Hajo F. Breuer
Max Headroom
Band 3
Die Gesetzlosen
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Band 11408
Erstveröf...
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Hajo F. Breuer
Max Headroom
Band 3
Die Gesetzlosen
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Band 11408
Erstveröffentlichung
© 1988 Chrysalis Visual Programming Ltd.
All Rights reserved.
Herausgeber: Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach
Printed in West Germany Juli 1989
Einbandgestaltung: Roberto Patelli
Titelbild: Chrysalis
Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN 3-404-11408-6
Max Headroom, das elektronische Lebewesen, das nur in den Computernetzen des Senders 23 existiert, befindet sich in größter Gefahr. Eine Gruppe von Außenseitern will alle Computerprogramme auslöschen. Das wäre das Ende von Max Headroom. Dabei empfindet er sogar Sympathie für die Gesetzlosen, die sich gegen die Erfassung ihrer Daten und die totale Überwachung wehren. Nur noch der Reporter Edison Carter kann die Katastrophe verhindern. Doch er muß nicht nur gegen die Gesetzlosen, sondern auch gegen den korrupten Politiker Simon Peller kämpfen…
1. Kapitel
In diesem Viertel der riesigen Stadt hatte sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Die heruntergekommenen Wohnblocks, die hier standen, waren zum Teil schon hundert Jahre alt. Noch immer lebte hier dieselbe Mischung von Außenseitern: arbeitslose Neger, eifrige Asiaten, allzu orthodoxe Juden, am Leben zerbrochene Südeuropäer und Aussteiger jeglicher Art. Hier bildeten sie eine verschworene Gemeinschaft. Und Außenseiter fielen hier noch genauso unangenehm auf wie früher. Vor allem, wenn es sich um Polizisten handelte. Im Nu bildeten sich dichte Menschentrauben auf den schmutzigen Straßen, als der vergitterte Mannschaftswagen mit nervtötendem Sirenengeheul langsam näherrollte. MetroPolizisten in kugelsicheren Kampfanzügen hielten sich an den Außenhandgriffen des Fahrzeugs fest und schoben die Menschen, die ihnen im Weg standen, barsch beiseite. Die gepanzerten dunkelblauen Vollschutzhelme der Beamten bedeckten ihre Köpfe völlig und gaben ihnen ein roboterhaftes Aussehen. Die Menge wurde unruhig. »Was ist denn hier los?« »Ist ein Unfall passiert?« »Vorsicht, da kommt die Metro-Polizei!« Die Beamten spürten die Feindschaft, die ihnen entgegenschlug. Sie reagierten mit Aggressivität. Schließlich hatten sie ihre Befehle. Sie erledigten nur ihren Job. »Geht beiseite!« brüllte der Streifenführer, der vor dem Kühler des Wagens herging, und schwang drohend seinen Elektroknüppel.
Der Aufruhr auf den Straßen – und das Heulen der Polizeisirene – drang durch die Häuserschluchten bis hinauf zu den Dächern der alten Wohnblocks. Ein Mädchen beugte sich über die Brüstung, die eins der Dächer umschloß, und sah mit Entsetzen, wie das große Polizeiauto genau unten vor ihrem Haus hielt. Die Beamten, die sich außen an das Fahrzeug geklammert hatten, kletterten schon die verrostete Feuerleiter empor. Die rückwärtige Tür des Wagens flog auf, und ein zweiter Trupp in Kampfanzügen stürmte heraus, verschwand im Eingang der alten Mietskaserne. Das Mädchen wußte, wem der Einsatz galt. Ihm. Brenda war Anfang zwanzig, klein, mit einer ausgeprägt weiblichen Figur. Ihre Kleidung – Jeans, Lederjacke, Pulli und ein viel zu langes Hemd, das hinten aus der Hose hing – war eher nachlässig, das breitflächige Gesicht mit der etwas zu dicken Nase ungeschminkt. Die langen braunen Locken hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie rannte über das Flachdach zu der kleinen PenthouseWohnung, die sie gemietet hatte. Neben der Terrassentür standen zwei halbgepackte, geöffnete Koffer. Brenda beachtete sie nicht und stürzte zum altertümlichen Bildtelefon. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Apparat die Verbindung zustande brachte. Schwere Fäuste hämmerten gegen die Tür zum Treppenhaus. »Öffnen Sie!« Und eine zweite Stimme brüllte: »Auf Grund einer Computer-Information wissen wir, daß Sie eine Nichtexistenz sind!« »Aufmachen! Sofort aufmachen! Öffnen Sie die Tür!« brüllte der erste.
Das Pochen an der Tür wurde lauter, das fast schon antike Holz, aus dem sie vor vielen Jahren gefertigt worden war, knirschte bedenklich. Endlich hellte sich der Bildschirm des alten Vidifons auf. »Bruno! Es ist zu spät! Ich schaffe es nicht mehr! Sie sind da!« rief das Mädchen verzweifelt, knallte den Hörer hin und hastete zur immer noch offenstehenden Dachterrassentür. Zu spät! Splitternd und krachend gab die andere Tür nach, bullige Metro-Polizisten stürmten herein. Der vorderste hatte die Lage im Nu erfaßt. Ein Sprung, und er packte Brenda am Kragen. »Halt! Stehenbleiben! Sie sind verhaftet!« »Nein! Lassen Sie mich los! Sie haben kein Recht, mich mitzunehmen! Hauen sie ab!« Das Mädchen wand sich vergeblich im Griff des massigen Polypen, der es um mindestens zwei Haupteslängen überragte. Unten auf der Straße wurde die Menschenmenge, die sich um das Polizeiauto und den Hauseingang drängte, immer dichter. Brenda witterte ihre Chance. Sie wußte, wie sehr die Leute hier die Metro-Polizei haßten. Sie zeterte aus Leibeskräften: »Helft mir! Leute, helft mir… ich werde verhaftet!« Die Menge kam bedrohlich näher, doch die Übermacht der kampferprobten Metro-Bullen war zu groß. Rücksichtslos drängten sie die Menschen weg und schoben das Mädchen in den gepanzerten Wagen. Krachend schlossen sich die schweren Türen hinter ihr. Sie war gefangen.
Egbert Edelman gefiel die Arbeit im Gerichtsgebäude. Der Justizangestellte liebte die Ruhe, die in diesen heiligen Hallen herrschte. Hier drinnen liefen die Uhren so ganz anders als draußen in der hektischen, übervölkerten Welt.
Egbert empfand es beinahe als einen Angriff auf seine Person, als die Metro-Polizisten dieses gräßlich unkultivierte, kreischende weibliche Wesen hereinführten. Weiber! Unwillkürlich mußte Egbert seufzen. Der Anblick der beiden großen, muskulösen Beamten, die die Delinquentin unnachgiebig festhielten, entschädigte ihn für vieles. Aber jetzt mußte Egbert sich auf seine Arbeit konzentrieren. Er nahm zwei Disketten aus dem Tresor und tänzelte durch den großen Saal, in dem früher Schwurgerichtsprozesse stattgefunden hatten. Der hagere Rechtspfleger mit den stechenden Augen hinter der randlosen Brille war Anfang Vierzig. Er kannte die Ära, bei der ausschließlich menschliche Richter die Verhandlungen geführt hatten, noch aus der Zeit seiner Ausbildung. Aber er hatte nicht viel dafür übrig. Computer waren einfach effektiver. Egbert schwebte fast durch den Saal. Er hörte die festen Schritte der Polizisten hinter sich, konnte ihre Blicke beinahe spüren. Wie herrlich männlich die Kerls doch waren! Vielleicht hatte ja heute abend einer der beiden Zeit für ihn…! Auf dem Bildschirm des städtischen Gerichtscomputers Nummer neun war eine Grafik der Frau mit Waagschale und verbundenen Augen zu sehen. Noch nie hatte Justitia so unvoreingenommen urteilen können wie heute, im Zeitalter der Elektronik. »Was haben Sie mit mir vor? Was ist das?« kreischte das Mädchen. »Das ist ein Richter-Computer«, antwortete Egbert Edelman so sachlich wie möglich. Frauen und Technik! Und Frauen überhaupt! Warum schickten sie die ausgerechnet immer zu ihm? Und dann auch noch derart häßliche! Er hätte am liebsten vor Wut ein Seidentüchlein zerknüllt.
Mit spitzen Fingern schob er die erste Diskette in das Laufwerk der Staatsanwaltschaft. Augenblicklich erwachte der Richter-Computer zum Leben. Er las die Daten und verkündete mit emotionsloser elektronischer Stimme: »Strafverfolgungsdaten: AngeklagtenNummer null-null-null-null-null-null.« Nun schob Egbert die zweite Diskette ins VerteidigerLaufwerk. »Verteidigungsdaten: Angeklagten-Nummer null-null-null null-null-null«, wiederholte sich der Computer. Der dünnlippige Mund des Justizangestellten zuckte in Erwartung dessen, was da kommen würde. Bei dieser Datenlage konnte der Computer nur ein Urteil fällen. Er ließ sich eben nicht von wäßrigen Weiberaugen um den Finger wickeln wie so mancher Richter früher. Brenda verfolgte den ganzen Prozeß fassungslos. Sie konnte einfach nicht begreifen, was sich da abspielte. Daten huschten über den Computer-Bildschirm. In Bruchteilen von Sekunden war der Rechenprozeß beendet, und die seelenlose Automatenstimme verkündete: »AnklageVerteidigungsverbindung hergestellt Angeklagten-Nummer null-null-null-null-null-null. Urteil: schuldig. Verurteilte abführen.« Das Mädchen fing wieder an, sich gegen den unnachgiebigen Griff der Polizisten zu wehren. »Ich kenne meine Rechte! Ich lasse mich nicht von einer Maschine aburteilen!« Allein für dieses Gekreische gehörte das Weib auf Jahrzehnte hinter Gitter. Spürte die denn nicht, wie sehr sie an Egberts empfindlichen Nerven zerrte? Er kämpfte mannhaft um seine Beherrschung und verkündete: »Sie sind eine Nichtexistenz, Schweigen Sie.« »Ja, ich bin eine Nichtexistenz! Es ist schön, eine Nichtexistenz zu sein… es ist schön!«
Ihre schrille Stimme schallte noch durch die Halle, als die Polizisten sie längst hinausgebracht hatten. Edelman verstand einfach nicht, worüber sich die Verurteilte so aufregte. Nichtexistenzen waren eine wirkliche Bedrohung für die vollelektronische Gesellschaft der Gegenwart. Es bestand nicht der geringste Anlaß, sich über das Verfahren aufzuregen. Es war absolut fair verlaufen. Aber von einem uneinsichtigen Frauenzimmer konnte man so viel Einsicht kaum erwarten.
Solche Probleme hatte Edison Carter nicht. Er war einer der bekanntesten Bürger der Stadt, ja, des ganzen Planeten. Vom besten Reporter des weltweiten Senders 23 konnte wirklich niemand behaupten, er sei eine Nichtexistenz. In jeder Woche fieberten Millionen Zuschauer der neuen Ausgabe von Carters Nachrichtenshow »Ich will alles wissen«, entgegen. Carter war allein in seinem Maisonette-Apartment, das für einen einzigen Menschen eigentlich viel zu groß war. Aber obwohl der Reporter noch nicht einmal dreißig Jahre alt war, verdiente er mehr als genug, um sich die teure Miete leisten zu können. Warum auch nicht? Man gönnte sich ja schließlich sonst nichts! Carter war ein Morgenmuffel. Verschlafen wälzte er sich in dem riesigen Bett vor dem Bogenfenster, durch das er einen hervorragenden Ausblick auf die tristen Betonklötze der Wohnblocks dieser vornehmen Gegend hatte. Wie immer, seit Max Headroom in sein Leben getreten war, hatte Carter den Fernseher mit einer Decke verhüllt. Max Headroom war Carters elektronische Kopie – sein Bewußtsein, eingespeichert in ein Computer-Programm. Max war eine echte künstliche Intelligenz, ein Wesen, das im Computer lebte. Und er hatte die unangenehme Eigenschaft, sich auf jeden Bildschirm schalten zu können, auf den er wollte.
Manchmal war er mitten in der Nacht bei Carter aufgetaucht, um ein wenig zu plaudern. Im Gegensatz zu Menschen wurde Max nicht müde, solange Energie in den Systemen steckte. Er nutzte die Zweiwegbildschirm-Technik schamlos aus. Wenn er auf einem Monitor auftauchte, konnte man ihn nicht nur sehen und hören – er nahm genauso alles wahr, was sich vor der Mattscheibe abspielte. Normalerweise benutzten die Fernsehsender diese Technik, um das Zuschauerverhalten unbemerkt zu überprüfen. Max machte sie sich für seine Zwecke zunutze. Da sich kein Fernsehempfänger ausschalten ließ – in der elektronischen Gesellschaft, in der Edison Carter lebte, war eine 24stündige Bildberieselung einfach unumgänglich –, hatte der Reporter die Angewohnheit entwickelt, den Empfänger neben seinem Bett nachts mit einer Decke zu verhüllen. Das war zwar nicht ganz legal, aber wo kein Ankläger ist, gibt es auch keinen Richter. Und so hatte Carter wenigstens Ruhe vor Max’ überraschenden Blitzbesuchen. Das Bild ließ sich mit einer Decke zwar verhüllen, aber der Ton ließ sich nicht ganz abstellen. Und jetzt schaltete Carters Wohnungscomputer die Lautstärke hinauf und meldete sich mit wohltönender Stimme: »Guten Morgen, Mr. Carter. Das ist Ihr Computer-Weckruf. Ihr Frühstück wird gerade vorbereitet, und die Dusche wartet auf Sie.« Gähnend schob Carter die Kassen beiseite und richtete sich auf. Er setzte sich auf die Bettkante, zog die Decke vom Fernseher und stützte das Kinn in die Hände. Eher unterbewußt lauschte er den Worten Madame Melinas, die auf dem Bildschirm gerade das tägliche Satellitenhoroskop verkündete: »Satellit fünf steht in Konjunktion mit Netsat sieben… Skytel 489 ist in aufsteigender Linie. Das bedeutet: Wassermänner vermeiden Essen und Schützen vermeiden es, sich mit Menschen zu treffen.«
»Und Veg-veg-veg-vegetarier vermeiden es, Fleisch zu essen! Boooh! Das tun sie immer… haaah!« Madame Melina war übergangslos vom Bildschirm verschwunden. An ihrer Stelle lächelte nun eine Computergrafik, die ein idealisiertes Porträt Edison Carters darstellte. Außer dem Kopf sah man nur noch Hals und Schultern, ganz im Gegenteil zu Carters Gewohnheiten korrekt mit Hemd, Krawatte und Jackett bekleidet. Max Headroom war da. »Tffmm! GutenMorgenEd!« Max liebte es, mit seinem Sprech- und Stimmprogramm herumzuspielen. Momentan klang er wie eine alte Zeichentrickfilmfigur. »Guten Morgen, Max… du redest ja heute einen ganz schönen Unfug zusammen.« Carter rieb sich den Schlaf aus den Augen, stemmte sich mühsam in die Höhe und schlurfte Richtung Dusche. So früh am Tag war er noch nicht in der richtigen Stimmung für die lockeren Sprüche seines anderen Ichs. Vom Bildschirm aus konnte Max gerade noch ein Eckchen der Naßzelle sehen, aber das störte ihn nicht. Er plapperte munter drauflos und probierte dabei ein paar neue Grimassen aus seinem Mimik-Programm aus. »Ich habe die Nacht damit ver-ver-ver-verbracht, in deinen alten Träumen rumzuwühlen… die sollten verboten werden.« Zu diesen Worten paßte besonders gut die Miene des gütigen, weisen alten Freundes, der für alles Verständnis hat, ohne es zu billigen, fand Max. Schade, daß Edison unter der Dusche sein eindrucksvolles Mienenspiel nicht mitverfolgen konnte. Also mußte er schnell noch eins draufsetzen: »Uuuund… du schnarchst!« Der Vorwurf in Max’ Stimme war unüberhörbar. Carter beugte sich nach vorn und fummelte am Brausekopf herum, der für seinen Geschmack offensichtlich nicht richtig
eingestellt war. »Woher willst du das wissen?« rief er aus der Naßzelle. »Ich habe niemals mit dir geschlafen.« »Ich hatte mich in das Nachtprogramm eingeschaltet und dir ein bißchen zugehört«, gestand Max. »Ach, übrigens… warum hattest du eine Decke über den Monitor geworfen? Ich konnte nichts sehen!« Der Vorwurf war unüberhörbar. »Ich wollte dich nicht sehen!« gab Carter offen zu – um im nächsten Augenblick empört aufzuschreien: »Heee! Warum hat sich die Dusche ausgeschaltet?« Aus dem Brausekopf drang nicht mal mehr ein einziges Tröpfchen. »Siehst du? Wenn man die Te-te-tech… Te-technik unterdrückt, dann re-rebelliert sie!« Das Vergnügen des Computer-Menschen war unüberhörbar. Hatte er etwa den Service-Rechner von Edisons Wohnung manipuliert?
