sie hätten jede Möglichkeit gehabt, ihn davon abzuhalten, seiner Frau Gewalt anzutun, wie es Aufgabe eines guten Therapeuten ist. Sie sollten besser vor der eigenen Tür kehren. Guten Tag.“ Ich nehme die Abfuhr hin. Es würde nichts nützen, mit ihr über Machbares im therapeutischen Handeln zu diskutieren. Ich könnte sie zwar mit den Grenzen medizinischer Möglichkeiten konfrontieren, aber auch das wäre zwecklos. Mir fehlt noch eine Information. „Kam Frau Seibt mit ihrem Mann in die Klinik oder wurde sie mit dem Notarztwagen eingeliefert?“ Die Ärztin sieht über mich hinweg. „Ich wüßte nicht, was Sie das angeht.“ Klarer kann man einen Rausschmiß als einigermaßen höflicher Mensch nicht formulieren. Ich kehre ins 64
Stationszimmer zurück. Die Nachtschwester ist allein. Sie zuckt unmerklich zusammen, als sie mich sieht, und wieder überlege ich, wo sie mir schon einmal über den Weg gelaufen ist. Ich sage meinen Namen und stelle meine Frage, ohne eine Begründung dafür anzugeben und erwarte mehr Widerstand. Unerwarteterweise beeilt sich Schwester Agnes, meine Frage zu beantworten. Frau Seibt wurde am neunten Mai um ein Uhr siebenundvierzig nachts mit dem Notarztwagen eingeliefert. Ich notiere mir den Namen der Notärztin und bedanke mich bei der Nachtschwester. Sie ist erleichtert, als ich gehe. Meine nächste Station ist die Villa von Seibt. Hier ist alles wie gehabt, die Läden dicht, das Tor geschlossen. Nur der blaue Honda fehlt. Ich setze mich wieder in mein Auto und wähle das Krankenhaus in Laupheim, in dem Seibt arbeitet. Eine gestreßte Frauenstimme erklärt kurzatmig, daß der Herr Oberarzt vier Tage frei habe. Er sei erst ab Montag wieder im Dienst. Ich bedanke mich und hinterlasse Name und Anschrift. Gedankenvoll sehe ich zur Villa hinüber. Es ist fast sieben Uhr, die tiefstehende Sonne färbt die Efeuranken rotgolden, sie wirken wie ein undurchdringliches Dickicht, das die Geheimnisse des Hauses hinter ihren dicht verwobenen Ranken verbirgt. Das Gefühl von Gefahr wird in diesem Moment so übermächtig, daß ich die Augen schließe. Ich sehe Seibt und seine Frau nach kollektivem Selbstmord in ihren Betten liegen. Ich sehe Seibt, wie er mit blitzender Axt hinter seiner Frau her rennt. Ich sehe Linnie blutüberströmt am Boden liegen und ich sehe Budins vorwurfsvollen Blick auf mich gerichtet. Es dauert einige Sekunden, bis ich diese Bilder verscheuchen kann und meinen Blick von dem schweigenden Haus zu lösen imstande bin. Plötzlich piepst mein Handy. Ich fahre zusammen, meine Gedanken purzeln durcheinander: das ist Seibt, die Polizei, Frau Dr.Birkle, Magnus C. Budin... Zögernd greife ich nach dem Gerät. Es ist Chris und er ist aufgebracht. „Was ist mir dir, Nel? Hast du Seibt gesprochen?“ Ich muß mich erst räuspern, „Nein, Chris, er ist nicht Zuhause und er ist auch nicht an seiner Arbeitsstelle. Aber ich habe trotzdem Neuigkeiten.“ „Ja? So spann mich doch nicht so auf die Folter.“ Ich weiß, daß meine Stimme gepreßt klingt. „Frau Seibt ist am 11. aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie hatte multiple Verletzungen, die durch Schläge entstanden sind.“ Chris stößt die Luft aus. „Das heißt, Seibt hat gelogen, als er dir am zwölften erzählte, seine Frau könne nicht zum Gespräch kommen, da sie im Krankenhaus liege. Er ist es! Nel, du gehst sofort zur Polizei. Hörst du? Kein Kontakt mehr mit Seibt, er könnte wie ein in die Enge getriebenes Tier reagieren. Versprich es mir. Geh zur Polizei, sofort. Du kennst doch diesen Kriminalhauptkommissar, wie heißt er noch gleich?“ Mein sanfter, abgeklärter Kriminalhauptkommissar mit dem milden Blick und dem Stahlstift in seinem Inneren. Kommissar Cramer. „Ich weiß nicht, wie er heißt“ murmle ich. Chris Stimme wird einige Grade lauter. „Du starrköpfiges Weibsbild! Natürlich weißt du, wie er heißt. Du wirst noch als Leiche enden und ich kann dann wieder einen neuen Partner suchen.“ 65
„Es gibt viele arbeitslose Psychologen in der heutigen Zeit.“ Es klingt ein wenig spitz, ich gebe es zu. Chris schaltet um. Nun schmeichelt er und ich verspreche ihm alles, was er will. Auch daß ich mich heute nochmals bei ihm melde. Das habe ich vor auch einzuhalten. Beim abrupten Absetzen von Benzodiazepinen kommen vor allem vegetative Entzugssymptome vor, das bedeutet ein verstärktes Auftreten der ursprünglichen Symptome. Nach hohen Dosen und bei schlagartigem Absetzen können Persönlichkeitsveränderungen, Gleichgültigkeit oder Angst auftreten. Ich wende den Wagen und fahre Richtung Eselsberg zu meiner Wohnung. Ich bin beinahe Zuhause, da piepst schon wieder mein Handy. „Diese tragbaren Telefone sind der Untergang der Menschheit“, knurre ich. Was will Chris nun schon wieder? Eine Männerstimme, aber nicht Chris. „Frau Dr. Sander, hier spricht Sebastian Seibt.“ Ich bin wie vom Donner gerührt. Als er keine Antwort erhält, fragt er vorsichtig. „Sind Sie noch dran?“ „Ja, ja, äh, guten Abend, Herr Seibt.“ „Meine Klinik hat mir mitgeteilt, daß Sie mich sprechen wollen.“ Das hat ja wunderbar funktioniert. Ohne einen Gedanken an Chris und seine Bedenken zu verschwenden, verabrede ich mich mit meinem Klienten und fahre in die Richtung zurück, aus der ich gerade gekommen war. Als ich vor der Villa ankomme, ist das Gittertor offen und alle Rollos hochgezogen. Erwartungsvoll eile ich die Stufen hinauf. Die Türe öffnet sich und mein Klient, blaß und schmal, bittet mich herein. Das Haus ist düster und kahl. Linnie scheint keine schmückende Hand zu besitzen. Im Wohnzimmer stehen wenige Möbeln und es ist ziemlich dunkel. Seibt deutet auf eine Sitzgelegenheit und fragt, ob er mir etwas zu trinken bringen kann. Bei Kaffee sage ich nicht nein. Nachdem er das Zimmer verlassen hat, sehe ich mich ein wenig um. Die Möbel sind alt und abgenützt, nur die Eckcouch ist neueren Datums. Mein Blick fällt auf eine große Standuhr aus Rosenholz mit messingfarbenem Pendel und schweren, säulenartigen Gewichten. Das stete Tick-Tack ist das einzige Geräusch in dem stillen Haus und läßt mich frösteln. „Das ist das alte Erbstück, von dem ich Ihnen erzählt habe.“ Lautlos war Seibt eingetreten und ich zucke etwas zusammen. Die Atmosphäre in diesem Haus geht mir an die Nieren. Sie hat etwas Moderhaftes an sich. Seibt läßt sich auf die Couch nieder, während ich den breitarmigen Sessel ansteuere und dabei meinen Klienten mustere. Im Gesicht hat er einen hellen Kratzer. „Haben Sie sich verletzt?“ frage ich spontan und deute auf seine linke Wange. Er fährt leicht darüber und sagt wegwerfend: „Ich habe die Hecke geschnitten, da muß ich mich gekratzt haben. Was führt Sie zu mir?“ 66
Ich unterdrücke mein aufkeimendes Mißtrauen und versuche mich zu sammeln. „Herr Seibt, Sie sind mein Klient und darum fällt es mir nicht leicht, Sie etwas Bestimmtes zu fragen. Ich will ganz offen sein und akzeptiere in jedem Fall, wenn Sie die Antwort auf meine Frage verweigern.“ „Sie machen es aber spannend.“ Ein leichtes Lächeln und dieser kaum hörbare Akzent aus dem Elsaß. „Fragen Sie, ich habe keine Geheimnisse vor meiner Therapeutin.“ Er sieht mich offen an. Gerne möchte ich ihm glauben. „Vor zwei Tagen war ein Mann bei mir, der seine Schwester sucht. Sie wurde als Kind Linnie genannt, ist dunkelhaarig, etwa Mitte dreißig und scheint verschwunden zu sein. Sie hat ihrem Bruder einen Brief geschrieben. Auf der Rückseite steht mein Name und unser Dienstagtermin in Ihrer Handschrift. Ich habe Ihre Schrift wiedererkannt, als ich gestern Ihre Akte las.“ Gespannt warte ich auf seine Reaktion. Seibt kneift die Lippen zusammen, sein Rücken wird steif und er verkrampft die Hände ineinander. Sekundenlang bleibt er in dieser Haltung. Dann beginnt er sich vor meinen Augen aufzulösen. Ich kann es nicht anders nennen. Seine Gesichtszüge zerfließen, die Schultern sacken nach vorn und er schlägt die Hände vors Gesicht. Sein Atem geht keuchend. Minutenlang sitzt er so da. Es ist zermürbend, da ich tausend Fragen habe, doch ich gedulde mich. Langsam spüre ich Mitleid in mir hochsteigen. Endlich nimmt er die Hände vom Gesicht. „Der Taufname meiner Frau ist Pauline, ich weiß, daß man sie als Kind Linnie rief.“ Er zieht seinen Ehering halb vom Finger und schiebt ihn hin und her. „Sie hat schwarze Haare und ist fünfunddreißig.“ In die folgende Stille tropft das Ticken der Standuhr. Ein dicker Knoten hat sich in meiner Kehle gebildet. Ich schlucke und überlege mir meine nächste Frage. Meine Gedanken eilen voraus, befassen sich mit Magnus C. Budin und seiner Reaktion, so daß ich die Worte nicht aufnehme. „Was sagten Sie gerade?