Conte de Lautréamont (Isidore Ducasse)
Die Gesänge des Maldoror
(Übersetzung: Wolfgang Schmidt)
Erster Gesang, erst...
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Conte de Lautréamont (Isidore Ducasse)
Die Gesänge des Maldoror
(Übersetzung: Wolfgang Schmidt)
Erster Gesang, erste Strophe Gebe der Himmel, daß der Leser, kühn geworden und für den Augenblick so ausschweifend wild wie das, was er liest, seinen abschüssigen, ungebahnten Weg durch die öden Sümpfe dieser düsteren Seiten voll Gift finde, ohne sich zu verirren; sofern er nämlich nicht mit strenger Logik und einer Anspannung des Geistes an die Lektüre geht, die seinem Mißtrauen wenigstens gleichkommt, werden die tödlichen Ausdünstungen dieses Buches seine Seele durchtränken wie das Wasser den Zucker. Es ist nicht gut, daß jedermann die folgenden Seiten lese; einige wenige nur werden diese bittere Frucht gefahrlos genießen. Wende darum, furchtsame Seele, bevor du tiefer in solch unerforschte Einöden vordringst, deine Schritte rückwärts und nicht vorwärts. Höre auf das, was ich dir sage: wende deine Schritte rückwärts und nicht vorwärts, wie die Augen eines Sohnes, der sich ehrerbietig von der erhabenen Betrachtung des mütterlichen Antlitzes abwendet; oder eher noch wie ein unübsehbarer Winkel fröstelnder, höchst nachdenklicher Kraniche, der machtvollen Fluges durch die winterliche Stille zieht, mit vollen Segeln einem bestimmten Punkt am Horizont entgegen, aus dem ganz plötzlich ein seltsamer und starker Wind bläst, Vorbote des Unwetters. Der älteste Kranich, der ganz allein die Vorhut übernimmt, wiegt, da er dies sieht, den Kopf wie eine vernünftige Person, und folglich auch seinen Schnabel, den er klappern läßt, und er ist nicht erfreut (ich an seiner Stelle wäre es auch nicht), während sein alter Hals, federlos und Zeitgenosse dreier Kranichgenerationen, sich in gereizte Wellen legt, die den Sturm ansagen, der sich mehr und mehr nähert. Nachdem er kaltblütig mit erfahrenen Augen nach allen Seiten gespäht hat, wendet der Erste (denn er hat das Privileg, die Schwanzfedern den anderen, weniger intelligenten Kranichen zu zeigen) mit dem Alarmschrei des melancholischen Wächters, dem gemeinsamen Feind entgegenzutreten, geschmeidig die Spitze der geometrischen Figur (vielleicht ein Dreieck, das diese merkwürdigen Zugvögel im Raum bilden, aber man sieht die dritte Seite nicht), sei es nach Backbord, sei es nach Steuerbord, wie ein geübter Kapitän; und, indem er mit Flügeln manövriert, die nicht größer als die eines Sperlings zu sein scheinen, nimmt er so, da er nicht dumm ist, einen anderen, einen philosophischen Weg, einen, der sicherer ist.
Erster Gesang, zweite Strophe Vielleicht ist es, Leser, der Haß, den ich nach deinem Willen am Anfang dieses Werkes beschwören soll! Wer sagt dir, daß du nicht mit deinen hochmütigen, großen und schmalen Nüstern, in ungezählten Lüsten schwelgend, langsam und hoheitsvoll die roten Ausdünstungen nach Herzenslust einschlürfen wirst, indem du wie ein Hai den Bauch in die schöne schwarze Luft streckst, als ob du die Bedeutung dieses Handelns begriffest und die nicht minder große Bedeutung deines regelmäßigen Appetits? Sei versichert: sie werden die beiden unförmigen Löcher deiner scheußlichen Schnauze beglücken, o Scheusal, wenn du dich vorher befleißigt, dreitausendmal hintereinander das verfluchte Gewissen des Ewigen einzuatmen! Deine Nüstern, maßlos geweitet von unaussprechlicher Befriedigung und bewegungsloser Ekstase, werden vom Raum, den Parfümdüfte und Weihrauch erfüllen, nichts besseres verlangen; denn sie werden vom vollständigsten Glück gesättigt sein wie die Engel, die in der Großartigkeit und im Frieden der freundlichen Himmel wohnen.
Erster Gesang, dritte Strophe Ich werde in einigen Zeilen darlegen, wie Maldoror während seiner ersten Jahre gut war, als er glücklich lebte; das ist erledigt. Nachher bemerkte er, daß er böse geworden war: außergewöhnliches Verhängnis! Er verbarg seinen Charakter so gut er konnte über eine lange Reihe von Jahren hinweg; aber am Ende stieg ihm wegen dieser unnatürlichen Anstrengung jeden Tag das Blut in den Kopf; bis er sich dann, als er ein solches Leben nicht länger ertragen konnte, entschlossen auf die Laufbahn des Bösen warf … süße Atmosphäre! Wer hätte das gedacht! wenn er ein kleines Kind mit rosigem Gesicht umarmte, hätte er ihm die Wangen mit einem Rasiermesser ausschneiden mögen, und er hätte es sehr oft getan, hätte Justitia mit ihrem langen Gefolge von Strafen es nicht jedesmal verhindert. Er war kein Lügner, er bekannte die Wahrheit und sagte, daß er grausam sei. Menschen, habt ihr gehört? er wagt es nochmals zu sagen mit dieser zitternden Feder. Also gibt es doch eine Kraft, stärker als der Wille … verflucht! Der Stein wollte sich dem Gesetz der Schwerkraft entziehen? Unmöglich. Unmöglich, wenn das Böse sich mit dem Guten verbinden wollte. Gerade das habe ich vorhin gesagt.
Erster Gesang, vierte Strophe Es gibt Leute, die schreiben, um durch edle Eigenschaften des Herzens, die sie erfinden oder auch wirklich haben, menschlichen Beifall zu suchen. Mir aber dient mein Genie, die Wonnen der Grausamkeit zu schildern! Keine vergänglichen, gekünstelten Wonnen, sondern solche, die mit dem Menschen begonnen haben und die mit ihm enden. Kann sich gemäß der geheimen Beschlüsse der Vorsehung nicht das Genie der Grausamkeit verbinden? oder kann man nicht Genie haben, weil man grausam ist? Den Beweis wird man in meinen Worten finden; es steht euch frei, mir zu lauschen, wenn ihr wollt … Pardon, mir schien, als hätten sich auf meinem Kopf die Haare gesträubt; aber das hat nichts zu sagen, denn es ist mir sehr leicht gelungen, sie mit der Hand in ihre vorherige Lage zurückzubringen. Er, der hier singt, behauptet nicht, daß seine Kavatinen etwas Unbekanntes seien; im Gegenteil, er ist es zufrieden, daß die vermessenen und bösen Gedanken seines Helden in allen Menschen sind.
Erster Gesang, fünfte Strophe Ich habe mein ganzes Leben lang die engschultrigen Menschen, ohne eine einzige Ausnahme, dumme und zahlreiche Dinge tun, ihresgleichen verblöden und die Seelen mit allen Mitteln verderben sehen. Das Motiv ihres Handelns nennen sie: Ruhm. Angesichts dieses Theaters habe ich lachen wollen wie die anderen; aber dies, seltsame Nachahmung, war unmöglich. Ich habe ein Federmesser mit scharfer Klinge genommen und mir das Fleisch dort aufgeschlitzt, wo sich die Lippen vereinigen. Einen Augenblick glaubte ich mein Ziel erreicht. Ich betrachtete in einem Spiegel diesen aus eigenem Willen verletzten Mund! Es war ein Irrtum! Das Blut, daß reichlich aus beiden Wunden quoll, hinderte mich übrigens festzustellen, ob es sich tatsächlich um das Lachen der anderen handelte. Aber nach einigen kurzen Vergleichen sah ich genau, daß mein Lachen nicht dem der Menschen glich, das heißt, ich lachte nicht. Ich habe die Menschen mit häßlichem Kopf, mit schrecklichen, in die düsteren Höhlen gesunkenen Augen die Härte des Felsens, die Starre des Gußstahls, die Grausamkeit des Hais, die Unverschämtheit der Jugend, die Raserei der Verbrecher, die außergewöhlichsten Komödianten, die Charakterstärke der Priester und die größten Verstellungskünstler, die kältesten Wesen der Welt und des Himmels übertreffen, die Moralisten, verzweifelt, ihr Herz zu entdecken den unerbittlichen Zorn von oben auf sie herabrufen sehen. Ich habe sie alle auf einmal gesehen, bald die gröbste Faust gegen den Himmel gereckt wie die eines schon verdorbenen Kindes gegen seine Mutter, wohl angestachelt von irgendeinem Höllengeist, die Augen voll quälender Reue und Haß zugleich, in eisigem Schweigen, wie sie nicht wagten, die uferlosen und undankbaren Gedanken zu äußern, die sie in ihrer Brust hegten, so voller Ungerechtigkeit und Grauen waren sie, und den Gott der Barmherzigkeit mitleidig zu betrüben; bald, zu jeder Stunde des Tages, von Anbeginn der Kindheit bis zum Ende des Greisentums, wie sie unglaubliche Flüche ausstießen, ohne Sinn und Verstand, gegen alles, was atmet, gegen sich selbst und gegen die Vorsehung, wie sie die Frauen und Kinder prostituierten und so die Teile des Leibes entehrten, die der Scham geweiht sind. Da heben sich die Meere und schlingen die Planken in ihre Abgründe hinein; die Orkane, die Erdbeben stürzen die Häuser ein; die Pest und sonstige Krankheiten dezimieren die betenden Familien. Aber die Menschen werden dessen nicht gewahr. Ich habe sie erröten, habe sie erbleichen sehen vor Scham über ihr Betragen auf dieser Erde;
selten genug. Windhose, Schwester der Orkane; bläuliches Firmament, in dem ich Schönheit nicht sehe; heuchlerisches Meer, Abbild meines Herzens; Erde, mit geheimnisvollem Schoß; Bewohner der Sphären; ganzes Weltall; Gott, der du es in Großartigkeit geschaffen hast, dich rufe ich an: zeige mir einen Menschen, der gut ist! … Aber daß deine Gnade meine natürlichen Kräfte verzehnfache; denn beim Anblick dieses Monstrums könnte ich vor Verblüffung sterben: man stirbt an weniger.
Erster Gesang, sechste Strophe Man lasse seine Nägel vierzehn Tage wachsen. O! ist es süß, ein Kind, dem noch nichts auf der Oberlippe wächst, brutal aus dem Bett zu reißen und, die Augen weit geöffnet, so zu tun, als führe man sanft mit der Hand über seine Stirn, um die schönen Haare zurückzustreichen! Dann plötzlich, in dem Augenblick, wenn es dies am wenigsten erwartet, die langen Nägel in seine weiche Brust zu graben, aber so, daß es nicht stirbt; stürbe es nämlich, könnte man es später nicht leiden sehen. Darauf trinke man das Blut, indem man die Wunden leckt; und das Kind weint die ganze Zeit, die dauern sollte, wie die Ewigkeit dauert. Nichts ist so gut wie sein Blut, in der Weise entnommen, wie ich beschrieben habe, und noch ganz warm; nur vielleicht seine Tränen noch, bitter wie Salz. Mensch, hast du noch nie von deinem Blut gekostet, wenn du dich aus Versehen in den Finger geschnitten hast? Gut ist das, nicht wahr; denn es schmeckt nach nichts. Überdies, erinnerst du dich nicht, wie du eines Tages, versunken in deine finsteren Grübeleien, die hohle Hand über das kränkliche Gesicht gestrichen hast, feucht von dem, was aus den Augen rann; und diese Hand sich dann unwiderstehlich an den Mund legte, der mit langen Zügen die Tränen aus diesem wie die Zähne des Schülers zitternden Becher schlürfte, der mit schrägen Blicken seinen geborenen Unterdrücker ansah? Gut sind sie, nicht wahr; denn sie schmecken nach Essig. Wie die Tränen der Frau, die am heftigsten liebt; aber die Tränen des Kindes sind dem Gaumen wohlgefälliger. Es ist kein Verräter, da es das Böse noch nicht kennt: die Frau, die am heftigsten liebt, wird früher oder später Verrat üben … ich erschließe dies durch Analogie, da ich nicht weiß, was Freundschaft, was Liebe ist (wahrscheinlich werde ich sie niemals akzeptieren, wenigstens nicht von seiten der menschlichen Rasse). Da dir also dein Blut und deine Tränen nicht widerwärtig sind, nähre dich, nähre dich mit Zutrauen von den Tränen und dem Blut des Jünglings. Verbinde ihm die Augen, während du sein zuckendes Fleisch zerreißt; und nachdem du lange Stunden seinen sublimen Schreien, ähnlich dem schneidenden Röcheln, das in einer Schlacht aus den Kehlen der tödlich Verwundeten dringt, gelauscht hast, nachdem du dann wie eine Lawine verschwunden bist, stürzt du aus dem Nebenzimmer herein und tust so, als wolltest du ihm zu Hilfe kommen. Du bindest ihm die Hände mit den geschwollenen Nerven und Venen los, gibst seinen verstörten Augen den Blick zurück und machst dich wieder daran, sein Blut und seine Tränen aufzulecken. Wie
echt ist dann die Reue! Der göttliche Funke, der in uns ist und so selten erscheint, zeigt sich; zu spät! Wie das Herz überfließt, den Unschuldigen trösten zu dürfen, dem man Böses angetan hat: »Jüngling, der du soeben grausame Schmerzen erlittest, wer hat denn an dir nur ein Verbrechen verüben können, für das mir die Worte fehlen! Und wenn deine Mutter dies wüßte, wäre sie dem Tode nicht näher, der die Schuldigen so entsetzt, als ich es jetzt bin. Ach! Was ist denn das Gute und was das Böse! Ist es ein und dasselbe, wodurch wir wie rasend unsere Ohnmacht bezeugen und die Leidenschaft, sogar mit den wahnwitzigsten Mitteln das Unendliche zu erlangen? Oder sind es zwei verschiedene Dinge? Ja … besser wäre ich ein und dasselbe … wenn nämlich nicht, was wäre ich am Tage des Gerichts! Jüngling, verzeihe mir; vor deinem edlen und geheiligten Angesicht steht der, der deine Knochen gebrochen und dein Fleisch zerrissen hat, das hier und da von deinem Leibe hängt. Ist es ein Delirium meiner kranken Vernunft, ist es ein verborgener Instinkt, unabhängig von Urteil und Vernunft, gleich dem des Adlers, der seine Beute zerfleischt, was mich zu diesem Verbrechen getrieben hat; und dennoch, ich litt so sehr wie mein Opfer! Jüngling, verzeihe mir. Einmal aus diesem flüchtigen Leben gegangen, will ich, daß wir durch alle Ewigkeit umschlungen bleiben, daß wir nur ein einziges Wesen seien, mein Mund auf deinen Mund gepreßt. Selbst damit wird meine Strafe nicht vollständig sein. Du wirst mich also zerfleischen, ohne je abzulassen, mit Zähnen und Nägeln zugleich. Ich werde meinen Leib mit duftenden Girlanden schmücken für dieses Sühneopfer; und beide werden wir leiden, ich, zerfleischt zu werden, du, mich zu zerfleischen … mein Mund auf deinen Mund gepreßt. O Jüngling mit blonden Haaren, mit Augen so sanft, tust du nun, was ich dir rate? Selbst gegen deinen Willen sollst du es tun, und du wirst mein Gewissen beglücken.« Wenn du so gesprochen hast, wirst du einem menschlichen Wesen zugleich Böses angetan haben und von ebendiesem Wesen geliebt werden: das größte Glück, das man erfahren kann. Später magst du ihn ins Hospital bringen; denn ein Krüppel kann seinen Unterhalt nicht verdienen. Man wird dich gut nennen, und Lobeerkränze und Goldmedaillen werden deine bloßen Füße bedecken, ausgestreut über den großen Grabstein mit dem Greisenantlitz. O du, dessen Namen ich nicht auf diese Seite schreiben mag, die das Verbrechen in seiner Heiligkeit bestätigt, ich weiß, daß dein Verzeihen unendlich war wie das Weltall. Aber, ich lebe noch!
Erster Gesang, siebte Strophe Ich habe mit der Prostitution einen Pakt geschlossen, Unordnung in die Familien zu tragen. Ich erinnere mich der Nacht, die dieser gefährlichen Leidenschaft vorausging. Ich sah vor mir ein Grab. Ich hörte einen Glühwurm, groß wie ein Haus, zu mir sagen: »Ich werde dir leuchten. Lies die Inschrift. Nicht von mir kommt dieser höchste Befehl.« Ein unermeßliches blutrotes Licht, bei dessen Anblick meine Kiefer zusammenschlugen und meine Arme kraftlos herabfielen, breitete sich in den Lüften bis zum Horizont aus. Ich lehnte mich an eine zerfallene Mauer, da ich zu fallen drohte, und las: »Hier ruht ein Jüngling, der an der Schwindsucht starb: ihr wißt weshalb. Betet nicht für ihn.« Viele Menschen hätten wohl nicht meinen Mut gehabt. Unterdessen war eine schöne nackte Frau gekommen, sich mir zu Füßen zu legen. Ich zu ihr mit trauriger Miene: »Du kannst dich erheben.« Ich streckte ihr die Hand hin, mit welcher der Geschwistermörder seine Schwester niedermacht. Der Glühwurm zu mir: »Nimm einen Stein und töte sie.« »Warum?« fragte ich ihn. Er: »Nimm dich in acht, du, der Schwächere, denn der Stärkere bin ich. Diese da nennt man Prostitution.« Tränen in den Augen, wilden Zorn im Herzen, fühlte ich, wie in mir eine unbekannte Kraft entstand. Ich nahm einen gewaltigen Stein; hob ihn nach mehreren Versuchen mit Mühe bis zur Brust empor; schulterte ihn mit den Armen. Ich erklomm einen Berg bis zum Gipfel: von dort zerschmetterte ich den Glühwurm. Sein Kopf wurde mannstief in die Erde getrieben; der Stein prallte zurück sechs Kirchen hoch. Er zurück in den See, dessen Wasser sich einen Augenblick wirbelnd senkten, und schlug in ihn einen riesigen umgekehrten Kegel. Die Oberfläche beruhigte sich wieder; das blutige Licht strahlte nicht mehr. »O weh! O weh!« rief die schöne nackte Frau, »was hast du getan?« Ich zu ihr: »Ich ziehe dich ihm vor; weil ich Mitleid mit den Unglücklichen habe. Es ist nicht deine Schuld, wenn die ewige Gerechtigkeit dich geschaffen hat.« Sie zu mir: »Eines Tages werden die Menschen gerecht gegen mich sein; mehr sage ich dir nicht. Laß mich gehen, auf dem Meeresgrund meine unendliche Trauer zu verbergen. Nur du und die scheußlichen Ungeheuer, von denen diese schwarzen Schlünde wimmeln, verachten mich nicht. Du bist gut. Lebewohl, der du mich geliebt hast!« Ich zu ihr: »Lebewohl! Nochmals: Lebewohl! Ich werde dich immer lieben! Von heute an gebe ich der Tugend den Abschied.« Deshalb, o Völker, wenn ihr den eisigen Wind über das Meer heulen hört, über die Küsten, über die großen Städte, die seit
langem schon um mich Trauer tragen, oder über die kalten Polargebiete, dann sagt: »Das ist nicht der Geist Gottes, der vorüberweht: das ist nur der schrille Seufzer der Prostitution, vereint mit dem tiefen Stöhnen des Montevideers.« Ihr Kinder, ich sage es euch. Kniet nieder voll Erbarmen; und die Menschen, zahlreicher als die Läuse, sollen sich in lange Gebete versenken.
Erster Gesang, achte Strophe Im Mondschein, nah dem Meer, in den abgeschiedenen Winkeln des Landes, sieht man in bitteres Grübeln versunken, alle Dinge gelbe, vage, phantastische Formen annehmen. Der Schatten der Bäume durchläuft, bald schnell, bald langsam, verschiedene Formen , hin und zurück, drückt sich flach an die Erde. Zu einer Zeit, da mich die Flügel der Jugend trugen, erschien mir dies seltsam und machte mich träumen; jetzt bin ich daran gewöhnt. Der Wind pfeift durch die Blätter seine sehnsüchtigen Melodien, und die Eule singt ihre tiefe Klage, die jedem, der ihr lauscht, die Haare sträubt. Da reißen sich die Hunde, toll geworden, von den Ketten und entlaufen aus abgelegenen Gehöften; sie streunen über das Land, hierhin und dorthin, eine Beute des Irrsinns. Plötzlich halten sie ein, starren unruhig und wild nach allen Seiten, mit glühenden Augen; und dann, wie die Elephanten in der Wüste, bevor sie sterben, einen letzten Blick zum Himmel schicken und ihre Rüssel verzweifelt erheben, ihre Ohren hängen lassen, so lassen auch die Hunde ihre Ohren hängen und heben den Kopf, blähen die schreckliche Kehle und beginnen zu bellen, einer nach dem anderen, so wie ein Kind, das vor Hunger schreit, wie ein am Bauch verletzter Kater auf einem Dach, wie eine Frau in Wehen, wie ein Pestkranker sterbend in einem Hospital, wie ein junges Mädchen, das eine erhabene Weise singt, gegen die Sterne im Norden, gegen die Sterne im Osten, gegen die Sterne im Süden, gegen die Sterne im Westen; gegen den Mond; gegen die Berge, die von fern riesigen, im Dunkel ausgestreckten Felsen gleichen; gegen die kalte Luft, die sie in vollen Zügen einatmen und die das Innere ihrer Nüstern rot und brennend macht; gegen das Schweigen der Nacht; gegen die Eulen, deren schräger Flug ihnen über die Schnauze fährt, eine Ratte oder einen Frosch im Schnabel, lebendes Futter, süß für die Kleinen; gegen die Hasen, die im Nu verschwinden; gegen den Dieb, der auf seinem Pferd davongaloppiert, nachdem er ein Verbrechen begangen hat; gegen die Schlangen, die im Heidekraut rascheln und die ihr Fell sich sträuben, sie die Zähne fletschen machen; gegen ihr eigenes Gebell, das ihnen selbst Angst einjagt; gegen die Kröten, die sie mit einem schnellen Zuschnappen zermalmen (warum waren sie aus dem Sumpf gekrochen?); gegen die Bäume, deren leise gewiegte Blätter ebensoviele Geheimnisse sind, die sie nicht verstehen, die sie aber entdecken wollen mit ihren starren, intelligenten Augen; gegen die Spinnen, die, an langen Beinen hängend, sich auf die Bäume retten; gegen die Raben, die
tagsüber nichts zu fressen gefunden haben und nun mit müdem Flügel zurückkehren in den Horst; gegen die Felsen am Ufer; gegen die Feuer an den Masten unsichtbarer Schiffe; gegen das dumpfe Klatschen der Wellen; gegen die großen Fische, die beim Schwimmen ihren schwarzen Rücken zeigen, um dann hinabzutauchen in die Tiefe; und gegen den Menschen, der sie versklavt. Worauf sie erneut durch das Land streunen, auf blutigen Pfoten über Gräben setzen, über Wege, Felder, Gräser und scharfe Steine. Man könnte sie für tollwütig halten, wie sie nach einem großen Teich suchen, um ihren Durst zu stillen. Ihr andauerndes Heulen entsetzt die Natur. Wehe dem verspäteten Wanderer! Die Freunde der Friedhöfe werden sich auf ihn stürzen, werden ihn zerreißen und ihn fressen mit bluttriefendem Maul; denn sie haben keine faulen Zähne. Die wilden Tiere, die nicht heranzukommen wagen, um an der Fleischmahlzeit teilzuhaben, suchen zitternd das Weite. Nach einigen Stunden werfen sich die Hunde vom Herumjagen gänzlich erschöpft, halbtot, die Zunge weit aus dem Maul, einer auf den anderen, ohne zu wissen, was sie tun, und zerreißen einander mit unglaublicher Geschwindigkeit in tausend Fetzen. Sie handeln nicht aus Grausamkeit so. Eines Tages sagte meine Mutter mir mit glasigem Auge: »Wenn du zu Bett liegst und draußen das Bellen der Hunde hörst, verbirg dich unter der Decke und spotte nicht ihres Treibens: sie haben unstillbaren Durst nach dem Unendlichen, wie du, wie ich, wie alle Menschen mit schmalem, bleichem Gesicht. Ja, ich erlaube dir sogar, dich an das Fenster zu stellen, um dieses Schauspiel zu betrachten, das durchaus erhaben ist.« Seither achte ich den Wunsch der Toten. Ich spüre wie die Hunde den Durst nach dem Unendlichen … Ich kann und kann diesen Durst nicht stillen! Ich bin der Sohn des Mannes und der Frau, nach dem zu urteilen, was man mir erzählt hat. Das verblüfft mich … ich glaubte mehr zu sein! Was geht es mich übrigens an, woher ich stamme? Ich hätte, wäre es nach meinem Willen gegangen, lieber der Sohn des Haifischweibchens sein mögen, deren Hunger Freund der Stürme ist, und des anerkannt grausamen Tigers: ich wäre nicht so schlecht. Ihr, die ihr mich anseht, weicht von mir, denn mein Atem bläst einen giftigen Hauch. Noch keiner hat die grünen Furchen meiner Stirn gesehen; auch nicht die vorspringenden Knochen meines hageren Gesichts, den Gräten irgendeines großen Fisches gleich, oder den Felsen an Meeresstränden, oder den schroffen Alpenhängen, die ich so oft durchquerte, als auf meinem Haupt noch Haare einer anderen Farbe wuchsen. Und wenn ich in stürmischen Nächten, mit
glühenden Augen, die Haare vom Sturm gepeitscht, die Behausungen der Menschen umschleiche, allein wie ein Stein in der Mitte des Weges, bedecke ich mein verbrauchtes Gesicht mit einem Stück Samt, schwarz wie der Ruß, der die Schornsteine füllt: Augen dürfen nicht Zeugen der Häßlichkeit sein, die der Höchste, mit einem Lächeln des heftigsten Hasses, auf mich gelegt hat. Jeden Morgen, wenn für die anderen die Sonne aufgeht, Freude und segenspendende Wärme über die ganze Natur gießt, zerfetze ich unbewegten Gesichts, in den Raum voller Schatten starrend, hingekauert, der Tiefe meiner geliebten Höhle zugewandt, in der Verzweiflung, die mich wie Wein berauscht, mit meinen starken Händen meine Brust in Stücke. Dennoch fühle ich, daß ich nicht von Tollwut befallen bin! Dennoch fühle ich, daß ich nicht der einzige bin, der leidet! Dennoch fühle ich, daß ich atme! Wie ein Verurteilter, der bald das Schafott besteigen wird und seine Muskeln spielen läßt, um über ihr Los nachzudenken, drehe ich aufrecht auf meinem Strohlager, mit geschlossenen Augen, den Hals langsam von rechts nach links, von links nach rechts, ganze Stunden über; ich falle nicht tot um. Von Zeit zu Zeit, wenn mein Hals sich nicht weiter nach derselben Seite drehen läßt, wenn er innehält, um sich nach der anderen Seite zu drehen, sehe ich plötzlich durch die wenigen Lücken im Gebüsch vor dem Eingang den Horizont: ich sehe nichts! Nichts … außer den Fluren, die mit Bäumen und langen Vogelschnüren, die durch die Lüfte ziehen, herumwirbeln, tanzen. Das verwirrt mein Blut und mein Gehirn … Wer schlägt mir mit der Eisenstange auf den Kopf, wie ein Hammer auf den Amboß schlägt?
Erster Gesang, neunte Strophe Ich nehme mir vor, gleichmütig die ernste und kalte Strophe, die ihr hören werdet, mit lauter Stimme vorzutragen. Achtet auf das, was sie enthält und hütet euch vor dem schmerzhaften Eindruck, den sie, wie ein Brandmal, unweigerlich in eurer verwirrten Einbildungskraft zurücklassen wird. Glaubt nicht, daß ich im Begriff sei zu sterben, noch bin ich kein Skelett, und das Greisentum ist nicht an meine Stirn geheftet. Lassen wir deshalb jede Idee des Vergleichs mit dem Schwan beiseite, im Moment, da sein Leben schwindet; seht in mir nur ein Monstrum, dessen Gesicht ihr zu meiner Erleichterung nicht erkennen könnt. Es ist aber weniger schrecklich als seine Seele. Dennoch bin ich kein Verbrecher … Genug zu diesem Thema. Vor kurzem erst habe ich das Meer wiedergesehen und die Schiffsbrücke betreten, und meine Erinnerungen sind so lebhaft, als hätte ich es gestern verlassen. Seid immerhin, wenn ihr könnt, so ruhig wie ich bei dieser Lektüre, die euch zu bieten ich mir schon wieder überlege, und errötet nicht beim Gedanken, was das menschliche Herz ist. 0 Krake mit seidigem Blick! du, dessen Seele mit der meinen untrennbar eins ist; du, der schönste Bewohner des Erdballs, der du über ein Serail von vierhundert Saugnäpfen gebietest; du, in dem edel, wie in ihrer natürlichen Behausung, die süße Mitteilsamkeit und die göttlichen Grazien aufs engste verbunden in Eintracht wohnen, warum bist du nicht bei mir, dein Quecksilberleib an meiner Aluminiumbrust, beide auf einem Felsen am Ufer, um dieses Schauspiel zu betrachten, das ich verehre! Alter Ozean, mit kristallenen Wogen, du gleichst im Verhältnis den blauen Malen, die man auf den wunden Rücken der Schiffsjungen sieht; du bist ein riesengroßes Mal auf dem Leib der Erde: ich liebe diesen Vergleich. So geht bei deinem ersten Anblick ein langgezogener Hauch von Traurigkeit vorüber, den man für das Flüstern deiner sanften Brise halten könnte, und läßt in der tief erschütterten Seele unauslöschliche Spuren zurück, und du rufst ins Gedächtnis deiner Verehrer, ohne daß man sich immer dessen klar wäre, die rohen Anfänge des Menschen zurück, als er Bekanntschaft machte mit dem Schmerz, der ihn nicht mehr verläßt. Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, deine harmonisch sphärische Form, die das ernste Gesicht der Geometrie aufhellt, ruft mir nur zu sehr die kleinen Augen des Menschen ins Gedächtnis, denen des Wildschweins gleich in ihrer Kleinheit und denen der Nachtvögel wegen der
vollendeten Kreisform ihres Umrisses. Dennoch hat sich der Mensch zu allen Zeiten für schön gehalten. Mir aber scheint eher, daß der Mensch nur aus Eigenliebe an seine Schönheit glaubt,ohne wirklich schön zu sein, und daß er dies ahnt; denn warum betrachtet er das Gesicht seiner Mitmenschen mit so viel Verachtung? Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, du bist das Symbol der Identität; immer dir selbst gleich. Du änderst dich nicht im Wesen, und wenn irgendwo deine Wellen toben, sind sie weiter hin, in einer anderen Zone, vollständig ruhig. Du bist nicht wie der Mensch, der auf der Straße stehenbleibt, um zwei Bulldoggen zu beobachten, die einander an die Kehle fahren, der aber nicht stehenbleibt, wenn ein Trauerzug vorüberkommt; der am Morgen umgänglich und am Abend schlecht gestimmt ist; der heute lacht und morgen weint. Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, es ist gut möglich, daß du noch manches in dir verbirgst, was künftig dem Menschen von Nutzen sein kann. Du hast ihm schon den Walfisch gegeben. Du läßt die gierigen Augen der Naturwissenschaften nicht ohne weiteres die tausend Geheimnisse deiner inneren Beschaffenheit erraten: du bist bescheiden. Der Mensch prahlt ohne Unterlaß und mit Lappalien. Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, die verschiedenen Arten der Fische, die du nährst, haben einander nicht Brüderschaft geschworen. Jede Art lebt für sich. Die Temperamente und Gestaltungen, die bei jeder verschieden sind, erklären hinlänglich, was zunächst nur als Anomalie erschienen wäre. So ist es beim Menschen, der solche Entschuldigungsgründe nicht hat. Ist ein Stück Erde nur erst von dreißig Millionen menschlicher Wesen besessen, glauben sich diese verpflichtet, sich mit der Existenz ihrer Nachbarn nicht zu befassen, die wie Wurzeln im nächsten Stück Erde stecken. Um vom Großen aufs Kleine zu kommen: jeder Mensch lebt wie ein Wilder in seiner Höhle und verläßt sie selten, um seinesgleichen aufzusuchen, der ebenso in einer anderen Höhle hockt. Die große umfassende Familie der Menschen ist eine Utopie, der mittelmäßigsten Logik würdig. Überdies leitet sich vom Anblick deiner fruchtbaren Brüste der Begriff der Undankbarkeit ab; denn man denkt sogleich an jene zahlreichen Eltern, die, dem Schöpfer gegenüber undankbar genug, die Frucht ihrer elenden Verbindung aussetzen. Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, deine stoffliche Größe ist nur am Maß der Vorstellung zu ermessen, die man sich von der tätigen Kraft macht,
nötig, die Gesamtheit deiner Masse zu schaffen. Man kann dich nicht mit einem Blick umfangen. Um dich zu betrachten, muß das Auge sein Teleskop in andauernder Bewegung auf die vier Punkte des Horizonts richten, wie ein Mathematiker, um eine algebraische Gleichung zu lösen, die verschiedenen möglichen Fälle getrennt prüfen muß, bevor er die Schwierigkeit löst. Der Mensch ißt nahrhafte Substanzen und macht andere Anstrengungen, einer besseren Sache wert, um fett zu erscheinen. Soll er sich aufblähen soviel er will, dieser reizende Frosch. Sei ruhig, er wird dir an Umfang nicht gleichkommen; nehme ich wenigstens an. Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, deine Wasser sind bitter. Sie schmecken genau wie die Galle, die die Kritik auf die Künste, die Wissenschaften, auf alles träuft. Wenn einer Genie hat, stellt man ihn als Idioten hin; wenn ein anderer schön von Körper ist, wird er zum mißgestalteten Scheusal gestempelt. Sicher, der Mensch muß seine Unvollkommenheit, an der er übrigens zu drei Vierteln selbst die Schuld trägt, stark spüren, um sie so zu kritisieren! Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, trotz ihrer vortrefflichen Methoden ist es den Menschen noch nicht gelungen, mit Hilfe der Forschungsmittel der Wissenschaft die schwindelerregende Tiefe deiner Abgründe auszuloten; vor deinen Tiefen mußten die längsten, die schwersten Sonden ihre Unzulänglichkeit anerkennen. Den Fischen … ihnen ist es gestattet: den Menschen nicht. Ich habe mich oft gefragt, was leichter zu erkennen sei: die Tiefe des Ozeans oder die Tiefe des menschlichen Herzens! Oft habe ich mich dabei überrascht, als ich, die Hand an der Stirn, auf den Schiffen stand, während der Mond unregelmäßig zwischen den Masten schaukelte, wie ich von allem absah, was nicht das Ziel betraf, das ich verfolgte, und mich bemühte, dieses schwierige Problem zu lösen! Ja, was ist das Tiefere, das Undurchdringlichere von beiden: der Ozean oder das menschliche Herz. Wenn dreißig Jahre Lebenserfahrung bis zu einem gewissen Grad die Waage nach der einen oder anderen Seite neigen können, wird es mir gestattet sein zu sagen, daß der Ozean, trotz seiner Tiefe, sich hinsichtlich dieser Eigenschaft nicht mit der Tiefe des menschlichen Herzens gleichstellen kann. Ich hatte Beziehung zu Menschen, die tugendhaft waren. Sie starben mit sechzig Jahren, und keiner versäumte auszurufen: »Sie haben auf dieser Erde das Gute getan, das heißt, sie haben Barmherzigkeit geübt: das ist alles, das ist nichts besonderes, das kann jeder.« Wer wird begreifen, warum zwei Liebende, die sich tags zuvor anbeteten, wegen eines mißverstandenen Wortes auseinandergehen, der eine gen Osten,
der andere gen Westen, mit den Stacheln des Hasses, der Rache, der Liebe und der Reue, und sich nicht wiedersehen, jeder in seinen einsamen Stolz gehüllt. Das ist ein Wunder, das jeden Tag erneuert und darum nicht weniger wunderbar ist. Wer wird begreifen, warum man nicht nur das allgemeine Unglück seiner Mitmenschen genießt, sondern sogar das besondere seiner liebsten Freunde, wodurch man zugleich betrübt wird? Ein unbestreitbares Beispiel, um die Reihe zu schließen: der Mensch sagt heuchlerisch ja und denkt nein. Darum haben die Frischlinge der Menschheit so viel Vertrauen zueinander und sind keine Egoisten. Die Psychologie hat noch viele Fortschritte zu machen. Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, du bist so mächtig, daß die Menschen es auf ihre Kosten gelernt haben. Vergeblich wenden sie alle Mittel ihres Genies an … unfähig, dich zu beherrschen. Sie haben ihren Meister gefunden. Ich sage, daß sie etwas gefunden haben, das stärker ist als sie. Dieses Ding hat einen Namen. Der Name ist: Ozean! Die Angst, die du ihnen einflößt, ist so groß, daß sie dich achten. Trotzdem läßt du ihre schwersten Maschinen anmutig tanzen, mit Eleganz und Leichtigkeit. Du läßt sie gymnastische Sprünge bis in den Himmel machen und grandiose Taucher bis hinab auf den Grund deiner Domänen: ein Akrobat könnte eifersüchtig werden. Sie können glücklich sein, wenn du sie nicht endgültig in deine brodelnden Falten schlägst, sie ohne Eisenbahn in deine wässrigen Eingeweide bringst, damit sie sehen, wie es den Fischen geht und vor allem, wie es ihnen selber geht. Der Mensch sagt: »Ich bin intelligenter als der Ozean.« Mag sein; das ist nicht einmal falsch; aber der Ozean ist ihm furchtbarer als er dem Ozean: was nicht erst zu beweisen ist. Dieser urväterliche Beobachter, Zeitgenosse der ersten Epochen unseres schwebenden Globus, lächelt mitleidig, wenn er den Seeschlachten der Nationen beiwohnt. Da sind hundert Leviathane von Menschenhand. Die schallenden Befehle der Vorgesetzten, die Schreie der Verwundeten, Kanonenschüsse, ein Lärm, der nur zu dem Zweck veranstaltet wird, einige Sekunden totzuschlagen. Dann ist das Drama wohl vorüber, und der Ozean hat alles verschluckt. Der Schlund ist fürchterlich. Er muß nach unten hingroß sein, in Richtung auf das Unbekannte! Um schließlich der dummen Komödie, die nicht einmal interessant ist, die Krone aufzusetzen, sieht man einen Storch in den Lüften, der vor Müdigkeit zurückgebliebenen ist und der, ohne den Schwung seines Fluges zu bremsen, ausruft: »So was! … Blödsinn! Da unten waren schwarze Punkte; ich schließe die Augen: weg sind sie!« Ich grüße dich, alter Ozean! Alter Ozean, o großer Junggeselle, wenn
du die feierliche Einsamkeit deiner phlegmatischen Reiche durcheilst, bist du stolz auf deine Herrlichkeit von Geburt und auf das wahre Lob, das ich dir eifrig spende. Wollüstig in den weichen Dünsten deiner majestätischen Langsamkeit gewiegt, die unter den Attributen, von der Allmacht verliehen, das großartigste ist, entrollst du inmitten eines dunklen Geheimnisses deine unvergleichlichen Wogen über deine ganze erhabene Oberfläche, im ruhigen Gefühl deiner ewigen Macht. Sie folgen parallel aufeinander, durch kurze Zwischenräume getrennt. Kaum schwindet die eine, trifft auf sie eine andere, anschwellende, begleitet vom melancholischen Brausen des Schaums, der dahinschwindet, um uns zu zeigen, daß alles Schaum ist. (So sterben die Menschenwesen, diese lebenden Wogen, eins nach dem anderen, in eintöniger Weise, doch ohne das Brausen des Schaums zu hinterlassen.) Der Zugvogel ruht voll Vertrauen auf ihnen und gibt sich ihrer stolzen, anmutigen Bewegung hin, bis seine Flügel ihre gewohnte Spannkraft wiedergefunden haben, um den Pilgerzug durch die Lüfte fortzusetzen. Ich wollte, daß die menschliche Majestät auch nur die Inkarnation des Widerscheins der deinen sei. Ich verlange viel, und dieser aufrichtige Wunsch gereicht dir zum Ruhm. Deine moralische Größe, Abbild des Unendlichen, ist unermeßlich wie das Denken des Philosophen, wie die Liebe der Frau, wie die göttliche Schönheit des Vogels, wie das Sinnen des Dichters. Du bist schöner als die Nacht. Antworte mir, Ozean, willst du mein Bruder sein? Rühre dich mit Ungestüm … mehr … mehr noch, wenn du willst, daß ich dich mit der Rache Gottes vergleiche; strecke deine bleifahlen Krallen aus, die sich einen Weg auf die eigene Brust hin bahnen … gut so. Entrolle deine schrecklichen Wogen, scheußlicher Ozean, von mir nur verstanden, vor dem ich niedergeschmettert auf die Knie falle. Die Majestät des Menschen ist erborgt; er beeindruckt mich nicht: du, ja. O! wenn du herankommst, mit aufgerichtetem schrecklichen Kamm, von verschlungenen Wellentälern umgeben wie von einem Hofstaat, magnetisierend und wild, wenn du, im Bewußtsein dessen, was du bist, deine Wogen übereinander rollst, während du aus der Tiefe deiner Brust, wie von heftiger Reue geplagt, die ich nicht verstehen kann, dieses dauernde dumpfe Brüllen ausstößt, das die Menschen so fürchten, selbst wenn sie dich zitternd vom sicheren Strand betrachten, dann sehe ich ein, daß mir das Recht nicht zukommt, mich deinesgleichen zu nennen. Darum schenkte ich dir, angesichts deiner Überlegenheit, meine ganze Liebe (und niemand kann die Menge an Liebe ermessen, die meine Neigung zum Schönen
enthält), ließest du mich nicht schmerzlich an meinesgleichen denken, die zu dir in höchst ironischem Gegensatz stehen, die albernste Antithese bilden, die man in der Schöpfung jemals gesehen hat: ich kann dich nicht lieben, ich verabscheue dich. Warum kehre ich zu dir zurück, zum tausendsten Mal, deinen Freundesarmen entgegen, die sich öffnen, um meine glühende Stirn zu streicheln, die bei ihrer Berührung das Fieber weichen spürt! Ich kenne deine verborgene Bestimmung nicht; alles, was dich betrifft, interessiert mich. Sage mir also, ob du die Wohnung des Fürsten der Schatten bist: sage es mir … sage es mir, Ozean, (mir allein, um die nicht zu betrüben, die immer nur Illusionen gekannt haben), und ob der Atem Satans die Orkane schafft, die deine Salzfluten bis an die Wolken heben. Du mußt es mir sagen, weil es mich freute, die Hölle dem Menschen so nahe zu wissen. Ich will, daß diese Strophe die letzte meiner Anrufung sei. Deshalb will ich dich noch ein letztes Mal grüßen und dir Lebewohl wünschen! Alter Ozean, mit kristallenen Wogen … meine Augen werden naß von überströmenden Tränen, und mir fehlt die Kraft fortzufahren; denn ich spüre, daß der Augenblick gekommen ist, unter die Menschen zurückzukehren; aber … Mut! Machen wir eine große Anstrengung und vollenden, mit dem Gefühl, nicht anders zu können, unser Geschick auf dieser Erde. Ich grüße dich, alter Ozean!
Erster Gesang, zehnte Strophe In meiner letzten Stunde (ich schreibe dies auf meinem Sterbebett) wird man mich nicht von Priestern umgeben sehen. Ich will von der Woge des sturmbewegten Meeres gewiegt oder aufrecht auf dem Berge sterben … die Augen zum Himmel gerichtet, nein: ich weiß, daß meine Vernichtung vollständig sein wird. Übrigens hätte ich keine Gnade zu erwarten. Wer öffnet die Tür meiner Totenkammer? Ich hatte gesagt, daß niemand eintreten solle. Wer ihr auch seid, entfernt euch; aber wenn ihr glaubt, irgendeine Spur von Schmerz oder Furcht auf meinem Hyänengesicht zu entdecken (ich gebrauche diesen Vergleich, obwohl die Hyäne schöner ist als ich, und angenehmer anzusehen), seid eines besseren belehrt: er soll näher treten. Eine Winternacht: die Elemente prallen von allen Seiten aufeinander, der Mensch hat Angst, und der Jüngling heckt irgendein Verbrechen an einem seiner Freunde aus, wenn er das ist, was ich in meiner Jugend war. Daß mich der Wind, dessen klagendes Heulen die Menschheit traurig stimmt, seit es den Wind, seit es die Menschheit gibt, einige Augenblicke vor der letzten Agonie auf seinen Schwingen durch die Welt trage, voll Sehnsucht nach dem Tod. Insgeheim genösse ich noch zahlreiche Beispiele der menschlichen Niedertracht (ein Bruder liebt es, ungesehen den Taten seiner Brüder zuzuschauen). Der Adler, der Rabe, der unsterbliche Pelikan, die Wildente, der wandernde Kranich werden mich aufgeschreckt und vor Kälte zitternd im Schein der Blitze vorüberkommen sehen, ein furchtbares und zufriedenes Gespenst. Sie werden nicht wissen, was das zu bedeuten hat. Auf der Erde werden sich die Viper, das quellende Auge der Kröte, der Tiger, der Elefant fragen, was das für eine Abweichung vom Naturgesetz sei; im Meer der Wal, der Hai, der Hammerfisch, der unförmige Rochen, der Zahn des Polar-Seehundes. Der Mensch wird zitternd seine Stirn an die Erde pressen und stöhnen. »Ja, ich überflügle euch alle durch meine angeborene Grausamkeit, eine Grausamkeit, die zu tilgen nicht in meiner Macht lag. Zeigt ihr darum vor mir eine solche Unterwürfigkeit? oder nur, weil ihr mich, ein neues Phänomen, wie einen furchteinflößenden Kometen den blutigen Raum durcheilen seht? (Ein Blutregen fällt aus meinem riesigen Leib, einer schwärzlichen Wolke gleich, die der Orkan vor sich hertreibt.) Ihr Kinder, fürchtet nichts, ich will euch nicht fluchen. Das Böse, das ihr mir angetan habt, ist zu groß, zu groß das Böse, das ich euch angetan habe, als daß es willentlich hätte sein können. Ihr anderen, ihr seid euren Weg gegangen, wie ich den meinen,
beide gleich, beide gleich verderbt. Notwendigerweise haben wir bei dieser Charakterähnlichkeit aufeinander stoßen müssen; die Erschütterung, die hierdurch entstand, war unser gegenseitiges Verhängnis.« Darauf heben die Menschen langsam wieder den Kopf, fassen Mut und recken den Hals wie die Schnecke, um den zu sehen, der so spricht. Plötzlich beginnt ihr brennendes, entstelltes Gesicht, das die wildesten Leidenschaften spiegelt, sich so verzerren, daß die Wölfe Angst bekämen. Alle schnellen sie gleichzeitig hoch wie eine riesige Feder. Welch Flüche! welch Überschnappen der Stimme! Sie haben mich erkannt. Da schließen sich die Tiere der Erde den Menschen an und lassen ihr seltsames Geschrei hören. Kein gegenseitiger Haß mehr; er hat sich gegen den gemeinsamen Feind gekehrt, gegen mich; man trifft sich im allgemeinen Einvernehmen. Winde, die ihr mich tragt, hebt mich höher empor; ich fürchte die Hinterlist. Ja, entfernen wir uns langsam aus ihren Augen, einmal mehr gänzlich befriedigter Zeuge der Folge aus den Leidenschaften … Ich danke dir, o Rinolophus, daß du mich mit deinem Flügelschlag geweckt hast, du, dessen Nase ein hufeisenförmiger Kamm überragt: freilich muß ich bemerken, daß es sich unglücklicherweise nur um eine vorübergehende Krankheit gehandelt hat, und mit Widerwillen sehe ich mich dem Leben zurückgegeben. Manch einer sagt, du seist zu mir gekommen, um mir das wenige Blut auszusaugen, das sich in meinem Körper findet: warum ist diese Hypothese nicht Wirklichkeit!
Erster Gesang, elfte Strophe Eine Familie sitzt um eine Lampe, die auf dem Tisch steht: - Mein Sohn, gib mir die Schere, die auf dem Stuhl da liegt. - Sie liegt hier nicht, Mutter. - Geh sie dann im anderen Zimmer suchen. Erinnerst du dich
jener Zeit, mein sanfter Gebieter, als wir uns wünschten, ein Kind
zu haben, in dem wir ein zweites Mal geboren würden, und das die
Stütze unseres Alters wäre?
- Ich erinnere mich daran, und Gott hat uns erhört. Wir können
uns nicht über unser Los auf dieser Erde beklagen. Jeden Tag
preisen wir die Vorsehung um ihrer Wohltaten willen. Unser
Eduard besitzt alle Anmut seiner Mutter.
- Und die männlichen Vorzüge seines Vaters.
- Da ist die Schere, Mutter; ich habe sie schließlich gefunden.
Er nimmt seine Arbeit wieder auf … Aber an der Eingangstür ist
jemand erschienen und betrachtet einige Augenblicke das Bild, das
sich seinen Augen bietet:
- Was bedeutet dieser Anblick! Viele Leute sind weniger glücklich
als diese. Welche Gründe legen sie sich zurecht, das Leben zu
lieben? Entferne dich, Maldoror, von diesem friedlichen Herd; dein
Platz ist nicht hier.
Er hat sich zurückgezogen!
- Ich weiß nicht, wie es kommt; aber ich fühle, wie die
menschlichen Triebe in meinem Herzen ringen. Die Seele ist
unruhig, ohne zu wissen, weshalb; die Luft ist schwer.
- Frau, ich bemerke das gleiche wie du; ich zittere, daß uns nicht
ein Unglück geschehe. Vertrauen wir in Gott; in ihm liegt die
höchste Hoffnung.
- Mutter, ich atme kaum; mir schmerzt der Kopf.
- Auch du, mein Sohn! Ich werde dir die Stirn und die Schläfen mit
Essig netzen.
- Nein, gute Mutter …
Seht, ermattet schmiegt er seinen Leib an die Lehne des Stuhls.
- Etwas Unerklärliches wühlt mich innerlich auf. Der mindeste
Gegenstand fällt mir zur Last.
- Wie bleich du bist! Dieser Abend wird nicht zu Ende gehen, ohne
daß ein Unheil uns alle drei in den See der Verzweiflung stürzt!
Ich höre in der Ferne die langen Schreie des bohrendsten
Schmerzes. - Mein Sohn!
- Ach! Mutter! … ich fürchte mich!
- Schnell, sag, ob du leidest.
- Mutter, ich leide nicht … Ich sage nicht die Wahrheit. Der Vater verharrt im Befremden: - Diese Schreie hört man zuweilen in der Stille sternenloser Nächte. Wenn wir auch diese Schreie hören, so ist der, der sie ausstößt, doch nicht sehr nahe; denn diese Klagen, die der Wind von einer Stadt zur anderen trägt, kann man drei Meilen weit hören. Man hat mir oft von dieser Erscheinung erzählt; aber ich hatte nie Gelegenheit, ihre Wahrhaftigkeit zu prüfen. Frau, du sprachst mir von Unglück; wenn es in der langen Spirale der Zeit je wirkliches Unglück gab, dann das Unglück dessen, der jetzt den Schlaf seiner Mitmenschen stört … Ich höre in der Ferne die langen Schreie des bohrendsten Schmerzes. - Gebe der Himmel, daß seine Geburt nicht ein Verhängnis für sein Land sei, das ihn ausgestoßen hat. Er zieht landauf, landab, überall verabscheut. Die einen sagen, er sei von Kindheit an mit einer Art erblichem Wahnsinn geschlagen. Andere glauben zu wissen, daß er von äußerster und instinktiver Grausamkeit sei, deren er sich selbst schäme, und daß seine Eltern vor Gram darüber gestorben seien. Manche behaupten, man habe ihn in seiner Jugend mit einem Schimpfnamen gebranntmarkt, worüber er sich den Rest seines Lebens nicht habe trösten können, weil seine verletzte Würde darin einen schlüssigen Beweis für die Niedertracht der Menschen gesehen habe, die in den ersten Jahren auftritt, um sich dann weiter zu entwickeln. Dieser Schimpfname war: der Vampir … Ich höre in der Ferne die langen Schreie des bohrendsten Schmerzes. - Sie erzählten weiter, daß tags und nachts, ohne Rast und Ruhe, furchtbares Alpdrücken ihm das Blut aus Mund und Ohren treibt; und daß Gespenster am Kopfende seines Bettes sich niederlassen und ihm, von einer unerklärlichen Macht getrieben, mit unerbittlicher Beharrlichkeit mal mit sanfter, mal mit einer Stimme wie Schlachtenlärm, diesen immer lebendigen, immer abscheulichen Schimpfnamen ins Gesicht schleudern, der erst mit dem Weltall untergehen wird. Manche haben sogar versichert, daß die Liebe ihn in diesen Zustand versetzt habe; oder daß diese Schreie von der Reue über irgendein Verbrechen zeugten, das in der Nacht seiner geheimnisvollen Vergangenheit besiegelt liege. Aber die meisten denken, daß ein ungeheurer Stolz ihn foltere, wie vormals Satan, und daß er Gott gleich sein möchte …
Ich höre in der Ferne die langen Schreie des bohrendsten Schmerzes. - Mein Sohn, dies sind ungewöhnliche Eröffnungen; ich beklage dein Alter, sie gehört zu haben, und ich hoffe, daß du dir niemals diesen Menschen zum Vorbild nehmen wirst. - Sprich, o mein Eduard; antworte, daß du dir niemals diesen Menschen zum Vorbild nehmen wirst. - O geliebte Mutter, der ich das Leben schulde, ich verspreche dir, wenn das heilige Versprechen eines Kindes irgendeinen Wert hat, daß ich mir niemals diesen Menschen zum Vorbild nehmen werde. - Gut so, mein Sohn; man muß seiner Mutter gehorchen, was es auch sei. Man hört die Klagelaute nicht mehr. - Frau, hast du deine Arbeit beendet? - An diesem Hemd fehlen noch einige Stiche, obwohl wir lange aufgeblieben sind. - Auch ich habe mein begonnenes Kapitel nicht beendet. Nutzen wir den letzten Schein der Lampe; denn sie hat kaum noch öl, und beenden wir ein jeder seine Arbeit … Das Kind hat ausgerufen: - Wenn Gott uns am Leben läßt! - Strahlender Engel, komm zu mir; du wirst über Wiesen wandern von früh bis spät; du wirst nicht arbeiten. Mein herrlicher Palast hat silberne Mauern, goldene Säulen und diamantene Tore. Du wirst schlafen gehen, wann es dir gefällt, beim Klang einer himmlischen Musik, ohne dein Gebet zu sprechen. Wenn am Morgen die Sonne ihre glänzenden Strahlen zeigt, und die fröhliche Lerche ihren Ruf bis hoch in die Lüfte trägt, kannst du noch im Bett bleiben, bis du genug davon hast. Du wirst auf den kostbarsten Teppichen gehen; dauernd wird dich eine Luft umgeben, die aus den Duftstoffen der wohlriechendsten Blumen besteht. - Es wird Zeit, Körper und Geist auszuruhen. Erhebe dich, Mutter der Familie, auf deine starken Knöchel. Mit gutem Recht legen deine steifen Finger die Nadel übermäßiger Arbeit fort. Die Extreme taugen nichts. - O! wie angenehm wird dein Leben sein! Ich werde dir einen Zauberring geben; wenn du den Rubin drehst, wirst du unsichtbar wie die Prinzen in den Feenmärchen. - Lege deine alltäglichen Waffen in den bewahrenden Schrank, während auch ich meine Sachen ordne.
- Wenn du ihn in seine vorherige Stellung zurückdrehst, wirst du wieder so erscheinen, wie die Natur dich gebildet hat, o junger Magier. Das nur, weil ich dich liebe und dein Glück machen will. - Mache dich fort, wer du auch seist; fasse mich nicht an der Schulter. - Mein Sohn, schlafe nicht ein, von kindlichen Träumen gewiegt: das gemeinsame Gebet ist noch nicht begonnen, und deine Sachen sind noch nicht sorgsam auf einen Stuhl gelegt … Auf die Knie! Ewiger Schöpfer des Weltalls, du zeigst deine unerschöpfliche Güte bis hinab in die kleinsten Dinge. - Du liebst also die klaren Bäche nicht, wo tausende kleine Fische schwimmen, rote, blaue und silberne? Du wirst sie mit einem Netz fangen, so schön, daß dieses allein sie hineinlockt, bis es gefüllt ist. Durch das Wasser wirst du schimmernde Kiesel sehen, glatter als Marmor. - Mutter, sieh diese Krallen; ich mißtraue ihm; aber mein Gewissen ist ruhig, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen. - Du siehst uns zu deinen Füßen, ergriffen vom Gefühl deiner Größe. Wenn irgendein hoffärtiger Gedanke sich in unser Gemüt einschleicht, tun wir ihn sogleich mit dem Speichel der Verachtung von uns und bringen ihn dir zum unerläßlichen Opfer. - Du wirst mit kleinen Mädchen baden, die dich mit ihren Armen umfangen. Bist du aus dem Bad gestiegen, werden sie dich mit Rosen- und Nelkenkränzen schmücken. Sie werden durchsichtige Schmetterlingsflügel haben und lange lockige Haare, die um ihre liebliche Stirn fließen. - Wäre dein Palast auch schöner als der Kristall, verließe ich doch nicht dieses Haus, um dir zu folgen. Ich glaube, daß du nichts als ein Schwindler bist, weil du so leise zu mir sprichst, aus Furcht, gehört zu werden. Seine Eltern zu verlassen, ist eine böse Tat. Ich möchte kein undankbarer Sohn sein. Was deine kleinen Mädchen angeht, so sind sie nicht so schön wie die Augen meiner Mutter. - Unser ganzes Leben hat sich im Lobgesang deines Ruhmes erschöpft. So waren wir bisher, so werden wir bleiben, bis von dir den Befehl erhalten, diese Erde zu verlassen. - Sie werden dir auf den kleinsten Wink gehorchen und nur danach trachten, dir zu gefallen. Wünschst du den Vogel, der niemals ruht, werden sie ihn dir bringen. Wünschst du den Schneewagen, der im Nu zur Sonne fährt, werden sie ihn dir bringen. Was brächten sie dir nicht? Sogar den Drachen brächten sie dir, groß wie ein Turm, den man im Mond verborgen hat, und an dessen Schweif Vögel
aller Art an Seidenfäden hängen. Gib acht auf dich … höre auf meinen Rat. - Tu was du willst; ich will nicht um Hilfe rufen und das Gebet unterbrechen. Wenn dein Leib sich auch in Dunst auflöst, sobald ich ihn von mir stoßen will, wisse, daß ich dich nicht fürchte. - Vor dir ist nichts groß, allein nur die Flamme, die von einem reinen Herzen ausgeht. - Denke nach über das, was ich dir gesagt habe, willst du es nicht bereuen. - Himmlischer Vater, banne, banne das Unheil, das über unsere Familie zu kommen droht. - Willst du also nicht weichen, böser Geist? - Bewahre diese geliebte Gattin, die mich getröstet, wenn ich niedergeschlagen war … - Da du mich zurückweist, werde ich dafür sorgen, daß du weinst und wie ein Gehängter mit den Zähnen klapperst. - Und diesen liebevollen Sohn, dessen keusche Lippen sich kaum erst den Küssen des Lebensmorgens öffnen. - Mutter, er würgt mich … Vater, rettet mich … Ich kann nicht mehr atmen … Euren Segen! Ein Schrei ungeheurer Ironie hat sich in den Lüften erhoben. Seht, wie die Adler kopfüber, kopfunter betäubt aus den Wolken fallen, buchstäblich erschlagen von der Luftsäule. - Sein Herz schlägt nicht mehr … Und sie ist tot, zur gleichen Zeit wie die Frucht ihres Leibes, die ich kaum noch erkenne, so entstellt ist sie … Meine Gattin! … Mein Sohn! … Ich entsinne mich einer fernen Zeit, da ich Gatte und Vater war. Vor dem Bild, das sich seinen Augen bot, hatte er gemeint, diese Ungerechtigkeit nicht ertragen zu können. Wenn sie wirksam ist, diese Kraft, die ihm die höllischen Geister verliehen haben, oder die er vielmehr aus sich selbst schöpft, sollte dieses Kind, bevor die Nacht vergangen war, nicht mehr sein.
Erster Gesang, zwölfte Strophe Er, der nicht weinen kann (denn er hat immer den Schmerz nach innen gedrängt), stellte fest, daß er sich in Norwegen befand. Auf den Färöer-Inseln nahm er teil an der Suche nach den Nestern der Meeresvögel in schroffen Felsspalten und wunderte sich, daß man das dreihundert Meter lange Seil, an dem der Forschende hing, derart widerstandsfähig gewählt hatte. Darin sah er, sage man, was man wolle, ein schlagendes Beispiel der menschlichen Güte, und er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Hätte er das Seil vorbereiten sollen, hätte er es an mehreren Stellen mit Einschnitten versehen, damit es risse und den Jäger in das Meer stürzte! Eines Abends ging er zu einem Friedhof; und die Jünglinge, die Vergnügen daran finden, die Leichen kürzlich verstorbener schöner Frauen zu schänden, hätten, wenn sie wollten, folgendes Gespräch mit anhören können, im Rahmen einer gleichzeitig verlaufenden Handlung. - Nicht war, Totengräber, du möchtest mit mir plaudern? Ein Pottwal steigt langsam vom Meeresgrund auf und zeigt seinen Kopf über den Wassern, um das Schiff zu sehen, das durch diese Einöden segelt. Die Neugier war mit dem Weltall geboren. - Freund, ich kann unmöglich mit dir Gedanken austauschen. Schon längst lassen die sanften Strahlen des Mondes den Marmor der Gräber schimmern. Es ist die stille Stunde, da mehr als ein Menschenwesen träumt, es sähe Frauen in Ketten, die ihr Leichentuch nachschleppen, mit Blutflecken besprenkelt wie ein schwarzer Himmel mit Sternen. Wer schläft, stöhnt wie ein zum Tode Verurteilter, bis er dann aufwacht und feststellt, daß die Wirklichkeit dreimal schlimmer ist als der Traum. Ich muß mit meiner unermüdlichen Schaufel dieses Grab fertig graben, damit es morgen früh bereit sei. Will man eine ernsthafte Arbeit leisten, darf man nicht zwei Dinge gleichzeitig tun. - Er glaubt, daß es eine ernsthafte Arbeit sei, ein Grab zu graben! Du glaubst, daß es eine ernsthafte Arbeit sei, ein Grab zu graben! - Wenn der wilde Pelikan sich entschließt, seinen Jungen die eigene Brust zum Verschlingen anzubieten, und nur den zum Zeugen, der eine solche Liebe zu schaffen verstand, um den Menschen zu beschämen, ist diese Tat, wenn das Opfer auch groß ist, verständlich. Wenn ein junger Mann eine Frau, die er anbetete, in den Armen eines Freundes sieht, zündet er sich darauf eine Zigarre an; er geht nicht mehr aus dem Haus und verbindet sich in inniger Freundschaft dem Schmerz; diese Tat ist verständlich. Wenn ein
Internatsschüler in einem Gymnasium, Jahre über, die Jahrhunderte sind, von morgens bis abends, von abends bis zum anderen Morgen von einem Paria der Zivilisation beherrscht wird, der dauernd ein Augen auf ihn hat, spürt er tobende Wellen eines Hasses wie dicker Rauch in sein Gehirn steigen, das ihm beinahe platzen will. Vom Augenblick an, da man ihn in das Gefängnis gesteckt hat, bis zu dem, da seine Entlassung naht, färbt ein heftiges Fieber ihm das Gesicht gelb, furcht ihm die Stirn und macht seine Augen hohl. Nachts grübelt er, weil er nicht schlafen will. Tags schwingt sein Denken sich über die Mauern der Stätte der Verblödung, bis er entspringt oder bis man ihn wie einen Pestkranken aus diesem ewigen Kloster hinauswirft; diese Tat ist verständlich. Ein Grab zu graben, übersteigt oft die naturgegebenen Kräfte. Wie meinst du, Fremder, soll die Hacke diese Erde umgraben, die uns zuerst nährt und uns dann ein bequemes Bett gibt, gegen den eisigen Wind geschützt, der mit Wut in diesen kalten Ländern bläst, wenn der, welcher die Hacke in seinen zitternden Händen hält, am Abend, nachdem er den ganzen Tag krampfhaft die Wangen der ehemals Lebenden betastet hat, die in sein Reich eintreten, auf jedem Holzkreuz den Text des furchtbaren Problems, das die Menschheit noch nicht gelöst hat, in Flammenlettern geschrieben sieht: der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele. Dem Schöpfer des Alls habe ich immer meine Liebe bewahrt; aber wenn wir nach dem Tode nicht mehr existieren sollten, warum sehe ich dann in den meisten Nächten, wie ein jedes Grab sich auftut, und seine Bewohner langsam die Bleideckel lüften, um frische Luft zu schnappen. - Halt in deiner Arbeit inne. Die Rührung raubt dir die Kräfte; du scheinst mir schwach wie ein Schilfrohr; es wäre große Narrheit fortzufahren. Ich bin stark; ich werde deinen Platz einnehmen. Du, gehe beiseite; du wirst mir raten, wenn ich es nicht richtig mache. - Wie muskulös seine Arme sind, und welch ein Vergnügen, ihn die Erde mit solcher Leichtigkeit umgraben zu sehen! - Nutzloser Zweifel soll nicht dein Denken beunruhigen: alle diese Gräber, die über den Friedhof verstreut sind wie Blumen über eine Wiese, ein Vergleich, dem es an Wahrheit fehlt, verdienen es, mit dem ruhigen Zirkel des Philosophen gemessen zu werden. Gefährliche Halluzinationen können tagsüber auftreten; aber meist kommen sie nachts. Deshalb laß dich nicht durch phantastische Visionen verblüffen, die deine Augen wahrzunehmen scheinen. Befrage am Tag, wenn der Geist ruht, dein Gewissen; es wird dir mit Sicherheit sagen, daß der Gott, der den Menschen mit einem
Teilchen seiner eigenen Intelligenz geschaffen hat, voll grenzenloser Güte ist, und nach dem irdischen Tod dieses Meisterwerk wieder in sich aufnehmen wird. Totengräber, warum weinst du? Warum diese Tränen wie die einer Frau? Erinnere dich wohl; wir sind auf diesem entmasteten Schiff, um zu leiden. Es ist eine Auszeichnung für den Menschen, daß Gott ihn für fähig gehalten hat, seine schwersten Leiden zu besiegen. Sprich und gib an, worin, da man nach deinen innigsten Wünschen nicht leiden soll, die Tugend besteht, das Ideal, das zu erreichen jedermann strebt, wenn deine Zunge wie die der anderen Menschen gemacht ist. - Wo bin ich? Hat sich mein Wesen nicht gewandelt? Ich spüre einen tröstlichen Hauch kraftvoll über meine aufgeheiterte Stirn streichen, wie ein Frühlingshauch die Hoffnung der Greise belebt. Was ist das für ein Mensch, dessen erhabene Sprache Dinge gesagt hat, die der erste beste nicht hätte aussprechen können? Welch musikalische Schönheit in der unvergleichlichen Melodie seiner Stimme! Ich höre ihn lieber reden, als andere singen. Dennoch, je länger ich ihn beobachte, desto weniger scheint mir sein Gesicht offen. Der allgemeine Ausdruck seiner Züge steht in sonderbarem Gegensatz zu seinen Worten, die nur die Liebe zu Gott hat eingraben können. Seine Stirn, in Falten, trägt ein unauslöschliches Stigma. Ist dieses Stigma, das ihn vorzeitig hat altern lassen, ehrenhaft oder schändlich? Kann man seine Falten mit Ehrerbietung anschauen? Ich weiß es nicht, und ich fürchte mich, es zu wissen. Wenn er auch spricht, was er nicht denkt, glaube ich doch, daß er Gründe hat, so zu handeln, wie er es getan hat, von den zerfetzten Resten einer zerstörten Barmherzigkeit getrieben in ihm. Er ist in Grübeleien versunken, die mir unbekannt sind, und er verdoppelt die Anstrengung bei seiner schweren Arbeit, die er nicht gewöhnt ist. Schweiß näßt seine Haut; er bemerkt es nicht. Er ist trauriger als die Gefühle, die der Anblick eines Kindes in der Wiege eingibt. O, ist er finster! … Woher kommst du? … Fremder, gestatte, daß ich dich berühre, und daß meine Hände, die selten die von Lebenden fassen, sich auf den Adel deines Leibes legen. Was dabei auch herauskommen mag, so werde ich wissen, woran ich bin. Diese Haare sind die schönsten, die ich je berührt habe. Wer wäre kühn genug zu bezweifeln, daß ich die Güte der Haare beurteilen könnte? - Was willst du von mir, da ich doch ein Grab schaufele? Der Löwe wünscht nicht, daß man ihn während des Fraßes behellige. Wenn du es nicht weißt, bringe ich es dir bei. Los, beeile dich; vollbringe, was du begehrst.