Mit seinen 210 Stockwerken war das Hochhaus des Senders 23 eins der imposantesten Gebäude der Stadt. In der 48. Etage herrschte die übliche Betriebsamkeit des frühen Morgens. Hier, in der großen Nachrichtenzentrale, wurden jetzt in den Vormittagsstunden die aktuellen Abendsendungen vorbereitet. Die Nachrichtenzentrale war eine technische Hexenküche, über unzählige Monitore und Satellitenleitungen mit allen Erdteilen verbunden. Von hier aus wurden auch die Einsätze der Reporter draußen koordiniert und gesteuert. Auch Edison Carters Controllerin Theora Jones hatte hier ihren Arbeitsplatz, von dem aus sie mit ihrem Reporter in dauernder Verbindung stand, sobald der draußen im Einsatz war. Aber ein Controller war mehr als nur eine Art unsichtbarer Schutzengel. Ein guter Controller besorgte die Informationen, aus denen der Reporter seine Story machte. Und Theora Jones war in ihrem Job die beste. Auch wenn sie
an diesem Morgen alles andere als pünktlich zur Arbeit erschien. Sie stürmte durch den Eingang und warf ihren Mantel schwungvoll über ihren Stuhl. »Entschuldigt meine Verspätung. Die Sicherheitstür war blockiert. Niemand konnte ins Gebäude… und auf den Straßen herrschte Chaos!« Vor allem die männlichen Kollegen lächelten Theora nachsichtig zu. Manch einer konnte seine bewundernden Blicke kaum verbergen. Denn die junge Frau erledigte nicht nur ihren Job unschlagbar gut – sie sah auch noch hinreißend aus. Doch schlagartig änderte sich die bis dahin so entspannte Situation. Von einem Augenblick auf den anderen sah man auf sämtlichen Bildschirmen in der Zentrale nur noch wild flimmernde Störstreifen. Aufgeregte Stimmen schallten durcheinander: »He, mein Monitor hat sich ausgeschaltet!« »Meiner auch! Was ist los?« »Meine Satellitenleitung ist zusammengebrochen! Kann mir irgend jemand helfen?« »Schalte doch auf die zweite Parabolantenne um!« Theora setzte sich an ihr Controllerpult. Doch so viele Knöpfe sie auch drückte, ihre Anlage funktionierte ebensowenig. »Mein Monitor ist auch tot«, stellte sie verblüfft fest. Ein derart totaler Ausfall der Geräte war eine völlig neue Erfahrung für Theora. Sie konnte sich nicht daran erinnern, während ihrer bisherigen Karriere schon einmal etwas Vergleichbares erlebt zu haben. »Fred, ich brauche eine Ersatzleitung«, rief eine total gefrustete Researcherin. »Tut mir leid, ich kann dir nicht helfen. Versuch es allein!«
»Ruft Murray!« schlug einer der Techniker vor. Als ob der Chefredakteur etwas an diesem Chaos ändern könnte! »Der Tag fängt ja sehr gut an!« stöhnte Theora.
Edison Carters Fernsehempfänger taten es zwar noch – aber das war auch schon so ziemlich alles. Der Reporter hatte seinen hageren Körper in einen Bademantel gehüllt und lehnte an der Küchenzeile. Der kleine Fernseher auf dem Sideboard zeigte irgendeinen kindischen Zeichentrickfilm. Die Tatsache, daß das sündhaft teure Revitalisierungsshampoo auf seinen schon recht ausgedünnten Haaren langsam kühl wurde und eintrocknete, trug nicht gerade dazu bei, seine an sich schon miese Morgenlaune zu heben. Der Inhalt seiner Kaffeetasse ebensowenig. Carter nippte daran und goß den Rest dann in die Spüle. »Ah, phantastisch! Genau das, was ich haben wollte… eine Tasse warmes Wasser!« Mit einem Zischen verschwand der Trickfilm vom Schirm, den nun Max Headroom ausfüllte. Erstaunt starrte er sein Vorbild aus Fleisch und Blut an: »Warum hast du Schlagsahne au-Schl-Schlagsahne auf deinem Kopf?« »Weil die Dusche nicht mehr funktioniert… und jetzt spielt auch noch die Kaffeemaschine verrückt!« Max setzte die schönste Oberlehrermiene auf, die er in seinem Speicher finden konnte: »Laß dir das eine Lehre sein! Wirf niemals wieder eine Decke über den Monitor! Mit der Technik darf man nicht rumspielen spielen spielen spielen!« »Wenn wir nicht mit der Technik rumspielen würden, mein vorlauter Freund in der Kiste, dann würdest du gar nicht existieren!«
Das saß! Max war empfindlich getroffen. Er plusterte die computergezeichneten Wangen auf: »Pffff! Aber ich funktioniere wenigstens!« Carter hatte die Faxen dicke. Er griff nach dem kleinen Modellauto, in das pfiffige Designer eine vollwertige Fernbedienung eingebaut hatten, und schaltete auf den Kanal der Konkurrenz. Bis Max hier auftauchen könnte, würde garantiert einige Zeit vergehen. Auf dem Schirm war nur ein kunstvolles grafisches Symbol zu sehen. So etwas machen sie immer, wenn sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer nicht durch das Bild einer attraktiven Ansagerin ablenken wollen, dachte Carter. Eine Frauenstimme verkündete: »Die Daten der Fernsehwahl in dieser Nacht wurden bereits ausgewertet. Sie haben noch drei Sekunden Zeit, um Ihre Stimme abzugeben.« Kaum war diese winzige Zeitspanne verstrichen, machte das Symbol auf dem Schirm einer Laufgrafik Platz, die die Ergebnisse der Wahl darstellte. Zwei breite Balken schoben sich von links nach rechts. Einer stellte die für Simon Peller abgegebenen Stimmen dar, der andere die für alle anderen Kandidaten. Während der letztere bei etwas über fünf Prozent stehenblieb, schob sich der andere quer über den ganzen Schirm. Jetzt verkündete eine Männerstimme (Frauen waren den Verantwortlichen des Senders für politische Ergebnisse offenbar nicht seriös genug): »Und hier sind die Ergebnisse. Simon Peller ist mit Mehrheit gewählt worden. Seine vorproduzierte Siegesrede können Sie in sieben Sekunden hören, und…« Ratsch! waren Bild und Ton verschwunden. Zurück blieb nur noch buntes Flimmern und nervtötendes Rauschen. Ärgerlich drückte Carter auf die Fernbedienung, doch egal welchen Kanal er anwählte, das Rauschen blieb.
»Na, mach schon…!« Nichts geschah. Wütend knallte er das Modellauto auf die Anrichte und stürmte hinüber zum Vidifon. Er wählte die Nummer seiner Redaktion. Theoras Gesicht erschien auf dem Schirm, aber sie schien den Anruf nicht zu bemerken. »Tag, Theora!« »Tag.« Sie sah hoch – und wirkte reichlich gestreßt für diese frühe Tageszeit. »Na, wenigstens das Bildtelefon funktioniert noch.« Carter kam gleich zur Sache: »Ich höre gerade, Peller hat es geschafft. Will Murray einen Bericht?« »Er ist noch nicht da. Hier spielt mal wieder alles verrückt.« In so einem Fall traf Carter die Entscheidung selber: »Also, dann mache ich ein Interview mit Peller. Schick mir sofort Martinez her!« »Okay.« Als Theora die Verbindung unterbrach, mußte sie unwillkürlich lächeln. Jetzt forderte Edison schon für den relativ kurzen Weg zu Pellers Wahlkampfzentrale Martinez und den Hubschrauber an. Na gut, er sollte ihn bekommen – aber wurde er etwa mit der Zeit faul und bequem?
2. Kapitel
Simon Peller wirkte geschniegelter als je zuvor. Der großgewachsene Politiker strahlte eine schon penetrante Selbstzufriedenheit aus. Allerdings hatte er jeden Grund dazu. Denn wenn man es mit noch nicht einmal vierzig Jahren so weit gebracht hatte wie er, konnte man sich gratulieren. Es gab jetzt schon Kreise, in denen Peller als ganz heißer Kandidat für die nächste Präsidentschaft gehandelt wurde. Seine politische Kernaussage war ein alter, aber immer noch treffender Slogan: »Sicherheit durch Recht und Ordnung.« Während Peller in Fragen des Rechts manchmal beide Augen zudrückte, nahm er es mit der Ordnung um so genauer. Das sah man schon an seinem tadellosen Äußeren: In seiner spärlichen Frisur tanzte nicht ein Härchen aus der Reihe, an seinem perfekt sitzenden Maßanzug war nicht eine Fluse zu entdecken. Er hielt ein Mokkatäßchen in der Hand, korrekt am Unterteller, wie es die Etikette vorschrieb. Zusammen mit seinem Wahlkampfmanager Ronald beobachtete er die Aufzeichnung seiner neusten Rede, die gleich ausgestrahlt werden sollte. Ronald war ein typischer Werbemensch. Mitte Zwanzig, einen Kopf kleiner als Peller, aber drahtig und alert. Ein echter Jungdynamiker. Er trug zwar ebenfalls Schlips und Kragen, hatte aber im Gegensatz zu seinem Chef die Jacke nicht korrekt zugeknöpft und vergrub seine Hände fast bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen. Er lugte aus listigen Schweinsäuglein in die Welt. Die Videoaufzeichnung zeigte Peller auf einem thronähnlichen Stuhl. Die Beleuchtung gab ihm etwas
Majestätisches, als er sagte: »Es ist eine Freude für mich, die Wahl zu akzeptieren. Und ich habe mich entschlossen…« »Anhalten!« Auf Pellers Kommando zog Ronald eine Fernbedienung aus der Jackentasche und fror das Videobild ein. Er schaute seinen Chef aufmerksam an. »Das ändern wir in… äh… ›mit aufrichtiger und tief empfundener Freude akzeptiere ich‹«, ordnete Peller an. »Das machen wir gleich, ja?« Peller nahm das Mokkatäßchen hoch und blies in das immer noch viel zu heiße Getränk. Er erschrak regelrecht, als sein Manager es wagte, ihm zu widersprechen: »Wen interessiert das noch, Simon? Sie sind doch längst gewählt worden. Niemand wird sich das anhören.« Tatsächlich hatte Peller vor lauter Überraschung so stark gepustet, daß einige Mokka-Tropfen über den Tassenrand auf den Unterteller schwappten. Sorgfältig kippte Peller sie in die Tasse zurück. Er ging zu seinem Schreibtisch und sah den jungen Mann mit einer Mischung aus Tadel und Bewunderung an: »Es gibt Augenblicke, Ronald, da ist Ihre Logik eine wahre Freude!« Der Summer der Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch gab Laute. Peller drückte den Einschaltknopf und hörte die Stimme seiner Sekretärin: »Edison Carter vom Sender 23!« »Ahh!« Peller nickte Ronald freudig zu. Der kleine Mann hatte ganz richtig vorausgesagt, daß sich die Medien nach dem Wahlsieg um Peller reißen würden. »Lassen Sie ihn bitte rein, Gabrielle«, tönte der Politiker so zuvorkommend, wie es ihm nur eben möglich war. Eine zweiflügelige Milchglastür wurde geöffnet, und der Reporter trat in das riesige, ganz in klassischem Stil gehaltene Büro. Doch die noble Umgebung konnte ihn nicht beeindrucken. Überhaupt schien er nicht so recht
hierherzupassen in seinem wadenlangen Mantel, den er über dem offenen Hemd trug. Krawatten waren Edison Carter zuwider. Die Funkkamera war noch nicht aktiviert, er trug sie lässig in der rechten Hand. »Ah, Mr. Carter! Willkommen, willkommen!« tönte Peller in übertriefender Freundlichkeit, obwohl er den Reporter nicht ausstehen konnte. Und das beruhte spätestens seit der RakingAffäre auf Gegenseitigkeit.* Peller deutete auf den kleinen Mann neben sich. »Sie kennen doch Ronald, meinen politischen Manager, nicht wahr?« »Aber ja, natürlich. Als ich ihn das letzte Mal sah, arbeitete er gerade für Ihren Gegner… und ziemlich erfolgreich, wenn ich mich recht erinnere.« Einen kurzen Moment nur wirkte Peller beleidigt. Ronald hingegen war die Betroffenheit anzusehen. Konnte oder wollte dieser dumme Mensch nicht sehen, daß Politik schon lange nichts mehr mit Idealen zu tun hatte? Politiker wurden verkauft wie jedes andere Produkt auch. Letztendlich kam es nur auf eine gelungene Werbekampagne an. Und wenn die großen Konzerne ihre Werbeagenturen laufend wechselten, war es doch nur billig, den Politikern das gleiche Recht zuzugestehen. Peller verlor nie die Kontrolle über sich. Er lächelte den Reporter säuerlich an. »Der zynische Mr. Carter. Sehr witzig, wirklich, sehr witzig. Ja, eine ehrliche Reportage erfordert Direktheit.« Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder, faltete die Hände vor der Brust und produzierte das feisteste Lächeln, zu dem er imstande war. »Also dann… wollen wir anfangen?«
*
Siehe Max Headroom Band I »Tödliche Spots«.
Murray hastete in die Nachrichtenzentrale, in der die Technik jetzt wieder funktionierte. Der glatzköpfige Chefredakteur trug heute ausnahmsweise Anzug, weil er nachher noch zu einer Besprechung bei Ben Cheviot, dem Vorstandsvorsitzenden von Sender 23, geladen war. Allerdings hing die Krawatte jetzt schon auf halbmast. Wenn Murray nicht seine alte Weste (in der er auf die Welt gekommen war, wie böse Zungen behaupteten) tragen durfte, fühlte er sich einfach nicht wohl. Er ging schnurstracks zu Theoras Arbeitsplatz. Die Controllerin hatte jetzt das Bild von Carters Funkkamera auf ihrem Monitor. Es zeigte Simon Peller im Sessel hinter seinem Schreibtisch. Joel, einer der Researcher, hielt sich neben Theora bereit, um bei eventuellen neuen Störungen technische Hilfe zu leisten. »Ich bin eine Ewigkeit in diesem verdammten Expreßlift steckengeblieben«, fluchte Murray. Wenn er Anzug tragen mußte, war er immer mürrisch. »Was zum Teufel ist hier los?« »Edison macht gerade ein Live-Interview mit Peller«, sagte Theora. »Das dürfte gut werden«, vermutete der Chefredakteur. »Edison haßt diesen Typ nämlich.« Theora sah ihren Chef ziemlich vorwurfsvoll an. »Guten Morgen!« »Guten Morgen.« Murray hatte jetzt keine Zeit für irgendwelche Förmlichkeiten. Er konzentrierte sich lieber auf das, was sein bester Mann aus Pellers Büro herüberfunkte. Carter machte gerade seine Ansage: »Guten Tag, Ladies und Gentlemen, hier ist Edison Carter, live und direkt auf Sender 23. Ich spreche jetzt gerade mit Simon Peller, der bei der Wahl all seine Gegner aus dem Felde geschlagen hat.« Der Senator war ein politischer Vollprofi. Er brauchte keine Stichworte, um eine Rede vom Stapel zu lassen.