“ Ein tiefes Atemholen. „Paula ist verschwunden.“ Das Gefühl von Unheil springt mich an wie eine Katze. Ich starre ungläubig auf mein Gegenüber, dessen Gesicht noch blasser geworden ist. Nein, schreit es in mir, das ist nicht wahr! Nicht du! Ich will mich nicht geirrt haben, du kannst kein Mörder sein! Unter Aufbietung meiner gesamten Selbstbeherrschung frage ich: „Haben Sie eine Vermißtenanzeige aufgegeben?“ Er schüttelt den Kopf. Stammelnd und mit vielen Unterbrechungen erzählt er mir die ganze Story. Die Worte strömen von seinen Lippen, als habe sich eine Schleuse geöffnet. Noch ganz im Bann des gewaltigen Gefühlsansturms, den seine Worte in mir ausgelöst haben, fällt es mir schwer, denn Sinn des Geschilderten aufzunehmen. Bald nach der Hochzeit hatte Linnie angefangen, fortzugehen ohne ihrem Mann zu sagen, wohin. Sebastian, schon immer unsicher und zurückhaltend im Umgang mit Frauen, ließ sie gewähren und fragte nach einiger Zeit nicht mehr. Er begnügte sich damit zu nehmen, was seine Frau ihm freiwillig gab. Trotz alledem war er nicht unzufrieden. Wenn Linnie Zuhause war, war sie liebevoll und freundlich. Mit der Zeit blieb sie auch über Nacht fort und schließlich waren es Tage, an denen er seine Frau nicht mehr zu Gesicht bekam. Nun 67
versuchte er, verlorenes Terrain wieder wett zu machen, war aber chancenlos. Linnie teilt ihm mit, entweder so oder sie würde ihn endgültig verlassen. Sebastian bekam wieder Panikanfälle und der Gedanke, seine Frau zu verlieren und zum zweiten Mal die Scherben einer Ehe verkraften zu müssen, jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er mit allem einverstanden war. „Ich nahm Tabletten und überstand den Tag. Als die Qualität meiner Arbeit darunter zu leiden begann, kam ich zu Ihnen. Ich habe mich geschämt und daher die ganze Wahrheit verschwiegen.“ „Sie wissen nicht, wo sich Ihre Frau jetzt aufhält?“ „Nein.“ sagt er unglücklich. „Wie ich schon sagte, die Zeiten, da sie fort war, wurden immer länger. Manchmal kam sie wochenlang nicht mehr heim.“ „Wie lange ist sie jetzt verschwunden?“ „Morgen werden es vier Wochen, daß ich sie das letzte Mal gesehen habe. Gesprochen habe ich sie am... warten Sie, das war der elfte Mai. Sie rief mich in der Klinik an. Ich bin sehr erschrocken, als sie mir sagte, sie sei die Kellertreppe hinuntergestürzt und nun im Krankenhaus. Ich beschwor sie, dort zu bleiben, bis ich sie holen käme. Ich bin sofort nach Ende meines Dienstes nach Ulm gefahren, aber sie war schon fort.“ „Warum haben Sie mir das nicht am nächsten Tag mitgeteilt?“ „Sie wollten meine Frau sehen, doch Paula war verschwunden und ich konnte nicht sagen, wann sie wiederkommen wird. Was hätte ich Ihnen sonst sagen sollen?“ Er wirkt verlegen. „Frau Dr. Sander, das ist nicht das einzige, wobei ich nicht die Wahrheit gesagt habe.“ Was würde er jetzt gestehen? Ich unterdrücke den Impuls, ihm zu sagen, daß ich es nicht wissen will. Bitte kein Geständnis! Ich will nicht aufstehen und die Polizei anrufen müssen. In diesem Moment wünsche ich mir wieder einmal, auf meinen Vater gehört zu haben und Lehrerin geworden zu sein. Es ist zum x-ten Mal in diesen Tagen notwendig, meinem Verstand zu befehlen, die emotionale Empfindung auszuschalten. Seibt fährt sich über die Stirn und sucht nach Worten. „Ich habe Paula zwar im Krankenhaus kennengelernt, doch es war kein Blinddarmdurchbruch mit drohender Sepsis. Es war eine Abtreibung, die sie an sich selbst vorgenommen hatte. Wir konnten sie gerade noch retten.“ Ich bin erleichtert, mit dieser Unwahrheit kann ich leben. Gleichzeitig fangen die Nebel an sich langsam zu lichten. Die Vermutung, daß Seibt seine Frau nicht angerührt hat, verstärkt sich. Die Abwesenheiten weisen auf eine Beziehung zu einem Liebhaber. Linnie hat einen anderen Mann! Ich werden Magnus C. befragen, ob er noch etwas dazu weiß. Stockend spricht Seibt meine Gedanken aus. „Ich glaube, Paula ist einem Mann hörig und kommt nicht von ihm los. Ganz zu Anfang, als wir noch über vieles miteinander sprechen konnten, hat sie mir von jemandem erzählt, mit dem sie lange Zeit zusammen gewesen sei. Sie hat mich vermutlich geheiratet, um von ihm loszukommen. Ich habe ihr nicht helfen können.“ Unruhig springt er auf und läuft hin und her. Dabei zerrt er an seinem Kragen, als bekomme er keine Luft. Ich lasse ihm etwas Zeit, sich zu sammeln. Das Wirrwarr meiner Gefühle ist dem Mitleid mit meinem Klienten gewichen. Nach geraumer Zeit setzt er sich mir gegenüber und sieht 68
mich an, wobei seine grauen Augen hell glitzern wie von Tränen. „Paula hat mir nie erzählt, daß sie einen Bruder hat. Könnte ich... mit ihm sprechen?“ „Das kann ich nicht entscheiden, Herr Seibt. Wenn Sie einverstanden sind, informiere ich Ihren Schwager, daß Linnie gefunden wurde, zumindest theoretisch. Es liegt dann an ihm, mit Ihnen Kontakt aufnehmen.“ Seibt nickt und blickt auf seine Hände. „Ich möchte mit ihm über meine Frau sprechen, er ist der einzige, der sie näher kennt. Paula ist... ist nicht schlecht, Frau Doktor. Sie ist manchmal kindlich und naiv, auch schwach und anlehnungsbedürftig. Sie ist eine gute Frau, stand immer zu mir, ermutigte mich, baute mich auf. Sie hat mir zwar nie ganz gehört, doch was sie mir gegeben hat... Bitte, Frau Doktor Sander, finden Sie Paula!“ Ich verabschiede mich von Seibt, der in sich versunken mich nicht mehr wahrnimmt. Ich brauche frische Luft und Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Emotional unreife Personen, die wenig Frustration tolerieren und auf Streßsituationen impulsiv und mit Gewalt und Aggression reagieren, sind bei Benzodiazepam-Abhängigkeit oder Entzug gefährdet. Daher ist in diesen Fällen auf ein besonders vorsichtiges Ausschleichen zu achten. Noch ganz unter dem Eindruck des einsamen, schmalen Mannes in dem düsteren, kahlen Haus fahre ich ziellos durch die Straßen, die vom abendlichen Berufsverkehr verlassen sind. Ich bin nicht überrascht, daß ich am Bahnhofsplatz lande. Es gibt kein Parkproblem und unter dem inneren Zwang, mehr Informationen über Linnie einholen zu müssen, steige ich aus. An der Rezeption des Intercity sagt man mir, daß Budin das Haus vor einer Viertelstunde verlassen habe. Ich sehe auf die Uhr. Halb zehn. Budin wird zu seinem Treffen ins Café am Münsterplatz gefahren sein. Ich lassen den Wagen stehen und gehe zu Fuß. Vielleicht habe ich Glück und Linnie ist an diesem Abend zu dem Treffen gekommen. Ich versuche mir vorzustellen, welche Art von Frau ich vorfinden würde. Die vielen widersprüchlichen Aussagen lassen kein klares Bild entstehen. Anlehnungsbedürftig und naiv, dabei aufbauend und ermutigend, zu schwach, um sich von einem Mann zu lösen, der sie hörig gemacht hat, doch stark genug, Frau Dr.Birkle nicht den Eindruck von Hilflosigkeit zu vermitteln... Der Abend ist lau und viele Leute sind in den alten Gassen unterwegs. Am Münsterplatz spielen Straßenmusikanten, die Tische vor den Cafés sind mit fröhlichen Menschen gefüllt, die das Ende der Arbeitswoche genießen. Magnus C. Budin sieht mich, ehe ich ihn entdeckt habe, kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, nimmt meine Rechte in seine weichen Hände und drückt sie kräftig. Er führt mich an seinen Tisch in der ersten Reihe. Die Glocke des Münsters schlägt zehn. Budin wendet seine Aufmerksamkeit von mir ab, blickt forschend auf die vorbei schlendernden Menschen, mustert sie aufmerksam. Seine Wachsamkeit unterbricht er nur, um eine Bestellung aufzugeben. Noch immer schweigen wir, seit der Begrüßung haben wir kein weiteres Wort gewechselt. Eine etwa dreißigjährige Frau mit schwarzen Locken stakst auf hohen Plateausohlen an uns vorbei. Ich werfe einen fragenden Blick auf Budin, doch dieser schüttelt den Kopf. 69