- Was bei meiner Berührung erschaudert, und dabei auch mich schaudern macht, ist Fleisch, soviel ist gewiß. Er ist wirklich … ich träume nicht! Wer bist du denn, du, der du dich bückst, ein Grab zu graben, während ich wie ein Faulpelz, der das Brot der anderen ißt, nichts tue? Es ist Zeit zu schlafen, oder seine Ruhe der Wissenschaft zu opfern. Jedenfalls ist keiner außer Haus, und jeder hütet sich, die Tür offen zu lassen, damit keine Diebe eindringen können. Er schließt sich in seine Kammer ein, so gut er kann, während die Asche des heruntergebrannten Kamins das Zimmer gerade noch etwas anwärmt. Du machst es nicht wie die anderen; deine Kleider deuten auf den Bewohner eines fernen Landes hin. - Obwohl ich nicht müde bin, wäre es ist nutzlos, das Grab tiefer zu graben. Jetzt kleide mich aus; und dann legst du mich hinein. - Das Gespräch, das wir seit einigen Augenblicken führen, ist so seltsam, daß ich nicht weiß, was antworten … Ich glaube, er will lachen. - Ja, ja, es stimmt, ich wollte lachen; achte nicht mehr auf das, was ich gesagt habe. Er ist niedergesunken, und der Totengräber beeilt sich, ihm beizustehen. - Was hast du? - Ja, ja, es stimmt, ich habe gelogen … ich war müde, als ich die Hacke ließ … es ist das erste Mal daß ich diese Arbeit tue … achte nicht mehr auf das, was ich gesagt habe. - Meine Meinung wird immer fester: dies ist jemand, der furchtbaren Kummer hat. Der Himmel bewahre mich, ihn auszufragen. Ich bleibe lieber im Ungewissen, so sehr erregt er mein Mitleid. Außerdem würde er mir nicht antworten wollen, soviel ist sicher: es heißt doppelt leiden, in solch unnormalem Zustand sein Herz auszuschütten. - Laß mich hinaus aus diesem Friedhof; ich will weiterziehen. - Deine Beine tragen dich nicht; du würdest dich beim Wandern verirren. Es ist meine Pflicht, dir ein einfaches Lager anzubieten; ich habe kein anderes. Vertraue mir; denn die Gastfreundschaft wird nicht die Vergewaltigung deiner Geheimnisse fordern. - O ehrwürdige Laus, du, deren Körper keine Flügeldecken hat, eines Tages warfst du mir grollend vor, deine herrliche Intelligenz nicht genügend zu schätzen, die sich nicht entziffern läßt; vielleicht hattest du recht, denn ich spüre nicht einmal diesen hier gegenüber Dankbarkeit. Fanal des Maldoror, wohin lenkst du seine Schritte? - Zu mir. Ob du ein Verbrecher bist, der nicht so umsichtig war, sich die rechte Hand zu waschen, mit Seife, nachdem er seine Tat
verübt hat, und leicht durch Untersuchung jener Hand zu erkennen ist; oder ein Bruder, der seine Schwester verloren hat; oder irgendein entthronter Monarch, der aus seinen Königreichen flieht, mein wirklich großartiger Palast ist würdig, dich zu empfangen. Er ist nicht aus Diamanten und Edelsteinen gebaut; denn es ist nur eine armselige Hütte, schlecht gebaut; aber die berühmte Hütte hat eine historische Vergangenheit, die sich in der Gegenwart erneuert und fortsetzt. Wenn sie erzählen könnte, würde sie dich in Erstaunen versetzen, dich, den, wie mir scheint, nichts erstaunen kann. Wie oft habe ich, gleichzeitig mit ihr, Särge mit Toten vor mir defilieren sehen, die Knochen enthielten, die bald wurmstichiger sein würden als die Rückseite meiner Tür, an die ich mich lehnte. Meine unzähligen Untertanen vermehren sich jeden Tag. Ich brauche nicht in festen Abständen Volkszählungen zu veranstalten, um mich dessen zu vergewissern. Hier ist es wie bei den Lebenden; jeder zahlt eine Steuer, im Verhältnis zum Reichtum der Behausung, die er gewählt hat; und wenn irgendein Geizhals seinen Anteil verweigert, so habe ich Befehl, mit seiner Person wie die Gerichtsvollzieher umzugehen: es gibt genügend Schakale und Aasgeier, die wünschten, ein gutes Mahl zu halten. Ich habe sie unter den Bannern des Todes sich sammeln sehen; den, der schön war, den, der nach seinem Leben nicht häßlich geworden ist; den Mann, die Frau, den Bettler, die Königssöhne; die Illusion der Jugend, die Skelette der Greise; das Genie, den Wahnsinn; die Faulheit, ihr Gegenteil; den, der wahrhaftig, den der falsch gewesen ist; die Maske des Hochmütigen, die Bescheidenheit des Demütigen; das blumenbekränzte Laster und die verratene Unschuld. - Nein, gewiß verschmähe ich dein Lager nicht, das meiner würdig ist, bis der Morgen kommt, der nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Ich danke dir, für deine Feundlichkeit … Totengräber, es ist schön, die Ruinen der Städte zu betrachten; aber schöner ist es, die Ruinen der Menschen zu betrachten!
Erster Gesang, dreizehnte Strophe Der Bruder des Blutegels wandert langsamen Schrittes durch den Wald. Er bleibt mehrfach stehen und öffnet den Mund, um zu sprechen. Aber jedesmal zieht sein Schlund sich zusammen und würgt den mißglückten Versuch zurück. Schließlich ruft er aus: »Mensch, wenn du einen umgedrehten toten Hund stößt, der an einer Schleuse lehnt, die ihn nicht fortläßt, so greife nicht wie die anderen mit deiner Hand die Würmer, die aus seinem geblähten Bauch quellen, um sie erstaunt zu betrachten, ein Messer zu öffnen, mit diesem dann eine große Zahl zu zerstückeln, wobei du dir sagst, daß auch du nicht mehr als dieser Hund sein wirst. Welches Geheimnis suchst du? Weder ich noch die vier Schwimmpfoten des Eisbären im Nordmeer haben das Rätsel des Lebens lösen können. Gib acht, die Nacht bricht herein, und du bist seit dem Morgen da. Was wird deine Familie sagen, samt deiner kleinen Schwester, wenn sie dich so spät heimkommen sieht? Wasche deine Hände, mache dich auf den Weg, der dorthin führt, wo du schläfst … Welch ein Wesen ist das, da hinten am Horizont, das wagt, sich mir ohne Furcht mit schrägen, und geschraubten Sprüngen zu nähern; und welche Majestät, mit heiterer Milde gepaart! Sein Blick ist sanft, dabei aber tief. Seine riesigen Lider spielen im leichten Wind und scheinen zu leben. Es ist mir unbekannt. Mein Leib zittert, da ich in seine ungeheuren Augen starre; es ist das erste Mal, seit ich die trockenen Brüste derer saugte, die man Mutter nennt. Um es strahlt ein Licht wie von einem Heiligenschein. Als es zu sprechen begann, verstummte alles in der Natur und war von tiefem Schauder erfüllt. Da es dir gefällt, zu mir zu kommen, wie von einem Magneten angezogen, werde ich mich dem nicht widersetzen. Wie schön es ist! Es schmerzt mich, dies zu sagen. Du mußt stark sein; denn du ein übermenschliches Antlitz, traurig wie das All, schön wie der Selbstmord. Ich verabscheue dich, so sehr ich kann; und ich zöge es vor, eine Schlange zu sehen, seit Anbeginn der Zeiten um meinen Hals gewunden, als deine Augen … Wie! … du bist es, Kröte! … fette Kröte! … unglückliche Kröte! … Vergib! … Vergib! … Was suchst du auf dieser Erde der Verdammten? Aber wo hast du denn deine nässenden und stinkenden Pusteln gelassen, daß du so angenehm wirkst? Als du von oben herabkamst, auf einen höheren Befehl, mit dem Auftrag, die verschiedenen Rassen der Lebewesen zu trösten, ließest du dich mit der Schnelligkeit des Milan auf die Erde hinab, ohne das deine Schwingen von diesem langen, großartigen Flug ermattet wären; ich sah dich! Arme Kröte! Wie
gedachte ich da der Unendlichkeit und zugleich meiner Schwäche. Noch einer, der über den Irdischen steht, sagte ich mir; und das durch göttlichen Willen. Und ich, warum nicht auch ich? Wozu diese Ungerechtigkeit in den obersten Ratschlüssen? Ist er verrückt, der Schöpfer; wenn er auch der Stärkste ist; und sein Zorn furchtbar! Seit du mir erschienen bist, Herrscherin der Teiche und Moräste! von einem Ruhm bedeckt, der Gott allein zusteht, hast du mich zum Teil getröstet; aber meine schwankende Vernunft versinkt vor solcher Größe! Wer bist du also! Bleib … o! bleib noch auf dieser Erde! Falte deine weißen Flügel wieder zusammen und blick nicht nach oben mit unruhigen Lidern … Wenn du fort willst, laß uns zusammen gehen!« Die Kröte setzte sich auf ihre Hinterbacken, (die denen des Menschen so gleichen!), und während die Nacktschnecken, die Kellerasseln und die Schnirkelschnecken beim Anblick ihres Todfeindes flohen, sprach sie folgende Worte: »Höre mir zu, Maldoror. Sieh mein Gesicht, ruhig wie ein Spiegel, und ich glaube, eine Intelligenz zu besitzen, die der deinen ebenbürtig ist. Eines Tages nanntest du mich die Stütze deines Lebens. Seither habe ich das Vertrauen nicht enttäuscht, das du in mich gesetzt hast. Ich bin nur ein schlichter Bewohner des Schilfs, das stimmt; aber dank des Umgangs mit dir, dem ich nur entnahm, was es Schönes in die gab, ist meine Vernunft gewachsen, und ich kann zu dir sprechen. Ich bin zu dir gekommen, um dich vom Abgrund zurückzureißen. Die sich deine Freunde nennen, sehen dich tief bestürzt an, jedesmal wenn sie dir begegnen, bleich und gebeugt, in den Theatern, auf den öffentlichen Plätzen, in den Kirchen, oder wie du mit zwei nervigen Schenkeln das Pferd regierst, das nur des Nachts galoppiert, wenn es seinen gespenstigen Gebieter trägt, in seinen langen, schwarzen Mantel gehüllt. Laß diese Gedanken, die dein Herz leer wie eine Wüste machen; sie sind verzehrender als das Feuer. Dein Geist ist so krank, daß du es nicht einmal merkst, und daß du glaubst, in deinem natürlichen Zustand zu sein, wenn aus deinem Mund unsinnige Worte kommen, die aber doch von infernalischer Größe sind. Unglücklicher! Was hast du seit dem Tage deiner Geburt gesagt? O trauriges Überbleibsel einer unsterblichen Intelligenz, die Gott mit so viel Liebe geschaffen hat! Du hast nur Flüche hervorgebracht, schrecklicher als der Blick hungriger Panther! Ich hätte lieber verklebte Lider, einen Körper ohne Arme und Beine, einen Menschen ermordet, als daß ich du wäre! Weil ich dich hasse. Warum einen Charakter haben, der mich verblüfft? Mit welchem Recht kommst du auf diese Erde, um all die lächerlich zu machen,
die sie bewohnen, du verfaultes Wrack, vom Skeptizismus herumgeschaukelt? Wenn es dir hier nicht gefällt, dann kehre doch in die Sphären zurück, aus denen du kommst. Ein Städter sollte nicht auf den Dörfern wohnen wie ein Fremder. Wir wissen, daß es in den Räumen Sphären gibt, die geräumiger sind als unsere, und deren Geister eine Intelligenz besitzen, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Na also, gehe dorthin! … verlasse diesen unsicheren Boden! … zeige endlich dein göttliches Wesen, das du bisher verborgen hast; und schwinge dich sobald wie möglich hinauf in deine Sphäre, nach der uns nicht verlangt, hochmütig wie du bist! denn es ist mir nicht gelungen festzustellen, ob du ein Mensch oder mehr als ein Mensch bist! Lebe also wohl; hoffe nicht, auf deinem Weg der Kröte noch einmal zu begegnen. Du warst die Ursache meines Todes. Doch ich, ich gehe in die Ewigkeit, Verzeihung für dich zu erbitten!«
Erster Gesang, vierzehnte Strophe Wenn es manchmal logisch ist, sich an den Schein der Phänomene zu halten, so endet dieser Erste Gesang hier. Seid nachsichtig gegen den, der nur erst seine Leier versucht: sie hat einen so seltsamen Klang! Dennoch, wenn ihr unparteiisch sein wollt, werdet ihr bereits mitten in Unvollkommenheiten eine starke Eigenart feststellen. Ich meinerseits werde mich wieder an die Arbeit setzen, um einen zweiten Gesang in nicht allzu ferner Zeit erscheinen zu lassen. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird seinen Dichter sehen (sollte er auch nicht sogleich mit einem Meisterwerk beginnen, sondern dem Naturgesetz folgen); er ist an den Ufern Amerikas geboren, an der Mündung des La Plata, dort, wo zwei Völker, einst Rivalen, sich jetzt bemühen, einander durch materiellen und moralischen Fortschritt zu überflügeln. Buenos Aires, die Königin des Südens, und Montevideo, die Kokette, reichen sich die Freundeshand über die silbernen Wasser der großen Mündung. Aber der ewige Krieg hat seine zerstörerische Herrschaft über das Land aufgerichtet und rafft voll Wonne zahlreiche Opfer dahin. Lebe wohl, Greis, und gedenke meiner, wenn du mich gelesen hast. Du, junger Mann, sei nicht verzweifelt; denn im Vampir hast du einen Freund, trotz deiner gegenteiligen Meinung. Wenn du die Krätzmilbe mitzählst, die die Krätze verursacht, hast du zwei Freunde!
Zweiter Gesang, erste Strophe Wohin ist dieser erste Gesang Maldorors geraten, seit ihn sein Mund voller Belladonnablätter in einem Moment der Überlegung durch die Königreiche der Wut hat entspringen lassen? Wohin ist dieser Gesang geraten … Man weiß es nicht recht. Weder die Bäume noch der Wind haben ihn behalten. Und die Moral, die an diesen Ort kam, ohne zu ahnen, daß sie in diesen weißglühenden Seiten einen energischen Verteidiger besaß, hat ihn mit festem und sicherem Schritt die düsteren Schlupfwinkel und geheimen Fasern der Gewissen aufsuchen sehen. Für die Wissenschaft ist wenigstens gesichert, daß seit dieser Zeit der Mensch mit dem Krötengesicht sich nicht mehr wiedererkennt und oft in Tollwutanfälle gerät, die ihn einem Tier der Wälder ähnlich machen. Das ist nicht seine Schuld. Zu allen Zeiten hatte er geglaubt, indem er die Lider vor den Reseden der Bescheidenheit senkte, daß er nur aus Gutem und einer winzigen Dosis Bösem bestünde. Plötzlich brachte ich ihm bei, indem ich sein Herz und dessen Ränke ans Tageslicht zog, daß er im Gegenteil nur aus Bösem bestehe und einer winzigen Dosis Gutem, das die Gesetzgeber nur mit größter Mühe davor bewahren können, sich zu verflüchtigen. Ich, der ich ihm nichts Neues beibringe, möchte nicht, daß er um angesichts meiner bitteren Wahrheiten ewige Scham empfinde; aber die Verwirklichung dieses Wunsches entspräche nicht den Naturgesetzen. Denn wirklich reiße ich die Maske von seinem schmutzbesudelten Verrätergesicht, ich lasse wie Elfenbeinkugeln auf ein Silberbecken, eine nach der anderen, die erhabenen Lügen fallen, mit denen er sich selber betrügt: es ist also verständlich, daß er nicht über die Ruhe verfügt, die Hände vor sein Gesicht zu schlagen, selbst wenn die Vernunft die Finsternis des Stolzes vertreibt. Deshalb hat sich der Held, den ich auftreten lasse, einen unversöhnlichen Haß zugezogen, weil er die Menschheit, die sich für unverwundbar hielt, durch die Bresche absurder philanthropischer Tiraden angriff: wie Sandkörner aufgehäuft in seinen Büchern, deren drollige aber langweilige Komik ich manchmal, wenn die Vernunft mich verläßt, beinahe schätze. Er hat es vorausgesehen. Es reicht nicht aus, die Statue der Güte auf den Titel der Pergamente zu meißeln, die in den Bibliotheken lagern. O Menschenwesen! da stehst du nun, nackt wie ein Wurm, vor meinem diamantenen Richtschwert! Gib deine Methode auf; es ist nicht mehr an der Zeit, den Stolzen zu spielen: in demütiger Haltung richte ich an dich mein Gebet. Es gibt einen, der die geringsten Bewegungen deines schuldigen Lebens
beobachtet; du bist eingehüllt in die subtilen Netze seines hartnäckigen Scharfblicks. Traue ihm nicht, wenn er den Rücken wendet; denn er betrachtet dich; traue ihm nicht, wenn er die Augen schließt; denn er betrachtet dich immer noch. Man kann es sich schwer vorstellen, daß es, was Ränke und Schlechtigkeit angeht, deine grauenerregende Absicht sei, das Kind meiner Abbildung zu überbieten. Seine kleinsten Schläge treffen. Mit Umsicht kann man dem, der glaubt, es nicht zu wissen, beibringen, daß die Wölfe und die Banditen sich nicht gegenseitig verschlingen: dies ist vielleicht nicht ihre Gewohnheit. Lege also ohne Furcht die Sorge um deine Existenz in seine Hände: er wird sie in einer Weise leiten, die er kennt. Glaube nicht an die Absicht, die er in der Sonne leuchten läßt, dich zu bessern; denn du interessierst ihn nur mittelmäßig, wenn nicht weniger; noch habe ich nicht das wohlwollende Maß meiner Prüfung an die vollständige Wahrheit gelegt. Aber er liebt es, dir in der begründeten Überzeugung Böses zu tun, daß du ebenso schlecht wirst wie er, und daß du ihn in den glühnenden Schlund der Hölle begleitest, wenn die Stunde schlägt. Sein Platz ist ihm seit langem bestimmt, am Ort, wo man einen eisernen Galgen sieht, an dem Ketten und Halseisen hängen. Wenn ihn das Schicksal dorthin bringt, wird der Totentrichter niemals eine schmackhaftere Beute gekostet, und er selbst niemals eine passendere Behausung gesehen haben. Mir scheint, daß ich in absichtlich väterlichen Weise spreche, und daß die Menschheit nicht das Recht hat, sich zu beklagen.
Zweiter Gesang, zweite Strophe Ich ergreife die Feder, die den zweiten Gesang konstruieren wird … ein Gerät, den Flügeln irgendeines roten Seeadlers ausgerissen! Aber … was haben denn meine Finger? Die Gelenke bleiben gelähmt, sobald ich meine Arbeit beginne. Dennoch muß ich schreiben … Es ist unmöglich! Nun gut, ich wiederhole, daß ich meine Gedanken niederschreiben muß: ich habe wie jeder andere das Recht, mich diesem Naturgesetz zu unterwerfen … Aber nein, aber nein, die Feder bleibt unbeweglich! … Da, seht, über das Land hinweg, den Blitz, der in der Ferne aufleuchtet. Das Gewitter durcheilt den Raum. Es regnet … Es regnet immer noch … Wie es regnet! … Der Blitzschlag ist gefallen … er hat in mein angelehntes Fenster eingeschlagen und mich, an die Stirn getroffen, auf die Fliesen niedergestreckt. Armer junger Mann! dein Gesicht war schon genügend durch vorzeitige Runzeln und angeborene Mißgestalt geschminkt, als daß es noch zusätzlich diese lange schweflige Narbe gebraucht hätte! (Ich unterstelle soeben, daß die Wunde geheilt sei, was nicht so schnell geschehen wird.) Wozu dieses Gewitter, und wozu die Lähmung meiner Finger? Ist das eine Warnung von oben, um mich vom Schreiben abzuhalten und mich besser bedenken zu machen, wessen ich mich aussetze, wenn ich den Geifer meines viereckigen Mundes destilliere? Aber dieses Gewitter hat mir keine Angst eingejagt. Was könnte mir eine Legion von Gewittern ausmachen! Diese Himmelspolizisten erfüllen voll Eifer ihre mühselige Pflicht, wenn ich summarisch nach meiner verletzten Stirn urteilen soll. Ich brauche dem Allmächtigen nicht für seine bemerkenswerte Geschicklichkeit zu danken; er hat den Blitz in einer solchen Weise geschickt, daß mein Gesicht von der Stirne an, wo die Wunde am gefährlichsten war, genau in zwei Hälften gespalten wurde: ein anderer möge ihn beglückwünschen! Aber die Gewitter greifen jemanden an, der stärker ist als sie. So mußtest du also, schrecklicher Ewiger mit dem Gesicht einer Viper, nicht zufrieden, meine Seele zwischen die Grenzen des Wahnsinns und der tollwütigen Gedanken, die auf langsame Weise töten, gestellt zu haben, es darüber hinaus noch, nach reiflicher Überlegung für deine Majestät angemessen gehalten, aus meiner Stirn eine Schale Blut fließen zu lassen! … Aber wer sagt dir schließlich etwas? Du weißt, daß ich dich nicht liebe, daß ich dich im Gegenteil hasse: warum gibst du nicht Ruhe? Wann wird dein Verhalten aufhören, sich in die Formen der Bizarrerie zu hüllen? Sprich offen zu mir wie zu einem Freund: merkst du nicht
endlich, daß du in deiner abscheulichen Verfolgung einen naiven Eifer zeigst, dessen vollständige Lächerlichkeit keiner deiner Seraphim herauszustellen wagte? Welch ein Zorn ergreift dich? Wisse, daß dir meine Dankbarkeit gehörte, ließest du mich in Sicherheit vor deinen Verfolgungen leben … Nun zu, Sultan, befreie mich mit deiner Zunge von dem Blut, das den Boden beschmutzt. Der Verband ist fertig: meine Stirn, deren Blutung gestllt ist, habe ich mit Salzwasser gewaschen, und ich habe mir Binden quer über das Gesicht gelegt. Das Ergebnis ist nicht grenzenlos: vier Hemden und zwei Taschentücher voll Blut. Man hätte es im ersten Augenblick nicht glauben mögen, daß Maldorors Adern soviel Blut enthielten; denn auf seinem Gesicht liegt nur ein leichenhafter Glanz. Aber es ist eben so. Vielleicht ist dies das ganze Blut, das sein Körper enthielt, und es ist wahrscheinlich, daß nicht viel übrig blieb. Genug, genug, gieriger Hund; laß das Parkett wie es ist; denn gleich würdest du dich erbrechen. Du bist hinlänglich gefüttert, lege dich schlafen in die Hundehütte; fühle dich im Glück schwimmen, denn du wirst über drei unermeßliche Tage nicht an Hunger denken, dank den Blutkörperchen, die du deine Kehle hast hinabrinnen lassen mit sichtbarer, festlicher Befriedigung. Du, Léman, nimm einen Besen; ich möchte auch einen nehmen, aber ich habe nicht die Kraft dazu. Du verstehst, nicht wahr, daß ich nicht die Kraft dazu habe? Stecke deine Tränen wieder in ihre Scheide; sonst müßte ich glauben, du habest nicht den Mut, kalten Blutes den großen Schmarren anzusehen, den eine Strafe verursachte, die für mich schon in der Nacht vergangener Zeiten versunken ist. Du wirst zwei Eimer Wasser vom Brunnen holen. Ist das Parkett gewischt, bringst du diese Wäsche ins Nebenzimmer. Wenn die Wäscherin heute abend kommt, wie sie sollte, gibst du sie ihr mit; aber da es seit einer Stunde viel geregnet hat, und da es weiter regnet, glaube ich nicht, daß sie aus dem Haus geht; sie wird also morgen früh kommen. Fragt sie dich, woher all das Blut komme, brauchst du ihr nicht zu antworten. O! bin ich schwach! Tut nichts; ich werde dennoch die Kraft haben, den Federhalter zu heben, und den Mut, in meinem Denken zu graben. Was hat es dem Schöpfer eingebracht, mich, als wäre ich ein Kind, mit einem Gewitter zu plagen, das den Blitz bringt? Ich bestehe deshalb nicht weniger auf meinem Beschluß zu schreiben. Diese Bandagen stören mich, und die Atmosphäre meines Zimmers dünstet Blut aus …
Zweiter Gesang, dritte Strophe Möge der Tag nicht kommen, an dem Lohengrin und ich auf der Straße aneinander vorübergehen, ohne uns anzusehen, und uns, wie zwei eilige Passanten, mit den Ellenbogen streifen! O! eine solche Annahme soll mir auf immer fern bleiben! Der Ewige hat die Welt geschaffen, wie sie ist: er zeigte große Weisheit, wenn er für die Zeit, die unbedingt nötig ist, mit einem Hammer den Kopf einer Frau zu zerschlagen, seine siderische Majestät vergäße, um uns die Geheimnisse zu offenbaren, in deren Mitte unsere Existenz erstickt wie ein Fisch auf dem Boden eines Bootes. Aber er ist groß und edel; er ist uns überlegen durch die Macht seiner Gedanken; unterhandelte er mit den Menschen, fiele alle Schmach bis auf sein Angesicht zurück. Aber … Elender, der du bist! warum errötest du nicht? Es reicht noch nicht, daß die Armee der physischen und moralischen Schmerzen, die uns umgibt, in die Welt gesetzt wurde: das Geheimnis unserer lumpigen Bestimmung wird uns nicht enthüllt. Ich kenne ihn, den Allmächtigen … und auch er muß mich kennen. Wenn wir zufällig den selben Weg gehen, sieht sein scharfer Blick ich von fern schon kommen: er nimmt einen Seitenweg, um dem dreifachen Platinstachel auszuweichen, den die Natur mir als Zunge gegeben hat. Du wirst mir Freude machen, o Schöpfer, mich meine Gefühle äußern zu lassen. Indem ich mit fester und kalter Hand furchtbare Ironien verwende, sage ich dir, daß mein Herz genug davon enthält, um dich bis zum Ende meiner Existenz anzugreifen. Ich werde dein hohles Gerippe schlagen; aber so heftig, daß ich mich erbiete, die letzten Partikel Intelligenz hinauszutreiben, die du den Menschen nicht hast geben wollen, weil du eifersüchtig gewesen wärest, ihn dir gleich zu machen, und die du unverschämterweise in deinen Därmen versteckt hast, heimtückischer Bandit, als wüßtest du nicht, daß ich sie irgendwann mit meinen immer offenen Augen entdecken, sie fortnehmen und mit meinesgleichen teilen würde. Ich habe so gehandelt wie ich sage, und jetzt fürchten sie dich nicht mehr; sie verkehren mit dir wie eine Macht mit der anderen. Gib mir den Tod, um meine Kühnheit zu sühnen: ich entblöße meine Brust und warte in Demut. Kommt doch, lächerliche Gewalten ewiger Züchtigungen! … emphatische Entfaltungen zu sehr gepriesener Attribute! Er hat seine Unfähigkeit bewiesen, den Kreislauf meines Blutes anzuhalten, der ihm die Stirn bietet. Jedoch habe ich Beweise, daß er nicht zögert, den Atem anderer Menschen in der Blüte der Jahre auszulöschen, wenn sie kaum die Freuden des Lebens gekostet
haben. Das ist einfach scheußlich; aber nur für die Schwäche meiner Meinung. Ich habe den Schöpfer gesehen, wie er, seine nutzlose Grausamkeit zuspitzend, Brände schürte, in denen Greise und Kinder umkamen! Ich bin es nicht, der den Angriff beginnt; er ist es, der mich zwingt, ihn mit der Peitsche aus Stahlseilen wie einen Drehkreisel herumzuwirbeln. Versieht nicht er selbst, mich mit Anklagen gegen sich? Mein furchtbarer Schwung soll nicht erlöschen! Er nährt sich von wahnwitzigen Alpträumen, die meine Schlaflosigkeit foltern. Wegen Lohengrin wurde das Vorstehende geschrieben wurde; kommen wir also auf ihn zurück. Aus Furcht, er könne später so werden wie die anderen Menschen, hatte ich zuerst beschlossen, ihn mit Messerstichen zu töten, wenn er das Alter der Unschuld überschritten hätte. Aber ich habe nachgedacht und meinen Entschluß bald weise aufgegeben. Er ahnt nicht, daß sein Leben für eine Viertelstunde in Gefahr war. Alles war bereit, und das Messer war gekauft. Dieses Stilett war allerliebst, denn ich liebe die Grazie und die Eleganz sogar bei den Werkzeugen des Todes; aber es war lang und spitz. Eine einzige Wunde am Hals, die ihm sorgsam eine der Schlagadern durchbohrt hätte, wäre wohl genug gewesen. Ich bin zufrieden mit meinem Verhalten; ich hätte es später bereut. Also, Lohengrin, tue was du willst, handle wie es dir gefällt, schließe mich das ganze Leben in ein dunkles Gefängnis ein mit Skorpionen als Gefährten meiner Gefangenschaft, oder reiße mir ein Auge aus, bis es zur Erde fällt, ich werde dir nie den leisesten Vorwurf machen; ich bin dein, ich gehöre dir, ich lebe nicht mehr für mich. Der Schmerz, den du mir verursachen wirst, wird mit dem Glück nicht vergleichbar sein zu wissen, daß der, der mich mit seinen mörderischen Händen verletzt, von einer göttlicheren Essenz getränkt ist als seinesgleichen. Ja, selbst das ist schön, sein Leben für ein Menschenwesen zu geben und so die Hoffnung zu bewahren, daß nicht alle Menschen schlecht sind, weil es schließlich einen gegeben hat, der es verstand, den mißtrauischen Widerwillen einer bitteren Sympathie mit Gewalt auf sich zu ziehen! …
Zweiter Gesang, vierte Strophe Es ist Mitternacht; man sieht nicht einen Omnibus mehr zwischen der Bastille und der Madeleine. Ich irre mich; da ist einer, der so plötzlich auftaucht, als käme er aus der Erde. Die wenigen verspäteten Passanten betrachten ihn aufmerksam; denn er ähnelt wohl keinem zweiten. Auf der Imperiale sitzen Menschen mit Augen, unbeweglich wie die eines toten Fisches. Sie sitzen einer an den anderen gepreßt und scheinen das Leben verloren zu haben; im übrigen ist die zugelassene Zahl nicht überschritten. Wenn der Kutscher seinen Pferden einen Peitschenhieb versetzt, wirkt es so, als sei es die Peitsche, die seinen Arm bewegt, und nicht sein Arm die Peitsche. Was ist das für eine Versammlung seltsamer und stummer Wesen? Sind es Mondbewohner? Es gibt Momente, in denen man versucht wäre, es zu glauben; aber sie sind eher Leichen ähnlich. Der Omnibus, der eilt, die letzte Station zu erreichen, verschlingt den Raum und läßt das Pflaster erdröhnen … Er flieht dahin! … Aber es verfolgt ihn eine unförmige Masse mit Hartnäckigkeit, auf seinen Spuren, mitten im Staub. »Haltet an, ich bitte euch; haltet an … meine Beine sind geschwollen vom Laufen den ganzen Tag … ich habe seit gestern nichts gegessen … meine Eltern haben mich verlassen … ich weiß nicht mehr, was ich tun soll … ich bin entschlossen, nach Hause zurückzukehren, und ich käme schnell dorthin, räumtet ihr mir einen Platz … ich bin ein kleines Kind von acht Jahren und ich vertraue euch … « Er flieht dahin! … Er flieht dahin! … Aber es verfolgt ihn eine unförmige Masse mit Hartnäckigkeit, auf seinen Spuren, mitten im Staub. Einer dieser Menschen, mit kaltem Auge, stößt seinen Nachbarn mit dem Ellenbogen an, und scheint ihm seine Unzufriedenheit mit diesen silberhellen Klagen auszudrücken, die bis an sein Ohr dringen. Der andere neigt unmerklich den Kopf, wie um zuzustimmen, und zieht sich dann wieder in die Unbeweglichkeit seines Egoismus zurück wie die Schildkröte in ihren Panzer. Alles in den Mienen der übrigen Reisenden drückt die gleichen Gefühle wie die der ersten beiden aus. Die Schreie, durchdringender von Sekunde zu Sekunde, lassen sich noch zwei oder drei Minuten vernehmen. Man sieht, wie Fenster sich auf den Boulevard öffnen, und wie eine Gestalt mit verstörtem Gesicht, ein Licht in der Hand, den Laden, nachdem sie einen Blick auf die Straße geworfen hat, mit Wucht wieder schließt, um nicht noch einmal zu erscheinen … Er flieht dahin! … Er flieht dahin! … Aber es verfolgt ihn eine unförmige Masse mit Hartnäckigkeit, auf seinen Spuren, mitten im
Staub. Nur ein junger Mann, in Träumereien versunken, mitten unter dieser steinernen Figuren, scheint Mitleid für das Unglück zu fühlen. Zugunsten des Kindes, das ihn mit seinen kleinen, schmerzenden Beinen erreichen zu können glaubt, wagt er nicht die Stimme zu erheben; denn die anderen Menschen werfen ihm verächtliche und überlegene Blicke zu, und er weiß, daß er gegen alle nichts tun kann. Den Ellenbogen auf seine Knie gestützt, und den Kopf zwischen seinen Händen, fragt er sich betroffen, ob dies wirklich das sei, was man menschliche Nächstenliebe nennt. Dann sieht er ein, daß dies nur ein leeres Wort ist, das man nicht einmal mehr im Wörterbuch der Poesie findet, und gesteht seinen Irrtum ein. Er sagt sich: »Wirklich, warum soll man sich für ein kleines Kind interessieren? Lassen wir es beiseite.« Dennoch ist eine brennende Träne über die Wange des Jünglings gerollt, der gerade lästerte. Er streicht schmerzlich die Hand über die Stirn, wie um eine Wolke zu verscheuchen, deren Dichte seinen Geist verdunkelt. Er plagt sich vergebens ab in einem Jahrhundert, in das er geworfen war; er fühlt, daß er hier nicht an seinem Platz ist, und doch kann er es nicht verlassen. Schreckliches Gefängnis! Furchtbares Schicksal! Lombano, ich bin mit dir seit diesem Tag zufrieden! Ich beobachte dich unablässig, während mein Gesicht dieselbe Gleichgültigkeit ausdrückte, wie das der anderen Reisenden. Der Jüngling erhebt sich mit einer empörten Bewegung und will sich zurückziehen, um nicht einmal unfreiwillig an einer schlechten Handlung teilzunehmen. Ich mache ihm ein Zeichen, und er setzt sich wieder an meine Seite … Er flieht dahin! … Er flieht dahin! … Aber es verfolgt ihn eine unförmige Masse mit Hartnäckigkeit, auf seinen Spuren, mitten im Staub. Die Schreie hören plötzlich auf; denn das Kind ist mit dem Fuß über einen herausragenden Pflasterstein gestolpert und hat sich im Fallen am Kopf verletzt. Der Omnibus ist am Horizont verschwunden, und man sieht nur noch die stille Straße … Er flieht dahin! … Er flieht dahin! … Aber es verfolgt ihn eine unförmige Masse mit Hartnäckigkeit, auf seinen Spuren, mitten im Staub. Seht diesen Lumpensammler, der vorüberkommt, über seine schwächliche Lampe gebeugt; in ihm ist mehr Herz als in allen Insassen des Omnibusses. Er liest das Kind auf; seid sicher, daß er es heilen und nicht verlassen wird, wie es seine Eltern getan haben. Er flieht dahin! … Er flieht dahin! … Aber von dort, wo er sich befindet, verfolgt ihn der bohrende Blick des Lumpensammlers mit Hartnäckigkeit, auf seinen Spuren, mitten im Staub! … Stumpfsinnige und idiotische Rasse! Du wirst es bereuen, dich so zu benehmen. Das sage ich dir. Du wirst es bereuen! ja, du
wirst es bereuen. Meine Poesie wird in nichts anderem bestehen, als den Menschen, dieses reißende Tier, mit allen Mitteln anzugreifen, und den Schöpfer, der nicht ein solches Ungeziefer hätte schaffen dürfen. Bände werden sich auf Bände türmen bis zum Ende meines Lebens, und doch wird man darin nur diese einzige Idee finden, die immer im Bewußtsein gegenwärtig ist!
Zweiter Gesang, fünfte Strophe Auf meinen täglichen Spaziergängen kam ich jeden Tag in eine enge Straße; jeden Tag folgte mir ein schlankes junges Mädchen von zehn Jahren respektvoll in einiger Entfernung diese Straße entlang, wobei sie mich mit teilnahmsvollen und neugierigen Augen betrachtete. Sie war groß für ihr Alter und hoch aufgeschossen. Überreiche schwarze Haare, auf dem Kopf geteilt, fielen in freien Zöpfen auf marmorne Schultern. Eines Tages folgte sie mir wie gewöhnlich; die muskulösen Arme einer Frau aus dem Volke packten sie bei den Zöpfen wie der Wirbelwind ein Blatt ergreift, versetzten der stolzen und stummen Wange zwei brutale Ohrfeigen und zogen dieses verirrte Gewissen in das Haus zurück.Vergebens spielte ich den Unbekümmerten; sie versäumte nie, mich mit ihrer unpassend gewordenen Gegenwart zu verfolgen. Betrat ich eine andere Straße, um meinen Weg fortzusetzen, blieb sie, indem sie sich mit aller Macht beherrschte, am Ende jener engen Straße reglos wie die Statue des Schweigens stehen und blickte unablässig vor sich hin, bis ich verschwunden war. Einmal ging dieses junge Mädchen vor mir die Straße hinauf und paßte ihren Schritt dem meinen an. Ging ich schnell, um sie zu überholen, lief sie beinahe, um gleichen Abstand zu halten; aber wenn ich den Schritt verlangsamte, damit eine ziemlich große Strecke Weges zwischen uns zu bliebe, dann wurde sie auch langsamer und legte die Anmut der Kindheit hinein. Am Ende der Straße angekommen, drehte sie sich langsam herum, so daß mir der Durchgang versperrt wurde. Ich hatte nicht die Zeit auszuweichen und ich fand mich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie hatte geschwollene und rote Augen. Es war offensichtlich, daß sie mich ansprechen wollte und nicht wußte, wie sie dies beginnen sollte. Plötzlich, leichenblaß geworden, fragte sie mich: »Würden Sie die Güte haben, mir zu sagen, wie spät es ist?« Ich sagte ihr, daß ich keine Uhr trüge, und entfernte mich schnell. Seit diesem Tag, Kind mit unruhiger und frühreifer Einbildungskraft, hast du nicht mehr den geheimnisvollen jungen Mann in der engen Straße gesehen, der mühevoll mit seiner schweren Sandale das Pflaster der verschlungenen Kreuzungen trat. Die Erscheinung dieses flammenden Kometen wird nicht mehr als trauriger Gegenstand fanatischer Neugier an der Fassade deiner enttäuschten Beobachtung aufleuchten; und du wirst oft, zu oft, vielleicht immer, an den denken, der sich nicht über die Leiden noch über die Freuden des gegenwärtigen Lebens zu bekümmern schien, und der
auf gut Glück, mit furchtbar abgestorbenen Gesicht, die Haare verwirrt, schwankenden Schritts und mit den Armen blindlings in den ironischen Wassern des Äthers rudernd dahinschritt, wie um dort die blutige Beute der Hoffnung zu suchen, die unaufhörlich vom unerbittlichen Schneepflug des Verhängnisses in den unermeßlichen Regionen des Raumes herumgeschleudert wird. Du wirst mich nicht mehr sehen, und ich werde dich nicht mehr sehen! … Wer weiß? Vielleicht war dieses junge Mädchen nicht das, als was es sich gab. Unter einer naiven Hülle verbarg sich vielleicht unerhörte Gerissenheit, das Gewicht von achtzehn Jahren und den Zauber der Sünde. Man hat Liebeshändlerinnen voll frohen Mutes von den britanischen Inseln auswandern und die Meerenge überqueren sehen. Sie entfalteten ihre Flügel und kreisten in goldenen Schwärmen im Pariser Licht; und als ihr sie sahet, sagtet ihr: »Aber das sind ja noch Kinder; sie sind nicht älter als zehn oder zwölf Jahre.« In Wirklichkeit waren sie zwanzig. O! träfe dieser Verdacht zu, sollen die Umwege durch diese düstere Straße verflucht sein! Schrecklich! schrecklich! was dort vorgeht. Ich glaube, daß ihre Mutter sie schlug, weil sie ihr Gewerbe nicht mit genügend Geschick ausübte. Es ist möglich, daß sie nur ein Kind war, und dann ist die Mutter nur um so schuldiger. Ich will nicht an diese Vermutung glauben, die nur eine Hypothese ist, und ich ziehe es vor, in diesem überspannten Charakter eine Seele zu lieben, die sich zu früh entschleiert … Ah! siehe junges Mädchen, ich verpflichte dich, nicht mehr vor meinen Augen zu erscheinen, sollte ich jemals wieder diese enge Straße betreten. Es könnte dich teuer zu stehen kommen. Schon steigen das Blut und der Haß mir in kochenden Wellen zu Kopf. Ich, großmütig genug meinesgleichen zu lieben! Nein, nein! Ich habe es beschlossen seit dem Tag meiner Geburt! Sie, sie lieben mich nicht! Man wird Welten zerfallen und den Granit wie ein Kormoran über die Oberfläche der Fluten gleiten sehen, bevor ich die infame Hand eines Menschenwesens berühre. Zurück … zurück mit dieser Hand! … Junges Mädchen, du bist kein Engel und du wirst im großen und ganzen wie die anderen Frauen werden. Nein, nein, ich flehe dich an; erscheine nicht wieder vor meiner drohend gefurchten Stirn. In einem Augenblick der Verwirrung könnte ich deine Arme ergreifen, sie wie gewaschene Wäsche wringen, aus der man das Wasser drückt, oder sie mit einem Krach zerbrechen wie zwei trockene Äste und sie dir dann zu essen geben, indem ich dich dazu zwinge. Ich könnte, wobei ich mit liebkosender und zärtlicher Miene deinen Kopf zwischen meine Hände nehme, meine gierigen Finger in die
Lappen deines unschuldigen Gehirns zwängen, um aus ihm, mit lächelnden Lippen, eine wirkungsvolle Salbe zu gewinnen, die meine von der ewiger Schlaflosigkeit des Lebens schmerzenden Augen wäscht. Ich könnte dich, indem ich dein Lider mit einer Nadel zusammennähe, des Blicks auf das Weltall berauben und dich unfähig machen, deinen Weg zu finden; nicht ich werde dir als Führer dienen. Ich könnte dich, indem ich deinen jungfräulichen Leib mit eisernen Armen emporhebe, bei den Beinen packen, dich um mich fliegen lassen wie eine Schleuder, und meine Kräfte zusammenfassend beim letzten Schwung dich gegen die Mauer werfen. Jeder Blutstropfen wird auf eine menschliche Brust spritzen, um die Menschen zu erschrecken und das Beispiel meiner Schlechtigkeit vor sie zu stellen! Sie werden sich ruhelos Fetzen auf Fetzen aus dem Fleisch reißen; aber der Blutstropfen bleibt unauslöschlich am selben Platz und wird leuchten wie ein Diamant. Sei ruhig, ich werde einem halben Dutzend Domestiken den Befehl geben, die verehrten Überreste deines Körpers zu bewachen und sie vor dem Hunger der reißenden Hunde zu schützen. Zweifellos ist der Körper an der Wand kleben geblieben wie einen reife Birne und nicht zu Boden gefallen; aber die Hunde bringen hohe Sprünge zuwege, wenn man sie gewähren läßt.
Zweiter Gesang, sechste Strophe Wie brav ist dieses Kind, das auf einer Bank im Garten der Tuilerien sitzt! Seine kühnen Augen heften sich an irgendeinen unsichtbaren Gegenstand in der Ferne, im Raum. Es dürfte kaum älter als acht Jahre sein, und doch belustigt es sich nicht, wie es ihm wohl anstünde. Wenigstens sollte es lachen und mit einem Gefährten herumlaufen, statt allein zu bleiben; aber so ist sein Charakter nicht. Wie brav ist dieses Kind, das auf einer Bank im Garten der Tuilerien sitzt! Ein Mann, von einer geheimen Absicht getrieben, setzt sich mit zweideutigem Verhalten neben das Kind auf dieselbe Bank. Wer ist das? Ich brauche es euch nicht zu sagen; denn ihr werdet ihn an seinen hinterhältigen Reden erkennen. Hören wir ihnen zu, stören wir sie nicht: - Woran dachtest du, Kind? - Ich dachte an den Himmel. - Du brauchst nicht an den Himmel zu denken; es reicht schon, an die Erde zu denken. Hast du es schon satt zu leben, der du kaum erst geboren bist? - Nein, aber jeder zieht den Himmel der Erde vor. - Nun ja, aber ich nicht. Denn da der Himmel ebenso wie die Erde von Gott gemacht wurde, kannst du sicher sein, dort die gleichen Übel wiederzufinden wie hier. Nach deinem Tod wirst du nicht nach deinen Verdiensten belohnt werden; denn wenn man auf dieser Welt Ungerechtigkeiten an dir verübt (wie du es später durch Erfahrung lernen wirst), gibt es keinen Grund, warum man sie im anderen Leben nicht mehr an dir verüben sollte. Am besten denkst du überhaupt nicht an Gott und verschaffst dir selbst Gerechtigkeit, da man sie dir verweigert. Wenn einer deiner Gefährten dich beleidigt, wärest du nicht glücklich, ihn zu töten? - Aber das ist verboten. - Das ist nicht so verboten, wie du glaubst. Es geht bloß darum, sich nicht erwischen zu lassen. Die Gerechtigkeit durch Gesetze taugt nichts; die Rechtsprechung des Beleidigten zählt. Wenn du einen Gefährten verabscheust, machte dich nicht die Vorstellung unglücklich, daß jeden Augnblick in der Gegenwart seiner Gedanken lebst? - Das ist wahr. - Also macht dich einer deiner Gefährten unglücklich dein ganzes Leben lang; denn wenn er sieht, daß dein Haß nur passiv ist, wird er nicht ablassen, dir die Stirn zu bieten und dir straflos Leid zufügen.
Es gibt also nur ein Mittel, diese Lage zu beenden; und zwar dies, sich seines Feindes zu entledigen. Darauf wollte ich hinaus, damit du verstehst, auf welchen Grundlagen die gegenwärtige Gesellschaft beruht. Jeder soll sich selbst Gerechtigkeit verschaffen, sonst ist er nur ein Schwachkopf. Wer den Sieg über die anderen davonträgt, ist der Schlaueste und Stärkste. Willst du nicht eines Tages deinesgleichen beherrschen? - Ja, ja. - Sei also der Stärkste und der Schlaueste. Du bist noch zu jung, um der Stärkste zu sein; aber von heute an kannst du List anwenden, das schönsten Instrument der Menschen von Genie. Als der Schäfer David den Riesen Goliath mit einem Stein aus der Schleuder an die Stirn traf, muß man da nicht bewundernd feststellen, daß David nur durch List seinen Gegner besiegt hat, und daß ihn der Riese, hätten sie sich dagegen um den Leib gefaßt, wie eine Fliege zerquetscht hätte? Das gilt auch für dich. Im offenen Krieg wirst du niemals die Menschen besiegen, über die du deinen Willen auszudehnen trachtest, aber mit List wirst du allein gegen alle kämpfen können. Du wünschst Reichtümer, schöne Paläste und Ruhm? Oder hast du mich getäuscht, als du dieses edle Streben versichertest? - Nein, nein, ich täuschte Sie nicht. Aber ich möchte das, was ich wünsche, mit anderen Mitteln erlangen. - Also wirst du überhaupt nichts erlangen. Die tugendhaften und gutherzigen Mittel führen zu nichts. Man muß energischere Hebel und ausgeklügeltere Pläne anwenden. Bevor du durch deine Tugend berühmt wirst und das Ziel erreichst, werden hundert andere die Zeit haben, auf deinem Rücken herumzutrampeln und vor dir ans Ende der Laufbahn gekommen sein, so daß sich dort kein Platz für deine kleinlichen Ideen mehr finden wird. Man muß verstehen, mit mehr Größe den Horizont der gegenwärtigen Zeit zu erfassen. Hast du zum Beispiel niemals vom unermeßlichen Ruhm reden hören, den die Siege bringen? Und dabei machen sich die Siege nicht von selbst. Man muß Blut vergießen, viel Blut, um sie zu schaffen und den Eroberern zu Füßen zu legen. Ohne die Leichen und die verstreuten Gliedmaßen, die du auf der Ebene siehst, wo sich umsichtigerweise die Schlächterei abgespielt hat, gäbe es keinen Krieg, und ohne Krieg gäbe es keinen Sieg. Du siehst, daß man, um berühmt zu werden, anmutsvoll in Ströme von Blut tauchen muß, die vom Kanonenfutter gespeist werden. Der Zweck heiligt die Mittel. Das erste, worauf es ankommt, will man berühmt werden: man muß Geld haben. Da du nun keines hast, wirst du morden
müssen, um welches zu erwerben, aber da du nicht stark genug bist, mit dem Dolch umzugehen, werde Dieb, bis deine Glieder stark genug geworden sind. Und damit sie schneller stark werden, rate ich dir, zweimal am Tag Gymnastik zu treiben, eine Stunde am Morgen, eine Stunde am Abend. Auf diese Weise kannst du dich mit sicherem Erfolg von deinem fünfzehnten Jahr an im Verbrechen versuchen, statt bis zum zwanzigsten zu warten. Die Liebe zum Ruhm entschuldigt alles, und vielleicht wirst du später, wenn du Herr über andere Menschen bist, ihnen beinahe ebenso viel Gutes tun, wie du ihnen zu Anfang Böses getan hast! … Maldoror bemerkt, wie das Blut im Kopf seines jungen Zuhörers kocht; seine Nüstern sind gebläht und die Lippen stoßen einen leichten weißen Schaum aus. Er fühlt ihm den Puls; der Pulsschlag rast. Das Fieber hat diesen zarten Körper ergriffen. Er fürchtet die Folgen seiner Worte; er macht sich davon, der Unglückliche, ärgerlich, daß er sich mit diesem Kind nicht länger hatte unterhalten können. Wenn es im reifen Alter schon schwer ist, die Leidenschaften zu beherrschen, schwankend zwischen dem Guten und dem Bösen, wie dann erst bei einem Geist, der noch voller Unerfahrenheit ist? und welche relative Menge zusätzlicher Energie braucht er dazu? Das Kind wird mit drei Tagen Bettruhe davonkommen. Gebe der Himmel, daß die mütterliche Nähe dieser empfindlichen Blume, zerbrechliche Hülle einer schönen Seele, Frieden bringe!
Zweiter Gesang, siebte Strophe Dort, unter Bäumen, von Blumen umgeben, schläft der Hermaphrodit, in tiefem Schlummer, auf dem Rasen, den seine Tränen netzen. Der Mond hat seine Scheibe aus den Wolkenmassen gelöst und streichelt mit seinen blassen Strahlen dieses zarte Jünglingsantlitz. Seine Züge drücken höchst männliche Energie aus, und haben zugleich die Anmut einer himmlischen Jungfrau. Nichts an ihm scheint natürlich, nicht einmal die Muskeln seines Leibes, die sich durch die harmonischen Umrisse weiblicher Formen hindurch abzeichnen. Er hat den Arm über die Stirn zurückgebogen, die andere Hand auf die Brust gestützt, wie um das Pochen eines Herzens zu unterdrücken, das sich aller Vertraulichkeit verschließt und mit der schweren Last eines ewigen Geheimnisses beladen ist. Des Lebens überdrüssig, voll Scham, unter Wesen zu wandeln, die ihm nicht ähneln, hat Verzweiflung sich seiner Seele bemächtigt, und er geht fort, allein, wie der Bettler des Tales. Wie verschafft er sich die Mittel zum Leben? Mitfühlende Seelen wachen über ihn aus der Nähe, ohne daß er diese Überwachung ahnt, und verlassen ihn nicht: er ist so gut! er ist so ergeben! Manchmal spricht er bereitwillig mit Menschen, die einen sensiblen Charakter haben, ohne ihre Hand zu berühren, und hält sich entfernt, aus Furcht vor einer eingebildeten Gefahr. Wenn man ihn fragt, warum er die Einsamkeit zur Gefährtin genommen habe, heben sich seine Augen zum Himmel und halten mit Mühe eine Träne des Vorwurfs gegen die Vorsehung zurück; aber er antwortet nicht auf diese unvorsichtige Frage, die im Schnee seiner Lider die Röte der Morgenrose ausbreitet. Wenn die Unterredung fortdauert, wird er unruhig, wendet die Augen zu den vier Punkten des Horizonts, wie um zu versuchen, die Gegenwart eines unsichtbaren Feindes zu fliehen, der sich nähert, winkt mit der Hand einen plötzlichen Abschied, entfernt sich auf den Flügeln seiner wachen Scham und verschwindet im Wald. Man hält ihn allgemein für einen Verrückten. Eines Tages stürzten sich vier maskierte Männer, die dazu Befehl erhalten hatten, auf ihn und knebelten ihn so gründlich, daß er nur noch die Beine bewegen konnte. Die Peitsche schlug ihre rohen Riemen über seinen Rücken, und sie sagten ihm, er solle sich unverzüglich auf den Weg nach Bicêtre begeben. Er lächelte, als er die Schläge erhielt, und sprach zu ihnen mit so viel Gefühl, so viel Intelligenz über viele humanistische Wissenschaften, die er studiert hatte und die bei ihm, der noch nicht die Schwelle der Jugend überschritten hatte, eine
große Bildung bewiesen, und er sprach über die Bestimmung der Menschheit, wobei er ganz den poetischen Adel seiner Seele enthüllte, so daß seine Wärter, bis aufs Blut erschrocken über die Tat, die sie vollbracht hatten, vor ihm auf die Knie fielen, um seine Verzeihung erbitten, die gewährt wurde, und sich mit allen Anzeichen einer Verehrung entfernten, die Menschen gewöhnlich nicht entgegengebacht wird. Seit diesem Ereignis von dem man viel sprach, wurde sein Geheimnis von jedermann erraten, aber man gibt sich den Anschein, es nicht zu kennen, um seine Leiden nicht zu vermehren; und die Regierung gewährt ihm eine Ehrenpension, um ihn vergessen zu machen, daß man ihn einmal mit Gewalt und ohne vorherige Prüfung in ein Irrenhaus hatte bringen wollen. Und er, er verbraucht die Hälfte seines Geldes; den Rest schenkt er den Armen. Wenn er einen Mann und eine Frau sieht, die in einer Platanenallee spazierengehen, spürt er, wie sich sein Leib von oben bis unten in zwei Teile aufspaltet, und wie jeder Teil eilt, einen der Spaziergänger zu umarmen; aber es ist nur eine Halluzination, und die Vernunft nimmt unverzüglich ihren Thron wieder ein. Darum mischt er seine Gegenwart weder unter Männer, noch unter Frauen; denn seine übermäßige Scham, die aus der Idee entstand, daß er nichts als ein Monstrum sei, hindert ihn, seine brennende Sympathie wem auch immer zu schenken. Er empfände dies als eine Schändung seiner selbst wie auch der anderen. Sein Stolz wiederholt ihm dieses Axiom: »Jeder soll in seiner Natur bleiben.« Sein Stolz, habe ich gesagt, weil er fürchtet, daß man ihm, verbände er sein Leben mit einem Mann oder einer Frau, früher oder später die Bildung seines Organismus als ungeheuren Fehler vorwerfen würde. So zieht er sich in seine Eigenliebe zurück, beleidigt durch diese unfromme Annahme, die nur von ihm selbst stammt, und er beharrt darauf, allein zu bleiben, voll Kummer und ohne Trost. Dort, unter Bäumen, von Blumen umgeben, schläft der Hermaphrodit, in tiefem Schlummer, auf dem Rasen, den seine Tränen netzen. Die munteren Vögel betrachten hingerissen durch die Zweige der Bäume dieses melancholische Gesicht, und die Nachtigall will ihre kristallenen Kavatinen nicht erschallen lassen. Die nächtliche Gegenwart des unglücklichen Hermaphroditen macht den Wald erhaben wie ein Grab. O irrender Reisender, bei deinem Abenteuergeist, der dich veranlaßt hat, in zartestem Alter deinen Vater und deine Mutter zu verlassen; bei den Leiden, die dein Durst dir in der Wüste bereitet hat; bei deinem Land, das du vielleicht suchst, nachdem du lange herumgeirrt bist, verfemt, in fremden Ländern; bei deinem Roß, deinem treuen Freund, der mit
dir das Exil und die Unbilden des Wetters ertragen hat, die dein Vagabundentemperament dich durcheilen hieß; bei der Würde, die Reisen in ferne Länder und unerforschte Meere inmitten polarer Gletscher, oder unter dem Einfluß einer brennenden Sonne dem Menschen verleihen, berühre nicht mit deiner Hand, wie mit dem leisen Beben der Brise, diese Haarlocken, die sich, ausgebreitet auf dem Boden, mit dem grünen Gras vermengen. Entferne dich um mehrere Schritte, und so wirst du besser handeln. Dieses Haar ist geheiligt; der Hermaphrodit selbst hat es so gewollt. Er will nicht, daß menschliche Lippen in religiöser Verehrung seine Haare berühren, die nach dem Hauch der Berge duften, ebensowenig wie seine Stirn, die in diesem Augenblick wie die Sterne des Firmaments strahlt. Aber es ist besser zu glauben, daß ein Stern selbst von seiner Bahn herabgekommen sei, durch den Raum, auf diese majestätische Stirn, die er mit seiner diamantenen Klarheit wie eine Aureole umgibt. Die Nacht, die mit dem Finger seine Traurigkeit fortwischt, bekleidet sich mit all ihrem Zauber, um den Schlaf dieser Inkarnation der Scham zu feiern, dieses vollkommene Bild der Unschuld der Engel: das Summen der Insekten ist weniger hörbar. Die Zweige neigen ihre buschige Höhe über ihn, um ihn vor dem Tau zu bewahren, und der Windhauch, der die Saiten seiner melodischen Harfe klingen läßt, schickt seine fröhlichsten Akkorde durch die allgemeine Stille zu seinen gesenkten Lidern, die glauben, reglos dem rhytmischen Konzert schwebenden Welten beizuwohnen. Er träumt, er sei glücklich; seine körperliche Natur habe sich geändert; oder wenigstens, er sei auf einer Purpurwolke zu einer anderen Sphäre aufgeflogen, die Wesen von seiner Natur bewohnen. Ach! seine Illusion möge bis zum Anbruch der Morgenröte währen! Er träumt, daß die Blumen im Kreis um ihn tanzen wie riesige, wilde Girlanden, und ihn mit ihren lieblichen Düften tränken, während er eine Lobeshymne singt in den Armen eines Menschenwesens von magischer Schönheit. Aber es ist nur ein Dunst der Morgendämmerung, den seine Arme umschließen; und wenn er erwacht, werden seine Arme ihn nicht mehr umschlingen. Erwache nicht, Hermaphrodit, erwache noch nicht, ich flehe dich an. Warum willst du mir nicht glauben? Schlafe … schlafe weiter. Daß deine Brust sich hebt, wenn sie die chimärische Hoffnung des Glücks verfolgt, gestatte ich dir; aber öffne nicht deine Augen! Ach, öffne nicht deine Augen! ich will dich so verlassen, um nicht Zeuge deines Erwachens zu sein. Vielleicht werde ich, mittels eines umfangreichen Buches, eines Tages auf bewegten Seiten deine Geschichte erzählen, erschüttert von dem,
was sie enthält und von den Lehren, die daraus hervorgehen. Bisher habe ich es nicht gekonnt: denn jedesmal, wenn ich es wollte, fielen überreichlich Tränen auf das Papier, und meine Finger zitterten, und das nicht vor Alter. Aber ich will schließlich den Mut aufbringen. Ich bin entrüstet, nicht mehr Nerven als eine Frau zu haben und jedesmal in Ohnmacht zu fallen wie ein kleines Mädchen, wenn ich an dein großes Unglück denke. Schlafe … schlafe weiter; aber öffne nicht deine Augen. Ach, öffne nicht deine Augen! Lebe wohl, Hermaphrodit! Nicht einen Tag werde ich es versäumen, für dich zum Himmel zu beten (für mich betete ich nicht). Daß Friede sei in deiner Brust!
