Sean Beaufort
Die Goldfalle Eine Unruhe, die er sich nicht erklären konnte, trieb Paddy Rogers um. Seine Gedanken bewe...
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Sean Beaufort
Die Goldfalle Eine Unruhe, die er sich nicht erklären konnte, trieb Paddy Rogers um. Seine Gedanken bewegten sich ebenso behäbig wie die „Fidelidad", die vor gutem Westwind segelte. Es war wie immer: Rahen und Verbände knarrten vertrauenerweckend, der Wind pfiff im Tauwerk, und das Rauschen und Plätschern des Wassers begleitete das Schnarchen der Freiwache. Die Aprilnacht hatte bisher gehalten, was der Abend versprach. Auch Paddy, der riesenhafte, bullige Freund Jack Finnegans, zählte bereits die Stunden, die noch vor ihren lagen, die Stunden bis London. Trotzdem störte ihn etwas. Was es wirklich war, wußte er nicht. Ein falsches Geräusch? Merkwürdige Bewegungen? Paddy rieb seine dicke Nase, kratzte sich ausdauernd im Genick und entschloß sich, etwas zu tun . . .
Die Hauptpersonen des Romans: Paddy Rogers - entdeckt ein Leck im Rumpf der „Fidelidad", und das hat unangenehme Folgen für alle Arwenacks. Noyale Fraimbault - als Befehlshaber von vier französischen Karavellen aus Dieppe verlangt er eine Überprüfung der Ladung im Bauch der „Fidelidad". Jean-Marie Querillon - der Kapitän einer der vier Karavellen ist mit den Maßnahmen seines Befehlshabers gar nicht einverstanden. De la Dammartin - der Präfekt von Dieppe träumt davon, wie die leere StadtSchatulle aufgefüllt werden kann. Philip Hasard Killigrew - der Seewolf geht bewußt in eine Falle, weil er entschlossen ist, sie nicht zuschnappen zu lassen.
1. In der Dunkelheit hatte Paddy Rogers, so gut es ging, gemeinsam mit Piet Straaten, Rahen, Segel, stehendes und laufendes Gut und jeden Quadratzoll des Decks überprüft. Soweit die Galeone überhaupt in Ordnung war, hatten die Männer nichts auszusetzen. Er enterte den Niedergang zur Kuhl hinunter, löste eine Laterne und kletterte unter Deck. Er blieb stehen, hielt sich fest und ließ seinen massigen Körper in den Bewegungen der Galeone schwanken. Wieder glaubte er, etwas zu hören oder eigentlich zu spüren. Er meinte nicht das rasselnde Schnarchen der vier Freiwachen, sondern etwas, das im Gefüge der Galeone vor sich ging. „Ach, verdammt", brummte er und schlug den Weg in den Kielraum ein. „Es wird schon gutgehen." Sollte er Jack Finnegan wecken? Nein. Er schüttelte den Kopf und tappte weiter, so leise wie möglich, um seine Freunde nicht zu wecken. Sie hatten ihre Ruhe redlich verdient. Jetzt hörte er es deutlich! Es gab zwischen allen anderen Geräuschen, die er gewohnt war und je-
dem Seemann in Fleisch und Blut übergegangen waren, ein Plätschern, das nicht hierher gehörte. Paddy erreichte den tiefsten Punkt der Bilge, und das Licht in seiner Hand spiegelte sich in einer schwarzen Wasserschicht, die zwischen den Kisten der wertvollen Ladung schwappte. „Ein Leck!" murmelte er und war gar nicht überrascht. „Ich hab's ja geahnt." Immer wieder stand etwas Wasser in der Bilge. Das war bei einer Galeone, die eine so lange Reise hinter sich hatte, dazu etliche Gefechte und ein paar schwere Treffer, nichts Ungewöhnliches. Aber erst vor drei Stunden war zuletzt gelenzt worden. Paddy fluchte leise, hängte die Lampe auf und streifte den Hemdärmel hoch, nachdem er die Jacke ausgezogen hatte. Er langte in die faulig riechende Brühe, tastete am Kielbalken entlang und berührte die Planken. Seine Finger fuhren zwischen die Planken, und er spürte, wie das Wasser mit einem gewissen Druck einströmte. Die Menge bereitete ihm im Moment noch keine Sorgen, aber er versuchte festzustellen, an welchen Stellen die Planken morsch waren, ob es breite
5 Sprünge oder Risse gab - und, das Wichtigste, wie schnell und auf welche Art das Leck abgedichtet werden konnte. An mindestens fünf Stellen, so groß wie sein Finger und von naßfaulem Holz umgeben, drang Seewasser ein. Die Planken gaben ein wenig nach, als Paddy vorsichtig daraufdrückte. Das Gefühl, das Paddy beherrschte, ließ seine Finger zittern, obwohl sie wegen der Kälte des Wassers schon blau sein mußten. „Gefällt mir gar nicht", sagte er laut, denn er wußte, daß bei einer schweren Erschütterung, der leichtesten Berührung des Schiffes gegen einen Felsen oder gar nur bei einer sandigen Untiefe die Planken ganz plötzlich aufbrechen konnten. Paddy zog die Jacke wieder an, während er sich vor Kälte schüttelte. Er nahm die Lampe hoch und stieg eilig nach oben. Zuerst sagte er Piet, was er festgestellt hatte, und der Rudergänger erwiderte: „Weck Don Juan auf. Das klingt nicht gut, Paddy." „Ich sage dir, das ist auch nicht gut. Daß die Kerle beim Lenzen nichts gemerkt haben!" Piet Straaten zog ratlos die Schultern hoch. Er wußte genau, daß Paddys Warnung ernst genug war. Was war zu tun? Zuerst die Lenzpumpe bemannen, und immerhin war die Küste nicht fern. Piet hob den Kopf und studierte das nachlassende Licht der Sterne. Noch etwa drei Stunden mußten sie warten, bis es richtig hell wurde. Paddy Rogers rüttelte Don Juan de Alcazar an der Schulter. Der Spanier schüttelte sich unwillig, gähnte und riß dann die Augen auf. „Was gibt's, Paddy?" „Du mußt aufstehen, Juan", drängte Paddy und rieb ratlos sein
kantiges Kinn. „Es gibt Ärger. Ein Leck, ganz unten in der Bilge, genau mittschiffs." „Wie? Schlimm?" Don Juan schwang sich aus der Hängematte und griff nach den Stiefeln. Als er das linke Bein in die Langschäfter gezwängt hatte, fragte er: „Hast du Roger schon geweckt?" „Nein. Überlasse ich den anderen." Don Juan kannte Paddy als treu, tüchtig und mundfaul. Er war sofort alarmiert, denn wenn Paddy so schnell und soviel redete, mußte es verdammt ernst sein. Er zwängte sich in den zweiten Stiefel und packte seine Jacke. Er nahm einen Schluck Wasser und nickte Paddy zu. „Wie hast du es gemerkt?" „Mich hat was gestört", sagte Paddy brummend. „Falsches Geräusch." Seine Augen schienen im Licht der schwankenden Lampe aufzuglühen. Sie leuchteten graugrün. Don Juan verließ seine Kammer und rief Paddy nach: „Aber schon seit Tagen hatten wir Wasser im Schiff! Wir haben doch immer gelenzt." „Lenzen hilft nicht mehr. Schau dir's selbst an." „Das tun wir. Weckst du die anderen?" „Klar." Minuten später hatte sich die gesamte Crew mit Ausnahme des Mannes am Ruder im Kielraum versammelt. Vier Laternen beleuchteten die Wasserfläche, die seit Paddys Feststellung um knapp eine Handbreite gestiegen war. Der Schlauch der Pumpe wurde heruntergezogen. Roger Brighton, Don Juan und Bob Grey tasteten nach den Lecks und stellten selbstverständlich das gleiche wie Paddy fest. Zwei Mann gingen an die Lenzpumpe und arbeiteten wie wild. Zusehends nahm das
6 Wasser ab und gurgelte durch die Schläuche nach außenbords. Als fast das gesamte Wasser gelenzt worden war, sahen die Männer genau, an welchen Stellen es zwischen den Planken hereindrückte. Roger und Don Juan wechselten einen langen Blick. Dann meinte Roger mit betreten klingender Stimme: „Das ist ernst. Mehr als ernst. Ich glaube, wie es aussieht, müssen wir tatsächlich an Land und die Galeone hoch und trocken legen." „Darauf läuft es wohl hinaus", sagte Don Juan. „Ich kann verstehen, daß es euch nicht gerade freut. Mich ärgert es genauso. Wir brauchen Ferris Tucker und seine Werkzeuge." Roger Brighton deutete auf das scheinbar harmlos sprudelnde Wasser. „Wenn wir versuchen, die Löcher von innenbords zu dichten, werden die Planken mit jedem Nagel unsicherer. Ein Sprung, ein Riß genügt, und wir haben die ,Fidelidad' schneller versenkt, als es mit einem Sprengsatz zu schaffen wäre." „Du hast recht", gab Don Juan zu. „Das ist eine Arbeit für den Schiffszimmermann. Die Schebecke?" „Segelt an Backbord." „Alles klar", sagte Don Juan. „Wir werden Hasard verständigen, und zwar jetzt gleich." Die Crew enterte wieder die Niedergänge hinauf. Jeder bemühte sich, nur mit den Zehenspitzen aufzutreten, als könnten sie dadurch vermeiden, daß mehr Wasser ins Schiff eindrang. Roger kannte die Karten. Sie segelten durch den Kanal, la manche von den Franzosen genannt. Querab an Steuerbord war das Feuer eines Leuchtturms zu sehen. Es mußte, nach Rogers Schätzung, das Feuer von außerhalb Fécamp sein. Die Küste, das sagte die Karte deut-
lich und klar, bestand meist aus Felsen, zwischen denen es aber kleine Buchten gab. Schon gestern hatten sie deutlich die steilen, schroff abfallenden Flächen und die tiefen Kerben bemerkt. Roger löschte als erstes die Hecklaterne der Galeone. „Weißt du zufällig, wann die nächste Ebbe einsetzt?" fragte Don Juan. „Ich kenne dieses Stück der Küste nicht." Roger Brighton schüttelte den Kopf. Seine Antwort klang bedauernd, und er deutete flüchtig in die Richtung der Schebecke. „Dan O'Flynn drüben müßte Bescheid wissen." „Also müssen wir uns mit Hasards Mannen unterhalten. Ein Signalschuß aus einer Drehbasse?" „Das wird sie aufwecken", bestätigte Jan Ranse. „Ich übernehme das Geschütz." „Du brauchst aber nicht halb Frankreich aufzuwecken!" rief ihm Jack Finnegan nach. Die Küstenlinie verlief fast genau in südwestlich-nordöstlicher Richtung. In der Dunkelheit schimmerten ganz schwach die Kalkfelsen, die das Tal von Fécamp umgaben. Nebelschwaden lagen über dem östlichen Teil der Steilküste. Von den Franzosen wurde dieser Abschnitt die „Alabasterküste" genannt. Der Leuchtturm lag eine gute Seemeile außerhalb der Stadt. Roger Brighton besprach sich mit Don Juan, und schließlich änderten sie den Kurs um ein Grad nach Steuerbord. Jan Ranse lud die Drehbasse, setzte lediglich einen Stopfen und zündete. Aus dem Rohr zuckte eine lange, grelle Stichflamme, der Explosionsdonner hallte ohne die charakteristische Schärfe hinüber zur Schebecke. Einige Atemzüge später wurde mittschiffs ein Licht im Kreis ge-
7 schwenkt. Die ersten Sterne begannen zu verschwinden, und der Mond sank hinter den Horizont. Gurgelnd spie der armdicke Schlauch der Lenzpumpe einen Wasserstrahl nach Steuerbord. Bob Grey trat zu der Gruppe um den Rudergänger und gähnte. „Ich kann uns helfen", sagte er. „Ich kenne die Küste zwischen Leuchtfeuer und einem Hafen, der sich Dieppe nennt." „Fabelhaft", entgegnete Don Juan. „Wie sieht's dort aus?" Mittlerweile waren die Segel der Schebecke schemenhaft zu erkennen. Die Finsternis nahm langsam ab. Wieder arbeitete die Lenzpumpe keuchend und gurgelnd, während die „Fidelidad" ihre Fahrt gleichmäßig fortsetzte. Der drahtige, blonde Engländer schloß die Augen und schien sich dadurch die Erinnerung zu schärfen. „Meist ist die Küste felsig, voller senkrechter Felsen. Granit und viel Sandstein", sagte er. „Dazwischen habe ich größere Strände gesehen, aber auch versteckte kleine Buchten, die man gut ansegeln kann. Man wird uns in den meisten kleinen Buchten nur von oben, von den Felsen aus, sehen können. Ich traue nämlich auch den Franzosen nicht." Er schnalzte mit der Zunge und fuhr fort: „Die Normannen aus der Normandie verstehen allerdings, einen herrlichen Apfelwein zu keltern. Cidre heißt das Zeug. Aber aus Äpfeln kochen sie auch einen Schnaps. Calvados. Ist tatsächlich fast so gut wie Uisge beatha, wie die Schotten das Lebenswasser nennen." Don Juan verbeugte sich grinsend und erwiderte gutgelaunt: „Wir danken für den Vortrag, Bob, aber wir werden sicher nicht an Land gehen und ein paar Fässer oder Krüge von den flüssigen Freuden der Norman-,
die kaufen. Je schneller wir weitersegeln, desto lieber ist es uns allen." „Ich wollte euch ja nur sagen, daß es auch an anderen Orten Sehenswürdigkeiten und Trinkenswürdigkeiten gibt." „Und einen guten Wind, so steif wie selten", setzte Piet Straaten hinzu. Bob Grey nickte und schloß seine Erzählungen. „Wir müssen aufpassen. Zwei Mann zum Beobachten nach vorn. Das Wasser ist an vielen Stellen der Küste voller tückischer Felsbrocken und Untiefen." Schon wieder spuckte die Pumpe einen dicken Wasserstrahl aus. Die Abstände, in denen eine größere Menge Wasser durch die Fugen in die Bilge eindrang, wurden kürzer. Kein gutes Zeichen, sagte sich die kleine Crew, von denen die meisten zwar müde waren, aber nicht mehr schlafen konnten. „Du wirst uns die richtige Stelle zeigen, Bob", sagte Roger Brighton. „Einverstanden?" „Na klar. Tu ich doch gern für euch." Die spanische Flagge war längst gestrichen worden. In der Ausrüstung der Seewölfe hatte sich nur eine englische Flagge befunden, die an der Rah der Schebecke gefahren wurde. Während sich der Himmel grau färbte, segelte die Schebecke immer näher heran, jetzt war sie bestenfalls eine halbe Seemeile entfernt. Fast gleichzeitig wurden, kurze Zeit später, die Positionslaternen gelöscht. „Was wir zu sagen haben, geht nicht mit Signalen", erklärte Roger nach einer Weile. Aus der Kombüse roch es nach dem Rauch von frisch angefachtem Feuer und starkem Tee. „Ganz sicher nicht. Hasard wird mit Sicherheit wissen wollen, warum
8 wir mitten in der Nacht in der Gegend herumschießen." „Ganz sicher. Wir werden's ihm erklären." Über dem Land färbte sich der Himmel. Es schien ein schöner, trokkener Apriltag zu werden. Bisher war kein anderes Schiff gesichtet worden, aber sowohl vor Fécamp als auch vor Saint-Valerie-en-Caux und Dieppe sollten eigentlich die Fischer längst ausgelaufen sein. Die Schebecke lief heran, ohne die Galeone zu bekalmen. „Ihr braucht doch nicht etwa schon wieder ein Faß Wein, wie?" schrie der Seewolf vom Bug herüber. Don Juan brüllte zurück: „Wir müssen an Land. Morsche Planken, viel Wasser. Ferris Tucker soll sein Pech kochen, Bretter und Werkzeug bereithalten. Wir setzen die Galeone auf einen Strand und warten die Ebbe ab." Hasard zog ein bedenkliches Gesicht. Es war deutlich bis zur „Fidelidad" zu erkennen. „Seid ihr verrückt? So dicht vor dem Ziel?" „Leider", rief Don Juan zurück, „kann jeden Augenblick ein Stück neben dem Kielschwein eingedrückt werden, so groß wie eine Luke! An Steuerbord." „Klingt verdammt ernst!" „Ist auch verdammt ernst", rief Don Juan. „Wir werden die Galeone kielholen müssen. Vielleicht geht ihr vor Anker und holt die Masten herüber?" „Ich denke nach. Ferris wird bereit sein." „Wir gehen nach Steuerbord. Bob Grey hat gesagt, er kennt die Ufergewässer." „Wir denken uns etwas aus", versprach der Seewolf. „Wahrscheinlich werden wir es so machen." Die Schiffe segelten versetzt hinter-
einander her. Immer deutlicher wurden die Steilhänge an der Steuerbordseite. Das Leuchtfeuer war bereits außer Sicht, und tatsächlich sichteten die Seewölfe ein paar Fischerboote, die in der Dünung schaukelten. Zwei Seemeilen etwa betrug die Distanz zum Land. Don Juan rief zum Seewolf hinüber: „Wann ist die nächste Ebbe? Dan müßte es wissen." „Wird gleich erledigt." Die Männer überlegten, mit welcher Technik es am schnellsten ging. Die Galeone mußte so weit gekrängt werden, daß der Kiel fast auf dem Trockenen lag. Nur so war ein Flikken, Austauschen oder Überplanken der schadhaften Stellen möglich, denn Ferris Tucker konnte schlecht unter das Schiff tauchen. Die „Fidelidad" mußte also auf Sand gesetzt werden, bevor die Ebbe ablief. Die Flut und notfalls ein hastig geschaufelter Graben würden den Schiffskörper wieder aufschwimmen lassen. Die Reparatur selbst war mit wenigen Helfern eine recht einfache Sache. Gab es Schwierigkeiten? Sicher. Es konnte sein, daß der Anker der Schebecke ausbrach oder durchgezogen wurde, und dann kippte das Schiff zurück und begrub den Zimmermann unter sich, samt Werkzeug und Pechkessel. Schon jetzt trug der achterliche Wind den Geruch des Pechs in die Nasen der Galeonen-Crew. Dan O'Flynn tauchte auf den Bugplanken auf, legte die Hände an den Mund und rief zu Don Juan und den anderen hinüber: „Sieht günstig aus, Freunde! In drei Stunden kippt die Tide!" „Gar nicht so günstig!" schrie der Spanier. „Das zwingt uns, schnell an Land zu segeln." „Niemand hindert euch!"
9 „Auch richtig." Während Hasard und Don Juan ihre Meinungen austauschten, waren die Männer der „Fidelidad"-Mannschaft bereits unter Deck und suchten in den Laderäumen nach Tauwerk und Blöcken, nach Werkzeugen und allen Ausrüstungsteilen, die für diese Reparatur gebraucht wurden. Sie wurden ohne Hast, aber schnell an Deck geschafft und sauber aufgeklart. „Mist, verdammter! Warum konnte das nicht morgen passieren?" rief der Seewolf halb wütend, halb enttäuscht. Don Juan antwortete im gleichen Tonfall: „Paddy Rogers hat's gemerkt. Lauter gute Seeleute an Bord, Sir!" „Aye, Sir!" rief der Seewolf lachend. Natürlich wußten sie, daß solche Unterbrechungen zwar nicht gerade an der Tagesordnung, aber auch alles andere als selten waren. Schiffe und Mannschaften, besonders solche ausgepichten Seeteufel wie die des Philip Hasard Killigrew, waren darauf vorbereitet, irgendwelche Zwischenfälle so gut, unaufwendig und schnell wie möglich zu beseitigen. Aber sie alle kochten vor Wut, waren enttäuscht oder niedergeschlagen und verfluchten die Spanier, die ihre Schiffe derart schlecht in Schuß hielten - je nach Temperament. Jeder sah ein, daß die Planken ausgewechselt oder die Fugen neu kalfatert werden mußten, wenn es Don Juan und Roger für richtig hielten. Und London, die Queen und alle vorstellbaren Annehmlichkeiten waren fast zum Greifen nahe! Bob Grey zupfte Don Juan am Ärmel und sagte: „Du solltest noch einen Strich mehr abfallen. Wir haben Saint Valery passiert."
„Einverstanden. Du bist der Lotse, klar?" „Aye, aye, Sir!" Sie grinsten sich an. Beide Schiffe änderten die Richtung und steuerten auf die Felsen zu. Noch gab es keinen einzigen Sonnenstrahl auf dem Meer. Überdies würde die Bucht - welche auch immer ausgesucht würde - mehrere Stunden lang im schwarzen, kühlen Schatten liegen, was den Seewölfen gar nicht unangenehm war. Die Schebecke fiel zurück und schob sich dann an Steuerbord an der Galeone vorbei. Achtern stand der Seewolf und beobachtete die Küstenlinie durch das Spektiv. Bob Grey versuchte, sich schweigend und konzentriert der Uferlandschaft zwischen Saint Valery und Dieppe zu entsinnen und sah Felsen, Brandung und die wenigen Büsche, die sich mit den Wurzeln in den Spalten festgekrallt hatten. An einigen Stellen rieselte Wasser in dünnen Rinnsalen über die Felsen und hatte im Lauf langer Jahre schmale Bahnen hineingeschnitten. Die Brandung brach sich an den zerklüfteten, mehrfarbigen Felsen. An den Stellen, wo sie in sandigen und geröllgefüllten Buchten auslaufen konnte, warfen die Wellen das Echo auf ganz andere Weise zurück. „Wenn der Untergrund allzu schräg abfällt", überlegte Roger Brighton, „und wenn wir die Galeone nach Backbord krängen, dann fällt die .Fidelidad« um." „Also eine Wende. Die Masttoppen landwärts." „Wenn es geht?" Beide Schiffe segelten in einer Kabellänge Abstand vor den Felsen entlang. Kein Mensch zeigte sich auf den Klippen. Die Fischer gingen ihrer Arbeit nach und schienen sich nicht um
10 Von Bord flogen zwei dicke Leinen. die Schebecke und das andere Schiff Die Seewölfe packten die Enden, zu kümmern. stapften durch das schäumende Was„Wie tief?" rief Don Juan. Von rechts ertönte ein undeutliches ser auf die Felsen zu und belegten die Echo. Im Bug stand Batuti, hielt Aus- Landleinen mit mehreren Schlägen. Sie beeilten sich, über die Planken schau und peilte. „Mehr als fünfzehn Fuß. Geröll, und Rüsten wieder an Bord zu kletkeine Klippen!" rief der hünenhafte tern und schüttelten sich frierend. Gambiamann zurück. „Verdammt kalt. Und die Kiesel Die schroffen Klippen zogen lang- glitschig und schlecht für die Knosam vorbei. Die erste Bucht tauchte chen", meinte Bob Grey. „Feine auf, eine halbmondförmige Ausspa- Bucht, das, nicht wahr?" rung der senkrechten und schrägen „Hast du gut ausgesucht. Trocknet Felsbarriere, die voller feinkörnigem eure Zehen, und dann müssen wir Sand war. Geröll und Treibgut bilde- eine sinnreiche Vorrichtung anbrinten landeinwärts einen hohen Wall. gen." „Aber wir haben noch länger als „Weiter geradeaus!" rief Don Juan. Weiter draußen führte Hasard mit eine Stunde Zeit." der Schebecke eine Wende durch und „Solche Vorbereitungen dauern, ging auf Gegenkurs. Freunde", gab Don Juan zu beden„Die nächste oder übernächste ken. ,,Ja, so ist es - je früher wir fertig Bucht. Weiter, Jan!" rief Bob Grey, sind, desto früher können wir wieder der sich weit über das Steuerbord- weiter." schanzkleid beugte und abwechselnd „Daran ist viel Wahres", murmelte in die Brandung und auf den Kies- Finnegan und zog bedächtig seine grund unter dem Wasser starrte. Stiefel an. Nach einigen Manövern und VersuDie Schebecke warf zwei Kabellänchen entdeckten sie schließlich eine gen vor der Bucht den Anker. Die geeignete Bucht. Sie war voller gro- Jolle der Galeone wurde abgefiert ben Gerölls, das auf einem dünnen und hinübergerudert. Ferris Tucker Sandgrund lag. Die Galeone wendete, lud seine Werkzeuge und alles Matedie Segel wurden backgebraßt. Mit rial, das er brauchte, ins Boot. Wähden langen Riemen bugsierte die rend er sich zur Galeone zurückruCrew ächzend und keuchend den dern ließ, wurden Taue von den MastRumpf tiefer in die Bucht, genau in topps der „Fidelidad" gespannt und die Mitte. vom Boot aufgenommen. Blöcke polAls der lange Kiel zuerst einmal terten, die Crew verständigte sich mit schwach, dann stärker über die riesi- gutgelaunten Rufen. gen Kiesel scharrte, verließen Bob Schließlich spannten sich Taue von Grey und Jack Finnegan das den Masten zu den Blöcken der FlaOberdeck und schwangen sich übers schenzüge, von dort zu einigen dicken Schanzkleid nach unten. Sie fluchten, Felsvorsprüngen und auf komplials sie von der nächsten Brandungs- zierte Weise wieder zurück zum welle, die sich am Schiffsrumpf Gangspill. Die Ebbe hatte noch nicht brach, erwischt wurden. Das Wasser eingesetzt, aber während die Lenzwar lausig kalt. pumpe arbeitete, besah sich Tucker „Beeilt euch!" rief Don Juan. den Schaden und traf, leise vor sich „Dann wird es euch richtig warm." hinmurmelnd, seine Vorbereitungen.