Ein Klirren hinter mir reißt mich aus meiner Versunkenheit. Ein Kellner kommt mit einem Tablett, auf dem zwei Gläser und ein Sektkübel stehen. Mit einer knappen Geste deutet Budin dem Kellner, das Tablett abzustellen, während er weiterhin gespannt die vorbeiziehenden Leute beobachtet. Plötzlich erlahmt seine Aufmerksamkeit, die Schultern sinken ein wenig nach vorn und ein enttäuschter Ausdruck breitet sich über sein Gesicht. „I am sorry“ sagt er mit belegter Stimme, „verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Trinken wir erst einen Schluck.“ Als er die dunkelgrüne Flasche herauszieht, sehe ich, daß es Champagner ist, Veuve Gliquot Jahrgang 1993. Mit einer Geschicklichkeit, die auf langjährige Erfahrung schließen läßt, öffnet er sie und schenkt ein. Dann reicht er mir ein Glas. Ich ergreife es, strecke die Beine von mir und schließe für einen Moment die Augen. Urlaub, wie schön wäre das jetzt. Ich nippe an meinem Glas und sehe Budin über den Rand hinweg an. Seine wäßrig blauen Augen sind sinnend auf mich gerichtet. Er prostet mir zu. Dann lehnt er sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Er ist heute kleidungsmäßig weniger entgleist als das letzte Mal, trägt ein blaues Hemd zu einer rostbraunen Hose und sandfarbene Lederslipper. Wenn er diese grellgrüne Krawatte ablegen würde, könnte er als nahezu konservativ durchgehen. „Wie ich bereits gesagt habe, freue ich mich, Sie zu sehen. Denn das bedeutet, daß Sie nicht zu einem freundschaftlichen Besuch gekommen sind. Sie haben etwas in Erfahrung gebracht. Andererseits sind es keine guten Neuigkeiten, sonst hätten Sie sie bereits erzählt. Wissen Sie, ich war sicher, daß ich von Ihnen hören würde.“ Er macht eine erwartungsvolle Pause und ich tue ihm den Gefallen. „Was machte Sie so sicher?“ Er mustert mich aufmerksam, dann nickt er beiläufig. „Sie sehen müde aus und Sie hatten einen traurigen Blick, als Sie kamen. Was mich so sicher macht? Sie wußten in dem Moment, als Sie Ihren Namen und das Datum auf der Rückseite des Briefes lasen, wer Linnies Mann ist, nicht wahr?“ Ich hatte ihn also nicht täuschen können. „Diese Frage kann ich nicht mit ja oder nein beantworten. Sagen wir so, es ergaben sich Hinweise, denen ich nachgehen konnte, doch bisher ohne greifbaren Erfolg. Ich versichere Ihnen, ich habe keine Ahnung, wo sich Ihre Schwester aufhält.“ Budin nickt, als hätte er das erwartet. Er lächelt leise. „Sie sind eine interessante Frau, Mrs. Sander, und Sie sind eine Therapeutin, die ihre Klienten schützt.“ Er betont meinen Namen englisch und es gefällt mir. „Sie wissen den Namen des Mannes, den Linnie geheiratet hat, und doch glaube ich Ihnen, daß Sie nicht wissen, wo meine Schwester ist. Linnie ist also verschwunden und mein Gefühl, es könnte ihr etwas passiert sein, hat eine konkrete Basis erhalten. Doch nur um mir das zu bestätigen, sind Sie nicht hier. Also sind sie gekommen, um mehr über Linnie zu erfahren. Das wiederum bedeutet, daß sie noch einen Funken Hoffnung haben, Linnie lebend zu finden.“ Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas und will mir nachschenken. 70
Ich lehne ab. „Keinen Champagner mehr, vielen Dank. Bei Ihnen brauche ich meine fünf Sinne. Herr Budin, Sie sind ein sehr spitzfindiger Mensch, vor dem man sich in acht nehmen muß, damit man nicht mehr verrät, als man will.“ Er stellt sein Glas ab, schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück. Schmunzelnd sagt er: „Warum habe ich das definitive Gefühl, daß Sie bereits recht genau im Bilde sind? OK, spielen wir das Spiel nach Ihren Regeln. Sie wollen mehr Informationen über meine Schwester, da sich damit die Chance erhöht, sie zu finden. Ich könnte Ihnen vieles erzählen, das Linnie als das beschreibt, was sie in meiner Erinnerung ist, ein liebenswertes Kind. Doch das würde Ihnen nicht weiterhelfen und mir damit auch nicht. Es gibt jedoch etwas, das Licht auf ihre weiter Lebensentwicklung werfen kann. Das einschneidende Erlebnis für Linnie hatte sie mit zwölf Jahren, als sie einen Jungen kennenlernte. Er war fünf Jahre älter als sie. Linnie hat ihn immer versteckt gehalten. Nie hat sie ihn nach Hause mitgebracht oder von ihm gesprochen. Ich hatte zuerst den Eindruck, sie sei mit den beiden Nachbarsjungen unterwegs, die ich einmal verjagt hatte. Doch das war nur ein Ablenkungsmanöver. Heute bin ich mir sicher, daß es von Linnie selbst initiiert war, um mich in Sicherheit zu wiegen. Sie wußte, wie sehr ich an ihr hing.“ Er fährt sich durch die Haare, die wie Tage zuvor ihre formvollendeten Locken um kein Jota verändern. „Als Linnie vierzehn war, erwischte ich sie in der Scheune des Nachbarn.“ Er atmet tief ein und schenkt sich nach. Seine Bewegungen sind langsam. Endlich nimmt er den Gesprächsfaden wieder auf. „Sie haben es im Heu miteinander getrieben, doch das war es nicht, was mich so gegen ihn aufbrachte. Er hatte sie geschlagen, Linnie hatte rote Striemen am ganzen Körper.“ Wieder verstummt er. Dann fährt er so leise fort, daß ich Mühe habe, ihn zu verstehen. „Aber auch das hätte mich nicht so konsequent die Beherrschung verlieren lassen. Es war dieser hündisch ergebene Blick, mit dem meine Schwester, meine geliebte Linnie, zu ihm aufsah.“ Das folgende Schweigen fällt zusammen mit dem Einbruch der Dämmerung. Von fern hört man das Rauschen des Verkehrs, doch hier hat man das Gefühl, weit weg vom Trubel des Alltags zu sein. Als Budin wieder anhebt, ist seine Stimme fest und klar. „Ich war rasend vor Wut, benützte Fäuste und Füße. Er war kräftig gebaut, doch er hatte nicht den Funken einer Chance. Ich dachte, ich hätte ihn getötet. Meine Schwester stand daneben, ohne sich zu rühren. Sie sah mir zu, wie ich ihren Liebhaber k.o. schlug und regte sich nicht. Erst als er bewegungslos vor mir lag und ich Linnie zur Rede stellte, fiel sie vor mir auf die Knie. Sie dankte mir unter Tränen, daß ich sie gerettet hatte, und schwor mir, nie mehr mit ihm zusammen zu treffen. Das brachte mich zur Besinnung. Ich verständigte die Rettung und bin in derselben Nacht geflohen. Bis heute weiß ich nicht, ob vor der Polizei oder vor meiner Schwester.“ Wieder schweigen wir beide. Es gibt nichts zu sagen. Ich denke an Linnie und welche Umstände dafür verantwortlich waren, daß bereits eine Vierzehnjährige sexuelle Lust mit sadistischen Praktiken einforderte. Ich schrecke etwas zusammen, als Budin wieder zu sprechen beginnt. „Ich wußte sofort, was los ist, als ich den Brief erhielt. Ich dachte, sie hätte ihn nun doch geheiratet und ich könnte ihn über Sie ausfindig machen. Darum hat mich Ihre Frage nach 71
dem Mann meiner Schwester sehr erleichtert. Sie wußten, von wem die Rede war. Werden Sie sie finden?“ Ich lasse mir Zeit mit einer Antwort. „Ich könnte Ihnen nun eine Menge über Schweigepflicht und die Aufgaben eines Psychotherapeuten erzählen, Herr Budin, doch das würde Sie nicht zufrieden stellen. Nach Ihrer Erzählung ist Ihre Schwester eine psychisch kranke Frau, die dringend Hilfe braucht. Darum liegt mir viel daran, daß Linnie gefunden wird. Ich kenne den Ehemann, doch das wird Sie keinen Schritt weiterbringen. Es gibt allerdings eine Information, die ich Ihnen weitergeben kann, ohne diese Schweigepflicht zu verletzen, da sie mit Einverständnis des Betroffenen erfolgt.“ Ich hole eine Visitenkarte aus meiner Tasche und schreibe Namen und Adresse von Sebastian Seibt auf die Rückseite. „Dieser Mann möchte Sie sprechen. Rufen Sie ihn an, wenn Sie mögen. Doch versichere ich Ihnen nochmals, ich habe keine Kenntnis, wo sich Ihre Schwester aufhält. Ich habe auch keine Möglichkeit, Ihrem Ziel näher zu kommen, da überschätzen Sie mich und meine Möglichkeiten. Ist Ihre Frage damit beantwortet?“ Am liebsten würde ich jetzt gehen. Er nimmt die Karte entgegen, steckt sie in seine Brusttasche und lächelt verhalten. Er hat nur einen Teil von dem aufgenommen, was ich gesagt habe und ist mit seinen Gedanken in der Vergangenheit. „Ich bin wie Sie der Meinung, daß meine Schwester Hilfe benötigt. Sie ist – wie würden Sie es nennen? – ein früh gestörtes Kind. Niemand kennt die Einzelheiten der ersten Jahre mit ihrem spanischen Vater, denn weder Linnie noch ihre Mutter haben je über die Zeit gesprochen. Doch ich habe Augen im Kopf. Mir fiel auf, wie Linnie jedesmal starr wurde, wenn mein Vater ihr über den Kopf strich, sie in den Arm nahm oder sie nur zufällig berührte. Meine Stiefmutter wurde kreidebleich, wenn sie das sah. Ich bin sicher, sie bemerkte es selbst nicht, aber sie unterbrach sich im Satz und starrte ihr Kind an, bis mein Vater sich zurückzog. Papa und ich hatten ein sehr inniges Verhältnis, wir sprachen wie zwei Freunde miteinander. Anfänglich war er verletzt, konnte sich das eigentümliche Verhalten seiner Stieftochter nicht erklären, aber er akzeptierte es schließlich und rührte Linnie nicht mehr an. Dabei war er wahrscheinlich auch ein wenig eifersüchtig auf mich, denn wenn ich Linnie umarmte, genoß sie es.“ Mit leicht provozierendem Unterton frage ich: „Sexuell?“ Er ist weniger überrascht als anzunehmen war. „Nein. Nicht wirklich. Ich denke mir, Linnie kannte nur eine Art von Zärtlichkeit, nämlich die, die mit Sexualität verbunden war. Das war anfänglich etwas irritierend, aber Linnie lernte schnell. Sie war ein aufgewecktes Kind, hatte aber Phasen, in denen sie nahezu apathisch war. Widersprüchlich, aber ungemein liebenswert.“ „Herr Budin, kennen Sie Linnie auch als gewaltsam?“ Diese Frage kommt aus einer Eingebung und ich habe die letzten Minuten damit zugebracht, zu entscheiden, ob ich sie stellen soll. Er sieht mich abwägend an. „Machen Sie sich Sorgen oder ist es Ihr beruflicher Scharfblick?“ Wahrheitsgemäß müßte ich ihm sagen, daß es meine Intuition ist, die mir diese Frage eingegeben hat. „Sie erwähnten, daß sie Bogenschützin war.“ 72
