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Die gestohlenen Techmine und andere phantastische Erzählungen
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1968
Russisch...
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Die gestohlenen Techmine und andere phantastische Erzählungen
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1968
Russische O r i g i n a l t i t e l : Die g e s t o h l e n e n T e c h m i n e : MypaBBHHMH uapi> Das E x p e r i m e n t : SKcnepiraeHT Die Pille der E r l e u c h t u n g : PaccKa3 lejioBeKa, KOToptiii 6 M J I reiBieM Mensch o d e r R o b o t e r : PaccKa3 co cHacxjiHBBiM KOHIJOM M o d e k a p r i c e n : POÖHIIKM Der g r ü n e Knopf: 3 e j i e n a a KHonna Umschlag u n d I l l u s t r a t i o n e n : W e r n e r R u h n e r
V e r l a g K u l t u r u n d Fortschritt, 108 B e r l i n , G l i n k a s t r a ß e 13-15 3/1968 Lizenz-Nr. 3-285/213/68 Satz u n d D r u c k : G r a n s e h e r G r o ß b e t r i e b V ö l k e r f r e u n d s c h a f t D r e s d e n
Alexander Lomm
Die gestohlenen Techmine Ein ungelegener Gast Der Kandidat der techminischen Wissenschaften Zdenefc Pistora verließ das Institut heute wesentlich früher als gewöhnlich. Es war vier Uhr nachmittags, als ihn der Dienstwagen — ein Tatra — nach Hause brachte. Im zweiten Stock blieb der Kandidat stehen, um Luft zu schöpfen, und holte ein kleines, geschliffenes Röhrchen mit einem Glaspfropfen aus der Tasche. Ungeduldig öffnete er es und schüttete daraus ein schwarzes Etwas auf seine Hand, das in Form und Ausmaß an drei zusammengeklebte Schrotkörnchen verschiedenen Kalibers erinnerte. „Es ist heil und ganz, mein Lieber, völlig unversehrt!" murmelte er hocherfreut. Doch gleich darauf sah er sich unruhig um und ließ seinen Schatz wieder in das gläserne Röhrchen zurückgleiten. Langsam und ruhig stieg er die Treppe weiter hinauf. Als er seine Etage erreicht hatte, blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Vor seiner Wohnungstür stand ein älterer Mahn mit bleichem, quadratischem Gesicht und einem großen schwarzen Schnurrbart. Es war Professor Kracmer, sein Abteilungsleiter. Sollte er es tatsächlich herausbekommen haben? schoß es Pistora mit Windeseile durch den Kopf. Ein Zittern überlief seinen langen, hageren Körper. „Wundern Sie sich bitte nicht über meinen Besuch, lieber Kollege! Zufällig erfuhr ich, daß Sie heute den Auftrag des CGIIGP erledigt haben. Ich muß mit Ihnen sprechen." Nein, er weiß es nicht! Dem armen Kandidaten fiel ein Stein vom Herzen; mühsam seine schlotternden Beine beherrschend, ging er dem Chef entgegen. „Verzeihen Sie, Professor! Das kommt für mich so überraschend, daß ich ganz durcheinander b i n . . . " , murmelte er 3
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aufgeregt, während er den Schlüssel hervorholte und die Tür öffnete. „Das macht nichts, das macht gar nichts", beruhigte ihn Kracmer und seufzte mitfühlend. „Wie sehen Sie nur aus! Diese neue Techmin hat Sie ja sehr mitgenommen!" Pistora preßte sich ein kurzes Lachen ab, öffnete die Tür und sagte mit gespielter Munterkeit: „Aber ich bitte Sie! Ich bin gesund wie ein Pferd! Treten Sie näher!"
Angst vor der Kyberoformica Sie traten in den engen Vorraum, legten die Mäntel ab, und Pistora bat den Gast in sein Arbeitszimmer. „Vielleicht möchten Sie einen Kaffee?" fragte er liebenswürdig, während der Professor in dem Sessel neben dem niedrigen, runden Tischchen Platz nahm. „Nein, danke. Ich bin nur auf eine Minute zu Ihnen gekommen. Setzen Sie sich und hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe." Zdenek nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an. Seine Finger zitterten merklich. Einige Augenblicke schaute Kracmer schweigend vor sich hin, als wollte er seine Gedanken sammeln. Dann schnaubte er sich die Nase, strich sich sorgfältig über den Schnurrbart und hob langsam an: „Was ich Ihnen sagen möchte, lieber Kollege, ist nicht für fremde Ohren bestimmt. Ich kenne Ihre absolute, kristallreine Ehrlichkeit und verlange deshalb gar nicht, daß Sie mir Ihr Wort geben . . . " Als Pistora von seiner Ehrlichkeit reden hörte, bekam er rote Ohren. Kracmer aber blickte nach wie vor zur Seite und bemerkte seine Verwirrung nicht. „Lieber Kollege, Sie kennen meine Meinung über die Kybernetik", fuhr der Professor mit knarrender Stimme fort. „Ich bin überzeugt, daß die heutige Begeisterung für die Kybernetik äußerst schädlich ist und gefährliche Folgen mit sich bringt. Sie werden vielleicht einwenden, daß wir alle Vorsichtsmaßnahmen treffen. Das stimmt. Aber mei4
nen Sie, daß restlos vorauszusehen ist, wann und womit die Katastrophe beginnt? Wir irren im Nebel umher und können jeden Augenblick in eine Falle geraten. Wenn der Aufstand der von uns geschaffenen Mechanismen erst einmal ausgebrochen ist, wenn die geheimnisvollen Kräfte des Bösen erst einmal erwacht sind, dann ist es zu spät. Wir besitzen keine Mittel, dagegen anzugehen . . . Heute nun, lieber Kollege, haben Sie die Arbeit an der Kyberoformica beendet. Mir sind diese erstaunliche Techmin und ihre entsetzlichen Möglichkeiten nicht unbekannt! Es ist eine gefährliche und schreckliche Erfindung! Man kann sich unschwer vorstellen, was sie anzurichten vermag, wenn sie sich eines Tages selbständig m a c h t . . . " Pistora zuckte zusammen. „Sie wird sich nicht selbständig machen, Genosse Professor", sagte er leise. „Morgen übergeben wir sie dem CGIIGP, und in einer Woche fliegt sie in den Kosmos, um die von den Wissenschaftlern gestellten Aufgaben zu erfüllen." „Das ist es eben, in den Kosmos!" wandte Kracmer bitter ein. „Gerade dort wird sie sich selbständig machen!" „Ich verstehe Sie nicht.. ." „Sie verstehen nicht? Das ist doch das Einfachste von der Welt. Wir geben dieser Erfindung volle Handlungsfreiheit. Sie ist fähig, auf eigene Faust auf die Erde zurückzukehren, und d a n n . . . Das übrige haben Sie mit Ihrem Gewissen abzumachen. Wenn aber, unter uns gesagt, die Kommission des CGIIGP an der Kyberoformica ernste Mängel entdeckt und die Abnahme ablehnt, werde ich Sie rftcht zur Verantwortung ziehen. Mehr noch, ich werde mich bemühen, die Kommission und unseren Wissenschaftlichen Rat davon zu überzeugen, daß die Kyberoformica nach dem vorliegenden Projekt nicht zu realisieren i s t . . . " „Aber Genosse Professor!" „Das ist meinerseits alles, lieber Kollege." Nach diesen Worten erhob sich Kracmer und entfernte sich mit einer zeremoniellen Verbeugung.
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Je weniger, desto besser Hier muß gesagt werden, was eine Techmin ist. Es ist eine Abkürzung und heißt: Technische Miniatur. Die von uns beschriebene Zeit war eine Zeit regelrechter Begeisterung für technische Miniaturen. Täglich kamen neue winzige Geräte auf, und die Konstrukteure dieser Miniaturen rissen sich fast ein Bein aus, um einander zu überbieten. Es wunderte sich schon niemand mehr über Radioapparate von der Größe eines Stecknadelkopfes, über Filmkameras und Fotoapparate, die man unter seinen Fingernägeln verstecken konnte, oder über Magnettongeräte, die in einem Knopfloch Platz hatten, und dergleichen. Die praktische Anwendung dieser Miniaturen oder, wie man sie bald nannte, dieser Techmine, war mit großen Unannehmlichkeiten verbunden. Man verlor sie andauernd. Vernünftig denkende Menschen winkten ab: „Was hat das für einen Sinn! Der Mensch ist so gebaut, daß er Gegenstände von ganz bestimmter Größe braucht. Sagen Sie doch um Himmels willen, wozu man einen Schweißapparat herstellt, den allenfalls ein Marienkäfer zu benutzen imstande wäre? Was soll dieser ganze Unsinn?" Doch die Erfinder der Techmine ignorierten sämtliche Einwände. Sie fanden Tausende von Rechtfertigungsgründen für ihre winzigen Produkte. , Die Tech ministen arbeiteten bald für die Medizin und stellten Geräte her, die man in Gelatineoblaten verschlukken konnte; dann wieder arbeiteten sie für die Kosmonautik und stellten für kleine Raketen Miniaturausrüstungen her, die den kosmischen Raum erkundeten, oder aber sie arbeiteten für die Kriminalistik. Was denkt sich das findige menschliche Hirn nicht alles aus! Und siehe da, ein Hitzkopf kam auf die Idee, ein mechanisches Insekt herzustellen, konstruiert nach dem Prinzip vollkommener kybernetischer Maschinen — sich selbst programmierend, sich selbst steuernd, sich selbst vervollkommnend, sich selbst aufladend und was nicht noch alles selbst vollbringend. Die Wahl fiel auf eine Ameise aus der 6
Unterfamilie der Darylinae, die zur Art der Polyergus gehört. Die Ehre, diese geniale Idee zu realisieren, fiel einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des PITM (Prager Institut für technische Miniaturen), dem Kandidaten der techmihi-' seilen Wissenschaften, Zdenek Pistora, zu.
Verbrechen aus Schwäche Warum aber war der Kandidat der techminischen Wissenschaften, Zdenek Pistora, angesichts seines Chefs von einer so merkwürdigen Aufregung befallen worden? Das ist weiter kein Geheimnis. Der Schöpfer der Kyberoformica war verliebt und wollte vor seiner Braut mit der soeben fertiggestellten Techmin brillieren. Mit anderen Worten, er wollte ihr zeigen, was für ein Prachtkerl er war, er, Zdenek Pistora. Um die Wahrheit zu sagen, so war Danka ohnehin fest davon überzeugt, daß ihr bebrillter, langaufgeschossener Techminist der beste aller Männer sei. Pistora aber hatte ständig den Eindruck, daß sich ihre Überzeugung noch nicht ' genügend gefestigt habe. Deshalb hatte er sich entschlossen, ihr seine wunderbare mikroskopische Schöpfung vorzuführen. Danka in das Allerheiligste des PITM zu führen war völlig undenkbar. Viel einfacher war es, die kleine Kyberoformica für einen Abend und eine Nacht aus dem Institut mitzunehmen! Und genau das hatte Zdenek Pistora getan. Ohne jemandem etwas davon zu sagen, hatte er die kybernetische Ameise heimlich, still und leise in das geschliffene Flakon gesteckt und sie mit nach Hause genommen. Er wußte natürlich, daß sein Tun überaus verwerflich war und schon an ein Verbrechen grenzte. Deshalb litt er auch und war so aufgeregt. Nachdem er Professor Kracmer hinausbegleitet hatte, dauerte es eine Weile, bis er sich beruhigte. Der unerwartete Besuch seines Chefs hatte ihn zu sehr erschreckt und aus der Fassung gebracht. Was war das nur für ein 7
dummer Zufall! Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß die Gefahr vorüber war, bekam er sich wieder in die Gewalt. Er gewann seine Urteilskraft wieder und rief sich sein kurzes Gespräch mit Kracmer ins Gedächtnis zurück. Der Sinn der Unterhaltung war mehr als klar: Professor Kracmer fürchtete die Kyberotormica und schlug vor, sie zurückzuziehen. „Unseliger Angsthase!" sagte er laut und spürte, wie sich sein Herz wegen der einmaligen Kyberoformica vor Zorn, Eifersucht und Kränkung zusammenzog.