»Ich bin aufrichtig überrascht und erfreut, daß die Zuschauer mich zu ihrem Repräsentanten gewählt haben.« Seine Hände führten die kleinen, kontrollierten Bewegungen aus, die er unter Ronalds Anleitung so lange vor dem Spiegel geübt hatte. Sie wirkten vertrauenerweckend und kompetenzvermittelnd. Das zumindest hatten teuer bezahlte Psychologen herausgefunden. »Deshalb bewundere ich auch unser computerisiertes Wahlsystem«, fuhr Peller fort. »Es erlaubt den Wählern, meine Arbeit ständig und konsequent… zu überprüfen.« »Vorausgesetzt, die Zuschauer haben ein Interesse daran, Ihre Arbeit zu überprüfen«, hakte der Reporter nach. Theora Jones blickte deutlich gelangweilt auf ihren Kontrollmonitor. Dieses Geschwafel der Politiker, die immer mit möglichst vielen Worten nichts sagten, ödete sie an. Murray hinter ihr hatte den Kern des Problems erfaßt. »Es wäre gut, wenn die Leute sich wirklich dafür interessierten, was Leute wie Peller machen!« Der Senator ließ sich auch durch die aggressivste Frage nicht aus der Ruhe bringen. »Wer wird denn so zynisch sein, Mr. Carter? Erst der Computer macht eine wirkliche Demokratie möglich.« Er hob den rechten Unterarm und ertastete mit den Fingern der Linken seinen Puls. »Wir alle haben ständig die Hand am Puls der öffentlichen Meinung… und so gibt es ein dauerndes Feedback zwischen den Zuschauern und dem Sender, für den ich auch verantwortlich bin.« Rrratsch! Von einem Augenblick auf den nächsten war wieder auf sämtlichen Monitoren der Zentrale nichts als buntes Geflimmer. »Schon wieder zusammengebrochen!« rief eine Technikerin. »Was ist nur los?«
»Ich habe keine Leitung mehr! Was sollen wir machen?« meldete sich ein Researcher. Es war das reinste Chaos. Jeder rief nach technischer Hilfe, die keiner gewähren konnte. Im großen Sitzungssaal in der 148. Etage des 23er Towers hatte der versammelte Vorstand wohlgefällig das Interview mit Peller verfolgt. Als die Leitungen zusammenbrachen, wurden die Direktoren bleich. »Wir müssen sofort etwas unternehmen, Ben!« rief Edwards, der natürlich gleich wußte, was Sache war – auch wenn er nicht einmal im Ansatz eine Lösung parat hatte. Ben Cheviot, der grauhaarige Vorstandsvorsitzende des mächtigen Senders 23, griff zu dem altmodischen Telefonhörer, den er so sehr liebte. »Hier spricht Cheviot. Was zum Donner ist passiert?« Aber niemand antwortete ihm. Offenbar war auch das interne Kommunikationsnetz zusammengebrochen.
»Ersatzprogramm starten.« Murray war schon viel zu lange beim Fernsehen, um sich noch durch irgendeine technische Panne aus der Ruhe bringen zu lassen. Theora gab ihrem Computer die entsprechenden Befehle, doch nichts geschah. »Es funktioniert nicht. Alles tot, Murray!« »Waaas?« Langsam mußte der Chefredakteur doch um seine Fassung kämpfen. Die Controllerin verzog verzweifelt das Gesicht. »Ich verstehe es nicht.« Noch ein kurzer Check, dann die niederschmetternde Erkenntnis: »Sämtliche Computerprogramme sind abgestürzt… sogar die Betriebssysteme. Nichts geht mehr.« Mit einer Mischung aus Verblüffung und Unglauben sah
Edison Carter seine Kamera an. Bei einem technisch so einfach
zu realisierenden Interview war ihm so etwas noch nicht passiert. Aber jetzt mußte er wohl oder übel zugeben: »Ich fürchte, die Funkstrecke ist zusammengebrochen.« »Ach, einfach so?« Der beißende Spott in der Stimme von Pellers Manager war nicht zu überhören. »Nicht so aggressiv, Ronald«, beschwichtigte der Senator. »Mr. Carter macht nur seinen gutbezahlten Job.« Er breitete die Hände aus wie ein Prediger und gab sich so liebenswürdig wie bei einem Besuch im Heim für gefallene Mütter. »Der äußere Anschein einer Kontroverse ist nun mal unentbehrlich für das Funktionieren einer Elektronik-Demokratie. Habe ich recht, Edison?« Carter zog die Augenbrauen zusammen, aber der lächelnde Peller tat, als fiele ihm das nicht auf. »Ich darf Sie doch Edison nennen?« »Nein.« In der Stimme des Reporters war keine Spur von Freundlichkeit. »Und es geht hier auch nicht um einen äußeren Anschein… Mister Peller.« Der Politiker kämpfte sichtbar um seine Fassung, aber seine in unzähligen Rededuellen gewonnene professionelle Freundlichkeit gewann fast augenblicklich wieder die Oberhand. »Also gut«, lächelte er, »verschieben wir das Interview auf ein andermal, wenn Ihre Ausrüstung besser funktioniert.« Wortlos drehte Carter sich um. Er verließ das luxuriöse Büro ohne jeden Gruß. Kaum war er draußen, legte Ronald vertraulich den Arm über die hohe Sessellehne seines Chefs, beugte sich zu ihm herab und flüsterte im Tonfall des Verschwörers: »Er ist mir etwas zu schlau und etwas zu aggressiv.« »Er ist ein Störenfried.« Peller griff nach seinem Mokkatäßchen und nahm einen Schluck. Das Gebräu war kalt geworden. Angewidert verzog er das Gesicht. »Wenn Carter so
weitermacht, wird sich Cheviot um ihn kümmern müssen. Gibt es sonst Fortschritte?« »Wir haben einige Nichtexistenzen verhaftet, wissen aber nicht, wie viele es noch gibt.« »Ich habe eine Vorliebe für geregelte Verhältnisse, Ronald. Die finde ich sehr beruhigend.« Peller griff nach einer Reihe von Schreibstiften, die in Reih und Glied vor ihm auf dem Tisch lagen. Sorgfältig nahm er jeden einzelnen von ihnen auf. »Solange diese Nichtexistenzen auf freiem Fuß sind, da… ist alles unordentlich.« Er steckte die Stifte in ein dafür vorgesehenes Kristallgefäß auf seinem Schreibtisch, der durch diese Tat noch aufgeräumter war als bisher. »Na ja, wenn ich es schaffe, alle Nichtexistenzen festzusetzen, dann… äh… wird die Stadt vielleicht ein Hologramm zu meinem Andenken errichten. Meinen Sie nicht auch, Ronald?« Der Manager beeilte sich, mit begeistertem Kopfnicken seine Zustimmung auszudrücken. Schließlich wurde er auch dafür bezahlt.
Das Direktorium des Senders 23 war äußerst beunruhigt. Plötzlich verlief nichts mehr in geordneten Bahnen. Die Monitore waren noch immer ausnahmslos gestört, und niemand Wußte, wieso. Direktor Ashwells Blutdruck hatte sich in den letzten Minuten merklich erhöht. »Keiner hat eine Ahnung, was da vorgeht«, tönte er mit Weltuntergangsstimme. »Ich bin zutiefst beunruhigt.« »Beunruhigt? Wir verlieren Millionen!« Julia Formby, eine der beiden Frauen in diesem siebenköpfigen Gremium, bewies einmal mehr, weshalb sie nach dem Vorstandsvorsitzenden die einflußreichste Persönlichkeit in diesem exklusiven Zirkel war.
Beinahe augenblicklich erfaßte ihr messerscharfer Verstand die finanziellen Aspekte der Ereignisse. »Die anderen Sender sind ebenfalls betroffen! Sehen Sie nur!« Direktor Edwards deutete auf den Wandmonitor, mit dessen Hilfe der Vorstand regelmäßig die Einschaltquoten überprüfte. Im Augenblick hatte niemand im ganzen Land ein Bild. Das für unmöglich gehaltene war Wirklichkeit geworden: Es gab null Zuschauer! Ashwell wurde langsam panisch: »Die Banken haben alle Transaktionen eingestellt. Ihre Computer sind auch ausgefallen.« »Ist das ein Energieproblem?« Ben Cheviot, der grauhaarige, auf den ersten Blick so gutmütig wirkende Vorstandsvorsitzende des Senders, versuchte, die Diskussion zu versachlichen. Daß er ebenfalls nervös geworden war, merkte man nur daran, daß er seine Pfeife hatte erkalten lassen. »Das ist ja das merkwürdige«, stellte Edwards fest. »Seit Sonnenaufgang gibt es Computerausfälle, obwohl reichlich Energie vorhanden ist.« »Mit Energie ist es wie mit der Macht. Man verliert sie plötzlich.« Ashwell mußte mal wieder seine Bildung unter Beweis stellen, indem er eins der berühmtesten Zitate des noch berühmteren Medienexperten und Fachmannes für Machtfragen, A. D. Schoepps, in die Diskussion einbrachte. Jetzt zeigte der Wandmonitor doch noch ein Bild. Aber es war nur eine Vidifonverbindung mit Simon Pellers Hauptquartier. Wenigstens die Bildtelefone funktionierten noch. Der Senator sah alles andere als jovial aus, als Cheviot ihn begrüßte: »Ah, Simon!« »Was ist los, Ben? Meine Ansprache soll in Kürze ausgestrahlt werden, und Sie als mein Sender sind für die Übertragung verantwortlich!«
»Wir können nicht übertragen«, stellte Cheviot sachlich fest. Das konnte Formby nicht so im Raum stehen lassen. »Die Lage wird kritisch, wenn wir nicht handeln.« »Die Tumulte auf den Straßen werden größer«, stimmte Edwards zu. »Wir sollten ersatzweise Videorecorder ausgeben.« Vom Bildschirm aus verfolgte Peller die fruchtlose Diskussion mit wachsender Unzufriedenheit. Ihn interessierte nur eine Frage: »Wie sind meine Einschaltquoten?« »Unsere Einschaltquoten«, verbesserte ihn Cheviot. »Es geht um meine Wählerschaft, meine Stimmen! Immerhin die Kleinigkeit von 296 Millionen!« »Wir alle wissen, daß die Stimmen vom Computer hochgerechnet wurden«, beschwichtigte Cheviot. Da die Wahlbeteiligung seit vielen Jahren konstant zurückging, errechneten die Computer, wieviel Stimmen die Kandidaten bekommen hätten, wenn alle Berechtigten an der Wahl teilgenommen hätten. Das war verläßlicher. »Ich frage mich, ob vielleicht Ihre Gegner Ihren Sieg sabotieren.« Unwirsch winkte Peller ab. »Natürlich nicht! Wir haben das Wahlergebnis bereits vor Wochen ausgehandelt!« »Gott, was für eine Farce!« Cheviot wäre beinahe die Pfeife aus dem Mundwinkel gefallen. Könnte es sein, daß der Wahlausgang überhaupt nicht mehr von den Wählerstimmen, sondern nur noch von den Mauscheleien der Politiker untereinander bestimmt wurde? Peller merkte, daß er zuviel gesagt hatte. »Kommen Sie, Ben«, beschwichtigte er, »Sie verbreiten Ihre Nachrichten doch auch so, wie es Ihnen paßt. Wen interessiert das schon?« »Mich interessiert’s! Weil es mir ausschließlich um das Wohl der Öffentlichkeit geht.«
Jetzt hatte der Politiker den Fernsehmann da, wo er ihn haben wollte. »Na gut! Aber im Moment sind Ihr Wohl, mein Wohl und das Wohl der Öffentlichkeit ein und dasselbe. Wir müssen send…« Rrratsch! Jetzt hatte es auch noch die Vidifonleitung erwischt. Wildes Geflimmer ersetzte Pellers Gesicht. Beinahe eine angenehme Abwechslung. Die Direktoren sahen das natürlich anders. Langsam erfaßte Ashwells Panik auch die anderen. »Ben, Sie müssen sofort etwas unternehmen!« »So geht es nicht weiter!« »Machen Sie etwas?« Ein toller Vorschlag, der da von Miss McFinch kam. Die zweite Frau im Vorstand hatte im Gegensatz zu Julia Formby als einzige Qualifikation ein attraktives Äußeres vorzuweisen – und eine gewisse Bereitwilligkeit den richtigen Herren gegenüber. Cheviot beschloß, die inkompetente Dame früher oder später aus dem Vorstand zu entfernen. Aber jetzt waren andere Dinge vorrangig. »Bitte Ruhe!« Wenigstens sein altmodisches Telefon funktionierte noch. »Geben Sie mir die Kontrolle.«
3. Kapitel
Im geheimen dreizehnten Stockwerk des 23er Towers, von dessen Existenz nur wenige Menschen wußten, lag das Reich des Chefs der Abteilung Forschung und Entwicklung. Bryce Lynch war einer der bestbezahlten Männer in der Stadt. Obwohl »Mann« in diesem Zusammenhang eigentlich das falsche Wort war. Der milchgesichtige Computerfreak war noch ein richtiges Kind. Eine Art Einstein der Hacker: genial kreativ beim Entwickeln neuartiger Programme und Systeme. Für Bryce Lynch war das Leben ein einziges großes Computerspiel. Er liebte Computerspiele. Denn er hatte noch nie eins verloren. Oder vielleicht doch. Denn die Kontrolle über seine größte Schöpfung, die künstliche Intelligenz namens Max Headroom, war ihm völlig entglitten. Andererseits war das vorhersehbar und sogar eine wichtige Voraussetzung für Bryces Erfolg: Max wäre keine echte Intelligenz gewesen, hätte er von anderen Befehle angenommen. Edison Carter, der Mann, aus dessen Bewußtseinsinhalten Max erschaffen worden war, hatte sich im Lauf der letzten Wochen zu einem echten Freund des jungen Genies entwickelt. Jetzt saß er neben Bryce und schlürfte ein Glas Waldmeisterlimonade, die der Junge nicht so sehr wegen ihres faden Geschmacks, sondern vor allem wegen der giftgrünen Farbe liebte. Bryce hatte ihn eingeladen, sich seine neuste Entwicklung anzusehen. »Ich nenne das Datenmodifizierung«, sagte der Junge mit unverkennbarem Stolz in der Stimme. »Phantastisch!« Und Carter meinte auch, was er sagte.
Die beiden saßen vor dem Hauptcomputer der elektronischen Hexenküche, in der Bryce seine neusten Erfindungen auskochte. Sie sahen gebannt auf den Monitor, auf dem die Videoaufzeichnung eines alten Historienfilms lief. Es war eins der vielen Epen, die die sagenhafte Schlacht um Troja zum Thema hatten. Die Griechen zogen gerade unter großen Mühen ihr gigantisches Holzpferd vor die Tore der belagerten Stadt. Bryce drückte ein paar Knöpfe an seinem Computer, und die schwitzenden Filmkomparsen wurden durch einen schweren Traktor ersetzt, der das Holzpferd jetzt weiterschleppte. »Wollen Sie das Programm haben? Ich kann’s Ihnen auf Ihren Privatcomputer überspielen«, bot der Junge an. »Ja, gern.« Carter starrte fasziniert auf den Bildschirm. Dieser kleine Teufelskerl war doch immer wieder für neue Überraschungen gut! »Wie hast du das geschafft?« »Datenmodifizierung ist nichts Neues. Das wurde schon in den Anfängen der Computer benutzt. Ich habe das ganze Verfahren nur etwas perfektioniert… jetzt funktioniert’s richtig.« Bryce lehnte sich zufrieden zurück und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er verzog das Gesicht mit Kennermiene. Schmeckte nicht schlecht. Bei Limonaden war er Experte. »Verblüffend! Darf ich mal?« Carter beugte sich zum Keyboard vor und gab ein paar Daten ein. Im nächsten Moment war das hölzerne Pferd, das jetzt im Heerlager der Griechen stand, verschwunden – ersetzt durch ein ebenso überdimensionales Schaf. Der Reporter grinste. »Na bitte. Schon habe ich die Geschichte etwas verändert. Das ist das Trojanische Schaf. Mmmäääh!« Bryce sah den Erwachsenen verblüfft an. Dann versuchte er sich selbst mal als Blöker. »Bböööhh!« Das machte Spaß!