11 Die Schebecke ankerte über siche- kerte. „Ich sehe schon, was ich unterrem Grund. Hasard kam herüber, nehmen werde." Zuerst schabte und kratzte er den kontrollierte jede Kleinigkeit und aß an Bord der Galeone. Schließlich, Bewuchs ab, dann stemmte er die während er zur Schebecke wieder zu- mürbe Mischung aus Pech, Werg, rückpullte, setzte die Ebbe ein. Un- Holzresten und Farbe aus den Fugen. merklich langsam sank das Wasser. Er maß die Länge der Planken ab, ar„Ans Gangspill, Männer!" rief der beitete ruhig weiter und gab seine BeProfos, der auch herübergepullt war. fehle. Überall wurde gesägt, gehämmert und gehobelt, und aus Treib„Ich helfe euch gleich." Die Hälfte der Seewölfe arbeitete holzresten hatten sie ein Feuer mitten jetzt auf der Galeone und, je mehr in der nassen Bucht entfacht. Sie mußten fertig sein, wenn die das Wasser zurückging, auch an Land. Die Trommel des Gangspills Flut wieder einsetzte. „Und wir werden fertig", versprach wurde langsam gedreht, das Tauwerk straffte sich, die Scheiben in den der Schiffszimmermann und trieb Blöcken kreischten. Handbreit um den ersten Keil mit wuchtigen Hieben Handbreit kippten die Masten, das zwischen die Planken. „Das verDeck legte sich schräg, und das Ge- spreche ich euch." wicht des Rumpfes drückte in den Mittlerweile lag die Galeone auf Kies. Die Steine schrammten gegen- den Planken der Backbordseite. Die einander und gaben ein schauerliches Zugtaue waren hart gespannt. In der Knirschen und Bersten von sich, das Bilge und unter dem Schiff arbeitevon den nassen Felsen zurückgewor- ten insgesamt sieben Mann an dem fen wurde wie einzelne Schüsse. Leck. Die Schebecke schwoite vor „Weiter so! Ihr müßt mehr Druck Anker, an Deck beobachtete der Seegeben." wolf das Meer und die Küstenlinie, Die Galeone neigte sich noch mehr. das vorspringende Felsenkap und die Auf einigen großen Steinen, die sich Fischerboote. tief in den Grund gepreßt hatten, Al Conroy sagte sich, daß sie an der ruhte der Kiel. Noch während das Küste der zumindest nicht feindliWasser mit leisem Gurgeln ablief, chen Franzosen festlagen und nichts sich mit der zurückschlagenden zu befürchten hatten. Brandungswelle vermischte, bewegten sich die Seewölfe um den zerschrammten, schwach bewachsenen 2. Rumpf, der sich mit verdächtigem Knarzen und Ächzen in immer gröDan O'Flynn steckte zwei Finger ßere Schräglage bewegte. zwischen die Zähne, beugte sich vor Ferris Tucker schabte mit der und pfiff gellend. Hasards und Ben frisch geschliffenen Schneide seiner Brightons Köpfe fuhren herum, dann Axt die Seepocken von der Beplan- schauten sie zum Ausguck hoch. kung. Noch konnte er nicht direkt die „Schiffe!" rief Dan. „Ich zähle zwei Stelle neben dem Kiel erreichen. Karavellen. Franzosen! Sie halten of„Noch geht es nicht so, wie ich fenbar auf uns zu." will", brummte er und sah, daß durch „Kannst du erkennen, was sie vordas oberste kleine Leck das wenige haben?" rief der Seewolf. Wasser aus der Bilge nach außen sikEr hatte erwartet, daß sie nicht
12 lange allein und ungestört bleiben würden. Zwar drohte von den Franzosen keine Gefahr, aber ihm wäre eine Begegnung in zwei Stunden lieber gewesen - wenn die Flut einsetzte und die reparierte Galeone wieder freischwamm. Er zog den Kieker hervor, richtete ihn auf das Felskap und sah, daß sich hinter den Lateinersegeln von zwei Karavellen eine dritte hervorschob. „Auch das noch", murmelte er verdrossen. In den Ecken der dreieckigen Segel leuchteten die französischen Farben, an den Masten flatterten die goldenen und roten Wimpel mit den Lilien. Es gab kaum Zweifel, daß es tatsächlich französische Schiffe waren. Er setzte das Spektiv ab und sagte zu Ben: „Wir erhalten Besuch. Was sollen wir tun, um sie uns möglichst vom Leibe zu halten?" „Ich setze ihnen ein paar Schüsse vor den Bug!" rief Al Conroy. Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich sind sie nett und harmlos und helfen uns." Aus dem Masttopp hörten sie überaus deutlich Dans Stimme. „Es sind vier Karavellen!" „Nicht mehr?" rief Hasard Killigrew. „Nein. Ich kann jetzt bis zur übernächsten Ecke sehen." Die Schebecke deutete mit dem Heck auf die offene Wasserfläche des Kanals, denn die abströmende Ebbe hatte sie am langen Ankertau ganz langsam in diese Lage gezogen. Viele Teile der Küstenlinie hatten sich verändert, und der blanke Seeboden breitete sich aus. Dort, wo die Schebecke ankerte, fiel die Küste steil ab, und in demselben Tiefwasser kreuzten die vier Karavellen nach Südwest. Der nächste oder übernächste Schlag würde sie
exakt hierher bringen, und zwar noch bevor das Wasser zurückgekehrt war. Hasard starrte durch die Linsen hinüber zur Galeone und konnte nichts anderes sehen, als daß Tucker und drei seiner Helfer unter dem hochgewölbten und tropfenden Schiffskörper arbeiteten, schnell und mit der Sorgfalt, die Hasard an seinem rothaarigen Riesenzimmermann kannte und gewohnt war. „Freunde!" rief der Seewolf seinen Leuten zu. „Wir müssen damit rechnen, daß uns die Franzosen besuchen. Seid freundlich zu ihnen, denn wir befinden uns ja tatsächlich auf ihrem Land." „Klar, verstanden!" rief Gary Andrews. „Und in zwei, drei Stunden sind wir weg!" „Freundlich?" maulte der Profos. „Das auch noch! Die sollen uns gefälligst helfen!" Dann schien ihn eine bestürzende Idee heimgesucht zu haben, denn er verzog sein Gesicht zu einem verständnisvollen Grinsen und schüttelte den Kopf. „Kann das sein, daß sie etwas von der Beute wissen?" „Nicht von uns. Von keinem der Crew", sagte Philip Hasard Killigrew entschieden. „Und von den Spaniern sicher auch nicht. Obwohl..." „Gerüchte? Lange genug treiben wir uns in diesen Gewässern herum", sagte der Kutscher. „Es mag sein, daß auch in etlichen Häfen dieses überaus edlen und mächtigen Landes das Gerücht ging, eine spanische Goldgaleone sei nicht im Sturm gesunken, sondern von Freibeutern erobert worden und somit auf dem Weg zum Londoner Hof. Wie gesagt: Gerüchte. Aber sie sind oftmals schneller als der Wind." „Mag sein", gab der Seewolf widerwillig zu. „Wir alle aber wissen abso-
13 lut nichts davon. Verstanden, Arwenacks?" „Natürlich!" tönte es aus allen Richtungen zurück. „Selbstverständlich. Wir wissen von nichts." Die Kapitäne und Offiziere der Karavellen betrachteten die beiden fremden Schiffe sehr genau. Natürlich hatten sie längst die englische Flagge der Schebecke entdeckt. Daß das andere Schiff hoch und trocken lag und repariert wurde, begriffen sie auch auf den ersten Blick. Noch zwang sie der Wind, nach Luv zu gehen, aber in kurzer Zeit würden sie genau vor der Schebecke und der Bucht aufkreuzen und womöglich ankern, Boote aussetzen und, was naheliegend war, helfen wollen. „Wir brauchen keine Hilfe!" schrie schließlich der Profos hinüber zur „Fidelidad". „Habt ihr das kapiert, ihr Lahmärsche?" „Schon lange!" brüllte der Schiffszimmermann zurück. „Du Decksaffe!" „Andererseits könnte es sein", gab Ben Brighton zu bedenken, „daß die Franzosen grundsätzlich mißtrauisch sind und uns mit Nachdruck bitten, in den nächsten Hafen zu segeln und dort Zoll oder Landegebühren zu bezahlen." „Für diesen Fall sollten wir Vorsorgen", sagte Philip Hasard Killigrew, „und uns entsprechend ausrüsten. Denkt euch etwas Interessantes aus, Freunde." Von der Bucht her trieb ein ablandiger Windstoß den Gestank von nassen Felsen, faulem Fisch, gammelndem Treibgut und vor allem von rauchendem Pech in die Nasen der Crew. Das Beiboot lag noch neben dem Rumpf der Galeone, aber schon hatten die Männer Teile der Werkzeuge und einige Holzteile eingeladen. Bald
würde also das Leck endgültig geschlossen sein. „Wieviel Zeit haben wir noch?" „Eine dreiviertel Stunde", erklärte Dan O'Flynn. Die Sonne war schon lange über die Klippen geklettert, und ihr Licht lag auf dem Wasser. Die Wärme hatte zugenommen, obwohl große graue Wolkenbänke über den Himmel zogen. Der Wind hatte die Richtung behalten. Jetzt gingen die Karavellen in schnellen, gekonnten Manövern durch den Wind und glitten auf die Bucht zu. Al Conroy stieg aufs Achterdeck und erkundigte sich unschlüssig: „Sollen wir sie nicht mit ein paar gezielten Schüssen vertreiben?" Hassard hob die Schultern. Zahlreiche Gedanken waren ihm in der letzten Stunde durch den Kopf gegangen. Er schüttelte den Kopf. „Mir wäre auch lieber, wir könnten in einer Stunde von den Felsen weg sein. Aber dann würden uns, ich weiß nicht wie viele Schiffe wieder jagen. Wir machen zunächst gute Miene zum undurchsichtigen Spiel. Für den Fall der Fälle: deine Geschütze sind feuerbereit?" „Jedes von ihnen", bestätigte der Stückmeister. Die Zwillinge befanden sich zwischen der Galeone und den Felsen und kümmerten sich um die Taue. Sie warteten nur auf das Signal von Bord, dann würden sie mit dem Boot zurückrudern. Hasard richtete das Spektiv auf die heransegelnden Karavellen und prüfte die Zustände auf den Decks. Er sah lediglich die gewohnte Besatzung und weder besondere Aktivitäten bei den wenigen Geschützen noch sonst verdächtige Bewegungen. Wieder mußte er unschlüssig die Schultern hochziehen. Unter Deck
14 schimpfte Sir John, der Papagei, in kurzen, aber treffenden Ausdrücken. Die Periode des Niedrigwassers ging zu Ende. Die heranrollenden Brandungswellen wurden höher, und an den am weitesten ins Meer hinausragenden Flächen spülte bereits wieder das Wasser. „Achtung, ,Fidelidad' ", tönte es von Bord der Schebecke, „die Flut setzt ein!" „Verstanden. Wir sind gleich fertig." Auch der leere Pechkessel wurde ins Beiboot geschafft. Ferris Tucker klopfte die alten und neuen Planken im Bereich der ehemaligen Leckagen ab und schwenkte zuversichtlich seine Axt. „Endlich", murmelte der Seewolf und sah schweigend zu, wie die schlaff durchhängenden Landleinen gelöst und als Spring neu gefahren wurden. Die Speichen des Gangspills, das in einem abenteuerlichen Winkel aus dem Deck ragte, wurden eingesetzt, und die Spannung der Zugtaue lockerte sich in den Umlenkrollen. Mit markerschütternden Geräuschen, die so klangen, als würde die Galeone in ein Dutzend verschieden großer Teile auseinanderbrechen, sank sie quälend langsam zurück. „Vorsicht, langsamer! Lockert die Leinen", echoten die Kommandos von den Felsen zurück. Die ersten Wasserzungen leckten über die Wattflächen, zogen sich wieder seewärts und kehrten breiter und mit mehr Druck zurück. Die Männer der Schebeckencrew pullten in zwei hastigen Törns zurück an Bord, dann wurde die Jolle aufgehievt. Genau zu diesem Zeitpunkt waren die Franzosen auf Musketenschußweite heran und braßten back. Ein Offizier rief in tadellosem Englisch: „Monsieurs! Wir sehen mit gro-
ßem Bedauern, daß Ihr in Schwierigkeiten zu sein scheint!" Ben Brighton stieß Hasard an. „Jetzt bist du gefordert, Sir." „Ist mir schon klar", brummte der Seewolf verdrossen. „Vielleicht kann ich sie hinhalten." Er winkte höflich zum französischen Kapitän hinüber und rief: „Unsere Schwierigkeiten waren unbeträchtlich, Capitaine, und sie sind mit eigenen Mitteln behoben worden. Wenn Ihr die Güte hättet, uns den Weg freizugeben, könnten wir ohne Aufenthalt zurück nach England segeln." Er hatte selbstverständlich in gutem Französisch geantwortet. Die Karavellen versperrten tatsächlich einen Teil des Ausgangs aus der kleinen Bucht. Wasser schwappte unter dem Rumpf der „Fidelidad" und war so hoch gestiegen, daß sich die Galeone völlig aufgerichtet hatte. Noch war die Marke des höchsten Wasserstandes an den Felsen nicht erreicht, aber die Crew bugsierte den schweren Schiffskörper bereits mit den Riemen seitlich aus der Bucht hinaus. „Wir sind ausgelaufen, um euch nötigenfalls zu helfen, Kapitän!" rief der Franzose. „Seid ihr sicher, daß unsere Hilfe nicht gebraucht wird? Überdies sähen wir gern, daß ihr uns gestattet, an Bord eurer Schiffe zu kommen." „Es gibt nichts zu sehen, Monsieur!" rief Philip Hasard Killigrew. Seine Crew holte mittlerweile langsam den Anker ein. Das Gangspill drehte sich, und die Schebecke bewegte sich langsam auf den Anker zu. Die erste Landleine der Galeone wurde an Bord gezogen und aufgeklart, das Schiff drehte sich mit dem Bugspriet herum und deutete auf den Schiffsverband vor der Geröllbucht.
15 „Indessen seid ihr, ohne uns zu benachrichtigen, an Land gegangen! Es ist Sitte, Pflicht und guter Brauch unter Seeleuten, um Erlaubnis zu fragen." Er hatte es vorausgesehen! Es gab also Schwierigkeiten, weil die Franzosen Schwierigkeiten machen wollten. Hasard gab noch lange nicht auf. „Es war nicht möglich, Capitaine!" rief er. „Ein Notfall. Unsere Galeone wurde leck, und wir mußten die Tidenzeit ausnutzen. Weit und breit gab es kein Schiff, das wir hätten bitten können. Eine Bitte, mein Freund: Laßt die Galeone hinaus, sonst ist es unmöglich, zu manövrieren." Der Franzose setzte zu einer längeren Erklärung an. „Die Erlaubnis wird erteilt. Wir verstehen auch, daß ihr in einer Notlage gehandelt habt. Aber es ist ebenso Sitte und Pflicht, für einen Aufenthalt an Land Zoll und Liegegeld zu zahlen. Der Betrag richtet sich nach der Ladung, und deshalb dürfen wir, eure gütige Erlaubnis vorausgesetzt, die Ladung ein wenig inspizieren." Ben Brighton vorn am Bug übersetzte für die Besatzung der Galeone, was die Franzosen wollten. Schwerfällig wurde die Galeone aus der Bucht gerudert. Nils Larsen rief zur Schebecke: „Ferris hat gut gearbeitet. Innen ist es trocken wie ein alter Schiffszwieback." „Verstanden. Gut so. Geht an uns vorbei. Vermutlich kommen ein paar von ihnen an Bord." Die Segel beider Schiffe hingen schlaff und feucht an den Rahen. Die Seewölfe witterten ausnahmslos großen Ärger. Hasard antwortete nach einigem Zögern dem französischen Kapitän, der offensichtlich der Kommandant dieses Verbandes war.
„Schickt eine Jolle hierher", bot er an. „Wir haben nichts an Bord - oder so gut wie nichts, auf das sich Zoll erheben ließe. Ein Becher Wein ist allemal für euch bereit." Ohne aufgehalten zu werden, inzwischen weniger langsam, denn eine milde Brise strich über das Wasser im Bereich der Felsen, gewann die Galeone etwas Fahrt und schob sich an der Schebecke vorbei. Die Seewölfe schwiegen, beobachteten jede Bewegung an Deck der französischen Karavellen und warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu. Hasard sah, daß sich die kleine Crew der „Fidelidad" bewaffnet hatte und in den Ösfässern an Deck die Lunten an den Luntenstöcken glimmten. „Wir kommen! Ein paar Seeleute und die Vertreter des Hafenkommandanten von Dieppe!" rief der französische Kapitän. Wenigstens in diesem Augenblick war es so gut wie unmöglich, den vier fremden Schiffen zu entwischen, ohne daß der Versuch in ein Massaker ausartete. Alle Geschütze auf insgesamt sechs Schiffen waren geladen und feuerbereit, dasgleiche galt für unzählige Pistolen und Drehbassen, Arkebusen und andere Schußwaffen. Die Lage war gespannt, fast ebenso explosiv wie trockenes Pulver. So dicht vor London, seufzte der Seewolf innerlich, war es nahezu Selbstmord, einen Fluchtversuch unter Waffen erzwingen zu wollen. „Ihr seid willkommen!" rief Hasard und dirigierte seine Crew mit Armbewegungen in die Nähe des Schanzkleides. Eine Karavelle löste sich langsam aus dem Verband und segelte aufs Meer hinaus. Ab und zu sah der eine oder andere Seewolf hinter dem Schanzkleid verräterisches Blitzen und Funkeln von geputztem Metall.
16 Der Anker der Schebecke wurde hochgehievt und mit mehreren Tauen an der vorgesehenen Stelle belegt. Auch der schlanke Dreimastsegler drehte sich an den Wind und schob sich parallel zur Galeone aus dem Bereich der Bucht hinaus und in einigermaßen freies Fahrwasser. Aber die Segel der Karavellen deckten die beiden Schiffe der Seewölfe ab, so daß es höllisch schwer war, einen vernünftigen Abstand von den Felsen, Klippen und Riffen zu gewinnen. Dazu kam, daß die letzten Ausläufer der steigenden Flut an den Schiffen zerrten - an allen Schiffen. Die Franzosen ließen Boote zu Wasser, und die Bordwände der Karavellen schoben sich näher heran. „Wollt ihr hier einen Schiffsfriedhof gründen?" schrie der Seewolf und versuchte, die Schebecke zwischen zwei Karavellen hindurchzumanövrieren. „Eine winzige Ungeschicklichkeit meiner Männer. Sie sind ungeübt, weil wir so lange Frieden hielten!" rief lachend der Kommandant zurück. Ohne Mühe schwangen sich mindestens zwei Dutzend Seeleute über die Bordwände und verbeugten sich artig. Sie schienen unbewaffnet zu sein, abgesehen von Messern oder Tauenden, die sie als Gürtel um die Hosen gebunden hatten. „Vorsichtig!" donnerte der Profos. „Keinen Streit an Bord." Philip Hasard Killigrew hatte das Verhängnis kommen sehen. Aber in der Enge der Schiffe, deren Bordwände sich ohne Fender aneinander rieben, in der Fläche des eingeschränkten Raumes und im allgemeinen Durcheinander gelang es mindestens drei Dutzend der französischen Besatzungen, an Deck der beiden Schiffe zu entern.
Als sich zwischen den Karavellen die Boote hervorschoben, fanden sich die Seewölfe praktisch eingekesselt von Seesoldaten mit schwerer Bewaffnung. Mit einem falschen fröhlichen Lachen rief der andere Kommandant: „Ihr seht, meine Freunde, daß wir genau nachsehen müssen, um den Zoll und alle Gebühren gerecht eintreiben zu können. Keine Sorge, bald sind wir wieder von Bord." Hasard wandte sich an Ben Brighton. „Die Franzosen tun, als wäre ihre verdammte Invasion das Lustigste von der Welt. Ich kann doch nicht einfach unseren Weg freischießen! Das endet in einem Blutbad!" Überall schienen lachende, freundliche und fröhliche Männer zu sein, entweder bewaffnet oder völlig harmlos. Sie schwenkten Weinschläuche, tappten mit nackten Sohlen über die Planken, verwickelten die Seewölfe in Unterhaltungen, die nur von der Hälfte verstanden wurden, lachten unaufhörlich und kletterten an den unmöglichsten Stellen an Bord der Schebecke und der Galeone. Zwischen zwei Karavellen schob sich, von Seeleuten gepullt, ein größeres Beiboot hervor. Im Bug stand ein prächtig gekleideter Kapitän oder Offizier. Mindestens ein Dutzend Soldaten, mit Pistolen und Musketen bewaffnet, saß zwischen den Seeleuten. „Bonjour, Engländer!" rief er und schwenkte seinen Hut. „Ich bin Kapitän Noyale Fraimbault, Befehlshaber dieser kleinen Armada. Ich sehe mit Verwunderung, daß ihr gar seltsame Schiffe segelt." Hasard legte die Hand auf den Degengriff, verbeugte sich und nannte seinen Namen. „Ein guter englischer Name", sagte der Kapitän, „und ein nicht mehr ganz so gutes spanisches Schiff. Und
17 ein Dreimaster, den man an diesen Küsten nie gesehen hat. Seltsam, seltsam. Und als wir das alles bemerkten, dachten wir an die Befehle unseres guten Königs, des Vierten Henry, und deshalb sind wir hier." „Was wollt ihr von uns?" Die Schebecke und die Galeone waren von den französischen Schiffen eingekesselt. Von zwei Jollen aus kletterten Seeleute und Soldaten an Bord. Der französische Kapitän verbeugte sich noch einmal und fragte: „Ich bitte um die Erlaubnis, Sire, an Bord zu kommen. Ich denke, wir sollten uns unterhalten." Hasard sah auf den Planken seiner Schiffe inzwischen mehr Fremde als eigene Leute. Er wandte sich an Ben Brighton, seinen Ersten, und sagte: „Ich muß ihn an Bord lassen. Wenn wir uns jetzt wehren, überlebt es die Hälfte beider Mannschaften nicht." „Wir lassen uns etwas einfallen", versicherte der Erste wütend. Hasard grüßte zum Franzosen hinunter und sagte: „Erlaubnis erteilt, Capitaine Fraimbault." Der Kapitän ließ sich an Bord helfen. Die Seewölfe schwiegen verblüfft und blickten immer wieder den Seewolf an. Ben Brighton und Hasard winkten beruhigend ab. Die Mannen flüsterten miteinander und begriffen langsam, daß ihr Kapitän einen besonderen Plan verfolgte oder wenigstens so tat, als wüßte er, wie dieses Durcheinander zu beseitigen wäre. Fraimbault schob sich durch die Mannschaften an Deck, kletterte zu Hasard und Ben hinauf und schüttelte, unverändert gute Laune ausstrahlend, die Hände der beiden Seewölfe. Von der Galeone ertönten dumpfe
Geräusche. Die Kisten und Truhen, die während der Reparatur in der Bilge und den Stauräumen umgestapelt worden waren, wurden wieder an ihre alten Plätze zurückgeschleppt. „Willkommen an Bord", sagte Philip Hasard Killigrew und musterte den anderen Kapitän. Aus der Nähe betrachtet, war seine Kleidung keineswegs mehr elegant und prächtig. An vielen Stellen war der Stoff fadenscheinig und dünn, aber tadellos gewaschen. Das Leder des Gurtes war rissig und ungefettet, die Schnallen glänzten abgegriffen. Fraimbault bemerkte die prüfenden Blicke, zog lachend die Schultern hoch und gab eine seiner geistvollen Bemerkungen zum besten. „Es ist arg, Kapitän Killigrew. Vor rund zwei Jahren führten wir, Franzosen und ihr Engländer, Seite an Seite einen Krieg gegen Spanien, weil Philip meinte, uns den wahren Glauben vorschreiben zu müssen. Verzeiht, die Niederländer waren auch auf unserer Seite. Und seit dieser Zeit herrscht chronische Ebbe in der Kasse unseres guten Königs." „Das alles ist von großer Wichtigkeit", erwiderte der Seewolf verärgert und sah, daß sich die Karavellen zurückzogen und seinen Schiffen den Weg freigaben. „Aber ich vermag nicht zu erkennen, was die Geldnot eures Heinrichs, Gott erhalte ihn, mit uns zu tun hat. Wir wollen lediglich nach England segeln." „Alles zu seiner Zeit. Ich habe den Befehl des Stadtkommandanten von Dieppe, euch in den Hafen zu geleiten - in aller Freundschaft unter Waffenbrüdern, versteht sich! -, wo sich der Präfekt der Sache annehmen wird." „Welcher Sache, Capitaine Fraimbault?" „Eine Überprüfung eurer Nationalität, der Schiffe und der Ladung.