Zweiter Gesang, achte Strophe Wenn eine Frau mit Sopranstimme ihre klangvollen und melodischen Töne erklingen läßt, füllen sich meine Augen beim Hören dieser menschlichen Harmonie mit einer verborgenen Flamme und sprühen schmerzvolle Funken, während in meinen Ohren die Sturmglocke der Kanonade zu dröhnen scheint. Woher mag diese tiefe Abneigung gegen alles kommen, was mit dem Menschen zu tun hat? Wenn die Akkorde von den Fasern eines Instruments aufsteigen, höre ich mit Lust diese perlenden Töne, die in Kadenzen durch die elastischen Wellen der Atmosphäre dringen. Die Wahrnehmung übermittelt meinem Gehör nur den Eindruck einer Nerven und Denken schmelzenden Süße; eine unaussprechliche Schläfrigkeit umhüllt mit ihrem magischen Mohn wie mit einem Schleier, der das Licht des Tages filtert, die aktive Macht meiner Sinne und die lebendigen Kräfte meiner Einbildung. Man erzählt, ich sei in den Armen der Taubheit geboren! In der ersten Zeit meiner Kindheit hörte ich nicht, was man mir sagte. Nachdem es unter größten Schwierigkeiten gelungen war, mir das Sprechen beizubringen, konnte ich nur, wenn ich zuvor auf einem Blatt gelesen hatte, was jemand schrieb, meinerseits den Faden meiner Überlegungen mitteilen. Eines Tages, eines verhängnisvollen Tages, wuchs ich an Schönheit und Unschuld heran; und jeder bewunderte die Intelligenz und Güte des göttlichen Jünglings. Viele Gewissen erröteten, wenn sie diese klaren Züge betrachteten, in denen seine Seele ihren Thron aufgestellt hatte. Man näherte sich ihm nur mit Ehrfurcht, weil man in seinen Augen den Blick eines Engels sah. Aber nein, ich wußte mehr als genau, daß die glücklichen Rosen der Jugend nicht immerfort, zu kapriziösen Girlanden geflochten, auf seiner bescheidenen und edle Stirn blühen würden, die alle Mütter inbrünstig küßten. Es begann mir zu dämmern, daß das Weltall mit seinem gestirnten Gewölbe voll unerschütterlicher und herausfordernder Globen vielleicht nicht das war, was ich als so großartig erträumt hatte. Eines Tages also, müde, mit dem Fuß den steilen Pfad der irdischen Reise auszutreten und schwankend wie ein Betrunkener die finsteren Katakomben des Lebens zu durchwandern, hob ich langsam meine spleenigen, in große bläuliche Ringe eingeschlossenen Augen zur Bogenrundung des Firmaments, und ich wagte, jung wie ich war, die Geheimnisse des Himmels zu durchdringen. Da ich nicht fand, was ich suchte, hob ich das verstörte Auge höher, noch höher, bis ich einen Thron sah,
aus menschlichen Exkrementen und Gold gebildet, auf dem mit idiotischem Stolz, den Leib mit einem Leichentuch aus ungewaschenen Krankenhauslaken bedeckt, jener thronte, der sich selbst den Schöpfer nennt! Er hielt in der Hand den verfaulten Rumpf eines toten Menschen und führte ihn abwechselnd von den Augen zur Nase und von der Nase zum Mund; einmal am Mund, man errät, was er damit tat. Seine Füße steckten in einem endlosen Teich von kochendem Blut, durch dessen Oberfläche sich plötzlich, wie Bandwürmer durch den Inhalt eines Nachttopfes, zwei oder drei vorsichtige Köpfe schoben, um sofort pfeilschnell wieder unterzutauchten: ein Fußtritt, gut auf das Nasenbein gezielt, war die bekannte Belohnung für die Revolte gegen die Ordnung, durch das Bedürfnis hervorgerufen, eine andere Atmosphäre zu atmen; denn schließlich waren diese Menschen keine Fische! Bestenfalls Amphibien, schwammen sie zwischen zwei Wassern in dieser ekelhaften Flüssigkeit! … bis dann der Schöpfer, da er nichts mehr in Hand hatte, mit den beiden vordersten Krallen des Fußes einen anderen Taucher beim Hals ergriff, wie mit einer Zange, und ihn in die Luft hob, heraus aus dem rötlichen Schlick, der köstlichen Soße! Mit diesem verfuhr er genauso wie mit dem anderen. Erst verschlang er seinen Kopf, die Beine und die Arme, und zuletzt den Rumpf, bis nichts mehr übrig blieb, denn er knabberte die Knochen. Und immer so fort, die übrigen Stunden seiner Ewigkeit hindurch. Zuweilen rief er: »Ich habe euch geschaffen; also habe ich das Recht, mit euch zu machen, was ich will. Ihr habt mir nichts getan, ich behaupte nicht das Gegenteil. Ich lasse euch leiden, und zwar zu meinem Vergnügen.« Und er nahm seine grausame Mahlzeit wieder auf, indem er seinen Unterkiefer in Bewegung versetzte, der wiederum seinen mit Hirnmasse besudelten Bart bewegte. O Leser, läuft dir nicht beim letzten Detail das Wasser im Munde zusammen? Nicht jeder, der möchte, kann sich das leisten, so ein Gehirn, so gut, ganz frisch, gerade vor einer Viertelstunde aus dem Fisch-Teich geangelt. Die Glieder gelähmt, die Kehle stumm, sah ich einige Zeit diesem Schauspiel zu. Dreimal wäre ich beinahe auf den Rücken gefallen, wie ein Mensch, der einer zu starken Erschütterung unterliegt; dreimal gelang es mir, wieder auf die Füße zu kommen. Nicht eine Faser meines Körpers blieb unbewegt; und ich bebte, wie die Lava innen in einem Vulkan bebt. Endlich konnte meine zusammengepreßte Brust die Luft, die Leben gibt, nicht hinlänglich schnell entweichen lassen. Die Lippen meines Mundes öffneten sich, und ich stieß einen Schrei aus … einen so durchdringenden Schrei … daß ich ihn hörte! Die Fesseln
meines Ohres lösten sich mit einem Schlag, das Trommelfell krachte unter dem Schock dieser Masse tönender Luft, die mit Energie weit von mir gestoßen wurde, und ein neues Phänomen zeigte sich im von der Natur verurteilten Organ. Ich hatte soeben einen Laut gehört! Ein fünfter Sinn offenbarte sich mir! Aber welches Vergnügen hätte ich durch eine solche Entdeckung finden können? Der menschliche Ton drang von jetzt an nur noch mit dem Gefühl des Schmerzes an mein Ohr, des Schmerzes, den das Mitleid mit einer großen Ungerechtigkeit hervorruft. Wenn jemand zu mir sprach, erinnerte ich mich daran, was ich eines Tages oben, über den sichtbaren Sphären, geschaut hatte, und an die Übertragung meines erstickten Gefühls in einen wilden Schrei, dessen Klang mit dem meiner Mitmenschen identisch war! Ich konnte ihm nicht antworten; denn die in diesem gräßlichen Purpurmeer an der menschlichen Schwäche verübten Foltern gingen vor meiner Stirn vorüber und brüllten wie gehäutete Elephanten und streiften mit ihren Feuerflügeln über meine versengten Haare. Später, als ich die Menschheit besser kannte, gesellte sich zu diesem Gefühl von Mitleid eine heftige Wut gegen diese stiefmütterliche Tigerin, deren verstockte Kinder nur fluchen und Böses tun können. Dreistigkeit der Lüge! sie sagen, das Böse komme bei ihnen nur ausnahmsweise vor! … Jetzt ist es lange vorbei; schon lange richte ich an niemanden mehr das Wort. O ihr, wer ihr auch seid, in meiner Nähe sollen die Bänder eurer Stimmritze keine Intonation ausstoßen; euer unbeweglicher Kehlkopf soll sich nicht anstrengen, die Nachtigall zu übertreffen; und ihr selbst sollt keinesfalls versuchen, mir eure Seele mit Hilfe der Stimme bekannt zu machen. Bewahrt ein andächtiges Schweigen, das nichts brechen soll, kreuzt demütig eure Hände auf der Brust und senkt Eure Lider. Ich habe es euch gesagt, seit der Vision, die mich die höchste Wahrheit hat erkennen lassen, haben zu viele Albträume mir gierig an meiner Kehle gesaugt, des Tags und in der Nacht, als daß ich noch den Mut hätte, sei es auch nur in Gedanken, die Leiden zu erneuern, die ich zu jener höllischen Stunde erlitt, deren Erinnerung mich unablässig verfolgt. O! wenn ihr die Lawinen von den Gipfeln des kalten Gebirges fallen hört; hört, wie die Löwin in der dürren Wüste den Verlust ihrer Jungen beklagt; wie der Sturm sein Schicksal erfüllt; wie am Tag vor der Guillotine der Verurteilte im Gefängnis rast; und wie der wilde Krake den Wogen des Meeres von seinen Siegen über Schwimmer und Schiffbrüchige erzählt, sagt doch, sind nicht diese
majestätischen Stimmen schöner als das hämische Gekicher der Menschen!
Zweiter Gesang, neunte Strophe Es gibt ein Insekt, das die Menschen auf ihre Kosten ernähren. Sie sind ihm nichts schuldig, aber sie fürchten es. Dieses Insekt, das nicht den Wein liebt, sondern das Blut vorzieht, wäre imstande, befriedigte man nicht seine legitimen Bedürfnisse, durch eine okkulte Macht so groß wie ein Elephant zu werden und die Menschen wie Ähren zu zertreten. Auch muß man sehen, wie man es respektiert, wie man es mit hündischer Ehrerbietung umgibt, wie man es in höchster Wertschätzung über die Tiere der Schöpfung stellt. Man gibt ihm den Kopf zum Thron, und es hakt mit Würde seine Krallen an die Wurzeln der Haare. Später, wenn es fett ist und in ein fortgeschrittenes Alter kommt, tötet man es, die Sitte eines alten Volkes nachahmend, um es nicht die Beeinträchtigungen des Alters spüren zu lassen. Man bestattet es prunkvoll, wie einen Helden, und die Bahre, die es direkt zum Deckel der Gruft schafft, wird von den vornehmsten Bürgern auf den Schultern getragen. Auf der feuchten Erde, die der Totengräber mit seiner findigen Schaufel bewegt, stellt man bunte Reden über die Unsterblichkeit der Seele zusammen, über die Nichtigkeit des Lebens, über den unerforschlichen Willen der Vorsehung, und der Marmor schließt sich auf immer über dieser arbeitsam erfüllten Existenz, die nur noch eine Leiche ist. Die Menge zerstreut sich, und die Nacht bedeckt alsbald die Mauern des Friedhofs mit ihren Schatten. Aber tröstet euch, Menschen, über diesen schmerzlichen Verlust. Da naht seine unzählige Familie, die es euch großherzig überlassen hat, damit eure Verzweiflung weniger bitter sei, wie versüßt durch die angenehme Gegenwart dieser bissigen Mißgeburten, die später großartige Läuse sein werden, bemerkenswert schöne Läuse, Ungeheuer mit dem Verhalten der Weisen. Es hat mehrere Dutzend geliebte Eier unter seinen mütterlichen Flügeln in euren durch das hartnäckige Saugen dieser fürchterichen Fremden vertrockneten Haaren ausgebrütet. Prompt kam auch die Zeit, da die Eier aufplatzten. Fürchtet nichts, sie werden nicht säumen, während des flüchtigen Lebens zu wachsen, diese philosophischen Jünglinge. Sie werden so wachsen, daß sie es euch mit ihren Krallen und Saugrüsseln spüren lassen. Ihr wißt nicht, warum sie nicht die Knochen eures Kopfes verschlingen, und sich damit begnügen, die Quintessenz eures Blutes mit ihrer Pumpe herauszuholen. Wartet einen Augenblick, ich werde es euch sagen: darum, weil sie nicht die Kraft dazu haben. Seid sicher, entsprächen ihre Kiefer dem Maß ihrer
unendlichen Wünsche, verschwände das Gehirn, die Netzhaut der Augen, die Wirbelsäule, euer ganzer Körper zwischen ihnen. Wie ein Wassertropfen. Beobachtet mit einem Mikroskop auf dem Kopf eines jungen Straßenbettlers eine Laus an der Arbeit; ihr werdet mir euer Ergebnis mitteilen. Unglücklicherweise sind sie klein, diese Briganten der langen Haare. Sie taugen nicht zu Rekruten, denn sie haben nicht die vom Gesetz geforderte Mindestgröße. Sie gehören zur Liliputwelt der Kurzschenkligen, und die Blinden zögern nicht, sie unter die unendlich Kleinen zu rechnen. Wehe dem Pottwal, der sich mit einer Laus schlüge. Er würde trotz seiner Größe im Handumdrehn verschlungen. Es bliebe nicht einmal der Schwanz übrig, um die Neuigkeit zu verkünden. Der Elefant läßt sich streicheln. Die Laus nicht. Ich rate euch nicht, diesen gefährlichen Versuch zu wagen. Vorsicht, wenn eure Hand behaart ist oder wenn sie nur aus Haut und Knochen besteht. Es ist um eure Finger geschehen. Sie werden knacken, als lägen sie unter der Folter. Die Haut verschwindet durch einen seltsamen Zauber. Die Läuse sind unfähig, so viel Böses anzurichten, wie ihre Einbildungskraft ausheckt. Wenn ihr eine Laus auf eurem Weg findet, geht weiter und leckt ihr nicht die Zungenwärzchen. Irgendein Unglück würde euch zustoßen. Man hat dergleichen gesehen. Macht nichts, ich bin schon zufrieden mit der Menge an Bösem, das sie dir zufügt, o menschliche Rasse; nur wünschte ich, sie fügte dir noch mehr zu. Bis wann wirst du den wurmstichigen Kult dieses Gottes bewahren, der deinen Gebeten gegenüber unempfindlich ist, deinen großzügigen Opfergaben gegenüber, die du ihm als gewaltiges Sühneopfer bietest? Siehe, er ist nicht dankbar, dieser schreckliche Manitu, für diese großen Becher voll Blut und Gehirn, die du auf seinen fromm mit Blumengirlanden geschmückten Altären ausgießt. Er ist nicht dankbar … denn die Erdbeben und die Stürme wüten fort seit dem Anfang aller Dinge. Und doch – ein Schauspiel wert der Beobachtung – bewunderst du ihn um so mehr, je gleichgültiger er sich zeigt. Man sieht, daß du seinen Attributen, die er verbirgt, mißtraust; und deine Überlegung stützt sich auf diesen Gedanken, daß nur eine Gottheit von größter Macht ihren Gläubigen gegenüber, die ihrer Religion folgen, soviel Verachtung zeigen kann. Darum gibt es in jedem Land verschiedene Götter, hier das Krokodil, dort die Liebeshändlerin; aber wenn es sich um die Laus handelt, knien alle Völker, die gewöhnlich die Ketten ihrer Sklaverei küssen, gemeinsam vor diesem heiligen Namen, im Vorhof des Tempels, vor dem Sockel des unförmigen und blutdürstigen Idols. Das Volk, das nicht den eigenen kriecherischen Instinkten
gehorchte und sich zu revoltieren anschickte, verschwände früher oder später von der Erde wie ein Herbstblatt, vernichtet durch die Rache des unerbittlichen Gottes. Laus mit dem geschrumpften Augapfel, solange die Flüsse das Gefälle ihrer Wasser in die Abgründe des Meeres ergießen; solange die Gestirne auf dem Weg ihrer Kreisbahn dahinziehen; solange die schweigende Leere keinen Horizont hat; solange die Menschheit ihre eigenen Flanken durch verheerende Kriege zerfleischt; solange die göttliche Gerechtigkeit ihre Racheblitze auf diesen egoistischen Erdball schleudert; solange der Mensch seinen Schöpfer verleugnet und ihm die Stirn bietet, nicht ohne Grund, wobei er Verachtung hinzumischt, wird deine Herrschaft über das Weltall gesichert sein, und deine Dynastie wird ihre Jahresringe von Jahrhundert zu Jahrhundert ausweiten. Ich grüße dich, aufgehende Sonne, himmlische Befreierin, dich, die unsichtbare Feindin des Menschen. Fahre fort, der Schmutzigkeit aufzugeben, sich weiter mit ihm in unreinen Umarmungen zu vereinen, und ihm mit Schwüren, die nicht in den Staub geschrieben sind, zu schwören, daß sie bis in alle Ewigkeit seine treue Geliebte bleiben werde. Küsse von Zeit zu Zeit das Gewand dieser großen Schamlosen, im Gedenken der wichtigen Dienste, die sie dir unfehlbar leistet. Verführte sie nicht den Menschen mit ihren lasziven Brüsten, wäre es wahrscheinlich, daß du nicht existieren könntest, du, das Produkt dieser vernünftigen und foleerichtigen Verbindung. O Tochter der Schmutzigkeit! sage deiner Mutter, daß sie, verließe sie das Lager der Menschen und folgte sie einsamen Straßen, sich allein und ohne Stütze in ihrer Existenz gefährdet sähe. Daß ihre Eingeweide, die dich neun Monate in ihren duftenden Wänden getragen haben, einen Augenblick beim Gedanken an die Gefahren erschüttert würden, die ihre zarte Frucht, so brav und ruhig, und doch schon kalt und wild, sodann liefe. Schmutzigkeit, Königin der Weltreiche, bewahre für die Augen meines Hasses das Schauspiel des unmerklichen Anwachsens der Muskeln deiner hungrigen Nachkommenschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchst du dich nur, wie du weißt, noch enger an die Flanken des Menschen zu pressen. Du kannst es ohne Nachteil für die Scham tun, da ihr beide seit langem miteinander verheiratet seid. Wenn es mir gestattet ist, einige Worte zu dieser Lobeshymne hinzuzufügen, werde ich sagen, daß ich, meinerseits, eine Grube habe ausheben lassen, vierzig Quadratmeilen groß, und entsprechend tief. Dort ruht in in ihrer unreiner Jungfräulichkeit eine lebende Mine von Läusen. Sie füllt den Boden der Grube und
schlängelt sich dann in großen prallen Adern nach allen Richtungen. Und so habe ich diese künstliche Mine konstruiert: Ich riß eine weibliche Laus aus den Haaren der Menschheit. Man hat mich an drei aufeinanderfolgenden Nächten mit ihr schlafen sehen, und ich warf sie in die Grube. Die Befruchtung durch den Menschen, die in anderen derartigen Fällen nichts gegolten hätte, wurde dieses Mal vom Verhängnis angenommen; und nach einigen Tagen wurden Tausende von Monstren dem Licht geboren, wimmelnd in einem kompakten Materieknoten. Dieser ekelhafte Knoten wurde mit der Zeit immer riesenhafter, wobei er die flüssige Eigenschaft des Quecksilbers annahm, und verzweigte sich in mehrere Arme, die sich gegenseitig dadurch ernähren, daß sie einander verschlingen, (die Geburtenrate ist größer als die Sterbeziffer), wenn ich ihnen nicht gerade einen frischgeborenen Bastard, dessen Mutter seinen Tod wünschte, oder einen Arm, den ich irgendeinem jungen Mädchen dank des Chloroforms während der Nacht abschneiden werde, zum Fraß vorwerfe. Alle fünfzehn Jahre schwinden die Generationen der Läuse, die sich vom Menschen ernähren, beträchtlich, und sie selbst sehen voraus, daß unfehlbar die Zeit ihrer vollständigen Vernichtung naht. Denn es gelingt dem Menschen, der klüger ist als sein Feind, ihn zu besiegen! Dann hole ich mit einer höllischen Schaufel, die meine Kräfte vermehrt, aus dieser unerschöpflichen Mine Blöcke von Läusen heraus, groß wie Berge, zerbreche sie mit Hackenschlägen und schaffe sie in tiefster Nacht in die Adern der Städte. Dort lösen sie sich bei der Berührung mit der menschlichen Temperatur auf wie zu den ersten Tagen ihrer Entstehung in den gewundenen Gängen der unterirdischen Mine, graben sich ein Bett in den Kies und verteilen sich in Bächen in die Wohnungen wie Quälgeister. Der Wächter des Hauses bellt dumpf, denn ihm scheint, daß eine Legion unbekannter Wesen die Poren der Wände durchbricht und den Schrecken auf das Kopfkissen des Schlafs trägt. Vielleicht habt auch ihr wenigstens einmal im Leben diese Art schmerzlichen und langgezogenen Bellens gehört. Mit seinen ohnmächtigen Augen versucht er, das Dunkel der Nacht zu durchdringen; denn sein Hundegehirn begreift das nicht. Dieses Gesumm irritiert ihn, und er wittert Verrat. Millionen von Feinden fallen so auf jede Stadt nieder wie Heuschreckenwolken. Das reicht für fünfzehn Jahre. Sie werden den Menschen bekämpfen, indem sie ihm stechende Wunden schlagen. Nach dieser Zeitspanne werde ich andere schicken. Wenn ich die Blöcke lebender Materie zerkleinere, kann es vorkommen, daß ein Bruchstück dichter ist als das andere. Seine
Atome strengen sich wütend an, die Zusammenballung aufzulösen, um die Menschen quälen zu gehen; aber die Kohärenz widersteht mit ihrer Festigkeit. Durch eine äußerste Konvulsion bringen sie eine solche Wirkung hervor, daß der Stein, der seine lebenden Prinzipien nicht verstreuen kann, sich selbst hoch in die Lüfte schleudert wie durch die Wirkung des Pulvers, und zurüchfällt, wobei er sich tief in den Boden gräbt. Zuweilen bemerkt der vor sich hin träumende Landmann, wie ein Aerolith senkrecht den Raum spaltet und nach unten zu ein Maisfeld ansteuert. Er weiß nicht, woher der Stein kommt. Ihr habt nun, klar und knapp, die Erklärung des Phänomens. Wäre die Erde mit Läusen bedeckt wie das Ufer des Meeres mit Sandkörnern, würde die menschliche Rasse vernichtet sein, eine Beute schrecklicher Schmerzen. Welch Schauspiel! Ich mit Engelsflügeln reglos in den Lüften, um es zu betrachten.
Zweiter Gesang, zehnte Strophe O strenge Mathematik, ich habe dich nicht vergessen, seit ich deine gelehrten Lektionen, süßer als Honig, wie eine erfrischende Woge in mein Herz drangen. Von der Wiege an trachtete ich instinktiv, an deiner Quelle zu trinken, die älter ist als die Sonne, und ich setze weiter den Fuß auf den geheiligten Vorhof deines feierlichen Tempels, ich, der treueste deiner Eingeweihten. Es gab Vagheiten in meinem Geist, irgend etwas, ich weiß nicht was, dick wie Rauch; aber ich wußte gewissenhaft die Grade zu durchschreiten, die an deinen Altar führen, und du hast den finsteren Schleier verjagt, wie der Wind die Kaptaube vertreibt. Du hast an seine Stelle eine äußerste Kälte gesetzt, eine vollkommene Vorsicht und eine unerschütterbare Logik. Mit Hilfe deiner stärkenden Milch hat sich meine Intelligenz schnell entwickelt und unerhörte Ausmaße angenommen, in dieser hinreißenden Klarheit, die du verschwenderisch denen zum geschenk machst, die dich mit aufrichtiger Liebe lieben. Arithmetik! Algebra! Geometrie! grandiose Dreifaltigkeit! leuchtendes Dreieck! Wer euch nicht gekannt hat, ist ein Narr! Er verdiente Heinsuchung durch die größten Martern; denn es liegt blinde Verachtung in seiner unwissenden Sorglosigkeit; aber wer euch kennt und euch schätzt, begehrt die irdischen Güter nicht mehr; sondern begnügt sich mit euren magischen Genüssen; und von euren dunklen Flügeln getragen, wünscht er nur noch, sich in leichtem Flug zu erheben, eine steigende Schraubenlinie hinauf zum sphärischen Himmelsgewölbe zu beschreiben. Die Erde zeigt ihm nur Illusionen und moralische Phantasmagorien; aber ihr, bündige mathematische Wissenschaften, ihr werft durch die strenge Verkettung eurer zuverlässigen Sätze und die Konstanz eurer eisernen Gesetze in die geblendeten Augen einen kraftvollen Widerschein dieser höchsten Wahrheit, deren Gepräge man in der Ordnung des Weltalls bemerkt. Aber die Ordnung, die euch umgibt, dargestellt vor allem durch die vollendete Regelmäßigkeit des Quadrats, des Freundes des Pythagoras, ist noch größer; denn der Allmächtige hat sich und seine Attribute in dieser denkwürdigen Arbeit vollständig offenbart, die darin bestand, aus den Eingeweiden des Chaos eure Schätze an Theoremen und eure großartigen Herrlichkeiten zu extrahieren. Im Altertum und in moderner Zeit sah mehr als eine große menschliche Vorstellungskraft ihr Genie bei der Betrachtung eurer symbolischen Figuren erschüttert; Figuren, auf brennend heißes Papier geworfen
als mysteriöse Zeichen, aus dem verborgenen Atem lebend, die der Profane nicht versteht, nichts anderes als die blendende Offenbarung der Axiome und der ewigen Hieroglyphen, die vor dem Weltall existierten und die über es hinaus bestehen bleiben werden. Sie fragt sich, über den Abgrund eines verhängnisvollen Fragezeichens gebeugt, wie es kommt, daß die mathematischen Wissenschaften so viel beeindruckende Größe enthalten und so viel unbestreitbare Wahrheit, während sie, wenn sie diese mit dem Menschen vergleicht, in diesem letzterem nur falschen Stolz und Lüge findet. Da läßt dieser überlegene Geist, den die edle Vertrautheit eurer Ratschläge nur noch stärker die Kleinheit und unvergleichliche Narrheit der Menschen empfinden läßt, traurig sein erbleichtes Haupt auf eine magere Hand sinken und verharrt in übernatürlichen Meditationen. Er beugt seine Knie vor euch, und seine Verehrung huldigt eurem göttlichen Angesicht als dem wahren Abbild des Allmächtigen. Während meiner Kindheit erschient ihr mir in einer Maiennacht, im Mondenschein, auf einer grünenden Wiese, am Ufer eines lebhaften Baches, alle drei gleich voll Anmut und Scham, alle drei gleichermaßen voll Majestät wie Königinnen. Ihr tatet einige Schritte auf mich zu, in eurem langen Gewand, fließend wie Dampf, und ihr zogt mich wie einen gesegneten Sohn an eure stolzen Brüste. Da warf ich mich eilends in eure Arme und klammerte die Hände an eure weiße Brust. Ich habe mich voll Dankbarkeit an eurem fruchtbaren Manna genährt, und ich habe gespürt, wie die Menschheit in mir wuchs und besser wurde. Seit dieser Zeit, rivalisierende Göttinnen, habe ich euch nicht verlassen. Wieviele energische Projekte, wieviele Sympathien, die ich glaubte, auf die Seiten meines Herzens wie auf Marmor graviert zu haben, sind nicht seit dieser Zeit aus meiner enttäuschten Vernunft mit ihren gestalteten Linien verschwunden, wie die aufziehende Morgenröte die Schatten der Nacht verschwinden läßt! Seit dieser Zeit habe ich den Tod gesehen, wie er in seiner, dem bloßen Auge erkennbaren Absicht, die Gräber zu bevölkern, die von Menschenblut durchtränkten Schlachtfelder verheert, und frische Blumen aus den Totengebeinen sprießen läßt. Seit dieser Zeit habe ich den Revolutionen unseres Globus beigewohnt; Erdbeben, Vulkane mit ihrer glühenden Lava, der Wüstensturm und Schiffbrüche im Orkan haben meine Gegenwart zum unbewegten Zuschauer gehabt. Seit dieser Zeit habe ich mehrere Menschengenerationen am Morgen die Flügel und die Augen dem Raum entgegenheben sehen, mit der unerfahrenen Freude der Schmetterlingspuppe, die ihre letzte Metamorphose
begrüßt, und am Abend sterben sehen, vor Sonnenuntergang, den Kopf gesenkt wie verwelkte Blumen, die das klagende Pfeifen des Windes wiegt. Aber ihr, ihr bleibt euch immer gleich. Keine Veränderung, keine Pesthauch streift die schroffen Felsen und die unermeßlichen Täler eurer Identität. Eure bescheidenen Pyramiden werden länger dauern als die Pyramiden Ägyptens, Ameisenhaufen, errichtet von Stumpfsinn und Sklaverei. Das Ende der Zeiten wird auf den Ruinen eure kabbalistischen Ziffern noch bestehen sehen, eure lakonischen Gleichungen und eure gemeißelten Linien, sitzend zur rächenden Rechten des Allmächtigen, während die Sterne versinken, hoffnungslos, wie Windhosen, in der Ewigkeit einer allumfassenden, schrecklichen Nacht, und die Menschheit unter Grimassen versucht, mit dem Jüngsten Gericht ins reine zu kommen. Dank für die unzähligen Dienste, die ihr mir geleistet habt. Dank für die seltsamen Eigenschaften, mit denen ihr meine Intelligenz bereichert habt. Ohne euch wäre ich in meinem Kampf gegen den Menschen vielleicht besiegt worden. Ohne euch hätte er mich im Sand rollen und den Staub seiner Füße küssen lassen. Ohne euch hätte er mit perfider Kralle mein Fleisch und meine Knochen umgepflügt. Aber ich habe acht gegeben wie ein erfahrener Ringkämpfer. Ihr verlieht mir die Kälte, die aus eurem erhabenen, von Leidenschaften freien Begriffe steigt. Ich habe mich ihrer bedient, um mit Verachtung die flüchtigen Vergnügungen meiner kurzen Reise zu verwerfen, und die angenehmen, aber täuschenden Angebote meiner Mitmenschen von der Tür zu weisen. Ihr gabt mir die beharrliche Vorsicht, die man auf jedem Schritt in euren bewunderswerten Methoden der Analyse, der Synthese und der Deduktion entdeckt. Ich bediente mich ihrer, um die gefährlichen Ränke meines Todfeindes abzuwenden, um ihn meinerseits mit Geschick anzugreifen, und um in die Eingeweide des Menschen einen spitzen Dolch zu senken, der auf immer in seinem Körper steckenbleiben wird; denn es ist eine Wunde, von der er sich nicht mehr erholt. Ihr gabt mir die Logik, voll Weisheit, wie die Seele selbst eurer Lehren; mit ihren Syllogismen, deren verwickeltes Labyrinth nur um so verständlicher ist, fühlte meine Intelligenz sich auf das Doppelte ihrer wagemutigen Kräfte anwachsen. Mit diesem furchtbaren Instrument entdeckte ich in der Menschheit, da ich tief hinabtauchte, dem Riff des Hasses gegenüber die schwarze und scheußliche Bosheit, die mitten in verderblichen Miasmen vermodert und ihren Nabel bestaunt. Als erster entdeckte ich in den Finsternissen ihrer Eingeweide diese verhängnisvolle Sünde, das Böse! als solches dem Guten überlegen.
Mit dieser vergifteten Waffe, die ihr mir lieht, stürtzte ich den Schöpfer selbst von seinem Sockel, den ihm die Feigheit des Menschen errichtete! Er knirschte mit den Zähnen und erlitt diese schmachvolle Beschimpfung; denn er hatte jemanden zum Gegner, der stärker war als er selbst. Aber ich will ihn beiseite lassen wie ein Bindfadenknäuel, um meinen Flug zu senken … Der Denker Descartes stellte einmal die Überlegung an, daß nichts Haltbares auf euch errichtet worden sei. Das war eine geschickte Art, zu verstehen zu geben, daß nicht sofort der erste beste euren unschätzbaren Wert entdecken konnte. Was kann es denn wirklich Solideres geben als die schon genannten drei Grundqualitäten, die sich, wie zu einer einzigen Krone untereinander verbunden, auf den erhabenen Gipfel eurer kolossalen Architektur erheben? Ein Monument, das ununterbrochen um tägliche Entdeckungen in euren prachtvollen Domänen wächst. O heilige Mathematik, könntest du durch deinen dauernden Verkehr den Rest meiner Tage über die Bosheit des Menschen und die Ungerechtigkeit des Allmächtigen trösten!
Zweiter Gesang, elfte Strophe »O Lampe mit silbernem Schnabel, Gefährtin des Kathedralengewölbes, meine Augen sehen dich in den Lüften, und suchen den Grund für dieses Schweben. Man sagt, dein Schein leuchte des Nachts der Menge, die kommt, den Allmächtigen anzubeten, und du zeigtest den Büßern den Weg zum Altar. Höre, das ist sehr wohl möglich; aber … mußt du wirklich solche Dienste Leuten leisten, mit denen du nichts zu schaffen hast? Lasse die Säulen der Basiliken im Dunkel; und wenn eine Bö des Sturms, auf der der Dämon durch den Raum wirbelt, mit ihm hier eindringt, und Schrecken vrbreitet, verlösche sofort unter seinem fiebrigen Hauch, statt mutig dich gegen den verpesteten Windstoß des Fürsten des Bösen zu wehren, damit er, ohne daß man ihn sieht, seine Opfer unter den knieenden Gläubigen auswählen kann. Tust du dies, kannst du sagen, daß ich dir all mein Glück schulde. Wenn du so leuchtest und deine verschwommene, aber ausreichende Helligkeit verbreitest, wage ich nicht, mich den Einflüsterungen meines Charakters hinzugeben, und ich bleibe unter dem heiligen Portikus, wobei ich durch das geöffnete Portal die beobachte, die im Schoße des Herrn meiner Rache entgehen. O poetische Lampe! du, die du meine Freundin wärest, könntest du mich verstehen; warum beginnst du, wenn meine Füße zu nächtlicher Stunde den Basalt der Kirchen betreten, in einer Weise zu leuchten, die mir, ich gebe es zu, ungewöhnlich erscheint? Dein Schein färbt sich dann weiß wie das elektrische Licht; das Auge kann dich nicht anblicken; und du beleuchtest mit einer neuen und mächtigen Flamme die kleinsten Details der Hundehütte des Schöpfers, als wärest du einem heiligen Zorn verfallen. Und wenn ich mich zurückziehe, nachdem ich gelästert habe, wirst du wieder unauffällich, bescheiden und matt, sicher, einen Akt der Gerechtigkeit vollbracht zu haben. Sage mir doch: beeilst du dich, weil du die Abwege meines Herzens kennst, sobald ich erscheine, wo du wachst, meine gefährliche Gegenwart anzuzeigen und die Aufmerksamkeit der Betenden dorthin zu lenken, wo der Feind der Menschen sich gerade zeigt? Ich neige zu dieser Meinung; denn auch ich beginne, dich kennenzulernen; und ich weiß, daß du es bist, alte Hexe, die so wohl über die heiligen Moscheen wacht, wo sich wie ein Hahnenkamm dein ulkiger Meister aufplustert. Aufmerksame Wächterin, du hast dir eine wahnwitzige Aufgabe gestellt. Ich warne dich; sobald du mich der Vorsicht meiner Mitmenschen bezeichnest, indem du dein phosphoreszierendes
Leuchten vermehrst, ergreife ich dich bei der Haut deiner Brust, da ich dieses optische Phänomen nicht liebe, das übrigens in keinem Lehrbuch der Physik erwähnt wird, schlage meine Krallen in den Schorf deines grindigen Nackens und werfe dich in die Seine. Ich behaupte nicht, daß du dich, wenn ich dir nichts tue, absichtlich in einer mir schädlichen Weise aufführst. Dort werde ich dir erlauben, so stark zu leuchten, solange es mir gefällt; dort wirst du mir mit einem unauslöschlichen Lächeln die Stirn bieten; dort wirst du, überzeugt von seiner Untauglichkeit, dein verbrecherisches Öl voll Bitterkeit urinieren.« Nachdem Maldoror so gesprochen hat, verläßt er nicht den Tempel und verharrt, die Augen auf die Lampe des heiligen Ortes gerichtet … Er glaubt, eine Art Provokation im Verhalten dieser Lampe zu sehen, die ihn im höchsten Maße durch ihre unpassende Gegenwart reizt. Er sagt sich, daß, sollte irgendeine Seele in dieser Lampe sein, sie feige sei, da si auf einen ehrlichen Angriff nicht aufrichtig eingehe. Er fuchtelt mit seinen nervigen Armen und wünscht, die Lampe verwandelte sich in einen Menschen; er würde ihr übel zusetzen, verspricht er sich. Aber da&stlig; sich eine Lampe in einen Menschen verwandelt: das wäre nicht natürlich. Er gibt sich nicht zufrieden und sucht auf dem Vorplatz der elenden Pagode einen flachen Stein mit scharfer Kante. Er schleudert ihn mit Macht in die Luft … die Kette ist in der Mitte durchschnitten wie Gras von der Sichel, und der Kultgegenstand fällt zur Erde und vergießt sein Öl über die Steinplatten … Er packt die Lampe, um sie hinauszutragen, aber sie widersteht und wächst. Er glaubt Flügel an ihren Seiten zu sehen, und der obere Teil nimmt die Form einer Engelsbüste an. Das Ganze will sich in die Luft erheben, um aufzufliegen; aber er hält es mit fester Hand zurück. Eine Lampe und ein Engel, die einen und denselben Körper bilden: so etwas bekommt man nicht oft zu sehen. Er erkennt die Form der Lampe; er erkennt die Form des Engels; aber er kann sie in seinem Geist nicht trennen: und tatsächlich sind sie in Wirklichkeit innig verbunden und bilden nur einen einzigen selbständigen und freien Körper; aber er glaubt, daß irgendeine Wolke seine Augen verschleierte und ihm etwas von der Vollendung seiner Sehkraft geraubt habe. Trotzdem bereitet er sich voll Mut zum Kampf, denn sein Gegner hat keine Furcht. Naive Leute erzählen denen, die ihnen glauben wollen, das heilige Portal habe sich von selbst, in seinen bedrückten Angeln sich drehend, geschlossen, damit niemand diesem ruchlosen Kampf beiwohnen könne, dessen Wendungen sich in den Mauern des geschändeten Heiligtums abzuspielen begannen. Während er grausame Wunden
von einem unsichtbaren Schwert empfängt, bemüht sich der Mann im Mantel, seinen Mund dem Antlitz des Engels zu nähern; er trachtet nur danach, und alle seine Anstrengungen richten sich auf dieses Ziel. Der Engel verliert seine Kraft und scheint sein Geschick vorauszusehen. Er kämpft nur noch schwach, und man kann den Augenblick absehen, da sein Gegner ihn nach Gefallen küssen kann, wenn ihm danach der Sinn steht. Nun ja, da ist der Augenblick gekommen. Mit seinen Muskeln würgt er die Kehle des Engels, der nicht mehr atmen kann, dreht ihm das Antlitz herum und preßt es gegen seine verabscheuenswerte Brust. Einen Augenblick lang ist er gerührt vom Los, das dieses himmlische Wesen erwartet, dessen Freund er gern geworden wäre. Aber er sagt sich, daß es der Abgesandte des Herrn sei, und er kann sein Wüten nicht zurückhalten. Es ist geschehen; etwas Furchtbares kehrt zurück in den Käfig der Zeit! Er beugt sich und fährt mit der speicheltriefenden Zunge über diese Engelswange, die ihm flehende Blicke zuwirft. Er läßt seine Zunge eine Weile über diese Wange wandern. O! … seht! … seht doch! … die weiße und rosige Wange ist schwarz geworden wie Kohle! Faulige Miasmen strömen von ihr aus. Das ist der Brand; man kann nicht mehr daran zweifeln. Das sich fortfressende Übel verbreitet sich über das ganze Gesicht, und von dort aus wütet es in den unteren Partien; bald ist der ganze Körper nur noch eine riesige, widerwärtige Wunde. Selbst entsetzt (denn er glaubte nicht, daß seine Zunge ein Gift von solcher Gewalt enthielt), rafft er die Lampe auf und flieht aus der Kirche. Draußen sieht er in den Lüften ein schwärzliches Gebilde mit verbrannten Flügeln, die mühsam seinen Flug den Himmelsregionen zuwendet. Sie beide blicken sich an, während der Engel zu den heiteren Höhen des Guten aufsteigt, und er, Maldoror, im Gegenteil sich in die schwindelnden Abgründe des Bösen hinabstürzt … Welch Blick! Alles, was die Menschheit seit sechzig Jahrhunderten gedacht hat, und was sie noch denken wird in kommenden Jahrhunderten, hätte leicht darin Platz gefunden, so viele Dinge sagten sie sich bei diesem letzten Abschiedsgruß! Aber man versteht, daß es erhabenere Gedanken waren, als sie aus der menschlichen Intelligenz entspringen; zunächst wegen der beiden Personen, und dann wegen der Umstände. Dieser Blick verband sie in ewiger Freundschaft. Er verwundert sich, daß der Schöpfer Missionare mit einer solch edlen Seele haben könne. Einen Augenblick glaubt er, sich getäuscht zu haben und fragt sich, ob er dem Weg des Bösen hätte folgen sollen, wie er es getan hat. Die Beunruhigung geht vorüber; er beharrt auf seinem Entschluß; und
es ist, ihm zufolge, glorreich, früher oder später den Allmächtigen zu besiegen, um an seiner Stelle über das ganze Weltall und über Legionen so schöner Engel zu herrschen. Dieser hier gibt ihm ohne Worte zu verstehen, daß er im Maße seines Aufstiegs zum Himmel seine ursprüngliche Gestalt wieder erlangen werde; er läßt eine Träne fallen, die die Stirn dessen erfrischt, der ihm den Brand gegeben hatte; und verschwindet langsam wie ein Geier, indem er sich zwischen die Wolken erhebt. Der Schuldige sieht die Lampe an, die Ursache dessen, was voranging. Er läuft wie ein Wahnsinniger durch die Straßen, wendet sich der Seine zu und wirft die Lampe über die Brüstung. Sie wirbelt einige Augenblicke herum und versinkt endgültig in den schlammigen Wassern. Seit diesem Tage sieht man jeden Abend, bei Anbruch der Nacht, auf der Höhe des Pont Napoléon eine leuchtende Lampe auftauchen und sich anmutig an der Oberfläche des Flusses halten; und anstelle eines Henkels hat sie zwei reizende Engelsflügel. Sie gleitet langsam auf den Wassern dahin, unter den Bögen des Pont de la Gare und des Pont d'Austerlitz hindurch, und setzt ihre stille Fahrt auf der Seine bis zum Pont d'Alma fort. Dort einmal angekommen, kehrt sie mit Leichtigkeit gegen den Strom zurück und erreicht nach vier Stunden ihren Ausgangspunkt wieder. Und so fort, die ganze Nacht hindurch. Ihr Schein, weiß wie das elektrische Licht, läßt die Gaslaternen entlang der beiden Ufer verblassen, zwischen denen sie wie eine Königin dahinschwimmt, einsam, undurchdringlich, mit einem unauslöschlichen Lächeln, ohne daß sie ihr Öl voll Bitterkeit vergießt. Zu Anfang jagten die Schiffe ihr nach; aber sie machte alle diese vergeblichen Anstrengungen zunichte, entging allen Verfolgungen, indem sie wie eine Kokette tauchte und erst weiter fort, in großer Entfernung, wieder erschien. Jetzt rudern die abergläubischen Seeleute, wenn sie sie sehen, in eine entgegengesetzte Richtung und lassen ihre Lieder verstummen. Wenn ihr in der Nacht eine Brücke überquert, gebt wohl acht; ihr seht gewiß die Lampe hier oder da strahlen; aber man sagt, sie zeige sich nicht jedermann. Schreitet über die Brücke ein Menschenwesen, das etwas auf dem Gewissen hat, löscht sie mit einem Mal ihren Glanz, und der erschreckte Passant durchforscht vergeblich mit verzweifeltem Blick die Oberfläche und den Schlick des Stromes. Er weiß, was das zu bedeuten hat. Er möchte glauben, daß er das himmlische Leuchten gesehen habe; aber er sagt sich, daß das Licht vom Bug der Schiffe herkam oder vom Widerschein der Gaslaternen; und er hat recht … Er weiß, daß er der Grund für dieses Verschwinden ist; und er beschleunigt den Schritt, in traurige
Gedanken versunken, um nach Hause zu gelangen. Da erscheint die Lampe mit silbernem Schnabel wieder an der Oberfläche und setzt ihren Weg fort in eleganten und spielerischen Arabesken.
Zweiter Gesang, zwölfte Strophe Hört, ihr Menschen mit roter Rute, meine kindlichen Gedanken beim Erwachen: »Soeben erwache ich; aber mein Denken ist noch benebelt. Jeden Morgen spüre ich eine Schwere im Kopf. Selten finde ich nachts Ruhe; denn schreckliche Träume quälen mich, wenn es mir gelingt einzuschlafen. Tags ermüdet sich mein Denken in sonderbaren Meditationen, während meine Augen planlos durch den Raum irren, und nachts kann ich nicht schlafen. Wann soll ich denn also schlafen? Doch die Natur muß ihre Rechte fordern. Da ich sie mißachte, macht sie mein Gesicht bleich und läßt meine Augen mit der grellen Flamme des Fiebers leuchten. Übrigens hätte ich nichts lieber gewollt, als meinen Geist nicht durch unaufhörliches Grübeln zu erschöpfen; aber auch wenn ich es nicht wollte, ziehen mich doch meine bestürzten Gefühle unwiderstehlich auf diese Bahn. Ich habe bemerkt, daß die anderen Kinder sind wie ich; aber sie sind noch bleicher, und ihre Stirn sind gefurcht wie die der Männer, unserer älteren Brüder. O Schöpfer des Weltalls, ich werde dir unfehlbar diesen Morgen den Weihrauch meines kindlichen Gebetes darbringen. Manchmal vergesse ich es; und ich habe festgestellt, daß ich mich an diesen Tagen glücklicher fühle als gewöhnlich; meine Brust weitet sich, frei von allem Zwang, und ich atme leichter die duftende Luft der Felder; wenn ich mich hingegen, wie meine Eltern befehlen, der lästigen Pflicht entledige, täglich einen Lobgesang an dich zu richten, begleitet von der unvermeidlichen Langeweile, die mir seine mühevolle Erfindung bereitet, bin ich für den Rest des Tages traurig und gereizt, weil es mir weder logisch noch natürlich erscheint zu sagen, was ich nicht denke, und ich suche den Rückzug in unendliche Einsamkeiten. Wenn ich diese um eine Erklärung für den seltsamen Zustand meiner Seele befrage, antworten sie mir nicht. Ich möchte dich lieben und verehren; aber du bist zu mächtig, und in meinen Hymnen liegt Furcht. Wenn du durch eine einzige Äußerung deines Denkens Welten zerstören oder schaffen kannst, werden dir meine schwachen Gebete nichts nützen; wenn du, wann es dir gefällt, die Cholera schickst, um die Städte zu verheeren, oder den Tod, damit er unterschiedslos die vier Lebensalter mit seinen Klauen davontrage, will ich mich nicht mit einem so furchtbaren Freund verbinden. Nicht Haß leite die Fäden meiner Überlegungen; sondern ich habe im Gegenteil Angst vor deinem eigenen Haß, der durch einen launenhaften Befehl aus deinem Herzen treten und riesengroß werden kann wie die Spannweite des Kondors der
Anden. Deine zweideutigen Belustigungen sind mir unfaßlich, und ich wäre wahrscheinlich ihr erstes Opfer. Du bist der Allmächtige; ich bestreite dir diesen Titel nicht, da du allein das Recht hast, ihn zu tragen, und deine Wünsche mit verheerenden oder glücklichen Folgen haben ein Ziel nur in dir selbst. Genau darum wäre es schmerzhaft für mich, an der Seite deines grausamen Saphirgewandes zu schreiten, zwar nicht als dein Sklave, aber doch so, daß ich es von einem Augenblick auf den anderen werden könnte. Wenn du in dich selbst hinabsteigst, um dein souveränes Verhalten zu prüfen, und das Phantom einer vergangenen Ungerechtigkeit gegen diese unglückliche Menschheit, die dir immer als dein treuester Freund gehorcht hat, vor die die reglosen Wirbel seines rächenden Rückgrats aufrichtet, läßt dein verstörtes Auge, das ist wahr, die entsetzte Träne später Reue fallen, und dann glaubst du selbst, die Haare gesträubt, aufrichtig den Entschluß zu fassen, für immer die unvorstellbaren Spiele deiner tigerhaften Einbildungskraft in das Gestrüpp des Nichts zu hängen, deiner Einbildungskraft, die burlesk wäre, wäre sie nicht jämmerlich; aber ich weiß auch, daß die Beständigkeit nicht in deine Knochen wie zähes Mark die Harpune ihrer ewigen Wohnung geschlagen hat, und daß du ziemlich oft, du und deine von der schwarzen Lepra des Irrtums bedeckten Gedanken, in den Totensee finsterer Flüche zurückfällst. Ich will glauben, daß diese unbewußt sind (wenn sie auch dadurch nicht weniger ihr verhängnisvolles Gift enthalten) und daß das Böse und das Gute, innig verbunden, in heftigen Stößen durch den geheimen Zauber einer blinden Kraft aus deiner königlichen und brandigen Brust entspringen wie der Sturzbach aus dem Felsen; aber nichts liefert mir dafür den Beweis. Ich habe zu oft deine schmutzigen Zähne vor Wut schnappen hören, und dein erhabenes Antlitz, bedeckt vom Moos der Zeit, sich wegen irgendeiner mikroskopischen Nichtigkeit, die die Menschen verübt hatten, wie eine glühende Kohle röten sehen, um mich noch länger vor dem Wegweiser dieser vertrottelten Hypothese aufzuhalten. Jeden Tag will ich mit gefalteten Händen die Töne meines demütigen Gebetes aufsteigen lassen, denn es muß sein; aber ich flehe dich an, daß deine Vorsehung nicht an mich denke; laß mich beiseite wie das Würmchen, das unter der Erde kriecht. Wisse, daß ich es vorzöge, mich gierig von Meerespflanzen unbekannter und wilder Inseln zu nähren, die tropische Wogen, dort in diesen Breiten, in ihren schäumenden Fluten mit sich ziehen, als zu wissen, daß du mich beobachtest und dein höhnendes Skalpell in mein Gewissen senkst. Es enthüllte dir gerade die Gesamtheit meiner
Gedanken, und ich hoffe, daß deine Umsicht leicht dem gesunden Verstand applaudieren wird, dessen unauslöschlichen Stempel sie bewahren. Von diesen Vorbehalten abgesehen, was die Art der mehr oder weniger vertrauten Beziehungen betrifft, die ich mit dir unterhalten muß, ist mein Mund bereit, zu welcher Stunde des Tages auch immer, wie einen künstlichen Luftzug, die Flut der Lügen auszustoßen, die deine Eitelkeit streng von jedem Menschen fordert, wenn der Morgen sich bläulich erhebt und das Licht in den Satinfalten der Dämmerung sucht, wie ich, getrieben von der Liebe zum Guten, die Güte suche. Meine Jahre sind nicht zahlreich, und doch fühle ich schon, daß die Güte nichts ist als eine Ansammlung tönender Silben; ich habe sie nirgends gefunden. Dein Charakter ist zu leicht zu durchschauen; du solltest ihn geschickter verbergen. Übrigens irre ich mich vielleicht, und du tust es absichtlich; denn du weißt es besser als ein anderer, wie du dich aufzuführen hast. Die Menschen setzen ihren Ruhm darein, dich nachzuahmen; deshalb hat die heilige Güte keinen Schrein in ihren wilden Augen: wie der Vater, so der Sohn. Was man auch immer von deiner Intelligenz zu halten hat, ich spreche von ihr nur als unparteiischer Kritiker. Nichts wäre mir lieber, als in Irrtum verfallen zu sein. Ich begehre nicht, dir den Haß zu zeigen, den ich gegen dich hege und liebevoll pflege wie ein geliebtes Kind; denn es ist besser, ihn vor deinen Augen zu verbergen, und vor dir nur wie ein strenger Zensor aufzutreten, der beauftragt ist, deine unreinen Taten zu kontrollieren. So wirst du jeden aktiven Verkehr mit ihm abbrechen, du wirst ihn vergessen und diese gierige Wanze, die an deiner Leber frißt, vollständig vernichten. Ich ziehe es vielmehr vor, dich träumerische und sanfte Worte hören zu lassen … Ja, du hast die Welt geschaffen und alles, was sie enthält. Du bist vollkommen. Keine Tugend fehlt dir. Du bist allmächtig, jeder weiß es. Das ganze Weltall soll zu jeder Stunde der Zeit deinen ewigen Lobgesang anstimmen! Die Vögel segnen dich, wenn sie über das Land aufsteigen. Die Sterne gehören dir … Amen!« Staunt, mich nach solchen Anfängen als den zu sehen, der ich bin!
Zweiter Gesang, dreizehnte Strophe Ich suchte eine Seele, die mir glich, und ich konnte sie nicht finden. Ich durchsuchte alle Winkel der Erde; meine Beharrlichkeit war fruchtlos. Doch konnte ich nicht allein bleiben. Ich brauchte jemanden, der dieselben Ideen hatte wie ich. Es war Morgen; die Sonne erschien am Horizont in all ihrer Herrlichkeit, und da erschien auch vor meinen Augen ein junger Mann, dessen Gegenwart Blumen unter seinen Schritten sprießen ließ. Er nahte mir und streckte mir die Hand entgegen: »Ich bin zu dir gekommen, der du mich suchst. Segnen wir diesen glücklichen Tag.« Aber ich: »Gehe fort; ich habe dich nicht gerufen; ich brauche deine Freundschaft nicht …« Es war Abend; die Nacht begann die Schwärze ihres Schleiers über die Natur zu breiten. Eine schöne Frau, die ich undeutlich erkennen konnte, breitete auch über mich ihren bezaubernden Einfluß aus und sah mich voll Mitgefühl an; doch wagte sie nicht, zu mir zu sprechen. Ich sagte: »Nähere dich mir, damit ich deine Gesichtszüge genau erkennen kann; denn das Licht der Sterne ist nicht hell genug, um sie auf diese Entfernung zu beleuchten.« Da schritt sie bescheidenen Ganges, die Augen gesenkt, durch das Gras des Rasens und trat an meine Seite. Sofort, als ich sie sah: »Ich sehe, daß Güte und Gerechtigkeit in deinem Herzen wohnen: wir können nicht zusammen leben. Jetzt bewunderst du meine Schönheit, die mehr als eine verwirrt hat; aber früher oder später wirst du bereuen, mir deine Liebe geschenkt zu haben; denn du kennst meine Seele nicht. Nicht, daß ich dir jemals untreu würde: derjenigen, die sich mir mit soviel Selbstaufgabe und Vertrauen ausliefert, liefere ich mich mit ebenso viel Vertrauen und Selbstaufgabe aus; aber begreife es, um es nie zu vergessen: die Wölfe und die Lämmer sehen einander nicht mit sanften Augen an.« Was brauchte ich also, der ich mit soviel Abscheu verwarf, was es an Schönstem unter den Menschen gab! Was ich brauchte, hätte ich nicht sagen können. Ich war es noch nicht gewöhnt, mir mittels der Methoden, die die Philosophie empfiehlt, über die Phänomene meines Geistes streng Rechenschaft abzulegen. Ich ließ mich auf einem Felsen am Meer nieder. Ein Schiff hatte soeben alle Segel gesetzt, um sich aus diesen Gewässern zu entfernen: ein kaum sichtbarer Punkt war am Horizont erschienen und näherte sich nach und nach, vom Wind getrieben, um schnell größer zu werden. Der Orkan begann seinen Angriff, und schon verdüsterte sich der Himmel, nahm ein Schwarz an, das beinahe so scheußlich war wie das des menschlichen Herzens. Das
Schiff, ein großes Kriegsschiff, hatte alle Anker geworfen, um nicht gegen die Felsen der Küste getrieben zu werden. Der Wind pfiff wütend aus allen vier Himmelsrichtungen und zerfetzte die Segel. Donnerschläge erschallten unter Blitzen und konnten nicht den Lärm der Klagen übertönen, die sich auf dem Haus ohne Fundamente, diesem beweglichen Grabmal, vernehmen ließen. Das Rollen dieser Wassermassen hatte noch nicht die Ankerketten brechen können; aber ihre Schläge hatten ein Leck in die Flanken des Schiffes gestoßen. Eine enorme Bresche; denn die Pumpen reichten nicht aus, die Ladungen Salzwasser hinauszuschleudern, die wie schäumende Berge über die Brücke schlugen. Das Schiff in Not schießt mit der Kanone Alarmsignale; aber es sinkt langsam … majestätisch. Wer nicht ein Schiff im Orkan hat sinken sehen, in der tiefsten, von Blitze unterbrochenen Dunkelheit, während seine Besatzung von jener bekannten Verzweiflung ergriffen ist, der kennt die Unfälle des Lebens nicht. Schließlich dringt ein allgemeiner Schrei unendlichen Schmerzes aus dem Leib des Schiffes, während das Meer seine entsetzlichen Angriffe verdoppelt. Das ist der Schrei, den das Versagen der menschlichen Kräfte ausstößt. Jeder hüllt sich in den Mantel der Resignation und legt sein Geschick in die Hände Gottes. Man drängt sich zusammen wie eine Herde von Schafen. Das Schiff in Not schießt mit der Kanone Alarmsignale; aber es sinkt langsam … majestätisch. Sie haben den ganzen Tag die Pumpen bedient. Vergebliche Mühe. Die Nacht ist gekommen, dicht, unerbittlich, um dieses reizende Schauspiel auf die Spitze zu treiben. Jeder sagt sich, daß er, einmal im Wasser, nicht mehr würde atmen können; denn, soweit er auch in der Erinnerung zurückgeht, findet er keinen Fisch als Ahnen; aber er ermutigt sich, seinen Atem so lange wie möglich zurückzuhalten, um sein Leben zwei oder drei Sekunden zu verlängern; das ist die rächende Ironie, die er dem Tode entgegensetzen will … Das Schiff in Not schießt mit der Kanone Alarmsignale; aber es sinkt langsam … majestätisch. Er weiß nicht, daß das Schiff wenn es sinkt, eine mächtige Drehung der Wogen um sich selbst hervorruft; daß der morastige Schlick sich unter die aufgewühlten Wasser gemischt hat, und daß eine Kraft von unten, Gegenstück des Orkans, der oben verheerend tobt, dem Element abrupte und nervöse Bewegungen verleiht. So müßte sich der zukünftige Ertrunkene, trotz des Vorrats an Kaltblütigkeit, den er vorher ansammelt, nach umfassender Überlegung glücklich schätzen, wenn er, großzügig gerechnet, sein Leben in den Wirbeln des Abgrundes um die Hälfte eines gewöhnlichen Atemzuges verlängern könnte. Es wird ihm
also unmöglich sein, dem Tod die Stirn zu bieten, was sein größster Wunsch ist. Das Schiff in Not schießt mit der Kanone Alarmsignale; aber es sinkt langsam … majestätisch. Das ist ein Irrtum. Es feuert keine Kanonenschüsse mehr ab, es sinkt nicht. Die Nußschale ist spurlos in der Tiefe verschwunden. O Himmel! wie kann man nach solchen Genüssen noch leben! Gerade durfte ich Zeuge des Todeskampfes einiger meiner Mitmenschen sein. Minute um Minute verfolgte ich die raschen Wendungen ihrer Todesängste. Manchmal war das Muhen irgendeiner vor Angst übergeschnappten Alten der Schlager auf dem Markt. Manchmal verhinderte das Gekreisch eines Säuglings allein, daß man die Manöverkommandos hörte. Das Schiff war zu weit entfernt, als daß ich in aller Deutlichkeit das Stöhnen hätte hören können, das der Wind zu mir herübertrug, aber durch den Willen holte ich es näher zu mir heran, und die optische Illusion war vollendet. Jede Viertelstunde, wenn ein Windstoß, stärker als die anderen, seine schaurigen Laute durch den Schrei der verstörten Sturmvögel tönen ließ, das Schiff bis zum Kiel erschütterte und die Klagen derer vermehrte, die dem Tod zum Opfer gebracht werden sollten, stieß ich mir die scharfe Spitze eines Eisens in die Wange und ich dachte insgeheim: »Sie leiden mehr!« So hatte ich wenigstens einen Vergleichsmaßstab. Vom Ufer her brüllte ich sie an, schleuderte ihnen Verwünschungen und Drohungen zu. Mir schien, sie müßten mich hören! Mir schien, mein Haß und meine Worte höben, die Entfernungen überbrückend, die physikalischen Gesetze des Schalles auf und drängen deutlich in ihre vom Brüllen des tobenden Ozeans tauben Ohren! Mir schien, sie müßten an mich denken und ihre Rache in ohnmächtiger Wut herausschreien! Von Zeit zu Zeit richtete ich die Augen zu den Städten, die auf dem Festland schliefen; und als ich sah, daß niemand ahnte, ein Schiff sänke einige Meilen vor der Küste mit einer Krone von Raubvögeln und einem Sockel ausgehungerter Meeresungeheuer, faßte ich wieder Mut, und die Hoffnung kehrte zurück: ich war also ihres Unterganges sicher! Sie konnten nicht entkommen! Zu aller Vorsicht hatte ich mein Doppelgewehr geholt, damit dem Schiffbrüchigen, der etwa versucht sein sollte, die Uferfelsen schwimmend zu erreichen, um dem drohenden Tod zu entgehen, eine Kugel in die Schulter den Arm zerschmetterte und ihn hinderte sein Vorhaben auszuführen. Als der Orkan am schlimmsten wütete, sah ich einen verzweifelt sich über Wasser haltenden, energischen Kopf mit gesträubten Haaren. Er schluckte literweise Wasser und tauchte in die Tiefe, herumgeschleudert wie ein Korken. Aber bald
erschien er wieder mit triefenden Haaren auf dem Wasser; und er schien, das Auge auf das Ufer geheftet, dem Tode zu trotzen. Er war bewundernswert kaltblütig. Eine breite blutige Wunde, von einer verborgenen Riffzacke gerissen, lief über sein unerschrockenes und edles Gesicht. Er konnte nicht älter als sechzehn Jahre sein; denn kaum zeigte sich, dank der Blitze, die die Nacht erhellten, Pfirsichflaum auf seiner Lippe. Und jetzt war er nur noch zweihundert Meter von der Uferklippe entfernt; und ich sah ihn deutlich. Welch ein Mut! Welch unbezähmbarer Geist! Wie die Festigkeit seines Hauptes dem Schicksal Trotz zu bieten schien, indem es kraftvoll die Wellen teilte, deren Furchen sich schwer vor ihm öffneten! … Ich hatte es im voraus beschlossen. Ich war es mir selbst schuldig, mein Versprechen zu halten: die letzte Stunde hatte für alle geschlagen, niemand durfte ihr entgehen. Das war mein Entschluß; nichts könnte ihn ändern … Ein scharfer Knall ertönte, und der Kopf tauchte sogelich unter, um nicht wieder zu erscheinen. Ich hatte an diesem Mord nicht so viel Vergnügen, wie man glauben könnte; weil ich des ewigen Tötens überdrüssig geworden war, das ich von nun an nur noch aus bloßer Gewohnheit tat, die man nicht ablegen kann, die aber nur einen unbedeutenden Genuß verschafft. Der Sinn ist abgestumpft, verhärtet. Welche Lust soll ich beim Tod dieses Menschen empfinden, wenn es mehr als hundert gab, die mir ihren letzten Kampf gegen die Fluten zum Schauspiel boten, als das Schiff untergetaucht war? Bei diesem Tod hatte ich nicht einmal den Reiz der Gefahr; denn die menschliche Gerechtigkeit, gewiegt vom Orkan dieser furchtbaren Nacht, schlief einige Schritte von mir entfernt in den Häusern. Heute, da die Jahre auf meinem Körper lasten, sage ich voll Aufrichtigkeit, als höchste und feierliche Wahrheit: ich war nicht so grausam, wie man es später unter den Menschen erzählte; aber zuweilen wütete ihre beharrliche Bosheit ganze Jahre hindurch. Dann kannte meine Wut keine Grenzen mehr; Anfälle von Grausamkeit kamen über mich, und ich wurde dem schrecklich, der sich meinen wilden Augen nahte, wenn er überhaupt nur zu meiner Rasse gehörte. War es ein Pferd oder ein Hund, ließ ich sie in Frieden: habt ihr gehört, was ich gerade gesagt habe? Unglücklicherweise war ich in der Nacht des Orkans von solch einem Anfall gepackt, meine Vernunft war mir abhanden gekommen (denn gewöhnlich war ich auch grausam, aber umsichtiger); und alles, was dieses Mal in meine Hände fiel, mußte untergehen; ich habe nicht vor, mein Unrecht zu entschuldigen. Die ganze Schuld daran trifft nicht die anderen Menschen. Ich stelle nur
fest, was ist, in Erwartung des Jüngsten Gerichts, angesichts dessen mir schon im voraus der Hals juckt … Was geht mich das Jüngste Gericht an! Meine Vernunft kommt mir nie abhanden, wie ich sagte, um euch irrezuführen. Und wenn ich ein Verbrechen begehe, so weiß ich, was ich tue: ich wollte nichts anderes tun! Auf dem Felsen stehend, während der Sturm meine Haare und meinen Mantel peitschte, belauschte ich in Ekstase diese Gewalt des Unwetters, die sich unter einem sternenlosen Himmel auf ein Schiff warf. Ich verfolgte triumphierend alle Wendungen dieses Dramas, vom Zeitpunkt an, als das Schiff seine Anker warf, bis zum Moment, in dem es unterging, diese fatale Hülle, die in die Därme des Meeres mitzog, was sich mit ihr wie mit einem Mantel umgegen hatte. Aber der Augenblick kam näher, in dem ich mich selbst als Akteur in diese Szene der aufgewühlten Natur mischen würde. Als der Ort, an dem das Schiff seinen Kampf geliefert hatte, deutlich zeigte, daß es den Rest seiner Tage im Tiefparterre des Meeres verbringen würde, erschienen die, die von den Fluten mitgerissen worden waren, zum Teil wieder an die Oberfläche. Sie umklammerten einander, zu zweit, zu dritt; das war das Mittel, ihr Leben nicht zu retten; denn ihre Bewegungen wurden gehemmt, und sie sanken wie durchlöcherte Krüge … Was ist das für eine Armee von Seeungeheuern, die mit solcher Schnelligkeit die Fluten teilt? Es sind sechs; ihre Flossen sind kräftig und öffnen sich einen Weg durch die hochgetürmten Wellen. Aus allen diesen Menschenwesen, die ihre vier Glieder in diesem wenig festen Kontinent bewegen, machen die Haie bald ein Omelett ohne Eier, und teilen es nach dem Gesetz des Stärkeren auf. Das Blut vermischt sich mit den Wassern, und die Wasser mischen sich zum Blut. Ihre wilden Augen erhellen hinlänglich die Szene des Gemetzels … Aber was für ein fernes Aufwühlen der Wasser, dort hinten, am Horizont? Man könnte es für eine nahende Windhose halten. Welch Ruderschläge! Ich sehe, was es ist. Eine gewaltiges Haifischweibchen kommt, um an der Entenleberpastete teilzuhaben und kaltes Suppenfleisch zu verspeisen. Sie ist wütend; denn sie kommt hungrig an. Ein Kampf bricht aus zwischen ihr und den Haien, um sich die paar zuckenden Gliedmaßen streitig zu machen, die hier und da, ohne etwas zu sagen, oben auf der roten Crème herumschwimmen. Nach rechts, nach links teilt sie Bisse aus, die tödliche Wunden reißen. Aber noch umringen sie drei lebende Haie, und sie ist gezwungen, sich nach allen Seiten zu wenden, um deren Manöver unschädlich zu machen. Mit wachsender, bisher unbekannter Erregung verfolgt der Beobachter vom Ufer aus diese
Seeschlacht neuer Art. Er hat die Augen auf dieses tapfere Haifischweibchen mit den so kräftigen Zähnen gerichtet. Er zögert nicht länger, er legt sein Gewehr an und jagt mit seiner gewohnten Geschicklichkeit seine zweite Kugel in die Kiemen des einen der Haie, im Augenblick, als er sich auf dem Kamm einer Welle sehen läßt. Bleiben zwei Haie übrig, die nur umso mehr Verbissenheit zeigen. Von der Spitze des Felsens wirft sich der Mann mit dem brackigen Speichel ins Meer und schwimmt auf den angenehm gefärbten Teppich zu, in der Hand das stählerne Messer, das ihn nie verläßt. Von nun an hat es jeder Hai mit einem Gegner zu tun. Er nähert sich seinem ermüdeten Gegner und sticht ihm ohne Übereilung seine spitze Klinge in den Bauch. Die bewegliche Festung entledigt sich des letzten Gegners mit Leichtigkeit … Da sehen sich der Schwimmer und das Haifischweibchen, das er gerettet hat, einander gegenüber. Sie blicken sich einige Minuten in die Augen; und jeder ist erstaunt, so viel Wildheit in den Blicken des anderen zu finden. Sie ziehen schwimmend ihre Kreise, verlieren sich nicht aus dem Auge, und sagen zu sich: »Ich habe mich bisher geirrt; da ist einer, der schlechter ist als ich.« Dann glitten sie im Einverständnis zwischen zwei Wassern auf einander zu, mit gegenseitiger Bewunderung, das Weibchen, indem es das Wasser mit den Flossen teilte, Maldoror, indem er die Woge mit seinen Armen schlug; und sie hielten den Atem an in tiefer Verehrung, jeder begierig, zum ersten Mal sein lebendes Ebenbild zu betrachten. Als sie sich auf drei Meter Entfernung einander genähert hatten, schlossen sie sich von selbst wie zwei Magneten zusammen und umarmten einander mit Würde und Dankbarkeit in einer Umarmung, so zärtlich wie die von Bruder und Schwester. Die fleischlichen Gelüste folgten diesem Freundschaftsbeweis auf dem Fuß. Zwei nervige Schenkel schlossen sich fest um die glitschige Haut des Ungeheuers wie zwei Blutegel; und die Arme und die Flossen um den Körper des geliebten Gegenstandes verschlungen, den sie voll Liebe umfingen, während ihre Kehlen und Brüste bald nur noch eine meergrüne Masse mit Tanggeruch bildeten; mitten im Sturm, der fortfuhr zu wüten; beim Leuchten der Blitze; als Brautbett die schaumige Woge, geschaukelt von einer unterseeischen Strömung wie in einer Wiege, und sich um sich selbst drehend, hinab in die unbekannten Tiefen des Abgrunds, vereinigten sie sich in einer langen, keuschen und gräßlichen Paarung! … Endlich hatte ich jemanden gefunden, der mir glich! … Von nun an stand ich nicht mehr allein im Leben! … Sie hatte
dieselben Ideen wie ich! … Ich sah mich meiner ersten Liebe gegenüber!