»Edison?« Theora Jones hatte das Vidifon aktiviert. Verblüfft starrte sie auf den Mann und den Jungen, die sie vom Schirm aus anblökten. Sie hatte zwar gewußt, daß ihr Reporter bei Bryce war, aber eigentlich war sie davon ausgegangen, daß die beiden arbeiteten… »Edison!« rief sie noch einmal. Doch wieder kam nur zweifaches Blöken zur Antwort. Murray beugte sich über Theoras Schultern, um zu sehen, was da auf dem Schirm vor sich ging. »Idioten!« stellte er kategorisch fest. »Edison, es ist dringend«, drängte Theora. »Eine Sondersendung!« Schlagartig wurde der Reporter ernst. Er sprang auf und lief aus Bryces Labor. »Vergiß nicht, mir das Programm zu überspielen«, rief er dem Jungen zu. »Mmäähh!« war die einzige Antwort. Auf den Straßen herrschte Aufruhr. Die Menschen, die es gewohnt waren, an jeder Ecke die flimmernden Bilder der öffentlichen Fernseher betrachten zu können, waren völlig verstört, weil weder die Empfänger in den Wohnungen noch die auf den Straßen irgendwelche Programme zeigten. Ein paar clevere Geschäftsleute hatten ihre Videorecorder auf Handwagen gepackt, um die sich jetzt die Leute drängelten. Wenn es sich auch um Konserven handelte – hier konnte man wenigstens etwas sehen. »Bilder! Bei mir gibt es Bilder!« Leider war das Vergnügen, irgend etwas betrachten zu können, alles andere als billig. Janie Crane, die ebenso gutaussehende wie risikofreudige Nachwuchsreporterin von Sender 23, fing das Chaos auf den Straßen mit ihrer Kamera ein. Kühl und professionell sprach sie ihren Kommentar: »Ohne die regelmäßigen Fernsehübertragungen sind die Menschen verzweifelt. Sie laufen zu Tausenden durch die Straßen und versuchen, auf dem
schwarzen Markt Videocassetten zu kaufen. Außerdem kursiert eine merkwürdige Geschichte unter den Leuten…« Janie richtete ihre Kamera nun auf einen der vielen alten Wohnblocks. »Im Morgengrauen hat die Metro-Polizei in diesem Gebäude ein junges Mädchen verhaftet. Niemand kennt die Gründe für diese überraschende Aktion. Ich gehe jetzt in das Gebäude, um herauszufinden, wer dieses junge Mädchen ist. Hier spricht Janie Crane vom Sender 23.« Sie schaltete ihre Kamera ab und schob sich zwischen den Menschenmassen auf der Straße durch. Als sie den Eingang erreicht hatte, entdeckte sie Edison Carter, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er sah sich suchend um. »Hallo, Edison! Edison, hier bin ich!« Sie winkte ihm zu, und der erfahrene Kollege kam zu ihr herüber. Janie betrat den dunklen Hausflur. »Kommen Sie mit!« Am Fuß des Treppenhauses stand noch immer ein MetroPolizist Wache. Seine Zentrale hatte ihm den Besuch der Reporter angekündigt. Er bedeutete den beiden, ihm zu folgen. Der Lärmpegel im Treppenhaus war unerträglich. Die über hundert Mieter, die in dem Bau zusammengepfercht lebten, brüllten nach Fernsehprogrammen. Ohne ihre tägliche Bilddosis konnten die meisten Menschen nicht mehr leben. Der Polizist, Janie und Carter stiegen über die Reste der eingeschlagenen Tür ins Penthouse-Apartment auf dem Dach. Der Uniformierte setzte seinen Helm ab. Carter sah sich forschend um. »Ein ganz normales Apartment. Worum geht’s eigentlich?« »Die verhaftete Frau hat hier gewohnt… mehr weiß ich auch nicht«, sagte Janie. Sie blickte zu dem Polizisten, der wahllos einige der Wäschestücke in Brendas noch immer geöffnetem
Koffer musterte. »So, wie es hier aussieht, wollte sie wohl ganz schnell verreisen!« Der Metro-Bulle, der sah, daß beide Kameras ausgeschaltet waren, ließ sich zu einer Erklärung hinreißen: »Dieser Peller läßt alle Nichtexistenzen verhaften. Er will einfach nicht, daß Menschen frei herumlaufen, die nicht vom Computer erfaßt worden sind.« Das Fernsehgerät in der Wohnung war offenbar eins der wenigen in der Stadt, das noch funktionierte. Es zeigte eine Sumo-Übertragung aus Japan. Janie sah sich den Empfänger näher an. Wozu waren die Knöpfe in der Tischplatte vor dem Gerät gut? »Edison…« Janie drückte wahllos auf einen der Knöpfe, und der Bildschirm wurde dunkel. »Ein Ausschaltknopf!« Das Wort platzte wie eine Bombe im Raum. Wortlos starrte der Reporter auf den Knopf, der schon vor vielen Jahren durch Gesetzesbeschluß abgeschafft worden war. Der Polizist fing sich als erster wieder. »Dafür gibt’s mehrere Jahre Gefängnis! Ausschaltknöpfe sind illegal!« Und zwar aus gutem Grund, rief Carter sich ins Gedächtnis. Wie sollte eine elektronische Gesellschaft funktionieren, wenn der Bürger die Möglichkeit hatte, sich aus der großen elektronischen Gemeinschaft auszukoppeln? Daß er mit der Decke über seinem Monitor des Nachts praktisch das gleiche tat, wurde ihm in diesem Moment nicht bewußt. Janie drückte einen der anderen Knöpfe, und das Bild flammte wieder auf. Unglaublich! Die Sumo-Ringer kehrten nur für wenige Sekunden auf den Schirm zurück. Übergangslos verschwand das Bild. Jetzt zeigte die Mattscheibe ein ebenmäßiges Blau, auf dem weißen Computerbuchstaben erschienen. »Was ist denn das?« fragte Edison überrascht.
Eine mechanisch klirrende Stimme las den geschriebenen Text gleichzeitig vor, denn seit der Einführung der totalen Fernsehkultur gab es nur noch wenige Menschen, die richtig lesen und schreiben konnten. »Achtung, das ist eine Mitteilung an die Behörden… und ein Ultimatum! Sie haben noch bis Sonnenuntergang Zeit, die verhafteten Nichtexistenzen freizulassen. Ich wiederhole: Sie haben noch bis Sonnenuntergang Zeit, alle inhaftierten Nichtexistenzen freizulassen.« »Um Himmels willen, was ist das?« hauchte Janie. Carter mußte sich setzen. Er hatte den Ernst der Lage erfaßt. »Viel wichtiger ist die Frage… wer ist das?«
Die unheimliche Botschaft war auf jedem Fernsehschirm im ganzen Land. Theora und Murray in der Nachrichtenzentrale bekamen sie ebenso mit wie die versammelten Direktoren hundert Stockwerke über ihnen. »Was in aller Welt soll das?« fragte Cheviot, aber diese Frage konnte ihm keiner beantworten. Immer neue Buchstaben liefen über den großen Wandmonitor, und die unpersönliche Stimme sprach weiter: »Die heutigen Ausfälle waren nur Tests. Wir können Ihre gesamten Systeme zusammenbrechen lassen.« Cheviot faßte sich nervös ans Kinn. Hier ging etwas vor, das sich seinem Begriffsvermögen entzog. »Der Grund für das alles sind die Aktionen von Simon Peller«, fuhr die Stimme fort. Wie auf Kommando öffnete sich die Tür des Konferenzsaals, und der Senator trat ein. Jovial lächelnd wie immer, die Rechte zum freundlichen Winken erhoben. Als er realisierte, was die Worte auf dem Monitor bedeuteten, fiel schlagartig alle Fröhlichkeit von ihm ab.
»Lassen Sie die Nichtexistenzen frei, oder alle Computer in dieser Stadt werden mit einem Schlag vernichtet! Sie haben Zeit bis Sonnenuntergang.« Die Stimme verstummte, doch die Computerschrift blieb weiter auf dem Schirm. Das schicksalhafte Wort »Sonnenuntergang« blinkte in unheilverkündendem Rhythmus. »Bis Sonnenuntergang! Großer Gott, wer hat da eben gesprochen?« »Fragen Sie nicht mich, Ashwell«, schnaufte Cheviot. »Ich bin kein Hellseher… Peller?« Der Senator machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das sind diese blöden Nichtexistenzen. Und ich denke nicht daran, mit Menschen zu verhandeln, die amtlich nicht existieren!« »Aber denken Sie an die Folgen! Wer sind die Nichtexistenzen?« Edwards’ Wutausbruch kam für die anderen ziemlich überraschend. Schließlich bewegte sich der Mann gewöhnlich nur im Kriechgang fort. »Nichtexistenzen sind Menschen, die es auf irgendeine Weise geschafft haben, ihre Daten aus dem Zentralcomputer zu löschen«, erläuterte Peller bereitwillig. »Verbrecherische Computer-Experten.« »Computer-Experten? Um Gottes willen!« Formby wurde blaß. »Die könnten unser ganzes System lahmlegen. Ohne Fernsehen ist diese Stadt nicht mehr regierbar!« Irgendwo draußen in den Randgebieten stand ein alter rosafarbener Bus mit vielen Antennen auf dem Dach. Zwischen all den Kuriositäten hier draußen fiel das seltsame Fahrzeug nicht auf. Es war die Zentrale von Bigtime Television – dem heißesten Piratensender der Slums. Programmdirektor, Redakteur, Moderator und Techniker in einer Person war Blank Reg, ein ziemlich in die Jahre gekommener Altpunker. Auch Reg hatte seine Daten längst
aus dem Zentralcomputer gelöscht, seine Akte dort war blank – daher sein seltsamer Spitzname. Dominique, eine ehemalige Schönheitskönigin, hatte sich vor vielen Jahren aus unerfindlichen Gründen in den verlotterten Kerl verliebt und war mit ihm um die ganze Welt getingelt. Heute kümmerte sie sich um die Geschäftsführung von Bigtime TV. Reg betonte zwar immer, daß sie der Boß war – immerhin hatte er die Sendeanlagen nur mit ihrem Geld finanzieren können – aber trotzdem wurde meist gemacht, was er für richtig hielt. Regs blondgefärbter Irokesenskalp war in letzter Zeit recht dünn geworden. Ob das an den billigen Konserven lag, von denen er sich fast ausschließlich ernährte? Während er ein vorproduziertes Band mit einigen Werbespots und uralten Rock-Videos über den Sender gehen ließ, löffelte er mißtrauisch in einer dicklichen Suppe herum, in der große Nudelbuchstaben schwammen. Erst als sein alter Hund Wolf einen Löffel mit Behagen heruntergeschlürft hatte, traute sich Reg selbst an die Suppe. Was dem treuen Wolf mundete, konnte auch für ihn nicht schlecht sein. Dominique kam aus dem vorderen Teil des Busses nach hinten in den Technikraum. In der rechten Hand hielt sie ihren pinkfarbenen Staubwedel, in der linken die unendlich lange Spitze, mit der sie ihre Zigaretten rauchte – immer ganz große Dame. Ihr engsitzendes blaues Kostüm ließ erkennen, daß sie noch eine verdammt knackige Figur hatte. »Reg… ich habe nachgedacht.« »Das ist sehr lobenswert, Dominique. Typische Führungskraft.« Verwundert starrte sie auf seinen Teller (daß er vom Teller aß anstatt direkt aus der Dose, war schon ein gewaltiger Fortschritt): »Sag mal… versuchst du, deinem Magen mit diesen Nudeln das Lesen beizubringen?«
»Weißt du… ich glaube fast, ich liebe dich.« »Sicher so wie eine Schwester.« Apart setzte sie sich neben ihn auf die Tischkante. »Nein, ich habe was gegen Inzest.« Reg sprach immer aus, was er dachte. Für einen Punker gehörte sich das so. Auch für einen Punker, der langsam aufs Rentenalter zuging. »Hör mal zu.« Dominique wurde ernst. »Also, wenn diese Drohungen im Fernsehen kein Bluff sind, dann wird es doch bald kein Fernsehen mehr geben.« »Kein Fernsehen… genau. Falls diese Jungs ihren Job wirklich beherrschen.« »Wir haben doch keinen Computer, oder?« »Natürlich nicht. Computer wissen zuviel.« »Begreifst du nicht? Das könnte unsere Chance sein!« Dominique war Feuer und Flamme für ihre Idee. »Wenn die alle Computer in die Luft jagen… dann wären wir die einzige Station, die noch senden kann!« »Die jagen überhaupt nichts in die Luft… aber trotzdem, Dominique, das war eine sehr gute Schlußfolgerung!« Anerkennend tätschelte er ihr das Knie. »Reg…« Die Frau klang plötzlich sehr mißtrauisch. »Was weißt du über die Angelegenheit?« »Genug.« Dominique sah ihm an der Nasenspitze an, daß er momentan nicht mehr verraten würde. »Genug, um ein paar Freunde aus dem Knast zu holen und einen kleinen Nebenverdienst für uns rauszuschlagen.« Er stand entschlossen auf. »Wir müssen anfangen, wir haben noch viel zu erledigen.«
Im Hochhaus des Senders 23 machte sich langsam, aber sicher Panikstimmung breit. Cheviot war hinab in die dreizehnte Etage geeilt, um sich Rat und Hilfe bei seinem Forschungs
und Entwicklungschef zu holen. Doch Bryce, der nicht einmal protestierte, daß er gerade beschäftigt wäre, hatte auch keine Lösungen anzubieten. Cheviot rief Murray in die Redaktion. Wenigstens funktionierten die hausinternen Bildleitungen noch! »Wer die Leute auch sind, wir müssen sie ausfindig machen und erfahren, was sie wollen. Vielleicht können wir verhandeln«, hoffte der Vorstandsvorsitzende. »Setzen Sie Carter darauf an, Murray. Bryce wird Sie mit dem Computer unterstützen.« »Ja, Sir.« Murray tauschte einen kurzen Blick mit Theora, die neben ihm stand. Wie sollte Carter in so kurzer Zeit etwas über derart geschickte Leute herausfinden? »Vielleicht werden die aktiv, bevor wir etwas unternehmen können«, mutmaßte der Chefredakteur. »Was schlagen Sie also vor, Murray?« »Das Ziel verschleiern… eine Ersatzkontrolle da einrichten, wo sie niemand vermutet.« »Wir könnten das Hauptterminal in Edisons Apartment verlegen«, meinte Bryce, der vom Bildschirm aus nicht sehen konnte, daß Carter gerade die Zentrale betrat. »Ihr seid herzlich willkommen«, sagte der Reporter lakonisch. »Aber mein System ist auch nicht störungsfrei. Heute morgen fiel die Dusche aus.« Theora schaute ihn verwundert an. »Ich war voller Seifenschaum!« »Oooch…!« Vorwurfsvoll drehte sich Murray zu dem Reporter um. Was sollten die dummen Scherze während dieser ernsten Lage? Aber Carter hatte es heute drauf. »Ein schlimmes Erlebnis, Murray«, versicherte er todernst. »Hiachiach!« Bryce kicherte wie eine Hyäne.