18 Eine unwesentliche Formalität, Sire. Seid unbesorgt. Dieppe ist bekannt wegen seiner Schenken, der Lieder und des guten Cidre. Ich glaube, wir können nun alle frohgemut die wenigen Seemeilen zurücklegen." „Was ist los, verdammt?" schrie Big Old Shane vom Bug der „Fidelidad". „Klar bei Kurs auf Dieppe!" rief Hasard zurück. „Frankreich will, daß wir den Hafen anlaufen!" „Aye, aye, Sir!" rief Old Shane zurück. Jeder Blick in ein Gesicht seiner Mannschaft zeigte Hasard, daß sich seine Seewölfe zurückhielten und vor Wut und Ratlosigkeit förmlich kochten. Die Galeone führte eine Drehung um einen Viertelkreis aus und segelte zwischen zwei Karavellen ins freie Wasser hinaus. An Bord waren zwölf Seewölfe und bestimmt nicht weniger als zwanzig bewaffnete Franzosen. Die beiden Karavellen folgten nach einigen Manövern und eskortierten die „Fidelidad" auf ihrem Kurs entlang der Klippen nach Nordost. Der französische Kapitän hatte nur darauf gewartet, bis sich seine Leute an Deck der Schebecke verteilt und die Seeleute die Boote zurückgepullt hatten. Jetzt deutete er auf die Culverinen und sagte: „Ihr seid gut armiert, Kapitän Killigrew. Herrliche, lange Rohre, denen man ansieht, daß sie hervorragend gewartet sind." „Ihr würdet uns daran hindern, denke ich, wenn wir versuchen sollten, uns mit ihrer Hilfe aus eurer liebevollen Umarmung zu befreien." Noyale Fraimbault lachte, aber in Wirklichkeit dachte der schwarzhaarige, sehnige Mann, einen Kopf kleiner als der riesenhafte Seewolf, kei-
neswegs an vergnügliche Dinge. Seine Augen blieben kalt und wachsam. Makellose weiße Zähne glänzten, als er Hasard die erwartete Antwort gab. „Ihr Engländer dramatisiert, Kapitän Killigrew. Ich führe nur meinen Befehl aus. Wenn Waffenbrüder wie wir, Frankreich und England, spanische Schiffe kapern, dann nicht ohne Grund, besonders dann nicht, wenn das Ziel London ist." „Ich bin sicher, daß ich diesen Gedankengängen nicht folgen kann", sagte der Seewolf finster. „Was sollen wir in Dieppe? Zoll zahlen? Um Erlaubnis nachsuchen, nach Hause segeln zu dürfen? Bei euch, den Franzosen?" „Das wird der Präfekt entscheiden. Mir ist nur bekannt, daß beide Schiffe bis zur Klärung aller Fragen im Hafen der wunderschönen Stadt Dieppe festgelegt werden. Befehl des Königs." Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Und wer wäre ich, wenn ich die Befehle meines Herrschers nicht befolgen würde!" Der letzte Satz klang wie eine Drohung, und das war sie auch. Der Seewolf nickte, kletterte auf die Kuhl und legte die Arme auf die Schultern der Zwillinge. Carberry und Tucker bauten sich vor ihm auf. „Es geht geradewegs nach Dieppe", sagte Hasard laut und blickte seine Vertrauten warnend an. „Wir haben nichts zu verstecken. Wir wären eine Stunde früher klar und auf und davon gewesen, aber schließlich werden uns die Franzosen keineswegs köp-, fen." Einige Bewaffnete hörten zu. Vielleicht verstanden sie auch, was er sagte: Flüsternd fuhr er fort: „Seid auf alles gefaßt. Bereitet euch vor. Es wäre
19 nicht der erste Hafen, den wir auf unsere Weise verlassen." „Alles klar, Sir", murmelte der Profos. „Diesen Rübenschweinen werden wir es zeigen." „Und nicht zu knapp", versicherte der Zimmermann. „Zumal ich mich so beeilt habe mit den vergammelten Planken." Auch die Schebecke befand sich auf Kurs. An Steuerbord zogen die Felsen und die Hänge vorbei, von denen die Steilküste unterbrochen wurde. Weit voraus zeigten sich größere, sandige Strände. Die Sonne stand im frühen Nachmittag, die Menge der Wolken hatte zugleich mit dem Wind zugenommen. Die Schiffe segelten dicht nebeneinander, wachsam blieben die Karavellen an Backbord und Steuerbord der Seewölfe. Edwin Carberry brauchte nur einen Blick in die Augen des Kapitäns zu werfen. Er sah, daß Hasard es vorzog, klug nachzugeben, statt so kurz vor dem Ziel ein zu großes Risiko einzugehen. Die eisblauen Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Um den Mund lag ein eigensinniger, trotziger Zug. Der Profos murmelte etwas in seine Pranke. „Was?" „Ich wollte dich gerade fragen, Sir, ob wir schon mal anfangen sollen, dieses fremdsprachige Lumpenpack über Bord zu kippen?" „Sie sind in der Überzahl. Sicher, wir könnten uns wehren. Aber in Dieppe zeigen wir ihnen, was die Arwenacks wirklich können. Ich will, daß beide Schiffe, jeder einzelne von uns und die Ladung der ,Fidelidad' unangetastet und heil nach London gelangen. Denkt daran." „Ist klar, Sir", brummte Carberry. „Also abwarten, wie?" „Genau. Nichts anderes. Und denkt
euch schon mal was Schönes für die französischen Kapitäne aus." „Tun wir." Natürlich würden die Franzosen an Deck und unter Deck der Schebecke nur wenig finden, das sie zufriedenstellen konnte. Etwas Geld, wenig Proviant und Pulver, Wein und Geschosse. Vielleicht brauchten sie sogar die Culverinen? Das war durchaus denkbar. Anders stand es um die Beute, die im Laderaum der „Fidelidad" verstaut war. Wie lange sie brauchten, um den Wert zu erkennen, wie sie reagierten - niemand wußte es. Wahrscheinlich war König Heinrich der Vierte froh für jede Aufbesserung seiner Hofkasse mit spanischem Gold und Silber, mit Perlen und wertvollem Schmuck. Es gab nur einen Ausweg für die Seewölfe: noch bevor die Franzosen begriffen und reagiert hatten, mußten die Schiffe aus dem Hafen Dieppes verschwinden. Aber noch waren sie nicht einmal in der Hafeneinfahrt. 3. Die Stadt und der Hafen Dieppe lagen an der Mündung eines nicht gerade breiten Flusses, den der Kapitän als Arques bezeichnete. Ein Schloß, dessen Seitenflügel von Baugerüsten umstellt waren, diente zur Befestigung von Stadt und Hafen. Die Mauern mitsamt den Toren schienen intakt zu sein und wirkten massiv und abweisend. Mit kräftigem raumem Wind bogen die Schiffe vom Meer in den Trichter der Flußmündung ein und verlangsamten ihre Fahrt, als sie in die Strömung des Arques gerieten. „Ein hübsches Bild, nicht wahr, Ka-
20 pitän Killigrew", meinte Fraimbault und deutete zu den Ladebäumen, die den Handelshafen kennzeichneten. Alle Hafenanlagen befanden sich in der Mitte der Stadt, allein der Handelshafen wies drei Becken auf. Im Fischerhafen herrschte Ruhe, denn offensichtlich war der Fang dieses Tages schon verkauft. Ein paar räudige Katzen strichen entlang der Hausmauern. „Tatsächlich, ein schöner Ort. Ich schätze etwa siebentausend Bewohner, oder sind es weniger?" „Scharfe Augen, Sire." Der Franzose nickte überrascht. „Wir werden zwischen Fischerhafen und Handelshafen längsseits des Kais gehen. Dort, bei den Häusern mit den hellen Fassaden." Kommandos hallten über den stillen Hafen. Einige Bewohner stießen die Läden auf und schauten überrascht zu den sechs Schiffen, die in einer Doppellinie einfuhren und die Segel strichen. Wieder wechselten Ben Brighton und Hasard einen kurzen Blick des Verständnisses: der Anlegeplatz würde ihnen, wenn es soweit war, eine schnelle und einfache Flucht ermöglichen. „Dort ist das Haus des Hafenkommandanten", erklärte Noyale Fraimbault zufrieden. „Seine Leute helfen beim Anlegen. Ihr seid in den besten Händen, Kapitän." „Das wird sich zeigen", meinte der Seewolf. Er fühlte sich wie die Bordhündin Plymmie, die neben dem Rudergänger stand und jeden Franzosen in ihrer Nähe anknurrte. Nacheinander glitten die vier Karavellen an ihre Plätze. Die Anlegestellen waren gut gewählt, denn die Mehrzahl der Geschütze blieb in dieser Lage auf die fremden Schiffe gerichtet. Zuerst legte die Galeone an, dann folgte die Schebecke. Die Män-
ner des Hafenkommandanten belegten ohne sichtbare Zeichen dafür, daß sie sich wunderten oder gar freuten, die Taue an hölzernen und steinernen Pollern. „Ich darf bitten, Kapitän Killigrew", sagte Fraimbault und deutete zu dem fast leeren Kai. „Wir gehen jetzt alle gemeinsam ins Schloß. Dort werden wir alles beraten. Selbstverständlich unter Aufsicht des königlichen Präfekten und aller Kapitäne. Noch etwas: es wäre mir lieb, wenn ihr euch nicht bis an die Zähne bewaffnen würdet." „Wir haben nicht die Absicht, Dieppe zu überfallen", sagte Hasard frostig. „Ich werde einige Wachen auf den Schiffen zurücklassen." „Kein Problem. Bestimmt je zwei Leute", antwortete Fraimbault leutselig. Hasard holte lief Luft und rief: „Don Juan und Batuti! Ihr bleibt auf der Galeone. Old Shane und Al Conroy, ihr beide bewacht unsere Schebecke. Der Rest versammelt sich an Land und geht mit mir zum Schloß. Dort werden wir unseren freundlichen Gastgebern erklären, wie wir die Sache sehen." „Aye, aye, Sir", tönte es zurück. Die Seewölfe gehorchten voller Verwunderung, aber schweigend. Die französischen Seesoldaten und ein Teil der Besatzung verließen die Karavellen und stellten sich entlang der Häuserfronten auf. Wieder ließ Hasard seine Blicke über die Stadt gleiten. Er sah das Portal einer Kirche und die Gerüste an einem anderen großen Bauwerk, das ebenfalls wie eine Kirche aussah. Die Hafenanlagen waren großzügig und gut instand gehalten. Zwei Handelssegler hatten ganz hinten im Handelshafen vertäut, einer wurde beladen und lag tief im
21 Wasser, den anderen entlud man gerade mit Hilfe der Ladebäume. Unzweifelhaft beherrschte das Schloß mit der anschließenden Bastion die gesamten Hafenanlagen. „Gehen wir", sagte Hasard zu Ben Brighton. „Wir schauen uns sorgfältig um und merken uns die Straßen und den Weg zum Hafen, klar?" Ben nickte nur, seit einer halben Stunde hatte er nichts anderes im Sinn. Daß Hasard Al Conroy als Wache zurückgelassen hatte, war mehr als nur ein taktisch kluger Zug in diesem undurchsichtigen Spiel der Franzosen. Hintereinander betraten sie die Planke und blieben auf den wuchtigen Steinquadern stehen, zwischen denen niedergetretenes Gras wuchs. Die Kapitäne der anderen Karavellen stapften heran und stellten sich vor. „Kapitän Jean-Marie Querillon von der ,Gloire-Royal', und ich spreche ein wenig Englisch." Der Händedruck dieses Mannes, der fast so groß wie Hasard und ein wenig füllig war, beeindruckte den Seewolf. Im Gegensatz zu den listigheiteren Mienen der anderen Männer schaute dieser Seemann weitaus treuherziger und besonnen drein. „Ihr Englisch ist ausgezeichnet", erwiderte Philip Hasard Killigrew und glaubte, im Verhalten des anderen etwas zu bemerken, das ihn stutzig werden ließ. Er schien mit dem Vorgehen der anderen Schiffsführer nicht einverstanden zu sein, zeigte es aber nicht deutlich. „Ich hoffe, wir haben nach Abschluß der unerwarteten Verhandlungen noch Gelegenheit, uns die Kehle mit französischem Wein oder gar Calvados zu spülen." „Es wäre mir ein Vergnügen." Réné de Nazaire war der nächste Kapitän. Ein kleiner, schneidiger
Bursche mit einem mächtigen schwarzen Schnurrbart, der in effektvoll nach oben gezwirbelten Spitzen auslief, die genau auf seine Augen zeigten. Réné schien vor innerer Spannung nicht ruhig stehen zu können. Er tänzelte auf der Stelle wie ein aufgeregtes Pferd. „Ich bin Georges Roche-Bernard von der ,Le Pecheur'. Schnellstes Schiff", erklärte der letzte stolz. „War in La Coruña dabei." Auf welches Seegefecht sich der letzte Hinweis bezog, war Ben Brighton und Hasard gleichgültig. Sie stellten sich vor und schüttelten die Hand des Kapitäns. Inzwischen hatten sich die Bewaffneten formiert und standen in zwei Reihen rechts und links neben den Seewölfen. Fraimbault deutete in Richtung des Schlosses. „Man wird erwartet", sagte er. „Gehen wir?" Hasard nickte und winkte seinen Männern. Obwohl die Vorgänge in einer Art südlicher Heiterkeit abliefen, sah alles so aus, als sei es eine Gefangennahme. Trotzdem blieb es seltsam. Sie durften ihre Waffen behalten und Wachen an Bord zurücklassen. Etwa eine Viertelstunde lang dauerte der Marsch durch die Hitze des Nachmittags, die von den steinernen Hausmauern zurückstrahlte. Die Gassen waren eng und an den wenigsten Stellen gepflastert. Entlang eines Teiles des Strandes und der Molen erstreckte sich eine Art Allee mit alten Bäumen, deren hellgrüne Blätter schwarze, gesprenkelte Schatten auf die Steine warfen. „Ich sage dir, Sir: sie wollen unser Gold haben. Dafür werfen sie uns in den Kerker", murmelte Ben Brighton zu Hasard. „Mit etwas Ähnlichem habe ich ge-
22 rechnet, seit sie mit ihrer bewaffneten Übermacht zur ungünstigten Stunde erschienen sind", erwiderte der Seewolf grimmig lächelnd. „Aber sie treiben's so, daß man ihnen eigentlich nicht böse sein kann!" rief der Profos von hinten. „Abwarten", warnte Ferris Tucker. Dieppe war keine arme Stadt. An den prächtigsten Häusern bewiesen Inschriften, daß Handelsherren mit vielen Gegenden der Welt in Beziehungen standen. In Durchgängen und hinter geschwungenen Eingängen stapelten sich alle möglichen Waren. Es roch nach seltenen Gewürzen, nach Wein und nach faulen Äpfeln. Die Kirche mit den auffallenden Portalen hieß Saint-Jacques. Mehr und mehr Leute traten aus den Häusern und blickten dem seltsamen Zug nach. Als sie erfuhren, daß es sich um Engländer handelte, veränderten sie ihr Verhalten nicht. „Immerhin", meinte Dan O'Flynn, „feiern wir in England den vierzigsten Jahrestag der Krönung von Elisabeth. Das wissen auch die Franzosen in Dieppe." „Ein gutes Datum", brummte Roger Brighton, „um uns unser Geld zu mausen." „Ruhe!" donnerte der Profos. Unter anderen Umständen wäre Dieppe ein Hafenstädtchen nach dem Geschmack der Seewölfe gewesen. Sauber und großräumig, voller kleiner Schenken und hübscher Frauen, wie zu sehen war, und mit großen und gut ausgerüsteten Hafenanlagen. Aus den Schenken roch es anregend nach Braten und Fisch, der auf dem Rost schmorte. An jedem vierten Haus war als Zeichen für irgendeinen Ausschank ein Krug aus Eisen zu sehen, oft vergoldet und in zierlicher Schmiedearbeit. Vom Bauwerk des Schlosses ertönten die Geräusche der
Steinmetze und der Kräne. Die Schritte der vielen Männer hallte in den Straßen und unter den Torbögen wider. Leise sagte der junge Hasard zu seinem Bruder: „Unser Väterchen scheint sich zu ärgern, nicht wahr?" „Und zwar mächtig. Aber er hat schon wieder diesen Ausdruck im Gesicht. Du kennst ihn." „Aber ich kenne seinen Plan nicht. Ich bezweifle, ob Daddy überhaupt schon einen Plan hat." Die Soldaten begleiteten sie wachsam, aber keineswegs drohend bis zum Haupttor des Schlosses. An dieser Stelle blieben die französischen Seeleute zurück. Es ging über eine breite Treppe aufwärts. Murrend und fluchend folgten die Seewölfe ihrem Kapitän. Hinter ihnen schlossen sich schwere Portale, aber sie waren noch immer nicht allein. Mindestens die doppelte Anzahl bewaffneter Soldaten umgab die Seewölfe, von denen die wenigsten Pistolen oder schwere Waffen bei sich trugen. In steigender Unruhe warteten sie auf den nächsten Akt dieses merkwürdigen Schauspiels.
Das große Gemäuer, das die Kapitäne „Schloß" nannten, war in großen Teilen eine alte Burg aus riesigen Quadern. Man schätzte das Alter der ältesten Teile auf rund zwei Jahrhunderte. Als Teil der alten Stadtbefestigung und ständig umgebaut, beherrschte sie die Hafenanlagen und einen Teil der Stadt mit ihren spitzgiebeligen Häusern. An vielen Stellen waren Umbauten zu erkennen, die Stile mischten sich von Raum zu Raum. In einigen Kaminen lagen Holz-
23 scheite auf der Glut. Die meisten Mauern verströmten Kühle und Feuchtigkeit. Breite Treppen, neben unglaublich dicken, niedrigen Säulen gebaut, führten in die Gewölbe unter dem Erdboden. Von dort roch es muffig herauf, ein starker Hauch eisiger Kälte schien wie unsichtbarer Rauch über die Stufen nach oben zu kriechen. In einem der obersten Räume, durch große Fenster mit unzähligen kleinen Glasscheiben erhellt, hatten sich die Kapitäne, der Stadtkommandant und der Präfekt um einen riesigen Tisch versammelt. Papiere, Karten und Becher befanden sich auf der rissigen, aber hochpolierten Platte. Unruhig blickte der Präfekt de la Dammartin von einem Schiffskapitän zum anderen. „Zunächst haben wir noch nichts entschieden", sagte er halblaut. „Die Angelegenheit ist delikat, meine Herren. Nicht einmal der Engländer wird uns glauben, daß seine Schiffe auf Befehl unseres Königs in den Hafen gezwungen worden sind. Paris ist weit. Wie weit, das weiß er ganz bestimmt ebenso gut wie jeder von uns." Noyale Fraimbault verbeugte sich kurz und erklärte: „Ich habe mich reichlich weitschweifig ausgedrückt. Meine Männer haben berichtet, daß sich in den Laderäumen Dutzende gefüllter Kisten befinden. Sie sind spanische Handwerksarbeit, einige tragen Aufschriften in spanischer Sprache...." „Keiner von uns zweifelt daran, daß es sich um ein gekapertes spanisches Silberschiff handelt", unterbrach Jean-Marie Querillon. „Wahrscheinlich hat es Kapitän Killigrew aufgebracht. Wir hätten nicht anders gehandelt. Ich finde, es ist unserer un-
würdig, wenn wir die Engländer bestehlen!" Roche-Bernard schlug krachend mit der flachen Hand auf den Tisch. „Eine Ladung Gold und Silber! Wir könnten sie brauchen. Dringend. Und wenn es nur darum ginge, unseren Leuten den ausstehenden Sold zu zahlen." „Im schlimmsten Fall", entgegnete Querillon, „verärgern wir die Königin von England." Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und hatte seine Pranken über dem Bauch gefaltet. An seinem rechten Ärmel fehlte ein Knopf. Das Haar des Kapitäns war an den Schläfen bis weit in den Nacken hinein silbergrau. Er zwinkerte unruhig und fuhr fort: „Ich bin dafür, daß wir uns entschuldigen und die Engländer ziehen lassen. „Ich nicht. Schließlich haben wir uns die Mühe bereitet, auszulaufen und daran zu denken, ein Seegefecht zu führen", sagte Fraimbault. Dammartin hob die Schultern. Er kämpfte sichtlich zwischen dem dringenden Wunsch, über die spanische Beute zu verfügen - natürlich nur zum Wohl der Stadt! - und den Schwierigkeiten, die in irgendeiner Form zu erwarten wären, wenn sie das Schiff beschlagnahmten. „Was tun wir?" fragte er leise. „Wir konfizieren die Galeone!" schlug Fraimbault unverblümt vor. Er selbst würde von dieser Beute keinen Vorteil haben. Oder wenigstens keinen großen persönlichen Gewinn. Vielleicht sprang etwas für sein Schiff und die Mannschaft heraus. „Es würde reichen, wenn wir die Ladung, sozusagen vorläufig, bis auf weiteres, konfiszieren", wandte Querillon ein und gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. „Oder etwa nicht?" „Aber - die Wachen?"
24 „Fürchtet sich Kapitän Fraimbault vor vier Engländern, einem Bordhund und einem bekleideten Affen?" „Vergeßt den Krächzevogel nicht", meckerte de Nazaire und sah sich in der Runde um. Nachdem sich das Gelächter wieder gelegt hatte, rückte der Präfekt mit einem neuen Vorschlag heraus: „Wir verbringen die Engländer zunächst in unser Gefängnis. Aber wir behandeln sie gut und zuvorkommend." „Vortrefflich", sagte Querillon gallig und warf dem riesigen Bild des Königs, das an der Wand zwischen den beiden hohen Fenstern hing, einen herausfordernden Blick zu. „Gastfreundschaft á la Dieppe, nicht wahr?" „Meinetwegen. Nennen Sie es, wie Sie wollen", fuhr ihn der Präfekt an. „Laßt mich aussprechen. Zuerst laden wir die Mannschaft in unser Gewölbe und setzen ihnen reichlich Essen und Wein vor. Wenn sie Ruhe geben, überwältigen wir die Wachen auf den Schiffen. Die Ladung wird hierher transportiert, und wir legen eine Liste der Beute an. Ich bezweifle, ob die Engländer genau wissen, was sie geraubt haben. Selbst wenn wir die Schätze zurückgeben müßten, würde das eine oder andere Stück nun, gar nicht erst auftauchen." „Ein leerer Stadtsäckel zwingt den Verstand des Präfekten, Vorschläge von ausgezeichneter und königstreuer Verschlagenheit zu unterbreiten. Ich stimme zu", sagte Georges Roche-Bernard und stieß ein kurzes, dröhnendes Lachen aus. „Eigentlich sollten wir mit den Stiftungen von Jehan Ang gut bedient sein." „Unsere Kassen sind leer. Man sieht den Rost am Boden der Truhen", sagte Dammartin nüchtern. Jehan Ang war Kaufmann und eine in Dieppe und weit über die Grenzen
der Stadt hinaus geachtete Person gewesen. Was die Kapitäne hier berieten, hatte er mit großem Geschick und ebensolcher Kühnheit durchgeführt. Vor siebenundvierzig Jahren war er gestorben. Seine Methode, zu Reichtum und Ansehen zu gelangen, entbehrte nicht der kaufmännischen Logik. Mit geringen Einstandskosten, entsprechendem Risiko und einer Portion Glück erzielte er schöne Gewinne. Im Handelskrieg, der gegen Portugal geführt worden war, hatte er sage und schreibe dreihundert Handelsschiffe überfallen und gekapert. Seine Filibusterkapitäne achteten darauf, daß Schiffe und Mannschaften unversehrt in ihre Hände fielen. Denn Jehan hatte das portugiesische Königshaus dazu gebracht, die Schiffe zurückzukaufen. Der Reichtum, den Jehan damit erwarb, zeigte sich auch in einer reich geschmückten Seitenkapelle der Kirche des Heiligen Jakobus, die der Kaufmann leichten Herzens hatte stiften können. Natürlich war von den Spenden dieses großherzigen Reeders kein Sou mehr in der Stadtkasse. „Wir wissen genausogut, daß die Kassen der Stadt Dieppe nicht gerade überquellen", sagte Querillon und winkte ab. „Ich bin dagegen. Es gibt nur Scherereien. Und, sollte man bei Hof anderer Meinung sein als Sie, Präfekt, dann sehe ich das Ende Ihrer Karriere nahe." „Auch wahr. He! Amtsdiener!" Der Mann in der abgeschabten Livree, der eben noch den Wein in die prächtigen Pokale eingeschenkt hatte, stand hinter seinem Tischchen auf und blieb abwartend vor dem Präfekten stehen." „Sie wünschen, Monsieur le Präfekt?"