Zweiter Gesang, vierzehnte Strophe Die Seine trägt einen menschlichen Leichnam mit sich fort. Bei solchen Gelegenheiten gebärdet sie sich feierlich. Der aufgeschwollene Leichnam hält sich auf dem Wasser; er verschwindet unter einem Brückenbogen; aber weiter unten sieht man ihn erneut erscheinen, sich langsam um sich selbst drehend wie ein Mühlrad und gelegentlich untertauchend. Ein Schiffer fischt ihn mit einer Stange, als er vorüberschwimmt, heraus und bringt ihn an Land. Bevor man ihn in das Leichenschauhaus schafft, läßt man ihn einige Zeit auf der Böschung liegen, um ihn wiederzubeleben. Eine dichte Menge sammelt sich um den Leichnam. Die hinten Stehenden schieben aus Leibeskräften die vorn Stehenden, weil sie nichts sehen können. Jeder sagt sich: »Ich hätte mich bestimmt nicht ertränkt.« Man beklagt den jungen Mann, der sich umgebracht hat; man bewundert ihn; aber natürlich ahmt man ihn nicht nach. Und doch war es ihm sehr natürlich erschienen, sich den Tod zu geben, da er fand, daß nichts auf der Welt ihn befriedigen könnte, und da er nach Höherem strebte. Sein Gesicht ist vornehm und seine Kleider sind reich. Ist er schon siebzehn Jahre alt? Das heißt jung sterben! Die erstarrte Menge wirft weiter ihre unbewegten Augen auf ihn … es wird dunkel. Jeder zieht sich schweigend zurück. Niemand wagt, den Ertrunkenen herumzudrehen, um ihn das Wasser, das seinen Körper füllt, ausspeien zu lassen. Man fürchtet, für empfindlich zu gelten, und niemand hat sich gerührt, in seinen Hemdkragen zurückgezogen. Der eine geht, mürrisch einen abgeschmackten Ländler pfeifend; der andere schnippt mit den Fingern wie mit Kastagnetten … Geplagt von seinen düsteren Gedanken reitet Maldoror auf seinem Pferd schnell wie der Blitz dicht an diesem Ort vorüber. Er sieht den Ertrunkenen; das genügt. Er hat sofort sein Roß angehalten und hat sich aus dem Sattel geschwungen. Er hebt den jungen Mann ohne Ekel auf und läßt ihn reichlich Wasser speien. Beim Gedanken, daß dieser leblose Körper unter seiner Hand wieder lebendig werden könnte, bei dieser glänzenden Eingebung, fühlt er sein Herz einen Sprung tun, und er verdoppelt seinen Eifer. Vergebliche Mühe! Vergebliche Mühe, habe ich gesagt, und das stimmt. Der Leichnam rührt sich nicht und läßt sich in alle Richtungen wenden. Er reibt die Schläfen; er beugt hier ein Glied und dort ein Glied; er haucht eine Stunde hindurch in den Mund, seine Lippen auf die Lippen des Unbekannten gepreßt. Endlich scheint es ihm, als spüre er unter seiner auf die Brust des
Ertrunkenen gelegten Hand ein schwaches Schlagen. Der Ertrunkene lebt! In diesem höchsten Augenblick konnte man sehen, daß mehrere Furchen von der Stirn des Reiters verschwanden und ihn um Jahre verjüngten. Aber ach! die Furchen werden wiederkommen, vielleicht morgen, vielleicht sofort, wenn er sich von den Ufern der Seine entfernt hat. Inzwischen öffnet der Ertrunkene trübe Augen und dankt mit einem mattem Lächeln seinem Wohltäter; aber er ist noch schwach und kann sich nicht rühren. Jemandem das Leben zu retten, das ist schön! Und in welchem Maß solche Tat Fehler wiedergutmacht! Der Mann mit Bronzelippen, bisher beschäftigt, den jungen Mann dem Tod zu entreißen, betrachtet ihn mit großer Aufmerksamkeit, und seine Züge kommen ihm nicht unbekannt vor. Er sagt sich, daß zwischen dem blondhaarigen Erstickten und Holzer kein großer Unterschied bestehe. Seht sie, wie sie einander aus vollem Herzen umarmen! Hat nichts zu bedeuten! Der Mann mit dem Jaspisauge strebt, den Schein einer ernsten Rolle zu bewahren. Ohne etwas zu sagen, nimmt er den Freund auf das Pferd, und das Roß entfernt sich im Galopp. O Holzer, der du dich so vernünftig und stark glaubtest, hast du nicht an deinem eigenen Beispiel gesehen, wie schwierig es ist, bei einem Verzweiflungsanfall das kalte Blut zu bewahren, dessen du dich rühmst? Ich hoffe, daß mir nicht wieder solch einen Kummer bereiten wirst, und ich, meinerseits, ich habe dir versprochen, niemals Hand an mich selbst zu legen.
Zweiter Gesang, fünfzehnte Strophe Es gibt Stunden im Leben, in denen der Mensch mit verlaustem Haar starren Auges wilde Blicke auf die grünen Membranen des Raumes wirft; denn er glaubt, vor sich das höhnische Lachen eines Gespenstes zu hören. Er schwankt und senkt den Kopf: was er gehört hat, ist die Stimme des Gewissens. Da stürzt er mit der Schnelligkeit eines Verrückten aus dem Haus, wählt die erste beste Richtung, die sich seiner Bestürzung bietet, und durcheilt die zerfurchten Ebenen des Landes. Aber das gelbe Gespenst verliert ihn nicht aus den Augen und verfolgt ihn mit gleicher Schnelligkeit. Zuweilen, in einer Gewitternacht, wenn Legionen geflügelter Kraken, die von weitem Raben ähneln, über den Wolken schweben und mit festem Ruder die Städte der Menschen ansteuern, mit der Aufgabe, sie zu ermahnen, ihr Verhalten zu ändern, sieht im Schein des Blitzes der Kiesel mit düsterem Auge zwei Wesen vorüberkommen, eins hinter dem anderen; und indem er eine verstohlene Träne des Mitgefühls vergießt, die von seinem eisigen Lid rinnt, ruft er aus: »Gewiß, er verdient es; und es ist nur gerecht.« Nachdem er dies gesagt hat, nimmt er seine abweisende Haltung wieder ein, und er fährt fort, mit nervösem Zittern die Menschenjagd zu beobachten und die großen Lippen der Vagina des Schattens, aus der ohne Unterlaß wie ein Fluß riesige, finster drohende Spermatozoen sich ergießen, die in den trostlosen Äther auffliegen, wobei sie mit gewaltiger Spannweite ihrer Fledermausflügel die ganze Natur verdecken und auch die einsamen Legionen der Kraken, die angesichts dieses dumpfen und unaussprechlichen Wetterleuchtens trübsinnig geworden sind. Aber unterdessen geht der steeple-chase zwischen den beiden unermüdlichen Läufern weiter, und das Gespenst wirft aus dem Mund Feuerbäche auf den verkohlten Rücken der menschlichen Antilope. Wenn es beim Vollzug dieser Pflicht unterwegs das Mitleid trifft, das ihm den Weg versperren will, gibt es widerwillig dessen Flehen nach und läßt den Menschen entkommen. Das Gespenst schnalzt mit der Zunge, wie um sich selbst zu sagen, daß es die Verfolgung einstellen will, und kehrt in seine Hundehütte zurück, wo es neue Befehle erwartet. Seine Stimme, die Stimme eines Verdammten, läßt sich selbst in den entferntesten Schichten des Raumes vernehmen; und wenn sein schreckliches Geheul in das menschliche Herz dringt, hätte dieser, sagt man, lieber den Tod zum Vater als die Reue zum Sohn. Er steckt den Kopf bis zu den Schultern in die erdigen Schwierigkeiten eines Loches; aber das
Gewissen macht die Straußenlist zunichte. Die Höhlung verfliegt wie ein Äthertropfen; das Licht erscheint mit seinem Strahlengefolge wie ein Zug Brachvögel, der sich auf den Lavendel niederläßt; und der Mensch findet sich wieder sich selbst gegenüber, die Augen offen und stumpf. Ich habe ihn gesehen, wie er zur Küste des Meeres ging, ein zerklüftetes und von der Braue der Gischt gepeitschtes Vorgebirge erstieg und sich wie ein Pfeil in die Wogen stürzte. Und welch ein Wunder: am Tage darauf erschien die Leiche wieder an der Oberfläche des Ozeans, der dieses Fleischwrack zum Ufer zurückbeförderte. Der Mensch erhob sich aus der Mulde, die sein Körper in den Sand geprähgt hatte, drückte das Wasser aus seinen nassen Haaren, und betrat, die Stirn stumm und gebeugt, wieder den Weg des Lebens. Das Gewissen richtet streng über unsere geheimsten Gedanken und Taten und irrt sich nicht. Wenn es auch oft nicht imstande ist, das Böse zu verhüten, läßt es nicht ab, den Menschen wie einen Fuchs zu hetzen, vor allem während der Dunkelheit. Rächende Augen, von der unwissenden Wissenschaft Meteore genannt, verbreiten ein fahles Leuchten, stürzen, sich um sich selbst drehend, vorüber und sprechen geheimnisvolle Worte … die er versteht! Da erdrücken die Erschütterungen seines Leibes seine Lagerstatt, niedergedrückt vom Gewicht der Schlaflosigkeit, und er hört die unheildrohende Atmung der vagen Geräusche der Nacht. Der Engel des Schlafs selbst, von einem unbekannten Stein tödlich an der Stirn getroffen, gibt seine Arbeit auf, und kehrt in die Himmel zurück. Nun gut, ich erbiete mich dieses Mal, den Menschen zu verteidigen; ich, der Verächter aller Tugenden; ich, der ich den Schöpfer nicht habe vergessen können seit dem glorreichen Tag, an dem ich die Annalen des Himmels, in denen, ich weiß nicht durch welchen infamen Kniff, seine Macht und seine Ewigkeit verzeichnet standen, von ihrem Sockel warf, und meine vierhundert Saugnäpfe in seine Achselhöhlen heftete, so daß er schreckliche Schreie ausstieß. … Sie verwandelten sich in Vipern, als sie aus seinem Munde drangen, und verbargen sich im Gestrüpp, in ruinierten Gemäuern, tags auf der Lauer, nachts auf der Lauer. Diese Schreie, kriechend geworden und mit zahllosen Ringen versehen, mit kleinem und plattem Kopf, mit perfiden Augen, haben geschworen, vor der menschlichen Unschuld anzuschlagen und stehenzubleiben; und wenn diese sich im Wirrwarr des Gestrüpps oder auf steilen Böschungen oder im Sand der Dünen ergeht, überlegt sie es sich sofort anders. Allerdings, falls noch Zeit dazu ist; denn zuweilen fühlt der Mensch, wie das Gift in die Venen seines Beines durch
einen beinahe unmerklichen Biß eindringt, bevor er Zeit hat, umzukehren und sich davonzumachen. So versteht es der Schöpfer, der sogar unter den schrecklichsten Qualen bewunderungswert kaltblütig bleibt, für die Erdenbewohner schädliche Keime aus ihrer eigenen Brust zu gewinnen. Wie groß war sein Erstaunen, als er sah, wie Maldoror, in einen Kraken verwandelt, seine acht monströsen Arme gegen seinen Körper ausstreckte, deren jeder, ein fester Riemen, mit Leichtigkeit einen Planeten ganz hätte umschlingen können. Überrumpelt, wehrte er sich einige Augenblicke gegen diese schleimige Umarmung, die immer fester wurde … ich fürchtete irgendeinen üblen Streich von seiner Seite; nachdem ich mich überreichlich an den Körperchen des heiligen Blutes gesättigt hatte, ließ ich plötzlich seinen majestätischen Körper los; und ich verbarg mich in einer Höhle, die seitdem meine Behausung blieb. Seine Suche blieb fruchtlos; er konnte mich hier nicht finden. Das ist schon lange her; aber ich glaube, er weiß jetzt, wo meine Behausung ist; er hütet sich, hier einzutreten; wir beide leben wie benachbarte Monarchen, die ihre gegenseitigen Kräfte kennen, sich nicht besiegen können, und die nutzlosen Schlachten der Vergangenheit leid sind. Er fürchtet mich, und ich fürchte ihn; jeder hat, ohne besiegt zu sein, harte Schläge von seinem Gegner erhalten, und dabei bleibt es. Denoch bin ich bereit, den Kampf wieder aufzunehmen, wann immer er will. Aber er soll nicht einen für seine verborgenen Absichten günstigen Augenblick abzuwarten. Ich werde immer wachsam sein und ein Auge auf ihn haben. Er braucht das Gewissen und seine Qualen nicht mehr auf die Erde zu schicken. Ich habe den Menschen die Waffen gezeigt, mit denen man es erfolgreich bekämpfen kann. Sie sind mit ihm noch nicht vertraut; aber du weißt, daß es für mich nur Stroh ist, das der Wind fortbläst. Mehr Aufhebens mache ich davon nicht. Wollte ich von der Gelegenheit profitieren, die sich bietet, um diese poetischen Diskussionen zu verfeinern, fügte ich hinzu, daß ich sogar vom Stroh mehr Aufhebens mache als vom Gewissen; denn das Stroh ist nützlich für das Rindvieh, das es wiederkäut, wohingegen das Gewissen nur seine stählernen Krallen zu zeigen versteht. Am Tag, als sie sich vor mich stellten, erlitten sie eine empfindliche Niederlage. Da das Gewissen vom Schöpfer ausgeschickt worden war, schien es mir passend, mir nicht den Weg von ihm verlegen zu lassen. Hätte es sich mir mit der Bescheidenheit und Demut vorgestellt, die ihm zukommt, und von der es sich niemals hätte entfernen dürfen, hätte ich es angehört. Ich liebte seinen Stolz nicht. Ich streckte eine Hand aus, und unter meinen Fingern
zerbrachen seine Krallen; unter dem wachsenden Druck dieses neuartigen Mörsers zerfielen sie zu Staub. Ich streckte die andere Hand aus und riß ihm den Kopf ab. Ich jagte darauf dieses Geschöpf mit Peitschenhieben aus dem Haus und sah es nicht wieder. Ich habe seinen Kopf zum Andenken an meinen Sieg aufgehoben … Einen Kopf in der Hand, an dessen Schädelknochen ich nagte, stand ich auf einem Bein, wie ein Reiher, am Rand des Abgrundes in den Hängen des Gebirges. Man hat mich in das Tal hinabsteigen sehen, während die Haut meiner Brust reglos blieb und ruhig wie der Deckel einer Gruft! Einen Kopf in der Hand, an dessen Schädelknochen ich nagte, durchschwamm ich die gefährlichsten Schlünde, glitt die tödlichen Riffs entlang, tauchte tiefer als die Strömungen, um als ein Fremder den Kämpfen der Seeungeheuer beizuwohnen; ich habe mich vom Ufer entfernt, bis ich es aus meinem durchdringenden Blick verlor; und die greulichen Krämpfe strichen mit ihrem lähmenden Magnetismus um meine Glieder, welche die Wellen mit kraftvollen Schlägen teilten, ohne es zu wagen heranzukommen. Man hat mich gesund und sicher an den Strand zurückkehren sehen, während die Haut meiner Brust reglos blieb und ruhig wie der Deckel einer Gruft! Einen Kopf in der Hand, an dessen Schädelknochen ich nagte, habe ich die Stufen eines hohen Turmes bestiegen. Ich bin mit ermatteten Beinen auf die schwindelerregende Plattform gekommen. Ich habe das Land betrachtet, das Meer; ich habe die Sonne betrachtet, das Firmament; mit dem Fuß den Granit zurückstoßend, der nicht wich, habe ich den Tod und die Rache Gottes überwundwn mit einem letzten Hohngelächter und mich wie einen Pflasterstein in den Mund des Raumes gestürzt. Die Menschen hörten den schmerzhaften und hallenden Aufprall, der aus dem Zusammentreffen des Bodens mit dem Kopf des Gewissens herrührte, den ich im Fall losgelassen hatte. Man sah mich herabkommen mit der Langsamkeit eines Vogels, von einer unsichtbaren Wolke getragen, und den Kopf wieder auflesen, um ihn zu zwingen, Zeuge eines dreifachen Verbrechens zu sein, das ich am selben Tag verüben würde, während die Haut meiner Brust reglos blieb und ruhig wie der Deckel einer Gruft! Einen Kopf in der Hand, an dessen Schädelknochen ich nagte, habe ich mich zu dem Ort gewandt, wo sich die Pfosten erheben, welche die Guillotine tragen. Ich habe die liebliche Anmut der Hälse dreier junger Mädchen unter das Fallbeil gelegt. Und als Henker löste ich die Schnur mit der scheinbaren Erfahrung eines ganzen Lebens; und das schräg fallende dreieckige Eisen schnitt drei Köpfe ab, die mich milde ansahen. Ich legte
darauf den meinen unter das gewichtige Rasiermesser, und der Henker bereitete den Vollzug seiner Pflicht vor. Dreimal sauste das Beil in seinen Rillen mit erneuter Gewalt herab; dreimal wurde mein materielles Gerüst, vor allem am Halsansatz, bis in die Grundfesten erschüttert, so, wie man sich im Traum einbildet, von einem zusammenstürzenden Hause zerschmettert zu werden. Das bestürzte Volk machte mir Platz, damit ich mich von der Stätte des Todes entfernte; es hat mich mit den Ellenbogen seine wogenden Fluten teilen sehen und mich gesehen, wie ich in voller Lebenskraft ausschritt, den Kopf erhoben, während die Haut meiner Brust reglos blieb und ruhig wie der Deckel einer Gruft! Ich hatte gesagt, daß ich den Menschen dieses Mal verteidigen wollte; aber ich fürchte, daß meine Verteidigung nicht der Ausdruck der Wahrheit sei; und folglich ziehe ich es vor zu schweigen. Die Menschheit wird mit Dankbarkeit dieser Maßnahme applaudieren!
Zweiter Gesang, sechzehnte Strophe Es ist an der Zeit, die Bremsen meiner Inspiration anzuziehen, und einen Augenblick auf dem Weg innezuhalten, wie wenn man die Vagina einer Frau betrachtet; es ist gut, den zurückgelegten Weg zu prüfen und dann, mit ausgeruhten Gliedern, einen ungestümen Sprung vorwärts zu tun. In einem Zug einen ganzen Abschnitt zu bewältigen, ist nicht leicht; und die Flügel ermüden stark bei einem hohen Flug ohne Hoffnung und ohne Reue. Nein … führen wir nicht tiefer die wilde Meute der Hacken und Ausgrabungen durch die explosiven Minen dieses frevelhaften Gesanges! Das Krokodil wird kein Wort an dem Erbrochenen ändern, das aus seinem Schädel drang. Um so schlimmer, wenn irgendein verstohlener Schatten, veranlaßt durch das lobenswerte Ziel, die Menschheit, die ungerecht von mir angegriffene wurde, zu rächen, heimlich die Tür meines Schlafzimmers öffnet, dabei die Wand wie der Flügel einer Silbermöwe streift, und einen Dolch in die Seite des Plünderers der himmlischen Wracks stößt! Es ist ganz gleich, ob der Lehm seine Atome auf diese oder auf jene Weise auflöst.
Dritter Gesang, erste Strophe Erinnern wir uns an die Namen jener imaginären Wesen, jener Engelsnaturen, die meine Feder während des zweiten Gesanges aus einem Gehirn extrahierte, das in einem aus ihnen selbst fließenden Glanz erstrahlte. Sie sterben schon bei ihrer Geburt wie jene Funken, deren schnellem Verlöschen auf verbranntem Papier das Auge mit Mühe folgen kann. Léman! … Lohengrin! … Lombano! … Holzer! … einen Augenblick tratet ihr mit den Insignien der Jugend an meinem bezauberten Horizont auf; aber ich habe euch wie Taucherglocken in das Chaos zurückgleiten lassen. Ihr werdet aus ihm nicht mehr hervorkommen. Mir genügt es, eure Erinnerung zu bewahren; ihr müßt anderen Substanzen Platz machen, vielleicht weniger schönen, vom gewittrigen Erguß einer Liebe gezeugt, die beschlossen hat, ihren Durst nicht an der menschlichen Rasse zu stillen. Einer hungrigen Liebe, die sich selbst verschlänge, suchte sie nicht ihre Nahrung in himmlischen Erfindungen: im Laufe der Zeit schafft sie eine Pyramide von Seraphim, zahlreicher als die Insekten, die in einem Wassertropfen wimmeln, verflicht sie zu einer Ellipse, die sie um sich herumwirbeln läßt. Währenddessen wird der Reisende, aufgehalten durch den Anblick eines Wasserfalles, wenn er das Gesicht hebt, in der Ferne ein Menschenwesen sehen, das an einer Girlande lebender Kamelien zum Höllenkeller geschleppt wird! Aber … Ruhe! das verfließende Bild des fünften Ideals zeichnet sich langsam wie die verschwommenen Windungen des Nordlichts auf der Nebelfläche meines Geistes ab, und gewinnt mehr und mehr an bestimmter Dichte … Mario und ich ritten am Strand entlang. Unsere Pferde teilten mit gestrecktem Hals die Membranen des Raumes und schlugen Funken aus den Kieseln des Strandes. Der Nordwind, der uns gerade ins Gesicht blies, verfing sich in unseren Mänteln und ließ die Haare unserer Zwillingshäupter nach hinten flattern. Die Möwe bemühte sich vergebens, uns mit ihren Schreien und Flügelschlägen vor der möglichen Nähe des Unwetters zu warnen, und rief: »Wohin reiten sie in diesem wahnsinnigem Galopp?« Wir sagten nichts; in Träumerei versunken, ließen wir uns auf den Flügeln dieser wilden Jagd dahintragen; der Fischer, der uns vorüberkommen sah, schnell wie der Albatros, und der glaubte, vor sich die beiden geheimnisvollen Brüder dahinrasen zu sehen, die man so nannte, weil sie immer zusammen waren, beeilte sich ein Kreuz zu schlagen, und verbarg sich, mit seinem schreckensstarren Hund, unter einem überhängenden Felsen. Die Küstenbewohner
hatten seltsame Dinge über diese beiden Gestalten erzählen hören, die, mitten in Wolken, zu Zeiten großer Not erschienen, wenn ein schrecklicher Krieg drohte, seine Harpune in die Brust der beiden verfeindeten Länder zu schlagen, oder wenn die Cholera sich anschickte, mit ihrer Schleuder Fäulnis und Tod auf ganze Städte zu werfen. Die ältesten Strandräuber runzelten mit ernster Miene die Stirn und versicherten, daß die beiden Gespenster, deren ungeheuer große schwarze Flügel jeder im Sturm über den Sandbänken und Riffen bemerkt hatte, der Genius der Erde und der Genius des Meeres seien, die während der Zeit der großen Revolutionen der Natur ihre Majestät in den Lüften zeigten, vereint durch eine ewige Freundschaft, deren Seltenheit und Ruhm das Erstaunen des endlos langen Taues der Generationen erregt hatten. Man sagte, daß sie Seite an Seite wie zwei Kondore der Anden in konzentrischen Kreisen die Schichten der Atmosphäre zu durchschweben liebten, die der Sonne am nächsten liegen; daß sie sich von dort von den reinsten Essenzen des Lichtes nährten; aber daß sie sich nur mit Schmerzen entschlossen, die Neigung ihres vertikalen Fluges bis zur entsetzten Kreisbahn zu senken, auf der sich der menschliche Globus im Delirium dreht, von grausamen Geistern bewohnt, die sich gegenseitig umbringen auf den Feldern, wo die Schlacht brüllt (wenn sie sich nicht in den Zentren der Städte heimtückisch mit dem Dolch des Hasses oder des Ehrgeizes töten), und die sich von Wesen, voller Leben wie sie, und einige Sprossen weiter unten auf der Skala der Existenzen, nähren. Oder wenn sie den festen Entschluß faßten, um die Menschen durch die Strophen ihrer Prophetien zur Reue aufzufordern, mit mächtigen Armstößen zu den Sternenregionen zu schwimmen, wo ein Planet in dicken Ausdünstungen von Habsucht, Hochmut, Fluch und Hohn sich bewegte, die sich wie Pestdünste von seiner scheußlichen Oberfläche lösten, und der, wegen der Entfernung, klein wie eine Kugel schien, fanden sie unweigerlich Anlässe, ihre verkannte und verhöhnte Gutmütigkeit bitter zu bereuten, und sie verbargen sich auf dem Grunde der Vulkane, um sich mit dem lebenden Feuer, das in den Trögen der zentralen Unterwelt brodelt, zu unterreden, oder auf dem Grunde des Meeres, um angenehm ihren enttäuschten Blick bei den wildesten Ungeheuern der Tiefe auszuruhen, die ihnen als Modelle an Sanftmut im Vergleich zu den Bastarden der Menschheit erschienen. Kam die Nacht mit ihrer gnädigen Dunkelheit, schwangen sie sich empor aus den Kratern mit Porphyrkämmen, aus den unterseeischen Strömungen, und ließen den steinigen Nachttopf weit hinter sich zurück, auf dem
sich der verstopfte Anus der menschlichen Kakadus abplagt, bis sie die schwebende Silhouette des besudelten Planeten nicht mehr erkennen konnten. Dann umarmten sich weinend, bekümmert über ihren fruchtlosen Versuch, mitten unter den Sternen, die ihren Schmerz bemitleideten, und unter dem Auge Gottes, der Engel der Erde und der Engel des Meeres! … Mario und der, welcher an seiner Seite galoppierte, kannten die verworrenen und abergläubischen Gerüchte, die des Nachts die Fischer der Küste an der Feuerstelle tuxchelnd erzählten, Türen und Fenstern verschlossen; während der Nachtwind, der sich zu wärmen begehrt, sein Pfeifen um die Strohhütte ertönen läßt, und mit seiner Gewalt die zerbrechlichen Mauern erschüttert, an deren Fuß Muscheln, herangetragen von den ersterbenden Wellen, sich häufen. Wir sprachen nicht. Was sagen sich zwei Herzen, die einander lieben? Nichts. Aber unsere Augen drückten alles aus. Ich mahne ihn, seinen Mantel fester um sich zu schließen, und er weist mich darauf hin, daß mein Pferd sich zu weit von dem seinen entferne: jeder nimmt so sehr Anteil am Leben des anderen wie am eigenen Leben; wir lachen nicht. Er bemüht sich, mir zuzulächeln; aber ich sehe, daß sein Gesicht das Gewicht der furchtbaren Spuren trägt, die das Nachdenken gegraben hat, unaufhörlich über die Sphinxe gebeugt, deren schräger Blick die großen Ängste der sterblichen Intelligenz irreführt. Da er einsieht, daß seine Bemühungen vergeblich sind, wendet er die Augen ab, beißt seine irdische Trense mit dem Geifer der Wut, und blickt zum Horizont, der vor unserer Annäherung flieht. Ich meinerseits zwinge mich, ihn an seine goldene Jugend zu erinnern, die nichts verlangt, als in den Palast der Genüsse zu treten wie eine Königin; aber er bemerkt, daß meine Worte mühsam aus meinem schmal gewordenen Mund kommen, und daß die Jahre meines eigenen Frühlings vorübergegangen sind, traurig und eisig wie ein unbarmherziger Traum, der über die Festtafeln, über die Atlasbetten, wo die bleiche Liebespriesterin schlummert, mit dem Gleißen des Goldes bezahlt, die bitteren Genüsse der Entzauberung schweifen läßt, die pestilenzialischen Runzeln des Alters, die Bestürzung der Einsamkeit und die Fackeln des Schmerzes. Da ich meine vergeblichen Bemühungen einsehe, wundere ich mich nicht, daß ich ihn nicht glücklich machen kann; der Allmächtige erscheint mir, mit seinen Folterinstrumenten behangen, in seiner ganzen strahlenden Schreckensaureole; ich wende die Augen ab und blicke zum Horizont, der vor unserer Annährung flieht … Unsere Pferde galoppieren das Ufer entlang, als flöhen sie das menschliche Auge … Mario ist jünger als ich; die
Feuchtigkeit des Wetters und der salzigen Gischt, die bis zu uns herüberspritzt, tragen die Berührung der Kälte auf seine Lippen. Ich sage ihm: »Gib acht! … Gib acht! … schließe deine Lippen, die eine auf die andere; siehst du nicht die spitzen Klauen des Risses, die deine Haut mit brennenden Wunden durchfurchen?« Er heftet seinen Blick auf meine Stirn und antwortet mit den Bewegungen seiner Zunge: »Ja, ich sehe sie, diese grünen Klauen; aber ich werde nicht die natürliche Lage meines Mundes ändern, um sie zu verjagen. Sieh her, ob ich lüge. Da es der Wille der Vorsehung zu sein scheint, will ich mich ihm beugen. Ihr Wille hätte besser sein können.« Und ich rief aus: »Ich bewundere diese edle Rache.« Ich wollte mir die Haare ausreißen, aber er verbot es mir mit strengem Blick, und ich gehorchte ihm mit Achtung. Es wurde spät, und der Adler kehrte in seinen Horst zwischen den Spalten des Felsens zurück. Er sagte mir: »Ich werde dir meinen Mantel geben, um dich vor der Kälte zu schützen: ich brauche ihn nicht.« Ich antwortete ihm: »Wehe dir, wenn du tust, was du sagst. Ich will nicht, daß ein anderer an meiner Stelle leide, vor allem nicht du.« Er antwortete nicht, weil ich recht hatte; aber ich begann ihn zu trösten wegen des allzu heftigen Tons meiner Worte … Unsere Pferde galoppierten am Ufer entlang, als flöhen sie das menschliche Auge … Ich hob den Kopf, wie sich der Bug eines Schiffes auf einer riesigen Welle hebt, und sagte ihm: »Weinst du? Ich frage dich, König des Schnees und des Nebels. Ich sehe keine Träne auf deinem Gesicht, schön wie die Kaktusblüte, und deine Lider sind trocken wie das Bett des Sturzbachs; aber ich erkenne auf dem Grunde deiner Augen ein Becken voll Blut, wo deine Unschuld kocht, von einem großen Skorpion in den Hals gebissen. Ein heftiger Wind fegt in das Feuer, das den Kessel heizt, und verbreitet dort düstere Flammen, die sogar aus deiner geheiligten Augenhöhle dringen. Ich habe meine Haare deiner rosigen Stirn genähert und ich habe einen Brandgeruch gespürt, weil sie verbrannten. Schließe die Augen; denn wenn du es nicht tust, wird dein Gesicht, verkohlt wie die Lava des Vulkans, als Asche in meine hohle Hand fallen.« Und er wandte sich zu mir um, ohne auf die Zügel zu achten, die er in der Hand hielt, und sah mich mit Rührung an, während er langsam die Lilienlider senkte und wieder hob wie Ebbe und Flut des Meeres. Er wollte gern auf meine kühne Frage antworten, und tat es in so: »Achte nicht auf mich. Ebenso wie die Dünste der Flüsse die Flanken des Hügels entlangkriechen und, oben auf dem Gipfel angekommen, in die Atmosphäre aufsteigen und Wolken bilden; ebenso ist deine Beunruhigung über mich sich ohne vernünftigen
Grund unmerklich gewachsen und bildet über deiner Vorstellung den täuschenden Körper einer trostlosen Luftspiegelung. Sei sicher, daß es kein Feuer in meinen Augen gibt, wenngleich ich den Eindruck verspüre, als steckte mein Schädel in einen Helm aus glühenden Kohlen. Wie soll das Fleisch meiner Unschuld im Becken kochen, da ich nur sehr schwache und verworrene Schreie höre, die für mich nur das Stöhnen des Windes sind, der über unsere Köpfe dahinpfeift. Es ist unmöglich, daß ein Skorpion mit seinen scharfen Zangen auf dem Grunde meiner zerfetzten Augenhöhle Wohnung genommen hat; ich glaube eher, daß es starke Zangen sind, die die Sehnerven quetschen. Doch meine ich wie du, daß ein unsichtbarer Henker während des Schlafes der letzten Nacht jenes Blut, von dem das Becken voll ist, aus meinen Adern entnommen hat. Ich habe lange auf dich gewartet, geliebter Sohn des Ozeans; und meine schlummerden Arme haben einen vergeblichen Kampf aufgenommen mit IHM, der in die Vorhalle meines Hauses eingedrungen war … Ja, ich fühle, daß meine Seele eingeschlossen ist hinter dem Schloß meines Körpers, und daß sie sich nicht befreien kann, um weit von den Ufern zu fliehen, die das menschliche Meer bespült, und nicht mehr Zeuge des Schauspiels der leichenfahlen Meute des Unglücks zu sein, die unermüdlich die menschlichen Gemsen durch die Sumpflöcher und die Schlünde der riesigen Niedergeschlagenheit verfolgt. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich habe das Leben wie eine Wunde empfangen, und ich habe dem Selbstmord verboten, die Narbe zu heilen. Ich will, daß der Schöpfer, zu jeder Stunde seiner Ewigkeit, den klaffenden Riß vor Augen habe. Das ist die Züchtigung, die ich ihm auferlege. Unsere Rosse verlangsamen die Schnelligkeit ihrer ehernen Hufe; ihre Leiber zittern wie der Jäger, den eine Herde von Nabelschweinen überrascht. Sie dürfen nicht hören, was wir sagen. Durch Aufmerksamkeit könnte ihre Intelligenz wachsen, und sie könnten uns vielleicht verstehen. Wehe ihnen; denn sie würden mehr leiden! Und wirklich, denke nur an die Frischlinge der Menschheit: wurde ihnen nicht der Grad Intelligenz, der sie von den anderen Wesen der Schöpfung trennt, um den unabänderlichen Preis unschätzbarer Leiden zuteil? Folge meinem Beispiel, und dein silberner Sporn bohre sich in die Flanken deines Rosses …« Unsere Pferde galoppierten am Ufer entlang, als flöhen sie das menschliche Auge.
Dritter Gesang, zweite Strophe Da tanzt die Wahnsinnige vorüber und erinnert sich dabei verschwommen an irgend etwas. Die Kinder verfolgen sie mit Steinwürfen, als wäre sie eine Amsel. Sei schwenkt einen Stock und macht Miene, sie zu verfolgen; dann setzt sie ihren Weg fort. Sie hat einen Schuh auf dem Weg verloren und bemerkt es nicht. Lange Spinnenbeine laufen über ihren Nacken; das sind nur die Haare. Ihr Gesicht ähnelt nicht mehr einem menschlichen Gesicht, und sie stößt ein abgerissenes Lachen aus wie eine Hyäne. Satzfetzen entfahren ihr, in denen sehr wenige, setzten sie sie wieder zusammen, eine klare Bedeutung finden würden. Ihr Kleid, an mehr als einer Stelle durchlöchert, schlottert um ihre knochigen und kotbespritzten Beine. Sie treibt vor sich hin wie ein Pappelblatt; sie selbst, ihre Jugend, ihre Illusionen und ihr vergangenes Glück, auf das sie durch die Nebel einer vom Wirbel unbewußter Kräfte zerstörten Intelligenz zurückblickt. Sie hat ihre ursprüngliche Anmut und Schönheit verloren; ihr Gang ist schwerfällig, und ihr Atem riecht nach Schnaps. Wären die Menschen glücklich auf dieser Welt, müßte man sich darüber wundern. Die Wahnsinnige wirft niemandem etwas vor, sie ist zu stolz, sich zu beklagen, und sie wird sterben, ohne ihr Geheimnis denen enthüllt zu haben, die Anteil nehmen an ihr, denen sie aber verboten hat, sie anzureden. Die Kinder verfolgen sie mit Steinwürfen, als wäre sie eine Amsel. Sie hat aus ihrem Busen eine Papierrolle fallen lassen. Ein Unbekannter hebt sie auf, schließt sich zu Hause die ganze Nacht ein und liest das Manuskript, das folgendes enthielt: »Nach vielen unfruchtbaren Jahren sandte mir die Vorsehung eine Mädchen. Drei Tage lang kniete ich in den Kirchen und dankte unablässig dem großen Namen Dessen, der endlich meine Wünsche erhört hatte. Ich ernährte sie, die mehr als mein Leben war, mit meiner eigenen Milch, und ich sah sie schnell heranwachsen, mit allen guten Eigenschaften der Seele und des Körpers begabt. Sie sagte mir: »Ich möchte eine kleine Schwester haben, um mich mit ihr zu belustigen; empfiehl dem lieben Gott, mir eine zu schicken; um ihm durch eine Gabe zu danken, werde ich ihm einen Kranz aus Veilchen, Minze und Geranien flechten.« Zur Antwort hob ich sie nur an meine Brust und küßte sie voll Liebe. Sie verstand es schon, sich mit Tieren zu beschäftigen, und fragte mich, warum die Schwalbe nur mit den Flügeln die Hütten der Menschen streife und nicht wage einzutreten. Aber ich legte einen Finger auf den Mund, wie um ihr zu sagen, über diese ernste Frage das Schweigen zu
bewahren, deren Bestandteile ich ihr noch nicht auseinandersetzen wollte, um nicht durch ein alzu heftiges Gefühl ihre kindliche Einbildungskraft zu erschüttern, und ich beeilte mich, das Gespräch von diesem Gegenstand abzulenken, den zu behandeln für jedes Wesen dieser Rasse schmerzhaft ist, die eine ungerechte Herrschaft über die anderen Tiere der Schöpfung aufgerichtet hat. Wenn sie zu mir von den Gräbern des Friedhofs sprach und mir sagte, daß man in dieser Atmosphäre die angenehmen Düfte der Zypressen und Immortellen atme, hütete ich mich, ihr zu widersprechen; sondern ich sagte ihr, daß dies die Stadt der Vögel sei, daß sie dort von der Morgendämmerung bis zum Abend sängen, und daß die Gräber ihre Nester seien, wo sie des Nachts mit ihrer Familie schliefen, nachdem sie den Marmor gehoben hätten. All die niedlichen Kleider, die sie bedeckten, hatte ich genäht, und auch die Spitzen mit tausend Arabesken, die ich für den Sonntag zurücklegte. Im Winter nahm sie ihren rechtmäßigen Platz am großen Kamin ein; denn sie hielt sich für eine ernsthafte Person, und im Sommer empfing die Wiese den zarten Druck ihrer Schritte, wenn sie mit ihrem am Ende eines Rohrs befestigten Seidennetz den Kolibris, voll Unabhängigkeit, und den Schmetterlingen in unruhigem Zickzackflug nachjagte. »Was tust du, kleine Landstreicherin, wo das Essen doch seit einer Stunde auf dich wartet mit dem Löffel, der ungeduldig wird?« Sie aber rief, indem sie mir um den Hals fiel, daß sie es nicht wieder tun würde. Am Tag darauf entwischte sie wieder quer durch die Margeriten und die Reseden; unter Sonnenstrahlen und dem wirbelnden Flug kurzlebiger Insekten; und sie kannte nur den vielfarbig strahlenden Kristallkelch des Lebens, nicht schon die Galle; überglücklich über die Grasmücke, die nicht so schön wie die Nachtigall singen kann; dem häßlichen Raben, der sie väterlich betrachtete, streckte sie heimlich die Zunge heraus; und anmutig war sie wie eine junge Katze. Ich sollte mich nicht lange ihrer Gegenwart erfreuen; die Zeit nahte heran, da sie unerwartet den Bezauberungen des Lebens Lebewohl sagen mußte, um für immer der Gesellschaft der Turteltauben, der Haselhühner und der Grünfinken zu entsagen, das Plappern der Tulpe und der Anemone, die Ratschläge des Riedgrases, den scharfen Geist der Frösche und die Frische der Bäche für immer zu verlassen. Man erzählte mir, was geschehen war; denn ich wohnte dem Ereignis nicht bei, das zum Tod meiner Tochter führte. Wäre ich dort gewesen, hätte ich diesen Engel um den Preis meines Blutes verteidigt … Maldoror kam mit seiner Bulldogge vorüber; er sieht ein kleines Mädchen im Schatten einer Platane schlafen und hält sie
zuerst für eine Rose. Man kann nicht sagen, was eher in seinem Geiste aufstieg: der Anblick dieses Kindes oder der Entschluß, der daraus folgte. Er entkleidet sich schnell, wie ein Mann, der weiß, was er tun wird. Splitternackt hat er sich auf den Leib des kleinen Mädchens geworfen und ihr das Kleid gehoben, um ein Attentat gegen die Scham zu vollbringen … im hellem Sonnenlicht! Er wird sich keinen Zwang antun! Verharren wir nicht bei dieser unreinen Tat. Mit unbefriedigtem Geist kleidet er sich hastig wieder an, wirft einen vorsichtigen Blick auf die staubige Straße, die niemand entlangkommt, und befiehlt der Bulldogge, mit einem Schnappen ihrer Kinnladen das blutüberströmte kleine Mädchen zu erwürgen. Er zeigt dem Hund der Berge den Ort, wo das leidende Opfer atmet und schreit, und geht abseits, um nicht Zeuge zu sein, wie die spitzen Zähne in die rosigen Adern eindringen. Diesen Befehl auszuführen, mochte dem Bulldogg streng erscheinen. Er glaubte, man wolle von ihm das, was schon getan war, und dieser Wolf mit ungeheurer Schnauze gab sich damit zufrieden, seinerseits die Jungfräulichkeit dieses zarten Kindes zu vergewaltigen. Aus seinem zerrissenen Bauch fließt von neuem das Blut die Beine entlang über die Wiese. Sein Stöhnen vermischt sich mit dem Geheul des Tieres. Das kleine Mädchen hält ihm das goldene Kreuz vor, das seinen Hals schmückt, damit er sie verschone; sie hatte nicht gewagt, es den wilden Augen dessen zu zeigen, der zuerst den Gedanken hatte, sich die Schwachheit ihres Alters zunutze zu machen. Aber der Hund wußte sehr wohl, daß ihm plötzlich, gehorchte er seinem Herren nicht, ein aus dem Ärmel schnellendes Messer seine Eingeweide ohne jede Warnung herausreißen würde. Maldoror (wie abstoßend ist dieser Name auszusprechen!) hörte die verzweifelten Schmerzensschreie und wunderte sich, daß das Opfer ein so zähes Leben habe, da es noch nicht tot war. Er tritt zu dem Opferaltar und sieht, wie sein Bulldog, niederen Gelüsten hingegeben, sich aufführt, und daß er den Kopf über dem kleinen Mädchen hochreckt wie ein Schiffbrüchiger den seinen über die aufgewühlten Wogen. Er versetzt ihm einen Fußtritt und schlägt ihm ein Auge aus. Der wütende Bulldogg flüchtet querfeldein und schleppt über eine Strecke Weges hin, die, wenn auch kurz, immer noch zu lang ist, den hängenden Körper des kleinen Mädchens mit, der erst durch die Ersschütterungen dieser Flucht loskam; aber er fürchtet, seinen Herrn anzugreifen, der ihn nicht wieder zu Gesicht bekommen wird. Dieser zieht ein amerikanisches Taschenmesser hervor, mit zehn bis zwölf Klingen, die verschiedenen Zwecken dienen. Er öffnet die scharfkantigen Beine dieser stählernen Hydra;
und macht sich, da er sieht, daß der Rasen noch nicht unter der Farbe des so reichlich vergossenen Blutes verschwunden ist, daran, mit diesem Skalpell mutig, ohne zu erbleichen, die Vagina des unglücklichen Kindes zu durchforschen. Aus diesem erweiterten Loch zieht er nacheinander die inneren Organe heraus: die Därme, die Lungen, die Leber und schließlich das Herz selbst werden von ihrem Sitz gerissen und durch die schreckliche Öffnung an das Tageslicht gezerrt. Der Opferer bemerkt, daß das kleine Mädchen, ein ausgenommenes Hühnchen, schon lange tot ist; er unterbricht das ständige Wachsen seiner Raserei und läßt die Leiche im Schatten der Platane weiterschlafen. Man fand das liegengebliebene Messer einige Schritte entfernt. Ein Schäfer, Zeuge des Verbrechens, dessen Urheber man nicht entdeckt hatte, erzählte davon erst lange Zeit später, als er sich überzeugt hatte, daß der Verbrecher sicher über die Grenzen geflohen war, und daß er nicht länger die Rache zu fürchten brauchte, die ihn unweigerlich getroffen hätte, hätte er sich offenbart. Ich beklagte den Irrsinnigen, der diese vom Gesetzgeber nicht vorgesehene und noch nie dagewesene Schandtat vollbracht hatte. Ich beklagte ihn, weil er wahrscheinlich nicht im vollen Besitz seiner Vernunft war, als er den Dolch mit viermal dreifacher Klinge handhabte, um bis auf den Grund die Wandungen der Eingeweide umzupflügen. Ich beklagte ihn, weil sein schändliches Verhalten, sollte er nicht verrückt sein, einen übermäßigen Haß gegen seinesgleichen in sich tragen mußte, um sich mit so grimmig gegen das Fleisch und die Adern eines harmlosen Kindes, das meine Tochter war, zu vergehen. Ich wohnte der Beisetzung dieser menschlichen Trümmer mit stummer Resignation bei; und jeden Tag kam ich, über dem Grab zu beten.« Am Ende dieser Lektüre kann der Unbekannte seine Kräfte nicht bewahren und fällt in Ohnmacht. Er kommt wieder zu sich und verbrennt das Manuskript. Er hatte diese Jugenderinnerung vergessen (die Gewohnheit stumpft das Gedächtnis ab!); und nach zwanzig Jahren Abwesenheit kam er in dieses verhängnisvolle Land zurück. Er wird keine Bulldogge kaufen! … Er wird sich nicht im Schatten von Platanen schlafen legen! … Die Kinder verfolgen sie mit Steinwürfen, als wäre sie eine Amsel.
Dritter Gesang, dritte Strophe Tremdall hat die Hand dessen zum letzten Mal berührt, der sich freiwillig entfernt, der immer vor ihm flieht, immer vom Bild des Menschen verfolgt. Der ewige Jude sagt sich, daß er nicht so fliehen würde, gehörte das Szepter der Erde der Rasse der Krokodile. Tremdall steht aufrecht über dem Tal und hat eine Hand vor seine Augen gelegt, um die Sonnenstrahlen zu bündeln und seinen Blick schärfer zu machen, während die andere mit waagerechtem und reglosem Arm die Brust des Raumes betastet. Vorwärts geneigt, eine Statue der Freundschaft, beobachtet er mit Augen, geheimnisvoll wie das Meer, die Gamaschen des Wanderers, der auf seinen eisenbeschlagenen Stock gestützt, den Abhang ersteigt. Die Erde scheint unter seinen Füßen zu weichen, und selbst wenn er wollte, könnte er nicht seine Tränen und Gefühle zurückhalten: »Er ist fern; ich sehe seine Silhouette auf einem schmalen Pfad wandeln. Wohin geht er mit so schweren Schritten? Er weiß es selbst nicht … Ich bin sicher, daß ich nicht schlafe: doch was naht dort, um Maldoror zu begegnen? Wie groß er ist, der Drache … größer als eine Eiche! Seine weißlichen Flügel an starken Gelenken scheinen Stahlnerven zu haben, mit solcher Leichtigkeit peitschen sie die Luft. Sein Körper beginnt mit der Büste eines Tigers und endet in einem langen Schlangenschwanz. Einen solchen Anblick war ich nicht gewohnt. Was trägt er denn auf der Stirn? Ich sehe dort in einer symbolischer Sprache ein Wort, das ich nicht entziffern kann. Ein letzter Flügelschlag, und er ist bei ihm, dessen Stimmenklang ich kenne. Er hat ihm gesagt: »Ich erwartete dich, und du mich. Die Stunde ist gekommen; hier bin ich. Lies auf meiner Stirn meinen Namen in hieroglyphischen Zeichen.« Doch er, kaum hat er den Feind kommen sehen, verwandelte sich in einen riesenhaften Adler und macht sich zum Kampf bereit, wobei er seinen gebogenen Schnabel vor Befriedigung zuschnappen läßt, womit er sagen will, daß er allein es auf sich nähme, das Hinterteil des Drachens aufzufressen. Sie ziehen Kreise, deren Konzentrizität abnimmt, und erkunden ihre jeweiligen Mittel, bevor sie kämpfen; sie tun gut daran. Der Drache scheint mir stärker; ich wünschte ihm den Sieg über den Adler. Meine Gefühle werden stark an diesem Schauspiel beteiligt sein, in das ein Teil meines Seins verwickelt ist. Mächtiger Drache, ich werde dich, wenn nötig, mit meinen Schreien anfeuern, denn es liegt im Interesse des Adlers, daß er besiegt wird. Was zaudern sie, sich anzugreifen? Ich bin in tödlichen Ängsten. Los, Drache, beginne, greife du ihn als erster an.
Du hast ihm gerade einen harten Klauenschlag versetzt: das ist nicht ganz übel. Sei sicher, daß der Adler ihn gespürt hat; der Wind trägt die Schönheit seiner blutbespritzten Federn davon. O! der Adler hackt dir mit seinem Schnabel ein Auge aus, und du hast ihm nur Haut abgerissen; du hättest besser aufpassen sollen. Bravo, räche dich und brich ihm einen Flügel; da kann man nichts sagen; deine Tigerzähne taugen etwas. Könntest du an den Adler herankommen, während er durch den Raum wirbelt, heruntergeschleudert auf das Land! Ich merke es wohl, dieser Adler veranlaßt dich zur Zerückhaltung, selbst wenn er stürzt. Er liegt am Boden, und er wird nicht wieder aufsteigen können. Der Anblick all dieser klaffenden Wunden berauscht mich. Fliege dicht an der Erde um ihn herum und gib ihm mit Schlägen deines schuppigen Schlangenschwanzes den Rest, wenn du kannst. Mut, schöner Drache; schlage deine starken Klauen in ihn, daß sich das Blut mische, um Bäche zu bilden, in denen kein Wasser fließt. Das ist leichter gesagt, als getan. Der Adler entwickelt einen neuen strategischen Verteidigungsplan, bedingt durch das schlechte Glück in diesem denkwürdigen Kampf; er ist auf seiner Hut. Er hat sich in unerschütterlicher Position auf den verbleibenden Flügel, auf die beiden Schenkel und auf seinen Schwanz, der ihm zuvor als Steuerruder diente, niedergesetzt. Er widersteht außergewöhnlicheren Anstrengungen als denen, die ihm bisher entgegengesetzt wurden. Bald dreht er sich ebenso schnell wie der Tiger, und es hat nicht den Anschein, als ermüde er dabei; bald wirft er sich auf den Rücken, seine beiden starken Beine in der Luft, und sieht seinen Gegner kaltblütig und ironisch an. Immerhin muß ich wissen, wer der Sieger sein wird; der Kampf kann sich doch nicht ewig hinziehen. Ich denke an die Folgen, die hieraus entstehen werden! Der Adler ist furchtbar und macht gewaltige Sprünge, die die Erde erschüttern, als wollte er auffliegen; doch er weiß, daß ihm dies unmöglich ist. Der Drache traut dem nicht; er glaubt der Adler werde ihn jeden Augenblick auf der Seite angreifen, wo ihm das Auge fehlt … Unglücklicher, der ich bin! Genau das ist geschehen. Wie hat sich der Drache an der Brust packen lassen können? Er wendet vergeblich List und Kraft an; ich sehe, daß der Adler, der sich mit allen seinen Gliedern an ihn klammert wie ein Blutegel, trotz neuer Wunden, die er erhält, immer tiefer, bis zum Halsansatz, seinen Schnabel in den Bauch des Drachen bohrt. Man sieht von ihm nur den Leib. Er scheint ihm zu gefallen; er beeilt sich nicht herauszukommen. Zweifellos sucht er etwas, während der Drache mit dem Tigerkopf ein Gebrüll
ausstößt, das die Wälder erweckt. Da zieht sich der Adler aus dieser Höhle heraus. Adler, wie bist du schrecklich! Du bist röter als ein Teich voller Blut! Du hältst zwar in deinem kraftvollen Schnabel ein zuckendes Herz, bist aber so von Wunden bedeckt, daß du dich kaum auf deinen gefiederten Beinen halten kannst; und du taumelst, ohne den Schnabel zu öffnen, zur Seite des Drachen hin, der in schrecklichen Todeskrämpfen stirbt. Der Sieg war schwer; was macht es, du hast ihn davongetragen: man muß immerhin die Wahrheit sagen … Du handelst nach den Regeln der Vernunft, wenn du die Gestalt des Adlers verläßt, während du dich von dem Leichnam des Drachen entfernst. So bist du also Sieger, Maldoror! So hast du also, Maldoror, die Hoffnung besiegt! Von nun an wird die Verzweiflung sich von deiner reinsten Substanz ernähren. Von nun an wirst du mit entschiedenen Schritten wieder die Laufbahn des Bösen betreten! Wenn ich auch unempfindlich gegen das Leiden geworden bin, hat sich doch der letzte Schlag, den du gegen den Drachen geführt hast, in mir bemerkbar gemacht. Beurteile selbst, ob ich leide! Aber du machst mir Angst. Seht, seht in der Ferne diesen Menschen, der flieht. Auf ihm, einem ausgezeichneten Boden, hat der Fluch sein dichtes Laub sprießen lassen; er ist verdammt, wie er verdammt. Wohin trägst du deine Sandalen? Wohin wendest du dich, zögernd wie ein Schlafwandler oben auf einem Dach? Dein widernatürliches Schicksal soll sich erfüllen! Adieu, Maldoror! Adieu bis zur Ewigkeit, in der wir uns nicht zusammen finden werden!«
Dritter Gesang, vierte Strophe Es war ein Frühlingstag. Die Vögel ließen überall zwitschernd ihre Lobgesänge erschallen, und die Menschen, ihren verschiedenen Pflichten wiedergegeben, badeten sich in der Heiligkeit der Ermüdung. Alle arbeiteten an ihrer Bestimmung: die Bäume, die Planeten, die Haifische. Alle, nur der Schöpfer nicht! Er lag mit zerrissenen Kleidern auf der Straße. Seine Unterlippe hing herab wie ein einschläferndes Kabel; seine Zähne waren ungeputzt, und der Staub mischte sich in die blonden Wellen seiner Haare. Erschlafft von lastender Mattigkeit, ganz zerschlagen von den Steinen, bemühte sich sein Leib vergeblich, sich zu erheben. Seine Kräfte hatten ihn verlassen, und er lag da, schwach wie ein Regenwurm, unempfindlich wie Baumrinde. Weinfluten füllten die Rinnen, die seine Schultern mit ihren nervösen Zuckungen gegraben hatten. Die Verblödung mit Schweinerüssel bedeckte ihn mit ihren schützenden Flügeln und warf ihm einen verliebten Blick zu. Seine Beine mit schlaffen Muskeln wischten über den Boden wie zwei blinde Masten. Das Blut floß aus seiner Nase: bei einem Sturz war er mit dem Gesicht auf einen Pfahl gestoßen … Er war betrunken! Fürchterlich betrunken! Betrunken wie eine Wanze, die während der Nacht drei Fässer Blut gefuttert hat! Er füllte das Echo mit zusammenhangslosen Worten an, die hier zu wiederholen, ich mich hüten möchte; wenn der allerhöchste Säufer sich selbst nicht achtet, muß ich jedenfalls die Menschen achten. Wußtet ihr, daß der Schöpfer … sich besoff! Erbarmen für diese an den Bechern der Orgie besudelten Lippen! Der Igel, der vorüberkam, stieß ihm seine Stacheln in den Rücken und sagte: »Da hast du's. Die Sonne hat die Hälfte ihres Weges durchlaufen: arbeite, Faulpelz, und iß nicht der anderen Brot. Warte ein bißchen, gleich rufe ich den Kakadu mit krummem Schnabel.« Der Grünspecht und die Eule, die vorüberkamen, schlugen ihm den Schnabel ganz in den Bauch und sagten: »Da hast du's. Was kommst du auf die Erde? Um den Tieren diese öde Komödie aufzuführen? Aber weder der Maulwurf, noch der Kasuar, noch der Flamingo werden dich nachahmen, das schwöre ich dir.« Der Esel, der vorüberkam, versetzte ihm einen Hufschlag an die Schläfe und sagte: »Da hast du's. Was habe ich dir getan, daß du mir so lange Ohren gabst? Bis hinab zur Grille gibt es niemanden, der mich nicht verachtet.« Die Kröte, die vorüberkam, spuckte ihm auf die Stirn und sagte: »Da hast du's. Hättest du mir nicht so dicke Augen gemacht, und hätte ich dich dann in diesem Zustand angetroffen,
hätte ich schamhaft die Schönheit deiner Glieder unter einem Regen von Hahnenfuß, Vergißmeinnicht und Kamelien verborgen, daß niemand dich sieht.« Der Löwe, der vorüberkam, neigte sein königliches Antlitz und sagte: »Was mich angeht, ich achte ihn, wenn auch sein Glanz uns im Augenblick verdunkelt erscheint. Ihr übrigen, die ihr die Stolzen macht, und die ihr nur feige seid, weil ihr ihn im Schlaf angegriffen habt, wärt ihr zufrieden, wenn ihr, in seiner Lage, von den Vorüberkommenden solche Beleidigungen empfinget, die ihr ihm nicht erspart habt?« Der Mensch, der vorüberkam, blieb vor dem verkannten Schöpfer stehen und kotete, unter dem Beifall der Filzlaus und der Viper, drei Tage lang auf sein erhabenes Angesicht! Wehe den Menschen wegen dieser Beleidigung; denn er hat den Feind nicht geachtet, der in einer Mischung aus Schmutz, Blut und Wein hingestreckt lag; wehrlos und beinahe ohne Leben! … Dann erhob sich der souveräne Gott, von all den schäbigen Beleidigungen geweckt, so gut er konnte; setzte sich schwankend auf einen Stein, mit Armen, baumelnd wie die beiden Hoden eines Schwindsüchtigen; und warf einen glasigen Blick ohne Feuer auf die ganze Natur, die ihm gehörte. 0 Menschen, ihr seid die Lausbuben; aber ich flehe euch an, verschonen wir dieses große Wesen, das noch nicht die unreine Flüssigkeit verdaut hat, und das, noch ohne genügend Kraft, sich aufrecht zu halten, schwer auf diesen Felsen gesackt ist, wo es wie ein Wanderer sitzt. Achtet auf diesen Bettler, der vorüberkommt; er hat gesehen, daß der Derwisch einen hungrigen Arm ausstreckte, und er hat, ohne zu wissen, wem er das Almosen gab, ein Stück Brot in diese Hand fallen lassen, die um Barmherzigkeit fleht. Der Schöpfer hat ihm seine Dankbarkeit mit einer Kopfbewegung bezeigt. O! ihr werdet niemals verstehen, was für eine schwierige Sache es werden kann, dauernd die Zügel des Weltalls zu halten! Manchmal steigt einem das Blut in den Kopf, wenn man sich damit abgibt, einen letzten Kometen mit einer neuen Rasse von Geistern aus dem Nichts zu ziehen. Die Intelligenz, im innersten zu stark aufgewühlt, zieht sich wie besiegt zurück, und kann, einmal im Leben, den Verirrungen verfallen, deren Zeugen ihr gewesen seid!