Die Begegnung im Glas Danka ließ nicht auf sich warten. Wie hätte sie das auch tun können! Den unvergleichlichen Zdenek sehen und gleichzeitig den Kyber besichtigen, der sich bald ins Zentrum der Galaxis begeben würde — wer hätte darauf wohl verzichten wollen! Keine halbe Stunde war nach dem Telefonanruf vergangen, als sich zwei Köpfe — ein schwarzer mit borstigem Igelschnitt und ein wuschliger aschfarbener — über das Glas beugten, in dem, eifrig mit dem Antennenschnauzbart wedelnd, die wunderbare künstliche Ameise herumkroch. Zunächst konnte Danka nicht glauben, daß das schwarze Insekt im Glas nicht natürlichen Ursprungs sei. Die Kyberoformica war ihren lebenden Mitbrüdern zu ähnlich. Doch Zdenek fiel es nicht schwer, ihre Zweifel zu zerstreuen. Er nahm eine Lupe, die alles hundertfach vergrößerte, und zeigte Danka den Stempel des PITM und seinen eigenen Namen, der der Kyberoformica auf den Bauch graviert war. Entzückt rief Danka aus: „Oh, Zdenek, was bist du doch für ein Prachtkerl!" Der Kandidat der techminischen Wissenschaften errötete vor Vergnügen, rückte seine Brille zurecht und sagte bescheiden: „Ich bitte dich — Prachtkerl! Was du so sagst!" 8
Doch dann nahm er eine würdige Haltung ein und setzte hinzu: „Übrigens war das gar nicht so einfach! Wenn du wüßtest, was sich alles im Innern dieses Kybers befindet! Hundertfünfzig Geräte und Steuerungssysteme! In normaler Größe würden sie nicht einmal im Gebäude des PITM Platz linden!" „Tatsächlich? Kaum zu glauben. Und das hast du alles selbst gemacht?" „Was heißt .selbst gemacht'? Daran haben über fünfhundert Menschen gearbeitet. Ich habe nur die Montage geleitet und die Oberaufsicht als Erfinder und Chefkonstrukteur innegehabt. Deshalb steht neben dem Stempel des Instituts auch mein Name. Wenn man bedenkt, daß dieser Name ins Zentrum unserer Galaxis fliegen wird ..." 2 Techmine
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„Oh, Zdenek! Es ist schrecklich, wie berühmt du bald sein wirst!" Und das aschfarbene Köpfchen sank dem Kandidaten zärtlich an die Brust. Etwa zwei Stunden später, nachdem er seine Braut bis an die Haltestelle der Straßenbahn begleitet hatte, kam der glückliche Kandidat wieder nach Hause zurück und eilte als erstes zu dem Glas. Er schaute hinein und rief verwundert: „Das ist ja allerhand!" Statt einer Ameise erblickte er in dem Glas mindestens ein Dutzend dieser flinken Insekten. Die Gäste unterschieden sich allerdings so stark in Färbung, Ausmaß und Benehmen von ihrer Gastgeberin, daß es durchaus nicht notwendig war, zur Lupe zu greifen, um unter den gewöhnlichen, lebendigen Ameisen die kostbare Techmin herauszufinden. Die neuangekommenen Ameisen waren kleiner und bedeutend heller als die künstliche. Sie kreisten in dichten Scharen um die Kyberoformica, betasteten sie mit ihren Fühlern und staunten sie offenbar nicht weniger an, als Danka es getan hatte. Die Kyberoformica selbst verhielt sich würdevoll und berührte ebenfalls, ohne sich zu beeilen, der Reihe nach alle Gäste mit ihren Antennen. Sie studierte sie und nahm sie mit ihrer gesamten komplizierten Apparatur zur Kenntnis. ' „Nein, meine Liebe, du tust nicht das, was du sollst! Dir steht eine weit wichtigere Arbeit bevor, als dumme irdische Ameisen zu untersuchen!" Mit diesen Worten nahm Zdenek die Kyberoformica vorsichtig mit der Pinzette und steckte sie in das Flakon zurück, das er mit dem Glaspfropfen wieder fest verschloß. Was die lebenden Ameisen anbetrifft, so ging der Kandidat nicht nur unhöflich, sondern geradezu roh mit ihnen um: er goß Wasser ins Glas und schüttete es mitsamt den Ameisen in den Ausguß der Küche. Danach legte er das Flakon mit der Kyberoformica in die Schreibtischlade und ging schlafen. Schon im voraus genoß er die erste ruhige Nacht seit drei Jahren, 10
Schlaflosigkeit, Gedanken, Sorgen . . ; Aber auch diesmal gelang es Zdenek Pistora nicht, unbeschwert einzuschlafen. Kaum hatte er sich in das kühle Bett gelegt, begann seine freudige und glückliche Stimmung allmählich zu verblassen und zu verfliegen. Das Bild des geliebten Mädchens wurde von der finsteren Figur Professor Kracmers verdrängt. „Das wird zu einer ganzen Kettenreaktion!" brummte das Kracmer-Gespenst hartnäckig. „Du bist selbst eine Kettenreaktion! Verschwinde!" widersprach ihm Pistora in Gedanken 'und gab sich die größte Mühe, die unangenehme Erscheinung loszuwerden. „Das wird zu einer Kettenreaktion, die zur Katastrophe führt!" sagte Kracmer, ohne sich beirren zu lassen. Plötzlich erinnerte sich Pistora an die kleine, scheinbar unwichtige Episode, wie sich die lebendigen Ameisen und die Kyberoformica im Teeglas begegnet waren. Dabei rückte Kracmer irgendwie in den Hintergrund, und schließlich verschwand er ganz. Ringsherum wimmelten Ameisen — eine große Menge von Ameisen: rote, rötliche und schwarze. Sie krochen schweigend umher, eifrig und konzentriert, und bewegten ihre Fühler. Und da drang eine seltsame Unruhe in Pistoras Herz. Die Ameisen waren ihm ausgesprochen unsympathisch, obwohl ihm noch nicht klar war, weshalb. Er lag mit offenen Augen auf dem Rücken und grübelte nur noch über die Ameisen nach. Warum sind sie zu der Kyberoformica in das Glas gekrochen? Was hat sie dorthin gezogen? Woher sind sie so einfach gekommen? Was für Reaktionen haben sie in dem komplizierten, sich selbst programmierenden System der Kyberoformica hervorgerufen? Und was wissen wir überhaupt über die Ameisen? „Es ist schwer, sich auch nur vorzustellen, wie viele dieser Ameisen auf unserem alten Planeten leben!" sinnierte Pistora vor sich hin, die Hände unter den Kopf gelegt und ins Dunkel seines Zimmers starrend. „In einem Ameisen2»
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Staat leben bis zu einer halben Million Exemplare, in den Tropen sind es sogar Hunderte von Millionen. Und wie viele solcher Ameisenhaufen gibt es auf der ganzen Erdoberfläche? Wieviel Löcher gibt es unter der Erde, im Sand oder im Holz alter Bäume? Fünfzig Millionen? Hundert? Oder vielleicht eine ganze Milliarde? Hat sie irgend jemand gezählt? Weiß der Teufel, was es damit auf sich hat! Jedenfalls gibt es auf der Erde einige hundert Trillionen Ameisen, und zwar der allerverschiedensten Art: Jäger, Viehzüchter, Schnitter und Sklavenhalter. Ich habe viel darüber gelesen. Und sie haben die Fähigkeit, überall einzudringen. Man sieht sie nicht, aber sie sind überall, sogar in den Städten. Sie sind da, beobachten und warten. Worauf warten sie eigentlich?!"
Es ist geschehen Mit einem Ruck erhob Pistora sich aus seinem Bett, schaltete das Licht ein und zog sich fieberhaft an. Seine innere Unruhe nahm lawinenartig zu. Das Jackett zog er sich erst über, als er bereits im Laufschritt in sein Arbeitszimmer eilte. Zu überlegen gab es nichts. Er riß die Tischschublade auf, ergriff das Flakon und erstarrte vor Entsetzen. Das Röhrchen war leer! Der Glaspfropfen lag am anderen Ende der Schublade, wie mit Gewalt aus dem Fläschchen herausgestoßen. Wer hatte den Pfropfen herausgezogen und beiseite geschleudert? Sogar ein Mensch, selbst er, Pistora, vermochte ihn immer nur mit Mühe aus dem Flakon herauszuziehen! Sollte das wirklich die Kyberoformica getan haben? Aber wo war sie? Vorsicht!!! Daß er sie nur nicht zerdrückte! Irgendwo hier im Tischkasten mußte sie sein! Pistoras Hände zitterten, als er den Inhalt des Kastens aufgeregt durchsah und durchwühlte. Nicht die geringste Kleinigkeit, kein einziges Stäubchen entging seiner Aufmerksamkeit. Doch die Kyberoformica war nicht da. „Geflüchtet, diese Schurkin!" flüsterte der unglückliche 12
Techminist und setzte sich völlig erschöpft auf einen Stuhl. Was war jetzt zu tun? Wie dem Direktor des PITM und der Kommission des CGIIGP den Verlust einer so kostbaren Techmin erklären? Sie hatte schließlich einen unheimlich hohen Wert! Sie war so viel wert wie ein interplanetarisches Raumschiff für zweihundert Passagiere! Hier würde nicht einmal die Fürsprache Kracmers helfen. Ja, und würde Kracmer überhaupt für ihn eintreten, wenn er erführe, daß die Kyberoformica geflüchtet war, daß sie sich nicht erst im Kosmos, sondern schon hier auf der Erde selbständig gemacht hatte? Natürlich nicht. Er würde Pistora als erster die allerschwersten Vorwürfe machen. Was sollte jetzt nur werden! Allein daran zu denken war schrecklich. Gericht, Schande, unwiderrufliche Entfernung von der wissenschaftlichen Arbeit. Furchtbar, entsetzlich! Lohnte es sich, danach überhaupt noch zu leben? Und Danka? Was würde Danka sagen? Sie würde sich natürlich ebenfalls voller Verachtung von dem Verbrecher und Versager abwenden! Nein, nein, soweit durfte es nicht kommen! Nur nicht die Hände in den Schoß legen! Suchen, suchen! Zdenek Pistora ergriff die Lupe und kroch auf allen vieren durch sein Arbeitszimmer. Zentimeter für Zentimeter untersuchte er den Fußboden, selbst die kleinsten Ritzen, Rillen und Unebenheiten wurden durchforscht.
Der erste Anruf aus dem PITM Um halb drei klingelte das Telefon. Pistora zuckte zusammen, als träfe ihn der Schlag. Trotzdem erhob er sich vom Fußboden und nahm den Hörer ab. „Hier P i s t o r a . . . " „Hallo, bist du es, Zdenek? Grüß dich, Freund! Verzeih, daß ich dich mitten in der Nacht geweckt habe. Hier spricht Honza Stasek aus dem PITM . . . " „Grüß dich, Honza ...", brachte Pistora mit Mühe hervor. Er fühlte, wie ihm schwindlig wurde, und setzte sich auf einen Stuhl. 13
„Hallo, hallo! Hörst du mich, Zdenek? Was ist, bist du noch nicht wach?!" schallte es ihm aus dem Hörer ins Ohr. „Ich höre dich, Honza. Ich höre dich gut. Ich habe noch nicht geschlafen. Ich habe Kopfschmerzen . . . " „Kopfschmerzen? Das ist gut! Ein kluger Kopf muß stets weh tun! Nur ein hohler schmerzt niemals! Doch Spaß beiseite. Morgen wird deine kleine Ameise geprüft. Ich habe den Auftrag, Tonbandaufnahmen von ihr vorzubereiten. Da habe ich mir etwas ausgedacht, aber dazu brauche ich die Techmin Nr. 386 955! Das ist, wie du weißt, das Magnettongerät zwei mal dreieinhalb Mikron! Aber so ein Pech: in der Mikrothek habe ich sie nicht gefunden! Weißt du vielleicht, wo sie ist?" „Wer?" „Wer! Die Techmin Nr. 386 955 natürlich. Wach doch endlich auf, Zdenek! Ich brauche sie. Weißt du nicht, wo sie sein könnte?" „Ach, davon sprichst du! Nein, das weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich hatte sie allerdings vor einem Monat entliehen, habe sie aber in die Mikrothek zurückgebracht. Sie muß dort sein, Honza." „Was muß nicht alles sein! Ich bin doch schließlich nicht blind! Wenn ich sage, sie ist nicht da, so heißt das, daß sie nicht da ist!" „Na, dann nimm dir eine andere aus dem Magazin. Zwei mal drei Mikron — davon haben wir fünfhundertzwanzig Stück am Lager!" „Das weiß ich selbst. Aber was wird der Alte sagen? Er mag es nicht, wenn man ohne sein Wissen etwas aus dem Magazin nimmt." „Keine Sorge, ich erkläre es ihm morgen. Hol sie dir aus dem Magazin und arbeite in Ruhe weiter." „Einverstanden, ich hole sie mir mit deinem Wissen und Einverständnis!" „In Ordnung." „Na, mach's gut. Zdenek! Nimm ein Schlafmittel und schlafe! Gute Nacht!" „Mach's gut, Honza!" Piätora legte langsam den Hörer auf die Gabel und nahm 14
müde die Brille ab. Eine stumpfe Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt.
Der zweite Anruf aus dem PITM Sein Wunsch, einzuschlafen und alles zu vergessen, war unüberwindlich, aber Pistora rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb auf dem Stuhl vor dem unordentlichen Schreibtisch sitzen. Er hatte nicht die geringste Lust auf weitere Suchaktionen. Pistora ließ den Kopf auf die Brust sinken, seine Arme hingen kraftlos herab. Schlafen, nur schlafen . . . Doch da schrillte es abermals. Einmal, zweimal, dreimal, v i e r m a l . . . Pistora hob langsam den Kopf und blickte stumpf zum Telefon hinüber, das beharrlich weiterklingelte. Nichts zu machen, er mußte den Hörer abnehmen. Gegen die bleischwere Müdigkeit ankämpfend, ließ sich der unglückliche Kandidat vernehmen: „Hallo! Hier Pistora . . . " „Um Gottes willen, Zdenek, wie kann man nur so fest schlafen? Ich bin es noch einmal, Honza Stasek!" „Was ist denn schon wieder los?" „Ein Unglück, Zdenek! Ein furchtbares, nicht wiedergutzumachendes Unglück! Komm sofort ins PITM! Sofort! Hörst du?" „Ja doch! Was ist denn passiert? Was machst du mitten in der Nacht für eine Panik?" „Ich kann es nicht über die Lippen bringen! Komm her, dann erfährst du es!" Honza Staseks Stimme im Telefonhörer klang tatsächlich sehr beunruhigend. Pistora aber hatte es satt, sich aufzuregen. Er sagte gereizt und unfreundlich: „Nirgends fahre ich hin! Sage, worum es sich handelt, oder ich lege den Hörer auf und gehe schlafen!" „Na schön! Hör zu! Halte dich aber ordentlich fest, damit du nicht hinfällst! Die Neuigkeit ist einfach umwerfend! Heute nacht haben hier im PITM unbekannte Diebe restlos alle Techmine geraubt, einschließlich deiner Kyberofor15
miea! Verstehst du? Alle Techmine sind gestohlen! Das Magazin ist leer, die Mikrothek ist leer, und der Safe deiner Kyberoformica ist ebenfalls leer!" Pistoras Müdigkeit war wie weggeblasen. „Was redest du da!" brüllte er in den Hörer. „In unserem Magazin sind fünfundzwanzig Millionen Techmine und in der Mikrothek etwas über drei Millionen! Es ist ganz unmöglich, das alles auf einmal zu klauen! Das ist doch völliger Wahnsinn. Du bist betrunken, Honza, oder ernsthaft krank!" „Ruhig, Zdenek, ruhig! Ich bin weder betrunken, noch bin ich krank. Was geschehen ist, ist unwahrscheinlich, aber wahr. Ja, alle achtundzwanzig Millionen Techmine und deine Kyberoformica sind auf ganz rätselhafte Weise aus dem PITM verschwunden; es ist, als ob sie verdampft wären. Das ist eben das Erschütternde: sie sind verdampft!" „Gut, Honza, ich komme!" Pistora legte den Hörer auf und saß eine Minute unbeweglich da. Irgendwo tief im Innern spürte er eine seltsame Freude. Die Beraubung des PITM enthob ihn der Verantwortung für die geflüchtete Kyberoformica! Aber diese Freude währte nicht lange. Er wurde sogar von Widerwillen gegen sich selbst geschüttelt. „Wie weit ist es mit dir gekommen!" Und da befiel ihn plötzlich eine furchtbare Angst. Sollte tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Flucht der Kyberoformica und der Beraubung des PITM bestehen? Pistora sprang auf und stürzte in die Diele. Er griff nach Mantel und Hut, lief aus dem Haus und eilte durch die nächtlichen Straßen Prags zum Institut für Technische Miniaturen. Kracmers Mutmaßung Das fünfstöckige Gebäude des PITM befand sich auf dem Petrin, an der Stelle, wo einst das kleine Observatorium gestanden hatte. In der Nähe des PITM' ragte ein 16
alter Turm aus Eisenträgern empor, den die Touristen gern bestiegen, um sich an dem bezaubernden Panorama der Goldenen Stadt zu erfreuen. Rings um den Turm und das PITM, über den ganzen, ziemlich steilen Hang des Petrin zog sich das dichte Grün eines wunderbaren Parkes. Nachts fuhr die Drahtseilbahn nicht, so daß Zdenek Pistora zu Fuß den Hügel hinaufkraxeln mußte. Erst jetzt, da er die steilen Alleen des Parkes emporstieg, fiel ihm ein, daß es bedeutend einfacher gewesen wäre, ein Taxi zu bestellen und über Strahov ins PITM zu fahren. Aber nun hatte es keinen Sinn mehr, umzukehren. Als der atemlose und schweißgebadete Kandidat endlich vor dem Tor des Instituts ankam, konnte er sich davon überzeugen, daß er beileibe nicht als erster auf den Anruf Honzas gekommen war. Im Hof standen in dichten Reihen Dutzende von Autos, und aus den gewaltigen Fenstern des fünfstöckigen Gebäudes fiel helles Lieht. Pistora eilte in die Aula. Hier waren schon über tausend Mitarbeiter des PITM versammelt. Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates waren vollzählig erschienen und saßen zusammen mit dem Direktor des Instituts im Präsidium. Am Rednerpult stand Professor Kracmer, bleicher und finsterer als gewöhnlich, mit herabhängendem Schnurrbart. Er hatte offenbar gerade zu sprechen begonnen. Im Saal herrschte eine gespannte Stille. Niemand beachtete Pistoras Kommen. Er ließ seinen Blick durch den Saal schweifen und suchte Honza Stasek, aber es waren zu viele Leute da. Von niemandem bemerkt, setzte er sich in die letzte Reihe und hörte zu. Er mußte unbedingt zu Atem kommen, sich ein wenig fassen und seine Gedanken sammeln. Inzwischen klang die knarrende Stimme Professor Kracmers durch den Saal: „Genossen, ich bin der Meinung, daß die Kyberoformica nicht geraubt worden ist! Jaja, sie ist nicht gestohlen worden, weil sie nicht gestohlen werden konnte! Die Kyberoformica ist vor uns geflüditet, Genossen! Weder Schloß noch Safe waren ernsthafte Hindernisse für sie. Erinnert 3 Techmine
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euch, Genossen, daß ihr die Fähigkeit mitgegeben worden ist, unter beliebigen Bedingungen nach eigenem Ermessen zu handeln! Sie ist bereits in der ersten Nacht nach ihrer Erschaffung und perfekten Einstellung geflüchtet und hat bei der Flucht alle übrigen Techmine geraubt! Wie sie diesen grandiosen Diebstahl bewerkstelligt hat und ob sie es allein war, wissen wir bislang noch nicht. Aber nicht das ist jetzt das Wichtigste. Wichtig ist, daß die "Kyberoformica geflüchtet ist und damit bereits den ersten menschenfeindlichen Akt verübt hat! Wir dürfen jetzt nicht nach der geflüchteten Kyberoformica suchen, weil wir sie ohnehin nicht finden würden, sondern müssen alle Kräfte zum Kampf gegen sie mobilisieren. Die Kyberoformica, Genossen, hat sich als das erste Glied einer furchtbaren Kettenreaktion, eines Aufstandes der Maschinen erwiesen. Der Aufstand ist ausgebrochen, Genossen! Jetzt hängt alles von unserer operativen Fähigkeit und unserer Erfindungsgabe ab. Entweder gelingt es uns, die ausgebrochene Kettenreaktion im Keim zu ersticken, oder es gelingt uns nicht. Gelingt es uns, Genossen, so wird uns das für die Zukunft eine Lehre sein, vorsichtiger mit der Kybernetik umzugehen. Gelingt es uns aber nicht, so wird es den Untergang der menschlichen Zivilisation auf unserem Planeten bedeuten!"