25 „Höre gut zu. Gehe hinunter und sage den Bediensteten, sie sollen für die Engländer Tische aufstellen und ein Essen richten. Unten, im Kreuzgewölbe, neben dem Pulverkeller. Viel Wein! Laßt reichlich Calvados bringen. Und wenn alle satt und betrunken sind, sperren wir sie ein. Ich rechne damit, daß sie randalieren. Dann ist Nachdrücklichkeit legitimiert. Verstanden?" „Ich sehe genau, Sire, auf was Sie hinauswollen", versicherte der Sekretär. Er grinste ebenso wie die meisten anderen Versammelten. Er nickte den Kapitänen zu und verließ mit energischen Schritten den großen, warmen Raum. Jean-Marie Querillon schloß die Augen und begann nachzudenken. Natürlich waren sie um jede Dublone, jeden Real, jeden Sovereign dankbar. Aber nicht so! sagte er sich. Von seinen Männern, die auf der Galeone mitgesegelt waren und sich umgesehen hatten, wußte er alles Wichtige. Dort, wo normalerweise in der Bilge Steinballast lagerte, hatten die Engländer die meisten Steine ausgeräumt und ins Meer geworfen. Bis auf den überraschend sauberen Ballast im Bug und Heckbereich stapelten sie Kisten als Ballast. Das konnte nur bedeuten, daß diese Kisten höllisch schwer sein mußten. Also doch Gold und Silber. Die Galeone mußte praktisch voller Schätze sein. Wenn der Kapitän sich vorstellte, daß englische Schiffe und Soldaten zwei französische Schiffe zwangen, ihre Beute abzugeben, würde das Krieg bedeuten. Trotzdem würde der Präfekt mit seiner List durchkommen. Die Engländer wußten nicht, wie reich sie wirklich waren. Er, Kapitän Querillon, hielt nichts
davon. Er zog es vor, anständig zu bleiben, auch wenn es mitunter recht bitter war.
Nils Larsen stemmte die Fäuste in die Seiten, blickte voller Verwunderung die hastenden Köche und Helfer an, die Tische und das Geschirr. Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Das muß für uns sein, Sir", sagte er verblüfft. „Ein Abschiedsessen für die Seewölfe." „Auf jeden Fall ein Essen, du Pökelhering", antwortete der Profos und musterte mißtrauisch die vielen Gitter. Sie waren ins Mauerwerk der winzigen Fenster versenkt, schützten die Zugänge zu anderen Gewölben und versperrten die Schießscharten, die über den Gewölbeöffnungen angebracht waren. Überall waren massive Gitter, Gittertüren und schwere Stäbe, mit schmiedeeisernen Ringen und Streben miteinander verbunden. „Das hat nichts mit Abschied zu tun", brummte Philip Hasard Killigrew. „Oder was meinst du, Ben?" „Wahrscheinlich wollen sie uns mit ihrer Gastfreundschaft einschläfern", meinte Matt Davies und schwenkte den Haken seiner rechten Prothese. „Und dann gehen sie ans Eingemachte, wie, Kutscher?" Der Koch schnupperte und versuchte herauszufinden, was die Franzosen gekocht und gebraten hatten. „Genau das", sagte er. „Sie spielen mit uns. Oder jedenfalls wollen sie mit uns spielen", erläuterte Dan O'Flynn seine Gedanken. „Wir sollten mitspielen. Weißt du, was ich glaube, Sir?" „Vielleicht ahne ich es", erwiderte der Seewolf ruhig und drehte den Kopf hin und her.
26 Schüsseln und Teller, Gabeln und Messer, Becher und Krüge wurden auf die Tische gestellt. Er bemerkte, daß es Krüge von verschiedener Größe und unterschiedlicher Farbe gab, aber sie waren alle gefüllt. Ausnahmslos. Der rauchige, fruchtige Geruch des normannischen Calvados zog durch das kalte Gemäuer. Der Segelmacher hielt einen hastenden Diener am Arm fest und fragte köpfschüttelnd: „He, Monsieur! Was soll das Ganze?" „Ein Bankett. Zu euren Ehren", lautete die Antwort. Will Thorne war jetzt ebenso klug wie zuvor. Er warf seinem Kapitän einen unsicheren Blick zu. Der Seewolf trug ein unbewegtes, beherrschtes Gesicht zur Schau. „Und die tüchtigen Kapitäne?" wollte Bob Grey wissen. Die Diener hoben ratlos die Schultern. Bisher verhielten sich die Seewölfe ruhig. Sie standen entlang der Wände und warteten mit steigender Ungeduld. Jeder von ihnen war sicher, daß die Diepper irgendeine miese Betrügerei vorhatten. Aber ihr Kapitän hatte sie beschworen, stillzuhalten und zu warten. Immerhin schien ein gewaltiges Abendessen bevorzustehen. So schlimm konnte es also nicht werden. Die Diener brachten Stühle und Hokker. Die Tische waren mindestens für fünfunddreißig Personen gedeckt. „Es gibt im Schloß keinen anderen Raum, der groß genug wäre", versicherte ein vorbeihastender Mann mit einer riesigen, schmutzigen Schürze vor dem beachtlichen Bauch. Er schien ein Koch zu sein, denn er roch durchdringend nach gebratenem Fisch. An den Wänden, die im unteren Teil die typischen Salpeterauskristal-
lisierungen zeigten, standen die bewaffneten Soldaten. Auch sie schienen nicht recht zu wissen, was sie von der Angelegenheit halten sollten. Aber sie blieben wachsam und warteten darauf, von den Engländern angegriffen zu werden. Als schließlich die Kerzen auf dem Tisch angezündet wurden und die Fackeln in den Wandringen loderten, stiegen die Kapitäne und der Präfekt die Treppe hinunter. „Kapitän Killigrew", begrüßte Dammartin den Seewolf. „Sie haben warten müssen. Die Verzögerung tut uns leid, aber jetzt werden wir erst einmal eine kleine Stärkung zu uns nehmen." „Kleine Stärkung ist immer gut", antwortete Hasard. „Und was passiert dann? Ich bin sicher, daß ich nicht ganz verstehe, was das Stadtoberhaupt und die Kapitäne von Dieppe mit uns vorhaben. Was soll das Ganze? Wollen Sie mit uns Streit anfangen?" „Keineswegs. Gehen wir zu Tisch, Kapitän." Dammartin gab den Dienern ein Zeichen, klatschte in die Hände und setzte sich ans Kopfende der Tafel. Die Soldaten zogen ab und stapften eine Treppe hinauf. Fraimbault und Roche-Bernard setzten sich neben den Präfekten. Die Mannschaft des Seewolfs zog die Stühle unter dem Tisch hervor und setzte sich ohne jede Sitzordnung. Hasard fand einen Platz neben Kapitän Querillon, und neben Ben Brighton setzte sich links Nazaire auf einen klobigen Hocker. Der Präfekt stand auf, hob einen großen Becher und rief durch den Lärm, der immer lauter wurde: „Auf das Wohl unserer Gäste, die nicht ganz freiwillig hier bei uns sind! Wie wir den Abend und den nächsten Tag
27 beschließen, werden wir beim Essen besprechen." „Das sollten wir", sagte Hasard und nahm ebenfalls einen vorsichtigen Schluck. Er ließ den Wein sorgfältig über die Zunge rinnen und prüfte den Geschmack. Er war mißtrauisch und beabsichtigte, sich nicht überrumpeln zu lassen. Die Gastgeber hatten etwas Bestimmtes vor, dessen war er sicher. „Wir danken für die Bewirtung, Präfekt." „Es ist uns ein Vergnügen." Die Franzosen waren auf jeden Fall hervorragende Köche und ausgezeichnete Gastgeber. Die Tische bogen sich unter Fisch und Seegetier, Braten und Würsten, frischem Brot aus weißem und dunklem Mehl, Wein und Schnaps, Schinken und vielen Schüsseln, in denen sich Gemüse, Pilze und Obst häuften. Der Geruch der Speisen besiegte das Mißtrauen der Seewölfe, und sie packten sich die Schalen und Teller voll. „Vorzüglich, euer Wein", bemerkte Ben Brighton. „Er wird uns hoffentlich nicht schaden." „Wie immer und überall", entgegnete Nazaire höflich. „Zuviel ist ungesund." „Ihr habt gehört, Arwenacks, was der Kapitän gesagt hat. Sauft nicht zuviel, sonst habt ihr morgen einen Brummschädel!" rief der Erste Offizier. „Sorgt dafür, Mister Tucker und Mister Carberry, das nicht alle stockbesoffen unter den Tisch fallen." „Es reicht, wenn die andere Hälfte sich zurückhält", meinte Mac Pellew. Er mußte neidvoll zugeben, daß die französischen Köche ihr Gewerbe mindestens ebenso gut wie der Kutscher und er verstanden, wenn nicht besser. Philip Hasard Killigrew und Ben Brighton tranken ebensowenig wie Dan O'Flynn. Die Kapitäne ga-
ben sich alle Mühe, leutselig aufzutreten und zum Trinken zu animieren. Die Crew brauchte keine zweite Aufforderung. Die Männer stürzten sich auf die Delikatessen und lehrten die Gastgeber das Fürchten. Wein und Bier zischten in die trockenen Seefahrerkehlen. Die Platten leerten sich in bestürzender Geschwindigkeit. „Armer Don Juan, armer Batuti", murmelte Dan O'Flynn. „Sie wissen glücklicherweise nicht, was für ein Festmahl ihnen entgeht." Hasard nickte, prostete Querillon zu und sagte: „Al Conroy und Big Old Shane geht's nicht besser. Wir werden etwas einpacken und ihnen mitbringen." Er wandte sich nach einem winzigen Schluck an seinen Nachbarn und fragte, ohne das Gesicht zu verziehen: „Habt Ihr in den köstlichen Wein etwa ein Schlafmittel oder gar Gift hineingerührt?" „Dann würden wir uns selbst umbringen", sagte Jean-Marie Querillon ruhig, packte Hasards Pokal und leerte ihn in zwei Zügen. „Sie scheinen uns zu mißtrauen, Kapitän Killigrew. Beweisen wir nicht gerade jetzt, daß wir anfangen, den Vorfall zu bedauern?" Hasards Lächeln war kaum zu erkennen. Er glaubte zu bemerken, daß die drei anderen Schiffsführer und Dammartin auf irgend etwas lauerten. Nicht so Querillon, er war ziemlich sicher. „Wo haben Sie die Galeone gefunden? Ich bin sicher, sie trieb herrenlos und von den Spaniern verlassen irgendwo im Atlantischen Ozean?" Der massige Kapitän grinste gutmütig. Hasard hob die Schultern, breitete die Arme aus und gab eine ausweichende Antwort. „Sie war nicht unbemannt. Ganz im
28 Gegenteil. Die Besatzung griff uns an, kaum daß sie uns in Schußweite hatte. Wir wehrten uns und setzten die Spanier an Land aus. Das ist alles." „Habt ihr schon die Ladung genau untersucht?" „Flüchtig, als wir vor der Reparatur die Kisten umstapelten. Nichts von besonderem Wert, wie mir scheint", erwiderte Hasard. „Wann dürfen wir den Hafen verlassen?" Querillon zeigte ein ratloses Gesicht. „Der Befehl des königs lautet, daß wir Schiffe und Ladung inspizieren und den Wert notieren und melden sollen. Sonst ist noch nichts befohlen oder entschieden worden. Ich muß sagen, daß es mir nicht gefällt, wie ihr behandelt werdet. Aber ich habe auf dieses Verfahren keinen Einfluß." So etwas Ähnliches hatten sich Ben Brighton, Dan O'Flynn und der Seewolf vorgestellt. Jetzt wußten sie, womit sie rechnen mußten. Während die Mannschaft weiter voller Begeisterung tafelte und trank, sagte sich der Seewolf, daß heute nacht nichts mehr passieren würde. Aber morgen hatten sie die französischen Kommandos an Bord. Er gab, ohne daß es die Franzosen bemerkten, Ben Brighton ein Zeichen. Ben kniff ein Auge zu und setzte langsam den Becher ab. Der Plan der Diepper war an einigen Stellen durchsichtig geworden. „Dann sehe ich wenig Belästigung", sagte Hasard. „Die wertvollen Dinge auf unseren Schiffen sind binnen einer Stunde zu ermitteln. Es steht also dem Ablegen morgen früh nichts im Wege." „Man wird sehen. Sprecht mit Dammartin", entgegnete Querillon mit verdächtiger Kürze. Die Seewölfe leerten die Krüge, die
Becher und Gläser. Bis auf unbedeutende Reste räumten sie auch in bester Laune sämtliche Platten und Schalen. Sie aßen langsam und mit viel Genuß und ebensoviel Gelächter. Mit den Dienern, die unaufhörlich leere Schalen wegräumten und volle Krüge hinstellten, konnten sich nur wenige von ihnen verständigen. Die Stimmung war ausgezeichnet, es fehlte nur noch Musik. Draußen war es längst Nacht geworden, und die Wachsamkeit hatte abgenommen. Nur Hasard und die kleine Gruppe, die in der Nähe der Kapitäne saß, waren weder betrunken noch mit dem herrschenden Zustand zufrieden.
Der geräumige Hafen der Stadt lag im Dunkel. Licht und Helligkeit gab es nur vor den Türen und Fenstern der Häuser und an einigen anderen Stellen, an denen Kerzen oder Öllampen in den Nischen flackerten. Über das stille Wasser hallten die Schritte der wenigen Posten, die entlang der Kaianlagen Patrouille gingen. Auch die Hecklaternen der Schiffe verbreiteten schwaches gelbliches Licht. Aus den Kaminen der Häuser stieg der Rauch der Feuer in den klaren Himmel. Ein kurzer, aber starker Regenguß hatte alle Bewohner in ihre Häuser getrieben und auf dem Pflaster große Pfützen zurückgelassen, in denen sich der Mond spiegelte. Vom Meer her wehte ein kalter Aprilwind, der an den dürren Zweigen der Bäume rüttelte. Die Segel der Karavellen waren ordentlich aufgetucht, aber die Seewölfe waren vorsichtig geblieben. Rahen und Segel hatten sie derartig gesichert, daß sie mit wenigen Handgriffen und durch das Lösen einiger Knoten gesetzt werden konnten, ohne
29 aufwendige und langwierige Vorbereitungen. Batuti stellte das Tablett mit Essen auf die Planken und setzte sich neben Don Juan. „Ich sage dir eines", brummte er und ließ Wein in die Becher gluckern. „Morgen früh erscheinen sie und holen uns jede einzelne Dublone von Bord." Die weißen Zähne des riesigen Gambiamannes glänzten in der Dunkelheit. Die Rücken der Männer wurden von einem breiten Lichtstrahl, der aus der Hecklaterne fiel, angeleuchtet. „Genau das. Und alle anderen stekken im Gefängnis oder in irgendwelchen stinkenden Kerkern." „Merkwürdig. Und uns haben sie", der breitschultrige Neger grinste unbehaglich, „in Ruhe gelassen. Al Conroy und Old Shane ebenfalls." Er deutete zum Bug der Schebecke. Dort hatte sich der Schiffsschmied in seinen Mantel und ein paar Decken eingewickelt und schlief. Sein Schnarchen hallte über den halben Hafen. Al Conroy lehnte nahe dem Bugspriet und beobachtete die Umgebung. Die Wachen hatten sich abgesprochen und hielten ihre Waffen bereit. „Ich weiß, das sich unser Sir nicht übers Ohr hauen läßt. Du weißt, wie er sich vorbereitet hat." „Heute nacht passiert aber bestimmt nichts mehr." „Wahrscheinlich nicht." Eine Stunde vor Mitternacht herrschte Ruhe in der Stadt. Nach und nach verloschen die Lichter. Die Sterne funkelten zwischen den treibenden Nachtwolken. Hin und wieder sprang mit einem plötzlichen Klatschen ein großer Fisch aus dem Wasser des Flusses. Die Wachen, die sich an Deck der
Karavelle aufhielten, warfen immer wieder lange Blicke zur Schebecke und zur Galeone hinüber. Schwach glimmte die Glut in Al Conroys Eisentopf, an dem er sich Hände und Füße wärmte. Don Juan brummte undeutlich, weil er den Mund voller kaltem Braten hatte. „Ich gehe unter Deck in die Koje", sagte der Spanier nach einer Weile. „Zwei Stunden, ja?" „Geh nur. Ich bin nicht müde. Außerdem habe ich alles, was ich brauche." Batuti deutete auf seinen Bogen, den Köcher und das Kohlebecken, neben dem die Luntenstöcke lagen. In seinem breiten Gürtel steckten zwei Pistolen.
In den Gemäuern des Schlosses näherte sich das Fest schnell und übergangslos seinem Ende. Ben Brighton und Hasard hatten beschlossen, das Spiel der Franzosen mitzuspielen, denn nur so erfuhren sie die wahren Absichten. Zuerst kippte Hasard junior nach vorn und schlief auf der Tischplatte ein, dann folgte Sven Nyberg ihm gegenüber. Piet Straaten fing zu schnarchen an und rutschte ganz langsam von seinem Hocker zu Boden. Bill gähnte, verdrehte die Augen und fing undeutlich zu singen an. Es wurde nur ein Lallen daraus. Als er seitlich aus dem Stuhl kippte, riß er einen leeren Krug und einen leeren Becher zu Boden. Fast alle Becher und Krüge waren leer. Das Krachen der zerberstenden Tonkrüge erschreckte Paddy Rogers so heftig, daß er zusammenzuckte und einen Leuchter umwarf, dessen Kerzen heruntergebrannt waren.
30 Der Seewolf zwinkerte und rieb seine Augen. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter und lallte: „Müde - nicht mehr nüchtern werde da hinten eine Mütze voll Schlaf nehmen. Bis morgen, Gentlemen!" Er grinste nacheinander die französischen Kapitäne und den Präfekten an, stand mit erheblichen Schwierigkeiten auf und stützte sich auf Querillon, den er halbwegs zu Boden riß. Dann taumelte er rückwärts und prallte gegen die Wand. „Wir helfen ihm, meine Herren", sagte Dammartin leise. „Wir haben ein prächtiges Lager vorbereiten lassen." Diener und Kapitäne kümmerten sich um die Seewölfe. Diejenigen, die weniger betrunken waren, wuchteten die Eingeschlafenen hoch und zerrten sie mit sich. Sie folgten ihrem Kapitän, der hilflos zwischen Querillon und Nazaire hing. Plötzlich wimmelte es wieder von Bewaffneten. Sie eskortierten die Seewölfe und schleppten sie in den tieferen Teil des Gewölbes und an immer dickeren und rostigeren Gittern und Türen vorbei, an denen Ketten und Schlösser hingen. Es dauerte keine zehn Minuten, bis der hinterste Teil der Kellerräume erreicht war. Hier gab es weder Fenster noch Licht. Altes Stroh lag auf dem eiskalten Steinboden. Die gemauerten Gewölbe waren niedrig und strömten scharfen Gestank aus. In einigen abgetrennten Zellen, in denen zwischen regungslosen Gestalten Ratten umherhuschten und leise vor Hunger pfiffen, richteten sich andere Gefangene auf und versuchten, etwas im Licht der blakenden Fakkeln zu erkennen. Eiserne Türen wurden aufgestoßen, schwer fielen die Körper ins Stroh und übereinander.
Schließlich war alles vorbei. Die Ketten rasselten, die Gitter fielen klirrend zu. Die Soldaten verließen den rückwärtigen Teil der Kerkeranlage, kletterten die Stufen einer schmalen Treppe wieder hinauf und versammelten sich in dem großen, hellen Raum, in dem gerade die Tische und die Reste des Gastmahles abgeräumt wurden. „Alles ist ausgezeichnet gelaufen, wie wir es geplant hatten", erklärte der Präfekt zufrieden. „Ihr könnt alle in die Betten. Morgen um neun an den Schiffen. Verstanden?" Der Obrist salutierte, ließ sich vom Grinsen Dammartins anstecken und marschierte mit seinen Männern ab. „Hoffentlich behalten Sie recht, Dammartin", sagte schließlich JeanMarie Querillon kopfschüttelnd. „Ich glaube nicht, daß Sie damit durchkommen. Wenn es Spanier wären, dann..." „Sind aber Engländer", antwortete der Präfekt. Noyale Fraimbault stieß ein grelles Gelächter aus, schlug sich auf die Schenkel und rief, halb erstickt: „Total besoffene Engländer! Die werden drei Tage brauchen, um wieder geradeaus schauen und laufen zu können! Die Kapitäne verließen das Schloß, sogen tief die frische Nachtluft in die Lungen und gingen in verschiedenen Richtungen auseinander. In den Korridoren, Treppen und zahlreichen Räumen des Schlosses kehrte wieder Ruhe ein. Nur die Glut in den Kaminen wechselte mitunter die Farbe von dunkelrot zu weiß. Nicht nur der Präfekt und die Kapitäne - bis auf Querillon - träumten von der fetten, goldenen Beute im Bauch der spanischen „Fidelidad".
31 4. Zuerst rührte sich nichts. Dann ertönte hier und dort ein Ächzen und Stöhnen, ein leiser Fluch, ein lauter Fluch und die Geräusche, die entstanden, wenn in absoluter, pechschwarzer und stinkender Finsternis mehr als zwei Dutzend Männer versuchten, auseinanderzukriechen und in eine Ecke zu gelangen, meist auf allen vieren. Die Stimme des Profos ließ sich vernehmen. „Euch Affenärschen", murmelte er, offensichtlich in bester Laune, „werde ich die Hammelbeine langziehen, wenn ich bemerke, daß ihr zuviel gebechert habt. Licht!" „Gleich", meldete sich Ferris Tukker und zog die Kerze aus seinem Stiefelschaft. Aus einer Tasche holte er Feuerstein und Schwamm hervor und versuchte, Funken zu schlagen. Seine Kameraden, denen ständig irgendwelche anderen Seewölfe auf die Arme, Hände und Zehen traten, grollten und fluchten. Hasard lehnte bereits an der Mauer, und beim flackernden, winzigen Licht der Funken sah er, wie seine Crew auseinanderstolperte. Endlich brannte ein winziges Flämmchen, wurde größer, und schließlich hielt der Schiffszimmermann die brennende Kerze so hoch, wie es in dem engen Gemäuer möglich war. Der Kapitän zeigte, daß er völlig nüchtern war. Seine Stimme war leise, aber von schneidender Kälte. „Jeder, der gerade stehen kann, her zu mir!" Natürlich schoben sich Ben Brighton, der Profos, Ferris Tucker, der Takelmeister Roger Brighton, Dan O'Flynn und die beiden KilligrewSöhne zuerst durch das Gewimmel
der Crew und versammelten sich um Hasard. „Wer hat die Feilen?" fragte Bob Grey. Er hatte an diesem Abend nur Bier getrunken, zwar nicht gerade wenig, aber ihm war nichts anzumerken. Eine zweite Kerze wurde an der ersten angezündet. „Ich habe die große", erwiderte Jan Ranse. Der Kutscher, der durchdringend nach Rotwein roch, tappte zur Gittertür und rüttelte an dem Kettenbündel. „Und ich die kleineren", meldete sich Old Donegal, schob seine Hose in die Höhe und löste den Schifferknoten, mit denen er die Feilen an seinem Holzbein festgebunden hatte. „Achtung! Leise", sagte der Erste Offizier. „Schirmt das Licht ab. Sie scheinen zwar alle Wachen abgezogen zu haben, aber man weiß ja nie genau." „Mir ist schlecht!" röchelte Bill und spie in eine dunkle Ecke. Nach einer Weile keuchte er: „Jetzt ist mir besser." Es stellte sich heraus, daß die meisten Arwenacks zwar gräßlich unter den flüssigen Vorräten gewütet hatten, aber keiner von ihnen war so betrunken, daß er nicht gewußt hätte, wo sie sich befanden. Einige lobten sich gegenseitig wegen der hervorragenden schauspielerischen Leistung. „Ruhe, verdammt!" sagte Hasard scharf. „Wie sieht es aus?" Old Donegal setzte die Feile an und führte ein paar Probezüge aus. „Weich, alt und rostig", brummte er. „Wir kriegen das Schloß bald auf." Wieder redete der Kapitän, ohne sich um das Durcheinander zu kümmern. Die Crew hörte plötzlich zu murmeln und zu lachen auf und lauschte.