Dritter Gesang, fünfte Strophe Eine rote Laterne, Fahne des Lasters, schaukelte ihr Gehäuse am Ende einer Stange unter der Peitsche der vier Winde über einer massiven und wurmstichigen Tür. Ein schmutziger Korridor, der nach menschlichen Schenkeln roch, führte auf einen Innenhof, wo Hähne und Hühner, magerer als ihre Flügel, nach Futter suchten. In die westliche Seite der Mauer, die dem Hof als Einfriedung diente, waren verschiedene äußerst sparsame Öffnungen eingelassen, die Schiebegitter verschlossen. Moos bedeckte dieses Wohngebäude, das zweifellos ein Kloster gewesen war und heute, zusammen mit dem Rest der Baulichkeiten, allen jenen Frauen zur Behausung diente, die jeden Tag den Eintretenden im Austausch gegen ein wenig Gold das Innere ihrer Vagina zeigten. Ich stand auf einer Brücke, deren Pfeiler in das schlammige Wasser eines Umfassungsgrabens tauchten. Von ihrer Höhe betrachtete ich in der Landschaft diese über ihr Alter gebeugte Konstruktion und die geringsten Einzelheiten ihrer inneren Gestalt. Zuweilen hob sich kreischend ein Schiebegitter wie durch den nach oben gerichteten Druck einer Hand, die der Natur des Eisen Gewalt antat: ein Mann ließ seinen Kopf in der halb freigelegten Öffnung sehen, schob seine Schultern heraus, auf die schuppiger Gips fiel, und beförderte mühselig seinen von Spinnweben bedeckten Körper ins Freie. Indem er seine Hände wie eine Krone auf den Unrat jeder denkbaren Art stützte, dessen Last den Boden drückte, während noch die Beine in den Wendungen des Gitters gefangen waren, gewann er so seine natürliche Haltung wieder, ging seine Hände in einen wackeligen Bottich tauchen, dessen Seifenwasser ganze Generationen hatte entstehen und vergehen sehen, und entfernte sich dann so schnell wie möglich aus diesen Vorortgassen, um der Stadtmitte zu reine Luft zu atmen. Als der Kunde gegangen war, schleppte sich eine ganz nackte Frau in derselben Weise nach draußen, und ging zum selben Bottich. Da rannten die Hähne und die Hühner aus den verschiedenen Ecken des Hofes in Mengen herbei, angezogen vom Samengeruch, warfen sie trotz ihres heftigen Widerstandes auf den Rücken, trampelten auf ihrem Körper herum wie auf einem Misthaufen, und zerhackten bis aufs Blut die schlappen Lippen ihrer geschwollenen Vagina. Die Hühner und die Hähne machten sich mit vollgestopften Schlünden wieder daran, im Gras des Hofes zu scharren; die gesäuberte Frau erhob sich zitternd, von Wunden bedeckt, wie man aus einem Alptraum erwacht. Sie ließ den Lappen fallen, den sie mitgebracht
hatte, um ihre Beine abzuwischen; da sie den gemeinsamen Bottich nicht brauchte, kehrte sie in ihr Loch zurück, wie sie herausgekommen war, um eine andere Übung zu erwarten. Angesichts dieses Schauspiels wollte auch ich dieses Haus betreten! Beim Herabsteigen von der Brücke sah ich auf dem Gebälk eines Pfeilers diese Inschrift in hebräischen Lettern : »Ihr, die ihr diese Brücke überschreitet, geht nicht dorthin. Das Verbrechen wohnt dort mit dem Laster; eines Tages warteten seine Freunde vergeblich auf einen jungen Mann, der die verhängnisvolle Tür durchschritten hatte.« Die Neugier trug über die Furcht den Sieg davon; nach einigen Augenblicken trat ich vor eines der Schiebegitter, das aus festen, eng gekreuzten Stäben gefügt war. Ich wollte durch dieses enge Sieb ins Innere blicken. Zunächst konnte ich nichts sehen; aber bald konnte ich die Gegenstände unterscheiden, die sich in der finsteren Kammer befanden, dank der Strahlen der Sonne, deren Licht schwächer wurde, und die bald hinter dem Horizont verschwinden würde. Das erste und einzige Ding, das mir ins Auge fiel, war ein blonder Stab, der aus ineinandergesteckten Hörnern bestand. Dieser Stab bewegte sich! Er lief in der Kammer herum! Seine Stöße waren so stark, das der Fußboden bebte; mit seinen beiden Enden stieß er gewaltige Breschen in die Mauern, und er schien ein Rammbock zu sein, den man gegen das Tor einer belagerten Stadt schmettert. Seine Anstrengungen waren fruchtlos; die Mauern waren aus gemeißelten Blöcken gebaut, und wenn er gegen die Wand stieß, sah ich ihn sich wie eine Stahlklinge biegen und zurückfedern wie ein elastischer Ball. Dieser Stab war also nicht aus Holz! Ich sah dann, daß er sich mit Leichtigkeit ein- und ausrollte wie ein Aal. Wenn er auch so groß war wie ein Mensch, so hielt er sich doch nicht aufrecht. Manchmal versuchte er es und ließ eines seiner Enden am Gitter sehen. Er machte ungestüme Sprünge, fiel zurück zur Erde und konnte das Hindernis nicht einschlagen. Ich faßte ihn immer schärfer ins Auge, und ich sah, daß es ein Haar war! Nach einem heftigen Kampf mit der es wie ein Gefängnis umgebenden Materie, lehnte es sich an das Bett, das in der Kammer stand, wobei die Wurzel auf einem Teppich und die Spitze am Kopfkissen ruhte. Nach einigen Augenblicken des Schweigens, während dessen ich abgerissenes Schluchzen vernahm, erhob es die Stimme und sprach: »Mein Herr hat mich in dieser Kammer vergessen; er kommt nicht, mich zu holen. Er hat sich von diesem Bett erhoben, an das ich mich lehne, er hat sein duftendes Haar gekämmt und nicht daran gedacht, daß ich zuvor zur Erde gefallen war. Hätte er mich jedoch aufgehoben, so wäre
mir diese Handlung einfacher Gerechtigkeit nicht sehr verwunderlich erschienen. Er läßt mich in dieser verrammelten Kammer zurück, nachdem er sich in die Arme einer Frau gewickelt hat. Und was für einer Frau! Die Laken sind noch feucht von ihrer abgekühlten Berührung und tragen mit ihrer Unordnung den Abdruck einer in Liebe verbrachten Nacht … « Und ich fragte mich, wer sein Herr sein mochte! Und mein Auge heftete sich noch energischer an das Gitter! … »Während die ganze Natur in ihrer Keuschheit schlummerte, hat er sich mit einer verkommenen Frau in lüsternen und unreinen Umarmungen verbunden. Er hat sich so weit erniedrigt, seinem erhabenen Antlitz durch ihre gewohnheitsmäßige Schamlosigkeit verächtliche, in ihrer Jugend verwelkte Wangen sich nähern zu lassen. Er errötete nicht, aber ich errötete für ihn. Es ist gewiß, daß er sich glücklich fühlte, mit einer solchen Gemahlin für eine Nacht zu schlafen. Die Frau, erstaunt über das majestätische Aussehen dieses Gastes, schien unvergleichliche Lüste zu empfinden und küßte seinen Hals mit Inbrunst.« Und ich fragte mich, wer sein Herr sein mochte! Und meine Augen hefteten sich noch energischer an das Gitter! … »Ich spürte währenddessen, wie vergiftete Pusteln, die wegen seines ungewohnten Eifers für die Genüsse des Fleisches zahlreicher wuchsen, meine Wurzel mit ihrer tödlichen Galle umgaben und mit ihren Saugnäpfen die schöpferische Kraft meines Lebens aufsaugten. Je mehr sie sich in ihren wahnsinnigen Bewegungen vergaßen, desto stärker fühlte ich meine Kräfte schwinden. Im Augenblick, als die körperlichen Begierden den Gipfel der Wut erreichten, stellte ich fest, daß meine Wurzel in sich zusammensank wie ein von einer Kugel verwundeter Soldat. Die Fackel des Lebens war in mir erlöschen, und ich löste mich von seinem erlauchten Haupte wie ein toter Zweig; ich fiel zu Boden, ohne Mut, ohne Kraft, ohne Leben; aber mit tiefstem Mitleid für den, dem ich angehörte; jedoch mit ewigem Schmerz: um seine willentliche Verirrung!« … Und ich fragte mich, wer sein Herr sein mochte! Und mein Auge heftete sich noch energischer an das Gitter! … »Hätte er wenigstens mit seiner Seele die unschuldige Brust einer Jungfrau umfangen. Sie wäre seiner würdiger gewesen, und die Erniedrigung weniger groß. Er küßte mit seinen Lippen diese schmutzbesudelte Stirn, die die Männer unter den staubigen Absatz getreten haben! … Er saugt mit unverschämten Nüstern die Ausdünstungen dieser beiden feuchten Achseln ein! … Ich habe die Häutchen der letzteren sich vor Scham zusammenziehen sehen, während ihrerseits die Nasenlöcher sich dieser infamen Atmung
verweigerten. Aber weder er, noch sie beachteten im mindesten die förmlichen Warnungen der Achseln, den trübsinnigen und matten Widerwillen der Nasenlöcher. Sie hob ihre Arme höher, und er preßte sein Gesicht mit stärkerem Druck in ihre Höhlen. Ich war gezwungen, der Komplize dieser Entweihung zu sein. Ich war gezwungen, der Betrachter dieser unerhörten Hüftschaukelei zu sein; der unnatürlichen Vereinigung dieser beiden Wesen, deren Naturen ein unüberbrückbarer Abgrund trennte … « Und ich fragte mich, wer sein Herr sein mochte! Und mein Auge heftete sich noch energischer an das Gitter! … »Als er gesättigt war vom Geruch dieser Frau, wollte er ihr die Muskeln einen nach dem anderen vom Leibe reißen; aber da sie eine Frau war, vergab er ihr und zog es vor, ein Wesen seines Geschlechtes leiden zu lassen. Er rief aus der Nachbarzelle einen jungen Mann, der in dieses Haus gekommen war, um einige sorglose Minuten mit einer dieser Frauen zu verbringen, und befahl ihm, herzukommen und sich einen Schritt vor seinen Augen aufzustellen. Schon lange lag ich auf dem Boden. Da ich nicht die Kraft hatte, mich auf meine brennende Wurzel zu erheben konnte ich nicht sehen, was sie taten. Was ich weiß, ist dies, daß Fleischfetzen zu Füßen des Bettes fielen und neben mir liegenblieben, kaum daß der junge Mann in Reichweite seiner Hände war. Sie erzählten mir ganz leise, daß die Klauen meines Herrn sie von den Schultern des Jünglings gerissen hätten. Dieser erhob sich nach einigen Stunden, während deren er gegen eine überlegene Macht gekämpft hatte, vom Bett und entfernte sich majestätisch. Er war buchstäblich von Kopf bis Fuß gehäutet; er schleppte über den Steinfußboden der Kammer seine umgewendete Haut nach. Er sagte sich, daß sein Charakter voller Güte sei; daß er gern seine Mitmenschen auch für gut halte; daß er deshalb in den Wunsch des vornehmen Fremden eingewilligt habe, der ihn zu sich rief; aber daß er niemals, überhaupt niemals darauf gefaßt gewesen sei, von einem Henker gefoltert zu werden. Von solch einem Henker, fügte er nach einer Pause hinzu. Schließlich wandte er sich zum Gitter, das bis zum Boden vor Mitleid mit diesem der Epidermis beraubten Körper aufklaffte. Ohne seine Haut zurückzulassen, die ihm vielleicht noch zu etwas dienen konnte, und sei es nur als Mantel, versuchte er, aus dieser Mördergrube zu entkommen; nachdem er sich einmal aus der Kammer entfernt hatte, konnte ich nicht mehr sehen, ob er noch die Kraft hatte, den Ausgang zu erreichen. O! wie die Hühner und die Hähne sich trotz ihres Hungers voller Achtung von dieser langen Blutspur auf der getränkten Erde fernhielten!« … Und ich fragte mich, wer sein Herr
sein mochte! Und meine Augen hefteten sich noch energischer an das Gitter! … »Dann erhob er sich, der mehr an seine Würde und an seine Gerechtigkeit hätte denken sollen, mühsam auf seine müden Ellenbogen. Allein, verdrossen, angeekelt und scheußlich! … Er kleidete sich langsam an. Die Nonnen, seit Jahrhunderten in die Katakomben des Klosters eingeschlossen, ergriffen einander bei der Hand, da sie plötzlich vom Getöse dieser schrecklichen Nacht in einer Zelle über den Kellern geweckt worden waren, und kamen, um einen Totenreigen um ihn zu bilden. Während er die Überreste seines alten Glanzes zusammensuchte; während er sich die Hand mit Spucke wusch, um sie danach an seinen Haaren abzutrocknen (es war besser, sie mit Spucke zu waschen, als sie gar nicht zu waschen, nach einer ganzen im Laster und im Verbrechen verbrachten Nacht), stimmten sie Trauergebete für die Toten an, als sei jemand in die Grube gefahren. Wirklich sollte der junge Mann diese Marter nicht überleben, die ihm von göttlicher Hand zugefügt worden war, und seine Todeskämpfe gingen während des Gesanges der Nonnen zuende … « Ich erinnerte mich an die Inschrift am Pfeiler; ich verstand, was aus dem pubertären Träumer geworden war, den seine Freunde noch immer jeden Tag nach seinem Verschwinden erwarteten … Und ich fragte, wer sein Herr sein mochte! Und meine Augen hefteten sich noch energischer an das Gitter! … »Die Mauern öffneten sich, um ihn durchzulassen; die Nonnen legten sich, als sie ihn in die Lüfte mit Flügeln auffliegen sahen, die er bisher in seiner smaragdenen Robe verborgen hatte, schweigend wieder unter den Deckel des Grabes. Er ist in seine himmlische Wohnung zurückgekehrt und hat mich hier gelassen; das ist nicht recht. Die anderen Haare sind auf seinem Kopf geblieben; und ich liege in dieser schaurigen Kammer, auf einem Boden, bedeckt von geronnenem Blut und getrockneten Fleischfetzen; diese Kammer ist verflucht, seit er den Fuß hier hinein setzte; niemand betritt sie; dennoch bin ich hier eingeschlossen. Es ist also vorbei! Ich werde nicht mehr die Legionen der Engel in dichten Reihen marschieren und nicht die Sterne in den Gärten der Harmonie sich ergehen sehen. Nun gut, sei es … ich werde mein Unglück mit Ruhe zu ertragen wissen. Aber ich werde unfehlbar den Menschen erzählen, was sich in dieser Zelle begeben hat. Ich werde ihnen die Erlaubnis geben, ihre Würde fortzuwerfen wie ein unbrauchbares Gewand, denn sie haben ja das Beispiel meines Herren; ich werde ihnen raten, die Rute des Verbrechens zu lutschen, weil es ein anderer ja schon getan hat … « Das Haar schwieg … Und ich fragte mich, wer sein
Herr sein mochte! Und meine Augen hefteten sich noch energischer an das Gitter! … Alsbald ertönte ein Donnerschlag; Phosphorleuchten drang in die Kammer ein. Ich wich gegen meinen Willen durch irgendeine instinktive Warnung zurück; obgleich ich vom Gitter entfernt war, hörte ich eine andere Stimme, aber diese unterdrückt und gedämpft, aus Furcht, sich vernehmen zu lassen: »Mache nicht solche Sprünge! Sei still … sei still … wenn dich jemand hört! ich werde dich wieder zu den anderen Haaren tun; aber laß zuerst die Sonne untergehen am Horizont, daß die Nacht deine Schritte bedecke … ich hatte dich nicht vergessen; aber man hätte dich herauskommen sehen, und ich wäre bloßgestellt gewesen. O! wenn du wüßtest, wie ich seit diesem Augenblick gelitten habe! Als ich in den Himmel zurückkehrte, umringten mich meine Erzengel voll Neugier; sie haben mich nicht nach dem Grund meiner Abwesenheit fragen wollen. Sie, die niemals gewagt hatten, ihre Augen zu mir zu erheben, warfen verwunderte Blicke auf mein niedergeschlagenes Gesicht, bemüht, das Rätsel zu erraten, obgleich sie den Grund des Geheimnisses nicht erkannten, und tauschten ganz leise Gedanken aus, die irgendeine ungewohnte Veränderung in mir befürchteten. Sie weinten stille Tränen; sie fühlten unbestimmt, daß ich unter mein eigenes Selbst gesunken, daß ich nicht mehr der gleiche war. Sie hätten gern gewußt, welcher verderbliche Entschluß mich die Grenzen des Himmels hatte überschreiten lassen, um mich zur Erde zu senken und flüchtige Lüste zu kosten, die sie selbst gründlich verachteten. Sie bemerkten auf meiner Stirn einen Spermatropfen, einen Blutstropfen. Der erste entstammte den Schenkeln der Kurtisane! Der zweite war aus den Adern des Märtyrers gespritzt! Abscheuliche Mäler! Unerschütterliche Rosetten! Meine Erzengel haben die an den Dickichten des Raumes hängenden, flammenden Fetzen meiner opalenen Tunika aufgefunden, die über den staunenden Völkern wehten. Sie haben sie nicht wieder herstellen können, und mein Leib bleibt unbedeckt vor ihrer Unschuld; denkwürdige Sühne der verlassenen Tugend. Siehe die Furchen, die sich ein Bett in meine farblosen Wangen gegraben haben: das ist der Spermatropfen und der Blutstropfen, die langsam meine trockenen Runzeln entlangrinnen. Auf der Oberlippe angekommen, machen sie eine riesige Anstrengung und dringen in das Heiligtum meines Mundes ein, angezogen vom unwiderstehlichen Schlund wie von einem Magneten. Sie ersticken mich, diese beiden unerbittlichen Tropfen. Ich habe mich bisher für den Allmächtigen gehalten; aber nein; ich muß den Hals beugen
vor dem Gewissensbiß, der mir zuruft: »Du bist nur ein Elender!« Mache nicht solche Sprünge! Sei still … sei still … wenn dich jemand hörte! ich werde dich wieder aufnehmen unter die anderen Haare; aber laß zuerst die Sonne untergehen am Horizont, daß die Nacht deine Schritte bedecke … Ich habe gesehen, wie Satan, der große Feind, sein wirres Knochengerüst aus der larvenhaften Erschlaffung wieder erhob, und aufrecht, triumphierend, erhaben seine versammelten Truppen ansprach; mich, wie ich verdiene, lächerlich machte. Er hat gesagt, er sei sehr erstaunt, daß sein stolzer Rivale, auf frischer Tat durch den schließlichen Erfolg einer dauernden Spionage ertappt, sich soweit erniedrigen konnte, nach einer langen Reise durch die Riffe des Äthers, das Kleid der menschlichen Ausschweifung zu küssen, und unter Schmerzen ein Mitglied der Menschheit zu verderben. Er hat gesagt, daß dieser junge Mann, zermahlen im Räderwerk meiner raffinierten Foltern, vielleicht hätte eine geniale Intelligenz werden können, fähig, die Menschen auf dieser Erde durch bewundernswerte Gesänge der Poesie, des Mutes gegen die Schicksalsschläge zu trösten. Er hat gesagt, daß die Nonnen des Hurenhaus-Klosters keinen Schlaf mehr fänden; auf dem Hof herumirrten, wobei sie wie Automaten gestikulierten, mit dem Fuß die Hahnenfüße und die Lilien zerträten; vor Entrüstung verrückt geworden, aber nicht genug, um sich nicht die Ursache dieser Krankheit ihres Gehirns ins Gedächtnis zu rufen … (Da kommen sie heran, in ihr weißes Leichentuch gehüllt; sie sprechen nicht miteinander; sie halten sich bei der Hand. Ihre Haare fallen in Unordnung auf ihre nackten Schultern; ein Strauß schwarzer Blumen ist über ihre Brust geneigt. Nonnen, kehrt in eure Keller zurück; die Nacht ist noch nicht ganz gekommen; nur erst die Abenddämmerung … O Haar, du siehst es selbst; von allen Seiten werde ich vom entfesselten Gefühl meiner Verderbtheit belagert!) Er hat gesagt, daß der Schöpfer, der sich rühme, die Vorsehung alles Bestehenden zu sein, sich äußerst leichtsinnig aufgeführt habe, um nicht mehr zu sagen, indem er den gestirnten Welten solch ein Schauspiel bot; denn er hat klar gesagt, daß er die Absicht habe, den kreisenden Planeten zu verkünden, wie ich durch mein eigenes Beispiel die Tugend und die Gute in der gewaltigen Ausdehnung meiner Königreiche aufrechterhalte. Er hat gesagt, daß die große Hochachtung, die er für einen so edlen Feind gehabt habe, aus seiner Vorstellung verflogen sei, und daß er es vorzöge, die Hand auf die Brust eines jungen Mädchens zu legen, wenn dies auch eine Handlung abscheulicher Schlechtigkeit sei, als mir in mein von drei Schichten vermischten Spermas und Blutes
bedecktes Gesicht zu spucken, um nicht seinen geifernden Auswurf zu beschmutzen. Er hat gesagt, daß er sich zu Recht mir überlegen fühle, nicht durch die Sünde, sondern durch Tugend und Scham; nicht durch das Verbrechen, sondern durch Gerechtigkeit. Er hat gesagt, daß man mich meiner unzähligen Fehler wegen auf einen Rost binden müßte; mich langsam in glühenden Kohlen verbrennen müßte, um mich dann in das Meer zu werfen, wenn das Meer mich überhaupt aufnehmen wollte. Daß ich mich, da ich mich rühmte, gerecht zu sein, ich, der ich ihn wegen einer geringfügigen Auflehnung, die keine schwerwiegenden Folgen gehabt habe, zu ewigen Strafen verurteilt habe, nun selbst streng richten müsse und unparteiisch mein von Sünden beladenes Gewissen prüfen … Mache nicht solche Sprünge! Sei still … sei still … wenn dich jemand hört! ich werde dich wieder aufnehmen unter die anderen Haare; aber laß zuerst die Sonne untergehen am Horizont, daß die Nacht deine Schritte bedecke.« Er hielt einen Augenblick inne; wenn ich ihn auch nicht sah, verstand ich doch, angesichts der Dauer dieser notwendigen Unterbrechung, daß die Dünung der Gefühle seine Brust hob, wie ein Wirbelzyklon eine Familie von Walfischen hebt. Göttliche Brust, an einem Tag durch die bittere Berührung der Brüste einer schamlosen Frau besudelt! Königliche Seele, in einem Augenblick der Selbstvergessenheit der Krabbe der Ausschweifung ausgeliefert, der Krake der Charakterschwäche, dem Hai der individuellen Niedertracht, der Boa fehlender Moral und der monströsen Schnecke des Idiotismus! Das Haar und sein Herr umschlangen einander innig wie zwei Freunde, die sich nach langer Abwesenheit wiedersehen. Der Schöpfer fuhr fort, ein Angeklagter, der wieder vor seinem eigenen Tribunal erscheint: »Und was werden die Menschen von mir denken, die eine so hohe Meinung von mir hatten, wenn sie von den Verirrungen meines Betragens erfahren, vom zögernden Gang meiner Sandale durch die schlammigen Labyrinthe der Materie, und vom Verlauf meines finsteren Weges durch die stehenden Wasser und die feuchten Binsen des Tümpels, wo von Nebeln bedeckt das Verbrechen mit düsterer Pfote blau anläuft und heult! … Ich sehe, daß ich künftig viel an meiner Rehabilitierung arbeiten muß, um ihre Wertschätzung wieder zu gewinnen. Ich bin der Allmächtige; und doch bleibe ich, in gewisser Weise, den Menschen unterlegen, die ich aus einer Handvoll Sand geschaffen habe! Erzähle ihnen eine freche Lüge, und sage ihnen, daß ich niemals den Himmel verlassen habe, dauernd eingeschlossen mit den Sorgen des Throns, in den Marmor, zwischen den Statuen und Mosaiken meines
Palastes. Ich bin vor die himmlischen Söhne der Menschheit getreten; ich habe ihnen gesagt: »Verjagt das Böse aus euren Hütten und laßt den Mantel des Guten an eure Herdstatt treten. Derjenige, der die Hand gegen seinen Nächsten erhebt, indem er ihm mit mörderischem Eisen eine tödliche Wunde in die Brust schlägt, soll die Wirkungen meiner Barmherzigkeit nicht erhoffen, und er soll die Waage der Gerechtigkeit fürchten. Er wird seine Trauer in den Wäldern verbergen; aber das Rauschen der Blätter wird über die Lichtungen die Ballade der Reue in seine Ohren singen; und er wird von dort fliehen, vom Gestrüpp, der Stechpalme und der blauen Distel in die Hüfte gestochen, seine eiligen Schritte in die Geschmeidigkeit der Lianen verheddert, unter den Stichen der Skorpione. Er wird zum Geröll des Strandes seinen Weg nehmen; aber die Flut wird ihm mit ihrem Gischt und ihrem gefährlichen Nahen erzählen, daß sie seine Vergangenheit kennt, und er wird seinen blinden Lauf zur Spitze der Uferklippe richten, während die gellenden äquinoktialwinde, die in die Naturhöhlen des Golfs und die Steinbrüche unter der Mauer des widerhallenden Felsens eindringen, brüllen wie die unübersehbaren Herden der Pampasbüffel. Die Leuchttürme der Küste werden ihn bis zu den Grenzen des Nordens mit ihren sarkastischen Feuern verfolgen, und die Irrlichter der giftigen Sümpfe mit ihren phantastischen Tänzen, schlichte Dünste bei der Verbrennung, werden die Haare seiner Poren sich sträuben und die Iris seiner Augen grün werden lassen. Daß die Scham in euren Hütten gedeihe und sicher sei im Schatten eurer Felder. Auf diese Weise werden eure Söhne schön und neigen sich mit Dankbarkeit vor ihren Eltern; andernfalls werden sie, schwächlich und verkrümmt wie das Pergament der Bibliotheken, mit großen Schritten, von der Auflehnung geleitet, gegen den Tag ihrer Geburt und die Klitoris ihrer unreinen Mutter vorgehen.« Wie sollen die Menschen diesen strengen Gesetzen gehorchen, wenn der Gesetzgeber selbst sich als erster weigert, sich ihnen zu unterwerfen? … Und meine Schande ist unermeßlich wie die Ewigkeit!« Ich hörte das Haar ihm voll Demut seine Einsperrung verzeihen, da sein Herr ja aus Vorsicht und nicht aus Leichtfertigkeit so gehandelt hatte; und der bleiche letzte Sonnenstrahl, der meine Augen traf, zog sich von den Schrunden der Berge zurück. Ihm zugewandt, sah ich, daß er sich wie ein Leichentuch faltete … Mache nicht solche Sprünge! Sei still … sei still … wenn dich jemand hört! Er wird dich wieder unter die anderen Haare versetzen. Und jetzt, da die Sonne am Horizont untergegangen ist, schleicht beide, zynischer Greis und sanftes
Haar, fort aus dem Hurenhaus, während die Nacht, die ihre Schatten über das Kloster ausbreitet, die Verlängerung eurer verstohlenen Schritte in der Ebene decken wird …. Da sagte die Laus, die plötzlich hinter einem Vorgebirge hervorkam, und ihre Krallen spreizte: »Was hältst denn du davon?« Aber ich wollte ihr nicht antworten. Ich zog mich zurück und kam an die Brücke. Ich löschte die ursprüngliche Inschrift aus und ersetzte sie durch diese: »Es ist schmerzhaft, wie einen Dolch ein solches Geheimnis im Herzen zu bewahren; aber ich schwöre, niemals zu enthüllen, wessen Zeuge ich war, als ich das erste Mal diesen furchtbaren Donjon betrat.« Ich warf das Messer, das mir gedient hatte, die Buchstaben einzuritzen, über das Geländer; und, da ich einige schnelle Überlegungen über den Charakter des kindischen Schöpfers anstellte, der noch, ach, so lange Zeit, die Menschheit leiden lassen sollte (die Ewigkeit ist lang), sei es durch verübte Grausamkeiten, sei es durch das gemeine Schauspiel der Geschwüre, die ein übles Laster hervorbringt, schloß ich wie ein Betrunkener die Augen beim Gedanken, ein solches Wesen zum Feind zu haben, und ich nahm voll Trauer meinen Weg durch die Labyrinthe der Straßen wieder auf.
Vierter Gesang, erste Strophe Ein Mensch oder ein Stein oder ein Baum wird den vierten Gesang beginnen. Wenn der Fuß über einen Frosch gleitet, empfindet man ein Gefühl des Ekels; aber wenn man ganz leicht mit der Hand über einen menschlichen Körper streicht, platzt die Haut der Finger auf wie die Schuppen von einem Block Glimmer, den man mit Hammerschlägen zerbricht; und ebenso wie das Herz eines Hais, der seit einer Stunde tot ist, noch mit hartnäckiger Lebenskraft auf der Brücke zuckt, so drehen sich noch lange nach der Berührung unsere Eingeweide im Leibe herum. In solchem Maß flößt der Mensch seinem eigenen Ebenbild Abscheu ein! Vielleicht täusche ich mich, wenn ich dies vorbringe; vielleicht sage ich aber auch die Wahrheit. Ich kenne, ich stelle mir eine schlimme Krankheit vor als von langen Meditationen über den sonderbaren Charakter des Menschen geschwollenen Augen: aber ich suche sie noch … und ich habe sie nicht finden können! Ich halte mich nicht für weniger intelligent als sonst jemanden, und doch, wer wagte zu behaupten, daß meine Untersuchungen erfolgreich gewesen wären? Welche eine Lüge verließe seinen Mund! Der antike Tempel von Denderah liegt eine und eine halbe Stunde vom linken Ufer des Nils entfernt. Heute haben sich ungezählte Heerscharen von Wespen der Wasserläufe und Uferstraßen bemächtigt. Sie schwärmen um die Säulen wie dichte Wellen schwarzen Haares. Sie bewachen als einzige Bewohner des kalten Portikus den Eingang der Vestibüle wie ein Erbrecht. Ich vergleiche das Surren ihrer metallischen Flügel mit dem unablässigen Zusammenprall von Eisschollen, die sich während des Eisbruchs der Polarmeere übereinander türmen. Aber wenn ich an das Verhalten dessen denke, dem die Vorsehung den Thron über die Erde eingeräumt hat, lassen die drei Flügelspitzen meines Schmerzes ein lautes Surren hören! Wenn während der Nacht ein Komet nach achtzig Jahren Abwesenheit plötzlich in einer Himmelsregion erscheint, zeigt er den Erdbewohnern und den Grillen seinen strahlenden und dunstigen Schweif. Zweifellos hat er kein Bewußtsein von dieser langen Reise; so ist es bei mir nicht: auf das Kopfkissen meines Bettes gestützt, versinke ich, während die Zacken eines dürren und trostlosen Horizontes sich machtvoll auf dem Grund meiner Seele erheben, in die Träume des Mitgefühls und erröte für den Menschen! Vom Nordwind zerschnitten, beeilt sich der Matrose, wenn er seine Wache beendet hat, seine Hängematte wieder aufzusuchen: warum wird mir dieser Trost nicht zuteil? Die Vorstellung, ich sei freiwillig
ebenso tief gefallen wie meine Mitmenschen, und ich hätte weniger als ein anderer das Recht, über unser Geschick, das an die verhärtete Kruste eines Planeten geheftet bleibt, und über das Wesen unserer pervertierten Seele Klagen vorzubringen, durchbohrt mich wie ein Hufnagel. Man hat gesehen, wie Explosionen des Grubengases ganze Familien vernichteten; aber sie kannten die Agonie nur kurze Zeit, weil der Tod in den Trümmern und verderblichen Gasen beinahe mit einem Schlag kommt: ich … ich lebe immer noch wie der Basalt! In der Mitte wie zu Beginn des Lebens sind die Engel sich selbst gleich: ist es nicht schon lange her, daß ich mir selbst nicht mehr gleiche! Der Mensch und ich, eingesperrt in die Grenzen unserer Intelligenz, wie oft ein See in einen Gürtel von Koralleninseln, entfernen uns voneinander, statt unsere jeweiligen Kräfte zu vereinen, um uns gegen den Zufall und das Unglück zu verteidigen, vor Haß bebend, und nehmen zwei entgegengesetzten Straßen, als hätten wir uns gegenseitig mit der Spitze eines Dolches verletzt! Anscheinend kennt der eine die Verachtung, die er dem anderen einflößt; vom Motiv einer relativen Würde getrieben, bemühen wir uns, unseren Gegner nicht irrezuführen; jeder bleibt für sich und weiß genau, daß der ausgerufene Friede unmöglich zu bewahren sein wird. Nun gut! soll also mein Krieg gegen den Menschen ewig währen, da jeder im anderen seine eigene Erniedrigung erkennt … weil beide Todfeinde sind. Ob ich nun einen verheerenden Sieg davontrage oder unterliege; der Kampf wird schön sein: ich allein gegen die Menschheit. Ich werde mich nicht aus Holz oder Eisen gefertigter Waffen bedienen; ich werde mit dem Fuß die aus der Erde gewonnenen Minerale fortstoßen: der gewaltige und seraphische Klang der Harfe wird unter meinen Fingern ein furchtbarer Talisman sein. Bei mehr als einem Überfall hat der Mensch, dieser prächtige Affe, schon meine Brust mit seiner Porphyrlanze durchbohrt: ein Soldat zeigt seine Wunden nicht, so ruhmreich sie auch sein mögen. Dieser schreckliche Krieg wird Schmerz über beide Parteien bringen: zwei Freunde, die hartnäckig trachten, einander zu vernichten, welch eine tragisches Schauspiel!
Vierter Gesang, zweite Strophe Zwei Pfeiler, die für Affenbrotbäume zu halten nicht schwierig, geschweige unmöglich war, sah man im Tal, größer als zwei Nadeln. In Wirklichkeit waren es zwei gewaltige Türme. Und obwohl auf den ersten Blick zwei Affenbrotbäume nicht zwei Nadeln ähnlich sind, auch nicht einmal zwei Türmen, kann man doch behaupten, indem man geschickt die Fäden der Umsicht handhabt, ohne Furcht, im Unrecht zu sein (wenn nämlich diese Behauptung von nur einem Teilchen Furcht begleitet würde, wäre sie keine Behauptung mehr; wenn auch ein und derselbe Name diese beiden seelischen Phänomene ausdrückt, die hinlänglich ausgeprägte Charakterzüge aufweisen, um nicht leicht verwechselt zu werden), ein Affenbrotbaum unterscheide sich nicht so sehr von einem Pfeiler, daß der Vergleich zwischen diesen architektonischen Formen … oder geometrischen … oder sowohl architektonischen wie geometrischen … oder weder noch … oder vielmehr aufragenden und massiven Formen verboten wäre. Gerade habe ich, mir fällt nicht ein, das Gegenteil zu behaupten, die passenden Epitheta zu den Substantiven Pfeiler und Affenbrotbaum gefunden: man merke wohl, daß ich nicht ohne mit Stolz gemischter Freude diese Bemerkung an jene richte, die, nachdem sie ihre Lider gelüftet haben, den höchst löblichen Entschluß faßten, diese Seite durchzulesen, wobei, wenn es Nacht ist, die Kerze brennt, und wenn es Tag ist, die Sonne leuchtet. Und selbst dann, wenn eine höhere Gewalt uns in äußerst klaren und bestimmten Ausdrücken beföhle, den scharfsinnigen Vergleich, den sicherlich jedermann ungestraft hat kosten dürfen, in die Abgründe des Chaos zurückzuwerfen, selbst dann, und vor allem dann, man verliere dieses Hauptaxiom nicht aus den Augen, müßten die Gewohnheiten, die sich durch die Jahre bilden, durch die Bücher, durch den Kontakt mit den anderen und durch den jedem innewohnenden Charakter, der sich schnellem Aufblühen entwickelt, dem menschlichen Geist das unheilbare Stigma des Rückfalls in die verbrecherische Verwendung (verbrecherisch, sofern man sich momentan und aus freien Stücken auf den Standpunkt der höheren Gewalt stellt) einer rhetorischen Figur aufzwingen, die manche verachten, aber viele verehren. Wenn der Leser diesen Satz zu lang findet, mag er meine Entschuldigung annehmen; aber er soll von mir keine Unterwürfigkeiten erwarten. Ich kann meine Fehler eingestehen, nicht aber durch Feigheit noch verschlimmern. Meine Überlegungen werden gelegentlich gegen die
Schellen des Irrsinns stoßen und gegen den ernsten Anschein dessen, was im großen und ganzen nur grotesk ist (wenn es auch, gewissen Philosophen zufolge, reichlich schwer sein dürfte, den Narren vom Melancholiker zu unterscheiden, da das Leben ein komisches Drama oder eine dramatische Komödie ist); doch ist es jedermann erlaubt, Fliegen zu töten, oder sogar Rhinozerosse, um sich von Zeit zu Zeit von einer zu schwierigen Arbeit zu erholen. Was das Fliegenfangen angeht: hier die wirksamste Methode, die dennoch nicht die beste ist: man zerquetsche sie zwischen den beiden ersten Fingern der Hand. Die Mehrzahl der Autoren, die diesen Gegenstand gründlich behandelt haben, kamen zu der sehr wahrscheinlich zutreffenden Einschätzung, daß es in bestimmten Fällen vorzuziehen sei, ihnen den Kopf abzuhacken. Wenn mir jemand vorwirft, daß ich von Nadeln rede, einem vollständig unbedeutenden Gegenstand, soll er in aller Unvoreingenommenheit berücksichtigen, daß die größten Wirkungen oft von den kleinsten Ursachen hervorgerufen worden sind. Und, um mich nicht weiter vom Rahmen dieses Blattes Papier zu entfernen, sieht man nicht ein, daß dieses mühsame Stück Literatur, das ich gerade seit dem Beginn dieser Strophe verfasse, vielleicht weniger geschätzt würde, stützte es sich auf ein verwickeltes Problem der Chemie oder der inneren Pathologie? Im übrigen kommen in der Natur alle Geschmacksrichtungen vor; und wenn ich zu Anfang die Pfeiler so richtig mit Nadeln verglichen habe (wirklich, ich glaubte nicht, daß man es mir eines Tages vorwerfen würde), habe ich mich auf die Gesetze der Optik gestützt, die bewiesen haben, daß sich das Bild um so kleiner auf der Netzhaut spiegelt, je weiter der Gehsichtskreis von einem Gegenstand entfernt ist. Was der Hang unseres Geistes zur Farce für einen üblen Witz hält, ist meistens im Denken des Autors nichts als eine bedeutende, mit Majestät vorgetragene Wahrheit! O! dieser irrwitzige Philosoph, der in Lachen ausbrach, als er einen Esel eine Feige fressen sah! Ich erfinde nichts: die antiken Bücher haben mit allen Einzelheiten von dieser willentlichen und schändlichen Aufgabe des menschlichen Adels berichtet. Ich kann nicht lachen. Ich habe nie lachen können, wenn ich es auch verschiedentlich versucht habe. Es ist sehr schwierig, das Lachen zu lernen. Oder ich glaube vielmehr, daß ein Gefühl des Widerwillens gegen diese Monstrosität ein wesentliches Zeichen meines Charakters bildet. Nun ja, ich bin Zeuge einer wesentlich stärkeren Sache geworden: ich habe eine Feige einen Esel fressen sehen! Und doch habe ich nicht gelacht; offen gesagt hat sich keine Mundpartie bewegt. Das Bedürfnis zu weinen
bemächtigte sich meiner so heftig, daß meinen Augen eine Träne entquoll. »Natur! rief ich schluchzend aus, der Sperber zerreißt den Spatzen, die Feige frißt den Esel und der Bandwurm verschlingt den Menschen!« Ohne weiter gehen zu wollen, frage ich mich bei mir selbst, ob ich von der Art und Weise gesprochen habe, wie man Fliegen tötet. Ja, nicht wahr? Es ist nicht weniger wahr, daß ich nicht von der Vernichtung der Rhinozerosse gesprochen habe! Wenn bestimmte Freunde das Gegenteil behaupten, werde ich nicht auf sie hören und ich werde mich daran erinnern, daß Lob und Schmeichelei zwei große Steine des Anstoßes sind. Doch kann ich mich nicht enthalten, um mein Gewissen, so weit es geht, zu beruhigen, die Bemerkung zu machen, daß eine Abhandlung über das Rhinozeros mich weit über die Grenzen der Geduld und der Kaltblütigkeit hinfortzöge und ihrerseits wahrscheinlich (haben wir sogar den Mut zu sagen: sicherlich) die gegenwärtigen Generationen entmutigte. Nicht nach der Fliege vom Rhinozeros gesprochen zu haben! Wenigstens hätte ich, zur hinlänglichen Entschuldigung, sofort (und ich habe es nicht getan!) diese unvorsätzliche Auslassung erwähnen müssen, die jene nicht erstaunen wird, welche gründlich die wirklichen und unerklärlichen Widersprüche studiert haben, die den Windungen des menschlichen Gehirns innewohnen. Nichts ist einer großen und einfachen Intelligenz unwürdig: das geringste Phänomen der Natur, wenn es ein Geheimnis enthält, wird für den Weisen ein unerschöpflicher Gegenstand des Nachdenkens. Wenn jemand einen Esel eine Feige oder eine Feige einen Esel fressen sieht (diese beiden Umstände treten nicht allzu häufig ein, es sei denn in der Poesie), könnt ihr sicher sein, daß er, nachdem er zwei oder drei Minuten überlegt hat, wie er sich benehmen soll, den Pfad der Tugend verlassen und anfangen wird, wie ein Hahn vor Lachen zu krähen! Und es ist ferner nicht genau bewiesen, daß die Hähne ausdrücklich ihren Schnabel öffnen, um den Menschen nachzuahmen und eine verquälte Grimasse zu schneiden. Ich nenne Grimasse bei den Vögeln das, was bei den Menschen den selben Namen trägt! Der Hahn verläßt seine Natur nicht, weniger aus Unfähigkeit, als vielmehr aus Stolz. Lehrt sie das Lesen und sie revoltieren. Kein Papagei würde über seine unwissende und unverzeihliche Schwäche in Entzückung geraten! O! grauenhafte Entstellung! wie ähnelt man nicht einer Ziege, wenn man lacht! Die Ruhe der Stirn ist verschwunden, um zwei riesigen Fischaugen Platz zu machen (ist das nicht beklagenswert?) … die … die zu leuchten beginnen wie Leuchttürme! Es wird mir oft passieren, salbungsvoll die albernsten
Urteile vorzutragen … ich finde nicht, daß dies ein in zwingender Weise hinreichendes Motiv ist, den Mund in die Breite zu ziehen! Ich kann mir das Lachen nicht verbeißen, antwortet ihr; ich nehme diese absurde Erklärung an, aber dann soll es ein melancholisches Lachen sein. Lacht, aber weint zugleich. Wenn ihr nicht mit den Augen weinen könnt, weint mit dem Mund. Geht das immer noch nicht, uriniert; aber ich erkläre, daß hier irgendeine Flüssigkeit nötig ist, um die Trockenheit zu lindern, die das Lachen in sich trägt mit seinen nach rückwärts gespaltenen Zügen. Was mich betrifft, werde ich mich nicht vom drolligen Glucksen und vom originellen Brüllen jener aus der Fassung bringen lassen, die immer irgend etwas an einem Charakter auszusetzen haben, der dem ihren nicht gleicht, weil er eine der unzähligen intellektuellen Modifikationen ist, die Gott, ohne von einem Urtypus abzugehen, schuf, um die Knochengerüste zu regieren. Bis hin auf unsere Tage hat die Poesie einen falschen Weg genommen; während sie sich bis zum Himmel erhob oder auf der Erde kroch, hat sie die Grundlagen ihrer Existenz verkannt, und wurde, nicht ohne Grund, dauernd von den anständigen Leuten verhöhnt. Sie ist nicht bescheiden gewesen … schönste Eigenschaft, die in einem unvollkommenen Wesen bestehen kann! Ich will meine guten Eigenschaften zeigen; aber ich bin nicht heuchlerisch genug, um meine Laster zu verbergen! Das Lachen, das Böse, der Stolz, der Irrsinn werden eins nach dem anderen auftreten neben der Empfindsamkeit und der Gerechtigkeitsliebe und werden der menschlichen Verblüffung zum Beispiel dienen: jeder wird sich wiedererkennen, nicht so, wie er sein soll, sondern so, wie er ist. Und vielleicht wird dieses einfache Ideal, das meine Vorstellung erdacht hat, doch alles überflügeln, was die Poesie bisher an Großartigstem und Heiligstem erfunden hat. Denn wenn ich meine Fehler auf diesen Seiten durchscheinen lasse, wird man nur umso besser an die Tugenden glauben, die ich hier glänzen lasse und deren Aureole ich so hoch erheben werde, daß die größten Genies der Zukunft mir aufrichtige Dankbarkeit bezeugen werden. So wird also die Heuchelei rücksichtslos aus meiner Wohnstätte vertrieben sein. In meinen Gesängen wird ein eindrucksvoller Beweis der Kraft enthalten sein, die Vorurteile zu verachten. Er singt für sich allein und nicht für die anderen. Er legt das Maß seiner Inspiration nicht auf die menschliche Waage. Frei wie der Sturm ist er eines Tages an den unbezähmbaren Stränden seines schrecklichen Willens gestrandet! Er fürchtet nichts, nur sich selbst! In seinen übernatürlichen Kämpfen wird er den Menschen und den Schöpfer mir Erfolg angreifen, wie der Schwertfisch seinen
Degen in den Bauch des Wales rennt: der sei verflucht, von seinen Kindern und von meiner mageren Hand, der beharrlich die unerbittlichen Känguruhs des Lachens und die wagemutigen Läuse der Karikatur nicht versteht! … Zwei gewaltige Türme waren im Tal zu sehen; ich habe es zu Anfang gesagt. Wenn man sie mit zwei multiplizierte, gab es vier … aber ich verstand die Notwendigkeit dieser arithmetischen Operation nicht besonders gut. Ich werde meinen Weg fortsetzten, das Fieber im Gesicht, und ich werde unablässig ausrufen: »Nein … nein … ich verstehe die Notwendigkeit dieser arithmetischen Operation nicht besonders gut!« Ich habe Kettenknirschen und schmerzvolles Stöhnen gehört. Daß niemand es für möglich halte, wenn er hier vorüberkommt, die Türme mit zwei zu multiplizieren, damit das Produkt vier ergebe! Manche argwöhnen, ich liebte die Menschheit, als wäre ich ihre eigene Mutter und hätte sie neun Monate in meinem duftenden Schoß getragen; deshalb kehre ich nicht zurück in das Tal, wo sich die zwei Einheiten des Multiplikanden erheben!
Vierter Gesang, dritte Strophe Ein Galgen erhob sich über dem Boden; einen Meter über diesem baumelte ein Mann an den Haaren mit auf dem Rücken gefesselten Armen. Seine Beine hatte man frei gelassen, um seine Martern zu vergrößern und ihn in stärkerem Maße alles mögliche als nur die Fesselung seiner Arme wünschen zu lassen. Die Stirnhaut war durch das Gewicht des Hängens derart gespannt, daß sein durch die Umstände zur Abwesenheit des natürlichen Ausdrucks verurteiltes Gesicht der steinigen Ablagerung eines Stalaktiten glich. Seit drei Tagen erlitt er diese Marter. Er rief: »Wer bindet mir die Arme los? wer macht meine Haare los? Ich verrenke mich in diesen Bewegungen, die nur noch mehr Wurzeln meiner Haare von meinem Kopfe trennen; Durst und Hunger sind nicht die Hauptursachen, die mich abhalten zu schlafen. Es ist unmöglich, daß mein Dasein über die Grenzen einer Stunde hinaus dauert. Reißt mir niemand mit einem spitzen Stein die Kehle auf!« Jedem dieser Worte ging ein lautes Geheul voraus und folgte ihm. Ich sprang hinter dem Gebüsch hervor, hinter dem ich verborgen war, und ging zu dem Hampelmann oder der an der Decke hängenden Speckseite hin. Aber da näherten sich von der entgegengesetzten Seite her zwei betrunkene Frauen im Tanzschritt. Die eine trug einen Sack und zwei Peitschen mit Bleischnüren, die andere ein Fäßchen voll Teer und zwei Pinsel. Die angegrauten Haare der Älteren wehten wie die Fetzen eines zerrissenen Segels im Wind, und die Knöchel der anderen schlugen gegeneinander wie der Schwanz eines Thunfisches gegen die Deckskajüte eines Schiffes. In ihren Augen leuchtete eine so schwarze und so starke Flamme, daß ich zuerst nicht glaubte, diese beiden Frauen gehörten zu meiner Art. Sie lachten mit einer so egoistischen Dreistigkeit, und ihre Züge flößten so großen Widerwillen ein, daß ich nicht einen Augenblick zweifelte, die beiden scheußlichsten Exemplare der menschlichen Rasse vor Augen zu haben. Ich verbarg mich wieder hinter den Büschen und verhielt mich ganz ruhig wie der Acantophorus serraticornis, der nur den Kopf aus dem Nest heraus sehen läßt. Sie kamen mit der Schnelligkeit der Flut heran; als ich das Ohr an die Erde legte, trug mir der Schall deutlich die lyrische Erschütterung ihrer Schritte zu. Als die beiden Orang-UtanWeibchen unter dem Galgen angekommen waren, schnüffelten sie für einige Sekunden in der Luft; ihre albernen Gesten drückten eine wirklich bemerkenswerte Verblüffung aus, als sie feststellten, daß sich hier nichts geändert hatte: das Ende durch den Tod, wie sie es
wünschten, war nicht eingetreten. Sie hatten nicht geruht, das Kopt zu heben, um festzustellen, ob die Mortadella sich noch am gleichen Platz befand. Die eine sagte: »Ist es möglich, daß du noch am Leben bist? Du hast ein zähes Leben, mein vielgeliebter Gatte.« Wie zwei Kirchensänger in einer Kathedrale abwechselnd die Verse eines Psalmes anstimmen, antwortete die zweite: »Du willst also nicht sterben, o mein liebenswürdiger Sohn? Sage mir doch, wie du es angestellt hast (sicher durch irgendeine Zauberei), die Geier zu erschrecken? In der Tat, dein Gerippe ist sehr mager geworden! Der Zephyr schaukelt es wie eine Laterne.« Beide ergriffen Pinsel und teerten den Körper des Gehängten … jede nahm eine Peitsche und hob den Arm … Ich bewunderte (es war völlig unmöglich, es nicht zu tun), mit welch einer energischen Genauigkeit die Metallklingen, statt über die Oberfläche zu gleiten, so als kämpfe man mit einem Neger und mache vergebliche Anstrengungen, wie im Alptraum, ihn bei den Haaren zu packen, dank des Teers bis tief in das Fleisch drangen, das Furchen zeichnete, so tief, wie das Hindernis der Knochen logischerweise zulassen konnte. Ich habe mich vor der Versuchung bewahrt, Genuß an diesem äußerst sehenwerten Schauspiel zu finden, das jedoch weniger urkomisch war, als man mit Recht hätte erwarten dürfen. Und doch, wie kann man trotz aller guten Vorsätze umhin, die Kraft dieser Frauen, die Muskeln ihrer Arme zu bewundern? Ihre Geschicklichkeit, die darin bestand, auf die empfindlichsten Teile zu schlagen, wie auf das Gesicht und den Unterleib, werde ich nicht erwähnen, wenn ich nicht danach strebe, die vollständige Wahrheit zu erzählen! Wenn ich es nicht vorziehe, indem ich meine Lippen aufeinanderpresse, vor allem in horizontaler Richtung (aber jedermann weiß, daß dies die gewöhnlichste Weise ist, diese Pressung zu erzeugen), ein von Tränen und Geheimnissen geschwollenes Schweigen zu bewahren, dessen schmerzvolle Äußerung außerstande wäre, nicht nur ebenso gut, sondern sogar besser als meine Worte (denn ich glaube nicht, mich zu irren, wenngleich man sicher prinzipiell, will man nicht gegen die elementarsten Regeln der Geschicklichkeit verstoßen, die hypothetischen Möglichkeiten des Irrtums zugeben muß) die verderblichen Resultate zu verbergen, von einer Wut verursacht, die dürre Mittelhände und kräftige Handgelenke in Bewegung setzt: selbst wenn man sich nicht auf den Standpunkt des unparteiischen Beobachters und des erfahrenen Moralisten stellte (es ist beinahe ebenso wichtig, mitzuteilen, daß ich nicht, jedenfalls nicht vollständig, diese mehr oder weniger trügerische Einschränkung zulasse), der Zweifel soll in dieser Hinsicht nicht die Gelegenheit
haben, seine Wurzeln auszubreiten; denn ich glaube ihn im gegenwärtigen Augenblick nicht in den Händen einer übernatürlichen Macht, und er käme unvermeidlich, vielleicht nicht plötzlich, mangels eines Saftes um, der gleichzeitig die Bedingung der Ernährung und die Entfernung giftiger Substanzen erfüllt. Es versteht sich, wenn nicht, lest mich nicht, daü ich nur die schüchterne Persönlichkeit meiner Meinung vorführe: doch liegt es mir fern, daran zu denken, Rechte aufzugeben, die unverzichtbar sind! Gewiß habe ich nicht die Absicht, diese Behauptung zu bekämpfen, die das Kriterium der Gewißheit erleuchtet, daß es ein einfacheres Mittel gebe, sich zu verständigen; es bestünde darin, ich teile es in einigen wenigen Worten mit, die mehr als tausend aufwiegen, nicht zu diskutieren: es ist schwieriger in die Praxis umzusetzen, als im allgemeinen der gewöhnliche Sterbliche glauben will. Diskutieren ist das grammatische Wort, und viele werden finden, daß man nicht ohne eine umfangreiche Sammlung von Beweisen dem widersprechen sollte, was ich soeben auf dem Papier niederlegte; aber die Sache stellt sich bedeutend anders dar, wenn es gestattet ist, dem eigenen Instinkt zu erlauben, einen seltenen Scharfsinn in den Dienst seiner Umsicht zu stellen, wenn er Urteile ausspricht, die sonst, seid dessen gewiß, von einer Kühnheit schienen, die an den Gestaden der Aufschneiderei sich ergeht. Um diesen kleinen Zwischenfall abzuschließen, der sich selbst seines tauben Gesteins mit einer Leichtfertigkeit enledigt hat, die ebenso unheilbar bedauerlich wie verhängnisvoll von Interesse ist (was jedermann wird bestätigen können, sofern er seine jüngsten Erinnerungen abgehorcht hat), ist es gut, wenn man vollkommen ausgewogene Fähigkeiten besitzt, oder besser, wenn die Waage des Idiotismus einen nicht weit über die Waagschale hebt, auf der die edlen und großartigen Attribute der Vernunft ruhen, das heißt, um klarer zu sein (denn bisher war ich nur bündig, was dieser oder jener nicht einmal zugeben wird, wegen meiner Längen, die nur eingebildet sind, da sie ihren Zweck erfüllen, mit dem Skalpell der Analyse die flüchtigen Erscheinungen der Wahrheit bis in ihre letzten Verästelungen zu verfolgen), wenn die Intelligenz in ausreichender Weise vorherrscht über die Mängel, unter deren Gewicht Gewohnheit, Natur und Erziehung sie teilweise erstickt haben, es ist gut, wiederhole ich zum zweiten und zum letzten Mal, denn wegen der Wiederholungen gelangt man schließlich, in den meisten Fällen ist das nicht falsch, dahin, daß man sich nicht mehr versteht und mit eingekniffenem Schwanz (wenn es überhaupt war ist, daß ich einen Schwanz habe) zum dramatischen Gegenstand
zurückkehrt, der mit dieser Strophe verkittet ist. Es ist von Nutzen, ein Glas Wasser zu trinken, bevor ich meine Arbeit fortsetze. Ich ziehe es vor zwei zu trinken, als es ganz zu unterlassen. So wie bei der Jagd auf einen braunen Neger durch den Wald im gegebenen Augenblick jedes Mitglied der Truppe sein Gewehr an die Lianen hängt, und man sich versammelt im Schatten einer Baumgruppe, um den Durst und den Hunger zu stillen. Aber die Rast dauert nur einige Sekunden, die Verfolgung wird mit Eifer wieder aufgenommen, und das Halali erschallt in Bälde. Und ebenso wie der Sauerstoff an einer Eigenschaft zu erkennen ist, die er ohne Stolz besitzt, ein Streichholz wieder zu entzünden, das noch einige brennende Stellen aufweist, so wird man die Erfüllung meiner Pflicht an der Eilfertigkeit erkennen, die ich zeige, zur Frage zurückzukommen. Als die Weiber sich außerstande sahen, die Peitsche noch zu halten, die die Müdigkeit ihnen aus der Hand fallen ließ, beendeten sie umsichtigerweise die gymnastische Arbeit, die sie seit beinahe zwei Stunden ausgeübt hatten, und zogen sich mit einer Freude zurück, die nicht frei von Drohungen für die Zukunft war. Ich ging hin zu dem, der mich zu Hilfe rief, mit verglastem Auge (denn der Blutverlust war so groß, daß Schwäche ihn am Sprechen hinderte, und daß nach meiner Ansicht, obwohl kein Arzt, Blutsturz im Gesicht und am Unterleib zu erwarten stand) und ich schnitt mit einer Schere seine Haare ab, nachdem ich seine Arme befreit hatte. Er erzählte mir, daß seine Mutter ihn eines Abends in ihr Schlafzimmer gerufen und ihm befohlen habe, sich zu entkleiden, um die Nacht mit ihr in einem Bett zu verbringen, und daß sich, ohne irgendeine Antwort abzuwarten, die Mutterschaft all ihrer Kleider entledigt habe, wobei sie sich vor ihm in den unzüchtigsten Bewegungen wand. Daß er sich darauf zurückgezogen habe. Darüber hinaus hatte er den Zorn seiner Frau durch seine anhaltende Weigerung auf sich gezogen, die sich in der Hoffnung auf eine Belohnung gewiegt hatte, könnte sie erfolgreich ihren Mann bewegen, seinen Körper den Leidenschaften der Alten hinzugeben. Sie beschlossen in einer Verschwörung, ihn an einem Galgen aufzuhängen, den sie vorher in einer abgelegenen Gegend errichtet hatten, und ihn allmählich, allem Elend und allen Gefahren ausgesetzt, zugrunde gehen zu lassen. Nur nach sehr reiflichen, fortgesetzten Überlegungen, denen sich beinahe unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellten, waren sie schließlich veranlaßt worden, sich für die raffinierte Folter zu entscheiden, die ihr Ziel nur durch die unerwartete Hilfe meines Eingreifens nicht erreicht hatte. Die lebhaftesten Anzeichen von
Dankbarkeit unterstrichen jeden Ausdruck und verliehen seinen Bekenntnissen nicht zu geringem Teil ihren Wert. Ich trug ihn in die nächstgelegene Hütte; denn er war gerade in Ohnmacht gefallen, und ich verließ die Ackerbesteller nur, nachdem ich ihnen meine Börse überlassen hatte, damit sie den Verletzten pflegten, und nachdem ich sie hatte versprechen lassen, den Unglücklichen wie ihren eigenen Sohn mit den Zeichen einer beständigen Sympathie zu überhäufen. Ich meinerseits erzählte ihnen die Geschichte und näherte mich der Tür, um den Fuß wieder auf den Pfad zu setzen; aber kaum hatte ich hundert Meter zurückgelegt, kehrte ich mechanisch auf meinen Spuren zurück, betrat von neuem die Hütte und rief, mich an die naiven Bewohner wendend, aus: »Nein, nein … glaubt nicht, daß dies mich erstaunt!« Dieses Mal entfernte ich mich endgültig; aber die Fußsohle vermochte nicht sicher aufzutreten: ein anderer hätte es nicht bemerkt! Der Wolf läuft nicht mehr unter dem Galgen hindurch, den an einem Frühlingstag die vereinten Hände einer Gattin und einer Mutter errichtet hatten, wie damals, als er seiner bezauberten Einbildung gebot, den Weg zu einer illusionären Mahlzeit zu nehmen. Wenn er am Horizont dieses vom Wind gewiegte schwarze Haar erblickt, ermutigt er sein Beharrungsvermögen nicht und ergreift mit unvergleichlicher Geschwindigkeit die Flucht! Muß man in diesem psychologischen Phänomen eine dem gewöhnlichen Instinkt der Säugetiere überlegene Intelligenz sehen? Ohne irgend etwas zu behaupten und sogar etwas vorauszusehen, scheint mir, das Tier habe verstanden, was das Verbrechen ist! Wie sollte es dies nicht verstehen, wenn Menschenwesen selbst bis zu diesem unsäglichen Punkt die Herrschaft der Vernunft verworfen haben, um an deren Stelle, an Stelle dieser entthronten Königin, nur eine blindwütige Rache bestehen zu lassen!
Vierter Gesang, vierte Strophe Ich bin schmutzig. Die Läuse zerfressen mich. Die Säue erbrechen sich, wenn sie mich sehen. Der Krusten und der Grind der Lepra haben meine Haut mit Schuppen und gelblichem Eiter bedeckt. Ich kenne das Wasser der Flüsse nicht, nicht den Tau der Wolken. Auf meinem Nacken wächst wie auf einem Misthaufen ein gewaltiger Pilz mit doldentragenden Stengeln. Ich sitze auf einem unförmigen Möbel und habe meine Glieder seit vier Jahrhunderten nicht bewegt. Meine Füße haben Wurzeln in den Boden geschlagen und bilden bis an meinen Bauch eine Art sprießender Vegetation, voll ekelhafter Parasiten, die noch nicht pflanzlicher und nicht mehr fleischlicher Natur ist. Dennoch schlägt mein Herz. Aber wie könnte es schlagen, wenn es nicht die Fäulnis und die Ausdünstungen meines Leichnams (ich wage nicht, Körper zu sagen) es nicht reichlich ernährten? Unter meiner linken Achsel hat sich eine Krötenfamilie eingenistet, und wenn sich eine von ihnen bewegt, kitzelt es mich. Paßt auf, daß sie nicht darunter hervorkommt und mit ihrem Maul das Innere eures Ohres kratzt: sie wäre darauf imstande, in euer Gehirn einzudringen. Unter meiner rechten Achsel sitzt ein Chamäleon, das ihnen beständig nachstellt, um nicht Hungers zu sterben: jeder muß leben. Aber wenn eine Partei die Schliche der anderen völlig zuschanden macht, fällt ihnen nichts besseres ein, als ungeniert das delikate Fett zu suckeln, das meine Rippen bedeckt: ich bin daran gewöhnt. Eine bösartige Viper hat meine Rute verschlungen und ihren Platz eingenommen: sie hat mich zum Eunuchen gemacht, dieses Luder! O, hätte ich mich mit meinen gelähmten Armen verteidigen können; aber ich glaube eher, daß sie sich in Holzscheite verwandelt haben. Wie dem auch sei, man muß feststellen, daß das Blut hier nicht mehr seine Röte hindurchschickt. Zwei kleine Igel, die nicht mehr wachsen, haben einem Hund, der nicht ablehnte, das Innere meiner Hoden vorgeworfen: in der sauber gewaschen Epidermis haben sie Quartier bezogen. Den Anus hat eine Krabbe blockiert; durch meine Bewegungslosigkeit ermutigt, bewacht sie den Eingang mit ihren Scheren und tut mir sehr weh! Zwei Quallen haben das Meer durcheilt, unverzüglich von einer Hoffnung angelockt, die nicht enttäuscht wurde. Aufmerksam haben aufmerksam die beiden fleischigen Partien betrachtet, die das menschliche Hinterteil bilden, und, indem sie sich an deren konvexe Rundung klammerten, haben sie sie durch einen andauernden Druck derart zerquetscht, daß die beiden
Fleischstücke verschwunden sind, und an ihrer Stelle zwei Monstren zurückblieben, die aus dem Königreich des Schleimigen stammen und sich in Form, Farbe und Wildheit gleichen. Redet nicht von meiner Wirbelsäule, denn sie ist ein Schwert. Ja, ja … ich achte nicht darauf … eure Frage ist berechtigt. Ihr wünscht zu wissen, nicht wahr, wieso es senkrecht in meiner Hüfte steckt? Ich erinnere mich selbst nicht so genau daran; dennoch wißt, wenn ich mich entschließe, für eine Erinnerung zu halten, was vielleicht nur ein Traum ist, daß der Mensch, als er erfuhr, daß ich gelobt hatte, in Krankheit und Reglosigkeit zu leben, bis ich den Schöpfer besiegt haben würde, auf Zehenspitzen hinter mich trat, aber nicht so leise, daß ich ihn nicht hörte. Dann vernahm ich eine Weile nichts mehr. Dieser spitze Dolch drang bis zum Heft zwischen die beiden Schultern des Feststieres, und sein Knochengerüst Erzitterte wie unter einem Erdbeben. Die Klinge haftete so fest im Körper, daß bisher niemand sie hat herauszuziehen können. Athleten, Mechaniker, Philosophen, Mediziner haben nacheinander die verschiedensten Mittel versucht. Sie wußten nicht, daß das Übel, vom Menschen angerichtet, nicht mehr gut gemacht werden kann! Ich habe die Bodenlosigkeit ihrer angeborenen Unwissenheit verziehen, und ich habe sie mit den Lidern meiner Augen gegrüßt. Wanderer, richte nicht an mich, wenn du vorüberkommst, ich flehe dich an, das geringste Wort des Trostes: du würdest meinen Mut schwächen. Laß mich meine Zähigkeit an der Flamme des freiwilligen Martyriums wärmen. Gehe … daß ich dir keine Spur Mitleid einflöße. Der Haß ist seltsamer als du denkst; sein Verhalten ist unerklärlich, wie das gebrochene Erscheinungsbild eines Stockes im Wasser. In dem Zustand, indem du mich siehst, kann ich noch bis an die Mauern des Himmels vorstoßen, an der Spitze einer Legion von Mördern, und zurückkehren, um diese Haltung wieder einzunehmen und von neuem über den edlen Racheplänen zu brüten. Adieu, ich will dich nicht weiter aufhalten; und um dich zu unterrichten und dich zu bewahren, denke über das verhängnisvolle Geschick nach, das mich in die Auflehnung geführt hat, der ich vielleicht doch gut geboren war! Du wirst deinem Sohn erzählen, was du gesehen hast; nimm ihn bei der Hand und lasse ihn die Schönheit der Sterne und die Wunder des Weltalls, das Nest des Rotkehlchens und die Tempel des Herrn bewundern. Du wirst erstaunt sein, ihn den Ratschlägen der Väterlichkeit gegenüber so aufgeschlossen zu sehen und wirst ihm mit einem Lächeln danken. Aber wenn er unbeobachtet weiß, habe ein Auge auf ihn, und du wirst sehen, wie er seinen Geifer auf die Tugend spuckt; er hat dich
getäuscht, dieser Sprößling der menschlichen Rasse, aber er wird dich nicht mehr täuschen: von nun an weißt du, was aus ihm werden wird. O, unglücklicher Vater, bereite, um die Schritte deines Alters zu begleiten, das unauslöschliche Schafott, das den Kopf eines frühreifen Verbrechers abtrennen wird, und den Schmerz, der dir den Weg zum Grabe zeigt.
Vierter Gesang, fünfte Strophe Welch Schatten zeichnet mit unvergleichlicher Kraft den phantasmagorischen Umriß seiner sich verfestigenden Silhouette an die Wand meines Zimmers? Wenn ich meinem Herzen diese delirierende und stumme Frage auferlege, dann geschieht es weniger der Majestät der Form wegen, als um des Bildes der Realität willen, daß die Nüchternheit des Stils sich derart aufführt. Wer du auch seist, verteidige dich, denn ich werde gegen dich die Schleuder einer furchtbaren Anklage schwingen: diese Augen gehören nicht dir … wo hast du sie her? Eines Tages sah ich eine blonde Frau an mir vorübergehen; sie hatte Augen wie du: du hast sie ihr ausgerissen. Ich sehe, daß du an deine Schönheit glauben machen willst; aber niemand fällt darauf herein; und ich weniger als die anderen. Ich sage es dir, damit du mich nicht für einen Trottel hältst. Ein ganzer Schwarm Raubvögel, Liebhaber des Fleisches anderer und Verteidiger der Nützlichkeit der Verfolgung, schön wie Skelette, die die Panoccos des Arkansas entblättern, umkreisen deine Stirn wie ergebene und willkommene Diener. Aber ist das eine Stirn? Es ist nicht schwierig, viel Zögern da hinein zu legen. Sie ist so niedrig, daß es unmöglich ist, die wenig zahlreichen Beweise ihrer zweideutigen Existenz zu prüfen. Dies sage ich dir nicht zu meinem Vergnügen. Vielleicht hast du überhaupt keine Stirn, der du an der Mauer wie das unvollkommen reflektierte Symbol eines phantastischen Tanzes das fiebrige Schaukeln deiner Lendenwirbel aufführst. Wer hat dich denn skalpiert? Hat dies ein Menschenwesen getan, weil du es zwanzig Jahre in ein Gefängnis gesperrt hast, und das entkommen ist, um eine Rache zu nehmen, die seinen Leiden entspricht, so hat es wohl getan, und ich spende ihm Beifall; nur, es gibt ein nur, war es nicht streng genug. Jetzt gleichst du einer gefangenen Rothaut, wenigstens (halten wir es gleich fest) wegen des ausdrucksvollen Fehlens der Haare. Nicht, daß es nicht nachwachsen könnte, da doch die Physiologen entdeckt haben, daß sogar herausgenommene Gehirne bei den Tieren auf die Dauer wiedererstehen; aber mein Denken, das bei einer bloßen Feststellung stehen bleibt, die, soweit ich sehen kann, nicht ohne gewaltige Lust ist, geht nicht, nicht einmal in seinen kühnsten Schlüssen, bis an die Grenzen eines Wunsches deiner Heilung, sondern bleibt im Gegenteil dabei stehen, indem es seine mehr als verdächtige Neutralität ins Werk setzt, das als Vorboten größeren Übels zu betrachten (oder wenigstens zu wünschen), was für dich nur eine momentane Beraubung der Haut sein kann, die
das Oberteil deines Kopfes bedeckt. Ich hoffe, du hast mich verstanden. Und selbst wenn der Zufall durch ein absurdes, aber manchmal eben nicht vernünftiges Wunder dir gestattete, die kostbare Haut wiederzufinden, die von der andächtigen Wachsamkeit deines Feindes als berauschende Erinnerung an seinen Sieg bewacht wird, ist es beinahe äußerst möglich, selbst wenn man das Gesetz der Wahrscheinlichkeit nur unter mathematischen Gesichtspunkten studiert hat (nun weiß man, daß durch Analogie die Anwendung dieses Gesetzes leicht auf andere Bereiche der Intelligenz übertragen werden kann), daß deine zulässige, aber leicht übertriebene Furcht vor einer teilweisen oder vollständigen Unterkühlung, die bedeutende, sogar einzigartige Gelegenheit nicht verstreichen lassen würde, die sich auf so günstige, wenn auch überraschende Weise bietet, die verschiedenen Teile deines Gehirns vor der Berührung mit der Atmosphäre, vor allem während des Winters, durch eine Frisur zu bewahren, die dir mit gutem Recht gehört, da sie natürlich ist, und die du darüber hinaus (es wäre unverständlich, verneintest du dies) dauernd auf dem Kopf behalten könntest, ohne Gefahr zu laufen, was immer unangenehm ist, die einfachsten Regeln der Schicklichkeit zu verletzen. Stimmt es nicht, daß du mir aufmerksam zuhörst? Wenn du mir weiter zuhörst, wird deine Trübsal nicht daran denken, sich aus dem Innern deiner roten Nasenlöcher zu lösen. Aber da ich ganz unparteiisch bin und dich nicht so verabscheue wie ich sollte (wenn ich mich irre, sage es mir), leihst du gegen deinen Willen meinen Ausführungen dein Ohr, wie von einer höheren Macht getrieben. Ich bin nicht so böse wie du: deshalb neigt sich dein Genie von sich aus vor dem meinen … Wirklich, ich bin nicht so böse wie du! Du hast gerade einen Blick auf die an den Hang des Berges gebaute Stadt geworfen. Und was sehe ich jetzt? … Alle Bewohner sind tot! Ich habe meinen Stolz wie ein jeder, und mehr davon zu haben, ist wohl ein zusätzliches Laster. Nun gut, höre zu … höre zu, wenn das Bekenntnis eines Menschen, der sich erinnert, ein halbes Jahrhundert in der Gestalt eines Haies in den unterseeischen Strömen gelebt zu haben, die an den Küsten Afrikas entlang fließen, dich lebhaft genug interessiert, um ihm deine Aufmerksamkeit zu schenken, wenn auch nicht ohne Groll, so doch ohne den nicht wieder gut zu machenden Fehler, den Abscheu zu zeigen, den ich dir einflöße. Ich werde dir nicht die Maske der Tugend vor die Füße werfen, um dir zu erscheinen, wie ich bin, denn ich habe sie niemals getragen (wenn das überhaupt eine Entschuldigung ist); und vom ersten Augenblick an, wenn du
meine Züge aufmerksam betrachtest, wirst du mich als deinen respektvollen Schüler in der Verderbtheit anerkennen, nicht aber als deinen zu fürchtenden Rivalen. Da ich dir die Palme des Bösen nicht streitig mache, glaube ich nicht, daß ein anderer es tun kann: zunächst müßte er mir gleichkommen, was nicht einfach ist … Höre, wenn du nicht nur die schwache Verdichtung eines Nebels bist (du verbirgst deinen Leib irgendwo, und ich kann ihn nicht antreffen): eines Morgens sah ich ein kleines Mädchen, das sich über einen See beugte, um einen rosa Lotus zu pflücken, ihr Schritt war mit frühreifer Erfahrung sicher; sie neigte sich den Wassern zu, als ihre Augen meinen Blick trafen (es stimmt, daß dies von meiner Seite nicht ohne Vorbedacht geschah). Sofort schwankte sie wie der Strudel, den die Flut um einen Felsen hervorbringt, ihre Beine gaben nach, und, eine wunderbar anzusehende Sache, ein Phänomen, das ebenso wahrhaftig geschah, wie ich mit dir plaudere, sie fiel bis auf den Grund des Sees: sonderbare Konsequenz, sie pflückte keine Nymphäazeen mehr. Was macht sie dort unten? … ich bin dem nicht nachgegangen. Zweifellos liefert ihr Willen, der sich unter die Fahne der Befreiung gestellt hat, der Fäulnis erbitterte Gefechte! Aber du, o mein Meister, unter deinem Blick sind die Bewohner einer Stadt mit einem Schlag vernichtet wie ein Ameisenhaufen, den der Fuß eines Elephanten zerstampft. Bin ich nicht soeben Zeuge eines beweisenden Beispiels geworden? Siehe … der Berg ist nicht mehr fröhlich … er bleibt allein wie ein Greis. Ja, die Häuser bestehen fort; aber es ist kein Paradox zu versichern, mit leiser Stimme, daß du dies nicht ebensowohl von denen sagen kannst, die nicht mehr bestehen. Die Ausdünstungen der Leichen dringen schon bis zu mir. Riechst du sie nicht? Siehe diese Raubvögel, die darauf warten, daß wir uns entfernen, um diese Riesenmahlzeit zu beginnen; eine beständige Wolke kommt von allen vier Seiten des Horizonts. Ach! sie waren schon da, denn ich sah ihre räuberischen Flügel schon über dir das Monument der Spiralen zeichnen, wie um dich anzufeuern, das Verbrechen schnell ins Werk zu setzen. Empfängt dein Geruchssinn denn nicht das leiseste Fluidum? Ein Betrüger ist nichts anderes … Deine Geruchsnerven werden schließlich durch die Wahrnehmung aromatischer Atome erschüttert: diese steigen aus der vernichteten Stadt auf, was ich dir wohl nicht zu erklären brauche … Ich möchte deine Füße umarmen, aber meine Arme umschließen nur einen durchsichtigen Dunst. Suchen wir diesen unauffindbaren Körper, den meine Augen dennoch wahrnehmen: er verdient von meiner Seite die zahlreichsten Beweise aufrichtiger Bewunderung. Das
Phantom macht sich über mich lustig: es hilft mir, seinen eigenen Körper zu suchen. Wenn ich ihm bedeute, an seinem Platz zu bleiben, gibt es mir das gleiche Zeichen zurück … Das Geheimnis ist entdeckt; aber, gebe ich offen zu, nicht zu meiner größten Zufriedenheit. Alles ist erklärt, die großen wie die kleinsten Einzelheiten; diese nochmals dem Geist zu vergegenwärtigen, wäre belanglos, wie zum Beispiel das Ausreißen der Augen der blonden Frau: das ist beinahe nichts! … Erinnerte ich mich denn nicht, daß auch ich skalpiert worden war, obwohl ich nur fünf Jahre lang (das genaue Zeitmaß ist mir entfallen) ein Menschenwesen in ein Gefängnis gesperrt hatte, um Zeuge des Schauspiels seiner Leiden zu sein, weil es mir mit Recht eine Freundschaft verweigert hatte, die man Wesen wie mir nicht gewährt? Weil ich so tue, als wüßte ich nicht, daß mein Blick den Tod geben kann, selbst den Planeten, die sich im Raume drehen, hätte jener, der meinte, ich besäße nicht die Fähigkeit des Gedächtnisses, nicht Unrecht. Was mir zu tun bleibt, ist, diesen Spiegel mit einem Stein in Splitter zu zerschlagen … Es ist nicht das erste Mal, daß der Alpdruck des zeitweiligen Gedächtnisverlustes in meiner Vorstellung sich niederläßt, wenn es mir durch die unbeugsamen Gesetze der Optik geschieht, vor die Verkennung meines eigenen Bildes gestellt zu sein!