»Sie haben sicher sehr darunter gelitten, Carter!« Cheviot wurde dieses alberne Spiel langsam zu bunt. »Wie auch immer, wir können es nicht riskieren, daß unser Sendersystem lahmgelegt wird. Das wäre geradezu ein Alptraum. Uns bleibt nur noch wenig Zeit. Also fangen Sie sofort an!«
»Kaffee einfüllen. Kaffee einfüllen. Kaffee einfüllen«, verlangte eine angenehm weibliche Automatenstimme ein ums andere Mal. Wenigstens funktionierte die Haushaltselektronik in Carters Apartment wieder. Zu gut. »Ach, sei ruhig«, maulte der Reporter. Doch erst, als er der Kaffeemaschine einen kräftigen Klaps verpaßte, gab sie Ruhe. »Kaffee ist fertig. Wollt ihr?« »Hmmnja.« Theora sah Bryce bewundernd dabei zu, wie er die letzten Handgriffe an die Installation des Hauptterminals legte. Das, womit zwei Techniker in der Regel einen ganzen Tag lang beschäftigt waren, hatte er in einer knappen Stunde erledigt. »An der Universität hat man uns gesagt, daß Koffein die Konzentration lähmt«, erklärte Bryce. »An welcher Universität?« »UCW… Universität der Computerwissenschaften. Da war ich mit zehn Jahren.« »Mit zehn!« Theora konnte es nicht fassen. »Was hat deine Familie dazu gesagt?« »Oh, man war sehr stolz auf mich.« »Das heißt aber, du hast deine Familie sehr früh verlassen.« Bryce senkte den Kopf. »Ich hätte mit neun anfangen sollen… ich war’n Spätzünder.« Eine Tatsache, die ihm offensichtlich sehr peinlich war. »Hier ist dein Kaffee.« Carter drückte Theora eine Tasse in die Hand. Die beiden sahen sich groß an. Bryce meinte es
tatsächlich ernst. In seinen Augen war es ein glattes Versagen, daß er es »erst« mit zehn Jahren an der Uni geschafft hatte. Bryce nahm auch eine Tasse des dampfenden Gebräus. Beiläufig erwähnte der Reporter: »Da fällt mir ein, heute morgen ist die Kaffeemaschine gleichzeitig mit der Dusche ausgefallen… also hat es einen Defekt im Hauscomputer gegeben.« Bryce schüttelte sich in einem Hustenanfall. Was hatte Edison ihm da in die Tasse getan? Kaffeepulver pur? Das Zeug konnte man ja nicht mal umrühren, weil es glatt den Löffel aufgelöst hätte! Der Junge sehnte sich nach einer kühlen Waldmeisterlimonade. »Der Kaffee ist hoffentlich in Ordnung?« Wenn er wollte, konnte Carter richtig besorgt aussehen. Theora blieb beim Thema: »Der Hauscomputer war defekt? Das heißt… letztendlich stammen alle Störungen aus dem städtischen Zentralcomputer.« Sie sah Bryce fragend an. »Ja«, bestätigte der. »Und an dem hängt auch der Computer des Senders.« »Das überprüfen wir.« Theora hatte ihren Kaffee schon vergessen. Mit fliegenden Fingern bearbeitete sie ihr Keyboard. Bryce, der neben ihr saß, warf ihr bewundernde Blicke zu. Frauen stiegen enorm in seiner Achtung, wenn sie mit Computern umgehen konnten. Und Theora war wirklich gut. Sie rief die Hausanlage der Barclays Apartments auf. Oberflächlich betrachtet war alles in Ordnung. »Also, wenn wir jetzt das Fehlersuchprogramm des Hauscomputers einschalten, müßten wir auch die Störung finden… es könnte natürlich sein, daß der Fehler bereits in Edisons Computer steckt… vielleicht werden wir aber auch bis in die Zentraleinheit weitergeleitet.«
Mit offenem Mund sah Carter zu, wie die beiden Hacker vor ihm ihre Computer bearbeiteten. Für den Reporter unverständliche Symbole huschten über den Monitor. Aber seine Controllerin war offenbar zufrieden. »Na bitte!« Bryce sah sie mit wirklicher Hochachtung an: »Alle Achtung… sehr gut!« Die junge Frau deutete auf einige Symbole, die Datennetze darstellten. »Jetzt brauchen wir nur noch dieser Verbindung zu folgen…« Auf dem Schirm huschte eine Grafik vorbei, die offenbar das Innenleben eines riesigen Computers darstellte, in den die beiden Hacker jetzt immer tiefer eindrangen. »… und landen im… im Zentralcomputer!« Theora war ehrlich überrascht, obwohl sie mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte. Bryce zog eine Grimasse. »Wenn die Typen auch so eingedrungen sind, können sie natürlich alle Systeme kontrollieren. Der Computer steuerte die ganze Stadt.« Edison Carter schwante Böses. Wenn es seinen beiden Freunden so leicht gelungen war, ins elektronische Herz der City vorzustoßen, dann war das auch für andere nicht unmöglich…
4. Kapitel
In einer ehemaligen Werkstatt am Rand des alten Industriegebiets saß ein junger Mann vor den Kontrollen einer ungewöhnlichen Computer-Installation. Aus den verschiedensten Einzelteilen hatte er eine ungeheuer leistungsfähige Anlage zusammengebastelt. Eigentlich paßten die verschiedenen Geräte gar nicht zusammen – es bedurfte schon eines Genies wie Bruno Stewart, um sie so zu modifizieren, daß sie zusammen einen funktionsfähigen Supercomputer ergaben. Bruno war in der zweiten Hälfte der Zwanziger. Obwohl noch so jung, besaß er doch schon eine ausgeprägte Stirnglatze. Die blonden Haare an seinem Hinterkopf kräuselten sich in kleinen Naturlocken. Bruno hatte ein rechtes Kindergesicht. Der Ernst des Lebens schien irgendwie nie bis ganz zu ihm durchgedrungen zu sein. Trotz all der Computer um ihn herum hatte sich Bruno für das einfache Leben entschieden. Deshalb trug er auch die hellbraune schmucklose Kutte, die irgendwie an einen Kartoffelsack erinnerte. Bruno saß mit geschlossenen Augen vor der zentralen Schalteinheit seiner Anlage und lauschte der melodiösen Computerstimme, die er selbst programmiert hatte. Seine rechte Hand ruhte auf der Tischplatte – direkt neben einer fetten grünen Kröte, die dort hockte. »Wir befinden uns im Zentralcomputer«, sagte die Stimme. »Unser Störprogramm ist voll aktiviert. Das Ultimatum hat alle Fernsehsender erreicht. Wir haben gezeigt, daß wir das Fernsehen lahmlegen können. Unser Freund Reg wird noch Trakers Zünderschaltung installieren, und dann können wir in
Ruhe abwarten. Denn Geduld ist auf die Dauer das schnellste Pferd.« Bruno war sehr mit sich zufrieden. Er hatte seinen Computer nicht nur hervorragend programmiert, er hatte auch noch einen weisen Philosophen aus ihm gemacht. Wirklich – er konnte sich selbst gratulieren!
Während Theora und Bryce vollauf mit ihrem Computer beschäftigt waren, hatte Carter Zeit, einen Blick auf seinen Fernseher zu werfen, der überraschenderweise wieder in Betrieb war. Die Mattscheibe zeigte Janie Crane, die einen weiteren Live-Bericht von der Lage auf den Straßen lieferte. »Das Fernsehen funktioniert wieder«, stellte sie unnötigerweise fest. Sie würde noch eine ganze Menge lernen müssen, bis sie eine perfekte Action-Reporterin war. »Ungeachtet des Ultimatums müssen wir die Verhaftung von zwei weiteren Nichtexistenzen melden«, fuhr sie fort. »Das heißt, Simon Peller setzt seinen erbarmungslosen Feldzug gegen diese Personengruppe fort. Damit stellt er unser gesamtes System auf eine harte Bewährungsprobe.« »Dieser verdammte Peller hat überhaupt nichts begriffen!« Wütend starrte Carter auf den Schirm. Ein Tonsignal zeigte an, daß jemand in der Vidifonleitung war. Der Reporter nahm den Hörer ab, wodurch sich sein Fernsehempfänger automatisch umschaltete. Er zeigte jetzt Murrays Gesicht. Der Chefredakteur war nach wie vor in der Nachrichtenzentrale. »Edison, dieser Peller läßt immer noch Leute verhaften!« »Ja, ich hab’s gehört.« Der junge Mann dachte kurz nach. »Ähh… kann denn Cheviot nicht irgendwas unternehmen? Immerhin gehört Peller doch quasi zum Sender!«
»Er ist gerade oben bei Cheviot. Alles streng geheim. Sogar die Sicherheitskameras wurden abgeschaltet. Wie kommst du vorwärts?« Ein Rauschen, und die Leitung war tot. Die Störungen griffen immer weiter um sich. Resignierend wandte sich Carter an die beiden anderen: »Jetzt würde ich gerne in der Vorstandsetage als Fliege an der Wand sitzen!« Bryce kicherte. »Wenn Sie das wollen, können Sie’s.« »Waaas?« Der Reporter war sich nicht sicher, ob der Junge nicht wieder irgendeins seiner dummen Spielchen spielte. Aber dann sah er voller Verblüffung, wie Bryce mit einem schnellen Befehl ein Programm abrief: »Ein botanischer Blick auf das Sexualleben der afrikanischen Tsetsefliege.« Auch Theora staunte Bauklötze, denn im nächsten Moment erschien auf dem Monitor ein Bild von Cheviots Büro. Die Aufnahme wurde irgendwo von der Decke gemacht, mit einem extremen Weitwinkel. Die Kamera stand nicht ruhig, sondern kreiste unruhig über den Köpfen der beiden Männer, die sich im Raum befanden – Cheviot und Peller. Ihre Worte kamen klar und deutlich aus dem Lautsprecher, wenn sie auch von einem leisen Summen wie dem Flügelschlag einer Fliege übertönt wurden. »Sie müssen dem sofort ein Ende setzen!« verlangte der Vorstandsvorsitzende energisch. »Ben, wenn ich das tue, glauben die, sie hätten gewonnen!« Beinahe flehentlich hob Cheviot die Arme, was aus der Vogelperspektive eher lächerlich wirkte. »Peller, wenn Sie nicht vernünftig sind, gewinnen diese Typen wirklich! Die legen die ganze Stadt lahm!« Carter wäre am liebsten in den Bildschirm hineingekrochen. Was er da sah, war beinahe zu phantastisch, um es zu glauben! »Bryce, was ist das?«
»Eine Wanze, ähm… eine Fliege.« Der Junge genoß das ungläubige Staunen der beiden Erwachsenen sichtlich. »Meine Seminararbeit, als ich noch an der Universität war.« »Eine mechanische Riege?« Carter kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Daß der Kleine ein Elektronik-Genie war, stand fest. Aber jetzt auch noch ein Bastler-Talent? Theora brachte es auf den Punkt: »Bryce, du bist brillant!« »Ja, sie ist nicht schlecht«, stimmte der ohne falsche Bescheidenheit zu. »Ich müßte nur die Aerodynamik verbessern.« »Verblüffend!« Mit offenem Mund verfolgte der Reporter, wie Simon Pellers linke Schulter näher und näher kam. Offensichtlich setzte das technische Wunderwerk dort zur Landung an. Kaum saß es sicher auf der gepolsterten Schulter der Jacke, erstarb das Summen der winzigen Flügel. Jetzt konnte man die Unterhaltung noch besser verfolgen. Die Weitwinkel-Optik zeigte Pellers linke Gesichtshälfte und den in einiger Entfernung stehenden Cheviot gestochen scharf. »Ben, seien Sie doch vernünftig«, versuchte der Senator zu beschwichtigen. »Ich muß die Leute weiter verhaften lassen. Ich darf keine Schwäche zeigen. Das wäre unser aller Ende. Diese Nichtexistenzen würden mit uns machen, was sie wollen!« »Es kann zu großen Bürgerunruhen kommen!« orakelte der Ältere. »Nicht doch, Ben…« »Peller! Anscheinend sind Sie sich über die Folgen Ihres Handelns nicht im klaren! Das Volk wird sich gegen den Sender stellen, gegen die Behörden… gegen alles!« Cheviot ging zu einer Anrichte, auf der immer ein paar Kaffeetassen bereitstanden, und nahm eine Serviette in die Hand.
»Bisher waren die Nichtexistenzen harmlos wie Fliegen… « Er kam auf den Senator zu und hob die Hand mit der Serviette. »Peller, Sie gefährden meinen Sender!« Im nächsten Moment schlug er zu. Die Serviette kam formatfüllend ins Bild – dann gab es keine Übertragung mehr. Cheviot hatte die vermeintliche Fliege auf dem Anzug des Senators voll erwischt. »Ohh!« Bryce war ehrlich entsetzt. »Meine Fliege!« Carter konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. »Nicht böse sein, Bryce, aber das ist wirklich zu komisch!« Doch Bryce war böse. Sehr sogar. Wenn die Blicke, die er durch seine viel zu große Brille abschoß, töten könnten, wäre von Carter nur noch ein Häufchen Asche zurückgeblieben. »Die Entwicklung der Fliege hat sehr viel Mühe gemacht«, stellte er todtraurig fest. Zum Glück lenkte ihn Theora von seinen trüben Gedanken ab. Sie deutete auf das Netzwerk auf ihrem Schirm. In der Mitte überlagerte ein flimmernder grauer Fleck die feinen Strukturen. »Seht euch das mal an«, rief sie. »Wir sind am Ziel, aber irgendwas verhindert unseren Eintritt.« Bryce war sofort Feuer und Flamme. »Das ist eine Sperre, die verhindern soll, daß wir bis zu den Typen vordringen, die die Störungen verursachen«, stellte er auf den ersten Blick fest. Wortlos machten er und Theora sich an die Arbeit. Man hörte nur noch das Klacken von zwanzig Fingern auf den zwei Computer-Keyboards. Carter sah mit offenem Mund zu, wie die beiden die Sperre auf ihren Schirmen von allen Seiten untersuchten. Das flimmernde Gebilde blieb trotz aller Bemühungen unverändert. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit resignierte Bryce schließlich. »Das ist ja heiter. Wir sitzen fest.«
»Das glaube ich nicht.« Carter hatte zwar nicht so viel Ahnung von Elektronik wie der Junge, aber an Ideen mangelte es ihm auch nicht: »Wir lassen uns reinbitten!« »Und wie?« Theora sah mehr als skeptisch aus. »Bryce hat ein neues Programm entwickelt… und das hat mich auf eine Idee gebracht.« »Nein, nein…« Der Junge liebte es, Erwachsenen zu demonstrieren, wie sehr sie auf dem Holzweg waren. »Damit kann man keinen Sicherheitscode knacken… damit kann man nur Daten modifizieren.« »Sicher, Bryce… aber erinnerst du dich an das Trojanische Pferd? Troja ist gefallen, weil man das Holzpferd in die Stadt holte… man konnte der Neugier nicht widerstehen.« »Na ja, und?« Bryce kapierte noch immer nichts. Das gefiel Carter. Er setzte eine echte Verschwörermiene auf. »Wir werden auch ein Trojanisches Pferd hinstellen… etwas, das so reizvoll für Computer-Hacker ist, daß sie es einfach reinholen müssen. Wir ködern sie mit Max!« Dominique konnte ein paar wenig damenhafte Flüche gerade noch unterdrücken, als sie sich in ihrem hautengen Kostüm die steilen Einstiegsstufen des Senderbusses hinunterquälte. Die Fahrt hierher hatte sie schon genug durchgeschüttelt, und jetzt auch noch diese Kletterei, die man einer Dame wahrhaftig nicht zumuten konnte! Der rosafarbene Bigtime-Bus stand auf einer staubigen Anhöhe über der Stadt. Hier oben, wo sich ein paar alte Pumpen bemühten, der ausgelaugten Erde die letzten Tropfen kostbaren Öls herauszusaugen, wehte ein scharfer, durch keinerlei Hindernisse gebremster Wind. Er zerzauste Dominiques kunstvoll aufgetürmte Frisur, und auch die Sonne, die in dieser Höhe nicht durch so viele Dunstschichten wie in der Stadt abgeschwächt wurde, war sicher nicht gut für ihren Teint.
Reg sah wohlgefällig, wie der enge, vorne geschlitzte Rock ihres Kostüms gefährlich weit nach oben rutschte, als sie die letzte Stufe bewältigte. »Ich hoffe, daß du darunter noch was anhast, Dominique!« Er grinste reichlich flegelhaft. Die Frau versuchte, ihre Würde zu bewahren. Aber für eine Dame, die Stöckelschuhe trug, war das auf einer geröllübersäten Hügelkuppe alles andere als einfach. Sie mußte sich an der Bustür festhalten, um nicht der Länge nach hinzuschlagen. »War es denn unbedingt notwendig, hier heraufzufahren?« stöhnte sie. »Eine fürchterliche Gegend!« Sie versuchte vergebens, etwas Ordnung in ihre zerzauste Frisur zu bringen. Für ihren Lebensgefährten hatte sie nur vernichtende Blicke übrig: »Du bist wirklich eine Nervensäge, Reg!« Der alte Punker kannte diese Gemütsausbrüche seit etlichen Jahren. Sie ließen ihn schon lange kalt. Mit einer weitausholenden Bewegung deutete er auf die Stadt zu ihren Füßen: »Wirf bitte mal einen Blick nach unten, Prinzessin. Hier oben ist die beste Position für unsere kühnen Pläne. Von hier können wir den Sonnenaufgang sehen… und auch den Sonnenuntergang.« »Das ist ja geradezu phantastisch!« Dominique sah ihn nur verständnislos an. »Und weiter?« »Ich erklär’s dir, mein kleiner Kaktus. Sobald ich die Antenne ausgerichtet habe, können wir von hier oben mit Bigtime Television die ganze Stadt erreichen. Und wir tun dem nichtexistenten Bruno einen Gefallen.« Reg grinste wie ein Honigkuchenpferd. Langsam dämmerte Verstehen in Dominiques hübschem Gesicht. Was diese Sache mit Bruno bedeutete, war ihr zwar nicht ganz klar. Aber das machte auch nichts. Das andere verstand sie dafür um so besser. Wenn die Nichtexistenzen alle
computergesteuerten Sender blockierten, blieb nur noch Bigtime TV übrig. Und von hier oben konnten sie mit ihrem schwachen Sender natürlich wesentlich mehr Zuschauer erreichen als unten aus den Randbezirken. Und mehr Zuschauer bedeuteten mehr Werbeeinnahmen – und diesmal vielleicht nicht nur von Schwarzmarkthändlern und kleinen Gaunern, sondern von großen Firmen wie der ZikZakCorporation! Die zahlten Millionen! Wurde Reg auf seine alten Tage etwa doch noch geschäftstüchtig?