32 „Mit größter Wahrscheinlichkeit sieht der Plan unserer charmanten Gastgeber folgendermaßen aus", fing er an, und jetzt hörten wirklich alle mit größter Aufmerksamkeit zu. „Wir schlafen sozusagen unseren Rausch aus. Mindestens drei Tage. In dieser Zeit räumen sie unsere Schiffe leer. Dabei finden sie nicht nur die Beute in den Laderäumen der ,Fidelidad', sondern jedes andere Goldstück, das wir auf der langen Reise erbeutet oder gefunden haben. Ich bin sicher, daß es niemandem von euch besonders angenehm ist, als armer Mann in London einzutreffen." Wütende Ausrufe, Rascheln in den stinkenden Halmen am Boden, dazwischen die leisen Feilgeräusche — es dauerte einige Zeit, bis Hasard fortfahren konnte. „Vielleicht nehmen die Franzosen uns nicht alles. Das würden sie meiner Meinung nicht wagen. Unter dem Vorwand, alles auf Listen schreiben zu müssen, werden sie unseren Besitz mehr als dezimieren. Und auf den ermittelten Wert werden sie Zoll, Gebühren und Strafgelder aufschlagen. Das heißt, daß sie uns ausplündern. Siehst du das auch so, Dan?" „Keine Spur anders", stimmte Dan zu. „Sie rechnen also mit fetter Beute. Wegen uns wird die good old Lissy keinen Krieg anfangen. Das wissen sie." „Weißt du, womit aber keiner in ganz Dieppe rechnet?" fragte dumpf ein Seewolf in der hintersten Reihe. „Nein", antwortete Paddy Rogers einsilbig. Hasard mußte lachen und erklärte: „Damit, daß wir in kurzer Zeit frei sind." Die Crew hatte sich wirklich gründlich vorbereitet, obwohl sie nicht wußten, was ihre Gastgeber tatsächlich vorhatten. Messer und Dolche
waren in den Stiefelschäften versteckt, ein paar Belegnägel und ein halbes Dutzend kleiner Pistolen. Hasard, Dan und Ben trugen Degen und etliches Werkzeug. Ferris Tucker bedauerte, daß er seine Zimmermannsaxt nicht hatte mitnehmen können. „Und? Wie steht es mit den anderen?" fragte der Segelmacher. „Gibt es Ausfälle durch übergroßen Weinkonsum?" „Nein, Will", entgegnete Jack Bowie. „Fast niemand hat viel von dem teuflischen Calvados getrunken." „Wollt ihr einen?" kicherte Smoky. „Ich habe einen halbvollen Krug gerettet." „Das darf nicht wahr sein", stöhnte Philip junior und lachte leise. „Ich schlage vor, wir stärken uns erst, wenn wir im Freien sind." Das dünnste Kettenglied war ausgesucht worden. Die Kette lag fünfmal um die mehr als fingerdicken Stangen der Tür und des geschmiedeten Rahmens. Der Schnitt der Feile, die langsam stumpf zu werden begann, hatte etwa ein Drittel des Eisenringes durchtrennt. Wieder lauschten die Seewölfe, aber entweder gab es tatsächlich keine Wächter, oder die Wachen hatten sich in den entferntesten Teil der Gewölbe zurückgezogen, wahrscheinlich in die Nähe eines wärmenden Kamins. „Einverstanden. Für jeden einen Schluck, auf der schönen Freitreppe des Schlosses", ordnete Philip Hasard Killigrew an. „Mein Plan ist, diesen gastlichen Hafen so schnell wie möglich zu verlassen. Unsere Schiffe sind klar zum Auslaufen. Ich halte die Franzosen für nicht allzu fleißig. Also haben sie unsere Segel nicht aufgetucht und festgezurrt. Ein Trupp lenkt die Wachen und Soldaten ab, die über die Stadt verteilt sind. Sie
Unser Leser A W fragte unter anderem in seinem Brief, den wir in den beiden letzten SW-Nummern veröffentlichten, wie „man eigentlich Autor bei den Seewölfen" würde, und wir gingen im letzten Forum schon darauf ein, wobei wir darauf hinwiesen, der Autor könne nicht wie der Blinde von der Farbe reden (oder schreiben). Genau das ist bei den meisten Veröffentlichungen leider der Fall. In dem Buch eines sehr angesehenen Verlages - es handelt sich um einen Seeabenteuer-Roman - ist zum Beispiel von einem „Gaffelschoner" die Rede, dabei spielt die Geschichte um 1670, und zu dieser Zeit gab es noch keine Schoner. Ein ziemlich dicker Hund, genauso wie eine andere Bemerkung des Autors, der schreibt, daß die „spanische Galeone um ihre Ankerkette" schwoite. Dabei ersetzten erst um 1830 die Ankerketten die Ankertrossen der vorherigen Jahrhunderte. Und in den Worterklärungen am Ende des Buches steht beim Begiff „Backbord": Vom Rudergast (der Mann am Ruder) aus gesehen die linke Seite des Schiffes. Das ist zwar richtig, aber ein Rudergast ist ein Seemann, der in einer Jolle sitzt und mit dem Riemen pullt. Der Mann am Ruder heißt hingegen Rudergänger! Und beim Begriff „Klüse" erklärt der Autor: Öffnung in der Bordwand züm Durchführen eines Ankers oder eines Taus. Wie ein Anker durch eine Klüse „geführt" werden soll, weiß wohl nur der Autor selbst, trotzdem ist das seemännischer Unsinn. Das sind nur einige herausgegriffene Beispiele, im Roman selbst stolpert man über jede Menge von seemännischem Stuß, und wenn man was von der Seemannschaft versteht, dann ärgert man sich, diese Buch gekauft zu haben. Im Grunde sind Autor und Verlag reichlich unverfroren, dem Leser als Käufer so etwas anzubieten. Nachfragen in diesem Fall ergaben, daß auch der Verlagslektor, der diesen Roman „redigiert" hatte, von der Seefahrt total unbeleckt war. Er hätte diese Stellen sonst ja verbessern können, nicht wahr?
Auch wir machen unsere Fehlerchen (oder sind nicht fehlerfrei), und wir entschuldigen uns, wenn uns einmal ein Fehler unterlaufen ist. Aber wenn ein ganzer Roman - einschließlich der Begriffserklärung - die seemännische Unwissenheit seines Verfassers (und des Bearbeiters) offenlegt, dann ist das schon eine ganz böse Sache. Das ist es, was wir an dieser Stelle ansprechen wollten. Einen Urlaubsgruß von T. J , H , 5160 Düren, erhielten wir in diesen Tagen. Er schreibt: Viele Grüße aus dem Land der spanischen Schatzgaleone. Hier ist alles wunderschön bis auf die Tatsache, daß es hier viel zu heiß ist. Zum Thema Serie sage ich, daß es gut ist, daß die Seewölfe nicht nur seßhaft sind oder nur rumklüsen. Es gehört Abwechslung in eine Serie wie die Ihre. Mir gefallen sie, wie sie sind. Weiter so... Ihr T J Herzlichen Dank, lieber Herr J ! Den folgenden Brief schrieb S M , Straße , 3470 Höxter : Liebe Seewölfe-Redaktion! Seit Band 419 lese (verschlinge) ich Eure Serie und bin dabei immer neugieriger auf die vorhergehenden Hefte geworden. Da ich es mir als Schülerin (noch) nicht leisten kann, mir diese Hette zu kaufen, habe ich eine Frage an die Mitleser: Gibt es jemanden, der bereit ist, mir seine Hefte - natürlich gegen Erstattung der Portokosten - zu leihen? Ich würde mich sehr freuen - wenn ja! Eine gute Behandlung der Hefte ist ja wohl Ehrensache. Jetzt habe ich aber noch etwas zum Streit um die Zyklen zu sagen. Mir hat bisher jede Art von Heft gefallen, obwohl die Zyklen wesentlich ausführlicher und dementsprechend detailhaltiger sind. Am besten, Ihr macht einfach weiter, wie Ihr es für richtig haltet. Mit freundlichen Grüßen -S M Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Das Bild auf den beiden vorigen Seiten zeigt eine typische Fregatte, das heißt ein vollgetakeltes Segelschiff aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Es handelt sich um die „Bernstorff", die offenbar 1795 in Flensburg gebaut worden ist, und zwar für den Reeder und Kapitän Hans Christensen Thyboe in Flensburg. Gemalt wurde die ,,Bernstorff" von dem uns nun schon bekannten Antoine Roux, und zwar 1805 in Marseille, wie aus einer Unterschrift am Bild hervorgeht. Offenbar befand sich die „Bernstorff" zu diesem Zeitpunkt dort, und der Kapitän nahm die Gelegenheit wahr, sein Schiff von dem berühmten Marinemaler „porträtieren" zu lassen. Charakteristisch für diesen Zeitabschnitt des Fregattenbaus ist der weit vorstehende Fockmast mit dem langen Vorgeschirr (Bugspriet und Klüverbaum), an dem nur zwei Stagsegel gesetzt sind: der Klüver und der Außenklüver. Am Bug sieht man noch ein Überbleibsel aus einer älteren Takelungsform, die Blinderah, an der früher die Blinde gefahren wurde. Alle drei Masten fahren Rahsegel, jedoch nur drei am Fockmast und am Großmast: unten das Fock- und das Großsegel, darüber das Vormars- und das Großmarssegel und darüber das Vorbram- und das Großbramsegel. Zwischen Großmast und Fockmast ist ein Bramstagsegel gesetzt. Achtern am Kreuzmast sind das Besansegel (ein Gieksegel, d.h. Gaffelsegel), das Kreuzmars- und das Kreuzbramsegel gesetzt. Die Kreuzbramrah und die Vorbramrah sind abgefiert und fangen den Wind nur in einem losen Bauch ein, denn reffen ließen sich diese Segel nicht. Das Großsegel ist aufgegeit, damit der Wind günstiger ins Focksegel einfallen kann. Die gesetzten Segel und die Darstellung des Seegangs lassen auf etwa 5 Windstärken schließen. Achtern am Heck hängt die Kapitänsjolle, eine weitere, größere Jolle steht zwischen Großmast und Fockmast, dem üblichen Platz bei Schiffen dieser Größe. Bei den beiden Balken über dieser Jolle handelt es sich offenbar um Ersatzspieren oder Spieren fürs Ladegeschirr.
37 werden jetzt allerdings selig schlafen und von Beute träumen, aber sie stellen für uns eine Gefahr dar." Edwin Carberry, der im fauligen Stroh nach einer Spake oder einem geraden Stück Eisen suchte, drehte den Kopf und brummte: „Dort, wo sie die neue Kirche bauen, findet sich etwas zum - wie du so schön sagst zum Ablenken, Sir." „Dann wirst du dich darum kümmern", bestimmte Hasard. „Mit dem größten Vergnügen, Sir", versicherte der Profos grimmig und zog einen kurzen Dolch mit kantiger Schneide aus dem Stiefel. Inzwischen war Old Donegal von Luke Morgan abgelöst worden, der mit der zweiten, größeren Feile weiterarbeitete. „Um die vier Karavellen müssen wir uns auch kümmern", erklärte Roger Brighton. „Jeweils vier von uns", sagte Hasard. „Natürlich haben sie Wachen auf den Decks. Ihr wißt, daß die Karavellen unsere Verfolger sein können?" „Klar." „Bleibt im Dunklen. Schleicht euch leise an. Wenn einem von euch ein Dolch fehlt, laßt ihn euch vom Kameraden geben. Ich sage euch jetzt, was ihr zu tun habt." Wieder herrschte Stille, als Hasard und der Erste erklärten, wie sich einer der Teile ihrer Befreiungsaktion gestalten sollte. Immerhin gab es auf den Karavellen einige Geschütze, und auch auf den Wällen des Schlosses hatten sie Kanonenrohre gesehen, ebenso am Fuß des SemaphoreTurms über der Küste. Vier Gruppen zu je vier Männern bildeten sich nach kurzer Beratung, und Messer und Dolche tauschten ihre Besitzer. Aus einer der benachbarten Zellen ertönte ein Stöhnen. „Seid ihr die Engländer?" fragte
eine schwache Stimme in spanischportugiesisch-französischemKauderwelsch. „Ja. Hört man das nicht?" „Ich bin daran schuld, daß ihr hier seid", stotterte der unsichtbare Gefangene. „Nehmt mich mit. Ich helfe euch." „Du bist schuld? Wie das?" Sie erfuhren, während die Feile weiter knirschte und leise kreischte, daß dort ein Seemann eingesperrt war, der beim Kampf der Seewölfe mit den spanischen Verfolgern über Bord gefallen war - nach einem Geschoßeinschlag und in Landnähe -, und sich schwimmend bis in die Nähe eines Fischerbootes hatte retten können. Halbtot hatte man ihn aus dem Wasser gezogen. Die Fischer hatten vor der Gironde-Mündung ihre Netze ausgeworfen und waren nach Westen abgetrieben worden. Natürlich hatte er ihnen erzählt, warum die Spanier die Schebecke verfolgten. Schließlich hatte starker Westwind eingesetzt und die Fischer zum Land gebracht. Von Blaye an der Gironde war er schließlich bis hierher gebracht worden. Überall hatte man ihn befragt. Das Gerücht hatte aus der spanischen Galeone ein riesiges Schiff werden lassen, das bis zu den Speigatten mit Gold und Geschmeide gefüllt sein sollte. „Gerüchte sind schneller als der Blitz", jammerte der Gefangene in seinem Kauderwelsch. „Ich komme hier nicht heraus, wenn ihr mir nicht helft." „Du bist Spanier?" „Nein. Portugiese. Man hat mich gezwungen, auf der verdammten Karavelle zu dienen." „Wenn wir den Schlüssel finden", versprach Hasard, „holen wir dich heraus."
38 Es dauerte nur noch einige Minuten, dann rutschte die Feile ins Leere. Das Kettenglied war durchgefeilt. Der Profos packte mit seinen Pranken die Kette und zerrte daran, bis er schwitzte und keuchte. Aber das schmiedeeiserne Glied bewegte sich nicht auseinander. Fluchend und nach Luft schnappend, schob er den Dolch in den metallisch glänzenden Spalt und versuchte, die beiden Hälften auseinanderzuhebeln. Mit gewaltiger Kraftanstrengung gelang es ihm, aber der Dolch verbog sich und brach schließlich ab. Das Rucken, Ziehen und Zerren an der Kette hatte sie angespannt. Ein halber Schlag der klirrenden Kette war so lose geworden, daß es unter Verrenkungen gelang, das nächste Glied auszuhaken. „Endlich!" Langsam und vorsichtig, um kein lautes Geräusch zu verursachen, wurde die Kette abgewickelt und ins Stroh gelegt. Mit mißtönendem Knirschen und Kreischen öffnete sich die Gittertür nach außen. „Ruhe! Ihr alle müßt so leise wie möglich sein!" zischte Hasard junior und zog eine der schwarzen, kalten Fackeln aus der Wandhalterung. „Sucht nach den Schlüsseln für die Zellen." Die Kerzen waren ein gutes Stück niedergebrannt. In ihrem Flackerlicht sahen die Seewölfe, daß in einem halben Dutzend kleiner, durch Mauern abgetrennter Zellen mindestens neun Gefangene lagen. Einige schliefen so tief, daß sie vom Befreiungsversuch nichts gehört hatten. Der Portugiese, ein junger Mann in abgerissener Kleidung, aber in kniehohen spanischen Stiefeln, rüttelte an den Gitterstäben. „Sucht Lampen. Steckt sie an, aber
hängt ein Tuch oder eine Jacke drüber", flüsterte der Kutscher. „Hier, ich habe eine." In einzelnen Gruppen, Schritt für Schritt und auf den Zehenspitzen, entfernten sich die Seewölfe von der offenen Gefängnistür. Ihre Schatten geisterten riesig groß über die Wände. Der vage Lichtschein glitt über den Boden und über die Oberflächen der Q u a d e r , auf denen Schimmel wuchs. Wieder flüchtete mit leisem Pfeifen eine Ratte. Plötzlich spürten sie auch erneut den stechenden Gestank, der hier unter dem Erdboden herrschte. Der Seewolf, seine Söhne und Dan O'Flynn erreichten die unterste Stufe der Treppe, ohne einen Schlüsselbund entdeckt zu haben. Auch der Raum, in den die Treppe mündete, schien leer zu sein. Völliges Dunkel herrschte, soweit sie feststellen konnten. Mit angehaltenem Atem tappten sie, die Flamme der einen Kerze sorgfältig mit den Händen abschirmend, Stufe um Stufe aufwärts - vier Männer, die Dolche in der Hand oder zwischen den Zähnen. Hinter ihnen warteten die Seewölfe. Inzwischen schienen alle wieder restlos nüchtern zu sein. Ab und zu rülpste jemand. Fast alle rochen nach Wein. Es mochte sein, daß sie ihre Ärmel damit getränkt hatten. Immerhin waren sie satt und erinnerten sich an das ausgezeichnete Essen. Die Franzosen würden fluchen, wenn sie merkten, daß auch die Kosten dieses gigantischen Festessens ihren Stadtsäckel belasten würden, ohne daß sie dafür etwas von der goldenen und silbernen Beute empfangen hatten. Hasard und der Profos erreichten die obersten Stufen, duckten sich und spähten in den schwarzen Abschnitt des breiten Hauptkorridors.
39 „Niemand", flüsterte Hasard, „Aber - dort hinten!" „Ich sehe die Kerle." In knapp hundert Schritten Entfernung loderten kleine Flammen aus dem breiten Kamin mit der Marmorplatte und den steinernen Fabeltieren an den Flanken. Drei Männer lagen fast in Sesseln aus dicken Holzbalken, die mit Fellen und Decken ausgeschlagen waren. Zwei von ihnen sahen schon aus dieser Entfernung so aus, als befänden sie sich in tiefem Schlaf voller schöner Träume. „Ben, Ferris, Ed - es muß, wenn wir dort sind, verdammt schnell gehen. Sie dürfen keinen Laut von sich geben. Klar?" „Aye, Sir." Hasard winkte Luke Morgan heran und gab ihm die flackernde Kerze, die nur noch drei Fingerbreiten hoch war. „Ihr folgt - leise! - nach, wenn ihr seht, daß wir die Wachen ausgeschaltet haben. Verstanden? Aber so leise wie möglich." „Verstanden, Sir." „Gut. Los, Gentlemen." Die Männer schoben sich mit langen, unhörbaren Schritten entlang der dunkelsten Stellen an der geraden Wand auf den Kamin zu. Über ihnen lächelten die Porträts irgendwelcher Diepper Handelsherren oder Fürsten von der prächtig gerahmten Leinwand hinunter. Und noch ältere Herrscher, die man in Stein gehauen und fein modelliert hatte, richteten ihre blinden kalten Augen auf die gespenstische Szenerie. Die Köpfe von mindestens einem Dutzend Seewölfe hoben sich bis zur Nase über die Kante der obersten Stufe. Sie beobachteten, wie sich die kleine Gruppe dem Feuer näherte. Zweimal blieb Ben Brighton kurz stehen, winkte nach hinten und deu-
tete auf kleine Laternen, die an eisernen Auslegern oder solchen aus Messing an der Wand hingen. Es waren Metallkonstruktionen mit Glasscheiben an den vier Seiten - genau das, was die Seewölfe in den Stunden zwischen jetzt und Sonnenaufgang dringend brauchten. Sie erreichten die Linie, die aus Schwärze und Helligkeit gebildet wurde, und näherten sich den Wachen, die an einem Knotenpunkt mehrerer Treppen und dreier Korridore nahe vom Eingangsportal saßen, nicht von hinten, sondern genau von der Seite. „Waffen, Dad!" hauchte Philip junior. Hasard nickte nur und drehte den Dolch in seiner Hand um. Dann deutete er nacheinander auf die bewegungslosen Posten und seine Leute und sich. „Es muß lautlos abgehen", flüsterte er in die Ohren der Seewolfe. „Und wahnsinnig schnell. Jeder kennt sein Ziel." Sie nickten in der Dunkelheit. Dann spannten sie ihre Muskeln. Hasard hob den rechten Arm. Als er ihn senkte, sprangen sie aus dem Dunkel in die vom Kaminfeuer erhellte Zone. Sie liefen auf Zehenspitzen. Die beiden Schlafenden wachten gar nicht mehr auf. Schwielige Hände legten sich ihnen auf Mund und Nase. Gleichzeitig tauchten aus der Finsternis Fäuste oder Knäufe von Dolchen auf. Es gab nur ein unterdrücktes Murmeln und mehrere kurze, trockene Schläge, dann erschlafften die ausgestreckten Körper in den bequemen, weichen Sesseln. Derjenige, der noch wach war und eben nach dem Weinkrug greifen wollte, sah rechts neben sich einen drohenden Schatten in die Höhe
40 wachsen, spürte einen Luftzug und vies auf die Marmorplatte über dem wurde dann fast senkrecht aus dem Kamin, der erhebliche Wärme und ein wenig rotes und weißes Licht verSessel gerissen. Ein endgültiger Schlag verwan- strömte. delte für eine Gedankenlänge sein „Die Schlüssel!" stieß er hervor. Kinn in eine Zone des Schmerzes, Einige Atemzüge später war eine dann verlor er das Bewußtsein und der ausgehängten Laternen angezünspürte nicht mehr, daß er mit seinem det. eigenen Gurt gefesselt wurde. Philip junior nahm den klirrenden Es dauerte nur ganz kurze Zeit, Schlüsselbund und den Tragering der dann waren die drei Wachen aller ih- Laterne und sagte leise: „Wartet auf rer Waffen beraubt. mich. Ich lasse sie alle frei. WahrSie saßen nach wie vor in den Ses- scheinlich vergrößern sie das Durchseln, aber sie waren bewußtlos und einander." im Reich rasender, farbiger Träume. „Was uns nur helfen kann", Ihre Füße waren mit den breiten brummte Smoky und kontrollierte, Gürteln straff gefesselt und an den ob seine Muskete richtig geladen und Beinen der Sessel festgelascht. Ein mit genügend Pulver versehen war. abgerissener Jackenärmel diente als „Beeil dich. Wenn etwas schiefgeht, zuverlässige Fesselung der Arme und Philip, treffen wir uns an Bord der Hände. Schebecke." Ein Tuchfetzen bildete einen Kne„Alles klar, Dad." bel, unter dem sie gerade noch atmen Philip eilte davon. Jetzt brauchten und leise stöhnen konnten. Pistolen, sie nicht mehr so viel Rücksicht zu Musketen, Degen und Dolche - jetzt nehmen. Trotzdem war so gut wie wurden sie unter den heranhuschen- nichts zu hören, als der junge Killiden Seewölfen verteilt. grew verschwand, um die GefangeBen Brighton und Hasard näherten nen aus ihren stinkenden Zellen hersich dem großen, aus edlem Holz ge- auszulassen. Hasard drückte die fügten und mit schönen Schnitze- große Klinke hinunter, und die Türreien samt komplizierten schmiede- angeln knirschten nicht ein bißchen, eisernen Schlössern und Riegeln ver- als das große Halbportal aufschwang sehenen Tor. und einen Strom kalter, frischer Luft „Alles klar?" hereinließ. Die Arwenacks waren wilde und Vorsichtig spähte er hinaus. ungestüme Burschen. Aber in entDie Treppe war leer. Mondlicht scheidenden Augenblicken verhiel- zeichnete sich schwach auf dem ten sie sich gehorsam und schwei- feuchten Stein ab. Die Kiesfläche gend wie Galeerensträflinge, vor- zwischen der untersten Stufe und den ausgesetzt, sie hatten verstanden, um kleinen Säulen und der Brüstung, was es ging, und was sie zu tun hat- zwanzig Schritte breit, war ebenfalls ten. Gerade jetzt verteilten sie sich leer. Der Mond würde sich in einer wieder und stellten sich in einzelnen halben Stunde hinter den BaumreiGruppen zusammen. Hasard schob hen und den niedrigen Hügeln verlangsam einen Riegel nach dem ande- stecken. Hasard stieß das Portal weiren zurück und legte seine Hand auf ter auf und winkte seinen Männern. die Klinke. „Los! Schnell! Ihr wißt, was ihr zu Zufällig fiel der Blick von Matt Da- tun habt? Gut. Es hat sich nichts ge-
41 ändert - die Crews der Schiffe auch nicht. Wenn es nötig ist, greift Al Conroy ein." Einer nach dem anderen lief, sprang und huschte an ihm vorbei ins Freie und versuchte, so schnell wie irgend möglich den schützenden Bereich des Schattens und der Dunkelheit zu erreichen. Die Stadt Dieppe im Schutz der Türme, Tore und Mauern lag im tiefen Schlaf unter ihnen. Ganz schwach blinkten die wenigen Lichter aus dem Hafen herauf, aber es war nicht klar zu erkennen, zu welchem Schiff welche Laterne gehörte. Irgendwo heulte ein Hund. Zwei andere, in entgegengesetzter Richtung, antworteten mit schauerlichem Jaulen. „Plymmie wartet auf uns. Hörst du?" murmelte Old Donegal und schüttelte sich. „Hier, nimm einen Schluck, Granddad", erinnerte ihn Jung Hasard an den Calvados, dessen herrlicher Geruch die Seewölfe bis zum Ausgang begleitet hatte. Auch der Profos nahm einen Schluck, nachdem Old Donegal getrunken hatte. Dann drehte er sich vorsichtig mit der kleinen, verdunkelten Laterne herum und winkte seinen Leuten. „Los! Erledigen wir unseren Teil, und wenn wir im Hafen Ärger kriegen, erledigen wir das auch." Edwin Carberry und fünf Seewölfe schoben sich nacheinander durch den breiten Spalt und verschwanden nach rechts in der Dunkelheit. Ihre Schritte knirschten auf dem feinen Kies, der die Wege des Schlosses markierte. Als der letzte der Seewölfe in der Dunkelheit zwischen den ersten Häusern verschwunden war und niemand mehr ihre Schritte hörte, drehte sich Hasard um.