Vierter Gesang, sechste Strophe Ich war auf der Klippe eingeschlafen. Jener, der einen Tag lang den Strauß durch die Wüste verfolgt hat, ohne ihn erreichen zu können, hat nicht die Zeit gefunden, Nahrung zu sich zu nehmen und die Augen zu schließen. Wenn er mich liest, ist er vermutlich fähig zu erraten, wie tief der Schlaf war, der sich auf mich legte. Aber wenn der Orkan mit seiner Handfläche ein Schiff senkrecht bis auf den Boden des Meeres gedrückt hat; wenn auf dem Floß von der ganzen Besatzung nur ein einziger Mann übrig geblieben ist, zerrüttet von Anstrengungen und Entbehrungen aller Art; wenn der Seegang ihn wie ein Stück Treibgut herumschleudert, Stunden hindurch, die länger sind als ein Menschenleben; und wenn eine Fregatte, die später diese verlassenen Breiten mit spaltendem Kiel durchpflügt, den Unglücklichen ausmacht, der sein entfleischtes Skelett auf dem Ozean herumschleppt, und ihm eine beinahe verspätete Hilfe bringt, glaube ich, daß dieser Schiffbrüchige noch besser erraten wird, bis zu welchem Grade die Ermattung meiner Sinne fortgeschritten war. Der Magnetismus und das Chloroform können ebenfalls, wenn sie sich die Mühe machen, solche lethargischen Katalepsien hervorrufen. Sie haben überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Tod: es wäre eine große Lüge, das zu sagen. Aber kommen wir sofort zu dem Traum, damit die Ungeduldigen, begierig nach dieser Art von Lektüre, nicht anfangen zu brüllen wie eine Bank von Pottwalen, die sich untereinander um ein trächtiges Weibchen schlagen. Ich träumte, ich sei in den Körper eines Schweins geschlüpft, aus dem ich nicht leicht wieder herausfand, und daß ich meine Borsten in dem kotigsten Matsch wälzte. Sollte das eine Belohnung sein? Ziel meiner Wünsche, ich gehörte nicht mehr der Menschheit an! Ich jedenfalls verstand es so und empfand eine mehr als tiefe Freude. Doch forschte ich eifrig nach, welch eine tugendhafte Tat ich begangen hatte, um diese außerordentliche Gunst von Seiten der Vorsehung zu verdienen. Jetzt, da ich in meinem Gedächtnis die verschiedenen Phasen dieses schrecklichen Niedergeschmettertseins auf den Granitbauch wieder durchlaufen habe, während die Flut, ohne daß ich es bemerkte, zweimal über diese unauflösliche Mischung von toter Materie und lebendem Fleisch hinwegging, ist es vielleicht nicht unnütz zu verkünden, daß diese Erniedrigung wahrscheinlich nur eine Strafe der göttlichen Gerechtigkeit an mir war. Aber wer kennt seine innersten Bedürfnisse oder die Ursache seiner pestilenzialischen Freuden? Die Verwandlung schien in meinen Augen nie etwas anderes zu
sein, als der hohe und großherzige Widerhall eines vollständigen Glücks, auf das ich seit langem wartete. Endlich war er gekommen, der Tag, an dem ich ein Schwein war! Ich versuchte meine Zähne an der Rinde der Bäume; meinen Rüssel betrachtete ich mit Entzücken. Nicht das kleinste Teilchen Göttlichkeit blieb zurück: ich hob meine Seele bis zur höchsten Höhe dieser unaussprechlichen Wonne. Hört mir also zu und errötet nicht, unerschöpfliche Karikaturen des Schönen, die ihr das lächerliche, unumschränkt verächtliche Eselsgeschrei eurer Seele ernst nehmt, und die ihr nicht begreift, warum der Allmächtige in einem seltenen Augenblick ausgezeichneter Possenhaftigkeit, die gewiß nicht die allgemeinen großen Gesetze des Grotesken übertritt, sich eines Tages das großartige Vergnügen bereitete, einen Planeten mit seltsamen und mikroskopischen Wesen zu bevölkern, die man Menschen nennt und deren Stoff dem der roten Koralle ähnelt. Gewiß habt ihr Grund zu erröten, Knochen und Fett, aber hört mir zu. Ich rufe nicht eure Intelligenz an; ihr brächtet sie dazu, Blut zu spucken bei dem Entsetzen, das sie vor euch hat: vergeßt sie, und seid konsequent mit euch selbst … Da gab es keinen Zwang mehr. Wenn ich töten wollte, tötete ich; dies geschah mir sogar oft, und niemand hinderte mich daran. Die menschlichen Gesetze verfolgten mich noch mit ihrer Rache, obwohl ich die Rasse nicht angriff, die ich so ruhig verlassen hatte; aber mein Gewissen warf mir nichts vor. Tagsüber schlug ich mich mit meinen neuen Gefährten herum, und der Boden war von geronnenem Blut bedeckt. Ich war der Stärkste und trug alle Siege davon. Brennende Wunden bedeckten meinen Körper; ich schien sie nicht zu spüren. Die Tiere der Erde zogen sich vor mir zurück, und ich blieb allein in meiner leuchtenden Größe. Wie groß war nicht mein Erstaunen, als ich, nachdem ich einen Fluß durchschwömmen hatte, um mich aus den Gegenden zu entfernen, die meine Wut entvölkert hatte, und andere Landstriche zu erreichen, um hier meine Sitten von Mord und Schlächterei einzuführen, versuchte, auf diesem blühenden Ufer zu laufen. Meine Füße waren gelähmt; keine Bewegung stellte sich ein, die Wahrheit dieser erzwungenen Unbeweglichkeit zu widerlegen. Mitten in übernatürlichen Anstrengungen, meinen Weg fortzusetzen, erwachte ich und spürte, daß ich wieder Mensch wurde. Die Vorsehung gab mir so auf eine nicht unerklärliche Weise zu verstehen, sie wolle nicht, daß ich auch nur im Traum meine erhabenen Absichten verwirklichte. In meine ursprüngliche Form zurückzukehren, war ein so großer Schmerz für mich, daß ich darüber noch ganze Nächte hindurch weine.
Meine Laken sind ständig feucht, wie durch Wasser gezogen, und ich lasse sie jeden Tag wechseln. Glaubt ihr mir nicht, so kommt mich besuchen; ihr könntet durch eure eigene Erfahrung, nicht nur die Wahrscheinlichkeit, nein darüber hinaus sogar die Wahrheit meiner Behauptung überprüfen. Wie oft habe ich mich nicht seit jener Nacht unter freiem Himmel, auf einer Klippe, in eine Schweineherde gemischt, um meine aufgehobene Verwandlung als ein Recht wieder zu erlangen! Es wird Zeit, diese glorreichen Erinnerungen zu beenden, die hinter sich nur die bleiche Milchstraße ewigen Bedauerns zurücklassen.
Vierter Gesang, siebte Strophe Es ist nicht unmöglich, Zeuge einer Anomalie im verborgenen oder sichtbaren Wirken der Naturgesetze zu sein. Und wirklich, wenn sich jeder die erfinderische Mühe macht, die verschiedenen Phasen seiner Existenz zu befragen (ohne eine einzige zu vergessen, denn vielleicht war gerade diese bestimmt zu beweisen, was ich vorbringe), wird er sich nicht ohne ein gewisses Erstaunen, das unter anderen Umständen komisch wäre, erinnern, daß er an jenem Tage, um zuerst von objektiven Dingen zu sprechen, Zeuge irgendeines Phänomens war, das über die bekannten, durch Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Begriffe hinauszugehen schien und auch wirklich hinausging, wie zum Beispiel der Krötenregen, dessen magisches Schauspiel zuerst von den Gelehrten nicht begriffen werden sollte. Und daß sich seine Seele an jenem anderen Tage, um an zweiter und letzter Stelle von objektiven Dingen zu reden, dem forschenden Blick der Psychologie, ich gehe nicht so weit, es eine Verirrung der Vernunft (die jedoch nicht weniger bemerkenswert, sondern im Gegenteil noch bemerkenswerter wäre), zu nennen, sondern wenigstens, um gewissen kalten Personen gegenüber nicht als zu sonderbar zu erscheinen, die mir niemals die offenkundigen Hirngespinste meiner Übertreibung verzeihen würden, sich in einem ungewöhnlichen, ziemlich oft recht schwerwiegendem Zustand darbot, der zeigt, daß die der Einbildungskraft vom gesunden Menschenverstand gezogene Grenze zuweilen trotz des wenig dauerhaften Pakts zwischen diesen beiden Gewalten unglücklicherweise durch den energischen Druck des Willens überschritten wird, jedoch zumeist durch die Abwesenheit seines wirksamen Beistandes : stützen wir dies mit einigen Beispielen, deren passender Charakter nicht schwer zu würdigen ist; wenn man überhaupt eine aufmerksame Mäßigung zum Begleiter nimmt. Ich biete zwei: die Aufwallungen des Zorns und die Krankheiten des Stolzes. Ich weise den, der mich liest darauf hin, daß er sich vorsehen möge, sich keine verschwommene und im Grunde falsche Vorstellung von den literarischen Schönheiten zu machen, die ich in der überaus schnellen Entwicklung meiner Sätze entblättere. Ach! ich möchte meine Schlüsse und meine Vergleiche langsam und mit viel Großartigkeit entrollen (aber wer verfügt über seine Zeit?), damit jeder besser, wenn nicht mein Entsetzen, so doch meine Bestürzung verstünde, als ich eines Sommerabends, die Sonne schien sich zum Horizont zu senken, im Meer ein Wesen mit
großen Entenfüßen an Beinen und Armen, mit einer Rückenflosse, im Verhältnis ebenso lang und ebenso scharf wie die der Delphine, ein Menschenwesen mit kraftvollen Muskeln schwimmen sah, dem zahlreiche Fischbänke (ich sah in diesem Gefolge, neben anderen Wasserbewohnern, den Zitterrochen, den Grönland-Anarnak und den furchtbaren Drachenkopf) mit allen sehr deutlichen Anzeichen der größten Bewunderung folgten. Manchmal tauchte es, und sein glitschiger Leib erschien beinahe sofort in einer Entfernung von zweihundert Metern wieder. Die Tümmler, die meiner Meinung nach den Ruf verdienen, gute Schwimmer zu sein, konnten kaum dieser neuartigen Amphibie von weitem folgen. Ich glaube nicht, daß der Leser es zu bereuen hat, wenn er meiner Erzählung weniger das lästige Hindernis dummer Gläubigkeit als den höchsten Dienst eines tiefen Vertrauens leiht, das mit allem Recht und geheimer Sympathie die seiner eigenen Meinung nach zu wenig zahlreichen poetischen Geheimnisse diskutiert, die ihm zu enthüllen ich mir vornehme, immer wenn sich die Gelegenheit bietet, wie sie sich unvermutet heute ergeben hat, innig durchdrungen vom stärkenden Duft der Wasserpflanzen, den die auffrischende Nordbrise in diese Strophe trägt, in der ein Monstrum auftritt, das sich die Unterscheidungsmerkmale der Familie der Schwimmvögel angeeignet hat. Wer redet hier von Aneignung? Man muß wissen, daß der Mensch, von Natur vielfältig und komplex, sehr wohl die Mittel kennt, deren Grenzen noch zu erweitern; er lebt im Wasser wie das Seepferdchen; in den höheren Schichten der Luft wie der Seeadler; und unter der Erde wie der Maulwurf, die Assel und die Erhabenheit des Würmchens. Dies ist in seiner mehr oder weniger (aber mehr als weniger) bündigen Form das genaue Kriterium der außerordentlich stärkenden Tröstung, die ich suchte, in meinem Geist entstehen zu lassen, als ich dachte, daß dieses Menschenwesen, das ich in weiter Entfernung mit allen vier Gliedern auf den Wogen schwimmen sah, wie es niemals der großartigste Kormoran vermochte, vielleicht die neuartige Veränderung der Enden seiner Arme und Beine nur als Strafe zur Sühne irgendeines unbekannten Vrbrechens erworben habe. Es war überflüssig, mir den Kopf zu zermartern, um im voraus die melancholischen Pillen des Mitleids zu drehen; denn ich wußte nicht, daß dieser Mensch, dessen Arme abwechselnd die bittere Woge schlugen, während seine Beine mit einer den spiralförmigen Hauern des Narwals ebenbürtigen Kraft das Zurückweichen der Wasser bewirkten, sich weder aus freien Stücken diese außergewöhnlichen Formen angeeignet hatte, noch daß sie ihm als
Strafe auferlegt worden waren. Wie ich später erfuhr, ist dies die einfache Wahrheit: das dauernde Leben in diesem flüssigen Element hatte unmerklich bei dem Menschenwesen, das sich von den felsigen Kontinenten zurückgezogen hatte, die bedeutenden, aber nicht das Wesen berührenden Änderungen hervorgebracht, die ich an dem Gegenstand bemerkt hatte, den ein einigermaßen getrübter Blick mich vom ersten Moment seines Erscheinens an (durch eine unverzeihliche Leichtfertigkeit, deren Verirrungen das so unangenehme Gefühl schaffen, das die Psychologen und die Liebhaber der Umsicht leicht verstehen werden) für einen Fisch von seltsamer Form hatte halten lassen, noch nicht in den Klassifikationen der Naturforscher beschrieben; aber vielleicht in ihren posthumen Schriften, wenn ich auch nicht die entschuldbare Absicht habe, dieser letzten Vermutung zuzuneigen, die aus zu hypothetischen Bedingungen geschlossen wurde. Wirklich war diese Amphibie (denn es handelte sich um eine Amphibie, ohne daß man das Gegenteil beweisen könnte) nur für mich allein sichtbar, abgesehen von den Fischen und den Walen; denn ich stellte fest, daß einige Landleute, die stehengeblieben waren, um mein von dieser übernatürlichen Erscheinung verwirrtes Gesicht zu betrachten, und die vergeblich versuchten, sich zu erklären, warum meine Augen fest, mit anscheinend, aber nicht wirklich, unüberwindlicher Beharrlichkeit auf einen bestimmten Bereich des Meeres geheftet waren, wo sie selbst nichts als eine nennenswerte und begrenzte Menge von Fischbänken aller möglichen Arten unterscheiden konnten, die großartige Öffnung ihres Mundes auseinanderzogen, vielleicht so sehr wie ein Walfisch. »Dies mache sie lächeln, nicht aber erbleichen wie mich, sagten sie in ihrer bilderreichen Sprache; und sie waren nicht dumm genug, um nicht zu bemerken, daß ich nicht eigentlich die Tänze der Fische betrachtete, sondern daß mein Blick sich viel weiter hinaus wandte.« Auf eine solche Weise, daß ich, was mich angeht, indem ich mechanisch die Augen zu der bemerkenswerten Weite dieser kräftigen Münder wandte, zu mir sagte, daß, fände man nicht wenigstens in der Gesamtheit des Weltalls einen Pelikan, groß wie ein Gebirge, oder wenigstens wie ein Vorgebirge (bewundert bitte die Feinheit der Einschränkung, die keinen Nagelbreit Gelände aufgegeben hat), kein Schnabel eines Raubvogels, kein Kiefer eines wilden Tieres jemals imstande wäre, einen dieser gähnenden, aber zu finsteren Krater zu übertreffen, ja, nicht einmal ihm gleichzukommen. Und doch, wenn ich auch einen guten Teil der sympathischen Verwendung der Metapher vorbehalte (diese
rhetorische Figur leistet dem menschlichen Streben zum Unendlichen viel größere Dienste, als sich gewöhnlich diejenigen vorzustellen belieben, die von Vorurteilen durchdrungen sind, oder von falschen Vorstellungen, was dasselbe ist), so ist es nicht weniger wahr, daß der lächerliche Mund dieser drei Landleute noch groß genug bleibt, um drei Pottwale zu verschlingen. Schränken wir unser Denken noch weiter ein, seien wir ernsthaft, und begnügen uns mit drei kleinen Elephanten, die kaum geboren sind. Mit einem einzigen Ruderschlag ließ die Amphibie einen Kilometer schaumiger Furche hinter sich. Während des sehr kurzen Augenblicks, in dem der nach vorn gereckte Arm in der Luft schwebt, bevor er wieder eintaucht, schienen sich seine gespreizten, durch eine membranartige Hautfalte verbundenen Finger in die Höhen des Raumes zu strecken und die Sterne zu ergreifen. Auf dem Felsen stehend, bediente ich mich meiner Hände als Sprachrohr und rief, während die Krabben und die Krebse in die Dunkelheit der geheimsten Spalten flüchteten: »O du, dessen Schwimmen den Sieg davon trägt über den Flug der langen Flügel des Fregattvogels, wenn du noch die Bedeutung der lauten Stimmgeräusche verstehst, welche die Menschheit als getreue Wiedergabe ihres inneren Denkens mit Kraft ausstößt, laß dich herab, einen Augenblick in deinem schnellen Marsch innezuhalten, und erzähle mir in großen Zügen die Phasen deiner wahrhaftigen Geschichte. Aber ich sage dir, daß du das Wort nicht an mich zu richten brauchst, wenn es dein wagemutiges Vorhaben ist, Freundschaft und Verehrung in mir hervorzurufen, die ich seit dem ersten Augenblick für dich empfand, in dem ich dich mit der Anmut und Kraft des Hais deine unbezähmbare und gradlinige Pilgerschaft vollbringen sah.« Ein Seufzer, der mir das Mark gerinnen und den Felsen schwanken ließ, auf den ich meine Fußsohle stützte (es sei denn, ich schwankte selbst unter dem heftigen Druck der Schallwellen, die einen solchen Verzweiflungsschrei an mein Ohr trugen), ließ sich bis in die Eingeweide der Erde vernehmen: die Fische tauchten mit Lawinengetöse unter die Wogen. Die Amphibie wagte nicht, sich dem Ufer zu weit zu nähern; aber als sie sich überzeugt hatte, daß ihre Stimme ausreichend deutlich mein Trommelfell erreichte, verlangsamte sich die Bewegung ihrer schwimmbehäuteten Glieder in solchem Maße, daß ihre tangbedeckte Büste über die brüllenden Fluten hinausragte. Ich sah sie die Stirn senken, wie um durch ein feierliches Gebot die irrende Meute ihrer Erinnerungen zusammenzurufen. Ich wagte nicht, sie bei dieser heilig
archäologischen Beschäftigung zu unterbrechen: versunken in die Vergangenheit, glich sie einem Riff. Schließlich ergriff sie das Wort folgendermaßen: »Der Tausendfüßler hat reichlich Feinde; die phantastische Schönheit seiner zahllosen Beine ist für die Tiere, statt ihm ihre Sympathie zu erwerben, vielleicht nur ein machtvoller Reiz zu eifersüchtigen Anwandlungen. Und ich wäre nicht verwundert zu erfahren, daß dieses Insekt dem größten Haß ausgesetzt ist. Ich werde vor dir den Ort meiner Geburt geheim halten, da er für meine Geschichte nicht wichtig ist: aber die Schande, die auf meine Familie fiele, geht mein Pflichtgefühl an. Mein Vater und meine Mutter (Gott möge ihnen verzeihen!) sahen nach einem Jahr Warten den Himmel ihre Wünsche erhören: zwei Zwillinge, mein Bruder und ich, wurden dem Licht geboren. Ein Grund mehr, sich zu lieben. Es war aber nicht so, wie ich sage. Weil ich der schönere und der intelligentere von beiden war, faßte mein Bruder Haß gegen mich und gab sich keine Mühe, seine Gefühle zu verbergen: deshalb fiel der größte Teil der Liebe meines Vaters und meiner Mutter auf mich, während ich durch meine aufrichtige und anhaltende Freundschaft strebte, eine Seele zu besänftigen, die nicht das Recht hatte, sich gegen den aufzulehnen, der aus demselben Fleisch entsprungen war. Dann überstieg die Wut meines Bruders alle Grenzen, und er verdarb mich im Herzen unserer gemeinsamen Eltern durch die unwahrscheinlichsten Verleumdungen. Ich habe fünfzehn Jahre in einem Kerkerloch verbracht mit Larven und schlammigem Wasser als einziger Nahrung. Ich werde dir nicht in allen Einzelheiten von den unerhörten Qualen erzählen, die ich während dieser langen, ungerechten Haft erlitt. Zuweilen, irgendwann im Laufe des Tages, trat plötzlich einer der drei Henker, die sich abwechselten, ein, beladen mit Zwingen, Beißzangen und verschiedenen Folterinstrumenten. Die Schreie, die mir die Martern entrissen, ließen sie unerschüttert; der reiche Verlust meines Blutes machte sie lächeln. 0 mein Bruder, ich habe dir verziehen, dir, der ersten Ursache meiner Leiden! Ist es nicht möglich, daß eine blinde Wut ihm schließlich die eigenen Augen öffnet. Ich habe viel nachgedacht in meinem ewigen Gefängnis. Wie groß mein allgemeiner Haß gegen die Menschheit wurde, kannst du dir vorstellen. Das fortschreitende Hinsiechen, die Einsamkeit des Leibes und der Seele hatten mich noch nicht alle Vernunft verlieren lassen, so daß ich weiter Groll hegte gegen die, die zu lieben ich nicht aufgehört hatte: dreifaches Halseisen, dessen Sklave ich war. Es gelang mir durch List, meine Freiheit wiederzugewinnen!
Angewidert von den Bewohnern des Festlandes, die, wenn sie sich auch meinesgleichen nannten, mir bis jetzt in nichts zu gleichen schienen (wenn sie fanden, daß ich ihnen gliche, warum taten sie mir Böses?), lenkte ich meine Schritte zu den Kieseln des Strandes, fest entschlossen, mir den Tod zu geben, sollte das Meer in mir Erinnerungen an eine verhängnisvoll durchlebte Existenz wachrufen. Glaubst du deinen eigenen Augen? Seit dem Tag, an dem ich aus dem elterlichen Hause floh, beklage ich nicht so sehr, wie du glaubst, daß ich das Meer und seine Kristallgrotten bewohne. Die Vorsehung hat mir, wie du siehst, zum Teil den Körperbau des Schwans gegeben. Ich lebe in Frieden mit den Fischen, und sie verschaffen mir die nötige Nahrung, als sei ich ihr Monarch. Ich werde einen besonderen Pfiff ausstoßen, und du wirst sehen, sofern dich dies nicht stört, wie sie wieder auftauchen.« Es kam so, wie er gesagt hätte. Er nahm sein königliches Schwimmen wieder auf, umgeben vom Gefolge seiner Untertanen. Und obwohl er nach einigen Sekunden gänzlich aus meinen Augen entschwunden war, konnte ich ihn mit einem Fernglas noch an den äußersten Grenzen des Horizonts erkennen. Er schwamm mit einer Hand und mit der anderen wischte er sich die Augen, in die unter der schrecklichen Anstrengung, sich dem Pestland genähert zu haben, das Blut geschossen war. Er hatte so gehandelt, um mir gefällig zu sein. Ich schleuderte das enthüllende Instrument, gegen die zackige Böschung; es sprang von Felsen zu Felsen, und seine zerstreuten Trümmer nahmen die Wellen auf: dies war die letzte Äußerung und das höchste Lebewohl, durch die ich mich wie in einem Traum vor einer edlen und unglücklichen Intelligenz verneigte! Und doch war alles wirklich an dem, was während dieses Sommerabends vorging.
Vierter Gesang, achte Strophe Jede Nacht, wenn ich die Weite meiner Schwingen in mein sterbendes Gedächtnis senkte, rief ich die Erinnerung an Falmer wach … jede Nacht. Seine blonden Haare, sein ovales Gesicht, seine majestätischen Züge waren noch in meine Vorstellung eingeprägt … unzerstörbar … vor allem seine blonden Haare. Entfernt, entfernt doch diesen haarlosen Kopf, glatt wie der Rückenpanzer der Schildkröte. Er war vierzehn Jahre alt, und ich war gerade ein Jahr älter. Diese schaurige Stimme soll schweigen. Warum verrät sie mich? Ich, ich selbst bin es, der spricht. Mich meiner eigenen Zunge bedienend, um mein Denken vorzubringen, bemerke ich, daß meine Lippen sich bewegen und daß ich selbst es bin, der spricht. Und ich bin es selbst, der eine Geschichte aus meiner Jugend erzählt und der fühlt, wie Reue in mein Herz dringt … ich selbst bin es, sofern ich mich nicht irre … ich bin es selbst, der spricht. Ich war nur ein Jahr älter. Wer ist also der, auf den ich anspiele? Ein Freund, den ich in vergangenen Zeiten hatte, glaube ich. Ja, ja, ich habe schon gesagt, wie er heißt … Ich will nicht aufs neue die sechs Buchstaben hersagen, nein, nein. Es ist auch unnütz zu wiederholen, daß ich ein Jahr älter war. Wer weiß? Wiederholen wir es also doch, aber mit schmerzhaftem Murmeln: ich war gerade ein Jahr älter. Selbst dann war die Überlegenheit meiner physischen Kraft eher ein Motiv, den auf dem beschwerlichen Weg des Lebens zu unterstützen, der sich mir ausgeliefert hatte, statt ein sichtlich schwächeres Wesen schlecht zu behandeln. Nun glaube ich wirklich, daß er schwächer war … Selbst dann. Ein Freund, den ich in vergangenen Zeiten hatte, glaube ich. Die Überlegenheit meiner physischen Kraft … jede Nacht … Vor allem seine blonden Haare. Es gibt mehr als ein Menschenwesen, das kahle Köpfe gesehen hat: Alter, Krankheit, Schmerz (die drei gemeinsam, oder einzeln genommen) erklären diese negative Erscheinung befriedigend. Das wäre zumindest die Antwort eines Gelehrten, befragte ich ihn darüber. Alter, Krankheit, Schmerz. Aber ich weiß wohl (auch ich bin ein Gelehrter), daß ich ihn eines Tages, weil er meine Hand im Augenblick festgehalten hätte, als ich meinen Dolch hob, um die Brust einer Frau zu durchbohren, mit eisernem Arm bei den Haaren packte und ihn mit einer solchen Geschwindigkeit durch die Luft wirbelte, daß sein Haar mir in der Hand blieb, und sein Leib, durch die Zentrifugalkraft geschleudert, gegen den Stamm einer Eiche prallte … Ich weiß wohl, daß eines Tages sein Haar in meiner Hand blieb. Ich bin auch gelehrt. Ja, ja, ich habe schon
gesagt, wie er heißt. Ich weiß wohl, daß ich eines Tages eine schändliche Tat beging, während sein Körper durch die Zentrifugalkraft geschleudert wurde. Er war vierzehn Jahre alt. Wenn ich in einem Anfall von Geistesverwirrung über das Land laufe und auf mein Herz gepreßt ein blutiges Ding halte wie eine verehrte Reliquie, stoßen die kleinen Kinder, die mich verfolgen … die kleinen Kinder und die alten Frauen, die mich mit Steinwürfen verfolgen, dieses klägliche Stöhnen aus: »Da ist Falmers Haar.« Entfernt, entfernt doch diesen kahlen Kopf, glatt wie der Rückenpanzer einer Schildkröte … Ein blutiges Ding. Aber ich selbst bin es, der spricht. Sein ovales Gesicht, seine majestätischen Züge. Nun glaube ich wirklich, daß er schwächer war. Die alten Frauen und die kleinen Kinder. Nun glaube ich wirklich … was wollte ich sagen? … nun glaube ich wirklich, daß er schwächer war. Mit einem eisernen Arm. Dieser Aufprall, hat ihn dieser Aufprall getötet? Waren seine Knochen unheilbar am Baum zerschmettert? Hat ihn dieser Aufprall getötet, dieser von der Kraft eines Athleten erzeugte Aufprall? Hat er das Leben behalten, wenn auch seine Knochen unheilbar zerschmettert sind … unheilbar. Hat ihn dieser Aufprall getötet? Ich fürchte zu wissen, was meine geschlossenen Augen nicht bezeugten. Wirklich … Vor allem seine blonden Haare. Wirklich floh ich weit fort mit einem seither erbarmungslosen Gewissen. Er war vierzehn Jahre alt. Mit einem seither erbarmungslosen Gewissen. Jede Nacht. Wenn ein junger Mann, der nach Ruhm strebt, in einer fünften Etage über seinen Arbeitstisch gebeugt, zur stillen Mitternachtsstunde ein Rascheln hört, von dem er nicht weiß, woher es kommt, dreht er seinen durch das Nachsinnen und die staubigen Manuskripte schweren Kopf nach allen Seiten; aber nichts, kein überraschtes Anzeichen enthüllt ihm die Ursache dessen, was er so schwach, wenn auch deutlich genug hört. Er bemerkt schließlich, daß der Rauch seiner Kerze, der zur Decke aufsteigt, durch die bewegte Luft kaum merkliche Schwingungen eines Blattes Papier verursacht, das mit einem Nagel an die Wand geheftet ist. In einer fünften Etage. Und ebenso wie ein junger Mann, der nach Ruhm strebt, ein Rascheln hört, von dem er nicht weiß, woher es kommt, so höre ich eine wohllautende Stimme, die in mein Ohr spricht: »Maldoror!« Aber bevor er seinen Irrtum überwindet, glaubte er die Flügel einer Mücke zu hören … gebeugt über seinen Arbeitstisch. Dennoch träume ich nicht; was macht es, daß ich auf meinem Atlasbett liege? Ich mache kaltblütig die umsichtige Feststellung, daß ich die Augen offen habe, obgleich es die Stunde der rosa Dominos und der
Maskenbälle ist. Niemals … o! nein, niemals! … ließ eine sterbliche Stimme diese seraphischen Klänge erschallen, indem sie mit solch schmerzvoller Eleganz die Silben meines Namens aussprach! Die Flügel einer Mücke … Wie gütig ist seine Stimme … Hat er mir denn vergeben? Sein Leib prallte gegen den Stamm einer Eiche … »Maldoror!«
Fünfter Gesang, erste Strophe Der Leser zürne mir nicht, wenn meine Prosa nicht das Glück hat, ihm zu gefallen. Du versicherst, daß meine Ideen wenigstens ausgefallen seien. Was du da sagst, ehrenwerter Mann, ist die Wahrheit; doch eine parteiische Wahrheit. Aber ist nicht jede parteiische Wahrheit eine überreiche Quelle von Irrtümern und Verkennungen! Die Starenzüge haben eine ihnen eigentümliche Weise zu fliegen, die einer einheitlichen und geregelten Taktik zu folgen scheint wie eine disziplinierte Truppe, die exakt auf die Stimme eines einzigen Anführers hört. Die Stare gehorchen der Stimme des Instinkts, und ihr Instinkt veranlaßt sie, sich immer dem Mittelpunkt des Zuges zu nähern, während die Schnelligkeit ihres Fluges sie darüber hinaus trägt; so daß diese große Menge von Vögeln, auf diese Weise durch ein gemeinsames Streben nach demselben magnetischen Punkt vereint, unablässig kommend und gehend, kreisend und sich schneidend in alle Richtungen, eine Art stark bewegten Wirbel bildet, dessen ganze Masse, ohne einer völlig bestimmten Richtung zu folgen, eine allgemeine Drehbewegung um sich selbst zu vollführen scheint, die aus den besonderen Kreisbewegungen jedes ihrer Teile herrührt, und dessen Mittelpunkt, der ständig strebt, sich zu entfalten, aber unablässig, durch die Gegenkraft der umgebenden Reihen, die auf ihn drücken, gepreßt und zurückgedrängt wird, immer kompakter bleibt als irgendeine dieser Reihen, die es selbst in dem Maße sind, in dem sie sich dem Mittelpunkt nähern. Trotz dieser merkwürdig wirbelnden Flugweise teilen die Stare doch mit seltener Geschwindigkeit die umgebende Luft und kommen jede Sekunde merklich ein kostbares Stück voran, dem Ende ihrer Anstrengungen und dem Ziel ihrer Wanderschaft entgegen. Und ebenso achte du nicht auf die seltsame Weise, in der ich jede dieser Strophen singe. Sondern sei überzeugt, daß die Grundklänge der Poesie nicht weniger ihr wesentliches Recht über meine Intelligenz behalten. Verallgemeinern wir nicht Ausnahmen, mehr verlange ich nicht: denn noch liegt meine charakeristische Arbeit im Bereich des Möglichen. Zweifellos gibt es zwischen den beiden extremen Positionen, nämlich deiner Literatur, wie du sie verstehst, und der meinen, eine Unzahl von Zwischenstufen, und es wäre leicht, die Unterteilungen zu vervielfachen; aber darin läge kein Wert, und es bestünde die Gefahr, etwas Enges und Falsches in eine höchst philosophische Konzeption hineinzubringen, die aufhört, rational zu sein, sobald sie nicht mehr genommen wird, wie sie gedacht war,
nämlich weitgefaßt. Du verstehst es, Enthusiasmus und innere Kälte zu verbinden. Bewahrer einer gesammelten Stimmung; kurz, ich meinerseits finde dich vollkommen … Und du willst mich nicht verstehen! Geht es dir nicht gut, folge meinem Rat (er ist der beste, den ich für dich bereit habe) und mache einen Spaziergang auf dem Lande. Dürftige Entschädigung; was sagst du dazu? Wenn du Luft geschnappt hast, komm zu mir zurück: deine Sinne werden ausgeruhter sein. Weine nicht mehr; ich wollte dir keinen Schmerz bereiten. Stimmt es nicht, mein Freund, daß meine Gesänge deine Sympathie bis zu einem gewissen Punkt gewonnen haben? Nun, wer hindert dich, die anderen Stufen zu ersteigen? Die Grenze zwischen deinem Geschmack und dem meinen ist unsichtbar; du wirst sie niemals greifen können: ein Beweis dafür, daß es diese Grenze selbst nicht gibt. Bedenke, daß es also (ich streife hier die Frage nur) nicht unmöglich wäre, daß du einen Bündnisvertrag mit der Starrköpfigkeit geschlossen hast, dieser netten Tochter des Maultiers, dieser so reichen Quelle der Intoleranz. Wüßte ich nicht, daß du kein Dummkopf bist, machte ich dir nicht einen solchen Vorwurf. Es bringt dir nichts ein, wenn du dich in den knorpeligen Panzer eines Axioms verkriechst, das du für unerschütterlich hältst. Es gibt noch andere Axiome, die auch unerschütterlich sind und die dem deinen parallel laufen. Hast du eine entschiedene Vorliebe für Karamelbonbons (bewundernswerter Streich der Natur), wird dies niemand als Verbrechen betrachten; aber die, deren energischere und zu größeren Dingen fähige Intelligenz Pfeffer und Arsen vorzieht, haben gute Gründe, so zu handeln, ohne dabei zu beabsichtigen, ihre friedliche Herrschaft über die zu errichten, die angesichts einer Spitzmaus oder des sprechenden Ausdrucks der Oberflächen eines Kubus vor Angst zittern. Ich spreche aus Erfahrung, ohne hier die Rolle eines Provokateurs spielen zu wollen. Und ebenso wie die Rädertiere und die Faultiere auf eine dem Siedepunkt benachbarte Temperatur erhitzt werden können, ohne notwendigerweise ihre Lebenskraft zu verlieren, wird es dir auch ergehen, wenn du es verstehst, dir umsichtig das scharfe, eitertreibende Serum einzuverleiben, das langsam aus der Erregung rinnt, welche die interessanten Ausgeburten meines Hirns verursacht. Ach was, hat man es nicht geschafft, auf den Rücken einer lebenden Ratte den abgetrennten Schwanz einer anderen zu propfen? Versuche also gleichfalls, die verschiedenen Ausformungen meiner leichenhaften Vernunft in deine Einbildungskraft zu übernehmen. Aber sei vorsichtig. Zur Stunde, da ich schreibe, durchlaufen neue Schauder die intellektuelle
Atmosphäre: es geht nur darum, den Mut zu haben, ihnen ins Gesicht zu sehen. Warum schneidest du diese Grimasse? Und du begleitest sie sogar mit einer Geste, die man nur am Ende einer langen Lehrzeit nachahmen könnte. Sei überzeugt, daß zu allem Gewohnheit nötig ist; und da sich der instinktive Widerwille, der sich von der ersten Seite an bemerkbar gemacht hatte, bedeutend an Tiefe verloren hat, je eifriger die Lektüre fortschritt, wie ein Furunkel, den man aufschneidet, darf man hoffen, daß deine Heilung, wenn auch dein Kopf noch krank ist, sicherlich alsbald in ihre letzte Phase eintreten wird. Für mich segelst du unzweifelhaft schon in voller Genesung; indessen ist dein Gesicht noch mager geblieben, ach! Aber … Mut! in dir haust ein wenig gewöhnlicher Geist, ich liebe dich und ich verzweifle nicht an deiner vollständigen Erlösung, vorausgesetzt, du nimmst einige heilkräftige Substanzen zu dir, die nur das Verschwinden der letzten Symptome des Übels beschleunigen werden. Als adstringierende und tonische Nahrung wirst du zuerst die Arme deiner Mutter (sofern sie noch lebt) ausreißen, sie in kleine Stücke zerlegen und sie anschließend an einem Tage essen, ohne daß dein Gesicht irgendeine Spur von Erregung verrät. War deine Mutter zu alt, wähle ein anderes chirurgisches Objekt, ein jüngeres und frischeres, das unter die Knochensäge kommen kann, und dessen Sprungbeine beim Laufen leicht eine Stütze finden, um zu schaukeln: deine Schwester zum Beispiel. Ich kann mich nicht enthalten, ihr Schicksal zu beklagen, und ich gehöre nicht zu denen, deren kalter Enthusiasmus nur Güte vorspiegelt. Du und ich, wir werden um sie, um diese geliebte Jungfrau (aber ich habe keine Beweise dafür, daß sie Jungfrau ist) zwei ununterdrückbare Tränen vergießen, zwei bleierne Tränen. Das wird alles sein. Der linderndste Trank, den ich dir empfehlen kann, ist ein Becken voll klumpigen Gonorrhöe-Eiters, in dem man zuvor eine Haarzyste des Eierstocks aufgelöst hat, ein Follikelgeschwür, eine entzündete Vorhaut, durch eine Paraphimose von der Eichel zurückgezogen, und drei rote Schnecken. Folgst du meinen Verordnungen, wird meine Poesie dich mit offenen Armen empfangen, wie eine Laus mit ihren Küssen die Wurzel eines Haares amputiert.
Fünfter Gesang, zweite Strophe Vor mir sah ich auf einer Anhöhe ein Objekt stehen. Ich konnte seinen Kopf nicht deutlich erkennen; aber ich erriet schon, daß er keine gewöhnliche Form hatte, ohne doch die genauen Proportionen seines Umrisses feststellen zu können. Ich wagte nicht, mich dieser unbeweglichen Säule zu nähern; und hätte ich auch die Gehwerkzeuge von mehr als dreitausend Krabben (ich spreche nicht einmal von denen, die zum Greifen und Zerkauen der Nahrung dienen) zur Verfügung gehabt, wäre ich doch an derselben Stelle geblieben, hätte nicht ein an sich sehr unbedeutendes Ereignis meiner Neugier einen schweren Tribut auferlegt, was ihre Dämme brach. Ein Skarabäus, der mit seinen Kinnbacken und Fühlern eine Kugel über den Boden rollte, deren Hauptbestandteile Exkremente waren, näherte sich schnellen Schrittes der genannten Anhöhe, wobei er sich alle Mühe gab, seinen Willen zu bekunden, diese Richtung einzuschlagen. Dieses Gliedertier war nicht viel größer als eine Kuh! Wenn man bezweifelt, was ich sage, soll man mich aufsuchen; ich werde die Ungläubigsten durch das Zeugnis guter Zeugen zufriedenstellen. Ich folgte ihm von fern, offensichtlich erregt. Was wollte er mit dieser großen schwarzen Kugel anfangen? O Leser, der du dich ständig deines Scharfsinns rühmst (und nicht zu Unrecht), wärest du imstande, es mir zu sagen? Aber ich will deine bekannte Leidenschaft für Rätsel nicht einer harten Prüfung unterwerfen. Es möge dir genügen zu wissen, daß es immer noch die mildeste Strafe ist, die ich über dich verhängen kann, wenn ich dich darauf hinweise, daß dir dieses Geheimnis erst später entschleiert werden wird (es wird dir entschleiert werden), am Ende deines Lebens, wenn du mit der Agonie am Rand deines Bettes philosophische Diskussionen anknüpfst … und vielleicht sogar am Ende dieser Strophe. Der Skarabäus hatte den Fuß der Anhöhe erreicht. Ich war seinen Spuren gefolgt, befand mich aber noch in großer Entfernung vom Ort des Geschehens; denn so wie die Raubmöwen, Vögel, so unruhig, als hätten sie immer Hunger, sich in den Meeren wohlfühlen, welche die beiden Pole bespülen, und nur zufälligerweise in gemäßigte Zonen vordringen, so war auch ich nicht ruhig und setzte meine Beine mit großer Langsamkeit voreinander. Aber was war das für eine körperliche Substanz, auf die ich zuschritt? Ich wußte, daß die Familie der Pelikane vier verschiedene Gattungen umfaßt: den Tölpel, den Pelikan, den Kormoran, den Fregattvogel. Die gräuliche Form, die vor mir
erschien, war kein Tölpel. Der plastische Block, den ich sah, war kein Fregattvogel. Das kristallisierte Fleisch, das ich beobachtete, war kein Kormoran. Jetzt erkannte ich den Menschen mit dem Gehirn ohne Varolsbrücke! Ich suchte tastend in den Falten meines Gedächtnisses, in welchen heißen oder eisigen Gegenden ich diesen sehr langen, breiten, konvexen, gewölbten Schnabel mit deutlichem Grat, gezähnt, ausgebaucht und an seinem Ende stark gekrümmt, schon bemerkt hatte; diese gezähnten, geraden Ränder; diesen Unterkiefer mit bis zur Spitze geteilten Ästen; diesen Zwischenraum mit einer membranartigen Haut; diese große Tasche, gelb und sackförmig, die sich über die ganze Kehle hinzog und sich erheblich ausdehnen konnte; und diese sehr schmalen, länglichen, beinahe unsichtbaren, in eine Grundfurche gegrabenen Nasenlöcher! Wäre dieses Lebewesen mit einfacher Lungenatmung, mit behaartem Körper, ganz bis zu den Fußsohlen ein Vogel gewesen und nicht nur bis zu den Schultern, wäre es mir nicht so schwer gefallen, es wiederzuerkennen: eine sehr einfache Sache, wie ihr gleich selbst sehen werdet. Nur enthalte ich mich dieses Mal; um der Klarheit meiner Beweisführung willen brauchte ich einen dieser Vögel, und sei es nur einen ausgestopften, auf meinem Arbeitstisch. Nun bin ich nicht reich genug, mir einen zu verschaffen. Indem ich Schritt um Schritt einer früheren Hypothese folgte, hätte ich sodann seine wirkliche Natur bestimmt und im Rahmen der Naturgeschichte für den einen Platz gefunden, dessen vornehme, kränkliche Haltung ich bewunderte. Mit welcher Befriedigung, von den Geheimnissen seines doppelten Organismus mehr als gar nichts zu wissen, und mit welcher Gier, mehr darüber zu erfahren, betrachtete ich ihn in seiner dauerhaften Metamorphose! Obwohl er kein menschliches Gesicht besaß, schien er mir schön wie die beiden langen, tentakelförmigen Fasern eines Insekts; oder vielmehr wie eine voreilige Bestattung; oder auch wie das Gesetz der Wiederherstellung verletzter Organe; und vor allem wie eine äußerst leicht verderbliche Flüssigkeit! Aber der Fremde mit seinem Pelikankopf starrte weiter vor sich hin, ohne im geringsten darauf zu achten, was um ihn herum vorging! Ein anderes Mal werde ich das Ende dieser Geschichte erzählen. Dennoch werde ich meine Erzählung mit trübsinnigem Eifer fortsetzen; denn wenn ihr eurerseits gern wißt, worauf meine Einbildungskraft hinauswill (gebe der Himmel, daß es sich dabei wirklich nur um Einbildungskraft handelte!), habe ich mich entschlossen, mit einem Mal (und nicht mit zweien!) zu Ende zu bringen, was ich euch zu sagen habe. Indessen hat niemand das Recht, mich des Mangels an
Mut zu beschuldigen. Aber wenn man sich solchen Umständen gegenüber sieht, fühlt mehr als einer sein Herz gegen die Handfläche schlagen. In einem kleinen Hafen der Bretagne starb gerade, beinahe unbekannt, ein Küstenschiffer, ein alter Seemann, der Held einer schrecklichen Geschichte. Damals segelte er als Übersee-Kapitän für einen Reeder in Saint-Malo. Nun kehrte er nach einer Abwesenheit von dreizehn Monaten nach Hause zurück, gerade in dem Moment, als seine zu Bett liegende Frau ihm einen Erben geschenkt hatte, den anzuerkennen er sich kein Recht zuerkannte. Der Kapitän zeigte nichts von seiner Überraschung und von seinem Zorn; er bat kalt seine Frau, sich anzukleiden und ihn auf einem Spaziergang über die Wälle der Stadt zu begleiten. Es war Januar. Die Wälle von Saint-Malo sind hoch, und wenn der Nordwind pfeift, weichen die Wackersten zurück. Die Unglückliche gehorchte ruhig und ergeben; als sie nach Hause zurückkehrten, fieberte sie. Sie starb während der Nacht. Aber es war nur eine Frau. Während ich, der ich ein Mann bin, sähe ich mich einem nicht weniger großen Drama gegenüber, nicht weiß, ob ich genügend Selbstbeherrschung besäße, die Muskeln meines Gesichts unbewegt zu halten! Als der Skarabäus den Fuß der Anhöhe erreicht hatte, hob der Mensch seinen Arm gen Westen (genau in dieser Richtung hatten in den Lüften ein Lämmergeier und ein virginischer Uhu einen Kampf begonnen), trocknete auf seinem Schnabel eine langezogene Träne, die ein System diamantener Farbgebung bot, und sagte zum Skarabäus: »Unglückliche Kugel! hast du sie nicht lange genug gerollt? Deine Rache ist noch nicht gestillt, und schon hat diese Frau, der du mit Perlenketten die Arme und Beine so gebunden hattest, daß ein amorpher Polyeder entstand, um sie mit deinen Füßen durch Täler und über Wege zu ziehen, durch Dornen und über Steine (laß mich heran, um zu sehen, ob sie es noch ist!), ihre Knochen sich unter Wunden freilegen sehen, gesehen, wie ihre Glieder gemäß dem Gesetz der Mechanik von der rotatorischen Reibung poliert wurden, wie sie sich in der Einheit der Verklumpung mischten, und wie ihr Körper, statt der ursprünglichen Linien und natürlichen Kurven, den monotonen Anblick eines einzigen homogenen Ganzen bot, das nur allzu sehr durch die Vermengung seiner verschiedenen zerriebenen Bestandteile der Masse einer Kugel gleicht! Schon lange ist sie tot; überlasse diese Reste der Erde und hüte dich, in nicht wieder gut zu machenden Maßen die Wut zu steigern, die dich verzehrt: das ist keine Gerechtigkeit mehr; denn der Egoismus, verborgen in den Schalen deiner Stirn, hebt langsam wie ein Gespenst die Gewänder,
die ihn verhüllen.« Der Lämmergeier und der virginische Uhu hatten sich uns genähert, unmerklich von den Wendungen ihres Kampfes geleitet. Der Skarabäus erbebte bei diesen unerwarteten Worten, und was unter anderen Umständen eine unbedeutende Bewegung gewesen wäre, wurde dieses Mal das deutliche Zeichen einer Wut, die keine Grenzen kannte; denn er rieb schreckenerregend seine Hinterschenkel am Rand der Flügeldecken, was einen schrillen Laut erzeugte: »Wer bist denn du; kleinmütiges Wesen? Du hast anscheinend gewisse seltsame Begebenheiten der Vergangenheit vergessen; du behältst sie nicht in deinem Gedächtnis, mein Bruder. Diese Frau hat uns betrogen, einen nach dem anderen. Zuerst dich, dann mich. Mir scheint, dieser Schimpf darf nicht (darf nicht!) so schnell aus dem Gedächtnis verschwinden. So schnell! Dir erlaubt deine großmütige Natur zu verzeihen. Aber weißt du denn, ob diese Frau, trotz der unnormalen Lage ihrer Atome, da sie zu einem Backtrogteig geworden ist (es geht jetzt nicht darum zu wissen, ob man nicht bei erster Untersuchung glauben könnte, dieser Körper habe eher als durch die Wirkungen meiner ungestümen Leidenschaft durch das Getriebe zweier starker Räder erheblich an Dichte gewonnen), nicht doch noch existiert? Sei still und laß zu, daß ich mich räche.« Er nahm sein Treiben wieder auf und entfernte sich, wobei er die Kugel vor sich her stieß. Als er sich entfernt hatte, rief der Pelikan aus: »Diese Frau hat durch ihre magische Kraft mir den Kopf eines Schwimmvogels gegeben und meinen Bruder in einen Skarabäus verwandelt: vielleicht verdient sie sogar eine noch üblere Behandlung als die gerade genannte.« Und ich, der ich nicht sicher war, ob ich nicht träumte, erriet durch das, was ich gehört hatte, die Natur der feindlichen Beziehungen, die über mir den Lämmergeier und den virginischen Uhu in einem blutigen Kampf verbanden, und ich warf meinen Kopf wie eine Kapuze zurück, um dem Spiel meiner Lungen die größtmögliche Leichtigkeit und Elastizität zu geben, und rief ihnen zu, indem ich meine Augen nach oben lenkte: »Ihr anderen, laßt euren Streit. Ihr habt beide recht; denn jedem hatte sie ihre Liebe versprochen; folglich hat sie euch beide betrogen. Aber ihr seid nicht die einzigen. Darüber hinaus hat sie euch eurer menschlichen Form beraubt und machte sich ein grausames Spiel aus euren heiligsten Schmerzen. Und ihr zögert, mir zu glauben! Übrigens ist sie tot; und der Skarabäus hat ihr trotz des Mitleids des zuerst Betrogenen eine Strafe von unauslöschlichem Gepräge auferlegt.« Bei diesen Worten beendeten sie ihren Streit und rissen sich nicht weiter Federn und
Fleischfetzen vom Leibe: sie hatten recht, so zu handeln. Der virginische Uhu, schön wie eine Denkschrift über die Kurve, die ein seinem Herren nachlaufender Hund beschreibt, ließ sich in den Rissen eines ruinierten Klosters nieder. Der Lämmergeier, schön wie das Gesetz vom Stillstand der Entwicklung der Brust bei den Erwachsenen, deren Wachstumsdisposition nicht zur Menge der Moleküle im Verhältnis steht, die ihr Organismus aufnimmt, verschwand in den oberen Luftschichten. Der Pelikan, dessen großzügiges Verzeihen mich stark beeindruckt hatte, weil ich es nicht natürlich fand, und der auf seiner Anhöhe wieder die majestätische Unerschütterlichkeit eines Leuchtturms angenommen hatte, wie um die menschlichen Segler zu mahnen, sein Beispiel zu bedenken, und ihr Geschick vor der Liebe finsterer Magierinnen zu bewahren, stierte weiter vor sich hin. Der Skarabäus, schön wie das Zittern der Hände beim Alkoholismus, verschwand am Horizont. Vier Existenzen mehr, die man aus dem Buch des Lebens streichen konnte. Ich riß mir einen ganzen Muskel aus dem linken Arm, denn ich wußte nicht mehr, was ich tat, so gerührt fühlte ich mich angesichts dieses vierfachen Unglücks. Und ich, der ich glaubte, es handelte sich um Exkremente. Großer Esel, der ich bin.
Fünfter Gesang, dritte Strophe Der zeitweilige Verlust der menschlichen Fähigkeiten: was euer Denken auch geneigt sei anzunehmen, sind dies doch nicht bloß Worte. Jedenfalls sind es nicht beliebige Worte. Der soll die Hand heben, wer glaubt, eine treffliche Tat zu begehen, wenn er einen Henker bittet, ihn lebendig zu schinden. Der hebe mit der Lust des Lächelns den Kopf, wer freiwillig seine Brust den Kugeln des Todes böte. Meine Augen werden die Spuren der Narben suchen; meine zehn Finger werden die Gesamtheit ihrer Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, sorgsam das Fleisch dieses Sonderlings zu betasten; ich werde prüfen, ob Fetzen des Gehirns auf den Atlas meiner Stirn gespritzt sind. Nicht wahr, solch einen Menschen, der Liebhaber eines solchen Martyriums wäre, dürfte man wohl im ganzen Weltall nicht finden? Ich weiß nicht, was das Lachen ist, das ist wahr, denn ich habe es nie selbst versucht. Welch eine Unvorsichtigkeit wäre es jedoch zu behaupten, daß meine Lippen sich nicht in die Breite zögen, wäre es mir gegeben, dem zu begegnen, der behauptete, dieser Mensch existiere irgendwo? Mir wurde durch ein ungleiches Erbe zuteil, was niemand für das eigene Leben wünschte. Nicht daß mein Körper im See des Schmerzes schwömme; das wäre erträglich. Sondern der Geist trocknet aus durch ein verdichtetes und dauernd angespanntes Nachdenken; er brüllt wie die Frösche eines Tümpels, wenn ein Trupp gefräßiger Flamingos und hungriger Reiher sich gerade in das Schilf seiner Ufer niederläßt. Glücklich, wer friedlich in einem Bett von Federn schläft, die man der Brust der Eider ausgerissen hat, ohne zu bemerken, daß er sich selbst verrät. Jetzt sind es mehr als dreißig Jahre, daß ich nicht geschlafen habe. Seit dem unaussprechlichen Tag meiner Geburt habe ich den schlafbringenden Brettern einen unversöhnlichen Haß entgegengebracht. Ich selbst habe es gewollt; niemand soll beschuldigt werden. Schnell, man lasse den mißratenen Verdacht fallen. Erkennt ihr auf meiner Stirn diesen blassen Kranz? Ihn flocht die Beharrlichkeit mit ihren mageren Fingern. Solange ein Rest kochenden Saftes durch meine Knochen läuft, werde ich nicht schlafen. Jede Nacht zwinge ich mein bleiernes Auge, durch die Scheiben meines Fensters die Sterne anzustarren. Um meiner sicherer zu sein, hält ein Holzspan meine geschwollenen Lider auseinander. Wenn die Morgenröte erscheint, findet sie mich in derselben Haltung, den Leib senkrecht und gerade gegen den Gips der kalten Mauer gelehnt. Dennoch geschieht es mir zuweilen, daß ich träume, aber ohne einen
Augenblick das lebhafte Empfinden meiner Persönlichkeit und meine freie Bewegungsfähigkeit zu verlieren: wißt, daß der Alp, der sich in den phosphoreszierenden Winkeln des Schattens verbirgt, das Fieber, das mein Gesicht mit seinem Stumpf betastet, jedes unreine Tier, das seine blutige Klaue reckt, nun ja, mein Wille ist es, der sie, um seiner anhaltenden Tätigkeit eine dauernde Nahrung zu geben, ihren Reigen aufrühren läßt. Und wirklich scheut sich der freie Wille, ein Atom, das sich in seiner äußersten Schwäche rächt, nicht, mit kraftvollem Nachdruck zu versichern, daß es nicht die Verblödung unter seine Töchter zählt: wer schläft, ist weniger als ein am Vortag kastriertes Tier. Wenn die Schlaflosigkeit auch diese Muskeln, die schon einen Zypressenhauch verbreiten, zu den Tiefen des Grabes hinzieht, wird niemals die weiße Katakombe meiner Intelligenz ihre Heiligtümer den Augen des Schöpfers öffnen. Eine geheime und edle Gerechtigkeit, in deren ausgestreckte Arme ich mich instinktiv werfe, befiehlt mir, rastlos diese schändliche Züchtigung zu verjagen. Furchtbarer Feind meiner unvorsichtigen Seele, verbiete ich meinen unglücklichen Lenden, sich zur Stunde, da man an der Küste eine Laterne anzündet, auf den Tau des Rasens niederzulegen. Als Sieger weise ich die Nachstellungen des heuchlerischen Mohns zurück. Es ist folglich gewiß, daß durch diesen seltsamen Kampf mein Herz seine Absichten eingekerkert hat, ein Hungernder, der sich selbst verzehrt. Undurchdringlich wie die Riesen, habe ich ununterbrochen mit der Weite klaffender Augen gelebt. Jedenfalls steht fest, daß tagsüber jeder dem Großen Äußeren Ding (wer kennt nicht seinen Namen?) nützlichen Widerstand entgegensetzen kann, weil dann der Wille über seine eigene Verteidigung mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit wacht. Aber sobald sich der Schleier nächtlicher Dünste ausbreitet, sogar über die Verurteilten, die man hängen wird, sieht er, ach, seinen Intellekt in den schändenden Händen eines Fremden. Ein unerbittliches Skalpell durchforscht dort das dichte Gestrüpp. Das Gewissen stößt ein langgezogenes, fluchendes Röcheln aus; denn der Schleier seiner Scham empfängt grausame Risse. Demütigung! unsere Tür steht der brutalen Neugier des Himmlischen Banditen offen. Ich habe nicht diese infame Folter verdient, du scheußlicher Spion meiner Kausalität! Wenn ich existiere, bin ich kein anderer. Ich gebe diese zweideutige Pluralität in mir nicht zu. Ich will allein in meinem inneren Denken wohnen. Autonomie … oder man soll mich eben in ein Flußpferd verwandeln. Versinke unter die Erde, o namenloses Stigma, und tritt nicht wieder vor meine verstörte
Empörung. Meine Subjektivität und der Schöpfer, das ist zuviel für ein Gehirn. Wer hat, wenn die Nacht den Gang der Stunden verdunkelt, nicht gegen den Einfluß des Schlafes auf seinem von eisigem Schweiß durchfeuchteten Lager angekämpft? Dieses Bett, das die sterbenden Fähigkeiten an seine Brust zieht, ist nur ein Grab aus kantigen Tannenbrettern. Der Wille zieht sich unmerklich wie unter einer unsichtbaren Macht zurück. Ein klebriges Pech verdeckt die Linsen der Augen. Die Lider suchen einander wie zwei Freunde. Der Körper ist nur noch ein atmender Leichnam. Schließlich nageln vier gewaltige Pfähle die Gesamtheit der Glieder auf die Matratze. Und beachtet, ich bitte euch, daß die Laken nichts als Leichentücher sind. Da haben wir die Räucherpfanne, in welcher der Weihrauch der Religionen brennt. Die Ewigkeit röhrt wie ein fernes Meer und nähert sich mit schnellen Schritten. Die Wohnung ist verschwunden: werft euch auf die Knie, Menschen, in der Totenkapelle! Zuweilen stellt der magnetisierte Sinn, der sich nutzlos bemüht, die Unvollkommenheiten des Organismus zu überwinden, mitten im tiefsten Schlaf überrascht fest, daß er nur noch ein Grabstein ist, und überlegt in bewundernswerter Weise, auf eine unvergleichliche Subtilität gestützt: »Von diesem Lager zu steigen, ist ein schwierigeres Problem, als man denkt. Ich sitze auf dem Karren, und man zieht mich hin zu den doppelten Pfosten der Guillotine. Seltsame Sache, mein Arm hat sich gekonnt die Starre des Baumstumpfes zugelegt. Es ist sehr übel zu träumen, daß man auf dem Weg zum Schafott ist.« Das Blut fließt in großen Strömen durch das Gesicht. Die Brust bringt wiederholte Sprünge zuwege und bläht sich pfeifend auf. Das Gewicht eines Obelisken erstickt die Ausbreitung der Wut. Das Wirkliche hat die Träume der Schlaftrunkenheit zerstört! Wer weiß nicht, daß der halluzinierende Geist die Urteilsfähigkeit verliert, wenn der Kampf zwischen dem Ich, voller Stolz, und dem schrecklichen Wachsen der Starrsucht sich in die Länge zieht? Von Verzweiflung verzehrt, schickt er sich in sein Leiden, bis er die Natur besiegt hat, und der Schlaf, der seine Beute entkommen sieht, flieht mit verstörtem und beschämtem Flügel ohne Wiederkehr weit fort von seinem Herzen. Werft ein wenig Asche auf meine brennende Augenhöhle. Starrt nicht mein Auge an, das sich niemals schließt. Begreift ihr die Leiden, die ich ertrage (doch der Stolz ist befriedigt)? Sobald die Nacht die Menschen zur Ruhe mahnt, wandert ein Mann, den ich kenne, mit großen Schritten über das Land. Ich fürchte, daß meine Entschlossenheit vielleicht den Schwächen des Alters unterliegt. Er soll kommen, der verhängnisvolle Tag, an dem ich einschlafen
werde! Beim Erwachen wird mein Rasiermesser, indem es sich einen Weg durch den Hals bahnt, beweisen, daß tatsächlich nichts wirklicher war.