Edison Carter, Theora Jones und Bryce Lynch standen vor der Computeranlage im Apartment des Reporters. Auf dem Hauptmonitor war das empörte Gesicht Max Headrooms zu sehen, den Bryce mit einem elektronischen Signal hergelockt hatte. Carter hatte seinem computerisierten anderen Ich gerade so schonend wie möglich beigebracht, was er von ihm erwartete. Offenbar gefiel Max die Sache ganz und gar nicht. »Damit wir uns richtig verstehen«, tönte er, »ihr wollt also, ich soll so… tuna-tuna-tunalsobichein Pferd wäre? Ich lasse mir von niemandem einen Sattel auflegen!« »Max, das ist unsere einzige Chance. Wenn die Typen die Sperre öffnen, können wir in ihr System rein.« Das elektronische Gesicht auf dem Schirm sah noch immer sehr skeptisch aus. Carter überlegte. Max wies die gleiche Persönlichkeitsstruktur auf wie er selbst. Und wie kam man bei ihm am besten weiter, wenn man etwas erreichen wollte? Mit Schmeicheleien! So ernsthaft wie möglich sah er Max an und verkündete im Brustton der Überzeugung: »Nur du kannst diesen Job erledigen… denn keiner ist so unwiderstehlich wie du!«
»Tja. Hehe… na gut.« Das hatte gesessen. Max’ Widerstand schmolz dahin wie Eis in der Sonne. »Al-al-al-al- also bitte, einverstanden. Aber eins möchte ich wissen.« Ein Fünkchen Mißtrauen war immer noch zurückgeblieben. »Was ist aus diesem Trojanischen Pferd gegegegeworden-geworden?« »Na ja, es wurde ein weltberühmter Begriff«, erklärte Bryce. Er fand es absolut unnötig, Max darauf hinzuweisen, daß das Pferd beim Untergang der Stadt Troja ebenfalls verbrannt war. »Hat denn schon jem-jem-jemand die Fernsehrechte dafür gekauft?« fragte Max. Carter und Bryce mußten unwillkürlich lachen, aber Theora blieb ernst. »Bitte, Max! Wir müssen herausfinden, wer uns droht und warum er uns droht!« Max schaltete sein Mimik-Programm auf Superspion. »Das heißt also reingehen, sich kurz umsehen…«, schneller Blick nach links und rechts, »… und dann wieder verschwinden. Na, meinetwegen.« Er sah alles andere als begeistert aus. Denn eigentlich mochte er keine Spionage-Storys. »Dann… dann… dann… binichdasPferd. Aber holt mi-mi mi-mi-mich da auch wieder raus, ja?« ›»Das ist kein Problem«, verkündete Bryce im Brustton der Überzeugung. »Wir halten ständig die Leitung offen, dann können wir dich da jederzeit wieder rausholen.« Er setzte sich ans Terminal. Weil er wußte, daß er Max nicht gegen dessen Willen manipulieren konnte, erläuterte er ihm lieber das Verfahren: »Also… ich speise jetzt deine Daten da ein, und wenn die Typen den Köder nicht schlucken, ziehe ich dich einfach wieder raus.« Das hätte er besser nicht gesagt, denn Max wirkte auf einmal wieder sehr skeptisch. »Ich… b-b-b-bin ein Köder?« »Bitte, fang an«, verlangte Carter. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß Diskussionen mit Max stundenlang dauern
konnten. Man ließ sich erst besser gar nicht auf Wortgefechte mit dem Elektronik-Mann ein. »Sei vorsichtig, Bryce«, bat Theora überflüssigerweise. Aber das elektronische Wesen war ihr ebenso ans Herz gewachsen wie sein menschliches Vorbild. »Viel Glück, Max!« rief sie ihm zu. Der Computermensch sah skeptisch zu, wie sich das kubische Gittermuster, das normalerweise seinen Hintergrund bildete, krümmte und zu einer Kugel zusammenzog. Einer Kugel, die Max schließlich ganz umhüllte und dann immer kleiner wurde, als sie in den Hintergrund des Schirms abtauchte. »Was ist das?« fragte Carter? »Natürlich Max«, klärte ihn Theora auf. »Nur leicht verwandelt«, fügte Bryce hinzu. »Und jetzt schicken wir ihn auf die Reise. Wiedersehen!« Er drückte die »Enter«-Taste, und die gestreifte Kugel, in deren Innerem man Max nur noch schemenhaft sehen konnte, tauchte ab in die Unendlichkeit der städtischen Computernetzwerke. Max schrie erschrocken auf, als die Leitungen mit Lichtgeschwindigkeit an ihm vorüberjagten. Er selbst hatte zwar auch schon viele ausgedehnte Reisen durch die Computernetze unternommen. Aber das hier war etwas anderes. Diesmal konnte er nicht selbst bestimmen, wo’s langging.
»Bruno!« Die sanfte weibliche Computerstimme weckte den Elektronik-Experten der Nichtexistenzen aus seinem leichten Schlaf. Da alle Programme wie geplant abliefen, hatte er es sich leisten können, kurz vor den Kontrollen einzunicken. Jetzt schreckte er hoch. »Ja? Was ist denn?« »Ein fremdes Programm nähert sich unserem Hauptspeicher«, teilte die Computerstimme mit.
Mit dem fremden Programm war natürlich Max gemeint, der langsam anfing, diese Art der Netzwerk-Reise zu genießen. Das Gefühl ähnelte dem, das eine Fahrt in der Achterbahn Menschen aus Fleisch und Blut vermittelte. Es ging auf und ab, hin und her, und die Passagiere hatten nicht die geringste Einflußmöglichkeit auf die rasende Fahrt. »Seid bereit-bereit-bereit!« brüllte Max. »Ich ko-komme, kommeeeheee!« Seine Jubelschreie hallten durch den elektronischen Kosmos, hörbar nur für hochentwickelte Rechner. »Das Programm ist inaktiv«, hatte Brunos weiblicher Computer ganz richtig erkannt. Jetzt war der Hacker hellwach. »Zeig es mir«, verlangte er. Die Anlage, die der Mann hier zusammengebastelt hatte, war wirklich ganz erstaunlich. Für einfachere Befehle brauchte man keine Tastatur mehr. Der Computer reagierte auf gesprochene Anweisungen, Bruno konnte einen wirklichen Dialog mit seinem Rechner führen. Auf dem Monitor war der graue, wabernde Fleck der Sperre zu sehen, die der Hacker im städtischen Computer installiert hatte. Er schaute allerdings auf die andere, seinem System zugewandte Seite. Hinter dem flimmernden Vorhang tauchte die gestreifte Kugel mit Max in ihrem Inneren auf. Der Computermann spähte neugierig nach allen Seiten. »Interessant…«, murmelte Bruno. »Kannst du feststellen, von wo es kommt?« »Nein«, antwortete der Computer. »Es ist ein selbstlernendes Programm. Wollen wir es starten?« »Hmm… « Bruno gab eine blitzschnelle Reihe von Befehlen über mehrere Keyboards gleichzeitig ein. Er arbeitete in verschiedenen Ebenen wie ein virtuoser Orgelspieler. Die
Prüfroutinen, die er jetzt abrief, waren zu kompliziert, um sie über mündliche Kommunikation zu aktivieren.
»Sie haben ihn entdeckt und wollen feststellen, von wo er kommt.« Bryce hatte auf seinem Monitor alles im Griff. Von hier aus sahen er und die beiden Erwachsenen die Kugel mit Max vor der Sperre schweben. Jetzt kamen grüne Schwaden aus der Sperre, tasteten das kostbare Programm ab und zogen sich wieder zurück. »Kann man die Spur bis zu uns zurückverfolgen?« fragte Theora. Bryce konnte sie beruhigen. »Das ist so gut wie unmöglich.«
»Ooooh! Das ist ja ein Superprogramm!« staunte Bruno. Er zog die Füße auf seinen Stuhl, hockte nun ganz zusammengekauert da, die Arme um die Unterschenkel gelegt. So hatte er auch früher als kleiner Junge an Heiligabend dagesessen, wenn die Bescherung kurz bevorstand. »Was kann es?« wollte er von seinem Rechner wissen. »Noch ist es passiv.« Die weibliche Stimme klang sehr mißtrauisch. »Wir sollten besonders vorsichtig sein.« Bruno blickte auf die fette Kröte, die unbeeindruckt von alldem auf der Tischplatte hockte und träge in die Gegend glotzte. »Na, Kröti? Was meinst du? Sollen wir es reinlassen?«
5. Kapitel
Carter, Theora und Bryce vergaßen vor lauter Anspannung beinahe das Atmen. Der Monitor zeigte noch immer die Kugel mit Max, die unbeweglich vor der Sperre schwebte. Die drei blickten auf den Hinterkopf des elektronischen Menschen, der offenbar irgend etwas hinter der Barriere musterte. »Die Typen sind sehr vorsichtig«, stellte Theora überflüssigerweise fest. »Mach jetzt nur nichts falsch, Max«, beschwor Carter sein anderes Ich, das ihn doch gar nicht hören konnte. Erstaunt stellte die junge Frau fest, daß dem Reporter der Computermensch ziemlich ans Herz gewachsen sein mußte – trotz all der Streitereien, die er und Max beinahe täglich hatten.
Gedankenverloren streichelte Bruno seine häßliche Kröte. Dann faßte er einen Entschluß: »Wir laden das Programm in einen Nebenspeicher, und wenn es nicht feindselig ist, übernehmen wir es in den Hauptspeicher.« Sekundenbruchteile später meldete der Computer: »Nebenspeicher aufnahmebereit.« »Auf mein Kommando schließt du sofort alle Eingangsleitungen. Wir müssen das Programm von seiner Quelle trennen!« Bruno war sich ziemlich klar darüber, daß das Auftauchen eines solchen Programms – ausgerechnet an einem Tag wie heute – ein mehr als seltsamer Zufall war. Er mußte seine wissenschaftliche Neugier befriedigen, aber er durfte auch den gemeinsamen Kampf aller Nichtexistenzen nicht gefährden. Deshalb ging er mit extremer Sorgfalt vor.
Mit einem letzten Knopfdruck Durchgangsleitung zum Nebenspeicher.
öffnete
er
die
Plötzlich war es für Max in seiner Reisekugel ganz einfach, die gerade noch unüberwindliche Barriere zu durchdringen. Die drei in Carters Apartment sahen, wie er langsam in das flimmernde graue Trennfeld eintauchte. »Wir schaffen es!« rief Theora. »Jetzt lassen sie Max rein«, stellte Carter aufgeregt fest. Er war stolz darauf, daß seine Idee funktionierte. Aber nur Bryce dachte an das Naheliegendste: »Das Kommunikationsprogramm aktivieren!« Erschrocken drückte Theora einige Knöpfe, aber ohne Erfolg. »Zu spät! Sie haben sämtliche Leitungen unterbrochen.« Auf dem Bildschirm war nur noch eine nichtssagende grüne Linie zu sehen. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Carter alarmiert. »Die sind mißtrauisch und haben sämtliche Verbindungen durchtrennt«, erklärte Theora. Bryce konnte nur noch seufzen.
Bruno dagegen triumphierte. Er hatte dieses Superding in sein System geholt, ohne seinen Standort oder sonst irgend etwas zu verraten. Die Kugel mit dem Kopf darin stand auf dem Monitor des Nebenspeichers. »Du kannst das Programm jetzt starten«, befahl Bruno seinem Computer. Im nächsten Moment entfaltete sich die Kugel, bis sie wieder zu Max’ üblichem Hintergrand wurde. Nicht länger durch sein gestreiftes Gefängnis behindert, sah er sich aufmerksam nach allen Seiten um. Er hatte noch einige Schwierigkeiten, sich in
dieser Umgebung zurechtzufinden. Diese Hardware – und auch die Betriebssysteme – waren anders als alles, was Max bisher kennengelernt hatte. »Ist je-je-jemand hier? Hier?« rief er. Bruno fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Ist das eine Aufzeichnung?« »Nein«, antwortete sein Computer. »Es handelt sich um ein selbständiges Programm, eine sogenannte künstliche Intelligenz.« Schwang da etwa ein gewisser Neid in der Stimme mit? Max hatte sich inzwischen in seiner neuen Umgebung orientiert. Er mußte gleich zu Anfang ein paar Dinge klarstellen: »Ich bin keine kün-kün-kün-künstli-che Intelligenz, sondern eine künstlerische Intelligenz-gen-genz!« Bruno staunte Bauklötze. Er tastete nach dem Schirm, als wolle er Max berühren. Der sah das mit Mißfallen (Annäherungsversuche von Männern lagen ihm nicht besonders) und sagte ziemlich barsch: »Wie auch immer… wo bin ich?« Bruno gewöhnte sich langsam an das Wunder, das sich hier auf seinem Monitor abspielte. Seine guten Manieren fielen ihm wieder ein, und er stellte sich vor: »Ich bin eine Nichtexistenz… ich heiße Bruno.« »Und ich heiße Max… Max Head-head-head-head-head room… Max Headroom.« Die Kröte kroch auf den Bildschirm zu und gab ein paar knarrende Laute von sich. Max wurde sofort aufmerksam: »Häääh?« Wenn das möglich gewesen wäre, hätte er den Kopf glatt durch die Mattscheibe gesteckt. So ein seltsames Wesen war ihm noch nie vorgekommen. »Urrrä… urrrä!« Geschickt imitierte Max die Laute der Kröte. Er blickte ein wenig irritiert zwischen Bruno und dem
Tierchen hin und her. Offenbar gehörte es diesem Mann. Wie konnte ein halbwegs intelligentes Wesen sich nur ein derart häßliches Haustier halten? Max seufzte. Er würde die Menschen wohl nie verstehen.
In Carters Apartment herrschte Weltuntergangsstimmung. »Können wir denn gar nichts unternehmen?« fragte der Reporter. »Max sitzt in einer Falle.« Aber nicht einmal Bryce produzierte eine seiner berüchtigten Ideen. »Leider mußten wir das Originalprogramm verwenden… ein Duplikat hätten die nicht akzeptiert.« »Dann haben wir Max wohl verloren.« Theora brachte es unerbittlich auf den Punkt.
Im Vorstandssaal herrschte Weltuntergangsstimmung. Und das nicht einmal zu Unrecht. Denn wenn die Nichtexistenzen ihre Drohung wahrmachten, würde die Welt tatsächlich untergehen. Zumindest die Welt, wie alle sie kannten. Der große Wandmonitor zeigte wieder nur buntes Bildrauschen. Die Direktoren standen in Zweiergrüppchen beisammen und diskutierten die Lage. Viel kam nicht dabei heraus. »Auf den Straßen herrscht das Chaos«, sagte Edwards. Er war ehrlich besorgt. »Die Leute schlagen sich um alte Videobänder.« Doch Ashwell konnte selbst jetzt nur an den Profit denken: »Daraus könnte man doch ein Geschäft machen!« Cheviot stand etwas abseits mit Formby, seiner Vertrauten und ehemaligen Geliebten, beisammen. Ihre Nähe tat ihm gut. Er empfand immer noch viel für sie. Am liebsten hätte er sie in
die Arme geschlossen. Aber das ging nicht. Er hatte ihre Beziehung beenden müssen. Aus und vorbei. * »Ben… Peller muß etwas unternehmen, sonst können wir geschäftlich nicht überleben«, sagte die immer noch sehr attraktive Blondine. »Er will nichts unternehmen.« Cheviot seufzte. »Der Mann ist starrsinnig.« Ashwell und Edwards kamen herüber. Wie üblich hatte Ashwell ein Patentrezept auf Lager: »Ich weiß, was wir machen! Wir sollten jemanden entlassen!« Cheviot blickte gottergeben zum Himmel. »Edwards, sind alle Sender ausgefallen?« »Es ist eine Katastrophe«, bestätigte der Glatzköpfige. »Sämtliche Übertragungssysteme sind zusammengebrochen! Peller muß unbedingt einlenken!« Cheviot war das klar. Aber er hatte vorhin noch mit Peller gesprochen. Der Senator war nicht zum Einlenken bereit. Wieso nur verloren die meisten Leute, wenn sie in die Politik einstiegen, ihren gesunden Menschenverstand?
Reg dagegen hatte seine fünf Sinne sehr genau beisammen. Er turnte auf dem Dach seines Busses herum. Die Senderantennen waren längst ausgerichtet. Doch damit war seine Arbeit noch nicht erledigt. Er brachte ein Gerät in Stellung, das aussah wie ein altmodisches Teleskop. Und genau da war es auch. Bruno hatte sich die Einzelteile für seine erstaunliche Maschine direkt vom Schrottplatz besorgt. »So… den Zünder ausrichten, und zwar genau auf die Sonne!« Reg war unglücklich, wenn er mit niemandem reden konnte. Und da Dominique wieder in den Bus geklettert war, redete er eben mit sich selbst. *
s. Max Headroom Bd. 2 »Menschenjagd«
Er kurbelte an einer primitiven Mechanik, bis das Teleskop in etwa auf die hochstehende Sonne zeigte. »Objektivdeckel abnehmen, Blende öffnen…« Der alte Punker spähte durch den Sucher und justierte die Einstellung des Teleskops so lange, bis es genau in die Sonne blickte. »So. Und diese Einstellung arretieren.« Keuchend kletterte er vom Dach herunter. Seine Freundespflicht hatte er erfüllt. Nun konnte er sich um das Geschäft kümmern.