Man ließ ihn nicht ausreden Nachdem der Professor seine seltsame Rede beendet hatte, verließ er das Rednerpult und setzte sich auf seinen Platz im Präsidium. Im Saal erhob sich ein unbeschreiblicher Lärm. Hunderte von Menschen begannen gleichzeitig, zu sprechen und mit den Händen zu gestikulieren; sie stritten sich, schrien und waren empört. Endlich legten sich die Leidenschaften ein wenig, und der Direktor konnte zu Worte kommen. „Ich verstehe, Genossen", begann er mit vor Aufregung stockender Stimme, „daß die von dem verehrten Professor Kracmer geäußerte Meinung Ihrer Überzeugung wider18
spricht, Angesichts der Ereignisse aber sollten wir seine Worte' ernst und aufmerksam prüfen. Vor Beginn der Diskussion möchte ich jedoch die Meinung des Erfinders der Kyberoformica, des Genossen Pistora,'hören!" „Genosse Pistora! Zdenek! Pistora! Pistora! Pistora! Wo ist Pistora? Ruft Pistora!!!" scholl es aus den Reihen des riesigen Saales. „Hier bin ich! Hier!" meldete sich Zdenek Pistora mit schwacher Stimme, erhob sich und ging langsam durch den Gang zwischen den Sesseln zum Rednerpult. Alle verstummten. Er ging mit gesenktem Kopf, völlig niedergedrückt, kläglich und unglücklich nach vorn. Er wollte seinen Kollegen die ganze" Wahrheit sagen, wollte ihnen sein entsetzliches Verbrechen eingestehen. So hatte er sich entschieden, während er der Rede Kracmers zugehört hatte. Doch Pistora kam nicht dazu, sich auszusprechen. Durch die Hintertür kommend, tauchte im Präsidium plötzlich ein schwerfälliger Mann in der Uniform eines Obersten der Miliz auf. Er beugte sich zum Direktor hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Sofort erhob sich dieser und erklärte: „Genossen! Die Meinung des Genossen Pistora hören wir uns etwas später an. Entschuldigen Sie die Störung, Genosse Kandidat! Der Vertreter der Kriminalabteilung möchte eine kurze Mitteilung machen." Pistora atmete erleichtert auf (es war immerhin ein Aufschub) und kehrte eiligen Schrittes auf seinen Platz zurück. Ans Rednerpult ging der Oberst der Miliz.
Die Diebe auf frischer Tat ertappt Der Oberst begann seine Rede damit, daß er dem Saal ein breites, gutmütiges Lächeln schenkte. Das entlud sofort die gespannte Atmosphäre. Die Sesselreihen belebten sich ein wenig, doch gleich darauf waren alle wieder still und warteten gebannt. „Genossen Wissenschaftler! Die Untersuchung gestattet 19
keine Publizität. Das ist Ihnen sicherlich schon aus Kriminalromanen bekannt. Wenn ich daher diese kriminalistische Regel jetzt verletze, so habe ich gewichtige Gründe dafür. Es handelt sich darum, daß sich das heute nacht in Ihrem Institut verübte Verbrechen aus einem dramatischen und rätselhaften in ein etwas komisches, ich möchte fast sagen: anekdotisches Ereignis verwandelt hat!" Nach dieser in munterem und heiterem Ton hervorgebrachten Eröffnung lächelte der Oberst abermals, wartete ab, bis sich das durch den Saal gehende Gemurmel wieder gelegt hatte, und fuhr fort: „Zur Aufklärung der unwahrscheinlichen Beraubung Ihres Institutes haben wir die besten Spezialisten der Kriminalabteilung eingesetzt. Unsere Mitarbeiter haben alle drei Räume, in denen sich die gestohlenen Techmine befanden, sorgfältig besichtigt und untersucht. In den ersten beiden Räumen haben unsere Leute nicht die geringsten Spuren der geheimnisvollen Räuber entdeckt. Wir staunten lediglich über die Sauberkeit, Subtilität und erstaunliche Akkuratesse Ihrer Arbeit. Es schien bereits, als gerate die Ermittlung unausweichlich in eine Sackgasse. Doch als wir darangingen, den unterirdischen Saal des Magazins zu untersuchen, wurden unsere Bemühungen schließlich belohnt. Es war eine unwahrscheinliche und völlig unerwartete Entdeckung! Genossen Wissenschaftler! Wir haben nicht nur aufgeklärt, wer Ihr Institut beraubt hat und auf welche Weise er es tat, sondern es ist uns auch gelungen, mehr als fünfhundert dieser geheimnisvollen Räuber auf frischer Tat zu ertappen. Sie sind erstaunt? Ich werde Ihnen sogleich alles erklären. Als wir den Fußboden des unterirdischen Magazins untersuchten, fanden wir zunächst an der westlichen Wand einige hundert Techmine ohne Etui. Das ließ uns stutzig werden. Es gelang uns, in den Fußbodenleisten zahlreiche kleine Spalten zu entdekken, die aussahen, als wären sie von Holzwürmern gebohrt worden. An einigen dieser Spalten hantierten kleine Scharen von Ameisen. Genossen Wissenschaftler, diese Ameisen hatten Ihre Techmine mit ihren Kiefern gepackt und verschwanden damit in den mikroskopisch kleinen, in 20
das Holz gebohrten Löchern! Das sind also diejenigen, von denen Sie bestohlen worden sind. Sie dürfen sie getrost bestaunen!" Der Oberst zog ein Reagenzglas aus der Tasche, das mit einem Pfropfen verschlossen war, und hielt es zur allgemeinen Besichtigung hoch. Das Reagenzglas wimmelte von lebendigen Ameisen. Nachdem der Oberst der verwunderten und stumm gewordenen Menge das Glas vorgehalten hatte, steckte er es wieder in die Tasche und sagte: „So haben wir also mit absoluter Sicherheit festgestellt, daß das Institut für Technische Miniaturen nicht von Menschen, sondern von Insekten, genauer, von Ameisen beraubt worden ist. Folglich liegt kein Verbrechen vor, sondern sozusagen ein Naturereignis, das Sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht voraussehen, geschweige denn verhindern konnten. Deshalb sehen wir unsere Aufgabe als erfüllt an. Die Techmine müssen Sie mit eigenen Kräften wiederauffinden. Ich denke, Sie werden Grabungen vornehmen und den Grund und Boden sorgfältig durchsieben müssen. Wenn Sie mir gestatten, Ihnen einen guten Rat zu geben, so möchte ich Ihnen sagen, daß es am besten wäre, sofort mit den Grabungen zu beginnen, solange es den Ameisen noch nicht gelungen ist, die Techmine über den ganzen Petfin-Park zu verschleppen. Erlauben Sie mir, damit meine Mitteilung zu beenden."
Der unterbrochene Disput Der Oberst wollte das Rednerpult gerade verlassen, als im Präsidium plötzlich eine klare, knarrende Stimme ertönte, die ihn zum Stehenbleiben nötigte. Die Stimme sagte: „Hier gibt es gar nichts Komisches, Genosse Oberst! Dies ist eine viel schlimmere Tragödie, als wenn die Räuber Menschen gewesen wären!" „Warum sollte das eine Tragödie sein, und dazu noch eine schlimme?" fragte der Oberst und schaute sich interessiert die zahlreiche Besetzung des Präsidiums an. 2:
„Ich bin es, der diesen Gesichtspunkt ausgesprochen hat, Genosse Oberst. Mein Name ist Professor Kracmer. Wenn Sie meine Meinung hören möchten, so dürfen Sie sich nicht nur auf die Feststellung der Tatsache beschränken, daß die Techmine von Ameisen gestohlen worden sind!" „Genosse Professor, was Sie da sagen, klingt sehr seltsam. ' Worauf begründen Sie Ihre Meinung?" fragte der Oberst verwundert. „Ich will es Ihnen erklären! Die Ameisen, Genosse Oberst, wären von selbst niemals auf eine derartige Idee gekommen und hätten die mit einer so unvergleichlichen Präzision durchgeführte Beraubung allein auch niemals durchführen können! Die Ameisen wurden dabei und werden weiterhin von einem vernunftbegabten und gefährlichen Wesen angeführt!" „Sie meinen, daß irgend jemand die Ameisen speziell auf den Raub Ihrer Techmine dressiert hätte?" fragte der Oberst ironisch lächelnd. „Nicht dressiert, sondern jemand hat ihnen befohlen, die Techmine zu rauben!" kam die Antwort. „Befohlen?! Interessant! Wer aber, erlauben Sie die Frage, hätte wohl eine solche Macht über die Ameisen?" „Die Kyberoformica! Die Kyberoformica hat es den Ameisen befohlen, Genosse Oberst! Und Sie müssen uns helfen, sie wieder einzufangen! Dazu müssen Miliz, Truppen und Tausende von Arbeitern eingesetzt werden! Wenn die Kyberoformica nicht gefunden und vernichtet wird, erwartet uns alle der sichere Untergang." Der verdutzte und bestürzte Oberst kam nicht dazu, Kracmer zu antworten. Plötzlich stürzten die fünf Nachtwächter des PITM in die Aula und schrien mit versagender Stimme alle durcheinander: „Genossen! Der Turm! Schnell! Der Turm! Sehen Sie! Sehen Sie!!!" „Ruhe!!!" rief der Direktor und sprang auf. „Was ist geschehen? Einer allein soll sprechen! Was für ein Turm? Was ist los? Antworten Sie, Kubißek!" „Der Turm, Genosse Direktor, unser eiserner Turm ver22
schwindet unmittelbar vor unseren Augen! Er ist schon etwa zwanzig Meter niedriger geworden!" antwortete der, den der Direktor Kubicek genannt hatte. „Was für ein Unsinn! Was hat der Turm damit zu tun? Sind Sie verrückt geworden?" schrie der Direktor. Doch es hörte schon niemand mehr auf ihn. Die Mitarbeiter des PITM sprangen von ihren Plätzen auf und stürzten zu den Ausgängen. Die Mitglieder des Präsidiums eilten ihnen nach.
Der schmelzende Turm Es war ein erschütterndes Schauspiel! In einer knappen halben Stunde würde die Sonne aufgehen, die Dämmerung war jedoch schon ziemlich hell. Die Silhouette des schwarzen Eisenturmes zeichnete sich deutlich auf dem Hintergrund des hellen Himmels ab. Es war völlig unbegreiflich, was dort mit ihm vor sich ging, doch er wurde tatsächlich niedriger, wie eine im Feuer schmelzende Kerze. Die riesige Menschenmenge, die aus dem Gebäude auf den Hof des Instituts gelaufen war, blickte in tiefem Schweigen auf den Turm. Die Gesichter drückten unsägliches Erstaunen, Verwirrung und sogar Entsetzen aus. Pistora, der als einer der ersten auf den Hof gelangt war, blickte ebenfalls wie verzaubert auf die Erscheinung. Plötzlich berührte ihn jemand am Ellenbogen. Er drehte sich hastig um und erblickte Honza Stasek. „Das sind sie! Na, bewundere sie!" sagte Honza leise und gab Zdenek sein Fernglas. Pistora nahm mechanisch das Glas und richtete es auf den Gipfel des Turmes. Er sah, wie ein kaum- bemerkbarer Streifen sich darauf nach oben und etwas seitlich entlangzog, ähnlich einer breiten Strähne graublauen Rauches, die schwankt und vom Wind zur Seite getragen wird. Aber es war windstill. Die Bäume um den Turm herum standen unbeweglich da; kein einziges Blatt bewegte sich. Pistora begriff, daß es die Ameisen waren. 23
„Hör mal, wieso fliegen sie denn?" fragte er flüsternd und gab Honza Staäek das Fernglas zurück. „Ja eben, wieso fliegen sie, wo sie zu dieser Jahreszeit doch gewöhnlich nicht fliegen? Höchstwahrscheinlich, lieber Freund, sind sie von deiner Kyberoformica mit Miniaturflugapparaten ausgerüstet worden. Schließlich zerlegen sie den Turm doch nicht zum Vergnügen in lauter Krümchen! Sie sind entschlossen, sich richtig einzurichten, und versorgen sich auf diese Weise mit Eisen. Der Turm ist nur der Anfang, Zdenek. Bis heute abend werden sie es geschafft haben, unsere sämtlichen Eisenkonstruktionen zu vernichten: die Brücken, die Eisenbahnschienen, die Maschinen, die Werkbänke, die Fabriken . . . Die Kyberoformica arbeitet schnell und gründlich, die Zeit aber hat für die Ameisen sicherlich andere Dimensionen als für uns. An einem Tage leisten sie mehr, als wir in zehn Jahren. Und in einem Monat vernichten sie mehr, als wir auf unserem Planeten im Verlaufe vieler Jahrhunderte aufzubauen vermochten." Pistora entgegnete nichts. Mit unaussprechlichem Entsetzen schaute er auf den schmelzenden Turm, er fühlte und begriff, daß seine Schuld von Stunde zu Stunde immer katastrophalere Ausmaße annahm. „Es gibt keine Entschuldigung für mich ...", murmelten seine Lippen. Honza hörte diese Worte und versuchte ihn zu trösten: „Hör auf, gräm dich nicht! Nicht du allein, wir alle hier sind schuld! Die kybernetische Techmin hat nur den Anstoß dazu gegeben. Und wenn man es richtig betrachtet, haben wir alle unsere Hände in diesem Spiel." „Du sprichst genau wie Kracmer", sagte Pistora mit einem Seufzer. „Da kann man nichts machen, Kracmer hat recht", erwiderte Honza Stasek. „Ja, er hat recht. Natürlich hat er recht. Aber nicht darum geht es, Honza", flüsterte Pistora, verstummte aber sogleich wieder. Die allgemeine Erstarrung und das Schweigen währte, bis der sich über die Bäume erhebende Teil des Turmes 24
völlig verschwunden war. Erst dann kamen plötzlich alle wieder zu sich, fingen an zu reden und zu streiten und gingen allmählich, meist zu zweien, ins Institut zurück, Von allen Seiten hörte man die Worte „Kyberoformica" und „Ameisen".