Fünfter Gesang, vierte Strophe Aber wer denn! … aber wer denn wagt hier wie ein Verschwörer die Ringe seines Leibes um meine schwarze Brust zu schlingen? Wer du auch seist, exzentrische Python, mit welchem Vorwand entschuldigst du deine lächerliche Gegenwart? Peinigt dich eine unendliche Reue? Denn siehe, Boa, deine wilde Majestät erhebt, wie ich vermute, nicht den übertriebenen Anspruch, sich dem Vergleich zu entziehen, in dem ich sie mit den Zügen eines Verbrechers vergleiche. Dieser schaumige und weißliche Geifer ist für mich das Zeichen der Wut. Höre mich: weißt du, daß dein Auge weit davon entfernt ist, einen himmlischen Strahl zu trinken? Wenn dein anmaßendes Gehirn mich fähig geglaubt hat, dir einige Worte des Trostes zu sagen, vergiß nicht, daß dies nur durch eine Unwissenheit geschehen kann, der jegliche physiognomischen Kenntnisse fehlen. Richte den Glanz deiner Augen eine ausreichend lange Zeit auf das, was ich mit dem gleichen Recht wie sonst einer mein Gesicht nenne! Siehst du nicht, wie es weint? Du hast dich getäuscht, Basilisk. Du mußt anderswo die traurige Portion Erleichterung suchen, die mein grundsätzliches Unvermögen dir entzieht, trotz zahlreicher Einsprüche meines guten Willens. O! welche durch die Sprache ausdrückbare Kraft zog dich unentrinnbar in deinen Untergang? Es ist beinahe unmöglich, mich an die Überlegung zu gewöhnen, du verstündest nicht, daß ich einen unsäglichen Kitt aus Steppengras und zermalmtem Fleisch kneten könnte, indem ich mit einem Tritt meines Hackens die fliehenden Kurven deines dreieckigen Kopfes auf dem grünen Rasen zerstampfe. - Ziehe dich so bald wie möglich weit von mir zurück, Schuldiger mit fahlem Gesicht! Das täuschende Trugbild des Schreckens hat dir dein eigenes Gespenst gezeigt! Laß deine beleidigenden Verdächtigungen, wenn du nicht willst, daß ich meinerseits dich anklage und eine Gegenklage gegen dich vorbringe, die sicherlich das Urteil des reptilienfressenden Schlangenadlers billigen würde. Welche ungeheure Verirrung der Vorstellung hindert dich, mich wiederzuerkennen! Du erinnerst dich also nicht an die wichtigen Dienste, die ich dir geleistet habe, indem ich dir eine Existenz überließ, die ich dem Chaos entnahm, und deinerseits nicht an den immer unvergeßlichen Schwur, niemals meine Fahne zu verlassen, um mir bis zum Tode treu zu bleiben? Als du Kind warst (deine Intelligenz war damals in ihrer schönsten Phase), bestiegst du als erster mit der Schnelligkeit der Gemse den Hügel, um mit einer
Geste deiner kleinen Hand die vielfarbigen Strahlen der beginnenden Morgenröte zu begrüßen. Die Töne deiner Stimme drangen aus dem Kehlkopf wie diamantige Perlen und lösten alle ihre Persönlichkeiten in die tönende Verbindung einer langen Anbetungshymne auf. Jetzt wirfst du die Geduld, die ich allzu lange bewiesen habe, wie einen besudelten Fetzen vor dir zu Boden. Die Dankbarkeit hat ihre Wurzeln austrocknen sehen wie das Bett eines Teiches; aber an ihre Stelle ist der Ehrgeiz in solchen Maßen gewachsen, die ich kaum beschreiben könnte. Wer ist es, der mich hört, daß er ein solches Vertrauen in den Mißbrauch seiner eigenen Schwäche hat? - Und was bist du selbst, wagemutige Substanz? Nein! … nein! … ich täusche mich nicht; und trotz der vielfältigen Metamorphosen, die dir zur Verfügung stehen, wird immer dein Schlangenkopf vor meinen Augen wie ein Leuchtturm ewiger Ungerechtigkeit und grausamer Herrschaft leuchten! Er hat die Zügel ergreifen wollen, aber er versteht nicht zu lenken! Er hat ein Gegenstand des Schreckens für alle Wesen der Schöpfung werden wollen, und das ist ihm gelungen. Er hat beweisen wollen, daß er allein der Monarch des Universums ist, und darin hat er sich getäuscht. O Elender! hast du bis zu dieser Stunde gewartet, um das Geflüster and die Anschläge zu hören, die, indem sie gleichzeitig von der Oberfläche der Sphären aufsteigen, soeben mit wildem Flügel die papillaren Ränder deines zerstörbaren Trommelfells streifen? Der Tag ist nicht fern, an dem mein Arm dich in den Staub stürzen wird, den dein Atem vergiftet, und, nachdem er deinen Eingeweiden ein schädliches Leben entrissen hat, deine schrecklich entstellte Leiche auf dem Weg liegen lassen wird, um dem bestürzten Wanderer beizubringen, daß dieses zuckende Fleisch, das sein Auge mit Verwunderung schlägt, und seine stumme Zunge an den Gaumen klebt, nur noch, wenn man kaltblütig bleibt, mit dem verfaulten Stamm einer Eiche verglichen werden kann, die vor Altersschwäche umbrach! Welch ein Mitleidsimpuls hält mich angesichts deiner Gegenwart zurück? Weiche du selbst lieber vor mir, sage ich dir, und gehe deine unermeßliche Schmach mit dem Blut eines neugeborenen Kindes abwaschen: das sind ja deine Gewohnheiten. Sie sind deiner würdig. Gehe … gehe immer vor dich hin. Ich verurteile dich dazu, ein Herumirrender zu werden. Ich verurteile dich, allein und ohne Familie zu bleiben. Wandere ununterbrochen, damit deine Beine versagen. Durchquere den Sand der Wüsten, bis das Ende der Welt die Sterne ins Nichts hinabtaucht. Wenn du nahe an der Höhle des Tigers vorüberkommst, wird er sich beeilen
zu entfliehen, um nicht wie in einem Spiegel seinen Charakter, auf den Sockel der idealen Perversität erhoben, zu erblicken. Aber wenn die gebieterische Müdigkeit dir befehlen wird, deinen Gang vor den mit Dornen und Disteln bedeckten Steinplatten meines Palastes anzuhalten, achte auf deine zerfetzten Sandalen und betritt auf Zehenspitzen die Eleganz der Vestibüle. Das ist keine überflüssige Empfehlung. Du könntest meine junge Gattin und meinen minderjährigen Sohn aufwecken, die in bleiernen Kellern an den Fundamenten des uralten Schlosses schlafen. Schreitest du nicht vorsichtig voran, könnten sie dich mit ihrem unterirdischen Geheul erbleichen machen. Als dein unergründlicher Wille ihnen das Leben nahm, wußten sie wohl, daß deine Macht fürchterlich ist, und hatten daran keinen Zweifel; aber sie erwarteten nicht (und ihre letzten Abschiedsgrüße bestätigten mir ihren Glauben), daß deine Vorsehung sich bis zu diesem Maße erbarmungslos zeigen würde! Wie dem auch sei, durchschreite schnell diese verlassenen und stillen Säle mit smaragdener Täfelung, aber verblaßten Wappen, wo die glorreichen Statuen meiner Ahnen ruhen. Diese Marmorleiber sind gegen dich aufgebracht; meide ihre glasigen Blicke. Dies ist ein Rat, den dir die Zunge ihres einzigen und letzten Nachkommen gibt. Sieh, wie ihr Arm in der Haltung herausfordernder Verteidigung erhoben ist, der Kopf stolz zurückgeworfen. Sicherlich haben sie das Böse erraten, das du mir angetan hast; und wenn du in Reichweite an den eiskalten Sockeln, die diese gemeißelten Blöcke tragen, vorübergehst, wartet die Rache deiner. Wenn du mir zu deiner Verteidigung etwas entgegenhalten kannst, so sprich. Zum Weinen ist es jetzt zu spät. Du hättest in passenderen Augenblicken weinen können, als die Gelegenheit günstig war. Wenn dir endlich deine Augen geöffnet sind, beurteile selbst die Folgen deines Verhaltens, Adieu! ich gehe, die Brise der Klippen zu atmen; denn meine halberstickten Lungen verlangen laut einen ruhigeren und tugendhafteren Anblick als den deinen!
Fünfter Gesang, fünfte Strophe Unbegreifliche Päderasten, nicht ich werde Schimpf gegen eure große Erniedrigung schleudern; nicht ich werde euren trichterförmigen Anus verächtlich machen. Es ist genug, daß schändliche und beinahe unheilbare Krankheiten, die euch bedrängen, ihre unvermeidliche Züchtigung mit sich bringen. Gesetzgeber dummer Institutionen, Erfinder einer engstirnigen Moral, entfernt euch von mir, denn ich bin eine unparteiische Seele. Und ihr, Jünglinge oder eher junge Mädchen, erklärt mir, wie und warum (aber haltet euch in gebührender Entfernung, denn auch ich weiß nicht meinen Leidenschaften zu widerstehen) die Rache in euren Herzen gekeimt ist, einen solchen Kranz von Wunden um die Lenden der Menschheit zu winden. Ihr macht sie erröten über ihre Söhne durch euer Betragen (das ich verehre!); eure Prostitution, die sich dem ersten besten anbietet, fordert die Logik der tiefsten Denker heraus, während eure übermäßige Sensibilität das Maß der Verblüffung selbst der Frau voll macht. Seid ihr von einer mehr oder weniger irdischen Natur als eure Mitmenschen? Besitzt ihr einen sechsten Sinn, der uns fehlt? Lügt nicht und sagt, was ihr denkt. Dies ist keine Frage, die ich euch stelle; denn seit ich als Beobachter die Erhabenheit eurer großartigen Intelligenz aufsuche, weiß ich, woran ich bin. Seid gesegnet von meiner linken Hand, seid geheiligt von meiner rechten Hand, ihr Engel, die meine allumfassende Liebe schützt. Ich küsse euer Gesicht, ich küsse eure Brust, ich küsse mit meinen schmeichelnden Lippen die verschiedenen Teile eures harmonischen und duftenden Leibes. Warum habt ihr mir nicht sogleich gesagt, was ihr seid, Kristallisationen einer höheren moralischen Schönheit? Ich habe die unzähligen Schätze an Zärtlichkeit und Keuschheit selbst erraten müssen, die das Pochen eures bedrückten Herzens verhehlte. Brust, geschmückt mit Girlanden von Rosen und Vetiver. Ich habe eure Beine öffnen müssen, um euch zu erkennen und meinen Mund an die Insignien eurer Scham zu hängen. Aber (wichtig zu bedenken) vergeßt nicht, jeden Tag die Haut eurer Partien mit warmem Wasser zu waschen, denn sonst würden unweigerlich venerische Geschwüre in den eingerissenen Winkeln meiner unbefriedigten Lippen wachsen. O! wäre das Weltall statt einer Hölle ein riesiger himmlischer Anus, seht die Geste, die ich zu meinem Unterleib hin mache: ja, ich hätte meine Rute durch den blutenden Schließmuskel hindurch gestoßen und mit meinen heftigen Bewegungen die Wände selbst seines Beckens gesprengt!
Das Unglück hätte dann nicht über meine geblendeten Augen ganze Dünen von wanderndem Sand geblasen; ich hätte den unterirdischen Ort entdeckt, wo die schlafende Wahrheit sich aufhält, und die Fluten meines klebrigen Spermas hätten darin einen Ozean gefunden, um sich hineinzustürzen! Aber warum ertappe ich mich dabei, einen imaginären Zustand der Dinge zu bedauern, der niemals das Siegel seiner späteren Verwirklichung erhalten wird? Machen wir uns nicht die Mühe, haltlose Hypothesen zu konstruieren. Einstweilen soll der, der vor Begehren brennt, mein Bett zu teilen, zu mir kommen; aber ich stelle meine Gastfreundschaft unter eine strenge Bedingung: er darf nicht älter als fünfzehn Jahre sein. Daß er seinerseits nicht glaube, ich sei dreißig; was soll das hier? Das Alter vermindert nicht die Intensität der Gefühle, ganz und gar nicht; und wenn meine Haare auch weiß wie Schnee geworden sein sollten, so nicht wegen des Alters: im Gegenteil aus einem euch bekannten Grunde. Ich liebe die Frauen nicht! Nicht einmal die Hermaphroditen! Ich brauche Wesen, die mir gleichen, auf deren Stirn der menschliche Adel in kräftigeren und unauslöschlichen Zeichen eingegraben ist! Seid ihr sicher, daß jene, die lange Haare tragen, von derselben Natur sind wie ich? Ich glaube es nicht und ich werde meine Meinung nicht aufgeben. Brackiger Speichel fließt aus meinem Mund, ich weiß nicht warum. Wer will ihn mir saugen, damit ich ihn los werde? Er steigt … er steigt weiter! Ich weiß, was das ist. Ich habe festgestellt, daß ich einen Teil des Blutes, das ich aus der Kehle derer sauge, die an meiner Seite liegen (man hält mich zu Unrecht für einen Vampir, denn so nennt man Tote, die aus ihrem Grabe steigen; nun bin ich aber ein Lebender), am folgenden Tag durch den Mund ausspeie: so erklärt sich der faulige Speichel. Was soll ich denn tun, wenn die durch die Ausschweifung geschwächten Organe sich weigern, die Funktionen der Ernährung zu erfüllen? Aber enthüllt niemandem meine Bekenntnisse. Nicht um meiner willen sage ich euch dies; es ist um eurer selbst und der anderen willen, damit der Bann des Geheimnisses diejenigen in den Grenzen der Pflicht und der Tugend zurückhalte, die, magnetisch angezogen von der Elektrizität des Unbekannten, versucht wären, mich nachzuahmen. Habt die Güte, meinen Mund zu betrachten (im Augenblick habe ich keine Zeit für längere Höflichkeitsfloskeln); er verblüfft euch auf den ersten Blick durch das Aussehen seiner Struktur, ohne die Schlange in eure Vergleiche einzubeziehen; ich ziehe nämlich das Gewebe aufs äußerste zusammen, um glauben zu machen, daß ich einen kalten Charakter besitze. Ihr wißt wohl, daß es sich genau
entgegengesetzt verhält. Warum kann ich denn nicht durch diese seraphischen Seiten hindurch das Gesicht dessen sehen, der mich liest. Wenn er noch nicht die Pubertät überschritten hat, soll er sich nahen. Drücke mich an dich und fürchte nicht, mir weh zu tun; ziehen wir immer enger die Bänder unserer Muskeln zusammen. Mehr. Ich fühle, daß es nutzlos ist, darauf zu bestehen; die in mehr als einer Hinsicht bemerkenswerte Undurchsichtigkeit dieses Blattes Papier ist ein außerordentlich bedeutendes Hindernis für das Unternehmen unserer völligen Vereinigung. Ich habe immer eine infame Neigung für die bleiche Jugend der Gymnasien und die bleichsüchtigen Kinder der Manufakturen verspürt! Meine Worte sind nicht Nachklänge eines Traumes, und ich hätte zu viele Erinnerungen zu entwirren, wäre mir die Verpflichtung auferlegt, vor euren Augen die Ereignisse vorüberziehen zu lassen, die mit ihrem Zeugnis die Wahrhaftigkeit meiner schmerzlichen Behauptung bestätigen könnten. Die menschliche Justiz hat mich noch nicht auffrischer Tat ertappt, trotz der unzweifelhaften Geschicklichkeit ihrer Beamten. Ich habe sogar (es ist nicht lange her!) einen Päderasten ermordet, der sich meiner Leidenschaft nicht genügend hingab; ich habe seinen Leichnam in einen aufgegebenen Brunnen geworfen, und man hat keine schlagenden Beweise gegen mich. Warum bebst du vor Angst, Jüngling, der du mich liest? Glaubst du, daß ich an dir auch so handeln will? Du zeigst dich vollkommen ungerecht … Du hast recht: traue mir nicht, vor allem nicht, wenn du schön bist. Meine Geschlechtsteile bieten ewig das düstere Schauspiel der Schwellung; niemand kann behaupten (und wie viele haben sich ihnen nicht schon genähert!), sie in normalem Ruhezustand gesehen zu haben, nicht einmal der Schuhputzer, der mir dorthin in einem Augenblick des Deliriums einen Messerstich versetzte. Der Undankbare! Ich wechsele die Kleider zweimal in der Woche, wobei die Sauberkeit nicht das Hauptmotiv meines Entschlusses ist. Handelte ich nicht so, gingen die Angehörigen der Menschheit nach einigen Tagen in dauernden Kämpfen unter. Und wirklich, in welcher Gegend ich mich auch befinde, plagen sie mich dauernd mit ihrer Gegenwart und kommen, die Oberfläche meiner Füße zu lecken. Aber welch eine Kraft besitzen sie denn, meine Samentropfen, daß sie alles anziehen, was durch Geruchsnerven atmet! Sie kommen von den Ufern des Amazonas, sie überschreiten die Täler, die der Ganges bespült, sie verlassen die polaren Flechten, um lange Reisen auf der Suche nach mir zu vollbringen, und fragen unbewegliche Städte, ob sie nicht für einen Augenblick den an ihren Mauern haben hinziehen sehen, dessen heiliges
Sperma die Berge, die Seen, die Heiden, die Wälder, die Vorgebirge und die Endlosigkeit der Meere mit Wohlgeruch erfüllt! Die Verzweiflung, mir nicht begegnen zu können (ich verberge mich heimlich an den unzugänglichsten Orten, um ihr Feuer zu unterhalten), veranlaßt sie zu den bedauerlichsten Taten. Sie bauen sich zu je dreihunderttausend auf jeder Seite einander gegenüber auf, und das Brüllen der Kanonen dient als Vorspiel zur Schlacht. Alle Flügel rücken vor wie ein einziger Krieger. Karrees bilden sich und fallen alsbald, um sich nicht wieder zu erheben. Entsetzte Pferde fliehen in alle Richtungen. Die Kanonenkugeln pflügen den Boden wie unerbittliche Meteore. Der Schauplatz des Kampfes ist nur noch ein weites Feld der Schlächterei, wenn die Nacht ihre Gegenwart enthüllt, und der stille Mond durch Wolkenrisse erscheint. Indem sie mir mit dem Finger einen Raum von mehreren Meilen bedeckt mit Leichen zeigt, befiehlt mir die dunstige Sichel dieses Gestirns, einen Augenblick die verheerenden Folgen zum Gegenstand meditativer Überlegungen zu nehmen, die, ihr zufolge, der unerklärliche Zaubertalisman nach sich zieht, den die Vorsehung mir verliehen hat. Wie viele Jahrhunderte braucht es unseligerweise noch, bevor die menschliche Rasse gänzlich durch meine perfide Falle zugrunde geht! So wendet ein geschickter Geist, der nicht ruhmredig ist, gerade die Mittel an, die zuerst ein unüberwindliches Hindernis zu sein schienen, um sein Ziel zu erreichen. Immer erhebt sich meine Intelligenz zu dieser eindrucksvollen Frage, und ihr selbst seid Zeugen, daß es mir nicht mehr möglich ist, bei dem bescheidenen Sujet zu bleiben, das ich anfangs die Absicht hatte zu behandeln. Ein letztes Wort … es war eine Winternacht. Während der Nordwind in den Tannen pfiff, öffnete der Schöpfer seine Tür inmitten der Finsternis und ließ einen Päderasten eintreten.
Fünfter Gesang, sechste Strophe Still! ein Leichenzug kommt an euch vorüber. Neigt die Doppeltheit eurer Kniescheiben und stimmt einen Gesang vom Jenseits an. (Wenn ihr meine Worte eher als einen einfachen Imperativ betrachtet und nicht als einen formellen Befehl, zeigt ihr Geist, und zwar vom besten.) Möglicherweise erfreut ihr damit im höchsten Maße die Seele des Toten, der sich in einem Grabe vom Leben ausruhen wird. Für mich ist dies sogar eine feststehende Tatsache. Nehmt zur Kenntnis, daß ich nicht sage, eure Meinung könnte nicht bis zu einem gewissen Punkt der meinen entgegengesetzt sein; aber es kommt vor allem darauf an, richtige Begriffe von den Grundlagen der Moral zu haben; derart, daß jeder von dem Grundsatz durchdrungen sein soll, der befiehlt, dem anderen das zu tun, von dem man vielleicht wünscht, daß es einem selbst getan werde. Der Priester der Religionen eröffnet den Zug, in der einen Hand eine weiße Fahne, Zeichen des Friedens, und in der anderen ein goldenes Emblem, das die Geschlechtsteile des Mannes und der Frau darstellt, wie um darauf hinzuweisen, daß diese fleischlichen Glieder meistens, ohne alle Metapher, sehr gefährliche Instrumente in den Händen derer sind, die sich ihrer blindlings zu verschiedenen, einander befehdenden Zwecken bedienen, statt eine günstige Reaktion gegen die bekannte Leidenschaft hervorzubringen, die beinahe alle unsere Leiden verursacht. Unten an seinem Rücken ist (künstlich, versteht sich) ein Schweif aus starkem Roßhaar befestigt, der den Staub des Bodens fegt. Er bedeutet, acht zu geben, daß wir uns nicht durch unser Betragen unter die Tiere einreihen. Der Sarg kennt den Weg und schreitet hinter dem fließenden Gewand des Trösters einher. Die Verwandten und Freunde des Verschiedenen haben durch die Darstellung ihrer Position beschlossen, den Schluß des Trauerzuges zu bilden. Dieser schreitet majestätisch voran wie ein Schiff, das die hohe See teilt, und fürchtet das Phänomen des Untertauchens nicht; denn im gegebenen Augenblick zeigen sich die Stürme und die Riffs durch nichts anderes als durch ihre erklärliche Abwesenheit. Die Grillen und die Kröten folgen der Totenfeier in einigen Schritten Abstand nach; auch sie wissen wohl, daß ihre bescheidene Anwesenheit beim Begräbnis ihnen eines Tages angerechnet werden wird. Sie unterhalten sich mit leiser Stimme in ihrer pittoresken Sprache (seid nicht so anmaßend zu glauben, erlaubt mir, euch diesen uneigennützigen Rat zu erteilen, nur ihr allein besäßet die kostbare Fähigkeit, die Empfindungen eures
Denkens weiterzugeben) über jenen, den sie mehr als einmal über die grünenden Wiesen laufen und den Schweiß seiner Glieder in die bläulichen Wellen der sandigen Buchten tauchen sahen. Anfangs schien ihm das Leben ohne Einschränkung zu lächeln und bekränzte ihn herrlich mit Blumen; aber da eure Intelligenz es allein herausfindet oder vielmehr errät, daß es an den Grenzen der Kindheit aufgehört hat, brauche ich bis zum Auftauchen eines wirklich notwendigen Widerrufs die Prolegomena meiner strengen Beweisführung nicht fortzusetzen. Zehn Jahre. Eine Zahl, die zum Verwechseln genau mit der Zahl der Finger übereinstimmt. Das ist wenig und das ist viel. Im Falle jedoch, der uns beschäftigt, werde ich mich auf eure Liebe zur Wahrheit stützen, damit ihr mit mir, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, aussprecht, daß es wenig ist. Und wenn ich in großen Zügen diese finsteren Geheimnisse überdenke, durch die ein Menschenwesen so leicht wie eine Fliege oder eine Libelle von der Erde verschwindet, ohne irgendeine Hoffnung auf Rückkehr, überrasche ich mich, das lebhafteste Bedauern zu hegen, wahrscheinlich nicht lange genug leben zu können, um euch das genau zu erklären, was selbst zu verstehen ich nicht vorgebe. Aber da es bewiesen ist, daß ich durch einen außergewöhnlichen Zufall noch nicht das Leben verloren habe, seit jener fernen Zeit, zu der ich voller Schrecken den vorhergehenden Satz begann, berechne ich geistig, daß es hier nicht überflüssig wäre, das umfassende Bekenntnis meines grundsätzlichen Unvermögens zu konstruieren, vor allem wenn es sich, wie gegenwärtig, um diese imposante und unlösbare Frage handelt. Allgemein gesprochen ist es eine merkwürdige Sache um diese Anziehungskraft, die uns dazu bringt, die in den natürlichen Eigenschaften der einander am schroffsten entgegengesetzten Dinge verborgenen Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erforschen (und anschließend darzustellen), zumal diese Dinge manchmal offenbar am wenigsten geeignet sind, sich jener Art sympathisch sonderbarer Kombinationen anzubieten, die, mein Ehrenwort, dem Stil des Schriftstellers, der sich diese persönliche Genugtuung erlaubt, netterweise den unmöglichen und unvergeßlichen Anblick einer bis in alle Ewigkeit ernsthaften Eule verleihen. Folgen wir also der Strömung, die uns mitzieht. Der königliche Milan hat verhältnismäßig längere Flügel als der Bussard und einen leichteren Flug: daher verbringt er sein Leben in der Luft. Er ruht beinahe nie und durcheilt jeden Tag unermeßliche Räume; und diese große Bewegung ist keine Jagdübung, auch nicht Verfolgung einer Beute, nicht einmal Entdeckung; denn er jagt nicht; sondern es scheint,
daß der Flug sein natürlicher Zustand sei, seine bevorzugte Lage. Man kann sich nicht enthalten, die Weise zu bewundern, in der er ihn ausführt. Seine langen und geraden Flügel scheinen unbewegt; der Schwanz glaubt, alle Schwenkungen zu lenken, und der Schwanz irrt sich nicht: er ist immer in Tätigkeit. Der Vogel steigt ohne Mühe auf; er senkt sich herab, als glitte er auf einer schiefen Ebene; er scheint eher zu schwimmen, als zu fliegen; er beschleunigt seinen Flug, er verlangsamt ihn, er verharrt wie hängend oder festgebannt ganze Stunden hindurch am selben Ort. Man kann überhaupt keine Bewegung an seinen Flügeln feststellen: ihr könnt die Augen wie eine Ofenklappe aufreißen, es nützte alles nichts. Jedermann hat soviel gesunden Verstand, ohne weiteres zu bekennen (wenn auch mit leichtem Unwillen), daß er nicht von vornherein den noch so entlegenen Zusammenhang einsehe, den ich zwischen der Schönheit des Fluges des königlichen Milans und der des Gesichts des Kindes angebe, das zart aus dem aufgedeckten Sarg wie eine Seerose hervorragt, die durch die Wasseroberfläche dringt; genau darin besteht der unverzeihliche Fehler, den die unverrückbare Situation eines Mangels an Reue mit sich bringt, die an willentliche Ignoranz grenzt, in der man vermodert. Dieser ruhig-majestätische Zusammenhang zwischen den beiden Polen meines verschmitzten Vergleichs ist schon mehr als geläufig und von hinlänglich verständlichem Symbolgehalt, daß ich mich nur umso mehr darüber wundere, denn als einzige Entschuldigung bliebe nur eben diese Vulgarität, die auf jeden Gegenstand oder jedes Schauspiel, das von ihr befallen ist, nur ein tiefes Gefühl ungerechter Gleichgültigkeit herabzieht. Als müßte nicht das, was man jeden Tag zu sehen bekommt, ebenso die Aufmerksamkeit unserer Bewunderung wachrufen! Am Eingang des Friedhofs angekommen, beeilt sich der Trauerzug anzuhalten; er hat nicht die Absicht, weiter zu ziehen. Der Totengräber vollendet das Ausheben des Grabes; man läßt den Sarg mit aller unter solchen Umständen beobachteten Sorgfalt herab; einige unvorhergesehene Schaufeln Erde bedecken den Leichnam des Kindes. Der Priester der Religionen spricht inmitten der bewegten Versammlung einige Worte, um den Toten zu bestatten, vor allem in der Vorstellung der Versammelten: »Er sagt, er wundere sich sehr, daß man so viele Tränen um einen Akt von solcher Bedeutungslosigkeit vergieße. Wörtlich. Aber er fürchte, nicht hinlänglich genau zu bestimmen, was er für ein unzweifelhaftes Glück halte. Hätte er in seiner Naivität geglaubt, daß der Tod so wenig sympathisch erschiene, hätte er auf sein Mandat verzichtet, um nicht den zulässigen
Schmerz der zahlreichen Angehörigen und Freunde des Verstorbenen zu vermehren; aber eine geheime Stimme habe ihn angewiesen, ihnen etwas Trost zu spenden, der nicht nutzlos sei, und wäre es auch nur der, Hoffnung auf ein baldiges Zusammentreffen des Verstorbenen und der Hinterbliebenen im Himmel aufscheinen zu lassen.« Maldoror floh in schnellem Galopp und schien seinen Ritt zu den Mauern des Friedhofs zu lenken. Die Hufe seines Rosses legten um seinen Herren eine falsche Krone von dichtem Staub. Ihr anderen, ihr könnt den Namen dieses Reiters nicht kennen; aber ich, ich kenne ihn. Er kam näher und näher; sein Platingesicht begann, sichtbar zu werden, obwohl dessen unterer Teil gänzlich von einem Mantel verhüllt war, den aus dem Gedächtnis zu verbannen der Leser sich gehütet hat, und der nur die Augen sehen ließ. Mitten in seiner Rede erbleicht der Priester der Religioneil plötzlich, denn sein Ohr erkennt den unregelmäßigen Galopp dieses berühmten Schimmels, der niemals seinen Herren verließ. »Ja, fuhr er fort, mein Vertrauen in dieses nahe Zusammentreffen ist groß; man wird dann besser als zuvor verstehen, welchen Sinn man der zeitweiligen Trennung der Seele und des Körpers beilegen mußte. Wer glaubt, auf dieser Erde zu leben, wiegt sich in einer Illusion, deren Auflösung man beschleunigen müßte.« Der Lärm des Galopps schwoll mehr und mehr an; und als der Reiter, schnell wie ein Wirbelsturm, die Linie des Horizonts verdeckend, im Gesichtsfeld des Friedhofstores sichtbar wurde, fuhr der Priester der Religionen noch ernster fort: »Ihr scheint nicht zu ahnen, daß dieser hier, den die Krankheit zwang, nur die ersten Phasen des Lebens kennenzulernen, und den das Grab soeben in sich aufnahm, der unzweifelhaft Lebende ist; aber wißt wenigstens, daß jener dort, dessen zweideutige Silhouette, von einem nervösen Pferd getragen, ihr seht, und auf den schleunigst die Augen zu heften ich euch rate, denn er ist nur noch ein Punkt und wird bald in der Heide verschwinden, der einzige wirkliche Tote ist, obwohl er viel gelebt hat.«
Fünfter Gesang, siebte Strophe Jede Nacht, zur Stunde, wenn der Schlaf seinen höchsten Intensitätsgrad erreicht hat, schiebt eine alte Spinne der großen Art langsam ihren Kopf aus einem Loch im Boden, an einem der Schnittpunkte der Winkel des Zimmers. Sie lauscht aufmerksam, ob noch irgendein Rauschen seine Kinnbacken in der Atmosphäre bewegt. Angesichts ihrer Insektengestalt kann sie nicht weniger tun, als dem Rauschen Kinnbacken zuzuschreiben, wenn sie strebt, mit glänzenden Personifikationen die Schätze der Literatur zu vermehren. Hat sie sich überzeugt, daß rundherum Stille herrscht, zieht sie nach und nach, ohne Meditation zu Hilfe zu nehmen, die verschiedenen Teile ihres Körpers aus den Tiefen ihres Nestes hervor und kommt gemessenen Schrittes zu meinem Lager. Merkwürdige Sache! ich, der ich den Schlaf und die Alpträume zurücktreibe, ich fühle mich am ganzen Körper gelähmt, wenn sie die Ebenholzfüße meines seidenen Bettes emporklimmt. Sie umfaßt meine Kehle mit den Beinen und saugt mir mit ihrem Bauch das Blut aus. Ganz einfach! Wie viele Liter einer purpurroten Flüssigkeit, deren Namen ihr kennt, hat sie nicht schon getrunken, seit sie denselben Kniff mit einer Ausdauer anwendet, die einer besseren Sache würdig wäre! Ich weiß nicht, was ich ihr getan habe, daß sie sich mir gegenüber so aufführt. Habe ich ihr aus Unachtsamkeit ein Bein zerquetscht? Habe ich ihr die Jungen geraubt? Diese beiden Hypothesen, die zu bestätigen wären, sind nicht geeignet, einer ernsthaften Prüfung standzuhalten; sie bringen vielmehr mühelos ein Heben meiner Schultern zustande und ein Lächeln auf meine Lippen, obwohl man sich über niemanden lustig machen soll. Sieh dich vor, schwarze Tarantel; wenn deine Aufführung nicht einen hieb- und stichfesten Syllogismus zur Entschuldigung bereit hat, werde ich eines Nachts mit einem Ruck erwachen, durch eine letzte Anstrengung meines verendenden Willens werde ich den Bann brechen, mit dem du meine Glieder unbeweglich hältst, und ich werde dich zwischen den Knochen meiner Finger wie ein Stück Gallert zerquetschen. Doch erinnere ich mich dunkel, daß ich dir gestattet habe, deine Beine über die Wölbung meiner Brust und von dort bis zur Haut, die mein Gesicht überzieht, klettern zu lassen; und daß ich folglich nicht das Recht habe, dich zu maßregeln. O! wer wird meine wirren Erinnerungen ordnen! Ich gebe ihm zur Entschädigung, was von meinem Blut übrig ist: rechnet man den letzten Tropfen mit, ist es genug, um wenigstens zur Hälfte den Kelch einer Orgie zu füllen.« Er spricht
und fährt fort, sich auszukleiden. Er stützt ein Bein auf die Matratze und mit dem anderen stemmt er sich gegen das Saphirparkett, um sich hinaufzuheben, und er findet sich waagerecht ausgestreckt. Er hat beschlossen, die Augen offen zu halten, um seinen Feind festen Fußes zu erwarten. Aber faßt er nicht jedes Mal denselben Entschluß, und wird dieser nicht immer durch das unerklärliche Bild seines verhängnisvollen Versprechens zunichte? Er sagt nichts mehr und ergibt sich mit Schmerzen; denn das Wort ist ihm heilig. Er hüllt sich majestätisch in die Falten der Seide, verschmäht es, die goldenen Quasten seiner Verhänge zu verknüpfen, und betastet mit der Hand, nachdem er die welligen Locken seiner langen schwarzen Haare auf die Fransen des Samtkissens gebettet hat, die große Wunde an seinem Hals, in der wie in einem zweiten Nest die Tarantel gewohnt ist, sich einzunisten, wobei ihr Gesicht vor Genugtung strahlt. Er hofft, daß diese Nacht (hofft mit ihm!) die letzte Vorstellung dieses unermeßlichen Aussaugens gegeben werde; denn es ist sein einziger Wunsch, daß der Henker seine Existenz beende: den Tod, und er wäre zufrieden. Seht diese alte Spinne der großen Art, wie sie langsam ihren Kopf aus einem Loch im Boden schiebt, an einem der Schnittpunkte der Winkel des Zimmers. Wir sind nicht mehr beim Erzählen. Sie lauscht aufmerksam, ob irgendein Rauschen noch seine Kinnbacken in der Atmosphäre bewegt. Ach! wir sind jetzt in der Wirklichkeit angekommen, jedenfalls was die Tarantel angeht, und obwohl man ein Ausrufungszeichen an das Ende eines jeden Satzes stellen könnte, ist dies vielleicht kein Grund, es hier zu unterlassen! Sie hat sich vergewissert, daß rundum Stille herrscht; da zieht sie nach und nach aus den Tiefen ihres Nestes, ohne Beihilfe der Meditation, die verschiedenen Teile ihres Körpers und nähert sich gemessenen Schrittes dem Lager des einsamen Mannes. Einen Augenblick hält sie inne; aber dieser Augenblick des Zögerns ist kurz. Sie sagt sich, daß es noch nicht an der Zeit sei, die Marter einzustellen, und daß man zuvor dem Verurteilten die einleuchtenden Gründe bekannt geben muß, die das Fortdauern der Folterung bestimmen. Sie ist neben das Ohr des Schlafenden geklettert. Wollt ihr kein einziges Wort von dem verlieren, was sie sagen wird, laßt ab von anderen Beschäftigungen, die das Portal eures Geistes verstopfen, und seid wenigstens dankbar für das Interesse, das ich euch entgegenbringe, indem ich eure Gegenwart den theatralischen Szenen beiwohnen lasse, die würdig scheinen, eure wirkliche Aufmerksamkeit zu erwecken; denn wer sollte mich hindern, die Begebenheiten, die ich erzähle, für mich allein zu behalten? »Erwache, verliebte Flamme
vergangener Tage, fleischloses Skelett. Die Zeit ist gekommen, die Hand der Gerechtigkeit anzuhalten. Wir werden dich nicht lange auf die Erklärung warten lassen, die du wünschst. Du hörst uns zu, nicht wahr? Aber bewege deine Glieder nicht; du stehst heute noch unter unserer magnetischen Gewalt, und die enzephalische Agonie hält an: es ist das letzte Mal. Welchen Eindruck hinterläßt das Gesicht Elsseneurs in deiner Vorstellung? Du hast es vergessen! Und dieser Reginald, mit stolzem Schritt, hast du seine Züge in dein treues Gehirn gegraben? Sieh ihn verborgen in den Falten des Vorhangs; sein Mund ist zu deiner Stirn geneigt; aber er wagt nicht zu sprechen, denn er ist schüchterner als ich. Ich werde dir eine Episode aus deiner Jugend erzählen und dich auf die Fährte der Erinnerung setzen …« Schon lange hatte die Spinne ihren Bauch geöffnet, aus dem zwei Jünglinge in blauen Gewändern entsprungen waren, jeder ein flammendes Schwert in der Hand; sie hatten an beiden Seiten des Bettes Platz genommen, wie um von nun an das Heiligtum des Schlafes zu bewachen. »Er, der noch nicht aufgehört hat, dich zu betrachten, denn er liebte dich sehr, war der erste von uns beiden, dem du deine Liebe schenktest. Aber du ließest ihn oft unter den Schroffheiten deines Charakters leiden. Er aber bemühte sich unablässig, dir keinen Grund zu Klagen gegen ihn zu geben: einem Engel wäre es nicht gelungen. Du fragtest ihn eines Tages, ob er mit dir am Meeresstrand baden gehen wolle. Alle beide warft ihr euch zugleich wie zwei Schwäne von einem schroffen Felsen. Ihr glittet, ausgezeichnete Taucher, in die wässrige Masse, den Kopf zwischen den ausgestreckten Armen, die Hände vereint. Während einiger Minuten schwammt ihr zwischen zwei Strömungen. Ihr tauchtet in großer Entfernung wieder auf, das Haar verwirrt und von salziger Flüssigkeit triefend. Aber welch ein Geheimnis hatte sich unter Wasser begeben, da eine lange Blutspur sich auf den Wellen zeigte? Du schwammst weiter, als ihr wieder an die Oberfläche kamt und du schienst die wachsende Schwäche deines Gefährten nicht zu bemerken. Er verlor schnell seine Kräfte, und du schnelltest dich unvermindert mit ausholenden Schwimmstößen dem dunstigen Horizont entgegen,der vor dir herschwamm. Der Verletzte stieß Notrufe aus, und du stelltest dich taub. Reginald schlug dreimal das Echo deines Namens an, und dreimal antwortetest du mit einem Lustschrei. Er befand sich zu weit vom Ufer entfernt, um dorthin zurückzukommen, und strengte sich vergebens an, den Spuren deines Schwimmens zu folgen, um dich einzuholen und einen Augenblick die Hand auf deiner Schulter auszuruhen. Die
vergebliche Jagd zog sich eine Stunde hin, er verlor seine Kräfte und du fühltest die deinen wachsen. Er verzweifelte, deine Schnelligkeit zu erreichen, und richtete ein kurzes Gebet an den Herrn, um ihm seine Seele zu empfehlen, legte sich auf den Rücken, wie wenn man den toten Mann macht, so daß man das Herz heftig in seiner Brust schlagen sah, und wartete, daß der Tod kam, um nicht länger zu warten. In diesem Augenblick waren deine kraftvollen Glieder beinahe schon außer Sichtweite und entfernten sich noch, schnell wie eine Sonde, die man hinabgleiten läßt. Ein Boot, das seine Netze auf hoher See ausgelegt hatte, kehrte durch diese Gegend zurück. Die Fischer hielten Reginald für einen Schiffbrüchigen und hoben den Bewußtlosen in ihr Boot. Man stellte eine Wunde in der rechten Seite fest; jeder dieser erfahrenen Matrosen äußerte die Meinung, daß keine Riffspitze und kein Felssplitter geeignet sei, ein so mikroskopisches und zugleich so tiefes Loch zu bohren. Nur eine Stichwaffe, wie ein äußerst spitzes Stilett, könnte sich die Rechte auf die Vaterschaft einer so feinen Wunde anmaßen. Er wollte niemals von den verschiedenen Phasen des Tauchens durch die Eingeweide der Fluten erzählen, und dieses Geheimnis hat er bis heute bewahrt. Tränen fließen jetzt über seine ein wenig entfärbten Wangen und fallen auf deine Laken: die Erinnerung ist oft bitterer als die Sache selbst. Ich aber werde kein Erbarmen verspüren: das hieße, dir zu große Wertschätzung entgegenzubringen. Rolle nicht diese rasenden Augen in ihren Höhlen. Bieibe lieber ruhig. Du weißt, daß du dich nicht bewegen kannst. Übrigens habe ich meine Erzählung noch nicht beendet. – Hebe dein Schwert, Reginald, und vergiß nicht so leicht die Rache. Wer weiß? vielleicht macht sie dir eines Tages Vorwürfe. – Später empfandest du Gewissenbisse von sicherlich flüchtigem Charakter; du beschlössest, den Fehler wieder gutzumachen, indem du einen anderen Freund wähltest, um ihn zu segnen und zu ehren. Durch dieses Sühnemittel löschtest du die Flecken der Vergangenheit aus und ließest auf den, der das zweite Opfer wurde, die Sympathie zurückfallen, die du dem anderen nicht zu zeigen wußtest. Vergebliche Hoffnung; der Charakter ändert sich nicht von einem Tag zum anderen, und dein Wille blieb sich selbst gleich. Ich, Elsseneur, ich sah dich zum ersten Mal und konnte dich von diesem Augenblick an nicht vergessen. Wir sahen uns einige Augenblicke an, und du begannst zu lächeln. Ich senkte die Augen, weil ich in deinen eine übernatürliche Flamme sah. Ich fragte mich, ob du dich im Schütze einer finsteren Nachtheimlich von der Oberfläche eines Sterns bis zu uns herabgelassen habest; denn ich
gebe es zu, da es heute nicht nötig ist, etwas vorzutäuschen, du glichst nicht den Ferkeln der Menschheit; sondern eine Aureole funkelnder Strahlen umgab deine Stirn. Ich hätte gewünscht, engere Beziehungen mit dir anzuknüpfen; meine Gegenwart wagte nicht, sich der schlagenden Neuheit dieses seltsamen Adels zu nähern, und hartnäckiger Schrecken umschlich mich. Warum habe ich nicht auf diese Signale des Bewußtseins gehört? Begründete Vorahnungen. Da du mein Zögern bemerktest, errötetest du deinerseits, und strecktest den Arm aus. Ich legte mutig meine Hand in die deine, und nach dieser Tat fühlte ich mich stärker; nun war ein Hauch deines Geistes in mich übergegangen. Wir liefen einige Augenblicke dahin, die Haare im Wind und den Hauch der Winde atmend, durch die dichten Haine von Mastix, Jasmin, Granat- und Orangenbäumen, deren Düfte uns berauschten. Ein Wildschwein streifte uns in schnellstem Lauf, und eine Träne fiel aus seinem Auge, als es mich mit dir sah: Ich erklärte mir sein Betragen nicht. Bei Einbruch der Nacht kamen wir vor die Tore einer volkreichen Stadt. Die Umrisse von Kuppeln, die Spitzen von Minaretts und die Marmorkugeln der Belvedere zeichneten mächtig ihre Zacken durch die Finsternis an das tiefe Blau des Himmels. Aber du wolltest an diesem Ort nicht ruhen, obwohl Müdigkeit uns ergriffen hatte. Wir schlichen die äußeren Befestigungen entlang wie nächtliche Schakale; wir mieden die Begegnung mit den Posten auf Wacht; und es gelang uns, durch das gegenüberliegende Tor diese feierliche Versammlung vernünftiger Tiere, zivilisiert wie die Biber, zu verlassen. Der Flug des Leuchtkäfers, das Knistern des trockenen Grases, das hin und wieder einsetzende Heulen eines fernen Wolfes begleiteten die Dunkelheit unseres Ungewissen Marsches durch das Land. Was waren denn deine wirklichen Beweggründe, die menschlichen Bienenstöcke zu fliehen? Ich stellte mir diese Frage mit einer gewissen Beunruhigung; übrigens begannen meine Beine, einen übermäßig verlängerten Dienst zu verweigern. Wir gelangten schließlich an den Saum eines dichten Waldes, dessen Bäume durch ein Gewirr langer, verfilzter Lianen, Parasitenpflanzen und riesiger Stachelkakteen miteinander verflochten waren. Du bliebst vor einer Birke stehen. Du sagtest mir, ich sollte niederknien, um mich auf den Tod vorzubereiten; du gabst mir eine Viertelstunde, diese Erde zu verlassen. Einige verstohlene Blicke, die du während unseres langen Marsches heimlich auf mich geworfen hattest, bestimmte Gesten, deren Ausgefallenheit in Maß und Bewegung ich bemerkt hatte, traten mir sofort vor das Gedächtnis wie die aufgeschlagenen Seiten eines
Buches. Meine Befürchtungen fanden sich bestätigt. Du warfst mich, der ich zu schwach war, gegen dich zu kämpfen, zu Boden, wie der Sturm das Espenblatt abreißt. Eines deiner Knie auf meiner Brust und das andere in das feuchte Gras gestützt, während die eine deiner Hände meine beiden Arme in ihrem Schraubstock hielt, sah ich die andere ein Messer aus der Scheide ziehen, die an deinem Gürtel hing. Ich leistete beinahe keinen Widerstand und schloß die Augen: das Stampfen einer Rinderherde, durch den Wind herangetragen, war in einiger Entfernung zu hören. Vom Stock eines Hirten und der Kinnlade eines Hundes angetrieben, kam sie heran wie eine Lokomotive. Es war keine Zeit zu verlieren, und das verstandest du; du fürchtetest, dein Ziel nicht zu erreichen, denn das Nahen einer unerwarteten Hilfe hatte meine Muskelkraft verdoppelt, und als du bemerktest, daß du zur gleichen Zeit nur einen meiner Arme unbeweglich machen konntest, gabst du dich zufrieden, mit einer schnellen Bewegung der Stahlklinge das rechte Handgelenk zu durchschneiden. Das sauber abgetrennte Stück fiel auf den Boden. Du ergriffst die Flucht, während ich durch den Schmerz betäubt war. Ich werde dir nicht erzählen, wie der Hirt mir zu Hilfe kam, nicht, wie lange Zeit zu meiner Heilung nötig war. Es möge dir genügen zu wissen, daß dieser Verrat, den ich nicht erwartet hatte, mir das Verlangen eingab, den Tod zu suchen. Ich trug meine Gegenwart in Kämpfe, um meine Brust den Schüssen auszusetzen. Ich erwarb Ruhm auf den Schlachtfeldern; mein Name war selbst den Unerschrockensten furchtbar geworden, in solchem Maße trug meine künstliche Hand Gemetzel und Vernichtung in die feindlichen Reihen. Doch eines Tages, als die Granaten viel stärker donnerten als gewöhnlich, und die zersprengten Schwadronen wie Stroh im Zyklon des Todes herumwirbelten, nahte sich mir ein Reiter in kühner Haltung, um mir die Palme des Sieges streitig zu machen. Die beiden Armeen blieben unbeweglich halten, um uns schweigend zu beobachten. Wir kämpften lange, von Wunden bedeckt, die Helme zerschlagen. Wir kamen überein, eine Pause zu machen, um uns auszuruhen, und den Kampf dann mit größerer Energie wieder aufzunehmen. Voll Bewunderung für den Gegner hebt jeder das eigene Visier: »Elsseneur! …«, »Reginald! …« das waren die einfachen Worte, die unsere keuchenden Kehlen gleichzeitig ausstießen. Jener hatte, der Verzweiflung untröstlicher Traurigkeit verfallen, wie ich die Laufbahn der Waffen ergriffen, und die Kugeln hatten ihn verschont. Unter welchen Umständen fanden wir uns wieder! Aber dein Name wurde nicht ausgesprochen! Er und ich, wir schworen uns ewige Freundschaft;
aber gewiß verschieden von jenen beiden früheren, deren Hauptakteur du warst! Ein Erzengel, vom Himmel herabgestiegen und Bote des Herren, befahl uns, daß wir uns in eine einzige Spinne verwandelten und jede Nacht kämen, um deine Kehle zu saugen, bis ein Befehl von oben den Lauf der Strafe anhielte. Seit beinahe zehn Jahren haben wir dein Lager heimgesucht. Von heute an bist du von unserer Verfolgung befreit. Das vage Versprechen, von dem du sprachst, hast du nicht uns gegeben, sondenrdem Wesen, das stärker ist als du: du selbst verstandest, daß es besser sei, sich diesem unwiderruflichen Dekret zu unterwerfen. Erwache, Maldoror! Der magnetische Bann, der die Nächte von zwei Jahrfünften hindurch auf deinem zerebrospinalen System gelastet hat, verfliegt.« Er erwacht, wie es ihm befohlen war, und sieht zwei himmlische Gestalten mit verschlungenen Armen in den Lüften verschwinden. Er versucht nicht, wieder einzuschlafen. Er hebt langsam, eins nach dem anderen, seine Glieder vom Lager. Er geht, seine eisige Haut an den wiederentzündeten Scheiten des gotischen Kamins zu wärmen. Nur sein Hemd bedeckt seinen Leib. Er sucht mit den Augen die Kristallkaraffe, um seinen ausgetrockneten Gaumen zu benetzen. Er öffnet die Läden des Fensters. Er lehnt sich auf die Brüstung. Er betrachtet den Mond, der auf seine Brust einen Kegel ekstatischer Strahlen wirft, in dem wie Nachtfalter Silberatome von unaussprechlicher Zartheit beben. Er wartet, daß der Morgen durch einen Wechsel der Szene seinem aufgewühlten Herzen kaum nennenswerte Erleichterung bringen wird.
Sechster Gesang, erste Strophe Ihr, deren beneidenswerte Ruhe nicht mehr zustande bringt, als die Gesichtszüge zu verschönen, glaubt nicht, es gehe noch darum, in Strophen von vierzehn oder fünfzehn Zeilen wie ein Tertianer Exklamationen auszustoßen, die als unangebracht gelten werden, und das schallende Kollern des indochinesischen Huhns, so grotesk, wie man es sich nur vorstellen kann, wenn man sich diese Mühe machen will; sondern es ist vorzuziehen, die Sätze, die man vorbringt, durch Tatsachen zu beweisen. Nehmt ihr denn an, meine Mission sei dadurch erfüllt, daß ich wie spielerisch den Menschen, den Schöpfer und mich selbst mit meinen erklärlichen Übertreibungen beleidigte? Nein: der wichtigste Teil meiner Arbeit steht noch als eine Aufgabe bevor, die zu erledigen bleibt. Nunmehr werden die Fäden des Romans die drei oben genannten Personen bewegen: so wird ihnen eine weniger abstrakte Gewalt verliehen. Die Lebenskraft wird sich großartig in den Sturzbach ihrer Kreislauforgane ergießen, und ihr werdet sehen, daß ihr selbst erstaunt, dort, wo ihr zuerst nur verschwommene Wesenheiten zu erblicken glaubtet, die in das Reich der reinen Spekulation zu gehören schienen, nun einerseits auf den körperlichen Organismus mit seiner Nervenverzweigung und seinen Schleimhäuten zu treffen, andererseits auf das geistige Prinzip, das den physiologischen Funktionen des Fleisches vorsitzt. Dies sind Wesen mit energischem Leben, die prosaisch, mit gekreuzten Armen und unbewegter Brust, posieren werden (aber ich bin sicher, daß der Effekt hochpoetisch sein wird), vor euren Augen, nur einige Schritt von euch entfernt, so daß die Sonnenstrahlen, die zunächst die Dachziegel und Kaminhauben treffen, sich darauf sichtbar an ihren irdischen und materiellen Haaren brechen. Aber es handelt sich nicht mehr um Flüche, deren Spezialität es ist, zum Lachen zu reizen; um fiktive Figuren, die wohl getan hätten, im Gehirn ihres Urhebers zu bleiben; oder um Schreckgespenster, die zu hoch über dem gewöhnlichen Leben angesiedelt sind. Beachtet, daß gerade dadurch meine Poesie nur schöner werden kann. Ihr werdet mit euren Händen die aufsteigenden Zweige der Aorta berühren und die Nebennieren; und dann die Gefühle! Die fünf ersten Erzählungen waren nicht unnütz; sie waren das Frontispiz meines Werkes, das Fundament des Baues, die vorausgehende Erklärung meiner künftigen Poetik: und ich schuldete es mir selbst, bevor ich meinen Koffer schnallte und mich zu den Landschaften der Imagination aufmachte, den ernsthaften Liebhabern der
Literatur durch die flüchtige Skizze einer klaren und genauen Verallgemeinerung einen Begriff von dem Ziel zu geben, das zu verfolgen ich mich entschlossen hatte. Also nach meiner Meinung ist jetzt der synthetische Teil meines Werks abgeschlossen und ausreichend paraphrasiert. Durch ihn habt ihr erfahren, daß ich mir vorgenommen habe, den Menschen anzugreifen und Ihn, der ihn schuf. Für den Moment, und für später braucht ihr nicht mehr zu wissen! Neue Überlegungen scheinen mir überflüssig, denn sie wiederholten nur unter einer anderen Form, einer weiter gefaßten Form, das stimmt schon, aber einer identischen, den Wortlaut der These, deren erste Entwicklung das Ende dieses Tages sehen wird. Es folgt aus den vorhergehenden Bemerkungen, daß es meine Absicht ist, von nun an den analytischen Teil in Angriff zu nehmen; dies ist so wahr, daß ich noch vor einigen Minuten den brennenden Wunsch äußerte, ihr wäret in den Schweißdrüsen meiner Haut gefangen, um sachkundig die Aufrichtigkeit dessen zu bezeugen, was ich behaupte. Man muß, ich weiß es, mit einer großen Zahl von Beweisen die Argumentation stützen, die in meinem Theorem enthalten ist; nun, diese Beweise gibt es, und ihr wißt, daß ich niemanden angreife, ohne ernsthafte Motive dafür zu haben! Ich lache aus vollem Halse, wenn ich mir vorstelle, ihr würfet mir vor, daß ich bittere Anklagen gegen die Menschheit vorbringe, zu deren Mitgliedern ich selbst zähle (diese Bemerkung allein setzte mich ins Recht!), und gegen die Vorsehung: ich werde meine Worte nicht widerrufen; sondern es wird mir, wenn ich erzähle, was ich gesehen habe, nicht schwerfallen, sie zu rechtfertigen ohne dabei eine andere Absicht zu haben, als die Wahrheit zu sagen. Heute werde ich einen kleinen Roman von dreißig Seiten herstellen; dieses Maß wird fürderhin so etwa gleich bleiben. In der Hoffnung, diesen oder jenen Tag die Bestätigung meiner Theorien durch diese oder jene literarische Form angenommen zu finden, glaube ich schließlich, nach einigem Herumtasten, meine endgültige Formel gefunden zu haben. Es ist die beste: denn es ist der Roman! Dieses hybride Vorwort wurde in einer Weise entwickelt, die vielleicht nicht ausreichend natürlich erscheint, in dem Sinne, daß es sozusagen den Leser überrumpelt, der nicht recht sieht, wohin man ihn zunächst geleiten will; aber dieses Gefühl bemerkenswerter Verblüffung hervorzubringen, außer bei denen, die ihre Zeit damit verbringen, Broschüren und Bücher durchzulesen, habe ich mich mit aller Kraft bemüht. Und wirklich war es mir unmöglich, weniger zu tun, trotz meines besten Willens: nur erst später, wenn einige Romane
erschienen sein werden, werdet ihr dieses Vorwort eines Abtrünnigen mit rußigem Gesicht verstehen.
Sechster Gesang, zweite Strophe Bevor ich zur Sache komme, finde ich es dumm, daß es notwendig sein soll (ich denke, daß nicht jeder mit mir einverstanden sein wird, wenn ich mich irre), neben mich ein offenes Tintenfaß zu stellen und einige Bögen unzerfetzten Papiers zu legen. Auf diese Weise wird es mir ermöglicht, voller Hingabe mit diesem sechsten Gesang die Reihe lehrreicher Gedichte zu eröffnen, die herzustellen ich mich sehne. Dramatische Episoden unerbittlicher Nützlichkeit! Unser Held stellte fest, daß er gegen die Regeln der Logik verstieß und einen Zirkel herstellte, wenn er sich in Höhlen herumtrieb und unzugängliche Orte zur Zuflucht nahm. Denn wenn er einerseits auf diese Weise seinem Abscheu vor den Menschen durch die Entschädigung der Einsamkeit und der Zurückgezogenheit entgegenkam und passiv seinen begrenzten Horizont umschrieb, mitten in verkümmertem Gesträuch, in Dornen und wildem Wein, fand andererseits sein Treiben für den Minotaurus seiner perversen Instinkte keine Nahrung mehr. Folglich beschloß er, sich den menschlichen Ansiedlungen zu nähern, überzeugt, daß unter so vielen fertig zubereiteten Opfern seine verschiedenen Leidenschaften reichlich Stoff zu ihrer Befriedigung finden würden. Er wußte, daß die Polizei, dieser Schutzschild der Zivilisation, ihn ausdauernd seit einer Reihe von Jahren suchte, und daß eine wahre Armee von Agenten und Spionen ihm ständig auf den Fersen saß. Jedoch ohne ihn auffinden zu können. So sehr brachte seine unfaßliche Geschicklichkeit mit höchster Eleganz die vom Gesichtspunkt des Erfolges her unanfechtbarsten Listen und die Rezepte der weisesten Überlegung durcheinander. Er hatte eine besondere Fähigkeit, Formen anzunehmen, die selbst geübte Augen verkannten. Ausgezeichnete Verkleidungen, um als Künstler zu sprechen! Ausstaffierungen von wirklich mittelmäßiger Wirkung, wenn ich die Moral im Auge habe. In diesem Punkt reichte er beinahe an das Genie. Habt ihr nicht die Anmut einer hübschen Grille mit lebhaften Bewegungen in den Gossen von Paris bemerkt? Es gibt nur diese eine: das war Maldoror! Er magnetisiert die blühenden Hauptstädte mit einem gefährlichen Fluidum und versetzt sie in einen lethargischen Zustand, in dem sie außerstande sind, gebührend auf sich achtzugeben. Ein umso gefährlicherer Zustand, da man nicht auf ihn gefaßt ist. Heute ist er in Madrid; morgen wird er in Sankt Petersburg sein; gestern war er in Peking. Aber genau den gegenwärtigen Ort anzugeben, den die Heldentaten dieses poetischen Schmarrens mit Schrecken erfüllt, ist eine die
möglichen Kräfte meiner schwerfälligen Tüftelei übersteigende Aufgabe. Dieser Bandit ist vielleicht siebenhundert Meilen von diesem Lande entfernt; vielleicht nur einige Schritte von euch. Es ist nicht leicht, die Menschen ganz und gar zu verderben, und es gibt Gesetze; aber man kann mit Geduld die menschlichen Ameisen eine nach der anderen vertilgen. Habe ich nun nicht seit den Tagen meiner Geburt, in denen ich mit den ersten Ahnen unserer Rasse lebte, noch unerfahren im Stellen meiner Fallen; seit den fernen Zeiten jenseits der Geschichte, während deren ich zu verschiedenen Epochen, in subtilen Metamorphosen, die Länder des Globus durch Eroberungen und Schlächtereien verheerte und Bürgerkrieg unter den Landsleuten verbreitete, habe ich nicht schon unter meinen Absätzen, Glied für Glied oder kollektiv, ganze Generationen zermalmt, deren unendliche Zahl nicht schwierig zu ermessen sein dürfte? Die leuchtende Vergangenheit hat glänzende Versprechungen für die Zukunft gemacht: sie wird sie halten. Zum Durchharken meiner Sätze werde ich notgedrungen die natürliche Methode anwenden, indem ich bis zu den Wilden zurückgehe, damit sie mir Unterricht geben. Einfache und majestätische Gentlemen, ihr anmutiger Mund adelt alles, was von ihren tätowierten Lippen rinnt. Ich habe soeben bewiesen, daß nichts auf diesem Planeten lächerlich ist. Drolliger, aber großartiger Planet. Indem ich mich eines Stils bediene, den manche naiv finden werden (wo er doch so tief ist), werde ich ihn anwenden, Ideen zu vermitteln, die leider vielleicht nicht grandios zu sein scheinen! Gerade hierdurch, indem ich mich der leichtfertigen und skeptischen Allüren der gewöhnlichen Konversation entledige, und umsichtig genug, um nicht zu behaupten … ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, denn ich erinnere mich nicht an den Anfang des Satzes. Aber wißt, daß die Poesie sich überall findet, wo es nicht das dümmlich spöttische Lächeln des Menschen mit dem Entengesicht gibt. Ich werde mich erst einmal schneuzen, weil ich es nötig habe; und dann werde ich, kräftig von meiner Hand unterstützt, den Federhalter wieder aufnehmen, den meine Finger fallen gelassen hatten. Wie konnte der Pont du Carrousel seine Neutralität bewahren, als er die schrillen Schreie hörte, die der Sack auszustoßen schien!
Sechster Gesang, dritte Strophe I. Die Läden der Rue Vivienne breiten ihre Reichtümer vor den staunenden Augen aus. Von zahlreichen Gaslaternen beschienen, senden die Mahagoni-Schatullen und die goldenen Uhren durch die Schaufensterscheiben Strahlenbündel von blendendem Glanz. Acht Uhr hat die große Uhr der Börse geschlagen: das ist nicht spät! Kaum ist der letzte Schlag des Klöppels verhallt, beginnt die Straße, deren Name genannt wurde, zu schwanken und erbebt bis in ihre Grundfesten von der Place Royale bis zum Boulevard Montmartre. Die Spaziergänger beschleunigen ihre Schritte und ziehen sich nachdenklich in ihre Häuser zurück. Eine Frau fällt in Ohnmacht und stürzt auf den Asphalt. Niemand hebt sie auf: jedermann strebt, sich aus dieser Gegend zu entfernen. Die Läden schließen sich mit Wucht, und die Bewohner verkriechen sich unter ihre Bettdecken. Es wirkt so, als habe die asiatische Pest ihre Anwesenheit enthüllt. So ist die Rue Vivienne, während der größte Teil der Stadt sich anschickt, in den Vergnügungen nächtlicher Feste zu baden, durch eine Art Versteinerung erstarrt. Wie ein Herz, das zu lieben aufhört, sah sie ihr Leben erlöschen. Aber bald verbreitet sich die Nachricht von dieser Erscheinung in den anderen Schichten der Bevölkerung, und eine düstere Stille legt sich über die erhabene Hauptstadt. Wohin sind sie gekommen, die Gaslaternen? Was ist aus den Liebeshändlerinnen geworden? Nichts … Einsamkeit und Dunkel! Eine Eule, die in gerader Richtung fliegt, und deren eines Bein gebrochen ist, zieht über die Madeleine dahin und schwingt sich zur Barriere du Trone empor, wobei sie ausruft: »Ein Unglück liegt in der Luft.« Nun werdet ihr an diesem Ort, den meine Feder (dieser wahre Freund, der mir als Komplice dient) gerade geheimnisvoll gemacht hat, wenn ihr zu der Seite hinschaut, wo die Rue Colbert in die Rue Vivienne mündet, eine Gestalt, im Winkel, den die Kreuzung beider Straßen bildet, ihre Umrisse zeigen und leichten Ganges zu den Boulevards hinschreiten sehen. Aber wenn man sich weiter nähert, ohne die Aufmerksamkeit dieses Passanten auf sich zu lenken, stellt man zu seinem angenehmen Erstaunen fest, daß er jung ist! Von fern hätte man ihn wirklich für einen reifen Mann gehalten. Die Summe der Tage zählt nicht mehr, wenn es darum geht, die intellektuelle Kapazität eines ernsthaften Gesichtes zu würdigen. Ich verstehe mich darauf, das Alter an den physiognomischen Linien der Stirn abzulesen: er ist sechzehn Jahre und vier Monate alt! Er ist schön
wie die Einziehbarkeit der Fänge von Raubvögeln; oder auch wie die Unsicherheit der Muskelbewegungen in den Wunden der Weichteile in der Gegend des hinteren Nackens; oder noch eher wie diese dauernd wirksame Rattenfalle, die immer vom gefangenen Tier neu gespannt wird, also selbsttätig unendlich Nager autnehmen kann und sogar unter Stroh verborgen funktioniert; und vor allem wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch! Mervyn, dieser Sohn des blonden England, hat gerade bei seinem Lehrer eine Fechtstunde genommen und kehrt, in seinen schottischen Tartan gehüllt, zu seinen Eltern zurück. Es ist halb neun, und er hofft, um neun Uhr zu Hause anzukommen: es ist eine große Vermessenheit von ihm vorzugeben, er wäre sicher, die Zukunft zu kennen. Könnte ihn nicht irgendein unvorhergesehenes Hindernis auf seinem Weg aufhalten? Und wäre solch ein Umstand so selten, daß er es wagen könnte, ihn als Ausnahme zu betrachten? Sollte er es nicht lieber als eine anomale Tatsache betrachten, daß er sich bisher unbeeinträchtigt und sozusagen glücklich gefühlt hat? Und in der Tat, mit welchem Recht nahm er an, unbeschädigt seine Behausung zu erreichen, wenn ihn jemand beobachtet und hinterrücks wie eine künftige Beute verfolgt? (Es hieße, von seinem Beruf als Sensationsschriftsteller wenig Ahnung zu haben, führte man nicht anfangs diese einschränkenden Fragen auf, nach denen sofort der Satz folgt, den ich im Begriff bin, zu beenden.) Ihr habt den imaginären Helden erkannt, der seit langer Zeit durch den Druck seiner Individualität meine unglückliche Intelligenz zerbricht! Manchmal nähert sich Maldoror Mervyn, um die Züge dieses Jünglings in sein Gedächtnis einzuprägen; manchmal weicht er, den Körper zurückgeworfen, auf seinen Schritten zurück wie der australische Bumerang in der zweiten Phase seiner Flugbahn, oder eher noch wie eine Höllenmaschine. Unentschieden, was er tun soll. Aber sein Gewissen kennt kein Symptom einer noch so embryonalen Gemütsbewegung, wie ihr zu Unrecht vermuten könntet. Ich sah ihn sich einen Augenblick in der entgegengesetzten Richtung entfernen; hatten ihn Gewissensbisse befallen? Aber er kommt mit neuer Entschlossenheit auf seinen Spuren zurück. Mervyn weiß nicht, warum seine Schläfenadern mit Macht pochen, und er beschleunigt den Schritt, von einer Angst gepackt, deren Ursache er und ihr vergeblich herauszufinden sucht. Man muß ihm sein Bestreben anrechnen, das Rätsel zu lösen. Warum dreht er sich nicht herum? Er würde alles verstehen. Denkt man jemals an die einfachsten Mittel, einen beängstigenden Zustand zu beenden?
Wenn ein Vagabund von den Stadtgrenzen einen Vorort des Weichbildes durchquert, eine Salatschüssel Weißwein im Hals und die Bluse in Fetzen, und an der Ecke eines Grenzsteins einen alten muskulösen Kater erblickt, einen Zeitgenossen der Revolutionen, denen unsere Väter beiwohnten, wie er melancholisch die Mondstrahlen betrachtet, die auf die schlafende Ebene niederfallen, schleicht er schief auf einer gekrümmten Linie, und gibt einem krummbeinigen Hund ein Zeichen loszustürzen. Das edle Tier aus dem Geschlecht der Pelinen erwartet mutig seinen Gegner und verkauft sein Leben teuer. Morgen wird irgendein Lumpensammler eine elektrisierbare Haut erwerben. Warum floh er denn nicht. Es wäre so einfach gewesen. Aber in dem Fall, der uns gerade beschäftigt, spitzt Mervyn noch die Gefahr durch seine eigene Ignoranz zu. Es gibt so etwas wie einige extrem seltene Lichtblicke, das stimmt, und ich werde mich nicht damit aufhalten, das Verschwommene, das sie überlagert, aufzuweisen; jedoch ist es ihm unmöglich, die Wirklichkeit zu erraten. Er ist kein Prophet, ich behaupte nicht das Gegenteil, und er erkennt sich nicht das Vermögen zu, ein solcher zu sein. Auf der großen Straße angekommen, wendet er sich nach rechts und überquert den Boulevard Poissonniere und den Boulevard Bonne-Nouvelle. An diesem Punkt seines Weges betritt er die Rue du Faubourg-SaintDenis, läßt die Bahnstation Strasbourg hinter sich und hält vor einem hohen Portal, bevor er die senkrechte Überlagerung der Rue Lafayette erreicht. Da ihr mir anratet, an diesem Ort die erste Strophe zu beenden, möchte ich gern dieses Mal eurem Wunsch gehorchen. Wißt ihr, daß mir, wenn ich an den Eisenring denke, den die Hand eines Irren unter dem Stein verborgen hat, ein unbezähmbares Schaudern über die Haare läuft?