Brunos Computer verkündete mit seiner weiblichen Stimme: »Der Sonnenzünder ist ausgerichtet. Deklination 55 Grad. Das Objektiv folgt automatisch dem Lauf der Sonne.« Der junge Mann lächelte zufrieden. Auf einem der Nebenbildschirme waren die Sonne und der Neigungswinkel des Zünders zu sehen. Bei Null Grad Deklination war Sonnenuntergang. Und der Untergang der elektronischen Gesellschaft. Reg meldete sich über sein altertümliches CB-Gerät: »Alles funktionsbereit, mein Freund.« »Der Zünder ist jetzt scharf«, teilte ihm Bruno lächelnd mit. Dankbarkeit schwang in seiner Stimme, als er hinzufügte: »Gut gemacht, Reg.« Nachdem sie den Mittagshöhepunkt überschritten hatte, sank die Sonne jetzt unaufhaltsam dem Horizont entgegen. Ein kleiner Rechner registrierte, daß die Sonne nach unten aus dem Aufnahmefeld des Teleskops zu verschwinden drohte. Er aktivierte einen Stellmotor, der früher einmal ein Autofenster gehoben und gesenkt hatte. Zahnräder klackten, und das Teleskop senkte sich etwas herab, bis es die Sonne wieder voll erfaßte. Unbeteiligt verkündete die Computerstimme in Brunos Versteck: »Deklination 50 Grad.«
Reg hängte das Mikrofon seines heißgeliebten Funkgeräts weg. Er warf Dominique, die hinter ihm stand und sich ziemlich aussichtslos darum bemühte, ihre vom Wind zerzauste Frisur wieder in Form zu bringen, einen spöttischen Blick zu: »Es ist soweit… starte den Generator, Rapunzel!« Dominique wirkte reichlich giftig und wütend. Dieser Halbwilde wußte offenbar nicht zu würdigen, daß sie sich nur für ihn so schön machte. Andererseits… war Rapunzel nicht das schöne Mädchen aus dem Märchen mit den wunderbaren Haaren gewesen? Bei Reg wußte Dominique nie so genau, was er eigentlich sagen wollte. Seufzend schaltete sie den Generator ein. Fauchend und tuckernd erwachte der kleine Dieselmotor zum Leben. Seine ersten Lautäußerungen kamen ziemlich unwillig. Dominique starrte den Steuerkasten böse an. Das half offenbar, denn jetzt tuckerte der Diesel gleichmäßig vor sich hin. Die von ihm angetriebene Lichtmaschine lieferte genügend Strom für den Sendebetrieb. Reg tätschelte die 30 Zentimeter hohe nackte Dame auf einem drehbaren Podest, die den Globus hielt, um dessen Äquator der »Bigtime Television«-Schriftzug lief. Als der Generator genügend Strom zur Verfügung stellte, begann sich das kitschige Sender-Wahrzeichen zu drehen. Reg liebte diesen Kitsch. Er konnte eben nicht verhehlen, daß er im Grunde seines Herzens stets Engländer geblieben war. Er startete die Cassette mit dem Werbe-Jingle für Bigtime TV (das einzige, zu dessen Produktion er sich je hatte aufraffen können), nahm Platz vor der Kamera und quasselte munter drauflos: »Hier spricht Reg! Ich begrüße euch bei Bigtime Television! Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erfüllen wir euer Leben mit sinnlosem Dreck!« Dominique stand still im Hintergrund und sah ihren Helden voller Bewunderung an. Er war wirklich der absolute
Showprofi. Was zählte es da schon, daß er sich seit drei Tagen weder rasiert noch gewaschen hatte? Bigtime TV sendete fast ausschließlich alte Videoclips, die Reg seit seinen Kindertagen wie einen Schatz gehortet hatte. Den Anfang des heutigen Progamms machte eine dröhnende Heavy-Metal-Nummer, die irgendwann Ende der 80er Jahre entstanden war. Eine verrückte Truppe namens »Vixenslayer« bearbeitete ihre Instrumente derart rabiat, daß es für jeden Musikfeind eine Freude war. Doch egal, was für ein Gekreische da vom Bildschirm dröhnte – für die Menschen auf der Straße zählte nur, daß endlich wieder Bilder zu sehen waren. Einige küßten die Fernsehschirme so lange, bis andere, die auch etwas sehen wollten, sie von der Mattscheibe wegzogen. Von einem Augenblick zum nächsten kehrte Ruhe auf den Straßen ein. Egal, welche Geschäfte man gerade noch verfolgt hatte – jetzt, wo es endlich wieder Fernsehen gab, gönnte man sich erst einmal ein paar Minuten vor der Flimmerkiste. Natürlich wurde Regs Sendung auch in der Vorstandsetage des Senders 23 empfangen. Allerdings stieß sie beim feinere Kulturgenüsse gewohnten Direktorium nicht auf Begeisterung. Ashwell und Formby hielten sich voller Entsetzen die Ohren zu. Heavy Metal war wirklich nichts für sie. Als Carters Fernseher zu neuem Leben erwachte, fiel es dem Reporter wie Schuppen von den Augen. Sofort rief er seinen Chefredakteur über Vidifon: »Murray, leider ist es mir erst jetzt eingefallen. Reg kennt natürlich alle Nichtexistenzen. Peil ihn an!« »Ja, wird gemacht!« Murray unterbrach hastig die Leitung und lief nach nebenan in die Technik. Wer ihm dabei in den Weg kam, wurde gnadenlos zur Seite geschoben. »Joel, peil diesen Sender an!« rief er. »Endlich haben wir etwas in der Hand. Beeil dich!«
Der Angesprochene machte sich augenblicklich an die Arbeit.
Bruno saß vor einer wahren Batterie von Bildschirmen. Auf dem größten in der Mitte war Max. Auf sechs der weiteren Geräte rechts und links waren die Köpfe von Brunos Mitstreitern zu sehen. Einer wirkte besonders aggressiv: Traker. Er war in Brunos Alter. Statt der Intelligenz seines Anführers zeichnete ihn eine heimtückische Verschlagenheit aus. Sein dunkler Dreitagebart und das kurzgeschorene Haupthaar gaben ihm etwas Bedrohliches. Irgendwie schien es ihm unmöglich zu sein, die Augen ganz zu öffnen. Er blickte stets unter halbgeöffneten Lidern in eine Welt, für die er nur Haß und Verachtung empfand. »Reg sendet. Damit haben wir unser Druckmittel verloren«, sagte er mit seiner seltsam ausdruckslosen Stimme. »Diese verdammten Leute sehen sich doch einfach alles an!« Bruno warf einen kurzen Blick auf einen Monitor an der Seite, der Regs abscheuliches Heavy-Metal-Video zeigte. »Ich werde mit Reg reden«, versprach er. Da er sah, mit welchem Interesse Max die Diskussion der Verschwörer verfolgte, nahm er eine Decke und legte sie über seinen Monitor. »He, was soll das?« protestierte der Computer-Mann. Dabei wußte er das ganz genau. Man wollte ihn mal wieder von irgend etwas ausschließen. Egal. Wenn er schon nichts sehen konnte, spitzte er dafür um so angestrengter seine elektronischen Ohren. »Wozu noch mit Reg reden?« murrte Traker. »Melde ihn lieber der Metro-Polizei!« »Ich entscheide das!« sagte Bruno mit ungewohnter Heftigkeit. Er wandte sich an ein Mädchen auf einem der
anderen Bildschirme: »Jacksy, stehen uns alle Leitungen zur Verfügung?« Die Angesprochene nickte lächelnd. Traker gab noch keine Ruhe. »Wir sollten das Zerstörungsprogramm sofort starten. Niemand wurde freigelassen. Warum also noch warten?« »Weil wir unser Wort gegeben haben, mein jähzorniger, hübscher junger Freund.« Bruno kämpfte sichtlich um seine Beherrschung. »Das Programm wird bei Sonnenuntergang gestartet. Ich ändere meinen Plan nicht mehr ab, dazu habe ich ihn zu lange vorbereitet. Alles bleibt so wie besprochen!« Er versuchte, Reg über CB zu erreichen, aber seit der seinen Sender aktiviert hatte, kam er nicht mehr durch. Also rief er ihn über Vidifon. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis Reg an den Apparat kam. Er hatte verzückt der Musik gelauscht, die er ausstrahlte. Wahrscheinlich war er der einzige echte Fan seines eigenen Programms. »Reg, hier spricht Bruno.« Endlich kam er ran. »Hallo, Freund! Ich hoffe, alles ist in Ordnung?« »Das ist es leider nicht. Du mußt dein Fernsehprogramm sofort einstellen. Wir hatten verabredet, daß du nur den Sonnenzünder startest… nichts weiter!« Inzwischen war Joel in der Schaltzentrale von Sender 23 nicht untätig geblieben. »Ich hab’ ihn…« Das Peilgerät zeigte ein klares Ergebnis. »Murray, ich hab’ den Sender lokalisiert!« Der Chefredakteur starrte auf die Ziffern und Buchstaben auf dem Schirm, die ihm nichts sagten. »Auf der gleichen Frequenz wird ein mikrocodiertes Gespräch geführt«, sagte Joel. »Hören Sie!« Er drückte einen Knopf, und Regs Stimme stand klar und deutlich im Raum: »Aber durch meine Sendung wird der Zünder doch nicht beeinträchtigt, Bruno.«
»Begreifst du denn nicht?« kam die Antwort. »Die Fernsehschirme müssen dunkel bleiben. Wenn wir nicht zeigen, daß wir unsere Drohung wahrmachen können, richten wir überhaupt nichts mehr aus!« »Mach den Gesprächspartner ausfindig«, befahl Murray überflüssigerweise, denn Joel war längst bei der Arbeit. »Gleich hast du ihn. Edison hatte recht… wir haben eine Spur.«
Doch Brunos Computer war eine sehr aufmerksame Maschine. »Achtung, die mikrocodierte Funkstrecke wird angepeilt«, verkündete die wohlklingende Frauenstimme. »So ein verdammter Mist! Ihr habt es alle gehört! Sofort abschalten!« befahl Bruno. Mit fliegenden Fingern unterbrach er sämtliche Verbindungen.
Im 23er-Tower mußte Joel seine Niederlage eingestehen: »Wir haben sie verloren.« »Verdammt!« Murray konnte seine Wut und seinen Frust nur noch mühsam beherrschen.
6. Kapitel
Jetzt, da seine Kampfgefährten nicht länger in den Leitungen waren, hielt es Bruno für ungefährlich, Max die Decke vom Monitor zu nehmen. Der elektronische Mann sah sich ein wenig indigniert um. »Oh, das klingt ja sehr spannend? Wen wollt ihr denn in die Luft jagen… mit so viel Elegance-ss-ss-ss?« Bruno nahm seine fette Kröte in beide Hände und stand auf. »Du hast eine schnelle Auffassungsgabe, Max«, sagte er anerkennend. »Trotzdem solltest du mit mir nicht über Bomben reden. Das sind barbarische Apparate… sehr gefährlich.« Bruno knuddelte seine Kröte, so wie andere Leute ihre Katze liebkosen. »Ich habe Bom-bom-bomben nicht erwähnt«, sagte Max mit aufreizendem Lächeln. »Aber wozu könnte ein Sonnenzünder denn sonst gut sein?« Bruno fühlte sich diesem vorwitzigen Programm absolut überlegen. Er plauderte bereitwillig seine Geheimnisse aus: »Unsere Bombe ist nichts weiter als ein Programm. Es lenkt automatisch alle Programme der Stadt auf den Hauptcomputer. Dadurch wird er überlastet, bricht zusammen… und mit ihm alle Systeme in dieser Stadt, vom Sicherheitssystem bis zum Sender 23.« Er setzte seine Kröte in ein Terrarium und wischte sich den Schleim von den Fingern. Max wirkte schockiert über das, was er gerade gehört hatte. »Hach, wie wohl das Leben nach dem Ausschalten aussehen wi-wi-wird?«
»Ich kann’s mir gut vorstellen!« Bruno schien sich köstlich darüber zu amüsieren, daß sich ein Programm Sorgen über den Tod machte – und darüber, ob es »ein Leben danach« gäbe. Das hätte er nicht tun sollen, denn jetzt war Max beleidigt: »So viele Computer auf dieser Welt… mit so vielen Systemen… und ich muß ausgerechnet in deinem landen.« »Deklination 35 Grad«, verkündete der Computer. »Ich habe noch eine Frage«, gab Max Laut. »Warum willst du ausgerechnet unseren Sender zerstören-stören-stören?« »Euer Sender… und alle anderen… haben zusammen mit den Behörden das computerisierte Fernsehen zum neuen Götzen erhoben.« Brunos Stimme hatte jetzt jenen begeisterten Klang, wie er offenbar alle Weltverbesserer und Idealisten auszeichnete. »Die Menschen fallen vorm Fernsehschirm auf die Knie… sie befinden sich in einem Irrglauben, Max. Wir sind nicht gegen die Computer… wohl aber gegen ihren Mißbrauch. Wir meinen, Computer sollten dazu dienen, gigantische Fortschritte zu machen.« Max blickte äußerst skeptisch aus der Röhre. »Wenn man Fort-fortsch-fortschritte machen will, muß man erst einmal lernen, seine Beine zu gebrauchen.« Wie alle Weltverbesserer war Bruno sehr empfindlich, was Kritik anging. Drohend trat er ganz nah vor den Schirm, und seine Hand schwebte über dem Keyboard, mit dem er den Nebenspeicher kontrollieren konnte. »Du bist nur einen Fingerdruck weit vom Auslöschen entfernt!« Sein ausgestreckter Zeigefinger war nur noch Millimeter von der DEL-Taste entfernt. Jetzt bekam es Max tatsächlich mit der Angst zu tun, denn aus eigener Kraft konnte er von hier nicht entkommen. Er zeigte das netteste Lächeln, das in seinen Speichern zu finden war, und säuselte: »Ich ich glaube nicht, daß du das tun wirst, denn ich bin…« Er begann zu singen: »Unwidersteeehlich
uuund…« Er kehrte in den Sprechmodus zurück: »Ahoouu… fas-fas-fas-fas-zinierend. Ahhumm?!« Unwillkürlich mußte Bruno grinsen. Er zog seinen Finger ein wenig zurück. »Du bist sogar einmalig.« Max zeigte sich geschmeichelt. »Aber auch reproduzierbar.« Sofort war der Computer-Mann wieder beunruhigt. »Denn weißt du…«, verkündete Bruno selbstgefällig, »Bryce Lynch war früher mal mein Schüler.«
In Edison Carters Apartment hatte sich lähmende Niedergeschlagenheit breitgemacht. Sämtliche Fernsehschirme zeigten Schnee. Bryce hatte sich auf das große Bett geworfen und hielt sich an einem Kassen fest. In seinem Alter taten Niederlagen noch besonders weh. Theora versuchte, ihren Kollegen zu trösten. »Das mit Max tut mir leid, Edison…« Von der Straße drang der Lärm vieler Stimmen herauf. Carter trat ans Fenster und sah nach unten. Menschen hasteten hin und her. Einer trug einen kleinen Fernseher auf dem Arm wie ein Baby. Natürlich war auch auf diesem Bildschirm nichts zu sehen. Ein Polizist tauchte auf und wurde wütend beschimpft. »Wir wollen Fernsehen! Keine Bullen!« »Jetzt geht es los…«, stellte Carter sachlich fest. »Das ist wie ein Weltuntergang… was bleibt ihnen noch ohne das Fernsehen?« Theora trat neben ihn, und auch Bryce rollte sich ans Fenster, um einen Blick auf die Straße zu werfen. »Erschreckend!« stöhnte die Controllerin. Plötzlich ging ein neuer Energiestoß durch Carter. Er hatte eine Idee. Alle Resignation fiel von ihm ab. »Bryce«, fragte er, »was antwortete General Wallis vor Yorktown, als man ihn
fragte, was die Geschichte wohl sagen würde, wenn er diese Schlacht verlöre?« »Na ja, er… er antwortete, die Geschichte würde lügen… wie immer.« Das Gesicht des Jungen leuchtete auf. Er hatte kapiert, worauf Carter hinauswollte. »Sehr richtig«, meinte der Reporter. »Starte dein neues Programm. Mit dem Trojanischen Pferd haben wir verloren… mal sehen, wie es mit dem Trojanischen Schaf funktioniert.« Bryce sprintete hinüber zu den Kontrollen. Carter griff sich seinen Mantel und seine Kamera. Wenigstens funktionierte die Funkstrecke noch. Er rief Martinez, seinen Hubschrauberpiloten. Viel Zeit blieb nicht mehr, denn die Sonne sank immer tiefer. Theora hatte keine Ahnung, weshalb sich plötzlich diese allgemeine Hektik breitmachte. »Was hast du vor?« fragte sie Carter. Der war schon halb in der Tür. »Bryce, starte dein Programm. Und du, Theora, rufst Murray an. Er soll dir eine Kamera in Pellers Büro bringen lassen. Ich fliege inzwischen zu Bigtime TV.« »Worüber spreche ich mit Peller?« »Natürlich über die Nichtexistenzen!« »Und wenn er nicht mit mir reden will?« »Sei charmant, dann wird er weich. So wie ich!« Und schon verschwand Carter im Treppenhaus. Theora hätte ihm am liebsten die Ohren langgezogen. Könnte ihr dieser Hektiker nicht in Ruhe erklären, was er vorhatte? Und überhaupt, wieso sollte sie ein Interview führen? Sie war Controllerin, keine Reporterin! Minuten später raste der feuerrote Hubschrauber von Sender 23 mit Höchstgeschwindigkeit auf die Außenbezirke der Stadt zu. Es ging buchstäblich um jede Sekunde, denn die Sonne sank jetzt rasch tiefer.