„Sechzehn Männer, viermal vier ihr dürft auf keinen Fall gesehen werden. Notfalls wartet ihr, bis wir an Bord sind und euch Äxte und Schiffshauer ausgeben." „Aye, aye, Sir", murmelten sie. Hasard und Ben Brighton zählten von eins bis sechszehn, während sich die Seewölfe, notdürftig bewaffnet und ausnahmslos nach Wein riechend, ins Freie retteten. Einige wurden von ihren Kameraden gestützt, während sie versuchten, an der Nachtluft wieder völlig nüchtern zu werden. Einige stolperten, aber sie waren deswegen nicht langsamer als die anderen. „Nach ein paar Schritten werden sie schon wieder wissen, wo Steuerbord und Backbord ist", murmelte Dan O'Flynn und schüttelte den Krug, der fast leer war. Hasard fragte Old Donegal leise: „Du schaffst es, oder siehst du Schwierigkeiten?" „Wenn ich auf den Decksplanken umherspringe wie der Affe, dann geht's auch auf dem Pflaster, klar?" „Gut. Wir versuchen, unbemerkt an die Schiffe zu gelangen. Los geht's, Freunde... Halt! Wo ist Philip mit den Gefangenen?" Ihre Köpfe fuhren herum. Am Ende des Korridors schwankte eine Laterne. Jung Philip führte einen Zug von etwa zehn Gestalten an, die versuchten, so schnell wie möglich den Ausgang zu erreichen. Sie stützten und halfen sich gegenseitig. Als sie die kleine Gruppe um Hasard sahen, verdoppelten sie ihren Eifer. Als sie den Türspalt erreichten, lebten sie in der kalten Zugluft geradezu wieder auf. „Was hast du ihnen gesagt?" fragte Hasard seinen Sohn. „Ich habe ihnen erklärt, daß sie sich ohne unsere Hilfe bis zu dem Ha-
42 fengelände durchschlagen müßten. Dort helfen wir ihnen, ein Fischerboot zu stehlen. Damit können sie segeln, wohin sie wollen." „Das war die richtige Entscheidung. Sie kennen den Weg?" „Ja. Sie werden genau das versuchen, was ich ihnen vorgeschlagen habe. Wir werden ihnen helfen, wenn es geht." „Versprochen. Aber jetzt - höchste Zeit!" Hasard zog seine beiden Söhne mit sich, nachdem er das Portal wieder geöffnet hatte. Zusammen mit Ferris Tucker und Old Donegal liefen die Seewölfe die Stufen hinunter. Langsamer folgten ihnen die Gefangenen. Beiden Gruppen war der kürzeste Weg hinunter zum Hafen bekannt. Aber nachdem sie die ersten Häuser erreicht hatten, bog Hasard nach links ab Und murmelte: „Leise. Wir sind noch nicht da." Selbst Old Donegal bemühte sich, mit seinem Holzbein so leise aufzutreten, wie es nur möglich war. Dicht an den Hausmauern, unter den Dachvorsprüngen und durch den Schatten, hin und wieder durch schmale Streifen von schwacher Helligkeit, vorbei an geschlossenen Türen und Läden, so liefen die Seewölfe im Zickzack durch die schmalen Gassen. Der größte Teil der schmalen Straßen, die hin und wieder von seltsam schrägen Treppenabschnitten unterbrochen waren, führte abwärts. Also waren sie auf dem richtigen Weg. Mit einigen Schritten Abstand näherten sie sich dem Hafen. Hinter niedrigen Hausgiebeln hoben sich schon schwach gegen den tiefdunklen Sternenhimmel die Mastspitzen der Schiffe ab. Hasard erreichte als erster das Ende einer gekrümmten Gasse. Vor ihm lag der freie Platz zwischen den
Häuserfronten und dem Kai. Hier war der Markt aufgebaut, es roch noch jetzt nach Fisch und gammeli-. gern Gemüse. Hasard breitete die Arme aus und hielt die nachfolgenden Seewölfe auf. Sie drängten sich hinter ihm zusammen und spähten an seinen Schultern vorbei. „Die ehrenwerten Franzosen", flüsterte Ferris Tucker voller Erstaunen, „haben mit der Plünderung noch nicht angefangen." „Das erleichtert unser Vorhaben", wisperte der Seewolf zurück. „Wir schleichen unbemerkt an Bord der Schebecke. Philip! Du gehst vor und beruhigst Conroy und Big Old Shane, klar?" „Verstanden, Sir." Philip huschte davon. Er bewegte sich im Zickzack bis zu den ersten mannsdicken Baumstämmen, die als Poller dienten. Die Tauenden, mit denen die Karavelle am Heck längsseits des Kais belegt worden war, bildeten dicke Schlaufen und Bündel am Boden. Der junge Killigrew kauerte sich dahinter und peilte in alle Richtungen. Er sah die Häuserfront, seine Leute und die beiden Posten achtern auf der Karavelle, die in jede Richtung schauten, nur nicht in seine. Bis zum Heck der Schebecke waren es etwa vierzig große Schritte. Noch hatte niemand etwas bemerkt. Der junge Seewolf duckte sich noch tiefer zu Boden, preßte die Handflächen auf den nassen Boden und bewegte sich so dicht an der Steuerbordseite der französischen Karavelle entlang, daß seine Schulter die Planken streifte. Glücklicherweise hatte der Regen den Kai leergespült, und Philip erreichte den nächsten Poller, ohne daß die Wachen etwas bemerkten. Im Schutz des hochragenden Bugs der
43 Karavelle erreichte der Seewolf den nächsten Poller, glitt um ihn herum und riskierte es, sich mit einem Satz an Bord der Schebecke zu schwingen. Gleichzeitig zischte er: „Arwenack! Ich bin's." Lautlos schlich er bis neben den Niedergang zum Achterdeck und wartete. Unter Deck winselte die Bordhündin. Zwei Schatten bewegten sich langsam, dann setzte sich Al Conroy neben ihn auf die Planken. Big Old Shane blieb kurz stehen, strich seinen wilden grauen Bart und murmelte: „Gut gemacht. Habe schon gewartet. Ich halte der verdammten Plymmie das Maul zu." „Gute Idee. Sonst werden die Franzosen mißtrauisch." Hastig berichtete Jung Philip, was passiert war, und wie der Plan seines Vaters aussah. Unter Deck beruhigte der Schmied von Arwenack die Hündin, dafür fing Sir John undeutlich zu zetern an. Noch während Al Conroy zuhörte und Philip flüsterte, erreichte auch Jung Hasard die tiefste Stelle der Kuhl mit einem seitlichen Schwung über das niedrige Schanzkleid. Er winkte kurz und ging langsam und aufrecht, als wäre er eine der Schiffswachen, über die Planken zum Bug. Don Juan und Batuti lehnten schon weit über das Heck und grinsten breit. Hasard erklärte, was zu erklären war, aber in seine letzten Worte mischte sich ferner Lärm und Geschrei. Dann sahen sie die Flammen und den Rauch.
Edwin Carberry und seine Mannen erreichten die Baustelle. Vor ihnen erstreckten sich die wuchtigen Fundamente der Kirche Saint-Rémy und
ein paar aufragende Mauern. Ob es ein Neubau oder ein Umbau war, interessierte die Seewölfe nicht. „Wie ich gesagt habe", murmelte Dan O'Flynn. „Nicht bewacht. Was sollten auch die Bürger von Dieppe hier stehlen wollen, und warum?" „Keine langen Gespräche", fauchte der Profos. „Sucht lieber etwas, das schön und lange brennt." Sie schwärmten aus. Zwei Seewölfe trugen die brennenden Laternen und hatten die Scheiben mit Tüchern verhüllt. Der Bauplatz war voller Ziegel und Steinen, überall reckten sich Gestelle und Kräne in die Höhe. Schließlich ertönte aus der Dunkelheit ein kurzer, leiser Pfiff. Roger Brighton stand vor einem Stapel halbierter Strohballen, zwischen denen halbfertige Figuren standen. Dahinter war säuberlich ein großer Stoß Balken, Bohlen und Bretter aufgeschichtet. „Alles klar", brummte Matt Davies. „Bringt ihr so etwas wie eine Lunte zustande?" „Schon dabei." Die Seewölfe schichteten Stroh und Bretter übereinander und bildeten in dem Bauholzstapel eine eckige Höhlung. Sie nahmen die Kerze aus einer Lampe, befestigten sie auf einem trockenen Brett und umgaben es mit Stroh. Ringsherum schichteten sie noch mehr Stroh und Holzsplitter auf, die überall herumlagen. Nach kurzer Zeit waren sie sicher, daß ihre Vorbereitungen den Erfolg haben würden, den sie wünschten. Sie schirmten das Licht mit ihren Schultern ab, als der Kerzenstummel wieder angezündet wurde. Die Flamme brannte ruhig, nur zwei Fingerbreiten vom trockenen Stroh entfernt. „Schnappt euch ein paar Prügel und tut so, als wären es Musketen!"
44 rief Dan O'Flynn unterdrückt. „Und jetzt zum Hafen!" Die Öffnung wurde mit drei breiten Brettern flüchtig abgedeckt, dann hasteten sie vom Baugelände und blieben erst stehen, als sie den Anfang einer breiteren Gasse erreicht hatten. Hier rissen sie die Stoffetzen von der anderen Laterne, legten sich die Holzstangen über die Schultern und bildeten Zweierreihen. „Im Gleichschritt - marsch", kommandierte der Profos leise und bereitete sich darauf vor, jedes denkbare Hindernis aus dem Weg zu räumen. Sie gingen schnell, aber mit leisen Schritten durch diesen Teil der schlafenden Stadt. Als sie die ersten Stimmen, das wütende Gebell mehrerer Hunde und das Geschrei hörten, hatten sie bereits die Hafengegend erreicht. Ohne sich umzudrehen, marschierten sie geradewegs auf die Schebecke zu. Hinter den Giebeln und Kaminen der Häuser wirbelten die ersten Funken in die Höhe. Die Wachen auf den Karavellen waren aufmerksam geworden. Sie erkannten ihren Irrtum erst, als sich Carberrys Gruppe über das Schanzkleid schwang und die Holzknüppel auf die Planken klapperten. Der Kutscher und Mac Pellew verschwanden unter Deck und kehrten mit Beilen und Schiffshauern wieder zurück. Bedächtig hantierte Al Conroy an seinen Culverinen. Die Überzüge hatte er bereits entfernt, noch ehe Jung Philip an Bord geschlichen war. Jetzt lud er die Drehbassen und kontrollierte sorgfältig, ob das Pulver in den Zündlöchern noch trocken war. Carberry und Dan O'Flynn bewaffneten sich, sprangen auf den Kai und liefen auf die Karavelle zu, die hinter der Schebecke vertäut hatte.
Sie hetzten im Zickzack über die wuchtigen Granitquader, flankten auf die Kuhl und stürmten auf die Wachen los. 5. Die Posten, die den Hafen in der Nacht kontrollierten, befanden sich gerade in der hintersten Ecke des Handelshafens und bewegten sich zwischen den Warenstapeln, den Schiffen und den Lagerhäusern hin und her. Leise sprachen sie miteinander, froren ein wenig und entschieden, wieder zurück zu den fremden Schiffen zu marschieren und nachzusehen, ob auch dort alles in Ordnung war. Mit den vier Engländern hatten sie seit Anbruch der Dunkelheit kein Wort gesprochen. Auf halbem Weg hörten sie das Kläffen der Hunde, dann das Geschrei, und als sie den Rand des Fischerhafens erreichten, begannen die Feuerglocken zu läuten. Einige Blicke genügten ihnen. Nichts hatte sich gerührt. Unverändert lagen die eigenen und fremden Schiffe längsseits an den Kais. Kein Kampf, keine Schüsse, keine rennenden Männer. „Feuer!" stieß einer hervor. „Am Stadtrand, wenn ich richtig sehe." „Wir müssen helfen! Es ist die Kirche!" „Ausgerechnet heute. Das wird . . . " Sie wandten sich nach links und liefen auf den fernen Schein der Flammen zu, während der Stadtwächter auf dem Glockenturm wie verrückt an den Glockenseilen zog. Nach und nach wurden die Fenster geöffnet, Lichter angezündet, und die Einwohner stolperten, Eimer in den Händen und aufgeregt rufend, aus den Häusern.
46 In diesen aufgeregten Augenblikken kümmerte sich niemand um die fremden Schiffe.
Nils Larsen tauchte aus dem Dunkel neben der Schebecke auf und streckte dem jungen Seewolf beide Hände entgegen. „Schnell! Äxte!" stieß er keuchend hervor. „Hier. Beeilt euch und kommt dann hierher." „Klar." Larsen riß die Werkzeuge an sich, duckte sich und hörte weit hinter sich, wie Dan O'Flynn und Carberry in der Dunkelheit auf den Planken der Karavelle gegen die Schiffswachen kämpften. Nils hastete lautlos und tief geduckt entlang der Schiffsflanken über den Kai und wurde im Sichtschutz einer kleinen Hütte von seinen Leuten erwartet. Sie rissen ihm die Äxte aus den Händen, verständigten sich kurz und stürmten wieder los. Noch herrschte in diesem Gebiet des Hafens eine verdächtige Stille. In anderen Teilen von Dieppe fingen die Menschen zu rennen an. Ununterbrochen bimmelten die Kirchenglocken. Der Profos hatte also geschafft, was er versprochen hatte. Vier Männer erreichten die am weitesten außen vertäute Karavelle, deren Posten am Heck standen und immer deutlicher zu sehen waren, denn etwas Licht des riesigen Feuers fiel auch auf die Gestalten. Neben den Pollern schwangen Bill und Piet Straaten die Äxte. Im Lärm der Glocken gingen die Geräusche der Schläge halbwegs unter, dennoch hallten sie dumpf über den leeren Kai. Die Schneiden der Äxte kappten mit zwei, drei Hieben die dicken Be-
legtaue und wirbelten Holzsplitter aus den Pollern. Noch ein Schlag, und langsam rutschten die naßgesogenen Taue über die Quader, über den Rand und ins Wasser. Gleichzeitig stemmten sich Bill, Nils Larsen, Piet Straaten und Jan Ranse gegen die Schiffswandung. Die Karavelle bewegte sich langsam und zögernd, Fingerbreit um Fingerbreit, vom Kai weg und kriegte eigenen Schwung. Als die Entfernung zu groß war für die ausgestreckten Arme und die Axtstiele, duckten sich die Seewölfe wieder eng an die Poller. Mit der Backbordseite voraus trieb die erste Karavelle vom Kai weg, in die schwache, halbkreisförmige Strömung im Hafenbecken hinein und noch immer - unmerklich langsam davon. „Wartet. Sie haben Musketen", flüsterte Nils Larsen. Undeutlich sahen sie von ihrem Versteck aus, wie sich die zweite Gruppe auf das nächste Schiff zubewegte. Im Licht einer Hecklaterne blitzten kurz die Schneiden der Äxte auf. Auf dem Achterdeck der davontreibenden Karavelle entstand Bewegung. Schritte polterten, dann rief jemand: „Merde! Wir treiben ab!" „Tatsächlich. Was ist da los?" Nils Larsen grinste und lachte in sich hinein. Sein Nachbar stieß ihn mit dem Ellenbogen an und brummte: „Sie merken's aber schnell. Hoffentlich kommen wir gut durch die Wuling frei." „Schaffen wir schon", murmelte Piet Straaten. Das Geläut der Glocken riß ab und verklang in langgezogenem Wimmern des Metalls. Aus allen Teilen der Stadt hörten die Seewölfe Schreie und hastende Schritte. Dazwischen klangen dumpf die Hiebe der Äxte
47 und Schiffshauer, mit denen die Taue der zweiten Karavelle gekappt wurden. Dann blitzte vom Achterdeck des ersten driftenden Schiffes eine unterarmlange Feuerzunge durch die Dunkelheit. Der erste Schuß krachte. Der Feuerstrahl deutete in die Richtung eines Torbogens, unter dem jetzt eine größere Gruppe Männer auftauchte. „Carberry?" Der Schuß weckte den halben Hafen auf. Will Thorne und Pete Ballie durchtrennten die letzten Fasern der Tauschlingen und stürmten auf die Schebecke zu. Wieder krachte ein donnernder Musketenschuß. Das Blei spritzte hinter Pete Ballie in eine Quaderfuge. Piet Straaten sagte laut: „Los! Im Zickzack zur Schebecke." Sie verließen die Deckung und jagten los. Es waren nur wenige Dutzend Schritte. Als sie sich im Schutz des Schiffskörpers wieder aufrichteten, stand Al Conroy hinter einem Geschütz auf, deutete auf die Galeone und sagte laut: „Weiter, Piet. Auf die ,Fidelidad'. Macht alles klar, wir helfen euch beim Ablegen. Ihr müßt pullen, denke ich. Kein Wind." „Verstanden, Al." Straaten, Ranse und Larsen liefen weiter und enterten die Galeone. Bill schwang sich neben dem Stückmeister auf die Planken und fragte schweratmend: „Siehst du den Kapitän?" „Noch nicht. Hält sich wohl bereit. Hier, hilf mir." Der Stückmeister war damit beschäftigt, ein Geschütz zu richten. Von den Karavellen zuckten weitere Feuerzungen durch die Nacht, Explosionen krachten und erzeugten Echos an den Hauswänden. Die zweite Gruppe hatte ihr Vorhaben beendet und hastete im Zickzack über den
Kai auf die Schebecke zu. Will Thorne, Blacky, Jeff Bowie und Pete Ballie enterten auf und verstauten ihre Beile. Big Old Shanes Stimme ertönte aus dem Dunkel: „Klar bei Segel, klar zum Ablegen. Wartet noch - die Hälfte treibt sich noch in der Stadt herum." Die beiden Karavellen drehten sich, ihr Abstand zum Kai betrug schon eine Viertel Kabellänge. Auf den Decks rannten hilflos die Wachen hin und her und feuerten, nachdem sie die Musketen wieder neu geladen hatten, auf alles, was sich bewegte. Ein Schrei ertönte, dann ein englischer Fluch. Am Horizont stiegen Flammen, schwarzer Rauch und riesige Funken in den Nachthimmel. Die Stadtbewohner hasteten auf die Stelle des Brandes zu, niemand schien sich in dieser Stunde für die Schiffe zu interessieren. Big Old Shane stieg auf die Kuhl und winkte die Crew zu sich heran. „Haltet euch bereit, die Schebecke wegzupullen. Es gibt hier zu wenig Wind. Erst draußen setzen wir die Segel." „Verstanden." Trotz des Abwehrfeuers war es Paddy Rogers gelungen, auch die dritte Karavelle von der Vertäuung loszuhacken und in die Mitte des Hafenbeckens zu schieben. Er und Jack Finnegan hasteten zur Galeone und lösten die Belegtaue.. Die Tauenden flogen an Deck und wurden aufgenommen. Jetzt war die Galeone nur noch mit zwei Springs vertäut und konnte innerhalb von Sekunden ablegen, ohne daß jemand von Land aus half. Das gleiche unternahmen Sam Roskill und Smoky, ehe sie sich bei ihrer Crew einfanden. Don Juan de Alcazar und Batuti
48 trieben mit Schüssen aus ihren Pistolen die Wachen auf den hilflos treibenden Schiffen in die Deckung zurück. „Das wird immer besser", murmelte Stenmark und richtete sich hinter dem Poller auf. Bob Greys Schiffshauer hatte das unterarmdicke Tau durchgehackt. Der Messerwerfer, der im Lauf der letzten Stunde wieder völlig nüchtern geworden war, drückte Gary Andrews den Griff des Werkzeugs in die Hand und verschwand in Richtung der Galeone. „Dort brauchen sie mich jetzt." Luke Morgan, Gary Andrews und Stenmark gingen in aller Seelenruhe bis zum Heck der Schebecke, von der inzwischen die Laufplanke ausgebracht worden war. Stenmark wußte, daß von den Wachen der vier Karavellen im Moment die geringste Gefahr drohte. Nur dann, wenn die Schiffe sich verkeilten und die Ausfahrt aus diesem Hafenbecken versperrten, wurde es kritisch. Die Crew der Schebecke vergrößerte sich. „Habt ihr die Gefangenen gesehen?" „Nein, bisher nicht. Vielleicht zeigt ihnen der Sir den richtigen Weg in die Freiheit." „Es eilt langsam, Gentlemen." „Hasard wird schon kommen." Die Seewölfe bewaffneten sich, luden die leer geschossenen Waffen wieder nach und holten tief Atem. Der erste Teil ihres Vorhabens schien geglückt zu sein. Big Old Shane beobachtete sorgfältig die langsamen Bewegungen der Karavellen im schwarzen Wasser des dunklen Hafenbeckens. Zwei Beiboote trieben an langen Tauen zwischen den Rümpfen, schlugen gegen die Planken und wurden zur Seite geschoben.
Mit beiden Händen wühlte der Schmied in seinem Bart und überlegte, ob er seinen Bogen mit Brandpfeilen einsetzen sollte. Aber wenn die Segel der Karavellen brannten, konnte es sein, daß die Schebecke beim Versuch, durchzubrechen, Feuer fing. „Wo, zum Teufel, steckt dieser Hasard?" fragte er sich in beginnender Ratlosigkeit. Diejenige Karavelle, deren Vertäuungen zuerst durchgehackt worden waren, hatte ihre Irrfahrt durch das Hafenbecken beendet. Sie rammte mit dem Bug die Kante der Mole, ohne viel Schaden zu nehmen. Dann schwang sie langsam in einem Halbkreis herum und richtete den Bug in die schwache Strömung, die der Fluß erzeugte. Ratlos hasteten die Posten hin und her und versuchten, Belegtaue auszuwerfen, die sich irgendwo verhaken sollten. Aber immer wieder rutschten sie ins Wasser. Soviel war einigermaßen deutlich zu sehen. Aber jetzt stürmten fünf oder sechs Mann zwischen den Häusern hervor. Sie trugen lange Musketen auf den Schultern. Ein paar kurze Kommandos, und dann stürmte die Gruppe los und auf den Molenkopf zu. Der Schmied von Arwenack erkannte an der Spitze der Leute den Profos und lachte kurz. „Na ja", sagte er. „War auch höchste Zeit." Er sah zu, wie Carberry und ein anderer, es war vermutlich Dan O'Flynn, dem Heck der Karavelle einen mächtigen Stoß gaben. Schwerfällig glitt der dunkle Rumpf weiter und aus der engsten Stelle des Hafenbeckens hinaus in den Bereich stärkerer Strömung. Ein Gegner weniger.