Er seufzt und knetet seine pummeligen Hände. „Ich kenne Linnie nicht als grausam. Sie war ein anschmiegsames Kind, das aber durchaus ihren Willen durchsetzen konnte. Sie wollte kein Haustier, weder eine Katze noch einen Hund, doch sie konnte nicht genug Puppen haben, die sie überall hin mitschleppte. Ihr Zimmer sah aus wie eine Puppenstube. Das änderte sich auch nicht, als sie ihr zweites Hobby entdeckte. Mit zehn Jahren hatte sie mein Vater auf den Rummel mitgenommen, da durfte sie mit Pfeil und Bogen schießen. Daraus entwickelte sich eine Leidenschaft, die an Besessenheit grenzte. Sie wurde eine perfekte Bogenschützin und trainierte mit einer Ausdauer, die ich manchmal beängstigen fand. Wenn man bedenkt, daß sie mit zwölf Jahren ihre Beziehung zu diesem Jungen so gut vor uns verheimlichen konnte, daß zwei Jahre lang niemand davon wußte, hat sie sicher auch andere Charaktereigenschaften, die dem Bild eines sanften Geschöpfes widersprechen. Ich habe Linnie zwanzig Jahre nicht gesehen. Wer weiß, wie sich ein Mensch entwickelt? Wenn man bedenkt, daß sie mit diesem Mann ebenfalls an die zwanzig Jahre verbracht hat und seinem Einfluß völlig ausgeliefert ist.“ Er breitet seine Hände aus. Ich weiß, was er meint, und meine Angst wächst. Müde und ausgepumpt komme ich Zuhause an und erinnere ich mich an das Versprechen, Chris anzurufen. Er ist nicht in seinem Zimmer und ich bin froh darüber. Ich will nicht mehr reden, nicht mehr denken. Ich will nur mehr ein Bad und ein Bett. Jeder Tag hat irgend wann ein Ende, doch der Schlaf will sich lange nicht einstellen. 1903 beginnt die Synthetisierung des ersten Barbiturates (Barbital). Die Reihe moderner Psychopharmaka wurde 1960 mit dem ersten Benzodiazepin-Tranquilizer Chlordiazepoxid (Librium) fortgesetzt. Sternbach entdeckte 1963 das Diazepam (Valium). Der tiefe Schlaf hat meinen Kopf frei gemacht, die gestrigen Ängste sind vollkommen verschwunden und eine tiefe Freude erfüllt mich, daß ich meine beiden Klienten von einem schrecklichen Verdacht freisprechen kann. Ich denke an Budin. Ein außergewöhnlicher Mann mit einer bemerkenswerten kombinatorischen Fähigkeit und Einfühlungsgabe. Die Schilderung der Persönlichkeit seiner Schwester und die entwicklungsweisenden Umstände nötigen mir Respekt ab. Linnie war sicherlich ein früh gestörtes Kind, eine Mischung aus Hilflosigkeit und Härte, Abhängigkeit und Selbstbehauptung bis zum Egoismus und immer auf der Suche nach sich selbst. Mich fröstelt und mein Hochgefühl ist wie weggeblasen. Prompt klingelt mich Chris aus dieser Mißstimmung. Er ist unerwartet heiter, ohne einen einzigen Vorwurf betreffend meines gestrigen Schweigens. Ich vermute, die blonde Krankengymnastin hat ihm geholfen, den Abend angenehm zu gestalten, und sage es ihm auf den Kopf zu. Er dementiert nur halbherzig. „Während du dich deinen Vergnügungen hingegeben hast, habe ich detektivische Schwerstarbeit geleistet. Hör zu: Linnie ist Paula, Seibts Frau. Sie heißt Pauline. Ich habe mit Budin gesprochen. Was er mir erzählt hat, wurde seiner Schwester in früher Kindheit Gewalt durch ihren Vater angetan. Also wurde schon in frühester Kindheit Sex und Gewalt zu einer lebensweisenden Kombination. Mit zwölf hat Linnie einen Jungen kennen gelernt, der ihr beides bieten konnte und seither kommt sie nicht von ihm los. Sie versuchte auszu73
brechen und heiratet dazu typischerweise Seibt, einen gefühlsmäßig schwach entwickelten, kontrollbesessenen Menschen, womit die Beziehung zu dem Mann, dem sie hörig ist, in keiner Weise gefährdet wird. Du siehst, ein typisches psychoanalytisches Muster, an dem Sigmund seine Freude haben würde.“ „Nel, komm zur Sache, wenn du anfängst Freud zu zitieren, gerätst du in Gefahr, grundlegende psychologische Diskussionen vom Zaun zu brechen. Du bist fleißig gewesen. Ich verkneife mir die Frage, ob Seibt wirklich aus dem Rennen ist, denn offenbar hast du Linnie noch nicht gefunden.“ „Ich habe Linnie nicht gefunden. Sie hat zwar ihren Mann aus dem Krankenhaus angerufen, aber als er dort eintraf, war sie nicht mehr da. Deswegen bin ich sehr beunruhigt. Sie hat um Hilfe gerufen, ihrem Bruder geschrieben, ihren Mann angerufen. Doch schlußendlich hat sie mit keinem von beiden Kontakt aufgenommen. Ich werde nun zu meinen Hausund Hofkriminalkommissar gehen und ihn fragen, was man in einer solchen Situation tun kann. Immerhin haben wir den Namen. Vielleicht kann er Linnie suchen lassen.“ Während ich spreche, hüpft ein Gedankenblitz durch meinen Kopf, den ich nicht richtig ausformulieren kann. Noch jemand wurde in letzter Zeit kontaktiert. War es Klara Moffat? Ehe ich den Zipfel dieser Spur zu fassen bekomme, ist er wieder verschwunden. Chris ist erleichtert und bestätigt meinen Entschluß. Außerdem kündigt er seine Entlassung für den nächsten Mittwoch an und die Freude über seine Rückkehr überwiegt für die nächsten zehn Minuten jedes Gefühl von Sorge und Unruhe. Zufrieden lege ich den Hörer auf und freue mich auf ein opulentes Frühstück. Als ich den Kühlschrank öffne, sehe ich nur gähnende Leere. Ich habe seit einer Woche nicht mehr eingekauft. Entweder ich lade mich bei Lori und Knut zum Frühstück ein oder ich muß dringend in die Stadt. Wenn ich mich nicht auch am Sonntag morgen meinen Nachbarn aufdrängen wollte, blieb wohl nichts anderes übrig. Als erstes gönne ich mir eine Tasse Kaffee und fasse dazu das Café am Münsterplatz ins Auge. Als ich über den Platz gehe, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, daß ich mit Budin hier gesessen hatte. Es sind nur zwei Tische besetzt, an einem sitzt ein älterer Herr und liest die Schwäbische Zeitung, am anderen wippt einen südländisch aussehende Frau nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Sie trägt eine auffallende rote Lederjacke mit gelben Paspeln, die wunderbar zu ihren schwarzen Locken paßt. Ich denke an Linnie. Wahrscheinlich suggerieren mir schwarze Locken noch für einige Zeit die Assoziation mit der verschwundenen Schwester Budins. Doch diese Frau sieht keinen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Genießerisch schlürfe ich das heiße Getränk. Vom Turm schlägt es zehn. Die schwarzhaarige Frau am Nebentisch wird noch nervöser, so daß ich mich langsam gestört fühle. Sie klappert mit den Sonnenbrillen auf dem Marmortisch, fährt sich hektisch durch die Haare, sieht dauernd auf die Uhr und sucht unruhig die Gegend ab. Eine Viertelstunde später steht sie so abrupt auf, daß der Stuhl umkippt und krachend auf das Steinkopfpflaster schlägt. Ohne sich um den Aufruhr zu kümmern, den sie verursacht, verläßt sie den Platz. 74
Ich beende in Ruhe meine Zigarette und schlendere dann gemütlich durch die Fußgängerzone, bis es Zeit ist, nach Hause zu fahren. Auf dem Gehsteig vor meiner Wohnung am Eselsberg steht ein dunkelblauer Honda so knapp geparkt, daß ich zurücksetzen muß, um in die Einfahrt zu kommen. Ich unterdrücke einen Fluch. Als ich die Garagentüre zudrükke, öffnet sich die Haustüre und Lori kommt mit ganz untypisch flüsternder Stimme auf mich zugestürmt. „Nel, endlich! Eine Frau wartet seit Stunden auf dich!“ „Eine Frau? Was für eine Frau?“ Mein Bedarf an Komplikationen ist gedeckt. „Was weiß ich? Vielleicht ist sie eine Patientin von dir.“ „Klientin.“ korrigiere ich automatisch. „Lori, weißt du, wie sie heißt?“ „Seibt.“ sagt Loretta lakonisch und ahnt nicht, welchen Sturm sie mit diesem Namen in mir entfesselt. Ich bin schneller an der Tür als sie und eile ins Wohnzimmer. „Sie ist auf der Terrasse!“ ruft Lori mir nach und verzieht sich in die Küche. Ich nehme mir kaum Zeit, Knut zu begrüßen, der im Wohnzimmer sitzt und Zeitung liest. Er nimmt die Pfeife aus dem Mund und deutet zur Terrassentür. Ich wappne mich und trete nach draußen. Eine schlanke, große Gestalt erhebt sich, eine nicht unbekannte dunkle Stimme sagt: „Frau Dr. Sander? Ich bin Agnes Seibt. Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen.“ Schwester Agnes, die Besitzerin des blauen Honda. Durch die Schwesterntracht kam mir zwar das Gesicht von Schwester Agnes bekannt vor, doch erst jetzt bringe ich beide Bilder zusammen. Ich ergreife ihre Hand. Der Händedruck ist warm und kräftig. „Sie sind die erste Frau von Sebastian Seibt und parken ziemlich abenteuerlich.“ Sie lächelt leicht über diesen verkürzten Gedankengang, wird schnell wieder ernst und klammert sich an ihre Handtasche. „Ich muß mich für den Überfall entschuldigen und hoffe, es Ihnen ausreichend erklären zu können. Ich war sehr erschrocken, als ich Sie auf der Station wiedersah. Haben Sie etwas Zeit?“ Ich lächle sie an. Sie ist mir sympathisch. „Selbstverständlich.“ sage ich, angle nach einem Stuhl und strecke die Beine von mir. Die Herumlauferei hat mich müde gemacht. Ich bin neugierig, was die erste Frau Seibt mir zu sagen hat, doch ich spüre keine Gefahr von ihr ausgehen. Agnes Seibt läßt sich mir gegenüber nieder und öffnet ihre Tasche. Sie holt Zigaretten und Feuerzeug heraus. Nach einem tiefen Zug beginnt sie zu sprechen. Ruhig und chronologisch erzählt sie, wie sie Pauline kennen gelernt hat und was sie ihr in den drei Nächten im Krankenhaus erzählt hat. „Ich kenne Sebastian, ich war fast drei Jahre mit ihm verheiratet. Er ist ein sehr introvertierter Mann mit praktisch null gefühlsmäßiger, zwischenmenschlicher Beziehungsfähigkeit. Er ist pingelig, abstoßend ordnungsliebend und geht Vergnügungen aus dem Weg als wären sie des Teufels. Aber er ist kein Schläger. Bestimmt nicht. Pauline erzählte von jahrelangen Mißhandlungen. Das konnte nicht Sebastian sein. Nie im Leben.“ 75
Ich nicke zustimmend. „Diesen Schluß habe ich auch bereits gestern gezogen, als ich mit Herrn Seibt gesprochen habe. Warum haben Sie sein Haus beobachtet?“ „Ich hatte so ein ungutes Gefühl. Na ja, es klingt ziemlich melodramatisch, aber... ich hatte Angst, habe sie immer noch. Das Haus zu beobachten schien die beste Gelegenheit, mit Pauline wieder Kontakt aufzunehmen. Vielleicht auch wegen Sebastian. Wenn sie mir solche schrecklichen Dinge erzählt, die nie und nimmer stimmen können, was kann sie dann Sebastian antun? Pauline hat etwas an sich, das Unheil anzieht. Von ihr geht etwas Gefährliches, Tödliches aus.“ Ihre Stimme verebbt. Da spricht jemand das aus, was ich seit Tagen empfinde. „Sie haben Ihren Exmann immer noch gern. Warum haben Sie ihn verlassen?“ „Ach Gott“ sie schluckt, „ich war noch so jung. Sebastian hätte jemanden gebraucht, der erwachsen war, gefestigter, reifer. Aber so... ich empfand ihn als Langweiler und habe mich dem Nächstbesten an den Hals geworfen. Ich schäme mich heute noch dafür.“ „Deswegen wollen Sie mit Ihrem Exmann auch nicht sprechen.“ Sie nickt und drückt ihre Zigarette aus. „Irgend etwas braut sich zusammen, ich irre mich selten. Ich dachte, Sebastians Therapeutin soll wissen, was seine Frau über ihn erzählt. Ich war so froh, als ich von Frau Dr.Birkle hörte, daß er bei Ihnen ist. Sebastian braucht dringend eine Therapie, hätte sie schon vor zwanzig Jahre gebraucht.“ Frau Dr.Birkle ist also nicht jedem gegenüber so zugeknöpft. Agnes Seibt kramt eine neue Zigarette heraus. Offenbar ist sie ihr Anliegen noch nicht los geworden. Unschlüssig dreht sie das Feuerzeug hin und her, klopft mit der Zigarettenspitze auf den Tisch und rückt den Aschenbecher zurecht. „Sie haben noch etwas auf dem Herzen. Kann ich Ihnen dabei irgendwie helfen?“ Dankbar sieht sie mich an. „Es ist... etwas passiert, das mein Gefühl, Sebastian sei in Gefahr, verstärkt hat. Ich hoffe, Sie können sich die Zusammenhänge erklären. Heute gegen halb sechs Uhr früh rief mich Pauline an. Sie klang sehr verwirrt, sprach flüsternd, als hätte sie Angst, daß sie jemand hört, und war völlig außer sich.“ „Können Sie sich erinnern, was sie sagte?“ Die Ungeduld überfällt mich wieder. „Sie sagte, sie hätte sich nicht bei mir melden können, da er sie eingesperrt habe. Im Augenblick sei er im Bad, daher könne sie reden. Ich müsse ihr helfen. Niemand sonst sei noch da. Alle hätten sie im Stich gelassen, und alle würden dafür büßen müssen. Sie werde sich fürchterlich rächen, denn nun sei sie endlich bereit zurückzuschlagen.“ „Hat sie irgend welche Namen genannt?“ „Ich habe sie gefragt, wen sie mit ‚er‘ meine. Sie hat nur geheimnisvoll getan und von 'allen' gesprochen. Einmal sagte sie, 'er läßt mich nicht zu meinem Sohn' und als ich fragte, wo ihr Sohn sei, hat sie aufgelegt. Nichts Konkretes, alles war diffus. Ich dachte schon, ob sie unter Valium steht wegen ihrer nuschelnden Sprechweise.“ Der Gedanke ist nebelhaft, die Konturen unscharf, doch das Muster ist zum Greifen nah. Schwester Agnes verabschiedet sich, gibt mir ihre Adresse und ersucht mich, ihrem Seba76
stian nichts von unserem Gespräch zu erzählen. Ich versichere ihr, daß das selbstverständlich sei. Auf der Terrasse ist es ruhig, Lori und Knut sind nicht zu sehen. Gedankenvoll stecke ich Agnes Adresse ein, als mir ein Blatt in die Hände fällt. Ich falte es auf und sehe, daß es Chris Liste ist, die er an dem Abend in Stuttgart vollgekritzelt hat. Ich verfolge ohne wirklich dabei zu sein die Linien und Pfeile, Querverbindungen und Anmerkungen, als mir plötzlich die Worte 'erste Frau' ins Gesicht springen. In dieser Sekunde bricht die Erkenntnis über mich herein wie eine Sturzflut. Das bogenschießende Kind und die vom Pfeil durchbohrte Katze aufgespießt an der Schlafzimmertür. Wie von der Tarantel gestochen springe ich hoch und eile durchs Wohnzimmer. Von irgendwo höre ich Loris verdutzten Ruf „Nel!“ und brülle zurück: „Keine Zeit, melde mich!“ Ich muß dringend Stillmann anrufen und ich muß schnellstens zur Polizei. Bei Stillmann meldet sich niemand. Die angewendete Methode bei Suizidhandlungen richtet sich in der Regel nach kulturellen Elementen und nach der Verfügbarkeit der Mittel. Die Art des Vorgehens kann auch die Ernsthaftigkeit der Suizidabsicht widerspiegeln, da einige Verfahren (wie das Herunterspringen aus großer Höhe) ein Überleben praktisch ausschließen, wogegen andere (z.B. Einnahme von Medikamenten) die Chance einer Rettung beinhalten. Freilich bedeutet die Wahl einer Methode, die sich als nicht tödlich erweist, nicht notwendigerweise, daß die Suizidabsicht weniger ernsthaft ist. Seitdem ich vor einem Jahr versucht hatte, Sabine Kroeger vor der Polizei zu verstecken, hatte ich Kriminalhauptkommissar Cramer nur mehr sporadisch gesehen und um ehrlich zu sein, hatte ich auch kein gesteigertes Bedürfnis nach seinem Anblick. Er irritiert mich. Cramer ist ein großer, breitschultriger Mann mit einer sanften Stimme und scharfen Augen, denen nichts entgeht. Trotz meiner weißen Weste und den bereits etwa fünf Kontakten, an denen ich ihm gegenüber gesessen bin, spüre ich auch heute wieder eine leise Unruhe. Ich erzähle Cramer die Geschichte von Anfang an, wie ich sie auch Chris berichtet habe. „Der Vater dieser Frau war Spanier, ich denke mir, wir sollten einen südländischen Typ als ihren Liebhaber annehmen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß Linnie diesem Muster folgt. Sie muß dringend gefunden werden.“ Cramer lächelt kaum merklich. „Vielleicht sehen Sie einmal bei sich Zuhause nach?“ „Touché! Wollen Sie weiterhin auf dieser Uraltgeschichte herumreiten oder entschließen Sie sich, mir zu helfen?“ Cramer nimmt seinen Kuli und schiebt ihn auf der Schreibtischplatte hin und her. Das tröstet mich, ist es doch ein Zeichen, daß er ernsthaft über das Gehörte nachdenkt. Ihn nun zu drängen, hätte keinen Sinn, also schweige ich. Endlich steckt er den Kugelschreiber ein und sieht mich an. „Ich sehe die Sache folgendermaßen. Wenn diese Person vermißt ist, muß entweder der Ehemann oder der Bruder eine Anzeige aufgeben. Dann können wir sie suchen. Es ist Ihnen doch klar, Donatella, daß vorher keine polizeiliche Aktion möglich 77