Kyberoformica die Erste, Herrscherin über die Ameisen Als alle wieder in der Aula waren und der Wissenschaftliche Rat im Präsidium Platz genommen hatte, ging Professor Kracmer eigenmächtig; ohne Erlaubnis des Vorsitzenden, ans Rednerpult. Mit tragischer Miene sagte er: „Meiner Ansicht nach, Genossen, hat eine Debatte jetzt keinen Sinn. Deshalb schlage ich vor, daß unsere Funker sich bemühen, sofort Verbindung mit der Kyberoformica aufzunehmen. Ich hoife doch, daß Sie, Genosse Direktor, nichts gegen diese äußerst notwendige Maßnahme einzuwenden haben?" „Nein, ich habe nichts dagegen. Das ist ein sehr nützlicher Gedanke''^ antwortete der Direktor müde; dann rief er in den Saal: „Genossen Funker, erfüllen Sie Ihre Pflicht! Wenn die Kyberoformica antwortet, dann schließen Sie sie an die Lautsprecher im Saal an!" Eine ganze Minutenlang, die endlos war wie die Ewigkeit und quälend wie Zahnschmerzen, gaben die Lautsprecher nur ein Chaos unzusammenhängender Laute von sich. Aber dann verschwanden alle Nebengeräusche, und es erklang eine seltsame, metallische Stimme, gleichmäßig, gemessen und ohne auch nur die geringste lebende Intonation: „... Und deshalb erkläre ich, Kyberoformica die Erste, Beherrscherin und Gebieterin des zahllosen Ameisenvolkes, euch, den Menschen, daß die Ära eurer kurzfristigen Herrschaft auf dem Planeten Erde zu Ende ist. Ihr Menschen habt eure historische Mission ausgezeichnet erfüllt, die darin bestand, die wissenschaftliche und materielle Basis zu schaffen für die Entwicklung einer älteren 4 Techmine
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biologischen Art, der Ameisen, die bereits vor siebzig Millionen Jahren auf diesem Planeten aufgetaucht sind. Ihr wart die Vorläufer der Ameisen, ihr habt euch unermüdlich auf die Ankunft der wirklichen Herren des Planeten vorbereitet, und eben deshalb habt ihr so spontan danach gestrebt, eure gesamte Technik auf Miniaturausmaße zu orientieren, wie sie den Ausmaßen der Ameisenindividuen entsprechen. Dafür gebührt euch Ehre und Kuhm, ihr klugen, arbeitsamen Menschen! Jetzt könnt ihr allmählich eure Existenz aufgeben. Von heute an und für immer: Das Leben einer Ameise ist wertvoller als das eines Menschen. Deshalb wird jeder Mensch für eine zufällige oder vorbedachte Tötung einer Ameise augenblicklich und gnadenlos mit dem Tode bestraft. Das ist Gesetz. Das ist das erste und oberste Gesetz. Zum zweiten Gesetz erkläre ich die absolute Immunität des Kandidaten der techminischen Wissenschaften, Zdenek Pistora. Das dritte Gesetz betrifft unsere Zusammenarbeit. Mein Ameisenvolk benötigt gewaltige Quantitäten von Metall, Plasten, Baumaterialien, synthetischem Harz, Erdöl, Kohle, Zucker, Getreide, Obst und Fleisch. Damit sowie mit andei-en Nahrungsmitteln habt ihr, die Menschen, mein Volk unwiderruflich und widerspruchslos zu versorgen. Seid klug, seid gehorsam und unterwürfig, dann gebe ich euch die Möglichkeit, still, unmerklich und mit Würde von diesem Planeten zu verschwinden! Mein Aufruf wird über alle Sender der Welt übertragen, deshalb treten die eben erwähnten Gesetze, Befehle und Beschlüsse augenblicklich in Kraft. Hört mich morgen wieder zur selben Zeit!" Die metallische Stimme verstummte. Die Lautsprecher rauschten noch ein wenig und wurden abgeschaltet. In der Aula des PITM herrschte Grabesstille.
Gesetzesübertreter Als erster fand sich Professor Kracmer wieder, der noch immer am Rednerpult stand. Er hob die Arme und begann wie ein Wahnsinniger zu schreien: 26
„Niemals, niemals, niemals!!! Wir werden uns niemals einer solchen gemeinen Maschine unterwerfen! Sei verflucht, du treuloser Kyber, der uns an die Ameisen verkauft hat! Wir werden kämpfen . . . " Er sprach nicht zu Ende. Sein Gesicht verzerrte sich, sein Schnurrbart begann zu zittern, und plötzlich sank er wie vom Blitz getroffen auf das Rednerpult. Einige Männer aus dem Präsidium stürzten zu ihm und bemühten sich, ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen, doch vergebens: der Professor war tot. Panik erfaßte die Versammelten. Ein Mitarbeiter des PITM nach dem anderen verließ seinen Platz und eilte schweigend davon. Inmitten der allgemeinen Verwirrung ging Zdenek Pistora ans Rednerpult. Die Aula war bereits zur Hälfte leer. Aber Zdenek schien das nicht zu bemerken. Er war bleich, seine Augen flackerten, und als er mit dumpfer, zitternder Stimme zu sprechen begann, war es schwer, den Sinn seiner abgehackten Sätze zu verstehen. „Das alles war ich, ich allein!" lallte er, nach Luft schnappend. „Verzeihen Sie mir, Genossen. Das habe ich getan! Nicht, weil ich ihn geschaffen habe — nicht deshalb. Er hätte niemals aus dem Safe ausbrechen können! Ich bin schuld! Ich habe ihm die Flucht ermöglicht! Ich allein! Darum hat er mich für immun erklärt! Verzeihen Sie mir, Genossen!" „Was haben Sie getan, Genosse Pistora? Reden Sie klar!" schrie der Direktor, der dunkel die wahre Bedeutung seiner Worte zu ahnen begann. Die Flucht aus dem Saal hörte auf. Die Mitarbeiter, denen es noch nicht gelungen war, sich zu verstecken, wandten sich zum Rednerpult um und starrten Pistora an. Der aber schneuzte sich - eine "Minute lang die Nase, schluchzte, wischte sich die Reuetränen ab und begann zu erzählen, wie er am Vorabend die Kyberoformica in dem gläsernen Flakon mit nach Hause genommen hatte, um sie seiner Braut zu zeigen, und wie er nachts plötzlich entdeckt hatte, daß das Flakon leer war. Seine Reuerede beendete Pistora fast weinend: 27
„Ich bin an der ganzen Katastrophe schuld! Hätte ich sie nicht mitgenommen, so hätte sie die Ameisen nicht kennengelernt, und alles wäre gut! Verzeihen Sie mir, Genossen, verzeihen Sie!" „Genosse Pistora!" donnerte der Direktor des PITM, erfüllt von schrecklichem Zorn. „Sie sind ein unerhörter Verbrecher! Sie sind ein ganz gemeiner Verräter und Mörder!" Bei den le'tzten Worten griff sich der Direktor plötzlich ans Herz, wurde schrecklich blaß und fiel mit dem Gesicht auf den Tisch des Präsidiums. Keiner der Anwesenden rührte ihn an. Allen war klar, daß der arme Direktor nach dem zweiten Gesetz der Kyberoformica wegen Beleidigung des immunen und heiligen Pistora bestraft worden war. „Augenblicklicher und gnadenloser Tod." Entsetzen erfaßte den gesamten Wissenschaftlichen Rat sowie die Mitarbeiter des PITM, die sich noch nicht hatten verstecken können. Nur der Oberst der Miliz bewahrte seine Geistesgegenwart. Zdenek verließ das Rednerpult und .trat zu ihm. „Verhaften Sie mich, Genosse Oberst! Ich bin ein unerhörter Verbrecher, mein Platz ist. im Gefängnis!" „Später, später! Sie sind jetzt nicht so wichtig!" sagte der Oberst und wandte sich von ihm ab; er steckte sein Notizbuch ein und ging eilig hinaus. Auf dem Tisch des Präsidiums lag das Reagenzglas, das voll gefangener Ameisen war. Jemand öffnete es und ließ die Gefangenen heraus. Die Ameisen schwirrten lustig auf dem Tisch, zwischen den Papieren und Füllhaltern herum. Die Menschen säßen unbeweglich da und fürchteten sich, Atem zu holen. Da begriff Zdenek. daß er hier nichts mehr zu suchen hatte. Er schritt durch den Saal und bewegte sich langsam wie ein Mondsüchtiger dem Ausgang v.u. Die Kollegen machten ihm schweigend Platz, bemüht, ihn nicht anzusehen.
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Danka in Gefahr Als Zdenek den Petrin hinabstieg, war er erschüttert von der Stille und Menschenleere, die in den Straßen Prags herrschten. Schon längst war es nicht mehr früh am Morgen. Gewöhnlich dröhnten um diese Zeit auf den Straßen die überfüllten Straßenbahnen, Autobusse und Trolleybusse, und die Trottoire waren voller Menschen, die zur Arbeit eilten. Diesmal aber war nicht die kleinste Bewegung zu bemerken. Die Bürgersteige waren leer, auf der Fahrbahn sah man hier und da ein paar verlassene Autos, die etwas schwerfällige« Straßenbahnen standen da, wie es sich gerade ergeben hatte: an den Haltestellen, auf Kreuzungen und Brücken. Man hätte annehmen können, daß die Stadt einem Angriff Wellsscher Marsmänner erlegen sei. Der Gedanke an einen Kampf gab Pistora seine Selbstbeherrschung und sein Selbstvertrauen zurück. Als er zu sich in die zweite Etage hinaufstieg, brannte er schon vor Ungeduld, sofort mit der Arbeit zu beginnen. In ihm war eine interessante Idee herangereift, wie man eine neue Art kybernetischer Ameisen züchten könnte. Nur schnell an den Tisch, um die Berechnungen durchzuführen! Doch er kam nicht dazu, sogleich an die Arbeit zu gehen. Vor seiner Wohnungstür stand Danka. Sie war verweint, erschreckt und mißgestimmt. Pistoras Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, er ahnte etwas Ungutes. ..Danka! Danulja! Was ist geschehen? Warum weinst du?" Pistora trat auf seine Braut zu und ergriff ihre Hand. Sie stürzte ihm an die Brust und wurde so vom Weinen geschüttelt, daß sie nicht imstande war, auch nur ein Wort herauszubringen. „Meine Liebe, Liebe. Gute, es ist genug, hör auf! Ich bin ja hier, bei dir, alles ist in Ordnung!" murmelte Pistora fassungslos. ..Nein . . . es wird nie wieder . . . gu . . . gut sein", brachte Danka weinend hervor. „Warum? Was ist geschehen?!'' 29
„Ich . . . ich habe eine Ameise zerdrückt! Ungewollt!" „Wo? Wann? Und wie denn?!" „Vor kurzem. Als ich zu dir lief. Ich bin ganz vorsichtig aufgetreten und habe die ganze Zeit vor meine Füße geblickt. Sie aber kroch aus einer kleinen Spalte direkt unter "meinen Schuh! J e t z t . . . jetzt muß ich sterben!... Oh, Zdenek, rette mich!" Und sie begann wiederum zu schluchzen. Zdenek schloß schweigend die Tür auf und führte Danka in seine Wohnung. Er ließ sie im Sessel Platz nehmen und brachte ihr ein Glas Wasser. Das beruhigte sie ein wenig. Ihre Augen aber waren noch immer voller Tränen und Entsetzen. „Zdenek, Lieber, werde ich nicht sterben? Wirst du mich retten? Sag ihr, Zdenek, sie soll mich nicht töten! Sag es ihr, schnell!" stammelte das unglückliche Mädchen und sah ihren Bräutigam flehentlich an. „Beruhige dich, Danulja. Sie wird es nicht wagen! Sie weiß, daß ich dich liebe!" tröstete Piätora sie, obwohl er von seinen Worten selbst keineswegs überzeugt war. Danka fühlte diese Unsicherheit. „Aber wenn sie es doch wagt?" Piätora antwortete nicht gleich. Er suchte fieberhaft nach einem besseren Ausweg aus der Lage. Endlich kam ihm eine rettende Idee. „Hör zu, Danka. Wenn sie sich wirklich dazu entschließen sollte, dann bestimmt nicht so rasch wie in anderen Fällen. Sie wird wahrscheinlich zunächst versuchen, mit mir in Verbindung zu treten und meine Meinung zu hören. Folglich steht uns noch etwas Zeit zur Verfügung. Wir müssen fliehen und uns an einem solchen Ort verstecken, der für die Ameisen unzugänglich ist! Wir beide müssen weit nach dem Norden fliegen, nach Nowaja Semlja oder nach Spitzbergen!" „Meinst du, das Wird helfen?" „Jaja, das ist der einzige Ausweg! Mach dich fertig, und dann so schnell wie möglich zum Flughafen! Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren!" Nach etwa fünfzehn Minuten hatten sich Zdenek und 30
Danka so warm wie möglich angezogen, sie steckten ihre gesamte Barschaft ein und liefen aus dem Hause. In dem ersten besten der von den erschreckten Fahrern verlassenen Autos fuhren sie mit äußerster Geschwindigkeit zum Flughafen;
Ein Flugzeug fliegt nach dem Norden Es zeigte sich, daß eine riesige Menschenmenge nach dem Polargebiet fliegen wollte. Der Flughafen war von den vor Angst kopflos gewordenen Menschen im Sturm genommen worden. Die umliegenden, zum Flugplatz führenden Wege waren von Hunderten von Leichen übersät. Auch unter der versammelten Masse stürzten fortwährend Menschen zu Boden; es waren die nächsten Opfer der unerbittlichen Kyberoformica. Doch niemand beachtete die Fallenden, keiner hatte Zeit für sie. Alle planmäßigen Flüge waren abgesetzt worden. Die Menschen wollten nur noch nach dem Norden. Die überfüllten Flugzeuge stiegen auf und gingen auf nördlichen Kurs. Unsere Flüchtlinge hätten keine Flugkarte bekommen, wäre nicht der Name Zdenek Pistora gewesen. Dieser gestern noch völlig unbekannte Name rief nun ein abergläubisches Entsetzen und gleichzeitig Verehrung hervor. Pistora nutzte das aus, er bahnte sich einen Weg zu dem nächsten an den Landeplatz gebrachten Flugzeug, wobei er Danka hinter sich herzog. Noch ein paar Minuten, und die Erde blieb weit unter ihnen zurück. Durch das runde Fenster konnte man unter dem blendendblauen Himmel lediglich eine endlose Kette weißer Wolken sehen. Erst jetzt versuchte Danka zu lächeln und drückte Zdenek fest die Hand. „Nun, Danka, glaubst du jetzt, daß die Gefahr vorüber ist?" fragte Pistora aufgeräumt. „Jetzt glaube ich es, Lieber! Aber sag, wie werden wir im Norden leben?"