49 Ferris Tucker stemmte das Bündel aus feuchten Netzen, glitschigen Schwimmkörpern und Leinengewirr in die Höhe und warf es im hohen Bogen auf den Sand. Hasard stand bis zu den Knöcheln im Wasser und schob am Heck des offenen Fischerbootes. „Ihr schwenkt die Laterne", keuchte er und rutschte aus, als Tukker aus dem Boot in den Sand sprang und das Boot dadurch leichter wurde. „Und wir sehen zu, daß wir euch schleppen. Es muß schnell gehen, verstanden?" Die neun Gefangenen saßen auf den Ruderbänken und hatten die Riemen in die Dollen gelegt. „Ja. Wir verstehen. Danke." „Schon gut." Ferris Tucker und Hasard gaben dem Heck einen letzten Schwung. Dann setzten die befreiten Gefangenen einigermaßen gleichzeitig die Riemen ein und fingen an, zu pullen. Das Boot verschwand aus dem Bereich der schwachen Helligkeit. Sie brauchten nur geradeaus zu rudern, dann packte sie die Strömung des Flusses und trieb sie dorthin, wo die Schebecke und die Galeone vorbeikamen. Hasard packte Ferris am Arm, nickte und erklärte: „Das Feuer ist heruntergebrannt. Jetzt werden sie's merken und in die andere Richtung laufen." „Und zwar dorthin, wo geschossen wird." Vom äußersten Rand der Hafenanlagen, wo die kleinen Boote der Fischer auf den Sand gezogen waren, eilten sie bis zu der Stelle, an der sie Old Donegal zurückgelassen hatten. Aber der Alte befand sich bereits auf dem Weg zur Schebecke. „Hoffentlich fehlt keiner", sagte der Seewolf und zog seine Pistole.
„Jeder weiß, wo wir liegen." Nur noch zwei Schiffe lagen an der Mole. An Deck wimmelte es von Gestalten, aber es brannten nur die Hecklaternen. Bei den Personen, die über die Fläche des Hafens stürmten, schien es sich nur um Seewölfe zu handeln. Es waren nicht viele, und sie bewegten sich, als wüßten sie sehr genau, was zu tun sei. Hasard und der Schiffszimmermann erreichten das Heck der Galeone. Leise rief Hasard: „He! Freunde! Seid ihr vollzählig?" Don Juan beugte sich über das Schanzkleid und rief zurück: „Roger fehlt noch." Schritte näherten sich. Roger, der einen mannslangen Knüppel schwang, tauchte mit rußgeschwärztem Gesicht aus der Dunkelheit auf und stieß ein paar Worte hervor. „Keiner fehlt. Ich bin da." Hasard half ihm an Deck und rief zu Don Juan hinauf: „Wir stoßen euch ab. Ihr pullt und stakt bis in die Strömung. Dann haltet ihr das Schiff gerade. Vielleicht habt ihr in der Mündung ablandigen Wind." „Dann setzen wir das Großsegel, klar." „Versucht, euch ohne Gefecht durchzuschlagen. Das erledigen wir." „Aye, aye, Sir." Wie ein dunkler Schatten trieb die erste Karavelle, alles andere als bugvoraus, in der Strömung des Arques. Die Geschwindigkeit, mit der sich Masten und Aufbauten an der Kulisse der hell beleuchteten Fenster und der offenen Türen vorbeischoben, ließ erkennen, daß die Strömung jetzt zumindest zufriedenstellend stark war. Vor Hasard schwang sich Carberry an Bord der Schebecke. „Langsam wird's Zeit", mahnte er. „Die Frenchmen rücken mit Arkebusen und allerlei Wut im Bauch an."
50 „Verstanden. Noch nicht." Die Crew stand bereit. Hasard entdeckte Ben Brighton, winkte ihn zu sich und befahl mit leiser, aber metallisch scharfer Stimme: „Abzählen. Namenkontrolle. Auf der Galeone sind sie komplett." „Verstanden." Im Bug und im Heck standen je zwei Männer an jeweils dem längsten Riemen, den sie gefunden hatten. Ein dritter hatte die Spring belegt und hielt den Tampen in der Hand. Die Enden der Riemen stützten sich gegen die Poller ab. Hasard nickte zufrieden und eilte über das halbe Deck bis zum Rudergänger. Pete Ballie lehnte sich auf die geschwungene Pinne. „Bereit?" „Aye, aye, Sir. Geht's los?" „Noch nicht. Gib acht. Es wird gleich scharf geschossen." Mittlerweile waren sicher auch die Kapitäne und die Soldaten wach geworden. Entlang des Hafens hatten sich zahllose Fenster und Türen erhellt. Läden wurden krachend aufgestoßen. Menschen, die blakende Fakkeln schwangen und Laternen trugen, liefen hin und her. Die zweite Karavelle erreichte die Enge der Passage. Die Bugspriets und das Tauwerk der beiden letzten Karavellen hatten sich in der Mitte des Beckens ineinander verfangen, die Schiffe drehten sich um sich selbst. Die Galeone, deren Crew ruderte und kräftig stakte, glitt lautlos am Kai vorbei. Hasard hob die Hände an den Mund und brüllte: „Batuti! Klar bei Drehbasse im Heck. Gezielter Schuß aufs Hafenpflaster!" „Verstanden!" Deutlich war die Flamme der Lunte zu sehen, als der Gambiamann über
den Niedergang enterte und auf die achtere Drehbasse der „Fidelidad" zueilte. Er schwang das Geschütz in der Gabelung herum, visierte und wandte den Kopf ab, als er die Lunte aufs Zündloch senkte. Ben Brighton tauchte aus dem Unterdeck auf, sprang an Land und legte etwas Helles oben auf den Baumstamm, der als Poller eingerammt war. Dann flankte er wieder zurück auf die Schebecke. Im selben Moment brüllte das kleine Glattlaufgeschütz auf. Eine armlange Feuerzunge zuckte grell durch die Nacht. Der Explosionsdonner ließ die Crew halb taub werden, die Echos rollten, während ein Hagel aus gehacktem Blei und Eisentrümmern auf den Granit prasselte und funkensprühend in alle Richtungen davonschrammte, heulte und jaulte. Mit trockenem Klappern zerbrachen einige Dachziegel und polterten über die Giebel hinunter. Kreischend floh ein Teil der aufgeregten Bevölkerung in die Häuser und schlug Türen und Läden zu. Hasard sah sich um. Die Galeone hatte die Mitte des Hafenbeckens erreicht und war eine Spur schneller geworden. Philip tauchte auf und sprudelte hastig seine Meldung heraus. „Wir haben achtern ein Tau belegt. Damit können wir, wenn's sein muß, die Galeone schleppen. Schließlich sind wir wegen der vielen Ruderer schneller und kräftiger." „Sehr gut. Unter Deck, aber auf jeden Fall in Deckung." Der Erste meldete, daß die Crew wohlbehalten und vollzählig sei. Der Kutscher versorgte gerade die Fleischwunde am Oberarm Sam Roskills. Woher der Schuß stammte, wußte niemand zu sagen. Hasard
51 winkte ab und eilte zu Al Conroy hinunter. „In welchem Rohr hast du eine schöne Steinkugel geladen?" „Hier." Hasard schlug ihm auf die Schulter. Hoffnungsvoll blies Al Conroy auf die Lunte. „Siehst du dort drüben die Soldaten und ihren Anführer?" „Na klar, Sir." Dort, wo die Straße in den Platz vor den Kais einmündete, sammelten sich bewaffnete Soldaten. Sie waren in aller Eile zusammengeströmt, denn sie trugen unvollständige Kleidung. Aber sie hatten ihre Musketen dabei. Ein säbelschwingender Vorgesetzter schrie Befehle. „Dann erschrecke sie nachdrücklich. Viel Lärm, wenige Tote, klar?" „Aye, Sir." Der Stückmeister drehte das Geschützrohr um eine Handbreite und senkte den langen Lauf, bis er parallel zum Boden des Platzes lag. Er zielte sehr genau und gründlich. Dann verband sich die weiße Glut der Lunte mit dem Pulver im Zündloch. Die Explosion riß die Lafette zurück, die Brooktaue strafften sich, und das Geschütz schlug schwer zurück auf die Planken. Eine grelle Feuerzunge leckte in die Nacht hinaus und berührte fast das schwarze Pflaster. Die steinerne Kugel verließ den Lauf, und ihr Weg wurde kurz von der Rauchwolke verdeckt. Gleichzeitig mit dem Explosionsdonner ertönten verwirrende, ohrenschmerzende Geräusche. Nach einigen Yards im freien Flug senkte sich die dahinrasende Kugel auf das Pflaster, riß eine Platte in Trümmer und wurde wieder hochgeprellt. Das Geschoß zerplatzte in mehrere große Stücke, die nach verschiedenen Seiten davonstoben.
Überall dort, wo die Sprengstücke auftrafen, zertrümmerten sie die dunklen Platten und erzeugten Splitter, die surrend durch die Luft rasten und wahllos in Hauswände, Fenster und Dächer einschlugen. Lange Funken wurden aus dem Stein gerissen. Die Menschen schrien auf und flüchteten. Wieder polterte ein Hagel zerbrochener Dachpfannen über die Regenrinnen und ergoß sich klirrend auf die Straße. Träge zog die Qualmwolke zur Seite. Im Pflaster des Hafens klaffte ein zwanzig Schritte langer, drei Fuß tiefer Graben, der genau auf die Straßeneinmündung deutete. „Guter Schuß", lobte der Seewolf und versuchte, mit dem bohrenden Finger das Sirren und Singen in seinen Ohren loszuwerden. „Noch einen? Ich bin bereit!" fragte Al Conroy mit funkelnden Augen. „Noch nicht." Die „Fidelidad" befand sich jetzt, noch immer mit aller Kraft ihrer kleinen Besatzung gepullt, am Ausgang des Hafenbeckens. Auch der Rudergänger half mit, indem er das Ruderblatt so schnell und kraftvoll wie möglich hin und her bewegte. Er leistete schwerste Arbeit, aber die Galeone hatte gute Fahrt, als sie in den ersten Sog der Flußströmung geriet. Die ineinander verhakten Karavellen waren inzwischen in einer Ecke des Kais gegeneinander und gegen die Steinaufschüttungen gekracht. „Arwenacks! Los! Wir legen ab!" rief der Seewolf. „Nehmt die Riemen zum Abstoßen vom Kai!" Die Springleinen wurden an Deck gezogen. Gleichzeitig stemmten sich die Männer gegen die Riemen und schoben mit einem einzigen wilden Ruck die Schebecke vom Kai weg. Wieder krachten und prasselten Schüsse von
52 den Häusern her und schlugen auf die Steine oder ins Holz des Schiffes. Die Riemen wurden ausgefahren und ins Wasser geschoben. Auf jeder Seite der Schebecke waren es, reiner Zufall, elf Riemen. Nach einigen Atemzügen voller Verwirrung fanden die Männer einen klaren Takt. Die Riemenblätter tauchten tief ein und wurden mit aller Kraft durchgezogen und wieder eingesetzt. Old Donegal trat mit seinem Holzbein unter dem vorspringenden Achterdeck den Takt. Zuerst schwang die Schebecke nach Backbord, schwankte hin und her und war gerade zur Ruhe gelangt, als die Kraft der Rudermannschaft sie binnen kurzer Zeit in Fahrt brachte. Sie glitt mit einer ständig größer werdenden Bugwelle hinter der Galeone her, die sich träge in die Strömung gedreht hatte und inzwischen fast außerhalb der Reichweite von Musketenschüssen war. „Wir haben mehr Glück, als ich dachte", sagte der Seewolf zufrieden und griff kurz ins Ruder. Die Schebecke wich einem treibenden kleinen Ruderboot aus. „Aber wir sind noch lange nicht draußen." Die Seewölfe beantworteten das schlecht gezielte Musketenfeuer von Land mit wenigen, aber sorgfältig gezielten Schüssen aus den langläufigen Pistolen. Fensterscheiben zerbarsten klirrend und überschütteten die Leute, die vor dem Haus standen, mit einem Hagel aus Scherben und Holzsplittern. Einzelne Lampen, die besonders hell leuchteten und brannten und daher ein klar erkennbares Ziel boten, barsten mit einem grellen Krach und umherspritzenden Riesentropfen aus brennendem Öl auseinander. Fluchend sprangen die Soldaten zur
Seite, wenn sie von den heißen Tropfen getroffen wurden. AL Conroy schwenkte eine zweite Drehbasse herum und jagte eine Ladung aus gehacktem Metall in das Vordach einer Schenke, hinter deren Bänken die Soldaten ihre Musketen aufgelegt hatten und hastig nachluden. Einige Tische waren als Dekkung hochkant gestellt worden. „Euch werden wir das vermasseln", sagte er wild. „Unser Gold bleibt unser Gold." Er lachte grimmig. „Eure Goldfalle ist nicht zugeschnappt, wie?" Das kleine Geschütz brüllte los. Er sprang hustend zur Seite und zwinkerte. Durch den dünner werdenden Pulverrauch sah er den Erfolg seines Schusses. Die klobigen, gezackten Metallteile hatten das Dach durchlöchert und an einigen Stellen in Brand gesetzt. Bänke und Tische boten ein Bild der Verwüstung. Sie hatten sich in Trümmer und Splitter verwandelt und waren umgeworfen worden. Die Wucht des Einschlags hatte die Soldaten in einen Haufen aus Gliedmaßen, Köpfen und Leibern an die Hauswand zurückgeschleudert. Die großen, hell bemalten Wetterschutzläden hingen schräg in den halb herausgerissenen Angeln. Langsam drehte sich AL Conroy herum, um die Sachlage zu begutachten. Er zuckte zusammen, fluchte leise und übersah fast, daß sich die Schebecke in einer Kursänderung nach Backbord überlegte und fast bis zum Heck der Galeone aufgeholt hatte. Auf dem Semaphore-Turm und auf einer Bastion des Schloßanbaues wurden Fackeln geschwenkt. Dort hatten sie während des Einlaufens Geschütze gesehen. Von diesen hochgelegenen Punkten konnten die Franzosen den Hafen mit ihrer
54 Artillerie gut unter Kontrolle halten. „Aber wir sind vorbereitet, das ist der Unterschied!" rief der Stückmeister und lief tief geduckt zu Hasard. Die Ruderer arbeiteten noch immer wie wild. Ihr Keuchen war lauter als das Knarren der Riemen in den Dollen und das Plätschern des Wassers. Es gab tatsächlich keinen Wind in diesem Mündungsdreieck zwischen den Häusern der Stadt. Ein Blick voraus zeigte den Seewölfen, daß letztes Sternenlicht und ein Rest des Mondlichtes auf den mäßig bewegten Wellen des Meeres lagen. Jedenfalls zeigten sie, daß es einige Kabellängen außerhalb der Bucht brauchbaren Wind gab. Edwin Carberrys Stimme schallte unüberhörbar über Deck. „Ich hole jetzt meinen Knüppel aus der Kiste, ihr Lahmärsche, und treibe euch an! Als Galeerensträflinge taugt ihr gar nichts, ihr schlaffen, besoffenen Kerle. Los! Gleich komme ich und helfe euch." Sie drehten sich herum und grinsten, obwohl ihnen der Schweiß in Strömen über die Haut rann. Carberry stand am letzten Riemen an Steuerbord und pullte, als gelte es, sein Leben zu retten. Wieder wurde die Schebecke eine Spur schneller und gelangte nun tatsächlich aus dem Bereich der kleinen Feuerwaffen hinaus. Die Karavellen trieben an Steuerbord und Backbord in den Strudeln neben den Binsenfeldern und drehten sich ungesteuert einmal hierhin, einmal dorthin. Die Wachen hatten aufgegeben, irgend etwas zu ändern und rannten herum, Tauenden in den Händen. Aber weit und breit war nichts zu sehen, an dem man die Schiffe hätte belegen können. Die Galeone schob sich an ihnen
vorbei, und die Schebecke überholte das spanische Schiff an Steuerbord. Noch lange nicht waren sie in Sicherheit - bis hinaus zum Meer betrug die Distanz mehr als eine Seemeile. „Sir?" Hasard wandte sich um und blickte in die Richtung, in die Al Conroy deutete. Auch die Zwillinge schauten zum Signalturm mit dem rauchenden Leuchtfeuer und die Bastion neben dem Schloß. „Sie waren etwas schneller, als ich schätzte", sagte Hasard nach einigem Nachdenken. „Wir warten den ersten Schuß ab, Al. Aber du solltest deine Geschütze ausrichten und dich feuerbereit halten." Nur undeutlich war zu erkennen, daß inzwischen die Soldaten und ein paar Seeleute ein Ruderboot bemannt hatten. Sie pullten quer über den Hafen, in dessen Wasser sich kleine Brände, Fackeln und Laternen spiegelten. Sie wollten die zwei Karavellen erreichen und entern und, so dachten die Seewölfe, die Verfolgung der Engländer einleiten. Aber diesmal waren die Fronten absolut klar: die Engländer würden sich wehren. „Verstanden, Sir." Von Backbord ruderten die Gefangenen auf die Galeone zu. Taue flogen in das Boot und wurden belegt. Drei Männer schafften es, an Deck der „Fidelidad" zu klettern, die anderen blieben im Boot, das hinter der Galeone hergeschleppt wurde. Eine zusätzliche Belastung, fand Hasard, die er aber aus zwei Gründen gern eingegangen war: erstens, um den Männern zu helfen, wobei er allerdings möglicherweise Schurken zur Freiheit verhalf, und zweitens schon deshalb mit grimmigem Vergnügen, weil er die Kapitäne und den Präfekten von Dieppe damit zutiefst ärgerte und düpierte.
55 Er hatte es erwartet: von der Bastion krachte der erste Schuß. In der Dunkelheit war der Flug des Geschosses nicht zu erkennen. Aber Al Conroy und die Zwillinge kümmerten sich bereits darum, die Rohre einiger Backbord-Culverinen zu erhöhen und auf das neue Ziel einzurichten. Zwischen Strand und den beiden Schiffen schlug das Geschoß ein und überschüttete die Seewölfe mit einer gewaltigen, senkrecht aufspringenden Säule aus Wasser und Gischt. Es begann faulig zu riechen. „Feuer frei, Mister Conroy!" dröhnte Hasards Stimme. „Ziele gut!" „Nicht schlechter als sonst." Auf der Galeone und auch auf der Schebecke zogen die Männer, die nicht an den Riemen standen oder hockten, die Segel auf und die Rahen hoch. Der Wind war ablandig, aber kaum wahrnehmbar. Geschrei und Aufregung waren hinter den Schiffen. weit zurückgeblieben, die Lichter der Häuser am Hafen wurden schwächer und kleiner. Aber die beiden Bauwerke beherrschten die Flußmündung und drohten von den Anhöhen schwarz und massig herunter. Al Conroy senkte die Lunte, zündete und sprang zurück. Das Rohr, die Lafette, das gesamte Geschütz schlug nach hinten aus und schüttelte sich förmlich nach der lauten Detonation. Auf die Zinnen und Mauern der Bastion hatte Al Conroy gezielt. Die Schebecke lag ruhig in der Strömung des Arques und schaukelte nicht. Sie führte auch keine unkontrollierbaren Richtungsänderungen durch. Das Rohr der Culverine deutete in einem spitzen Winkel in die Höhe, ebenso wie die Rohre der benachbarten Geschütze. Das Geschoß schlug ein.
Zwei gemauerte Zinnen und mehrere klobige Quadersteine wurden gleichzeitig zu Staub und Splittern zerhämmert und flogen in alle Richtungen davon. Ein Geschütz kippte in die Höhe, und die Körper von fackeltragenden Männern wurden durch die Luft gewirbelt. Ihre Fackeln beschrieben vor dem Himmel, der seine Schwärze inzwischen verloren hatte, wilde Kreise und Spiralen. Hinter den Mauern prallten sie gegen den Boden und zerstäubten in einem Regen großer Funken. Einige Herzschläge nach dem Einschlag drangen der Lärm und die Schreie an die Ohren der Seewölfe. „Ein höchst treffliches Ergebnis Eurer Schießkunst, Mister Conroy!" brüllte Ben Brighton. „Hoffentlich vergeht ihnen der Spaß am Feuern." Während die Seewölfe ruderten und versuchten, aus der offenen Falle der Franzosen zu entwischen, richteten sich mehr Geschütze auf die Schiffe, und die Seeleute enterten an Bord der Karavellen, um die Engländer zu verfolgen. 6. Die Stunde zwischen Nacht und Morgen hatte angefangen. Der Himmel wurde heller. Die Crew der Galeone hatte es geschafft, sämtliche Segel an den Rahen zu setzen. Aber die Leinwand schlug schlapp gegen das laufende Gut, das schwer und feucht durchhing. Die Strömung des Arques trieb beide Schiffe auf den freien Kanal zu. Mit starken Riemenschlägen überholte die Schebecke die „Fidelidad", und Batuti schleuderte die Tauschlingen hinüber zum Heck des schnelleren Schiffes.