Sechster Gesang, vierte Strophe II. Er zieht den kupfernen Knopf, und das Portal des modernen städtischen Herrenhauses dreht sich in den Angeln. Er durcheilt den mit feinem Sand bestreuten Hof und ersteigt die acht Stufen der Freitreppe, Die beiden Statuen, rechts und links wie Wächterinnen der aristokratischen Villa aufgestellt, versperren ihm nicht den Weg. Jener, der alles verleugnet hat, Vater, Mutter, Vorsehung, Liebe, Ideal, um nur noch an sich selbst zu denken, hat sich wohl gehütet, den vorauseilenden Schritten nicht zu folgen. Er hat ihn in einen geräumigen Salon mit Karneol-Täfelungen im Erdgeschoß eintreten sehen. Der junge Mann aus gutem Hause wirft sich auf ein Sofa, und die Erregung hindert ihn zu sprechen. Seine Mutter, in langem, schleppendem Kleid, bemüht sich um ihn und umfängt ihn mit ihren Armen. Seine Brüder, jünger als er, stehen um das eine Bürde tragende Möbel herum; sie kennen das Leben nicht gut genug, um sich einen klaren Begriff von der Szene zu machen, die sich abspielt. Schließlich hebt der Vater seinen Stock und senkt auf die Anwesenden einen Blick voll Autorität. Er stützt die Hand auf die Sessellehne, erhebt sich von seinem gewohnten Sitz und tritt voller Unruhe, wenn auch durch das Alter geschwächt, zu dem unbeweglichen Körper seines Erstgeborenen hin. Er spricht in einer fremden Sprache, und jeder hört ihm voll achtungsvoller Sammlung zu: »Wer hat den Knaben in diesen Zustand versetzt? Die neblige Themse wird noch eine bedeutende Menge Schlick davonwälzen, bevor meine Kräfte gänzlich erschöpft sind. Schützende Gesetze scheinen in dieser unwirtlichen Gegend nicht zu existieren. Kennte ich den Schuldigen, bekäme er die Kraft meines Armes zu spüren. Wenn ich auch in Ruhestand getreten bin, fern der Seeschlachten, ist mein Kommodore-Degen, der an der Wand hängt, noch nicht verrostet. Übrigens ist es leicht, ihn neu zu schleifen. Mervyn, beruhige dich; ich werde meinen Dienern Befehl geben, die Spur dessen aufzufinden, den ich von nun an suchen werde, um ihn eigenhändig zu verderben. Frau, entferne dich von hier und kauere dich in einen Winkel; deine Augen besänftigen mich, und du tätest besser, die Leitung deiner Tränensäcke wieder zu schließen. Mein Sohn, ich flehe dich an, komme zu dir, und erkenne deine Familie wieder; dein Vater ist es, der zu dir spricht …« Die Mutter hält sich entfernt, und hat, um den Befehlen ihres Herren zu gehorchen, ein Buch zur Hand genommen und bemüht sich, angesichts der Gefähr, in der jener
schwebt, den ihre Gebärmutter hervorbrachte, ruhig zu bleiben. »… Kinder, geht euch im Park amüsieren, und gebt acht, daß ihr nicht in den Teich fallt, wenn ihr das Schwimmen der Schwäne bewundert …« Die Brüder, mit hängenden Armen, bleiben stumm; sie alle, eine dem Flügel des Ziegenmelkers der Karolinen ausgerissene Feder auf dem Barett, mit Samthosen bis zum Knie und Strümpfen aus roter Seide, nehmen einander bei den Händen und verlassen den Salon, wobei sie darauf achten, das Ebenholzparkett nur mit den Zehenspitzen zu berühren. Ich bin sicher, daß sie sich nicht amüsieren, sondern voll Ernst durch die Platanenalleen promenieren werden. Ihre Intelligenz ist frühreif. Um so besser für sie. »… Nutzlose Bemühungen, ich wiege dich in meinen Armen, und du bist taub für mein Flehen. Willst du nicht den Kopf heben? Ich werde deine Knie umarmen, wenn es sein muß. Aber nein … er fällt kraftlos zurück.« – »Mein sanfter Herr, wenn du es deiner Sklavin erlaubst, werde ich aus meinen Gemächern ein Fläschchen gefüllt mit Terpentin-Essenz holen, deren ich mich gewöhnlich bediene, wenn, nach der Rückkehr vom Theater, die Migräne meine Schläfen befällt, oder wenn die Lektüre einer bewegenden Erzählung aus den britischen Annalen der ritterlichen Geschichte unserer Vorfahren meine träumerischen Gedanken in die Torfgruben der Ermattung senkt.« – »Frau, ich hatte dir nicht das Wort erteilt, und du hattest nicht das Recht, es zu ergreifen. Seit unserer legitimen Verbindung ist nicht eine Wolke zwischen uns getreten. Ich bin zufrieden mit dir, ich brauchte dir nie Vorwürfe zu machen: und umgekehrt ebenso. Hole aus deinen Gemächern ein Fläschchen voll Terpentin-Essenz. Ich weiß, daß es sich in einer der Schubladen deiner Kommode findet, und du brauchtest es mir nicht zu erzählen. Eile, die Stufen der gewundenen Treppe zu ersteigen, und kehre zu mir zurück mit zufriedenem Gesicht.« Aber die sensible Londonerin hat kaum die ersten Stufen erreicht (sie läuft nicht so eilig wie eine Person aus den niederen Klassen), als schon eines ihrer Mädchen vom ersten Stock herabgestiegen kommt, die schwitzenden Wangen hochrot, mit dem Fläschchen, das vielleicht die lebensspendende Flüssigkeit in seinen Kristallwänden birgt. Das Mädchen verneigt sich anmutig und reicht ihre Gabe hin, und die Mutter ist königlich schreitend zu den Fransen getreten, die das Sofa umsäumen, dem einzigen Gegenstand, der ihre Zärtlichkeit beschäftigt. Der Kommodore nimmt mit einer stolzen, aber wohlwollenden Geste das Fläschchen aus den Händen seiner Gemahlin entgegen. Ein indischer Schal wird damit angefeuchtet, und man umwindet Mervyns Kopf mit
kreisförmigen Seidenmeandern. Er atmet die Salze ein; er bewegt einen Arm. Der Kreislauf belebt sich wieder, und man vernimmt die fröhlichen Schreie des philippinischen Kakadus, der in der Fensternische sitzt. »Wer dort? … Haltet mich nicht an … Wo bin ich? Trägt ein Grab meine schweren Glieder? Diese Bretter scheinen mir weich … Trage ich noch das Medaillon mit dem Porträt meiner Mutter um den Hals? … Zurück, Übeltäter mit fliegendem Haar. Er konnte mich nicht fassen, und ich habe in seinen Fingern einen Fetzen von meinem Wams gelassen. Löst die Ketten der Bulldoggen, denn heute nacht kann ein wiedererkennbarer Dieb bei uns einbrechen, während wir im Schlummer liegen. Mein Vater und meine Mutter, ich erkenne euch wieder, und ich danke euch für eure Sorge. Ruft meine kleinen Brüder. Ich habe für sie gebrannte Mandeln gekauft, und ich will sie umarmen.« Bei diesen Worten fällt er in einen Zustand tiefer Lethargie. Der Arzt, den man sofort bestellt hat, reibt sich die Hände und ruft aus: »Die Krise ist vorüber. Alles in Ordnung. Morgen wird euer Sohn munter erwachen. Ihr alle, sucht euer jeweiliges Lager auf, ich ordne es an, damit ich allein an der Seite des Kranken bleibe, bis zum Erscheinen der Morgenröte und dem Gesang der Nachtigall.« Hinter der Tür verborgen, ist Maldoror kein Wort entgangen. Er kennt jetzt den Charakter der Bewohner dieses Hauses und wird demgemäß handeln. Er weiß, wo Mervyn wohnt und wünscht nicht, mehr zu wissen. Er hat den Namen und die Nummer des Hauses in ein Notizbuch geschrieben. Das ist die Hauptsache. Er ist sicher, sie nicht zu vergessen. Er schleicht wie eine Hyäne, ohne gesehen zu werden, die Seiten des Hofes entlang. Er ersteigt das Gitter mit Behendigkeit, verfängt sich einen Augenblick an den Eisenspitzen; mit einem Sprung ist er auf der Straße. Auf leisen Sohlen entfernt er sich: »Er hielt mich für einen Verbrecher, ruft er aus: er ist ein Schwachkopf. Ich möchte einen Mann sehen, auf den die Anklage nicht zuträfe, die der Kranke gegen mich vorgebracht hat. Ich habe ihm keinen Fetzen aus dem Wams gerissen, wie er gesagt hat. Einfache hypnagogische Halluzination, hervorgerufen durch die Furcht. Heute war es nicht meine Absicht, mich seiner zu bemächtigen; denn ich habe andere, weitreichendere Projekte mit diesem schüchternen Jüngling.« Geht dort hinüber, wo sich der Schwanensee findet; und ich werde euch später sagen, warum sich ein vollständig schwarzer unter den Schwänen befindet, dessen Körper, der einen Amboß, überragt vom verwesenden Leichnam eines Taschenkrebses, trägt, mit gutem
Recht seinen anderen wasserbewohnenden Kameraden Mißtrauen einflößt.
Sechster Gesang, fünfte Strophe III. Mervyn ist in seinem Zimmer; er hat einen Brief in Empfang genommen. Wer schreibt ihm denn einen Brief? Seine Verwirrung hat ihn abgehalten, dem Postboten zu danken. Der Umschlag ist schwarz gerändert, und die Worte sind mit eiliger Schrift geschrieben. Wird er diesen Brief seinem Vater bringen? Und wenn der Unterzeichner es ihm ausdrücklich verbietet? Voller Beklemmung öffnet er sein Fenster, um die Düfte der Atmosphäre zu atmen; die Sonnenstrahlen brechen ihre prismatischen Wellen in den venezianischen Spiegeln und an den Damastvorhängen. Er wirft das Schreiben beiseite, zu den Büchern mit Goldschnitt und den Mappen mit Perlmutterdeckeln, die verstreut auf dem gepunzten Leder liegen, das die Oberfläche seines Schülerpultes bedeckt. Er öffnet sein Klavier und läßt seine schlanken Finger über die Elfenbeintasten huschen. Die Messingsaiten klingen nicht. Diese indirekte Mahnung veranlaßt ihn, das Velinpapier wieder zur Hand zu nehmen; aber dieses weicht zurück, als wäre es durch das Zaudern des Empfängers beleidigt. In dieser Falle gefangen, wächst Mervyns Neugier, und er öffnet das Stück hergerichteter Hadern. Bisher hatte er nur seine eigene Schrift gesehen. »Junger Mann, ich interessiere mich für Sie; ich möchte Ihr Glück machen. Ich werde Sie zum Gefährten nehmen, und wir werden lange Fahrten zu den Inseln Ozeaniens machen. Mervyn, Du weißt, daß ich Dich liebe, ich brauche es Dir nicht zu beweisen. Du wirst mir Deine Freundschaft schenken, dessen bin ich gewiß. Wenn Du mich besser kennst, wirst Du das Vertrauen nicht bereuen, das Du mir bewiesen hast. Ich werde Dich vor den Gefahren bewahren, denen Deine Unerfahrenheit ausgesetzt ist. Ich werde Dir ein Bruder sein, und an gutem Rat wird es Dir nicht fehlen. Für ausführlichere Erklärungen finde Dich übermorgen, fünf Uhr früh, auf dem Pont du Carrousel ein. Sollte ich noch nicht gekommen sein, warte auf mich; aber ich hoffe, zur rechten Stunde dort zu sein. Handele Du auch so. Ein Engländer wird nicht so leicht die Gelegenheit versäumen, in seinen Angelegenheiten klar zu sehen. Junger Mann, ich grüße Dich, und bis bald. Zeige niemandem diesen Brief.« – »Drei Sterne statt einer Unterschrift, ruft Mervyn; und ein Blutstropfen unten auf der Seite!« Reichlich fließen Tränen über die seltsamen Sätze, die seine Augen verschlungen haben und die seinem Geist ein unbegrenztes Feld unsicherer und neuer Horizonte öffnen. Es scheint ihm (und zwar seit der Lektüre, die er
gerade beendet hat), daß sein Vater ein wenig streng und seine Mutter zu majestätisch sei. Er hat Gründe, die mir nicht bekannt sind, und die ich euch folglich nicht weitergeben kann, um durchblicken zu lassen, daß ihm seine Brüder auch nicht behagen. Er verbirgt diesen Brief an seiner Brust. Seine Lehrer haben beobachtet, daß er an diesem Tag sich selbst nicht ähnlich war; seine Augen haben sich über die Maßen verdüstert, und der Schleier übertriebenen Grübelns hat sich über die Zone seiner Augenhöhlen gesenkt. Jeder Lehrer errötet aus Furcht, sich nicht auf der intellektuellen Höhe seines Zöglings zu befinden, und doch hat dieser zum ersten Mal seine Pflichten vernachlässigt und nicht gearbeitet. Am Abend ist die Familie im Speisesaal mit den alten Porträts versammelt. Mervyn schätzt die mit üppigen Fleischgerichten beladenen Platten und die wohlriechenden Früchte sehr, aber er ißt nicht; die vielfarbigen Bäche des Rheinweins und der schäumende Rubin des Champagners passen sich ein in die schlanken böhmischen Kelche, und sogar sie lassen sein Auge unbeteiligt. Er stützt seine Ellenbogen auf den Tisch und bleibt in seine Gedanken versunken wie ein Schlafwandler. Der Kommodore mit seinem vom Gischt des Meeres gebräunten Gesicht neigt sich zum Ohr seiner Gemahlin: »Der Älteste hat seit dem Tag der Krise seinen Charakter geändert; schon immer war er zu sehr zu absurden Ideen geneigt; heute träumt er noch mehr als gewöhnlich. Doch schließlich war ich in seinem Alter nicht so. Stelle Dich, als bemerktest Du nichts. Hier wäre ein wirksames Heilmittel, materiell oder moralisch, wohl am Platz. Mervyn, ich werde dir, da du die Lektüre von Reiseberichten und der Naturgeschichte schätzt, eine Erzählung vorlesen, die dir nicht mißfallen wird. Man höre mir aufmerksam zu; jeder wird daran Gewinn finden, und ich an erster Stelle. Und ihr anderen Kinder, lernt durch die Aufmerksamkeit, die ihr meinen Worten widmet, den Fluß eures Stils verbessern, und auf die leisesten Absichten eines Autors achtzugeben.« Als hätte diese Brut bewundernswerter Bengel begreifen können, was die Rhetorik ist! Er sprichts, und auf eine Handbewegung hin geht einer der Brüder zur väterlichen Bibliothek und kommt von dort mit einem Band unter dem Arm zurück. Währenddessen sind Gedeck und Silber fortgenommen, und der Vater nimmt das Buch zur Hand. Bei dem elektrisierenden Wort Reisen hat Mervyn den Kopf gehoben und sich bemüht, seinen unpassenden Gedanken ein Ende zu setzen. Das Buch wird etwa in der Mitte geöffnet, und die metallische Stimme des Kommodore beweist, daß er fähig geblieben ist, wie zu den Zeiten
seiner glorreichen Jugend über die Wut der Menschen und Stürme zu gebieten. Längst vor Ende dieser Vorlesung ist Mervyn wieder auf die Ellenbogen gesunken, unfähig, länger der vernünftigen Entwicklung der Sätze, die wie am Schnürchen ablaufen, und der Seifigkeit obligatorischer Metaphern zu folgen. Der Vater ruft aus: »Das interessiert ihn nicht; lesen wir etwas anderes. Lies, Frau; du wirst mehr Glück haben als ich, den Kummer der Tage unseres Sohnes zu vertreiben.« Die Mutter hat keine Hoffnung mehr; dennoch ergreift sie ein anderes Buch, und der Klang ihrer Sopranstimme klingt melodisch in den Ohren des Produkts ihrer Empfängnis. Aber nach einigen Sätzen befällt sie Entmutigung, und sie stellt von sich aus den Vortrag des literarischen Werkes ein. Der Erstgeborene ruft: »Ich gehe schlafen.« Er zieht sich zurück, die Augen mit kalter Starrheit gesenkt, und ohne etwas hinzuzufügen. Der Hund läßt ein düsteres Heulen los, denn er findet dieses Betragen nicht natürlich, und der Wind draußen, der sich ungleichmäßig in den Längsspalt des Fensters stürzt, läßt die von zwei rosa Kristallglocken geschützte Flamme der Bronzelampe flackern. Die Mutter legt die Hände an die Stirn, und der Vater hebt die Augen zum Himmel. Die Kinder werfen verstörte Blicke auf den alten Seemann. Mervyn schließt die Tür seines Zimmers zweimal ab, und seine Hand eilt über das Papier: »Ich habe am Mittag Ihren Brief erhalten, und Sie werden mir verzeihen, wenn ich Sie auf die Antwort habe warten lassen. Ich habe nicht die Ehre, Sie persönlich zu kennen, und ich wußte nicht, ob ich Ihnen schreiben sollte. Aber da die Unhöflichkeit nicht in unserem Hause wohnt, habe ich beschlossen, die Feder zu ergreifen und Ihnen warm für das Interesse zu danken, das Sie an einem Unbekannten nehmen. Gott soll mich bewahren, nicht Dankbarkeit für die Sympathie zu zeigen, mit der Sie mich überhäufen. Ich kenne meine Unvollkommenheiten und ich bin keineswegs stolz darauf. Aber wenn es schicklich ist, die Freundschaft eines Älteren anzunehmen, dann gebührt es sich auch, ihm zu verstehen zu geben, daß unsere Charaktere nicht die gleichen sind. Und wirklich scheinen Sie älter zu sein als ich, da Sie mich »junger Mann« nennen, und doch hege ich Zweifel über Ihr wirkliches Alter. Denn wie soll man die Kälte Ihrer Syllogismen mit der Leidenschaft vereinbaren, die daraus hervordringt? Gewiß werde ich nicht den Ort verlassen, der meine Geburt gesehen hat, um Euch in ferne Länder zu begleiten; was nur unter der Bedingung möglich wäre, daß ich zunächst von den Urhebern meiner Tage eine ungeduldig erwartete Erlaubnis einholte. Aber da Sie mich verpflichtet haben, das Geheimnis (im
kubischen Sinne des Wortes) einer in geistiger Weise finsteren Angelegenheit zu bewahren, beeile ich mich, Ihrer unzweifelhaften Umsicht zu gehorchen. So wie es scheint, träfe sie nicht mit Vergnügen auf die Klarheit des Lichtes. Da Sie zu wünschen scheinen, ich solle Vertrauen in Ihre eigene Person haben (ein nicht verfehlter Wunsch, wie ich gern zugebe), so haben Sie die Güte, mir gegenüber ein entsprechendes Vertrauen zu beweisen und nicht den Anspruch zu erheben, zu glauben, ich sei so weit von Ihrer Ansicht entfernt, daß ich nicht übermorgen früh genau zur angegebenen Stunde zum Stelldichein erscheinen würde. Ich werde die Umfassungsmauer des Parks übersteigen, denn das Gitter wird geschlossen sein, und niemand wird Zeuge meines Fortgehens sein. Um offen zu sprechen, was täte ich nicht für Sie, dessen unerklärliche Zuneigung sich sofort meinen geblendeten Augen offenbart hat, die vor allem über einen solchen Beweis von Güte erstaunt waren, auf die ich sicherlich nicht gefaßt gewesen wäre. Denn ich kannte Sie ja nicht. Jetzt kenne ich Sie. Vergessen Sie nicht das Versprechen, daß Sie mir gegeben haben, sich auf dem Pont du Carrousel zu ergehen. Falls ich dort vorüberkomme, habe ich eine keiner anderen vergleichbare Gewißheit, Sie dort zu treffen und Ihre Hand zu berühren, gesetzt, daß diese unschuldige Manifestation eines Jünglings, der sich gestern noch vor dem Altar der Scham verneigte, Sie nicht durch seine respektvolle Vertraulichkeit beleidigen würde. Ist nun eine Vertraulichkeit im Fall einer starken und brennenden Freundschaft nicht zu billigen, wenn die Hingabe ernst und überzeugt ist? Und welches Übel bestünde schließlich darin, frage ich Sie selbst, sagte ich Ihnen im Vorübergehen Adieu, wenn es übermorgen, regne es oder nicht, fünf Uhr geschlagen haben wird? Sie selbst, Gentleman, werden den Takt schätzen, mit dem ich meinen Brief abgefaßt habe; denn ich getraue mich nicht, auf einem losen Blatt, das in falsche Hände fallen kann, mehr zu sagen. Ihre Adresse unten auf dem Blatt ist ein Rebus. Ich habe bald eine Viertelstunde gebraucht, um sie zu entziffern. Ich glaube. Sie haben recht getan, die Worte mikroskopisch klein zu schreiben. Ich enthalte mich zu unterzeichnen, und darin ahme ich Sie nach: wir leben in einer zu exzentrischen Zeit, um uns auch nur einen Augenblick darüber zu verwundern, was alles geschehen kann. Ich wäre neugierig zu erfahren, wie Sie den Ort herausgefunden haben, wo meine eisige Unbeweglichkeit haust, umgeben von einer langen Reihe verlassener Säle, schmutziger Schädelstätten meiner Stunden der Langeweile. Wie soll man dies sagen? Wenn ich an Sie denke,
stürmt meine Brust, hallend wie das Zusammenbrechen eines dekadenten Reiches; denn der Schatten Ihrer Liebe deutet ein Lächeln an, das es vielleicht nicht gibt: es ist so vage und windet seine Schuppen so verschlungen! In Ihre Hände lege ich meine heftigen Gefühle, ganz neue Marmortische, und jungfräulich noch vor der Berührung Sterblicher. Haben wir Geduld bis zum ersten Schein der Morgendämmerung, und in Erwartung des Augenblicks, der mich in die scheußliche Umschlingung Ihrer pestilenzialischen Arme werfen wird, neige ich mich demütig vor Ihren Knien, die ich an mich drücke.« Nachdem er diesen schuldigen Brief geschrieben hat, bringt Mervyn ihn zur Post und kehrt zurück, um sich zu Bett zu legen. Rechnet nicht darauf, dort seinen Schutzengel zu finden. Der Fischschwanz wird nur drei Tage fliegen, das ist wahr; aber ach! der Balken wird deshalb nicht weniger verbrannt werden; und eine konisch-zylindrische Kugel wird die Haut des Rhinozeros durchbohren, trotz des Schneemädchens und des Bettlers! Und das, weil der gekrönte Narr die Wahrheit über die Treue der vierzehn Dolche gesagt haben wird.
Sechster Gesang, sechste Strophe IV. Ich bemerkte, daß ich mitten auf der Stirn nur ein einziges Auge hatte! O Silberspiegel, eingelassen in die Füllungen der Vestibüle, wie viele Dienste habt ihr mir nicht durch eure reflektierend Kraft geleistet! Seit dem Tag, an dem eine Angorakatze, nachdem sie mir plötzlich auf den Rücken gesprungen war, mir eine Stunde lang des Scheitelbein zernagte wie ein Schädelbohrer, der die Gehirnkapsel aufbohrt, weil ich ihre Jungen in einem mit Alkohol gefüllten Bottich gekocht hatte, habe ich nicht aufgehört, den Pfeil der Qualen gegen mich selbst zu schleudern. Heute, unter dem Eindruck der Wunden, die mein Körper unter verschiedenen Umständen empfangen hat, sei es durch das Verhängnis meiner Geburt, sei es durch die eigene schuldige Tat; niedergeschmettert durch die Folgen meines moralischen Falls (einige sind eingetreten; wer sieht die anderen voraus?); unerschütterliche Beobachter der erworbenen oder natürlichen Monstrositäten, die die Sehnenhäute und den Intellekt dessen schmücken, der hier spricht, werfe ich einen langen Blick der Befriedigung auf die Zweiheit, aus der ich bestehe … und ich finde mich schön! Schön wie der angeborene Defekt in der Bildung der männlichen Sexualorgane, der in der relativen Kürze der Harnröhre besteht und der Teilung oder dem Fehlen seiner inneren Wand, so daß diese in einer veränderlichen Entfernung von der Eichel an der Unterseite des Penis austritt; oder auch wie die fleischige Warze von konischer Form, durchfurcht von ziemlich tiefen Längsfalten, die sich auf der Wurzel des Oberschnabels des Truthahns erhebt; oder eher wie die folgende Wahrheit: »Das System der Tonleitern, der Tonarten und ihrer harmonischen Verknüpfung beruht nicht auf unveränderlichen Naturgesetzen, sondern es ist im Gegenteil die Folge ästhetischer Prinzipien, die sich mit der fortschreitenden Entwicklung der Menscheit verändert haben und sich weiter verändern werden;« und vor allem wie eine Panzerkorvette mit Drehtürmen! Ja, ich behaupte die Genauigkeit meiner Beteuerung. Ich rühme mich, keine anmaßende Illusion zu haben, und ich fände überhaupt keinen Gewinn an der Lüge; also braucht ihr nicht zu zögern, das zu glauben, was ich gesagt habe. Denn warum sollte ich mir selbst vor den lobenden Zeugnissen, die aus meinem Bewußtsein stammen, Entsetzen einflößen? Ich neide dem Schöpfer nichts; aber er soll mich den Strom meiner Bestimmung hinabschwimmen lassen, durch eine wachsende Serie großartiger
Verbrechen hindurch. Sonst würde ich ihm, einen von jedem Hindernis gereizten Blick auf die Höhe seiner Stirn gerichtet, klarmachen, daß er nicht der einzige Herr des Weltalls ist; daß verschiedene Phänomene, die direkt aus einer tieferen Kenntnis der Natur der Dinge hervortreten, zu Gunsten der gegenteiligen Ansicht zeugen und der Existenzmöglichkeit einer einheitlichen Macht ein formelles Dementi entgegensetzen. Wir sind also zwei, um gegenseitig unsere Augenwimpern zu betrachten, siehst du … und du weißt, daß mehr als einmal aus meinem Mund ohne Lippen die Trompete des Sieges erschallt ist. Adieu, erlauchter Krieger; dein Mut im Unglück flößt deinem erbittertsten Feind Hochachtung ein; aber Maldoror wird bald wieder auf dich treffen, um dir die Beute, die Mervyn heißt, abspenstig zu machen. So wird die Prophezeiung des Hahnes erfüllt werden, als er im Kandelaber einen Blick auf die Zukunft warf. Gebe der Himmel, daß der Taschenkrebs rechtzeitig mit der Karawane der Pilger zusammentreffe, und ihnen kurz gefaßt die Erzählung des Lumpensammlers von Clignancourt mitteile!
Sechster Gesang, siebte Strophe V. Auf eine Bank des Palais Royal, an der linken Seite, nicht weit vom Wasserbecken, setzt sich soeben ein Individuum, das aus der Rue de Rivoli kam. Seine Haare sind zerzaust, und seine Kleider verraten die zerrüttende Wirkung langer Not. Er hat mit einem spitzen Stück Holz ein Loch in den Boden gebohrt und die Höhlung seiner Hand mit Erde gefüllt. Er hat diese Nahrung zum Munde geführt und sie schleunigst wieder ausgespien. Er hat sich wieder aufgerichtet, und seine Beine hochgereckt, indem er sich mit dem Kopf gegen die Bank stützt. Aber da diese seiltänzerische Lage außerhalb der Gesetze der Schwere liegt, die das Zentrum der Schwerkraft beherrschen, ist er hart auf die Planke zurückgefallen, mit hängenden Armen, das Gesicht zur Hälfte von der Mütze bedeckt, während die Beine in unsicherer, immer beunruhigender Gleichgewichtslage auf den Kies schlugen. Er verharrt lange Zeit in dieser Haltung. Am mittleren nördlichen Eingang, neben der Rotunde, die ein Kaffeehaus beherbergt, stützt sich der Arm, unseres Helden gegen das Gitter. Sein Blick überfliegt die Fläche des Rechtecks, so daß ihm kein Anblick entgehen kann. Seine Augen kehren zu sich selbst zurück, nachdem er die Prüfung beendet hat, und er sieht mitten im Garten einen Mann, der mit einer Bank schwankende Gymnastik betreibt, auf der er sich zu halten bemüht, wobei er Wunder an Kraft und Geschicklichkeit vollbringt. Aber was vermag die beste Absicht, die eine gerechte Sache unterstützt, gegen die Verwirrungen des Wahnsinns? Er hat sich dem Irren genähert, hat ihm wohlwollend geholfen, seine Würde in eine normale Lage zu bringen, hat ihm die Hand gereicht und sich neben ihn gesetzt. Er stellt fest, daß der Wahnsinn nur anfallweise auftritt; der Anfall ist vorüber; sein Gegenüber antwortet logisch auf alle Fragen. Ist es notwendig, den Sinn seiner Worte wiederzugeben? Warum auf irgendeiner Seite mit blasphemischen Eifer den Folianten des menschlichen Elends aufschlagen? Nichts Belehrendes kann fruchtbarer sein. Selbst wenn ich kein wirkliches Ereignis zu erzählen hätte, erfände ich eingebildete Erzählungen, um sie in euer Gehirn umzufüllen. Aber der Kranke ist nicht zu seinem Vergnügen krank geworden; und die Aufrichtigkeit seiner Berichte verbindet sich prächtig mit der Leichtgläubigkeit des Lesers. »Mein Vater war ein Zimmermann in der Rue de la Verrerie … Der Tod der drei Margareten soll auf sein Haupt fallen, und der Schnabel des Kanarienvogels soll ihm ewig
die Achse des Augenknochens zernagen! Er hatte die Gewohnheit angenommen, sich zu betrinken; in diesen Augenblicken, wenn er heimkehrte, nachdem er die Theken der Kneipen durchgemacht hatte, wurde seine Wut geradezu unermeßlich, und er schlug unterschiedslos auf alle Dinge ein, die ihm vor Augen kamen. Aber bald, angesichts der Vorwürfe seiner Freunde, besserte er sich vollständig, und verfiel in schweigsame Stimmung. Für niemanden war er zugänglich, nicht einmal für unsere Mutter. Er hegte ein geheimes Ressentiment gegen die Idee der Pflicht, die ihn hinderte, sich nach seinem Belieben aufzuführen. Ich hatte für meine drei Schwestern einen Kanarienvogel gekauft; für meine drei Schwestern hatte ich einen Kanarienvogel gekauft. Sie hatten ihn in einen Käfig über der Tür gesperrt, und die Passanten blieben jedes Mal stehen, um dem Gesang des Vogels zu lauschen, seine flüchtige Anmut zu bewundern und seine kunstvollen Formen zu studieren. Mehr als einmal hatte mein Vater den Befehl gegeben, den Käfig und seinen Inhalt verschwinden zu lassen, denn er bildete sich ein, der Kanarienvogel mache sich über seine Person lustig, indem er ihm den Strauß luftiger Kavatinen seines Sängertalents zuwarf. Er machte sich daran, den Käfig vom Nagel zu nehmen, und glitt, blind vor Wut, vom Stuhl. Eine leichte Abschürfung am Knie war die Trophäe seines Unternehmens. Nachdem er einige Sekunden die geschwollene Stelle mit einem Hobelspan gepreßt hatte, ließ er mit zusammengezogenen Brauen sein Hosenbein wieder herunter, sah sich besser vor, klemmte den Käfig unter »einen Arm und ging hinter in seine Werkstatt. Dort zerstampfte er, trotz der Schreie und des Flehens seiner Familie (wir hingen sehr an diesem Vogel, der für uns so etwas wie der Schutzgeist des Hauses war), mit seinen eisenbeschlagenen Absätzen den Weidenkorb, während eine Rauhbank, um seinen Kopf geschwungen, die Anwesenden entfernt hielt. Der Zufall wollte, daß der Kanarienvogel nicht auf der Stelle starb; dieses Federknäuel lebte noch, obwohl blutbesudelt. Der Zimmermann entfernte sich und schlug krachend die Tür zu. Meine Mutter und ich bemühten uns, das Leben des Vogels zu erhalten, das zu fliehen sich anschickte; er näherte sich seinem Ende, und die Bewegung seiner Flügel bot sich dem Blick nur noch als Schauspiel der letzten Zuckungen der Agonie. Währenddessen ergriffen die drei Margareten, als sie bemerkten, daß jede Hoffnung verloren war, einander in gegenseitigem Einverständnis bei den Händen, und die lebende Kette ging, nachdem sie ein Faß Fett einige Schritte beiseite geschoben hatten, hinter die Treppe, um sich neben die Hütte unserer Hündin
hinzukauern. Meine Mutter unterbrach ihre Versuche nicht und hielt den Kanarienvogel zwischen den Fingern, um ihn mit ihrem Atem zu wärmen. Ich lief verzweifelt durch alle Zimmer, und rannte die Möbel und Gerätschaften um. Von Zeit zu Zeit ließ eine meiner Schwestern den Kopf unten an der Treppe sehen, um sich über das Geschick des unglücklichen Vogels zu unterrichten, und zog ihn voll Trauer wieder zurück. Die Hündin hatte ihre Hütte verlassen und leckte, als hätte sie das Ausmaß unseres Verlustes begriffen, mit der Zunge fruchtlosen Trostes das Kleid der drei Margareten. Dem Kanarienvogel blieben nur noch einige Augenblicke. Eine meiner Schwestern zeigte, als die Reihe an sie kam, (es war die jüngste) ihren Kopf im vom Schwinden des Lichts verursachten Halbschatten. Sie sah, wie meine Mutter erbleichte, und wie der Vogel, nachdem er blitzartig durch die letzte Aktion seines Nervensystems, den Hals gehoben hatte, unbeweglich auf immer zwischen ihre Finger zurückfiel. Sie teilte die Neuigkeit ihren Schwestern mit. Sie ließen das Geräusch keiner Klage, keines Geflüsters hören. Stille herrschte in der Werkstatt. Man hörte nur das ruckartige Knacken der Reste des Käfigs, die dank der Elastizität des Holzes teilweise die ursprüngliche Lage ihrer Verbindung wieder einnahmen. Die drei Margareten vergossen keine Träne, und ihr Gesicht verlor nichts von ihrer purpurroten Frische; nein … sie blieben nur ohne Bewegung. Sie schleppten sich bis in die Hundehütte hinein und streckten sich auf dem Stroh aus, eine neben der anderen; während die Hündin, passive Zeugin ihres Vorgehens, sie voll Erstaunen handeln sah. Mehrere Male rief meine Mutter sie; sie antworteten mit keinem Laut. Vermutlich schliefen sie, ermüdet durch die vorherigen Aufregungen! Sie durchsuchte alle Winkel des Hauses, ohne sie zu finden. Sie folgte der Hündin, die sie am Kleide zog, zur Hundehütte. Die Frau bückte sich und legte den Kopf an den Eingang. Das Schauspiel, dessen Zeugin sie nun wurde, konnte nach den Berechnungen meines Geistes, selbst die unzuträglichen Übertreibungen der mütterlichen Furcht ausgeklammert, nur herzzerreißend sein. Ich entzündete einen Leuchter und reichte ihn ihr; auf diese Weise entging ihr kein Detail. Sie zog den von Strohhalmen bedeckten Kopf, aus dem vorzeitigen Grab zurück, und sagte mir: »Die drei Margareten sind tot«. Da wir sie nicht von diesem Ort entfernen konnten, denn sie waren, bemerkt es wohl, eng miteinander verschlungen, ging ich in der Werkstatt einen Hammer holen, um die hündische Behausung zu zerschlagen. Ich machte mich auf der Stelle an das Werk der Zerstörung, und die Passanten mochten
glauben, vorausgesetzt sie hätten die nötige Vorstellungskraft, daß es bei uns an Arbeit nicht mangele. Meine Mutter, ungeduldig über diese Verzögerungen, die dennoch unabdingbar waren, brach sich die Nägel an den Brettern ab. Schließlich ging die Operation negativer Befreiung zu Ende; die zerschlagene Hundehütte fiel nach allen Seiten auseinander; und wir zogen aus den Trümmern, eine nach der anderen, nachdem wir sie mühevoll getrennt hatten, die Töchter des Zimmermanns hervor. Meine Mutter verließ das Land. Meinen Vater habe ich nicht wiedergesehen. Was mich betrifft, sagt man, ich sei verrückt, und ich lebe von der Mildtätigkeit. Und ich weiß bestimmt, daß der Kanarienvogel nicht mehr singt.« Der Zuhörer begrüßt im Inneren dieses neue Beispiel zur Unterstützung seiner abstoßenden Theorien. Als hätte man wegen eines einstmals dem Wein verfallenen Mannes das Recht, die ganze Menschheit anzuklagen. Das ist zumindest die paradoxe Überlegung, die er seinem Geist zuführen möchte; aber sie kann von dort nicht die bedeutsamen Lehren der ernsten Erfahrung verjagen. Er tröstet den Irren mit vorgetäuschtem Mitleid und wischt dessen Tränen mit seinem eigenen Taschentuch ab. Er führt ihn in ein Restaurant, und sie essen am selben Tisch. Sie gehen zu einem vornehmen Schneider, und der Schützling wird wie ein Fürst eingekleidet. Sie klopfen beim Verwalter eines großen Hauses in der Rue SaintHonoré, und der Irre zieht in eine reiche Wohnung der dritten Etage. Der Bandit zwingt ihn, seine Börse anzunehmen, und er zieht das Nachtgeschirr unter dem Bett hervor, um es Aghone auf den Kopf zu setzen. »Ich kröne dich zum König der Intelligenzen, ruft er mit wohlüberlegter Emphase aus; auf deinen leisesten Ruf werde ich herbeieilen; schöpfe mit vollen Händen aus meinen Truhen; ich gehöre dir mit Leib und Seele. Des Nachts wirst du die Alabasterkrone an ihren gewöhnlichen Platz zurückbringen, mit der Erlaubnis, dich ihrer zu bedienen; aber am Tage, sobald die Morgenröte die Städte erleuchtet, setze sie wieder auf deine Stirn als Symbol deiner Macht. Die drei Margareten werden in mir auferstehen, und obendrein werde ich deine Mutter sein«. Da wich der Irre einige Schritte zurück, als wäre er die Beute eines höhnischen Alptraumes; die Linien des Glücks zeichneten sich auf seinem von Kummer zerfurchten Gesicht ab; er kniete voller Demut zu den Füßen seines Beschützers nieder. Die Dankbarkeit war wie ein Gift in das Herz des gekrönten Narren gedrungen! Er wollte sprechen, und seine Zunge hielt inne. Er beugte seinen Körper vorwärts, und er fiel auf die Fliesen. Der Mann mit den Bronzelippen zieht sich zurück. Was war sein Ziel? Einen
unbedingt zuverlässigen Freund zu erwerben, ausreichend naiv, dem leisesten seiner Befehle zu gehorchen. Er konnte es nicht besser treffen, und der Zufall hatte ihn begünstigt. Der, den er hingestreckt auf einer Bank angetroffen hatte, weiß seit einem Ereignis seiner Jugend nicht mehr gut und böse zu unterscheiden. Genau Aghone ist es, den er gebrauchen kann.
Sechster Gesang, achte Strophe VI. Der Allmächtige hatte einen seiner Erzengel auf die Erde geschickt, um den Jüngling vor einem sicheren Tod zu retten. Er wird gezwungen sein, selbst herabzusteigen! Aber wir sind noch nicht bei diesem Teil unserer Erzählung angelangt, und ich sehe mich verpflichtet, den Mund zu halten, weil ich nicht alles zugleich sagen kann: jeder wirkungsvolle Kniff wird an seinem Ort erscheinen, wenn es für den Faden dieser Erdichtung nicht unzuträglich scheint. Um nicht erkannt zu werden, hatte der Erzengel die Form eines Taschenkrebses von der Größe einer Vikunja angenommen. Er wartete auf der Spitze eines Riffs, mitten im Meer, den günstigen Moment der Flut ab, um seine Landung am Ufer zu bewerkstelligen. Der Mann mit Jaspislippen belauerte das Tier, hinter einer Biegung des Strandes verborgen, einen Stock in der Hand. Wer hätte gewünscht, in den Gedanken dieser beiden Wesen zu lesen? Das erste gestand sich ein, daß es eine schwierige Aufgabe zu vollbringen habe: »Und wie soll man darin Erfolg haben, rief er, während steigende Wellen seinen zeitweiligen Zufluchtsort überrollten, woran mein Herr schon mehr als einmal seine Kraft und seinen Mut hat scheitern sehen? Ich bin nur eine begrenzte Substanz, während vom anderen niemand weiß, woher er kommt und was sein Endziel ist. Bei seinem Namen erzittern die himmlischen Heerscharen; und mehr als einer erzählt in den Regionen, die ich verlassen habe, daß Satan selbst, Satan die Inkarnation des Bösen, nicht so schrecklich sei.« Der zweite stellte folgende Überlegungen an; sie fanden ein Echo bis hinauf zur azurnen Kuppel, die sie besudelten: »Er sieht gänzlich unerfahren aus; ich werde mit ihm schnellstens fertig. Er kommt zweifellos von oben, von dem gesandt, der so sehr fürchtet, selbst zu kommen! Wir werden durch die Tat sehen, ob er so unwiderstehlich ist, wie er aussieht; es ist kein Bewohner der irdischen Aprikose; er verrät seine seraphische Herkunft durch seine herumirrenden und unbestimmten Augen.« Der Taschenkrebs, der seit einiger Zeit seine Augen über einen bestimmten Raum der Küste schweifen ließ, bemerkte unseren Helden (dieser erhob sich darauf zur ganzen Höhe seines herkulischen Wuchses), und fuhr ihn mit den folgenden Worten an: »Versuche keinen Kampf und ergib dich. Ich bin von einem geschickt, der uns beiden überlegen ist, um dich in Ketten zu schlagen, und die beiden Glieder, die Komplizen deines Denkens sind, in die Unmöglichkeit zu versetzen, sich zu regen.
Messer und Dolche mit deinen Fingern zu umklammern, dies muß dir von nun an verboten sein, glaube mir; ebenso in deinem Interesse wie in dem der anderen. Tot oder lebend: ich werde dich ergreifen; ich habe Befehl, dich lebend zu bringen. Versetze mich nicht in die Notwendigkeit, zu der Gewalt zu greifen, die mir verliehen wurde. Ich werde mich taktvoll betragen; du setze mir deinerseits keinen Widerstand entgegen. So werde ich mit Eifer und Jubel anerkennen, daß du einen ersten Schritt zur Reue getan hast.« Als unser Held dieses Gewäsch hörte, von so urkomischer Essenz, hatte er Mühe, auf der Rauhigkeit seiner wettergebräunten Züge den Ernst zu bewahren. Aber schließlich wird nicht jedermann verblüfft sein, wenn ich hinzufüge, daß er am Ende doch in Gelächter ausbrach. Es war stärker als er! Er legte keine üble Absicht hinein! Er wollte sicherlich nicht die Vorwürfe des Taschenkrebses auf sich ziehen! Welche Anstrengungen machte er nicht, die Heiterkeit zu vertreiben! Wie oft preßte er nicht seine Lippen zusammen, eine auf die andere, um sich nicht den Anschein zu geben, sein verblüfftes Gegenüber zu beleidigen! Unglücklicherweise gehörte sein Charakter der menschlichen Natur an, und er lachte so wie ein Schaf! Endlich hörte er auf! Das war höchste Zeit! Er hätte ersticken können! Der Wind trug diese Antwort zum Erzengel des Riffs: »Wenn dein Herr nicht mehr Schnecken und Krebse schickt, um seine Angelegenheiten zu ordnen, und wenn er sich herabläßt, persönlich mit mir zu verhandeln, wird man, ich bin sicher, das Mittel finden, sich zu einigen, denn ich bin dem unterlegen, der dich schickte, wie du mit so viel Recht gesagt hast. Bis zu diesem Zeitpunkt scheinen mir Gedanken an eine Wiederversöhnung überstürzt und höchstens geeignet, ein scheinhaftes Ergebnis zu zeitigen. Es liegt mir fern, das zu verkennen, was an sehr Sinnvollem in jeder deiner Silben liegt; da wir nutzlos unsere Stimmen ermüden könnten, um sie über eine Entfernung von drei Kilometern vernehmbar zu machen, scheint es mir, du handeltest weise, stiegest du von deiner uneinnehmbaren Festung herab und kämest zum Festland geschwommen: wir könnten bequemer die Bedingungen einer Übergabe diskutieren, die, so rechtmäßig sie auch sein mag, doch schließlich für mich nichts weniger als angenehm ist«. Der Erzengel, der diesen guten Willen nicht erwartet hatte, streckte aus den Tiefen des Spaltes seinen Kopf ein Stück hervor und antwortete: »O Maldoror, ist endlich der Tag gekommen, an dem deine abscheulichen Instinkte die Fackel nicht zu rechtfertigenden Stolzes werden erlöschen sehen, der sie zur ewigen Verdammnis
führt! Also werde ich es sein, der als erster diese löbliche Veränderung den Phalangen der Cherubim erzählen wird, die glücklich sein werden, einen der ihren wiederzufinden. Du weißt es selbst und du hast es nicht vergessen, daß es eine Zeit gab, als du unter uns den ersten Platz innehattest. Dein Name ging von Mund zu Mund; jetzt bist du der Gegenstand unserer einsamen Unterredungen. Komm also … komm einen dauerhaften Frieden mit deinem ehemaligen Herren schließen; er wird dich wie einen verlorenen Sohn aufnehmen und nicht der Riesenmenge Schuld gedenken, die du wie einen Berg von Elchgeweihen bei den Indianern auf dein Herz getürmt hast«. So spricht er und zieht alle Teile seines Körpers aus der Tiefe der finsteren Öffnung hervor. Er zeigt sich strahlend oben auf dem Riff; wie ein Priester der Religionen, wenn er gewiß ist, ein verirrtes Schaf heimzuführen. Er wird einen Sprung in das Wasser tun, um schwimmend den Begnadigten zu erreichen. Aber der Mann mit Saphirlippen hat lange voraus einen heimtückischen Streich berechnet. Sein Stock wird kraftvoll geworfen; nach etlichen Aufschlägen auf die Wellen trifft er den wohltätigen Erzengel am Kopf. Der Krebs fällt tödlich getroffen in das Wasser. Die Flut trägt das treibende Wrack an das Ufer. Er hatte auf die Flut gewartet, um seinen Abstieg leichter zu bewerkstelligen. Nun ja, die Flut ist da; sie hat ihn mit ihren Gesängen geschaukelt und weich am Strand abgelegt: ist der Krebs nicht zufrieden? Was will er noch mehr? Und Maldoror, über den Sand des Strandes geneigt, empfängt in seinen Armen zwei Freunde, untrennbar vereint durch die Zufälle der Woge: den Leichnam des Taschenkrebses und den mörderischen Stock! »Ich habe meine Geschicklichkeit noch nicht verloren, ruft er aus; sie muß nur geübt werden; mein Arm behält seine Kraft und mein Auge seine Schärfe.« Er betrachtete das leblose Tier. Er fürchtet, daß man von ihm Rechenschaft über das vergossene Blut fordert. Wo soll er den Erzengel verbergen? Und gleichzeitig fragt er sich, ob der Tod nicht sofort eingetreten sei. Er hat einen Amboß und einen Leichnam auf den Rücken geladen; er macht sich auf den Weg zu einem sehr großen Teich, dessen sämtliche Gestade von einem unentwirrbaren Schilfgestrüpp umgeben und wie ummauert sind. Er wollte zuerst einen Hammer nehmen, aber dies ist ein zu leichtes Instrument, doch mit einem schweren Gegenstand wird er den Leichnam, sollte er doch noch Leben zeigen, auf die Erde legen und mit Amboßschlägen zu Staub zerstampfen. Kraft fehlt seinem Arm nicht, keineswegs; das beunruhigt ihn am wenigsten. Auf Sichtweite an den See herangekommen, sieht er ihn von Schwänen
bevölkert. Er sagt sich, daß dies ein sicherer Unterschlupf für ihn sei; mit Hilfe einer Metamorphose mischt er sich, ohne seine Last abzusetzen, unter die Schar der anderen Vögel. Bemerkt wohl die Hand der Vorsehung dort, wo man versucht wäre, sie für abwesend zu halten, und zieht Gewinn aus dem Wunder, von dem ich euch erzählen werde. Schwarz wie der Flügel eines Raben schwamm er dreimal in die Mitte der Wasservögel von strahlender Weiße; dreimal behielt er diese abstechende Farbe bei, die ihn einem Stück Kohle ähnlich machte. Gott in seiner Gerechtigkeit erlaubte nämlich nicht, daß seine List auch nur eine Schar von Schwänen betrog. So daß er sichtbar blieb mitten auf dem See; aber jeder Vogel hielt sich fern und keiner näherte sich seinem schändlichen Gefieder, um ihm Gesellschaft zu leisten. Und so zog er also seine gelegentlich tauchenden Kreise in einer abgelegenen Bucht am Ende des Teichs, allein unter den Bewohnern der Luft, wie er allein unter den Menschen war! So lieferte er das Vorspiel zu dem unglaublichen Ereignis auf der Place VendÔme!
Sechster Gesang, neunte Strophe VII. Der Korsar mit den Goldhaaren hat die Antwort Mervyns erhalten. Er verfolgt auf diesem merkwürdigen Papierbogen die Spur der intellektuellen Verwirrung dessen, der ihn, den schwachen Kräften seiner eigenen Eingebung überlassen, beschrieb. Dieser hätte viel besser daran getan, seine Eltern um Rat zu fragen, bevor er auf die Freundschaft eines Fremden einging. Für ihn wird es überhaupt keinen Gewinn bringen, sich als Hauptakteur in diese zweideutige Intrige einzumischen. Aber er hat es schließlich nicht anders gewollt. Zur angegebenen Stunde ist Mervyn von der Tür seines Hauses geradewegs vorangeschritten, den Boulevard Sébastopol hinunter bis zur Fontaine Saint-Michel. Er geht den Quai des Grands-Augustins entlang und überquert den Quai Conti; im Augenblick, als er auf den Quai Malaquais kommt, sieht er auf dem Quai du Louvre, parallel zu seiner eigenen Richtung, ein Individuum gehen, das einen Sack unter dem Arm trägt und ihn aufmerksam zu betrachten scheint. Die Morgennebel haben sich zerstreut. Die beiden Passanten betreten zur gleichen Zeit von beiden Seiten den Pont du Carrousel. Obwohl sie sich niemals gesehen hatten, erkannten sie sich! Wirklich, es war ergreifend, diese beiden durch das Alter getrennten Wesen zu sehen, deren Seelen sich durch die Größe des Gefühls einander näherten. Wenigstens wäre das die Ansicht derer gewesen, die bei diesem Schauspiel sich aufgehalten hätten, das mehr als einer, selbst mit einem mathematischen Geist, rührend gefunden hätte. Mervyn, das Gesicht tränenüberströmt, dachte, daß er sozusagen am Eingang des Lebens eine wertvolle Hilfe in künftigem Mißgeschick fände. Seid gewiß, daß der andere nichts sagte. Er tat vielmehr dies: er entfaltete den Sack, den er bei sich trug, öffnete ihn, und steckte, indem er den Jüngling beim Kopf ergriff, den ganzen Körper in die Stoffhülle. Er verknotet mit seinem Taschentuch das Ende, das als Eingang diente. Da Mervyn schrille Schreie ausstieß, hob er den Sack wie ein Wäschebündel und schlug ihn mehrmals gegen das Brückengeländer. Da hielt der Delinquent, der bemerkt hatte, wie seine Knochen krachten, den Mund. Einzigartige Szene, auf die kein Romancier wieder kommen wird! Ein Schlachter kam vorüber, auf dem Fleisch seines Karrens sitzend. Ein Individuum läuft zu ihm hin, hält ihn an und sagt zu ihm: »Hier ist ein Hund in diesem Sack; er hat die Räude: schlachtet ihn so schnell wie möglich.« Der Angesprochene zeigt sich gefällig. Der Störenfried bemerkt, als er
sich entfernt, ein junges Mädchen in Lumpen, das ihm die Hand hinstreckt. Bis wohin reicht denn der Gipfel der Kühnheit und der Gottlosigkeit? Er gibt ihr ein Almosen! Sagt mir, wenn ich euch einige Stunden später zum Tor eines abgelegenen Schlachthofs führen soll. Der Schlachter ist zurückgekehrt und hat zu seinen Kollegen gesagt, indem er ein Bündel zur Erde wirft »Beeilen wir uns, diesen räudigen Hund zu töten.« Sie sind vier und jeder hebt den gewohnten Hammer. Und trotzdem zögerten sie, weil sich der Sack kräftig bewegte. »Welch eine Erregung ergreift mich?« rief der eine und senkte langsam seinen Arm. »Dieser Hund stößt Schmerzenslaute wie ein Kind aus, sagte ein anderer; man möchte meinen, er verstünde das Schicksal, das ihm bevorsteht.« »Das ist gewöhnlich so, antwortet ein dritter; selbst wenn sie nicht krank sind, wie hier, reicht es schon, daß ihr Herr einige Tage dem Hause fernbleibt, um sie dazu zu bringen, ein Geheul hören zu lassen, das wirklich schwer zu ertragen ist.« »Haltet ein! … Haltet ein! … rief der vierte, bevor sich alle Arme gleichzeitig gehoben hatten, um dieses Mal entschlossen auf den Sack einzuschlagen. Haltet ein, sage ich; hier liegt etwas Sonderbares vor. Wer sagt euch, daß diese Leinwand einen Hund enthält? Ich möchte mich vergewissern.« Dann schnürte er trotz des Gespöttes seiner Gefährten den Sack auf und zog eins nach dem anderen Mervyns Gliedmaßen hervor. Er war durch die beengte Lage beinahe erstickt. Er fiel in Ohnmacht als er das Licht wiedererblickte. Einige Augenblicke später gab er unzweifelhafte Lebenszeichen von sich. Der Retter sagte: »Lernt, ein anderes Mal sogar euer Geschäft mit Vorsicht zu betreihen. Ihr hättet beinahe an euch selbst feststellen müssen, daß es zu nichts führt, wenn man sich um diese Regel nicht kümmert.« Die Schlachter machten, daß sie davonkamen. Mervyn kehrt, das Herz schwer und voll düsterer Vorahnungen, nach Hause zurück und schließt sich in sein Zimmer ein. Muß ich weiter auf dieser Strophe beharren? Nun! wer wird nicht die vorgefallenen Ereignisse bedauern? Warten wir auf das Ende, um ein noch strengeres Urteil vorzubringen. Die Auflösung wird sich überstürzen; und bei dieser Art Erzählung, wo eine gegebene Leidenschaft, von welcher Art auch immer, kein Hindernis scheut, um sich einen Weg zu bahnen, ist es nicht statthaft, in einem Napf den Gummilack von vierhundert banalen Seiten aufzulösen. Was in einem halben Dutzend Strophen gesagt werden kann, muß man sagen und dann schweigen.
Sechster Gesang, zehnte Strophe VIII. Um mechanisch das Gehirn einer einschläfernden Geschichte zu konstruieren, reicht es nicht aus, Dummheiten genau zu zergliedern und kräftig, in wiederholten Dosierungen die Intelligenz des Lesers zu verblöden, so daß seine Fähigkeiten für den Rest seines Lebens durch das nie versagende Gesetz der Ermüdung gelähmt bleiben; man muß ihn darüber hinaus mit einem guten magnetischen Fluidum kunstvoll in die somnambulische Unmöglichkeit versetzen, sich zu bewegen, indem man ihn zwingt, seine Augen durch die Starrheit der euren gegen sein eigenes Wesen zu verdunkeln. Ich will sagen, nicht um mich besser verständlich zu machen, sondern nur, um meinen Gedanken zu entfalten, der interessiert und zugleich erregt durch eine überaus scharfsinnige Harmonie, daß ich nicht glaube, es sei nötig, um das erstrebte Ziel zu erreichen, eine Poesie zu erfinden, die ganz außerhalb des gewöhnlichen Ganges der Natur sich bewegt, und deren gefährlicher Hauch sogar die absoluten Wahrheiten zu erschüttern scheint; aber solch ein Ergebnis zu erzielen (das übrigens mit den Regeln der Ästhetik übereinstimmt, wenn man es wohl bedenkt), ist nicht so einfach wie man denkt: eben das wollte ich sagen. Deshalb werde ich alle Anstrengungen unternehmen, dies zu erreichen! Wenn der Tod die phantastische Magerkeit der beiden langen Arme meiner Schultern stillegt, beschäftigt mit dem schaurigen Zerstampfen meines literarischen Gipses, will ich wenigstens, daß der Leser in Trauer sich sagen kann: »Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat mich reichlich verblödet. Was hätte er nicht noch getan, hätte er länger leben können! er ist der beste Lehrer des Hypnotismus, den ich kenne!« Man wird diese wenigen rührenden Worte in den Marmor meines Grabes meißeln, und meine Manen werden befriedigt sein! – Ich fahre fort! Es gab einen Fischschwanz, der sich am Boden eines Loches bewegte, neben einem abgetretenen Stiefel. Es war nicht natürlich, sich zu fragen: »Wo ist der Fisch? Ich sehe nur den Schwanz, der sich bewegt.« Denn wenn man stillschweigend zugab, daß man den Fisch nicht sehe, heißt dies, daß er in Wirklichkeit nicht da war. Der Regen hatte einige Tropfen auf dem Grund dieses in den Sand gegrabenen Trichters zurückgelassen. Was den abgetretenen Stiefel angeht, hat mancher seither angenommen, daß er freiwillig liegengelassen wurde. Der Taschenkrebs sollte durch göttliche Macht aus seinen aufgelösten Atomen wiedererstehen. Er zog den Fischschwanz aus dem
Brunnen und versprach ihm, ihn wieder an seinem verlorenen Körper zu befestigen, wenn er dem Schöpfer das Unvermögen seines Auftraggebers mitteilte, die wütenden Wogen des maldororischen Meeres zu bemeistern. Er verlieh ihm zwei Albatrosflügel, und der Fischschwanz flog davon. Aber er flog zur Behausung des Renegaten, um ihm zu erzählen, was sich begeben hatte, und den Taschenkrebs zu verraten. Dieser erriet das Vorhaben des Spions, und bevor der dritte Tag zur Neige gegangen war, durchbohrte er den Fischschwanz mit einem vergifteten Pfeil. Der Schlund des Spions stieß einen schwachen Ruf aus, und einen letzten Seufzer, bevor er den Erdboden berührte. Darauf erhob sich ein hundertjähriger Balken vom Dachboden eines Schlosses zu seiner ganzen Höhe, indem er sich hochschnellte, und verlangte laut schreiend Rache. Aber der Allmächtige, in ein Rhinozeros verwandelt, brachte ihm bei, daß dieser Tod ein verdienter sei. Der Balken beruhigte sich, ging sich hinten im Schloß niederlegen, nahm seine horizontale Lage wieder ein, und rief die verstörten Spinnen zurück, damit sie fortführen wie in der Vergangenheit, ihre Netze in seinen Winkel zu weben. Der Mann mit Schwefellippen erkannte die Schwäche seines Verbündeten; deshalb befahl er dem gekrönten Narren, den Balken zu verbrennen und in Asche zu verwandeln. Aghone führte diesen Befehl aus. »Da, Ihnen zufolge, der Augenblick gekommen ist, rief er aus, habe ich den Ring wieder geholt, den ich unter dem Stein vergraben hatte, und ihn an ein Ende des Taues gebunden. Hier ist das Bündel.« Und er überreichte ihm ein dickes aufgerolltes Seil von sechzig Metern Länge. Sein Herr fragte ihn, was die vierzehn Dolche trieben. Er antwortete, daß sie treu seien und sich für alle Fälle bereit hielten, wenn es nötig würde. Der Sträfling neigte den Kopf zum Zeichen der Befriedigung. Er zeigte Überraschung, und sogar Beunruhigung, als Aghone hinzusetzte, er habe einen Hahn mit seinem Schnabel eine Straßenlaterne in zwei Teile spalten und abwechselnd beide Hälften untersuchen sehen, wobei er frenetisch mit den Flügeln schlug und ausrief: »Es ist nicht so weit wie man denkt von der Rue de la Paix bis zur Place du Pantheon. Bald wird man den traurigen Beweis sehen!« Der Taschenkrebs, auf ein feuriges Pferd gestiegen, galoppierte mit verhängtem Zügel in Richtung auf das Riff, den Zeugen des Stockwurfs durch einen tätowierten Arm, das Asyl des ersten Tages seines Aufenthalts auf der Erde. Ein Pilgerzug war unterwegs, um diesen Ort zu besuchen, der von nun an geheiligt war durch einen erhabenen Tod. Er hoffte ihn zu erreichen, um ihn um Nothilfe gegen das sich zusammenbrauende Komplott, von
dem er wußte, zu bitten. Einige Zeilen weiter werdet ihr mit Hilfe meines eisigen Schweigens feststellen, daß er nicht rechtzeitig kam, um ihnen zu erzählen, was ihm ein Lumpensammler mitgeteilt hatte, der hinter einem benachbarten Baugerüst verborgen war, am Tag, als der Pont du Carrousel, noch getränkt von der Taufeuchte der Nacht, mit Entsetzen bemerkte, wie sich der Horizont seines Denkens konfus in konzentrischen Kreisen beim morgentlichen Auftreten des rythmischen Knetens eines zwanzigflächigen Sackes an seiner Kalksteinbrüstung erweiterte! Bevor er noch ihr Mitgefühl durch die Erinnerung an diese Episode anregte, werden sie besser die Saat der Hoffnung in sich zerstören … Um eure Trägheit zu durchbrechen, setzt die Hilfsmittel eines guten Willens ein, geht an meiner Seite und verliert nicht diesen Narren aus den Augen, der, den Kopf von einem Nachtgeschirr überragt und einen Stock in der Hand, denjenigen vor sich herstößt, den ihr wohl kaum wiedererkenntet, machte ich euch nicht darauf aufmerksam und riefe ich nicht in eure Ohren das Wort zurück, das sich Mervyn ausspricht. Wie hat er sich verändert! Die Hände auf den Rücken gefesselt, läuft er dahin, als ginge er zum Schafott, und doch ist er keiner Missetat schuldig. Sie haben den kreisrunden Raum der Place Vendome erreicht. Über das Gesims der massiven Säule, gegen die viereckige Balustrade gelehnt, in mehr als fünfzig Metern Höhe vom Boden, hat ein Mann ein Tau geworfen und entrollt, das, einige Schritte von Aghone entfernt, bis zur Erde herabfällt. Mit Übung bringt man eine Sache schnell zustande; aber ich kann sagen, daß dieser nicht viel Zeit brauchte, Mervyns Füße an das Ende des Taues zu binden. Das Rhinozeros hatte erfahren, was geschehen würde. Schweißbedeckt tauchte es keuchend an der Ecke der Rue Castiglione auf. Es hatte nicht einmal die Genugtuung, den Kampf aufzunehmen. Das Individuum, das die Umgebung oben von der Säule aus beobachtete, lud seinen Revolver, zielte sorgfältig und drückte den Abzug. Der Kommodore, der seit dem Tage, an dem das, was er für den Wahnsinn seines Sohnes hielt, begönnen hatte, bettelnd durch die Straßen zog, und die Mutter, die man das Schneemädchen genannt hatte wegen ihrer außerordentlichen Blässe, hielten ihre Brust vor das Rhinozeros, um es zu schützen. Vergebliche Fürsorge. Die Kugel durchbohrte seine Haut wie ein Bohrer; man hätte mit allem Anschein von Logik glauben können, daß der Tod unweigerlich eintreten würde. Aber wir wußten, daß die Substanz des Herren in diesen Dickhäuter eingedrungen war. Er zog sich verdrießlich zurück. Wäre es nicht sicher bewiesen, daß er für eines seiner
Geschöpfe zu gut war, würde ich den Mann auf der Säule beklagen! Der zieht mit einem festen Griff seiner Hand das so beladene Seil zu sich herauf. Aus dem Lot gebracht, pendelt Mervyn, dessen Kopf nach unten hängt, in seinen Schwingungen. Er packt rasch mit seinen Händen eine lange Girlande von Immortellen, die zwei aufeinanderfolgende Ecken des Sockels verbindet, gegen den er mit der Stirn stößt. Er trägt mit sich in die Lüfte fort, was kein fester Haltepunkt war. Nachdem er zu seinen Füßen einen großen Teil des Taus in Form übereinander gelagerter Ellipsen aufgehäuft hat, so, daß Mervyn in halber Höhe des Bronzeobelisken hängen bleibt, versetzt der entflohene Sträfling mit der rechten Hand den Jüngling in eine gleichmäßig beschleunigte Drehbewegung auf einer der Achse der Säule parallelen Ebene, und ergreift mit der linken Hand die schlangenförmigen Aufrollungen des Tauwerks, die zu seinen Füßen liegen. Die Schleuder pfeift durch den Raum; Mervyns Körper folgt ihr überall hin, immer durch die Zentrifugalkraft vom Zentrum sich entfernend, immer seine bewegliche und gleichentfernte Lage bewahrend, in einer von der Materie unabhängigen, luftigen Kreislinie. Der zivilisierte Wilde läßt nach und nach bis zum anderen Ende, das er mit fester Mittelhand hält, gehen, was fälschlich einer Stahlstange gleicht. Er beginnt um die Balustrade herumzulaufen, wobei er sich mit einer Hand am Geländer festhält. Dieses Manöver hat zum Ergebnis, die ursprüngliche Ebene der Drehung des Taus zu ändern und die Kraft seiner Spannung zu erhöhen, die schon so bedeutend ist. Von nun an dreht es sich majestätisch auf einer horizontalen Ebene, nachdem es durch einen unmerklichen Aufstieg nacheinander mehrere schiefe Ebenen durchlaufen hat. Der rechte Winkel zwischen der Säule und der pflanzlichen Faser hat gleiche Schenkel! Der Arm des Renegaten und das Mordinstrument sind zu einer linearen Einheit verschmolzen wie die atomaren Elemente in einem Lichtstrahl, der in eine Dunkelkammer fällt. Die Theoreme der Mechanik gestatten mir, so zu sprechen; ach! man weiß, daß eine Kraft, einer anderen Kraft beigefügt, eine Resultante erzeugt, die aus beiden ursprünglichen Kräften besteht! Wer wagte zu behaupten, daß die lineare Verbindung nicht schon ohne die Kraft des Athleten und ohne die gute Qualität des Hanfes zerrissen wäre? Der Korsar mit Goldhaaren hält mit einem Schlag seine erreichte Geschwindigkeit an, öffnet die Hand und läßt das Tau los. Der Gegenstoß dieser Operation, der vorhergehenden so entgegengesetzt, läßt die Balustrade in ihren Verankerungen krachen. Mervyn, von dem Seil gefolgt, gleicht einem Kometen, der
seinen flammenden Schweif hinter sich herzieht. Der Eisenring der Schlinge, der in der Sonne blitzt, regt dazu an, selbst die Illusion zu vervollständigen. Im Laufe der Flugbahn zerteilt der zum Tode Verurteilte die Luft bis zum linken Semeufer, überfliegt es dank der, wie ich vermute, unbegrenzten Antriebskraft, und sein Körper prallt gegen die Kuppel des Pantheon, während das Seil teilweise mit seinen Windungen die obere Wand der riesigen Kuppel umschlingt. Auf ihrer sphärischen und konvexen Oberfläche, die nur durch ihre Form einer Apfelsine ähnelt, sieht man zu allen Stunden des Tages ein verdorrtes, hängengebliebenes Skelett. Man erzählt, daß die Studenten des Quartier Latin, wenn der Wind es schaukelt, in der Furcht vor einem solchen Geschick, ein kurzes Gebet sprechen: das sind unbedeutende Gerüchte, an die zu glauben man nicht gehalten ist, und nur geeignet, den kleinen Kindern Angst einzujagen. In seinen verkrampften Händen hält es so etwas wie ein langes Band vertrockneter gelber Blumen. Man muß die Entfernung berücksichtigen, und niemand kann behaupten, trotz des Zeugnisses seiner guten Augen, daß dies wirklich die Immortellen sind, von denen ich gesprochen habe, und daß ein ungleicher Kampf, der nahe der neuen Oper ausbrach, sie sich von ihrem grandiosen Sockel lösen sah. Es ist nicht weniger wahr, daß die Draperien in der Form einer Mondsichel dort nicht mehr den Ausdruck ihrer endgültigen Symmetrie in der Vierzahl finden: geht selbst nachschauen, wenn ihr mir nicht glauben wollt.