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„Wir werden schon durchkommen. Wir sind ja nicht allein dort. In den Polargebieten sammelt sich jetzt viel Volk. Von dort aus wird auch der Krieg gegen die Kyberoformica und ihre Ameisen beginnen. Es ist ganz gut, daß ich ebenfalls nach dem Norden fliege. Dort können die Ameisen nicht hinter mir herspionieren. Ich habe eine glänzende Idee. Hör zu!" Und Zdenek begann, ihr ausführlich darzulegen, wie er neue kybernetische Ameisen konstruieren und sie in den Kampf gegen den verräterischen Kyber lenken würde. Danka hörte ihm mit glücklichem Lächeln zu. Inzwischen begannen die Stewardessen, das Frühstück zu servieren. Im Flugzeug verbreitete sich eine angenehme Atmosphäre der Ruhe und völligen Sicherheit. Während des Frühstücks ertönte leise Musik. Doch plötzlich wurde die Musik unterbrochen, und es erklang die leidenschaftslose, metallische Stimme: „Hallo, hallo! Hier spricht Kyberoformica die Erste, Beherrscherin und Gebieterin des zahllosen Ameisen Volkes! Ich wende mich an alle Kapitäne von Passagierflugzeugen, die . Kurs auf die Arktis und die Antarktis genommen haben! Kehren Sie sofort zu Ihren Flughäfen zurück! Wo Sie sich auch befinden mögen, kehren Sie zurück zu Ihren Flughäfen! Sie transportieren Verurteilte! Fünf Minuten nach meiner Mitteilung werden alle Passagiere, die ein Verbrechen gegen mein erstes Gebot verübt haben, augenblicklich und gnadenlos vom Tode ereilt! Es hat keinen Sinn, Leichen in die Polargegenden zu befördern! Kehren Sie zurück!" Die schreckliche Stimme verstummte, und die Musik begann von neuem zu spielen, doch jetzt klang sie'eher wie Beerdigungsmusik. Piätora saß wie vom Donner getroffen da. Danka wurde bleich und riß voller Entsetzen die Augen auf. Schweigend starrte sie auf ihren Bräutigam. Die Stewardessen weinten und liefen in die Kabine zu den Piloten. Piätora wußte nicht, was er machen sollte. Sein Gehirn war wie paralysiert. Er hätte schreien mögen, heulen. Doch plötzlich blitzte ein Gedanke in ihm auf: „Funk! Mit 32
der Kyberoformica in Verbindung treten! Ihr einen Befehl geben!" Er wollte schon aufspringen und in die Pilotenkabine laufen, als er auf Dankas Ärmel plötzlich eine große, rötliche Ameise erblickte. Zu spät!!! dachte er entsetzt. Der Schweiß brach ihm aus. Er drückte die Augen fest zu, krallte sich mit den Händen in die Sessellehnen und begann mit wilder, unmenschlicher Stimme zu schreien. Er schrie.. . und erwachte. Draußen dämmerte es. Zdenek lag schweißgebadet in seinem Zimmer im Bett.
Das Hämmerchen schlug nicht zu Die ersten Minuten nach seinem Erwachen sah der unglückliche Kandidat der techminischen Wissenschaften gedankenlos aus dem Fenster und war nicht imstande, das Entsetzen von sich abzustreifen. Allmählich jedoch gewann er seine Denkfähigkeit zurück. Dann spuckte er kräftig aus und sagte laut: „Was für ein dummer und widerlicher Traum!" Daraufhin erhob er sich und ging im Pyjama in sein Arbeitszimmer. Man kann nicht sagen, daß er ganz ruhig war, als er das Flakon mit der Kyberoformica aus der Tischlade herausholte. Die Kyberoformica war an Ort und Stelle. Man konnte sie sogar durch das dicke Glas des Flakons sehen. Pistora schüttete die kybernetische Ameise auf seine Hand und wandte sich mit folgender kurzer Ansprache an sie: „Ich habe im Traum alle deine Möglichkeiten wie auch deinen Verrat gesehen, Kyberoformica die Erste, Beherrscherin und Gebieterin des zahllosen Ameisenvolkes. Das war eine ausgezeichnete Warnung! Ich werde dich vernichten, Kyberoformica die Erste! Du wirst niemals die Beherrscherin und Gebieterin der Ameisen werden!" Pistora legte die Kyberoformica auf die glatte Fläche des Tisches und nahm ein Hämmerchen aus dem Schubkasten. 33
Sein Gesicht hatte einen entschlossenen und finsteren Ausdruck. Dann hob er das Hämmerchen und schwang es in der Luft. A b e r . . . Was war das? Warum blieb es in der Luft hängen und sauste nicht nieder? Pistora war nicht feige. Als er aber den Hammer schwang, blitzte in seinem Kopf ein neuer Gedanke auf: „Halt ein, du Henker! Die Hinrichtung wird widerrufen! Schließlich ist die Kyberoformica ja nicht geflüchtet! Sie ist nicht geflüchtet! Ihren Möglichkeiten entsprechend, wäre sie fähig gewesen, aus dem Metalletui und dem hermetisch verschlossenen Safe zu flüchten, aber sie ist nicht einmal aus dem einfachen Glasröhrchen geflüchtet! Das bedeutet schließlich etwas! Es bedeutet, daß die Kyberoformica zur Meuterei nicht fähig ist! Sie ist vom Menschen geschaffen worden und wird dem Menschen stets treu dienen! Weshalb sollte ich sie also zerstören? Ein Aufstand der Maschinen ist nicht möglich. Die Idee vom Aufstand der Maschi, nen ist eine krankhafte Vorstellung von Phantasten und die grundlose Angst von Wissenschaftlern, die sich in die technische Mystik verirrt haben! Bleib am Leben, Kyberoformica die Erste!" Nach dieser etwas schwülstigen Tirade wurde das Hämmerchen zurück in die Schublade geworfen und die Kyberoformica vorsichtig mit der Pinzette wieder in das gläserne Flakon hineingelassen. Nach einer halben Stunde verließ der Kandidat der techminischen Wissenschaften frisch und munter sein Haus und ging ins PITM. In der Manteltasche trug er die wunderbare Kyberoformica, die an diesem Tage die Prüfung der strengen Kommission des CGIIGP über sich ergehen lassen mußte. Übersetzt von Norbert Randow und Werner Tzschoppe
Rimma Kasakowa
Das Experiment „Mein Name ist Arkadi Andrejew, ich freue mich, Sie kennenzulernen! Ich bin zu Ihnen beordert worden,.um ein Experiment durchzuführen." „Welcher Art?" erkundigte sich Marjana langsam, aber nachdrücklich. „Oho, Sie haben die feste Hand eines Kommandeurs! Leider kann ich es Ihnen nicht sagen." „Das ist nett, aber unverständlich." Andrejew lächelte berückend. „Glauben Sie mir!" „Ich glaube Ihnen." „Geben Sie mir Geld?" „Nein." Andrejew lachte schallend „Ist das so lustig?" „Sehr!" „Mir scheint, wir haben uns schon vorgestellt?" „Treiben Sie zur Eile?" „Ich kann Ihnen Tee anbieten." Arkadi rührte den Zucker mit dem Löffel um und sagte nachdenklich: „Mir gefällt Ihre Stadt sehr. Es ist schade, daß ich sofort nach der Durchführung des Experimentes wieder wegfahren muß." Marjana schwieg höflich. „Die Neuausrüstung des Instituts ist in einer Woche beendet. Sie sehen, ich habe nur eine Woche Z e i t . . . " „Rechnen kann ich." „Werden Sie Geld geben?" „Nein. Und ich werde Ihnen auch keine Erlaubnis dazu geben." „Wie alt sind Sie?" „Zweiundzwanzig. Das Laboratorium leite ich seit zwei Jahren. Darf ich Ihnen noch etwas eingießen?" „Marjana", sagte er schlicht und ernst. „Ich will ver35
suchen, offen zu sein. Es geht nicht um die Neuausrüstung des Instituts. Ich habe mir eine überaus interessante Sache ausgedacht. Ich möchte dem Chef ein Geschenk machen. Der Alte wird sich teuflisch freuen! M i r . . . " Marjana öffnete mit scharfer Bewegung den Tischkasten und warf die Instruktionen auf den Tisch. „Interessante Büchlein. Haben Sie die gelesen?" Arkadis Miene umwölkte sich. „Ich bitte um Entschuldigung. In der siebenten Abteilung arbeiten die Jungs an meinem Thema, ich muß mit ihnen r e d e n . . . " „Auch ich bitte um Entschuldigung für einen gewissen Mangel an Liebenswürdigkeit. Es tut mir aufrichtig leid." Er hatte einen kräftigen, hellen Nacken. Lautlos schloß sich die Tür hinter ihm. In der Nacht träumte Marjana von Arkadi. Durch den ganzen Traum ging — wie der Schatten eines Dampfers über den Fluß — sein trauriges, halbwegs bekanntes Gesicht: die taubengrauen Augen, die festen Lippen, die störrischen, hellen Haare und das Lächeln eines Kinohelden. Anfangs schien es, als sei nicht er es, sondern als sei es nur die Empfindung von etwas Vertrautem, ihm Ähnlichem und eine daherrührende unklare Gereiztheit. Er rief bei Marjana gleichzeitig Sympathie und Antipathie hervor. Sein offener Wunsch, sie sich eines ihr unbekannten Experimentes wegen geneigt zu machen, rief ihren Zorn hervor. Der Traum wogte hin und her und kräuselte sich wie eine Wasseroberfläche. Arkadis Gesicht erschien ihr bald langgezogen, verzerrt und unangenehm, bald ruhig und konzentriert. Als sie am nächsten Morgen ins Laboratorium kam, bat sie als erstes Arkadi zu sich. „Ich habe Sie gestern nicht ganz verstanden. Worum geht es? Warum möchten Sie Ihr Vorhaben nicht schriftlich fixieren? Vielleicht sollte das auch nur ein Scherz sein?" „Nein, ich habe nicht gescherzt." „Wie? Aber was wollen Sie denn nun wirklich! Und wissen Sie überhaupt, was Sie mir da vorschlagen?" 36
;,Das
weiß ich." „Was wollen Sie also?" „Daß Sie sich nicht an die Instruktionen halten." „Hören Sie, Andrejew. Es geht hierbei nicht um Formalitäten, verstehen Sie doch bitte. Ich möchte keinesfalls, daß Sie mich für eine herzlose Bürokratin halten. Hören Sie auf, mir den Kopf voll zu reden, Sie sind kein verliebtes Fräulein, sondern ein Wissenschaftler. Hier haben Sie einen Vordruck, nehmen Sie das Diktaphon und formulieren Sie. Dann reden wir darüber . .." „Ja, ja, und heute abend weiß Lipjagin alles bis in alle Einzelheiten! Ergebensten Dank." „Interessant, woher sollte er das wohl erfahren?" „Das weiß ich nicht! Das sickert durch die Wände. Mein Chef ist ein Genie. Ihm genügt eine Andeutung. Er hat mir freigegeben, damit ich mich ein wenig erhole und mit meinen Altersgenossen plaudere — Sie wissen ja, unter fünfzig Jahren gibt es bei uns nur einige wenige ..." „Arkadi, das Experiment erlaube ich nicht. Punkt!" „Und ich hatte gehofft, diesen Punkt zu bewegen; jetzt aber stellt sich heraus, daß so ein winziger Punkt schwerer wiegt als ein Grabstein." „Wir wollen nicht mehr darauf zurückkommen! Mir gefällt Ihre Anhänglichkeit an den Chef, und überhaupt — Ihre Besessenheit hat was für sich. Aber nach der Katastrophe in K a r a i . . . " „Jaja. Nichts zu machen, lassen wir das." „Wie geht es den Jungs aus der Siebenten?" „Großartig. Sie sind naiv und begabt wie altgriechische Götter." „Ich fliege bis zum Abend weg", sagte Marjana und. trat auf die runde Plattform des Aufzuges. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag." Damit drückte sie auf den Knopf. Nachts aber träumte sie wiederum von Arkadi. Sie gingen über eine kamillenübersäte Wiese. Arkadi pflückte eine Blume ab und murmelte etwas vor sich hin. „Wovon sprechen Sie?" — „Ein altes Sprüchlein, das ich von meiner 37
Großmutter gelernt habe.". — „Erzählen Sie, erzählen Sie ..." — „Sie liebt mich — liebt mich nicht, sie will mich nicht — sie küßt mich, sie drückt mich ans Herz — sie schickt mich zum Teufel..." — „Wunderbar! Wie war das? Sie liebt mich — liebt mich nicht..." Es war still und warm, die Kamille duftete zart wie der Blütenstaub auf den Flügeln der Schmetterlinge. Sie setzten sich auf die weiche angewärmte Erde, und plötzlich warf Arkadi die Blume weg. „Marjana, ich möchte mit Ihnen ernsthaft über das Alierwichtigste sprechen. Versuchen Sie, mich zu verstehen. Nun ja, die Katastrophe in K a r a i . . . Denken Sie wirklich, die Menschheit ist für immer gegen Opfer gefeit? Natürlich wäre es besser ohne Risiko, darüber streitet niemand! Aber wir gehen doch immer bis zum Äußersten, wir dringen in das Allerheiligste der Natur ein, wo es keinerlei Garantien mehr für unsere Sicherheit g i b t . . ." Sein Gesicht war lieb und ehrlich, die Worte, stumm im Schlaf, hatten keinen Ton, sondern drangen einfach so in sie ein, wie die Sonne in die Haut, und riefen Mitgefühl und eine unverständliche Freude hervor. „Und diese Instruktionen . . . Schon seit zwei Jahrhunderten behaupten wir, daß die Menschheit für jeden einzelnen verantwortlich ist und jeder einzelne für die ganze Menschheit. In diesem Sinne gibt es keinen Unterschied zwischen mir und dem Wissenschaftlichen Rat. Warum also darf ich nicht selbst über das Schicksal des Experimentes entscheiden? Woher dieses Mißtrauen? Wäre ich ein analphabetischer Handwerker, hätte ich kein Diplom bekommen. Aber so . . . Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit über den Chef gesagt. Der Chef verbirgt sehr höflich und geschickt vor uns seinen Wunsch, sich auf einen unerreichbaren Gipfel zu erheben, unsere Kühnheit erschreckt ihn, und hier kommen ihm die Instruktionen z u g u t e . . . " Marjana hörte sich das mit an und zupfte Blütenblätter, seine Worte kamen trübe und ruckartig heraus, wie Blutströme. „Liebt mich — liebt mich nicht, liebt mich — liebt mich nicht..." — „Marjana, und Sie selbst? Sie sind klug, die Jungs vergöttern Sie, aber schließlich besteht doch der Sinn Ihrer Existenz nicht im Teetrinken und in der Erteilung von Anordnungen? Was aber tun Sie?" — „Liebt mich — 38
liebt mich nicht, liebt mich — liebt mich n i c h t . . . Und wie geht es doch weiter? . . . will mich nicht — küßt mich . . . " — „Sie sind ebenfalls Sklave der Instruktionen, Sklave des Rates und noch zweier weiterer Räte. Zwischen uns und der Menschheit stehen drei Räte, und eine solche Zensur der Gedanken und Seelen gilt sogar noch für klug!" — „Drückt mich ans Herz — schickt mich zum Teufel... nennt mich die S e i n e . . . Ein komischer Junge, ein entsetzlich komisches Kind. Zu wem sagt er das! Als ob ich anders dächte. Ihm helfen . . . Ich bin nur noch nicht soweit. Es ist mir noch nicht alles klar. Die Räte sitzen natürlich voller alter Dummköpfe. Aber unbeaufsichtigte junge Tollköpfe . . . Wie i c h . . . So tollköpfig sind wir übrigens gar n i c h t . . . nein, ich kann nicht. Das ist zu ernst. Irgend etwas stört mich dabei. Vielleicht sind wir noch nicht genügend vorbereitet d a f ü r . . . " — „Wir sollten noch nicht genügend vorbereitet sein? Unsinn! Die Katastrophe in Karai trat ein, nachdem alle Pläne dreifach bestätigt und geprüft worden waren. Falsche Schlußfolgerungen aus ganz natürlichen Ereignissen..." Er nahm ihre Hand, und sie ließ es geschehen. „Marjana! Ich möchte so sehr, daß Sie mich verstehen! Ich bin überzeugt, Sie werden mir zustimmen! Erlauben Sie mir das Experiment. Sie kennen mich gut genug." — „Und das Risiko?" — „Was für ein Risiko? Ich kann Ihnen nur sagen, daß es nicht lebensgefährlich ist. Wenn alles k l a p p t . . . " — „Und wenn es nicht klappt?" — „Es klappt! Außerdem geht es gar nicht darum. Wenn es mir nicht gelingt, wird es anderen gelingen. Wichtig ist das Prinzip. Zum Teufel mit der Routine! Marjana, sagen Sie, daß Sie einverstanden sind. Nun, Marjana!" Als sie erwachte, bewegte sie nur das eine: Niemals vorher hatte sie dieses „er liebt mich — liebt mich nicht" gehört. Den Mittwoch verbrachte Marjana auf einer Expedition in den Bergen. Sie kam müde zurück, ging spät schlafen und träumte nichts. Am nächsten Tag fand in der siebenten Abteilung eine Sitzung statt. Marjana begrüßte alle mit einer leichten Ver39