56 Hinter den steinernen Verschan„In einer halben Stunde ist alles vorbei!" rief ihm Ben Brighton zu, zungen des Schlosses wimmelten der das Tau übernahm und sorgfältig jetzt Soldaten, und im Licht ihrer Fackeln sahen die Seewölfe, daß die belegte. „Das ist eine halbe Stunde zuviel." Kanonen geladen und gerichtet wurden - und zwar auf die Schiffe in der „Du sagst es." Das Tau straffte sich langsam, und Hafeneinfahrt. Es war kein Wettrenkurze, weiche Rucke gingen durch nen gegen die Zeit mehr: die nächsten beide Schiffe. Inzwischen waren es Minuten waren entscheidend. „He, Freunde!" rief Hasard aufein Dutzend Ruderer auf jeder Seite munternd. „Pullt ruhig weiter, und der Schebecke, die sich in die Riemen wer es nicht mehr schafft, läßt sich legten. Sie keuchten, holten scharf Luft und verfluchten jeden Schluck ablösen! Bald ist alles vorbei." „So oder so", brummelte der ProWein der letzten vierundzwanzig Stunden. Die Dreieckssegel auf Ha- fos. Durch das Spektiv war nicht viel sards Schiff waren gesetzt, aber nicht getrimmt. Auch hier hingen die hel- mehr zu erkennen als mit dem bloßen len Leinwandflächen wie nasse Tü- Auge. Die Geschütze auf dem Semacher an den Rahruten. Die Gefange- phore-Turm richteten sich auf die Ganen duckten sich zwischen die Sitz- leone. - Während sich die Bediezurückzogen, bretter und Ruderbänke des schau- nungsmannschaften schwenkten die Schützen ihre Lunkelnden Bootes. Al Conroy, Ben Brighton und Ha- ten. Der Seewolf entschloß sich, ihnen sard standen am Schanzkleid des Hecks, am hintersten Punkt des Grä- zuvorzukommen. „Al! Drei gezielte Schüsse auf die tingsdecks. Schweigend blickten sie zu den Geschützstellungen Dieppes oberste Plattform des Turms. Du sollhinüber. Trotz des ersten Treffers test nach Möglichkeit nicht danebenschien der Präfekt Dammartin aufs treffen. Ziele vielleicht weiter nach unten." Ganze gehen zu wollen. „Das habe ich vor. Jedenfalls treffe „Sie riskieren viel", meinte der Seewolf. „Zweifellos wollen sie uns mit ich das Türmchen." Auch Conroy beobachtete die Gegihren Geschützen eindecken. Wollen die tatsächlich Krieg mit England?" ner sehr genau. Als die Kommandos „Sie könnten sich herausreden, daß gegeben wurden, sprang er von Gewir angefangen haben", erwiderte schütz zu Geschütz und zündete die der Erste und blickte zu der kleinen Ladungen, die er mit äußerster SorgGruppe, die in mäßiger Eile die Cul- falt" abgemessen hatte. In so kurzen verinen nachlud und einrichtete. „Sie Abständen, daß die Detonationen wie wollen das Gold. Jetzt wissen sie, daß ein einziger, gewaltiger Lärm klangen, entluden sich die Culverinen. wir viel davon an Bord haben." „Ich werde es ihnen gründlich ver- Das Schiff schüttelte sich, als die Lafetten zurückrumpelten. salzen!" Niemand zweifelte am Versprechen Der Stückmeister bewies wieder des schwarzhaarigen Stückmeisters. einmal, was er konnte. Al turnte hinunter zu seinen GeschütDrei Schüsse, drei Treffer. Eine Kuzen und packte den Richtstock. Ha- gel traf auf die steinerne Brüstung sard junior half ihm. zwischen zwei Geschützrohren, die
57 weit ausgerannt worden waren. Ziegelbrocken und Steintrümmer wurden auseinandergefetzt. Die Wucht des ersten Einschlags hob die Geschütze im selben Augenblick an als die französischen Kanoniere die Lunten senkten. Die Wirkung war katastrophal, auch ohne den zweiten Treffer, der einige Fuß weiter rechts ähnliche Zerstörungen anrichtete. Ein Teil der Turmverschanzung wurde getroffen, zerstört und prasselte in riesigen Trümmern nach unten. Drei Geschütze gingen los. Sie waren nach hinten und zur Seite geschleudert worden, kippten in den schweren Lagern und feuerten ihre Ladungen schräg in den Himmel. Riesige Stichflammen erhellten die Szene der Zerstörung. Die Geschosse heulten durch die Luft, als der dritte Treffer Al Conroys die Mauer unterhalb der obersten Plattform erschütterte, die Quader traf und ins Innere prellte. Die Geschütze kippten und rutschten quer über die Plattform, der Rückstoß wirbelte sie rückwärts und im Zickzack hin und her. Die Männer sprangen zur Seite, wurden von den Füßen gerissen und vom Explosionsdruck umhergeschleudert wie nasse Lappen. Fast gleichzeitig sackte ein Stück der Plattform ab, senkte sich langsam nach unten, und ein Geschütz stürzte rumpelnd in die Tiefe. Hustend und keuchend wedelte sich der Seewolf den Pulverrauch vom Gesicht weg. „Dieser Mister Conroy", sagte er zufrieden und bewundernd, „ist schon ein Teufelskerl." „Vom Semaphor-Turm haben wir jedenfalls nichts mehr zu befürchten , sagte Ben Bright on. Noch betrug die Entfernung bis
zum freien Wasser und zu jener Linie, hinter der auch hervorragend gezielte Fernschüsse nur Zufallstreffer sein würden, mehr als eine halbe Seemeile. Die Strömung, die bisher den Ruderern geholfen hatte, wurde schwächer. Das Seewasser des Englischen Kanals vermischte sich mit dem Süßwasser des Arques. Offenbar dauerte es noch einige Zeit, bis die Ebbe ablief und stärkeren Sog verursachte. Dan O'Flynn überlegte kurz, ob er die Gezeiten noch einmal genau berechnen sollte, entschied sich aber dagegen, weil diese Kenntnisse im Augenblick niemandem nutzten. Im Hafen hatten es die Kapitäne und ihre Männer fertiggebracht, die Karavellen zu entern, die Wuhling zu entwirren und die leichten Schiffe wieder an den Kai zu bringen. In großer Hast wurden sie bemannt.
„Wir müssen weiterpullen." Die Mannschaft an den langen Riemen wurde Mann für Mann ausgewechselt. Alles ging in großer Eile vor sich. Rechts und links der Schiffe erstreckten sich die Felder aus Brackwasserpflanzen und die Felsen, die kleine Strände abgrenzten. Ein breiter Weg führte von der Stadt bis zum Strand. Uralte Bäume säumten den Pfad und hoben sich mit ihren Frühlingsblättern scharf gegen den heller werdenden Himmel ab. Sterne und Mond waren verschwunden, und auf dem Wasser lag ein leichter, hellgrauer Dunst. Die beiden Schiffe und das nachgeschleppte Boot glitten durch die morgendliche Kälte, die vom Meer zur Stadt kroch. Das erste Geschütz der Schloßbastion feuerte schon, während Al Con-
58 roy noch mit dem Ausrichten der Cul- mit furchtbarer Gewalt in alle Richyerinen beschäftigt war und sich tungen. Wieder erkannte der Seewolf ernsthaft überlegte, ob er mit den bei- durch das Spektiv mehr Einzelheiten, den Geschützen auf dem Achterschiff deren Bilder einander verwischten. Die Soldaten wurden zu Boden geder Schebecke feuern sollte. Zugleich mit dem Hall der scharfen, krachen- worfen. Mauertrümmer flogen durch den Detonation und der langen Flam- die Luft, und Staub wallte in die menspitze aus dem Rohr ertönte das Höhe. Die Glut aus den Feuertöpfen Heulen des Geschosses. Es wurde dro- verwandelte sich in einen berstenden Funkenregen. Der Lärm von erhender und lauter. Genau in der Mitte zwischen beiden schrockenen Schreien drang von der Schiffen, aber eine halbe Kabellänge Hafenanlage bis hierher. an Backbord schlug die Kugel ins Schweigend sahen die Seewölfe, die Brackwasser. Wieder wurde eine ge- einen Augenblick zu pullen aufgehört waltige Masse Wasser in die Höhe hatten, das Chaos auf der Bastion. Im und zur Seite geschleudert. Es gab selben Moment begann ein pfeilerareine kleine Welle, in der beide Schiffe tiger Aufbau zu wanken, blieb einen kurz aufschaukelten. Wassertropfen Augenblick scheinbar unbeweglich in prasselten wie wütender Regen auf der Luft schweben und brach zusamHeck und Bug der Engländer. men. Er löste sich in eine Vielzahl ein„Dort oben haben sie jemanden, zelner Trümmerstücke auf und beder's auch ganz gut kann", sagte Al grub zwei Geschütze unter sich. Conroy knurrend und sprang zur „Hoffentlich geben sie's jetzt auf", Seite. „Zurück! Achtung!" sagte der Seewolf. Er hätte es vorgezogen, ohne dieses Gefecht aus dem Er löste den Schuß aus. Die Culverine, deren Rohr schräg Hafen zu segeln. Aber sie wollten es über die Bordwand ragte, dröhnte ja nicht anders. Einen Moment dachte er an Jeanüberraschend laut auf. Al Conroy hatte die Pulverladung verstärkt, um Marie Querillon, jenen aufrechten auf diese Entfernung eine weniger und gemütlichen Karavellen-Kapiabwärts gekrümmte Flugbahn des tän, der offensichtlich die Machenschaften des Präfekten nicht billigte. Sprenggeschosses zu erreichen. Die weiße Stichflamme, die an den Über die Antwort der Engländer Rändern rot leuchtete, erstreckte sich würde er am wenigsten erfreut sein. noch weiter über das dunkelgraue Ben Brightons Frage riß ihn aus Wasser. Fast kreischend jagte das seinen Überlegungen. „Wahrscheinnachglühende Geschoß auf die Ba- lich werden uns die beiden Kravellen stion des Schlosses zu. Mit dem freien verfolgen, Sir. Was tun wir?" Auge konnte die Glutspur verfolgt Hasard hob die Schultern und sagte werden. bissig: „Das, was nötig ist. Aber sie Die Flugbahn war tatsächlich fast haben keine Chance. Unser Vorgerade. sprung ist viel zu groß. Bevor sie richDann detonierte die Sprengladung tig aufgeholt haben, sind wir längst im Inneren der gekerbten Kugel. We- unter der Küste Englands." nige Ellen, bevor das Geschoß die Ge„Das hoffen wir alle." schützstellungen erreichte, exploDer Konvoi, von der Schebecke andierte es in einem grellen Feuerball geführt, erreichte unbelästigt von und verstreute das gezackte Eisen weiteren Schüssen der Franzosen die
59 freie See. Auf den verschwitzten Gesichtern der Seewölfe trocknete ein erster weicher Windstoß, der den gewohnten Geruch nach Salzwasser mit sich trug, den Schweiß. Plötzlich merkten sie wieder, daß es erst April war. Die Kälte packte sie, und jeder, der nichts zu tun hatte, verschwand unter Deck und tauchte wieder auf, eine Mütze auf dem Kopf und in eine dicke Jacke gehüllt. Die Segel fingen zu flappen an, aber der Südwest war alles andere als stark. „Immerhin brauchen wir nach England nicht zu kreuzen. Ein Vorteil im verdammten Nachteil!" rief der Rudergänger. Hasard dachte schon einen Schritt weiter und rief nach dem Kutscher. Der Koch der Seewölfe verließ die Kombüse, in der er versucht hatte, einen Kessel mit starkem Tee und eine seiner berüchtigten „Suppen für alle Jahreszeiten" zustande zu bringen. „Sir?" erkundigte er sich. Er war einer derjenigen, die wenig getrunken hatten. „Unsere Gäste, das kannst du auch Mac Pellew sagen, werden in der letzten Zeit nicht gerade verwöhnt worden sein. Packe Wasser, Wein und Proviant für etwa ein Dutzend Männer und drei, vier Tage zusammen. In der Galeone gibt's nicht so viel Vorräte. Wir helfen ihnen." „Das ist ein Gebot der christlichen Nächstenliebe", bemerkte der Kutscher gestelzt und rang sich ein karges Lächeln ab. „Ich tue mein Bestes, wie fast immer." „Wir müssen das Boot bald loswerden", erklärte Brighton. „Sonst schleppen wir die armen Kerle noch bis London, und genau das wollen wir vermeiden." „Habe schon verstanden. Luke
wird mir helfen, nicht wahr?" sagte der Kutscher. Er wandte sich an Luke Morgan, der achtern gerade ein Tau aufschoß und am Schanzkleid festbändselte. „Selbstverständlich, Mister Meisterkoch", gab Luke Morgan zur Antwort. „Bestehen die Kerle auf besonderer Schonkost?" Hasard lachte herzlich und schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Sie werden mit fröhlichen Gesichtern das essen und trinken, was sie erhalten. Oder willst du etwa deinen verschimmelten Käse loswerden?" „Bei mir, Sir", versicherte der Kutscher steif, „verschimmelt nichts." Er zog ein beleidigtes Gesicht. „Höchstens deine Laune, Mann!" dröhnte Carberry und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Noch immer wurde gerudert, aber inzwischen nicht mehr so kraftvoll und schnell. Einige Minuten vergingen, in denen Al Conroy seine Culverinen versorgte und die Seewölfe weiterpullten. Niemand sprach, jeder beobachtete im grauen Morgen die Umgebung. Es konnte durchaus sein - und meist erfolgten die bösen Erlebnisse gehäuft -, daß aus dem Dunst ein zweiter französischer Schiffsverband oder ein einzelner, schwer zu besiegender Gegner auftauchte und den Seewölfen zusetzte. Der Südwest wurde eine Spur kräftiger, und zwischen den einzelnen Böen, die eiskalte und nasse Luft heranwehten, gab es Zonen, die den erfahrenen Seeleuten verrieten, daß der neue Tag warm und voller Sonnenschein zu werden versprach. „So, Freunde - das war's", sagte Hasard, der sich langsam beruhigte. „Nur noch ein paar tausend Riemenschläge, dann segeln wir ohne
60 große Anstrengungen zu unserer Insel. Mit jedem einzelnen Goldstück, mit jeder Silbermünze und allen Erinnerungen an eine einzigartige, lange Reise." Seine Stimme hallte über die Länge des Schiffes, und auch die Männer auf der Galeone hörten sie deutlich. Nicht jeder war von der Richtigkeit dieses Ausspruchs überzeugt, aber die Chance, daß es sich wirklich so verhielt, war niemals größer gewesen.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es herrschte die ungewisse Helligkeit der Morgendämmerung. Die Segel der Schebeke schlugen nicht mehr, sondern wurden von einem schwachen, aber stetigen Wind gefüllt. Die Riemen hatten die Seewölfe vor wenigen Minuten eingezogen und verstaut. Jetzt verhielt die Schebecke und wartete darauf, daß die Galeone längsseits ging. Das Schlepptau wurde am Heck losgeworfen und von Big Old Shane, Hasard und dem Ersten zum Bug verholt und dort lose neu belegt. Batuti und Don Juan traten ans Steuerbordschanzkleid der „Fidelidad". Bei ihnen befanden sich drei ehemalige Gefangene, die man in alte Jacken und Hemden der Crew eingekleidet hatte. „Das war eine Nacht ganz nach meinem Geschmack", sagte der Spanier. „Du wirst uns sicher irgendwann erzählen, wie das alles abgelaufen ist." Hasard nickte und grinste breit. Seine eisblauen Augen funkelten vergnügt. „In London. Am Kamin der Bessy. Bei einem riesigen Becher von dem rauchigen Zeug aus Schottland."
„So halten wir es. Meinst du, daß der Wind reicht?" Die Crew verfolgte gähnend die Unterhaltung. „Er wird uns auf jeden Fall von Dieppe wegbringen. Ich rechne damit, daß er auffrischt." „Und wir hoffen es", meinte einer der Gefangene. „Wir haben zu danken, Kapitän Killigrew. Wenn wir Zeit hätten, würden wir Ihnen erzählen können, warum uns die Leute von Dieppe einsperrten. Wir haben uns entschlossen, nach Süden zu segeln." „Segeln?" fragte Hasard erstaunt. „Höre ich schlecht?" „Unter den Ruderbänken fanden wir einen Notmast, reichlich Tauwerk und ein Lateinersegel. Wenn wir etwas Proviant hätten, könnten wir schon heute weit gelangen." Hasard prüfte den Wind. Dann setzte er eine skeptische Miene auf und erklärte: „Proviant erhaltet ihr von uns. Ein paar alte Jacken finden sich bestimmt auch noch unter Deck. Aber wenn ihr weit in den Süden wollt, müssen wir euch weit hinausschleppen. Sonst kreuzt ihr wie die Verrückten, und die Franzosen schnappen euch schnell." „Darum wollte ich bitten, im Namen und für meine Mitgefangenen, die Sie so großmütig befreit haben." Conroy winkte hinüber zum anderen Schiff, dessen Segel die Schebecke im Augenblick voll abdeckten. „Von Großmut keine Spur, mein portugiesischer Freund! Wir haben euch die Zellen aufgeschlossen, um diese Dieppe-Affenärsche zu ärgern!" „Das ist Ihnen sicherlich gelungen." Das Fischerboot wurde mit einiger Mühe längsseits gezogen. Batuti und Jan Ranse enterten ab und belegten die Tampen an der Galeone. Dann wanderten die Säcke und Krüge des
61 Proviants vorsichtig über die beiden Decks. Der Gambiamann richtete den Mast auf und grinste mitleidig zu den abgerissenen Männern hinunter, die zwischen den Ruderbänken eingeschlafen waren. „Vielleicht hilft mir jemand!" rief er und registrierte, daß beide Schiffe inzwischen recht gute Fahrt liefen. „Komme schon." Einige Bündel fielen von der Galeone hinunter. In die Decken waren Jacken und Hemden gewickelt, die einigermaßen sauber, aber häufig geflickt waren. Dann reichten die Männer den Proviant nach unten. Einer der Männer, die weniger lange im Gewölbe eingesperrt und daher kräftiger waren, kletterte in das Boot. „Seid ihr sicher, daß ihr das absegeln könnt?" fragte der Gambiamann. „Dazu gehören gute Seeleute." „Wir haben Landsicht." „Richtig." „Alle können segeln und rudern", sagte der zweite Mann, der die viel zu große Jacke des Profosen trug. „Es wäre unverschämt, euch noch um mehr zu bitten. Habt keine Sorge. Wenn uns die Franzosen nicht erwischen, schaffen wir es dorthin, wohin wir wollen." Als sämtlicher Proviant von der Schebecke an die Galeone übergeben worden war, führte der schnelle Segler einen Schlag nach Steuerbord aus und gelangte wieder in den Bereich des Windes. Die Schebecke legte sich leicht nach Steuerbord und wurde schneller. Sie löste sich von der Galeone und überholte das dickbauchige spanische Schiff. Die Felsen und Klippen waren unbedeutend klein geworden, und noch immer war zwischen ihnen keine Karavelle aufgetaucht. Der Seewolf musterte das Deck
vom Bug bis zum Ruder, holte tief Luft und schrie: „In der Kombüse gibt es für die Wache Tee und eine Suppe, die besser schmeckt, als sie riecht. Nach dem Backen und Banken ißt die andere Hälfte. Und die erste Hälfte hat Freiwache. Meinetwegen könnt ihr auswürfeln, wer an Deck bleibt, und wer sich dem letzten Schlaf vor England hingeben darf. Befehl des Kapitäns, Arwenacks. Wir waren heute nacht so gut wie immer." „Besser!" brummte Ben Brighton neben seiner rechten Schulter. Binnen weniger Minuten war tatsächlich die Hälfte der Crew im Gedränge unter Deck verschwunden. Der Affe, der Hund und der Papagei schliefen offensichtlich erschöpft während der Kanonade hatten sie sich aufgeführt, als wäre der Weltuntergang ausgebrochen.
Don Juan und Batuti hingen halbwegs über das Schanzkleid am Heck und blickten, die Arme schwer aufgestützt, in das Fischerboot hinunter. Dort verteilten die Kräftigeren gerade an die anderen, die schlaftrunken, erschöpft und hungrig waren, Wein und Essen. Der Mast stand, die Taue waren straff gespannt, und die Gaffel mit dem Segel war aufgezogen. Aber noch wurde das Boot geschleppt. „Wohin sie segeln, kann uns eigentlich gleichgültig sein", meinte Don Juan und schüttelte den Kopf. „Mein Bier ist das jedenfalls nicht." „Meins auch nicht. Aber für sie ist es der Unterschied zwischen Kerker und Freiheit. Wir sind nicht die Richter." „Mir ist auch egal, was sie ausgefressen haben. Aber die Diepper werden sich schwarz ärgern."
62 „Und wenn sie damit fertig sind, können sie ihre Türme und Bastionen wieder aufbauen." „Genau." Eine Rah nach der anderen wurde ohne Hast getrimmt. Die Schoten wurden belegt, der Rudergänger versuchte, den besten Kurs am Wind zu finden. Steuerbord voraus segelte mit guter Fahrt die schlanke Schebecke und gab den Endpunkt des Kurses, zumindest den des langen Schlages, an. Gegen Mittag waren sie alle in englischen Gewässern. Schon jetzt, ohne daß sie an Verfolger dachten, entfernten sie sich zusehends aus dem französischen Küstenbereich. Vielleicht hatten die Kapitäne der Karavellen eingesehen, daß eine Verfolgung sinnlos war. Eine Stunde später hatte der Wind deutlich aufgefrischt. Beide Schiffe hatten mindestens sieben Seemeilen zurückgelegt. Der Augenblick der ersten Wende kam heran. Der Seewolf blinkte das Signal von der Schebecke herüber. Don Juan ließ eine Antwortflagge im Großmast setzen. Dann rief er zu den Gefangenen hinunter: „Wir werfen die Leine los. Ihr seid jetzt auf euch allein angewiesen. Gute Fahrt, guten Wind, Freunde!" „Wir danken! Gute Fahrt nach England! Danke!" Die Insassen des Fischerboots hatten sich auf den Ruderbänken zusammengedrängt und winkten immer noch, als sich die Schiffe so weit voneinander entfernt hatten, daß die Menschen an Deck kaum mehr zu sehen waren. Die Schebecke und die Galeone halsten und gingen auf vorläufigen Endkurs nach London - fast vor raumen Wind liefen sie in nordöstlicher Richtung weiter durch den Kanal.
Eine Stunde nach Sonnenaufgang waren weder französische Verfolger noch andere Schiffe zu sehen. Nachdem er den Horizont ringsum das drittemal mit dem Spektiv abgesucht hatte, riskierte es auch Philip Hasard Killigrew, unter Deck und auf Freiwache zu gehen. Aber bevor er einschlief - er hatte es gerade noch geschafft, die Stiefel abzustreifen -, beherrschte nur ein Gedanke seine Überlegungen. Eine Frage war es: Würden die „Fidelidad" und die Schebecke bei diesem Versuch endlich London erreichen, ohne aufgehalten zu werden? Die Antwort erhielt er leider nicht im Traum.
Der frühe Morgen sah vier unrasierte, unausgeschlafene und unvollständig angezogene Männer zwischen den Trümmern und den umherhastenden Soldaten, Fischern und Stadtbewohnern Dieppes. Sie bildeten in der Mitte des größten freien Platzes eine Gruppe. Noch immer schüttelte Noyale Fraimbault den Kopf. Schließlich, nach einer Serie ausgesuchter französischer Flüche aus den tiefsten Tälern der Normandie, sagte er: „Das alles hätten wir uns sparen können, Messieurs. Unsere Falle war hervorragend geplant, aber sie taugte nichts." Jean-Marie Querillon breitete die Arme aus und vollführte eine resignierende Geste. „Ich habe gewarnt. Dennoch! Ich hätte nicht gedacht, daß die Ingles so gute Schauspieler und derart raffiniert wären. Ich stehe nicht an, ihnen ein ehrliches Kompliment zu sagen, obwohl ich auch etwas von der fetten Beute hätte brauchen können. Trümmer, Brände, Verletzte
63 und höhnisches Gelächter. Das ist alles, was wir erbeuteten." „Sie haben recht", brummte du Nazaire. „Es sind Höllenhunde. Sie hatten schon die Feilen im Stiefel, als sie uns die arglosen Gäste vorspielten." „Wahrscheinlich kennen sie derlei Zwischenfälle besser als wir. Dieser verdammte Killigrew - er wirkte, als sei er weit herumgekommen." „Jedenfalls ist er leicht herausgekommen", fluchte George Roche-Bernard. „Mit allen Leuten. Mit dem Gold. Und mit den Gefangenen. Würde ich nicht zu Tode betrübt sein, müßte ich schallend lachen." Querillon zog seinen Hut, deutete eine Verbeugung an und schlenderte, in der morgendlichen Kälte etwas fröstelnd, auf die Poller zu. Plötzlich stutzte er, senkte den Kopf und streckte dann die Hand aus. Auf der glatten Oberfläche des uralten Holzstumpfes lag ein sauber zusammengefaltetes Papier. Er nahm es. Etwas war darin eingewickelt. Neugierig faltete er das Papier aus-
einander und fing die große goldene Münze mit dem kastilischen Wappen darauf mit der flachen Hand auf. „Ein spanischer Dukaten?" murmelte er. Dann las er die Zeilen, die in großer Hast auf das Papier gekritzelt waren. In Französisch, wie er geistesabwesend bemerkte. Wir bedanken uns für die ausgezeichnete Gastfreundschaft der Kapitäne und des Präfekten von Dieppe. Niemals werden wir dieses gute Essen und die anschließende freundliche Unterhaltung vergessen. Beides zeigt die wahre Kameradschaft echter Seefahrer und Gentlemen. Wir danken sehr herzlich! Brighton, I. Offizier der ,,Arwenacks". Der Kapitän fühlte, wie ein heißes Gefühl in ihm hochstieg, als habe er sich an zuviel Calvados verschluckt. Er konnte nicht mehr an sich halten und lachte schallend. Schließlich wankte er, vom unwiderstehlichen Gelächter geschüttelt, mit Tränen in den Augen, auf die Kapitäne zu und
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hielt ihnen, immer noch kichernd und wiehernd, die Goldmünze und die Nachricht entgegen. Er vergaß die Kälte des Morgens, das Chaos um sie herum - und er hörte auch dann nicht auf zu lachen,
als ihn verwunderte und ärgerliche Blicke der Bürger von Dieppe trafen. Er konnte nicht anders. Die anderen Kapitäne sahen hingegen reichlich betreten aus, nachdem sie den Text gelesen hatten...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 608
Themse-Geier von Burt Frederick Zwei Reiter fegten fast nebeneinander den steilen Pfad herauf, der zu der SilberGaleone am Fluß führte. Sie trieben ihre Tiere brutal mit den Zügelenden und Sporen an. Auf den ersten flüchtigen Blick erkannte der Seewolf, daß die beiden Reiter weitaus besser gekleidet waren und gepflegter aussahen als jene Kerle, die sich der „Fidelidad" bemächtigt hatten. Klarer Fall, es handelte sich um die beiden Oberhalunken der Themse-Geier, die jetzt flüchten wollten und ihre Kerle im Stich ließen. Fast gleichzeitig schossen Big Old Shane und Batuti ihre Bögen ab. Die Pfeile rasten von den Sehnen und trafen die beiden Reiter mit großer Wucht in die Schultern. Hasard packte, als der erste Mann halb an ihm vorbei war, dessen Fuß und riß den Reiter aus dem Sattel...