ist. Also drückt der Schuh woanders.“ Er hat mich zum ersten Mal bei meinem Vornamen genannt und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll. „Ich bin nur deswegen ein gesetzestreuer Staatsbürger,“ versichere ich mit Nachdruck, „weil ich unter allen Umständen vermeiden will, daß Sie mich verhören. Der Schuh drückt dort, wo konkrete Angaben fehlen und mein Gefühl ins Spiel kommt. Meine Intuition sagt mir, irgend etwas wird passieren. Linnie kontaktiert Menschen, die ihr nahestehen und von denen sie nichts zu befürchten hat. Warum? Weil sie Angst um ihr Leben hat. Wer gefährdet ihr Leben? Nicht ihr Bruder, der war bis vor kurzem in den USA, und nicht ihr Ehemann, der hat seit Jahren ihre Eskapaden mit Geduld ertragen.“ „Er könnte die Geduld verlieren.“ „Stimmt. Doch glaube ich nicht daran. Er war mir gegenüber freimütig und offen, ohne seine Hinweise wüßte ich immer noch nicht, wer Linnie ist. Es gibt keinen vernünftigen Grund, mir das zu erzählen, wenn man eine Leiche im Keller hat.“ „Manchmal ist Offenheit die schnellste Methode, jemanden los zu werden und sein Mißtrauen einzuschläfern. Ich nehme nicht an, daß Sie Seibts Haus durchsucht oder sich auch nur die Kellertreppe angesehen haben.“ Ob er mich veräppeln will? Doch Cramer fehlt dazu der nötige Spieltrieb. Da er noch nicht so richtig einsteigen will, ist es Zeit, meinen letzten Trumpf auszuspielen und ich erzähle ihm von Agnes und Paulines Anruf. „Wahrscheinlich war es der Hinweis mit dem Sohn, der mich auf die richtige Spur gebracht hat. Pauline ist Lothar Stillmanns erste Frau und der Sohn, der jetzt bei Lothar lebt, ist Paulines Sohn.“ Cramer ist weit weniger beeindruckt, als ich möchte. „Das ist eine Vermutung von Ihnen?“ „Das ist eine Vermutung von mir, aber eine verdammt gute, wenn Sie mich fragen.“ Das Telefon schrillt. Hauptkommissar Cramer hebt mit einer entschuldigenden Geste ab. Ich beschäftige mich mit dem Puzzlespiel in dieser verflixten Geschichte. Stillmann denkt an seine erste Frau Polly mit Schaudern und Entsetzen, Klara Moffat hält heute noch große Stücke auf ihre Schwägerin, Agnes hat Pauline als tödliche Bedrohung empfunden und Sebastian Seibt tat Paula leid. Zur gleichen Zeit dringen einige Worte des noch immer telefonierenden Kommissars in mein Bewußtsein. „Kennt ihr die Tatwaffe? ...ein Pfeil... ungewöhnlich, ja... gut, ich komme sofort.“ Er legt auf. „Donatella, ich muß unsere Unterhaltung beenden... Ja, was ist los? Ist Ihnen nicht gut?“ Ich muß ihn angesehen haben wie vom Donner gerührt. Cramer greift wieder nach dem Hörer, „Brauchen Sie einen Arzt?“, doch ich winke ab und finde endlich Worte. „Linnie hat Seibt mit einem Pfeil umgebracht.“ keuche ich. Stirnrunzelnd fixiert mich der Kriminalhauptkommissar und überlegt wahrscheinlich, ob er mich in die Arrestzelle stecken soll, ehe ich total durchknalle. Ich achte nicht auf Cramer, habe nur einen Gedanken, ich muß zu Seibts Haus. Ich schlüpfe in meine Jacke und eile zur Tür. 78
Die Worte des Kriminalhauptkommissars verfolgen mich. „Ein Mann wurde durch den Pfeil eines Bogenschützen in den Hals tödlich getroffen. Er war innerhalb weniger Minuten verblutet. Vom Schützen fehlt jede Spur.“ Ja, ja, das konnte ich mir selbst zusammenreimen. Warum sagt er nicht endlich, daß Seibt tot ist? Ich bin bereits an der Tür, als Dirk wieder zu sprechen anfängt. „Es ist“ sagt er leise, „der andere Ihrer Verdächtigen, Donatella. Lothar Stillmann ist tot.“ Einnahme von Medikamenten ist die häufigste Art, Suizid zu versuchen. Barbiturate werden nicht mehr so häufig verwendet, während Psychopharmaka im Vormarsch sind. Zwei oder mehrere kombinierte Methoden sowie die Kombination von Medikamenten kommen bei etwa einem Viertel der Selbstmordversuche vor. In diesen Fällen ist die Wahrscheinlichkeit eines fatalen Ausgangs erhöht, insbesondere, wenn Substanzen mit schweren Nebenwirkungen miteinander kombiniert werden. Ohne Hauptkommissar Cramers offizielle Erlaubnis setze ich mich hinten in seinen Polizeiwagen und er tut, als hätte er mich nicht gesehen. Ein Vertrauensbeweis, den ich zu schätzen weiß. Wir rasen zu Stillmanns Haus. Der Tatort befindet sich im Garten neben der Trauerweide und ist hermetisch abgeriegelt, doch das Haus ist leer und die Eingangstüre offen. Mit Schmerz und Trauer im Herzen wandere ich durch die Räume, in denen ich vor zwei Tagen gewesen war. Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, die Küche sauber, im Arbeitszimmer ist die Luft immer noch muffig und abgestanden. In der Ecke des Gartens wiegt sich die Trauerweide im Wind. An ihren Stamm ist ein rotweißes Band geknüpft, das sich quer durch den Garten zieht. Menschen in Uniformen laufen hin und her. Ein hellgrauer Sarg wird gerade weggetragen. Ich wende mich ab. Ziellos greife ich nach dem aufgeschlagenen Buch, das vor dem Computer liegt, ohne wirklich aufzunehmen, was ich sehe. Ich ziehe die oberste Schublade des Schreibtisches auf, sie ist bis oben vollgestopft mit Schreibmaterial. In der nächsten Lade befinden sich Schaltpläne und eine Schachtel halbvertrockneter Kekse. Im dritten Schubfach liegen Schriftstücke wild durcheinander. Ich ziehe ein Foto heraus und es fällt mir beinahe aus der Hand. Es ist die Frau von heute morgen im Café, die so ungeduldig war. Klara Moffat hatte recht, Pauline sieht heute noch keinen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Schritte im Hausgang. Hastig stopfe ich das Foto in meine Tasche und laufe zur Tür. Vorsichtig spähe ich hinaus. Ein Polizist in Uniform verschwindet gerade im Wohnzimmer, die Spurensuche wird im Haus fortgesetzt. So leise ich kann eile ich zum Ausgang und erreiche meinen Wagen, ohne daß ich Cramer oder seinen Mannen in die Arme gelaufen bin. Meine Hand zittert, als ich den Schlüssel in das Schloß stecke und ich habe Schwierigkeiten, mein Auto zu starten. Doch endlich schieße ich aus der Parklücke. Nur weg, so schnell es geht. Die wirbelnden Gedanken einfangen, den nächsten Schritt festlegen. Irgendwo hallt es in meinem Hinterkopf: du hast Beweismaterial unterschlagen. Ich verteidige mich zaghaft, es sei eine reine Instinkthandlung gewesen, doch das Gericht erklärt mich für schuldig. Ich schütze andere, dringlichere Dinge vor, denen ich meine volle Aufmerksamkeit zu widmen habe, zum Beispiel der Straßenverkehr oder die augenblickliche 79
Lage und erkläre dem Gericht, ich würde mich zu gegebener Zeit mit der Urteilsfällung befassen. Linnie hat Stillmann getötet! 'Sie war mit vierzehn eine perfekte Bogenschützin'. Budins Worte kreisen in meinem Kopf. Klara Moffats schrille Stimme meldet sich zu Wort. 'Meine Schwägerin – ich nenne Polly immer noch so – ist eine wunderbare Frau gewesen. So freundlich und sanft.' Was sagte Frau Moffat bei unserem ersten Treffen? 'Es hat alles damit begonnen, daß seine erste Frau wieder aus der Versenkung aufgetaucht ist.' Was wollte Linnie von ihrem Exmann? War Stillmanns psychischer Einbruch die Folge von Linnies Kontaktaufnahme? Hat sie ihn erpreßt? Oder hat sie ihn um Hilfe gebeten? Hilfe vor ihrem sadistischen Liebhaber? Ich muß vom Gas, um vor einer Ampel stehen zu bleiben, doch meine Gedanken rasen unvermindert weiter. Stillmann hatte Linnie den Zugang zu ihrem Sohn verwehrt, mußte er deswegen sterben? Doch das stimmte nicht. Lothar hat mir gesagt, er hätte nichts dagegen gehabt, doch sein Sohn habe sich geweigert, die Mutter zu sehen. Ein Glück, daß der Junge in der Schule in Stuttgart ist. Jahrzehntelange Unterdrückung hatte die Fassade zerbrochen und Linnie rächt sich an den Männern, mit denen sie zusammen war. Sie sieht sich die Welt so, wie sie sie gerne hätte. Agnes sagte, sie habe sich angehört wie jemand, der unter Tranquilizern steht. Möglicherweise ist sie abhängig und bereits persönlichkeitsverändert. Und sie ist immer noch gefährlich! Mein Gott, Seibt – ihr zweiter Mann! Ich sehne das Umspringen der Ampel herbei, gebe bei gelb Gas und schieße auf den Autobahnzubringer. Mit überhöhter Geschwindigkeit lege ich die Strecke zu Seibts Haus in zwölf Minuten zurück. Fast glaube ich nicht, was ich sehe. Alles ist, wie ich es in Erinnerung habe, ruhig, niemand zu sehen. Das Gittertor ist offen und die Rollos sind hochgezogen. Ich lasse den Wagen vor der Einfahrt stehen und springe die wenigen Stufen zur Haustüre hinauf. Ungeduldig drücke ich auf die Klingel. Niemand rührt sich. Ich nehme den Finger nicht von der Taste, das grelle Schrillen hallt nervtötend in meinen Ohren. Plötzlich öffnet sich die Tür und erschrocken fahre ich einen Schritt zurück. Eine schlanke Frau mit schwarzen Locken und dunklen Augen steht mir gegenüber. „Guten Tag, Frau Seibt. Ich bin Nel Sander. Kann ich einige Minuten mit Ihnen sprechen?“ Linnie sieht mich schweigend an. „Kommen Sie.“ wispert sie plötzlich, „kommen Sie herein. Ich habe Sie erwartet.“ Damit dreht sie sich um und verschwindet im Dunkel des Hauses. Die Türe schwingt langsam wieder zu. Ich bin so perplex, daß ich zu keiner Bewegung fähig bin. Wie angewurzelt starre ich ihr nach, bis die Türe beinahe ins Schloß gefallen ist. Ich drücke sie wieder auf und betrete das Haus. Linnie steht am Ende des Ganges, ich kann sie nur schattenhaft ausmachen, und winkt heftig mit dem rechten Arm. „Kommen Sie, ich muß Ihnen etwas zeigen.“ Wieder dreht sie sich um und geht voraus. Ich folge ihr, unsicher, was das Ganze soll. Ich denke an das Flackern in ihren Augen, als sie mich sah, und bin sicher, daß ich das Falsche tue. Doch ich kann nicht zurück. Wenn Seibt hinter dieser Tür, auf die Linnie so zielsicher zusteuert, verletzt am Boden liegt, will ich ihn nicht aus Feigheit verbluten lassen. Ich 80