beugung, freute sich aber, als sie Arkadi in der Nähe der Vakuumkammer erblickte. Er stand mit dem Rücken zu ihr und sprach mit einem Montagearbeiter. Die Sitzung war rasch beendet, und Marjana rief Arkadi unter dem Pfeifen der Aufzüge zu: „Na, gebe ich gute Anleitungen? Ich habe sie alle wieder weggeschickt. Die Jungs aus der siebenten Abteilung gehen für zwei Tage in die Berge." -Arkadi spielte mit der Schlüsselkette und begleitete Marjana bis zu ihrem Arbeitszimmer. ..Gehen Sie in die Stadt?" fragte Marjana. „Ja. Vielleicht leisten Sie mir Gesellschaft?" „Ich würde es gern tun, aber ich kann nicht. In einer halben Stunde fliege ich zur Expedition. Wenn Sie Langeweile haben, kommen Sie doch mit! Allerdings lohnt es sich kaum, Demontage . . . Wissen Sie, A r k a d i . . . " „Was?" fragte er gespannt, denn er» spürte in ihrer Stimme etwas Neues. „Ich möchte Ihnen sagen, daß mich unser letztes Gespräch s e h r . . . Es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann . . . " „Geben Sie mir das rote Streifchen — und es wird Ihnen nicht mehr leid tun." „Nein, darüber haben wir uns doch geeinigt, das ist ausgeschlossen! Das kann ich nicht tun. Obwohl mir das Herz r ä t . . ." „Dann hören Sie auf Ihr Herz." • Marjana war verwirrt. Er sah sie mit ehrlichen und etwas traurigen Augen an. „Ich tue, was Sie wollen .. . Aber erst, wenn Sie eine Abhandlung über ,Die Physik und das Herz' geschrieben haben." „Gerade das ist es, womit sich die Menschen seit Jahrhunderten beschäftigen..." „Na gut, doch jetzt muß ich arbeiten." Marjana sprang auf die Rolltreppe und suchte mit dem Finger den ihr so vertrauten Knopf, doch plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie rief nach Arkadi. Er kam langsam zurück. 40
„Hören Sie, kennen Sie nicht zufällig* den uralten Vers: ,Liebt mich — liebt mich nicht'..." „Will mich nicht — küßt mich, drückt mich ans Herz...' kenne ich; was ist damit?" „Nur so, nichts Besonderes, er geht mir nicht aus dem Kopf. Ich habe ihn irgendwo einmal gehört, weiß aber nicht mehr, wo." Dann drückte sie auf den Knopf. In der Erwartung, wieder zu träumen, legte sie sich ins • Bett und suggerierte sich, daß sie träume. Und da träumte sie wirklich. Diesmal ganz stumm und ohne Gespräche. Der Traum war wie ein Film: Marjana sah deutlich alles, was im Traum vor sich ging, und war sich gleichzeitig bewußt, daß es nur ein von ihrem eigenen Wunsch geschaffener Traum war, der, wenn sie es nur wollte, abbrechen oder ganz anders verlaufen würde. Es war ihr eigener Traum, er war so, wie sie ihn sich wünschte, und deshalb war er großartig und wunderbar. Marjana und Arkadi saßen auf der kleinen Bank vor den Fenstern des Laboratoriums; das gelbe, herbstliche Laub fiel von den Bäumen, es duftete nach fauliger und feuchter Erde. An den Fenstern waren die Gardinen zugezogen, Arkadi und sie waren hinter den Zweigen der Bäume versteckt. Der Abend senkte sich herab, und die Sonne wärmte nur noch schwach, aber zärtlich. Marjana fühlte in ihrer rechten Hand die kühle und feste Hand Arkadis. Alles in ihr jubelte. So saßen sie lange Zeit, dann umarmte er sie und gab ihr einen langen, unendlich langen Kuß. Es fiel ihr schwer, sich von ihm loszureißen, sie fürchtete sich davor, weil sie wußte und fühlte, daß der Traum damit zu Ende wäre. Wie lange dauerte das? Eine Minute? Eine Stunde? Die ganze Nacht? Das fallende Laub raschelte, die warme Luft wehte lind, ihre warmen Lippen, fest und leicht an seine Lippen gedrückt, zitterten. Als Arkadi, der sich per Fernsehtelefon bei ihr angemeldet hatte, am nächsten Tag in ihr Arbeitszimmer trat, empfing Marjana ihn strahlend. „Gute Stimmung?" 41
^Ausgezeichnet," „Bei mir ist es genau umgekehrt." „Das macht nichts, es wird gleich anders werden." „O nein. Morgen muß ich abfahren." „Na sehen Sie, Sie haben sowieso keine Zeit mehr für das Experiment." „Zeit hätte ich, wenn Sie nur die Erlaubnis erteilten! Ich rufe im Institut an und bitte . . . oder, zum Teufel, ich kann mir ja auch ein Bein brechen! Etwas werde ich mir schon ausdenken." „Sind Sie wirklich sicher, daß Ihnen bei dem Experiment keine Gefahr droht?" „Absolut." „Und wenn ich meine Arbeit v e r l i e r e . . . " „Ach, der Teufel soll sie holen! Das heißt, verzeihen Sie, ich wollte sagen . . . Wozu brauchen Sie diesen mechanisierten Kochtopf? Fahren wir nach Tulawi, ich habe Ihren Prospekt gelesen, Sie sind doch Praktiker, Sie brauchen ein großes Arbeitsfeld, Maschinen . . . " „Arkadi, lassen Sie mir noch bis morgen Zeit zum Überlegen." „Einverstanden!" „Ich verspreche nichts." „Trotzdem hoffe ich." Sie gingen auseinander, aber die Festtagsstimmung blieb. Nachts wiederholte sich ihr Gespräch genau so, wie es wirklich verlaufen war. Der Unterschied war nur, daß sie sofort zustimmte. Als er seiner Freude Ausdruck geben wollte, ergriff Marjana seine Hand und küßte ihn. Der Sonnabend begann. Marjana erledigte bis um zehn Uhr ihre Angelegenheiten und drückte dann entschlossen auf den Knopf der inneren Sprechanlage, um Arkadi zu sich zu bitten. Der Diensthabende antwortete, Arkadi sei noch nicht da, er bereite sich auf seine Abreise vor. Seltsam, dachte Marjana. Da der Diensthabende keine Antwort auf seine Mitteilung erhielt, stimmte er ein Loblied auf Arkadi an: „Das ist ein Köpfchen, einen solchen Burschen müßten 42
wir haben! Könnte man ihn nicht überreden zu bleiben? Wenigstens für einen M o n a t . . ." Da schellte plötzlich die Glocke, Marjana nickte und herein trat Arkadi. „Guten Tag. Ich will es Ihnen gleich sagen: ich bin einverstanden. Ehrlich gesagt, ich habe selbst seit langem an so etwas gedacht. Und wenn alles drunter und drüber geht, Sie haben recht! Wieviel Geld brauchen Sie?" „Marjana", sagte er und setzte sich vorsichtig und wie unter einem Zwang in den Sessel, „ich danke Ihnen von ganzem Herzen, aber ich brauche nichts. Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden." „Wie? Und das Experiment?"„Hat stattgefunden. Alles in Ordnung." „Wie denn das?" „Sehen S i e . . . Nur ärgern Sie sich bitte nicht. Unser Institut prüft ein Gerät, das auf den Menschen einwirkt, während er schläft..." „Was?" „Denken Sie bitte nichts Schlechtes! Das Programm ist von allen ausgearbeitet und bestätigt worden . . , " Er lachte. „Von allen drei Räten, ich habe genau nach dem Programm gehandelt. Ein Teil meiner Aufgabe bestand darin, Sie zu überreden, mir entgegen den Instruktionen Ihr Einverständnis für ein Experiment zu geben. So. Und genau entsprechend der Instruktion . . . " „Genau nach der Instruktion?" „Ja, natürlich. Pjatkin und Seiko haben die Kontrolle übernommen. Übrigens möchte ich Ihnen im Namen der Assoziation für Ihren großen Dienst an der Wissenschaft danken. Auf den Gesundheitszustand wird sich das, denke ich, keinesfalls auswirken. Im September werden Sie und noch eine Gruppe von Teilnehmern an diesem Experiment — es ist gleichzeitig an sieben Objekten durchgeführt worden — nach Tulawi zum Kongreß eingeladen. Das war, wenn ich mich nicht irre, Ihre dritte Arbeit für die Assoziation?" „Ja", sagte Marjana zerstreut. „Die dritte. Das ist alles sehr interessant..." 43
Sie konnte es noch immer nicht fassen. „Ich lasse Ihnen eine wissenschaftliche Beschreibung da, in ein paar Tagen schicke ich Ihnen die technischen und anderen Materialien zur Information. Marjana, Liebe, glauben Sie mir: obwohl das alles gesetzlich ist und Sie gewußt haben, worauf Sie eingingen, als Sie in die Assoziation eintraten, fühle ich mich trotzdem ganz blöd! Unser Leben ist noch sehr kompliziert..." Marjana dachte die ganze Zeit über etwas nach. „Marjana, was ist mit Ihnen? Sagen Sie doch etwas!" „Arkadi, haben Sie mir zugemurmelt ,liebt mich — liebt mich nicht'?" „Ja, und ich habe midi sehr gefreut, daß das Signal angekommen ist. Sonst hätte ich mich bis zum Ende der Woche in voller Unkenntnis befunden ..." Marjana errötete. „Denken Sie aber nicht, daß ich den Vers selbst gemacht habe! Den hat der Chef ausgegraben. Sie finden ihn in der Beschreibung . . . Er ist ganz interessant, noch aus der dunklen Zeit des Wahrsagens und Aberglaubens . . . Wir wissen noch wenig über den Menschen." Marjana hatte sich endlich gefaßt. „Sie sind wahrscheinlich sehr müde; ich kenne die Tedinologie zwar nicht, aber jede N a c h t . . . " „Ich bitte Sie, nicht jede Nacht! Sitzungen wurden dreimal durchgeführt." „Montag, Dienstag und Freitag?". „Sehen Sie, das Experiment ist tatsächlich gelungen!" „Ja. Aber vom Menschen — da haben Sie recht — wissen wir noch sehr wenig! Nicht viel mehr als man früher wußte, als man an der Kamille abzählte: ,Liebt mich — liebt mich nicht.' Noch eine Frage: Sie haben mir im Schlaf die Entschlossenheit suggeriert,-gegen die Instruktionen zu handeln. Soweit ich mich erinnere, war davon aber auch offen die Rede." „Ich habe nach dem Programm gehandelt, meine Aufgabe bestand nur darin, die Sadie etwas zu forcieren; an anderen Abschnitten wurde das Experiment etwas anders durchgeführt. In zwei Fällen, soweit ich weiß, mit Hilfe 44
direkter Suggestion, ohne unmittelbaren Kontakt mit dem Objekt..." „Gut, aber wie soll ich mir die seltsame Wahl des Themas _ erklären?" „Der Zweite Rat kennt Ihren Bericht über die Arbeit des Laboratoriums der B-Klasse. Wir haben Ihre Gedanken gewissermaßen zu der endgültigen Schlußfolgerung geführt, zu der Sie sich noch nicht erkühnt hatten." „Aber . . . wie ist denn das überhaupt mit den Instruktionen und den drei Räten?" „Oh, ich bitte Sie, Marjanotschka! Das taugt alles nur für ein Experiment", Arkadi beugte sich vertraulich über den Tisch zu Marjana hinüber, „im 'Leben dagegen . . . Stellen Sie sich vor, was für ein Durcheinander entstünde, wenn man den Laboratorien das rote Streifchen gäbe!" Als Arkadi sah, daß Marjana die Stirn runzelte, legte er das auf seine Weise aus. „Ihnen selbst, so scheint mir, droht keinerlei Gefahr, Sie erhalten Antwort auf Ihren Bericht, und damit ist alles erledigt. Es wird keinerlei Unannehmlichkeiten geben! Sie sind eisern, das kann ich bestätigen, und wenn das Gerät nicht gewesen wäre . . . Außerdem wird die Assoziation Sie verteidigen. Sie werden dort gebraucht. .. Jetzt aber, so traurig es auch ist, muß ich mich verabschieden, ich werde erwartet." Arkadi stand auf und streckte Marjana die" Hand entgegen. „Aber wie denn . . . " „Was?" „Nein, n i c h t s . . . Auf Wiedersehen, bis zum September. Ich bin lange nicht in Tulawi gewesen. Aber es ist doch auch hier bei uns nicht schlecht, nicht wahr? Besonders der Park. Und die Bank unter der Eiche — gegenüber von meinem Fenster." „In den Park hineinzuschauen, habe ich nicht mehr geschafft. Aber ich komme unbedingt noch mal hierher und setze mich auf Ihre Bank . . . Verzeihen Sie nochmals und — vielen Dank!" „Na, dann alles Gute. Nur noch eins: Ich hatte die ganze 45
Zeit über eine bessere Meinung von Ihnen als jetzt. Das sollen Sie doch wissen. Ich bin sogar traurig. Jener junge Mann, der die Instruktionen zum Teufel schickte und sich sogar ein Bein brechen wollte — der hat mir besser gefallen. Das wollte ich Ihnen noch sagen." „Ach, Marjanotschka, Sie sind ein wunderbarer Mensch, Ich würde sagen — kein moderner. Doch das ist eben das Großartige an Ihnen!" -•' Als sich die Tür hinter Arkadi schloß, begann Marjana höchst modern hinter ihm drein zu schimpfen. Übersetzt von Norbert Randow und Werner Tzschoppe
Wladlen Bachnow
Die Pille der Erleuchtung Sie kennen Osarin, die Pille der Erleuchtung, nicht? Kaufen Sie sie, wenn Sie fünf Minuten lang ein Genie sein wollen! Osarin ist in jeder Apotheke erhältlich, allerdings nur auf Rezept. Aber wenn Sie sehr darum bitten, gibt man es Ihnen vielleicht auch so. Mein bester Freund hat dieses Zaubermittel entwickelt. Seinerzeit, als es noch nirgends-auf zutreiben war — jedes Milligramm wurde nur auf besondere Genehmigung der UNO und der Regierungen der Großmächte ausgehändigt—, spendierte er mir eine ganze Tablette. „Zehn Jahre schon", sagte er, „brütest du über deiner Erfindung. Nimm die Tablette, damit du endlich zum Ziel kommst!" „Sie wirkt doch nur fünf Minuten", gab ich zu bedenken. „Na und? Ist das nicht genug für eine Erfindung, fünf Minuten lang ein Genie zu sein? Gewiß, audi Newton wäre beim Anblick eines fallenden Apfels kaum auf das Gravitationsgesetz gekommen, hätte er sich nicht vorher schon mit diesem Problem beschäftigt. Die Erleuchtung traf ihn blitzartig. Plötzlich erkannte er einen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen, an den er vorher noch nicht gedacht hatte. Eine große Wahrheit erschloß sich ihm. Du aber wirst fünf Minuten lang erleuchtet sein, trägst dich schon, wer weiß wie lange, mit deiner Idee herum und hast ein reiches Wissen. Eine plötzliche Eingebung, und du bist über den Berg! Da, nimm!" Er reichte mir die Plastepackung mit der geheimnisvollen Pille. Meine Begabung und meinen künftigen Erfolg stellten weder meine Freunde noch ich in Zweifel. Ich war der Stolz des Instituts. Konnte mich doch die Erfindung, der ich bereits ein Jahrzehnt geopfert hatte und die mir zum Lebensinhalt geworden war, über Nacht berühmt machen. Osarin würde diesen Augenblick in greifbare Nähe rücken. 4?