passiere das Wohnzimmer und werfe einen raschen Blick hinein. Es ist leer. Linnies stetes Flüstern zieht mich weiter. „Kommen Sie, kommen Sie hierher.“ Endlich sind wir an der Tür am Ende des Ganges angekommen. Mit heiterem Lächeln, in dem der Wahnsinn durchschimmert, öffnet Linnie die Tür und zeigt hinein. „Er ist da drin. Er wartet auf Sie.“ Sie tritt zur Seite. Der Raum ist in die in diesem Haus vorherrschende Düsternis gehüllt. Alles in mir sträubt sich, trotzdem mache ich einen Schritt. In diesem Augenblick spüre ich einen harten Stoß im Rücken, der mich vorwärts treibt. Ich verliere das Gleichgewicht und lande auf Händen und Knien, während meine Tasche in hohem Bogen davonfliegt und ein harter Gegenstand auf den Boden klappert. In die nachfolgende Stille tropfen Linnies Worte wie flüssiges Blei in meinen Rücken: „Sie haben mich verfolgt.“ Dann klappt die Türe zu, ein Schlüssel dreht sich knirschend und totale Finsternis umgibt mich. Mein linkes Knie schmerzt, als ich mich ächzend aufrichte. Mit den Händen taste ich um mich und finde den Türrahmen und nach wenigen Sekunden den Lichtschalter. Erleichtert drücke ich, weiches Licht umflutet mich und blinzelnd sehe ich mich um. Es nimmt mir den Atem. Der kleine Raum ist eine Puppenstube, bunte Mobile hängen an den Wänden, die Tapete ist mit kleinen, braunen Teddybären übersät. Das Bett bedeckt eine rosarote Rüschendecke. Überall sind Barbie-Puppen, sie stehen auf den Regalen, sitzen auf dem Tisch, dem Bett, den kleinen Korbsesseln, selbst auf dem Boden an der Wand sind sie aufgereiht. Barbies von jeder Sorte blicken mich mit dem seelenlosen Lächeln auf den leeren Synthetikgesichtern der Fließbandschönheit an. Ich bin erstarrt, unfähig zu einer Bewegung, alles ignorierend, meine Lage, die Gefahr, in der mein Klient schwebt. Ich versuche zu begreifen, welches kranke Gehirn ein solches Szenario aufbauen kann. Endlich gehorchen mir meine Gliedmaßen wieder. Vor mir liegt meine Tasche. Ich hebe sie auf und wühle nach meinem Handy. Es ist nicht mehr da. Bestürzt erinnere ich mich, daß ich einen harten Gegenstand auf den Boden prallen hörte. In rasender Eile suche ich das Zimmer ab, jederzeit darauf gefaßt, die Einzelteile des Telefons zu finden. Doch ich finde nichts. Ich setze mich auf den Boden, lehne mich an die Wand und atme einige Male tief durch. Der Reihe nach, sage ich mir. Warum ist es hier so dunkel gewesen? Das Fenster. Ich springe auf. Das Rollo ist heruntergelassen, die Schnur abgeschnitten. Da ist nichts zu machen. Die Türe. Ich rüttle an der Klinke ohne jede Hoffnung, daß Linnie einen so kapitalen Fehler machen würde. Sie ist abgeschlossen. Systematisch beginne ich noch einmal mit der Suche nach meinem Telefon. Ich fege die Puppen zur Seite, daß sie wild durcheinander purzeln. Unter dem Tisch finde ich das Stück einer dunkelblauen Plastikhülle, nicht weit weg die übrigen Reste. Das Handy ist zerbrochen, einige Drähte hängen herum. Ohne jede Hoffnung drücke ich auf die Tasten, doch da das Mikrofon fehlt, ist auch eine eventuelle Verbindung von rein akademischer Bedeutung. Ich lausche nach draußen. Tödliche Stille, kein einziger Laut. Wo ist sie? Ich setze mich aufs Bett und überlege, während ich mit einer gewissen Genugtuung das Puppenzimmer mit Zigarettenrauch fülle. 'Sie haben mich verfolgt' sagte Linnie, was meinte sie damit? Hat sie die Begegnung im Café am Münsterplatz paranoid verarbeitet? Es war zehn Uhr und sie ist danach... zehn Uhr! Natürlich! Budin hatte zehn Uhr abends 81
angenommen, ein üblicher Zeitpunkt für ein Treffen – in den USA ist die Zeitangabe zweiundzwanzig Uhr nicht gebräuchlich und ich hatte nicht daran gedacht. Linnie wartete täglich um zehn Uhr vormittag auf ihren Bruder, während dieser am Abend im Café saß. Sie muß in einen immer größer werdenden Spannungszustand geraten sein. Und da sieht sie mich im Café und sechs Stunden später an ihrer Haustüre. Der Gedanke, verfolgt worden zu sein, ist nicht allzu abwegig. Konsequent schaltet sie mich aus. Sie verfolgt zielstrebig ihr Ziel, denn nun ist sie bereit zurück zu schlagen, wie sie Agnes sagte. Doch wer ist ihr nächstes Ziel? Wo ist Seibt? Hatte sie ihn bereits umgebracht? Oder wartet sie auf sein Erscheinen und hat mich deswegen aus dem Weg geräumt? Theoretische Fragen führen zu nichts. Es scheint dringend erforderlich, Überlegungen anzustellen, hier wieder herauszukommen. Was tut Linnie, wo ist sie? Sie hat sich nicht durch das Auftauchen einer fremden Frau aus dem Konzept bringen lassen, doch sie wird sicher sein wollen, daß ich ihr nicht in die Quere komme. Also wird sie noch eine Weile abwarten, was ich unternehme. Vermutlich steht sie hinter der Tür und lauscht. Ich lege mein Ohr an die Türfüllung. Höre ich leise Atemzüge von der anderen Seite? Der Versuch ist risikolos. „Pauline? Hören Sie mich? Pauline, antworten Sie!“ Die Atemzüge sind nun deutlich zu vernehmen. Es klingt wie schnelles Hecheln. Ich spreche ruhig, aber bestimmt, mache kurze Pausen, um ihr Gelegenheit zu einer Reaktion zu geben, doch bis auf die hektischen Atemzüge bleibt es still auf der anderen Seite der Tür. Ich muß irgend etwas finden, was sie überrascht und aus der Reserve lockt. „Pauline, ich habe Ihren Bruder Magnus getroffen.“ Ein schwacher Aufschrei. „Das ist nicht wahr!“ „Er hat mich besucht und nach Ihnen gefragt.“ „Wo ist er? Er hat mich im Stich gelassen. Sie lügen.“ „Nein, Pauline, ich lüge nicht. Ich kenne Ihren Bruder. Öffnen Sie die Tür und ich werde es Ihnen beweisen.“ Ein ersticktes Schluchzen. „Magnus hat mich auch verlassen. Alle sind fortgegangen. Ich will zu Magnus. Bitte!“ Nun weint sie. Diese Entwicklung ist günstig, Tränen lösen Starre auf und machen dadurch Bewegung möglich. Ohne sie zu drängen, versuche ich, sie zum Öffnen zu bewegen. Endlich höre ich, wie sie den Schlüssel ins Schloß schiebt. Vor Aufregung wage ich nicht zu atmen. Ich nehme die Klinke in die Hand, um beim Drehen des Schlüssels die Türe sofort aufreißen zu können. In dieser Sekunde klingelt es. Das Scharren des Schlüssels hört auf, scharf zieht Linnie den Atem ein. Schritte, die sich entfernen, hallen im dem stillen Haus nach. Wütend schlage ich gegen das Holz, hämmere dagegen und brülle aus Leibeskräften: „Pauline, machen Sie auf!“ Ich höre einen verwunderten Ausruf aus der Richtung der Haustür, dann Linnies Murmeln und dann schlägt die Tür ins Schloß. Enttäuscht lasse ich die Fäuste sinken. Draußen ist es totenstill. Ich muß da raus! Das Fenster! Mit einem Schwung fege ich die Puppen vom Fensterbrett und reiße die Flügel auf. Ich drücke mit aller Kraft gegen das Rollo, doch es rührt sich um keinen Millimeter. Die Schnur! Sie ist zwar abgeschnitten, aber wenn ich das kurze Ende erreichen könnte... Ich klettere auf das 82
Fensterbrett und steige mit dem linken Fuß auf das Regal, wobei ich einer Puppe in den Bauch trete. Mit den Fingerspitzen gelingt es mir, das Stück Kordel in den Griff zu bekommen und heftig zerre ich daran. Der Rolladen läßt sich mühelos aufziehen. Ich sehe hinaus, das Fenster geht in den rückwärtigen Garten hinaus, der wild verwuchert ist. Ein kleiner Rasenstreifen befindet sich eineinhalb Meter unter mir. Ein Schrei vor meiner Tür läßt mich herumfahren. Irgend jemand rüttelt an der Tür, ruft meinen Namen. Der Schlüssel scharrt. „Frau Dr. Sander! Es war doch Ihre Stimme, die ich gehört habe. Sind Sie hier drin?“ Es ist die Stimme von Agnes. Ich springe von der Fensterbank und renne zur Tür. „Agnes! Um Gottes willen, raus mit Ihnen! Laufen Sie, so schnell sie können, auf die...“ Ein helles Sirren ertönt. Ein Schrei in Todesangst. Ein Krachen und Splittern von Holz. Ich stoppe abrupt, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Zehn Zentimeter von meinem linken Auge entfernt starrt mir eine Speerspitze entgegen. Mein Schrei zerreißt die Stille. „Agnes!!!“ Ich rüttle an der Schnalle und die Tür läßt sich öffnen. Doch sie ist unerwartet sperrig, als befinde sich hinter ihr ein schwerer Gegenstand. Ich erstarre bei dem Gedanken, der sich mir aufdrängt. Die Katze an die Schlafzimmertür mit einem Pfeil festgenagelt. Oh mein Gott, Agnes...