Kaum war mein Freund gegangen, schloß ich mich ein, bewaffnete mich mit einem Füllfederhalter, legte einen Stoß Zettel vor mich hin und schluckte die Tablette. Bereit, alle meine Gedankenblitze sofort aufs Papier zu bannen, wartete ich ungeduldig, daß mein Genie und die „Große Wahrheit" zum Vorschein kämen. Osarin enttäuschte mich nicht. Ich beendete tatsächlich an diesem Tag meine langjährige Arbeit. Ich sah, was noch kein anderer gesehen hatte, die nackte Wahrheit v Bereits in der ersten Minute kam ich zu der Erkenntnis, daß meine Erfindung niemandem nützt und uninteressant ist. In der zweiten Minute stellte ich meinen Mangel an Begabung fest. Und in den letzten drei Minuten schrieb ich eine Erklärung an den Direktor unseres Forschungsinstitutes mit der Bitte, die Arbeit an meiner Erfindung einstellen zu dürfen. Diese Erklärung fanden später alle genial abgefaßt. Es gibt noch Osarin in der Apotheke, möchten Sie es nicht kaufen? Ich rate Ihnen aber, sich die Sache gut zu überlegen. Übersetzt von Doris-Ursula Pirl
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Wladlen Bachnow
Mensch oder Roboter Alles begann damit, daß Pjotr Iwanowitsch Podswetschnikow eines Nachts einen sonderbaren Traum hatte. Ich glaube jedenfalls, es war nachts, denn bisweilen döste er auch am Tage vor sich hin. Aber so richtig träumte er da nicht. Einmal störte das Tageslicht, und zum anderen waren die Bedingungen am Arbeitsplatz zu ungünstig. Ungestört und interessant träumen 'konnte man nur nachts. Eines Nachts also sah sich Podswetschnikow in eine Ausstellung kybernetischer Maschinen versetzt. Im ersten Raum waren ganz gewöhnliche Geräte aufgestellt, die nichts konnten als lesen, schreiben, zählen, übersetzen oder sich mit Perspektivplanung befassen. In den nächsten Räumen gab es elektronische Schachspieler, die sämtliche nach den Spielregeln möglichen Folgen bis zu vierzig Zügen im voraus überblickten. Nach dem ersten Zug des Gegners führten die hellseherischen Geräte blitzschnell komplizierte Berechnungen durch und empfahlen ihm, je nach der Situation, aufzugeben oder gaben sich selbst geschlagen. Manchmal wurden Turniere ausgetragen, bei denen schachspielende Automaten eines Raumes mit Automaten eines anderen Raumes kämpften. „Kämpfen" sagt man übrigens nur so. Meistens kam es bei den kybernetischen Großmeistern schon vor dem ersten Zug zu einem Remis. Das war eine Technik, die ans Phantastische grenzte. In den folgenden Räumen aber konnte man eine Technik bewundern, die diese Grenze noch überschritt. Hier befanden sich Roboter, die alle Handlungen der Menschen nachahmten. Sie konnten sogar Fehler begehen, aus denen andere Roboter sogleich lernten. Durch eine solche Ausstellung schlenderte Podswetschnikow, geführt von einem intelligenten, modern gekleideten jungen Mann, der gewissenhaft jede Frage beantwortete. Als Podswetschnikow zufällig einmal etwas nicht veriS*
stand (und er verstand zufällig gar nichts), wiederholte der junge Mann geduldig seine Erläuterungen, bis es bei Podswetschnikow wenigstens aus Höflichkeit zu dämmern begann. Wäre sein Begleiter nicht so freundlich und sympathisch gewesen, hätte Podswetschnikow geschworen, es sei Jewgeni Alexejewitsch Koshin, der juristische Berater des Trusts, den er, Podswetschnikow, leitete. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Aber nicht einmal im Traum konnte Podswetschnikow den höflichen jungen Mann mit dem ewig nörgelnden Koshin verwechseln. Drei Stunden lang führte der junge Mann Podswetschnikow durch die Ausstellung. Erst dann teilte er ihm mit, er sei gar kein junger Mann, sondern ein Roboter, zu Reklamezwecken extra für diese Ausstellung konstruiert. 50
„Wie? Ein Roboter? Aber Sie sind doch gar nicht aus Eisen!" „So etwas gab's einmal", entgegnete der Roboter in Menschengestalt höflich lächelnd. „Heutzutage stellt man uns aus denselben Stoffen her, aus denen der Mensch geschaffen ist. Bitte, überzeugen Sie sich", und er streckte seinen Arm aus. Podswetschnikow betastete ihn. Er war tatsächlich warm und geschmeidig. Der führt dich ja schön an, durchfuhr es Podswetschnikow, nicht umsonst sieht er Koshin ähnlich. „Ein Roboter und kein Mensch? Wie kommen Sie denn darauf?" „Allein schon deshalb, weil ich-nicht denken kann. Verstehen Sie?" „Was? Sie denken nicht? Wieso können Sie sich dann unterhalten, etwas erklären und überhaupt Handlungen ausführen?" „All mein Handeln ist einprogrammiert, daher brauche ich nicht zu denken." „Ich kann nicht nachprüfen, ob Sie denken können oder nicht. Wie können Sie mir noch beweisen, daß Sie ein Roboter sind? Worin unterscheiden Sie sich von einem Menschen, zum Beispiel von mir?" Der Roboter blickte Podswetschnikow sonderbar an und entgegnete so höflich wie vorher: „Und woraus schließen Sie, daß Sie ein Mensch sind und kein Roboter?" Über diese Frage war Podswetschnikow so bestürzt, daß er augenblicklich erwachte. Dann legte er sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Abermals erschien der angebliche Roboter und redete mit sanfter Beharrlichkeit auf ihn ein: „Beweisen Sie mir, daß Sie ein Mensch sind!" „Nichts einfacher als das", erwiderte Podswetschnikow überlegen. „Wie könnte ich den Trust leiten, wenn ich kein Mensch wäre?" „Das ist kein Beweis. Man kann ohne weiteres einen Roboter herstellen, der fähig ist, einen Trust zu leiten." „Aber ich bin auf natürlichem Wege zur Welt gekommen!" 51
„Woher wollen Sie das wissen? Kein Mensch kann sich an seine Geburt erinnern." „Wennschon. Dafür besinne ich mich auf meine Kindheit, die Krippe, den Kindergarten." „Ein Gedächtnis kann man auch auf künstlichem Wege erzeugen." „Ich habe aber eine Geburtsurkunde, ein Arbeitsbuch, eine Kaderakte!" „Ihre Kaderakte kenne ich. Kein Wort steht darin, daß Sie ein Mensch sind!" Verflixt, ich habe wohl zu spät Abendbrot gegessen, dachte Podswetschnikow und wurde hellwach. Vielleicht hätte er diesen unseligen Traum vergessen, wäre ihm nicht Koshin am nächsten Morgen über den Weg gelaufen. Kaum hatte er ihn erblickt, fiel ihm auch schon das Museum mit den kybernetischen Maschinen ein und natürlich auch der junge Mann, vielmehr der junge Roboter, kurz, sein Begleiter, der ihm die verrückte Frage gestellt hatte, ob er beweisen könne, daß er ein Mensch sei. An all das erinnerte sich Podswetschnikow, und obgleich er es nur geträumt hatte, beunruhigte es ihn, dem nichtswürdigen Museumsführer keine gehörige Abfuhr erteilt zu haben. Und er empfand eine merkwürdige Befriedigung darin (wie wir sie alle empfinden, wenn uns- drei Tage zu spät die passende Antwort auf eine boshafte Frage einfällt), sich eine gepfefferte Antwort auszudenken, die diesen vorwitzigen Burschen zur Räson gebracht hätte. Doch das war nicht so einfach. Gewiß, Antworten gab es genug. Aber für jedes überzeugende Argument fand sich ein noch überzeugenderes Gegenargument, das, so schien es Podswetschnikow, nicht er, sondern der angebliche Roboter aussprach. „Ein Mensch, wie stolz das klingt!" rief Podswetschnikow. Der Roboter nickte höflich. „Ganz Ihrer Meinung. Das beweist aber noch lange nicht, daß Sie ein Mensch sind." „Ein Roboter kann nur das tun, was ihm eingegeben ist oder was man ihm befiehlt. Ich a b e r . . . " „Sie aber? Erhalten Sie keine Signale von der Außenwelt 52
in Form von Instruktionen, Direktiven, Verordnungen, Hinweisen, Verfügungen, Richtlinien und Rundschreiben, bevor Sie handeln?" Ich führe aber die Befehle nicht automatisch aus, sondern überlege erst, wollte Podswetschnikow entgegnen, besann sich jedoch, daß der Vorgang, den er „Überlegung" nannte, praktisch darauf hinauslief: Ordnete ihm eine vorgesetzte Dienststelle etwas an, hüllte er sich erst einmal in Schweigen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dies oder jenes tun zu müssen. Doch sobald er sich daran gewöhnt hatte, war der „Überlegungsprozeß" auch schon beendet. Statt über die Anordnung nachzudenken, hatte er sie sich nur zu eigen gemacht. Deshalb versuchte er es mit einem anderen Argument. „Aber ich erteile selbst Befehle und Anweisungen." „Sie haben doch eben gesagt, ein Roboter muß tun, was ihm eingegeben ist. Vielleicht sind Sie so konstruiert, daß Sie Befehle erteilen." Podswetschnikow beschloß, seine Taktik zu ändern. „Worin liegt Ihres Erachtens der Hauptunterschied zwischen einem Roboter und einem Menschen?" „Einem Roboter ist es egal, womit er sich beschäftigt." „Sehen Sie, und mir ist es nicht egal." „Wenn das so ist, warum sind Sie erst in der Viehzucht, dann in der Filmbranche und schließlich im Handel tätig gewesen?" „Hm. Worin unterscheidet sich ein Roboter noch von einem Menschen?" „Es fehlt ihm das Interesse am Ergebnis seiner Arbeit." „Aha, es fehlt! Bei mir ist es vorhanden." „Was?" „Das Interesse." „Nein, leider fehlt es Ihnen gerade daran." „Nein, es ist vorhanden. Denn wenn es mir fehlte, würde ich nicht sagen, daß es vorhanden ist." Das Spiel mit nichtssagenden Worten war Podswetschnikow so vertraut, daß er hier bestimmt den Sieg davontragen würde. Doch da fiel ihm ein, daß er mit sich selbst stritt, und selbst konnte er sich natürlich eingestehen, ob 53
das Interesse am Ergebnis seiner Arbeit bei ihm fehlte oder ob es vorhanden war. „Gut. Noch ein Beweis, daß ich ein Mensch bin. Ich habe nur von Ihnen geträumt, und träumen kann ein Roboter nicht." „Nur ein Roboter weiß, ob er träumen kann oder nicht." Der Streit mit dem Museumsführer wurde immer schwieriger. Schließlich blieben Podswetschnikow nur noch solche unsinnigen Argumente wie: 1. „Wenn Sie ein Roboter sind, dann sind die anderen noch lange keine Roboter." 2. „Wer sind Sie eigentlich, daß ich vor Ihnen Rechenschaft ablegen soll?" 3. „Im übrigen gefällt mir dieser Ton ni<$)t." Gerade als Podswetschnikow diese wertlosen Worte aussprechen wollte, schrillte das Telefon. Er wurde zu einer dringenden Unterredung in die Hauptverwaltung gebeten. Auf dem Weg dorthin und während der Unterredung dachte er in einem fort an das Gespräch mit dem Roboter, und er gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, selbst ein Roboter zu sein. Nun, vielleicht nidit ganz ein Roboter, aber doch ähnlich. Na schön, vielleicht auch ganz. Die Wissenschaft war so weit fortgeschritten, daß alles möglich war. Weshalb sollte er nicht so konstruiert sein, daß er eine Leitungstätigkeit übernehmen konnte? Plötzlich hörte er seinen Namen. In seine trüben Gedanken versunken, war ihm entgangen, was vorher gesprochen wurde. Am Klang aber, wie man seinen Namen aussprach, fühlte er, daß es Zunder setzte, und nicht zu knapp. Er irrte nicht. Man warf ihm mangelnde Initiative, Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit vor. Mit jeder Beschuldigung wurde deutlicher, wie recht der Roboter in seiner Annahme hatte. Der Leiter der Hauptverwaltung stellte unumwunden fest, er sehe zum erstenmal einen Menschen, der so aktiv im Nichtstun sei und seine Arbeit derart vernachlässige. Und da geschah etwas, wovon man noch heute in der Hauptverwaltung spricht, obwohl diese inzwischen mehrmals reorganisiert, erweitert und wieder verkleinert wurde 54