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EPILOG „Was hast du dann gemacht?“ Chris Stimme klingt entsetzt, während er die Fahrbahn vor sich beobachtet. Es ist Mittwoch mittag und wir sind auf dem Weg von Stuttgart nach Ulm. Obwohl die Geschichte in der Zwischenzeit durch sämtliche Zeitungen in Oberschwaben bekannt geworden ist, wollte Chris eine detailgetreue Schilderung von mir. „Ich werde dieses Bild nie vergessen, Chris. Aber die menschliche Psyche reagiert auf Extremsituationen zielorientiert. Zumindest meine tut das. Ich habe immer in Gefahrensituationen wie ein Automat reagiert. Die Reaktion kommt Tage später. Ich tat, was getan werden mußte. Gottseidank bestätigte der Notarzt, daß Agnes sofort tot war. Der Pfeil war aus kurzer Distanz abgeschossen und hatte eine enorme Durchschlagskraft. Agnes verblutete innerhalb weniger Minuten. Linnie war entweder wirklich eine meisterhafte Bogenschützin oder es war purer Zufall.“ Ich verstumme, weil mir die Erinnerung die Kehle zuschnürt. Chris Rückkehr in sein Arbeitsleben hätte ich mir unter glücklicheren Umständen gewünscht. Chris seufzt und schaltet zurück, um an einem gelben Taxi vorbeizuziehen. „Diese Kriminalkommissar hat dir wahrscheinlich die Hölle heiß gemacht.“ Cramer war sehr zurückhaltend.“ Meine Stimme klingt belegt und ich räuspere mich. „Er hat mich aus der Schußlinie gehalten und mich vor der Presse geschützt. Doch ich werde noch eine Erklärung unterschreiben müssen.“ Ich sage ihm nicht, daß ein karrieresüchtiger Staatsanwalt sich an meine Fersen geheftet hat, um meine Beteiligung an dieser Tragödie genauestens unter die Lupe zu nehmen. „Wie geht es deinem Klienten?“ Sebastian Seibt hat Montag früh ordnungsgemäß seinen Dienst als Oberarzt im Krankenhaus Laupheim angetreten, schmaler und ernster als sonst, und sicher unter einer gerüttelten Dosis Valium. Keine besonders erfolgreiche Therapie, so gesehen. „Den Umständen entsprechend.“ sage ich. Wieder schweigen wir. „Klara Moffat ist die einzige Gewinnerin in dieser schrecklichen Geschichte. Sie erbt das gesamte Vermögen ihres Bruders.“ „Gibt es nicht noch Stillmanns Sohn?“ fragt Chris. „Benno? Ja, doch er ist nicht erbberechtigt. Linnie war von einem anderen Mann schwanger, als sie Stillmann heiratete.“ „Eine Annahme von dir?“ „Sozusagen.“ „Es gibt niemanden mehr, der deine These stützen könnte.“ „Klara Moffat wird auf einem Gentest bestehen, da lege ich meine Hand ins Feuer, und wenn sie ihren Bruder ausgraben läßt.“ 84
Chris blinkt einen grauen Audi an, der von der rechten Spur ohne Zeichen auf die Überholspur wechselt und ihn zum Bremsen zwingt. „Budin ist abgereist?“ fragt er nach einer Weile. „Am Dienstag flog er zurück in die Staaten, doch er wird Anfang Juni wiederkommen. Er hat eine beträchtliche Summe in Form eines Schecks in unserer Praxis hinterlassen. Es ist Geld, an dem Blut klebt. Ich habe es ihm nachschicken lassen.“ Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzen sagte Chris: „Gut!“ Magnus C. Budins Bild taucht vor mir auf. Ich gebe zu, daß ich mich gedrückt habe, ihn ein letztes Mal zu sehen. Ich habe Marlies angewiesen, ihm mitzuteilen, ich wäre für einige Tage verreist. Ebenso wie er hätte ich Trost gebraucht, beide mußten wir ihn woanders finden. „Wie hast du Linnie gefunden?“ „Es war eine vage Idee, die Cramer sofort aufgegriffen hat. Zuerst hatte ich ja angenommen, daß Linnie zu Seibt fährt, der sich wieder einmal in tiefer Dienstbeflissenheit im Krankenhaus aufhielt. Offenbar geht es seiner Meinung nach nicht vier Tage ohne ihn. Niemand weiß, ob Linnie ihn suchte oder sofort nach der Ermordung von Agnes zum Haus ihres Liebhabers fuhr...“ „Warum hat sie Agnes denn töten müssen?“ unterbricht mich Chris. „Linnie befand sich in einem Ausnahmezustand. Agnes hat versucht, mich zu befreien, sie hat mich schreien gehört. In diesem Moment muß eine Sicherung bei Linnie durchgebrannt sein. Sie war nicht mehr in der Lage, einen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Vermutlich hatte Agnes recht damit, daß Linnie Diazepam-abhängig war, ein weiterer Grund für ihren Realitätsverlust.“ Chris schaltet herunter, wir nähern uns der Abfahrt Ulm-West. Er sieht mich nicht an, doch ich weiß, ein Faden ist noch lose. Ich spreche nun schnell, ich will es möglichst rasch hinter mich bringen. „Als Agnes bei mir war, hat sie mir erzählt, was sie in den Nächten von Linnie hörte. Dabei hat sie mir auch von dem Traum erzählt, den Linnie jede Nacht träumte, ein Traum, in dem eine Bahre umgeben von vielen Kerzen in einem dunklen Raum stand. Eine weißgekleidete Frau liegt darauf. Als ich dieses bizarre Puppenzimmer sah, kam mir dieser Traum wieder in den Sinn, doch ich hatte den Eindruck, ich hätte ihn von Lori gehört. Erst nach und nach konnte ich die Fäden entwirren. Lori berichtete mir von einer Arbeitskollegin ihrer Schwester, die neben dem Spanier Benito wohnt, der kiloweise abgebrannte Kerzenhüllen in die Mülltonne wirft. Dann fiel mir ein, daß Linnies Sohn Benno hieß. Diese Ähnlichkeit, das spanische Aussehen Benitos und die Tatsache, daß ich ihn selbst auf der Geburtstagsfeier von Knut kennen gelernt hatte und er unverhältnismäßig aggressiv gegen mich wurde, ließ mich zu dem Schluß kommen, daß hier eine Verbindung bestehen könnte. Ich hatte immer den Eindruck, Benito verhielt sich mir gegenüber, als kenne er mich von irgendwo her. Wahrscheinlich hat Seibt seiner Frau von mir erzählt und die hat es ihrem Liebhaber berichtet. Natürlich hatte Benito große Sorge, ich könnte zwei und zwei zusammenzählen und ihn als Liebhaber der Frau meines Klienten identifizieren. Noch dazu, wo Lori eine Bemerkung machte, daß er Probleme mit sei85
ner Freundin hat, die verheiratet ist. Doch meine Kombinationsgabe war schlußendlich nur mehr von theoretischer Bedeutung, denn Cramer hatte von sich aus den Notarzteinsatz überprüft und damit die Adresse Benitos herausgefunden.“ Chris biegt auf die Straße Richtung Bahnhof ein. Er will zuerst in die Praxis, ich verstehe das. „Ein Glück,“ knurrt er, „daß Cramer dich nicht allein zu dieser Adresse fahren ließ.“ „Da wäre nicht viel passiert, denn zu diesem Zeitpunkt war bereits alles vorbei.“ Ich schließe die Augen, sofort steht das Bild des dunklen Raumes im Keller vor mir. Die Bahre mit der weiß gekleideten Gestalt darauf hebt sich scharf vor dem dunklen Hintergrund ab, der Schein unzähliger Kerzen wirft mäandernde Schatten und verleiht der Gestalt täuschende Lebendigkeit. „Linnie hatte die falsche Vorstellung vieler Menschen, daß man mit Tranquilizern Selbstmord verüben kann. Vielleicht wäre die Kombination Valium und Alkohol tatsächlich tödlich gewesen, doch wir haben sie rechtzeitig gefunden.“ „Armes Kind... was passiert mit ihr. Wird sie zu deinem Klienten zurückkehren?“ „Das denke ich nicht. Budin wird sich um sie kümmern. Er ist in die Staaten geflogen, um alles vorzubereiten und will sie im Juni holen.“ Chris fährt auf den Parkplatz hinter unserer Praxis und stellt den Motor ab. Er dreht sich zu mir. „Nel“ sagt er mit seiner sanftesten Stimme, „daß du traurig und verstört bist, kann ich nachfühlen. Dein Klient ist tot und eine Frau wurde in deinem Beisein ermordet. Du wirst darüber hinwegkommen, das weiß ich. Für Budins Schwester wird gesorgt. Seibt wird weiterhin zu dir kommen, so daß du ihm helfen kannst und wer weiß, vielleicht hat dieses Trauma auch aufrüttelnde Wirkung.“ Er sieht mich forschend an. „Da ist noch etwas anderes, etwas wie... kalte Wut?“ Ich ziehe die Schultern hoch und muß mir auf die Lippen beißen. „Ich war in diesem Haus, Chris, ich habe das riesengroße Wohnzimmer mit dem hellen Teppich gesehen, makellos, ohne einen einzige Fleck. So wie es Linnie Schwester Agnes erzählt hatte. Ich ging durch alle Räume. Es gab nicht einen Hinweis, Chris, daß jemals ein Mann in diesem Haus gewohnt hat! Kein Kleidungsstück, kein Toilettenartikel, kein Buch, absolut nichts! Verstehst du? Linnies Liebhaber, den sie die ihr ganzes Leben nicht verlassen konnte, hat sich still und heimlich aus dem Staub gemacht! Wer weiß, wie lange schon. Es geht nicht innerhalb von ein paar Stunden, seine Anwesenheit aus einem ganzen Haus zu tilgen. Wahrscheinlich verschwand er an dem Abend, an dem er mich getroffen hat.“ Die Worte kommen knirschend über meine Lippen und in meinem Innersten breitet sich kalte Wut aus, die alles andere verdrängt. „Ist die klar, was das für Pauline bedeutet hat? Sie ist verlassen, voller Ängste, ohne Hilfe. Zu wem soll sie gehen, wenn der einzige Halt in ihrem Leben plötzlich ins Nichts verschwindet? Ich verstehe, daß sie durchgedreht hat. Aber der wahre Schuldige ist auf und davon, unerreichbar für mich. Dieser Dreckskerl hat sich verdrückt und ich hoffe, daß ich ihn nie in die Finger kriege...“ Ein dicker Kloß steckt in meiner Kehle, ich kann nicht weiter sprechen. Wortlos legt Chris seinen Arm um mich und hält mich fest. Nach einigen Minuten habe ich mich wieder gefangen und ich mache mich los. „Das ist es, was du spürst. Und jetzt laß uns nicht mehr darüber reden. Wir wollen zu Marlies gehen 86
und ihr mitteilen, daß von nun an wieder ein anderer Wind weht!“ Mein Lächeln wirkt noch etwas kläglich. Chris nickt zustimmend und wir steigen aus. Langsam läßt mein Partner seinen Blick nach oben wandern, Freude und Zuversicht strahlen aus seinem Gesicht und das rasche Blinzeln soll die Tränen vertreiben. Ich gehe zu ihm und lege meinen Arm um ihn. Das ist jetzt wichtig. Chris ist zurück, die Vergangenheit wird noch lange schmerzen, doch vor uns liegt unsere gemeinsame Arbeit. Chris nimmt mich um die Schultern und gemeinsam gehen wir die Treppe hoch.
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