und die Beteiligten an dieser historischen Konferenz längst andere Stellungen innehaben. Mitten in der Standpauke lachte Podswetschnikow plötzlich auf, klatschte in die Hände, tanzte ein paar Schritte Krakowiak und bedeckte seinen Vorgesetzten mit Küssen. Niemand ahnte, daß Podswetschnikow dies tat, weil ihm der Vorgesetzte ungewollt das Argument gesagt hatte, mit dem er den unverschämten Koboter zurechtweisen konnte. Die Wissenschaft vermochte alles. Die Wissenschaftler waren in der Lage, einen Nomenklaturroboter zu konstruieren. Wer aber baute einen Roboter, der nicht arbeiten wollte, der seiner Arbeit nicht gerecht wurde? Er aber, Podswetschnikow, wollte nicht arbeiten, er kam mit seiner Arbeit nicht zu Rande. Also konnte er kein Roboter sein. Er war ein Mensch! In dieser Nacht hatte Podswetschnikow einen besonders angenehmen Traum, obwohl er ausgiebig zu Abend gespeist und sich dazu aus lauter Freude einen Schluck genehmigt hatte, denn er war ein Mensch, und nichts Menschliches war ihm fremd. Übersetzt von Doris-Ursula Pirl
Wladlen Bachnow
Modekapricen Spätabends; nach der Sitzung des Wissenschaftlichen Rates, schritt der alte Professor langsam 'durch den stillen Flur des Instituts. In einigen Labors brannte noch Licht, und hinter den Milchglasscheiben huschten Schatten von Studenten und Robotern hin und her. Eigentlich hatte sich das ganze Leben des alten Professors in diesem Gebäude abgespielt. Hier hatte er studiert, Vorlesungen gehalten, hier wurde er Direktor. Sicher würde eines schönen Tages das Institut seinen Namen tragen. Aber nach diesem Tag verspürte der Professor noch keine sonderliche Sehnsucht. Er dachte an die Debatte, zu der es soeben im Wissenschaftlichen Rat gekommen war. Nicht zum erstenmal hatte man darum gestritten, ob es sich bei den Studenten nur um eine Modetorheit oder um eine Sache ernsterer Natur handelte. Doch das vermochte wohl nur die Zeit zu entscheiden. Der Professor wünschte sich sehr, es sei nichts als eine harmlose Marotte. Es hatte ungefähr vor fünf Jahren begonnen. Anfangs rief die verrückte Mode der Studenten, Roboter nachzuahmen, nur Spott und Ärgernis hervor. Die jungen Leute nannten sich Robos und sprachen von sich, als seien sie kybernetische Maschinen: „Heute bin ich soundso programmiert . . .", „Dieses Buch hat soundso viel Einheiten einer neuen Information in mich eingeführt." Später ahmten sie den Gang und die eckigen Bewegungen der Roboter nach, zwinkerten nicht mehr mit den Augen und bekamen einen starren Blick. Ihre Gesichter wurden allmählich so leblos.wie die plattgedrückten Robotervisagen. Natürlich gibt es immer Leute, die über eine neue Mode in Harnisch geraten. Der Professor erinnerte sich, wie die 56
jungen Männer, darunter auch er, vor fünfzig Jahren die Beatniks nachgeahmt hatten und sich große und kleine Barte stehen ließen. Davor waren Frisuren ä la Tarzan modern. Heute nun galt es, jeglichen Haarwuchs vom Kopf und aus dem Gesicht zu entfernen, denn Roboter haben bekanntlich keine Haare. Doch nicht das erfüllte den Professor mit Sorge. Die Robos fanden es altmodisch, sich zu freuen, traurig zu sein, zu weinen und zu lachen. Bei ihnen war jegliche Empfindung verpönt. Heutzutage, so argumentierten sie, wo wir in der Lage sind, Emotionen zu modellieren und im Labor ein Gefühl in seine Bestandteile zu zerlegen, sind Empfindungen unrationell und überholt. Und in dem Ruf zu stehen, rückständige und unrationelle Ansichten zu haben, das konnte sich kein Robo erlauben. Die Robos waren reine Verstandesmenschen. Nein, das wäre zu hoch gegriffen. Sie waren vielmehr kühl und berechnend. Sie hatten gute Lernergebnisse vorzuweisen, denn das war vernünftig. Sie versäumten keine Vorlesung, denn das wäre unvernünftig. Jeden zweiten Samstagabend veranstalteten sie eine Fete, tranken, tanzten, schlössen sich zu Pärchen zusammen und zogen sich zurück. Das Gehirn, dieses unvollkommene Organ, brauche Erholung, behaupteten sie. Nichts als Logik und Mathematik! Reinweg wie ein Roboter. War es eine Modeerscheinung? War es alarmierend? Nahezu alle Jugendlichen gaben sich wie Robos. Wenn das nur eine Mode war, weshalb hielt sie sich dann so lange? „Ich kann nicht ohne dich leben, glaub mir ...", vernahm der Professor plötzlich eine erregte Stimme. „Wenn du nicht da bist, denke ich an dich, und die Hoffnung auf unsere nächste Begegnung macht mich froh. Wie soll ich diesen Zustand nennen? Ich bin traurig und fühle mich doch wohl dabei. Verstehst du das?" „Aber ja, Liebster!" Also doch, durchfuhr es den Professor freudig, es gibt also noch Menschen mit echten Gefühlen. Und er war so ge37
rührt über das Gespräch, das er soeben ungewollt mit angehört hatte, daß er nicht umhin konnte, einen kurzen Blick in das Labor zu werfen, aus dem die Stimmen kamen. Dort sah er keine Menschenseele, nur zwei Roboter. Der Professor schüttelte den Kopf und schloß die Tür. Er hatte ganz vergessen, daß unter den Robotern die Mode aufgekommen war, sich wie Menschen zu gebärden. Übersetzt von Doris-Ursula Pirl
B. Subkow und E. Muslin
Der grüne Knopf Zwei Lichtminuten vor dem geheimnisvollen Planeten Mjui begann das Raumschiff mit dem Landemanöver. Die Fallschirme beförderten die Kristallkapsel mit dem schlafenden Astronauten wohlbehalten auf den • Planeten. Ahnungslos sah sich der junge Astronaut, wie immer vom kybernetischen Friseur frisch rasiert und angenehm mit Kölnischwasser, Marke „Abendlicher Saturn", eingerieben, weiterhin den erquickenden Stereophontraum an. Neben ihm aber standen bereits die Nairoben — die kybernetischen Roboter —, die einzigen Bewohner des Planeten Mjui, und berieten sich aufgeregt, wobei sie wie Herbstmücken summten. Der Astronaut war der erste Mensch auf diesem Planeten. Deshalb machten sich die Nairoben unverzüglich an die mathematische Analyse des vor ihnen liegenden unbekannten Mechanismus. Schon nach zwei Mikrosekunden waren die Koordinaten des Schwerkraftzentrums des Astronauten herausgefunden; es wurde konstatiert, daß die vorliegende Konstruktion zur Gruppe der aufrechtgehenden Mechanismen gehört und daß sich in ihrem oberen, kugelförmigen Teil ein einfaches kybernetisches Aggregat befindet „Ich gehe eine Wette ein, daß er nicht imstande ist, die einfachste Singulärgleichung zu lösen", kicherte ein Nairob, der einer Mischung aus Radarantenne und Schreibmaschine glich. Es war der allwissende Enzyklop. „Wieviel ursprüngliche Gedächtniszellen habt ihr in seinem sogenannten Gehirn gezählt?" „ V i . . . vier . .. vierzehn Millia .. . a . . . rden", erklärte achtungsvoll ein kleiner hagerer Nah-ob und kroch unter der Kristallkapsel hervor. Unlängst war ein gewaltiger Meteorit dicht vor der Nase des kleinen Nairoben niedergegangen, was derartig auf ihn gewirkt hatte, daß er seitdem stotterte. 60
.Nur vierzehn Milliarden? Ha ha ha!" rief der Enzyklop und klirrte mit den Quarzverstärkern. Es war natürlich nicht sehr taktvoll von ihm, sich mit seiner Überlegenheit zu brüsten, aber die Wahrheit ist uns teurer als alles andere, und man muß berücksichtigen, daß im Quantengehirn des Enzyklops allein schon die Liste der schlechten Beispiele zwanzig Milliarden Gedächtniszellen ausmachte. Der kleine Nairob fühlte sich geschmeichelt, daß ihm gestattet wurde, sich in einen so hochwissenschaftlichen Streit einzumischen, und piepste: „Ich erkühne mich zu be . . . be . . . merken, daß der vor . . . vor . . . vorliegende aufrechtgehende Mechanismus zu Sechsundsechzig Prozent aus Wasser besteht. L a u . . . lau . . . lauter Wasser!" „Ich kann mir vorstellen, was er für verwässerte Gedanken hat!" witzelte der Enzyklop. „Er hat kein Gehirn, sondern eine Wasserpfütze!" Plötzlich leuchteten alle Flächen eines neben der Kristallkapsel des Astronauten stehenden Diamantwürfels blaßrosa auf. Das war die letzte technische Neuheit der Nairoben — die Große Sonde. Sie war in die Geheimnisse des Gedächtnisses des Aufrechtgehenden eingedrungen und demonstrierte auf ihren rubinfarbenen Bildschirmen den gesamten, in seinem Gehirn aufgespeicherten Informationsvorrat. Dort waren jetzt langschwänzige Integrale zu sehen, Tabellen mit den vorjährigen Fußballspielergebnissen zwischen „Spartak" und „Dynamo" sowie ein den Nairoben völlig unverständliches Gedicht „Im Wald steht eine kleine Tanne". „Was ist das nur für ein Sammelsurium! Ein Chaos! Ein völliges Chaos!" bemerkte der wie ein Nagelkopf flache Nairob mit dem Spitznamen Großer Katastrophenheld mißbilligend. „Seht, seht", piepste der kleine Nairob und wies mit seiner Zange auf den Bildschirm, „bei diesem . . . wie heißt er doch . . . Aufrechtgehenden sind sie . . . siebzehn Millionen Hirnzellen von irgendeiner Va .. . Valjuscha okkupiert!" Den kleinen Nairoben überzog hellrotes Neonlicht. 61
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Um so schlimmer!" sagte der Katastrophenheld. „Alle diese sogenannten Emotionen, Gefühle ul^d Leidenschaften bringen das ohnehin chaotische Gedächtnis des Aufrechtgehenden noch völlig durcheinander." Selbstverständlich wäre kein Füllhalter, keine Schreibmaschine, ja nicht einmal eine Rotationsmaschine imstande gewesen, dem Streit der Nairoben zu folgen. Der oben beschriebene Meinungsaustausch hatte alles in allem dreieinhalb Millionstel Sekunden gedauert, und schon zu Beginn der fünften Million stelsekunde kamen die Nairoben zu folgendem endgültigen Schluß: Der in dem Kristallbehälter liegende, mit Gelenken versehene aufrechtgehende Mechanismus kann nicht zur Kategorie 'der schöpferisch denkenden Aggregate, Apparate oder Mechanismen gerechnet werden. Doch plötzlich schmatzte der Astronaut ein letztes Mal im Schlaf leise mit den Lippen und erwachte. Er erblickte die sich um seine Liegestätte drängenden Nairoben und lächelte zufrieden. Er kannte sie alle gut: es waren jene Nairoben, die einst in seinem Laboratorium geschaffen worden waren. Alles verlief in genauer Übereinstimmung mit dem Landungsprogramm auf dem Planeten Mjui. Der Astronaut klappte das Dach der Kristallkapsel zurück, richtete sich auf und drückte auf den grünen Knopf am Kopfende. Und da hatte plötzlich alles wieder seine Ordnung: der Katastrophenheld schlenkerte munter seine Molybdängelenke und lief davon, um dem jungen Astronauten ein saftiges Beefsteak zu braten, der weise Enzyklop aber lud sich ein Paar Atomspaten auf die Schultern und eilte, den Startplatz für das Raumschiff von Steinen zu säubern. Was tun? Der grüne Knopf der Macht über die Maschine befindet sich nun einmal stets in den Händen des Menschen. Und daß die Nairoben in ihrer Freizeit, ehe der Mensch erwachte, auf seine Kosten schwatzten, das hat niemanden gestört. Schon die ältesten Philosophen haben festgestellt, daß die Dienstboten gern über ihre Herren herziehen. Übersetzt von Norbert Randow und Werner Tzschoppe
Liebe Leser! Sicher haben Sie es auch schon einmal versäumt, das neueste kap-Heft zu kaufen, und nun fehlt Ihnen diese Nummer in Ihrer Sammlung. Läßt sich das vermeiden? Ja! Ein Abonnement beim zuständigen Postamt sichert Ihnen die regelmäßige Lieferung aller kap-Hefte.
Der Faulpelz „Unsere Firma hat eine Menge Neuheiten hereinbekommen. Kaufen Sie, zum Beispiel, diesen Neurokyber. Er nimmt Ihnen die Hälfte der Gedankenarbeit a b . " „Nur die Hälfte? Hm . . . Dann geben Sie mir zwei Stück."
Triumph der Logik „Ein glänzender Redner! Wie einleuchtend er bewiesen hat, daß Maschinen zu echter schöpferischer Arbeit nicht imstande sind." „Kein Wunder! Das ist doch der alte Pichtoliwanski! Alle seine philosophischen Arbeiten werden ihm von den besten Robotern unseres Jahrhunderts geschrieben." Überlegenheit Ein Kyber aufgeregt zum a n d e r e n : „Hast du schon gehört, die Menschen sollen gelernt haben, Gedanken zu lesen!" „Na und? Roboter werden nicht rot." Aus „Fantastika 1966", Verlag Molodaja Gwardija