»Deklination 30 Grad«, verkündete Brunos Computer. Der Anführer der Nichtexistenzen hatte davon abgesehen, Max zu löschen. Zumindest persönlich wollte er das nicht tun. »Adieu, Max«, sagte er. »Du darfst in deinem eigenen Computer enden.« Max’ Augen weiteten sich vor Schreck, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Hier in Brunos abgeschirmtem Nebenspeicher war er sicher, solange niemand ihn mit Absicht löschte. Aber sobald er ins öffentliche Netz zurückkam, mußte er unweigerlich sein elektronisches Leben verlieren, wenn das Störprogramm sämtliche Systeme zusammenbrechen ließ. »Ooooh… neeeiiin!« rief er, als Bruno eine Rücklaufschaltung aktivierte und Max damit gnadenlos aus dem Nebenspeicher zog. »Aaahhaaahhaaa…« Weg war er.
Bryce saß vor dem Computer in Carters Apartment und langweilte sich. Das Datenmodifizierungsprogramm hatte er längst aktiviert. Jetzt brauchte er nur noch die Daten, die er manipulieren sollte. Er blickte ungläubig auf, als das typische Rauschen vom Bildschirm kam und Max Headroom freudestrahlend auftauchte. »Ahuumm… ahuuumm!« »Max!« Bryce sprang auf und umarmte den Monitor. Ihm fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Der Computermann war also doch noch nicht verloren! »Tja, da bin ich wieder! Die haben mich-mich-mich einfach rausgeworfen!« Übergangslos wurde Max ernst. »Du mußt mir helfen, Bryce… ich habe Angst. Wenn die ihr Programm starten, dann werden sie mi-mi-mi-mi-mich auslöschen… und ich ver-ver-verwandle mich in einen Haufen herrenloser Elektronen, die ziellos durch das Univer-univer-universum irren, irren. Einfach schrecklich!«
Bryce lachte so beruhigend wie möglich. »Keine Angst, das werde ich schon irgendwie verhindern.« Aber innerlich war er nicht ganz so überzeugt, daß er das auch wirklich schaffen könnte.
Martinez brachte den Hubschrauber in einer Staubwolke auf die Hügelkuppe oberhalb der Stadt zu Boden. Das Donnern der Rotorblätter war unüberhörbar. Carter sah, wie Dominique die Eingangstür des Senderbusses öffnete. Sie wollte wissen, was für ein unangemeldeter Besucher da kam. Der Hubschrauber hatte noch nicht ganz auf dem Boden aufgesetzt, als Carter schon aus der Kanzel sprang und geduckt zu dem rosafarbenen Gefährt hinüberrannte, seine Kamera fest in der Hand. Reg und Dominique erwarteten ihn im hinteren Abteil des Busses, in dem das kleine Fernsehstudio untergebracht war. Jetzt war es wieder still hier drin, denn Reg hatte wie gewünscht den Sendebetrieb eingestellt. Die beiden seltsamen Leutchen waren das personifizierte schlechte Gewissen, das erkannte der Reporter sofort. »Was können wir für Sie tun, Mr. Carter?« fragte Dominique. Sie versuchte nicht einmal, die große Dame zu spielen. »Wir wollen über die Nichtexistenzen reden!« »Fang an«, forderte der alte Punker. Der Reporter sah ihm in die Augen. »Wie sind Sie eine Nichtexistenz geworden, Reg?« Der Mann zog scharf die Luft ein. Dann setzte er sich auf einen wackligen Stuhl. »Ich hab’ mal für ein paar junge, sehr intelligente Computer-Hacker gearbeitet… dann kam ich in Schwierigkeiten. Steuerschulden, ein paar Verstöße gegen das Gesetz… so was kennt man ja. Und dann bin ich eben offiziell
verschwunden. Die haben mir geholfen… ich existiere nicht mehr. Meine Datei ist leer. Bis heute.« Langsam verstand der Reporter, warum einige Leute es vorzogen, Nichtexistenzen zu werden. Sie waren nicht länger bereit, sich der totalen Datenerfassung durch den Staat zu unterwerfen. Die perfekt organisierte Gesellschaft lehnten sie ab. Finanzämter und Steuern sowieso. Aber auch viele der anderen Vorschriften, die sie für überflüssig oder falsch hielten. Vorschriften wie das Verbot von Ausschaltknöpfen. Wenn Carter dieses Verhalten auch nicht billigte – verstehen konnte er es schon. »Das ist wohl… so eine Art Philosophie geworden?« vermutete er. »Das könnte man sagen«, nickte Reg. »Diese Behörden erfinden immer mehr Vorschriften. Jetzt brauche ich sogar ‘ne Lizenz für meinen Hund!« »Und der würde sie nur auffressen.« Dominique brachte ein schüchternes Lächeln zustande. Ihr war es äußerst unangenehm, als Gesetzesbrecherin dazustehen. Aber als Regs Gefährtin mußte sie mit solchen Dingen leben. Im Prinzip konnte Dominique auf alles verzichten. Nur nicht auf ihren alten Punker. Auch wenn ihr das selbst nicht ganz klar war. »Von wem stammt dieses Ultimatum?« fragte Carter beiläufig. »Komm schon, ich bitte dich!« empörte sich Reg. »Das darfst du mich wirklich nicht fragen!« Carter beugte sich vor. Er sah abwechselnd Reg und Dominique tief in die Augen. »Simon Peller ist natürlich ein Dummkopf. Vielleicht habt ihr Nichtexistenzen recht… aber ihr setzt auch Millionen von einfachen Menschen unter Druck!« »Deinen Sender übrigens auch«, stellte Reg aggressiv fest. Er spürte, daß Dominique immer unsicherer wurde. Aber er selbst ließ sich nicht so leicht um den Finger wickeln.
Der Reporter beschwor die beiden: »Wenn ihr eure Drohung wahrmacht, haben wir buchstäblich die ganze Welt hinter uns. Alle werden auf euch losgehen.« Der Punker schüttelte nur stumm den Kopf. Langsam gingen ihm die Argumente aus. »Reg… ich glaube, daß ihr im Prinzip recht habt… aber eure Methode taugt nichts.« Dominique war überzeugt. Sie beugte sich zu ihrem Freund hinab und blickte ihn mit ihren großen dunklen Augen flehend an. »Darling… wir sollten aussteigen.« Reg sah sie traurig an. Hatte sie ihn und seine Ideale verraten? Oder war es tatsächlich er selbst, der falsch lag? Man konnte beinahe sehen, wie die Rädchen in seinem Kopf angestrengt arbeiteten.
Auf dem Dach seines Busses senkte sich das Teleskop wieder ein paar Zentimeter, und die Computerstimme in Brunos Hauptquartier verkündete: »Deklination 25 Grad.«
Simon Peller hatte die politischen Spitzen der Stadt in seinem Büro versammelt, ebenso die höchsten Beamten und die Vertreter der Minderheiten. Wenn es darum ging, seine politischen Vorstellungen durchzusetzen, legte er Wert auf breiteste Zustimmung. Peller konnte einfach nicht verstehen, wieso jemand seine Daten aus dem Zentralcomputer löschen wollte. Für ihn stand unumstößlich fest, daß der gesetzestreue Bürger nichts zu verbergen hatte – zumindest nicht gegenüber dem Staat, der wie eine Mutter für ihn sorgte. Aber das bedeutete im Umkehrschluß: Wer seine Daten auslöschte, der hatte etwas zu
verbergen. Deshalb waren alle Nichtexistenzen Verbrecher. Je eher man sie festsetzte, desto besser. »Gleichgültig, wie viele Vorschriften Sie ignorieren müssen… ich will alle Nichtexistenzen hinter Gitter sehen«, hämmerte er der Versammlung ein. In Pellers Augen galten Gesetze nur für das Volk, für die Beherrschten. Die Herrschenden durften die Paragraphen ruhig schon einmal etwas zurechtbiegen, wenn es in ihrem Interesse lag. Schließlich taten sie alles nur zum Besten des Volkes. Ronald schlich sich auf Zehenspitzen heran und flüsterte seinem Chef etwas ins Ohr: »Eine gewisse Theora Jones will zu Ihnen.« »Nie von ihr gehört«, sagte Peller ungehalten. »Sie ist vom Sender…«, versuchte der kleine Mann es noch einmal, aber sein Chef schnitt ihm gnadenlos das Wort ab. »Sie müssen sie abwimmeln, verstanden?« Ronald nickte stumm. Aber es war schon zu spät. Aller Augen richteten sich auf die Tür, als Theora Jones unaufgefordert eintrat. Sie war nicht direkt zu Pellers Büro gefahren, sondern hatte einen kleinen Umweg über ihr Apartment genommen. Getreu Edisons Aufforderung, charmant zu sein, hatte sie noch schnell ein wenig Make-up aufgelegt und das Kleid mit dem aufregend tiefen Ausschnitt angezogen. Charme war nicht schlecht, aber wenn der noch durch ein wenig weibliche Raffinesse unterstützt wurde. Als Peller die bezaubernd schöne Frau, die ihre Augen so verheißungsvoll aufschlug, in der Tür erblickte, blieben ihm die Worte im Halse stecken. Theora lächelte ihn verführerisch an. Einer schönen Frau konnte der Senator einfach nicht widerstehen. Er gab Ronald einen kurzen Wink. Der clevere junge Mann verstand sofort und komplimentierte Pellers Gäste aus dem Büro.
»Auf Wiedersehen, Mr. Peller.« »Es war uns eine Ehre.« »Bis zum nächsten Mal.« Der Senator hörte kaum zu. Er hatte nur noch ein fahriges Kopfnicken für die Leute übrig. Ronald begleitete sie nach draußen. Er wußte, daß sein Chef jetzt allein zu zwein sein wollte. Natürlich würde er kein Wort über das, was sich in dem Büro nun abspielte, verlieren. Schon gar nicht gegenüber der Frau des Senators. Es sei denn… Ronald schmunzelte. Falls Peller einst seiner Dienste überdrüssig werden sollte und er sich einen neuen Job suchen mußte, konnten solche Informationen Gold wert sein. Für Pellers politische Gegner.
Im rollenden Piratensender Bigtime Television redete Edison Carter mit Engelszungen auf Blank Reg ein. Der alte Punker saß mürrisch auf seinem Stuhl und hörte sich an, was der Reporter ihm zu sagen hatte. Er wußte natürlich, daß Carter recht hatte – nur zugeben wollte er es nicht. »Reg… Sie wissen, wie Sie die Leute erreichen können! Wir haben Ihr codiertes Gespräch abgehört! Ich verspreche Ihnen, es gibt keine Fangpeilung… ich muß unbedingt mit diesen Leuten reden!« Der Fernsehpirat wußte natürlich, daß er Edison Carter trauen konnte wie nur wenigen anderen. Trotzdem war er wütend. Auf sich selbst, auf die Welt – und überhaupt. Warum lief immer alles anders als geplant? Trotzdem… der Junge hatte recht. Er mußte Bruno anrufen. Reg stand auf und ging zum Vidifon. »Es gibt keine ›Leute‹, es gibt nur einen, und der wird wütend sein!« Carter atmete tief durch. Er schaltete seine Kamera auf Bereitschaft. Reg warf ihm einen abgrundtief mißtrauischen Blick zu und zog die Hand von der Ruftaste zurück.
Carter seufzte. »Reg… wenn ich eine Katastrophe verhindern will, muß ich das Gespräch aufzeichnen. Hören Sie… Sie sollten mir schon etwas vertrauen.« Der Nichtexistente sah seine Lebensgefährtin hilfesuchend an. Dominique nickte ihm aufmunternd zu.
7. Kapitel
Bryce Lynch wurde langsam ungeduldig. Er hatte noch immer keine Daten, die er mit seinem Modifizierungsprogramm bearbeiten konnte. Also zog er ein paar »Fingerübungen« durch, wie er es nannte. Er rief die Trojaner-Szene auf und bearbeitete sie ein wenig: Den antiken Kriegern verpaßte er rote Pudelmützen und ersetzte die Schwerter in ihren Händen durch Staubwedel. Trojas trutzige Mauern im Hintergrund verzierte er mit modernen Graffitis. Und den Wachtürmen verpaßte er Zwiebelhauben, als habe er sie direkt aus dem Kreml entführt.
Reg hatte Bruno angerufen. Der Führer der Nichtexistenzen blickte reichlich verblüfft in die Optik, als er den Reporter neben seinem Freund sah. Verblüfft und in höchstem Maß argwöhnisch. »Bruno, hier ist ein Typ, der unbedingt mit dir reden will. Tut mir leid, das ließ sich nicht verhindern.« Reg war das alles ziemlich peinlich. Der Computerexperte langte schon nach dem Unterbrecherknopf. Carter sagte hastig: »Schalten Sie nicht ab! Es gibt garantiert keine Fangschaltung!« »Die mikrocodierte Leitung wird nicht abgehört«, stellte Brunos Computer sachlich fest. Der junge Mann entspannte sich. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. »Mr. Edison Carter, es ist mir eine Ehre.« Natürlich kannte er den berühmtesten – und wahrscheinlich
auch besten – Reporter von Sender 23. »Darf ich fragen, was Sie möchten?« Der Reporter schaltete seine Kamera ein. »Ich gebe Ihnen die Chance, Ihre Version der Geschichte zu erzählen.« »Warum sollte ich das?« Der junge Mann lächelte überheblich. »Ich kann wohl sagen, Reg ist ein Freund von mir. Ich respektiere seine und Ihre Entscheidung, Nichtexistenzen zu sein. Wenn ich Peller dazu bringe, Ihre Freunde freizulassen… brechen Sie Ihre Aktion dann ab?« »Natürlich, Mr. Carter… das haben wir doch versprochen. Passieren wird sowieso niemandem etwas. Nur sämtliche Computer brechen zusammen… die elektronische Gesellschaft steht vor ihrem Ende.« Eine Vorstellung, die den ehemaligen Professor offensichtlich amüsierte. »Lassen Sie uns wieder senden«, bat Carter. »Geben Sie mir Gelegenheit, meine Story zu bringen. Das ist unsere einzige Chance, den Dingen doch noch eine positive Wendung zu geben.« »Also gut… aber ich glaube, Sie verschaffen dem unvermeidlichen Ende nur mehr Publizität«, höhnte Bruno. »Sie haben nur noch wenig Zeit.« Er unterbrach die Vidifonleitung. Im nächsten Moment zeigten sämtliche Fernsehempfänger im Bus das Testbild von Sender 23. Bruno hatte die Blockade unterbrochen. Carter spähte aus dem kleinen runden Fenster. »Er hat recht… uns bleiben nur noch wenige Minuten. Die Sonne ist beinahe untergegangen. Ich schaffe es nicht mehr.« »Und ob du es schaffst!« Aufmunternd drückte Reg den Arm des Reporters. Dann kramte er eine riesige Taschenlampe aus einer Schublade. »Die Sonne ist nicht die einzige Lichtquelle auf Erden«, knurrte er und verließ den Bus. Carter und
Dominique hörten, wie er aufs Dach kletterte. Ja! So könnte es klappen!
Theora Jones hielt ihre Kamera wie eine Lanze vor sich. Dieser Peller war ihr nicht nur unsympathisch, er war ihr regelrecht zuwider. Aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen. Ebensowenig durfte der Senator erfahren, daß sie gar keine Funkleitung zum Sender 23 hatte – sondern mit den Barclays Apartments in Verbindung stand. Alles, was sie aufzeichnete, ging augenblicklich in die Speicher von Bryce Lynchs Computer. »Werden Sie die Nichtexistenzen freilassen, wenn die ihre Drohung nicht wahrmachen?« »Nein, meine liebe Miss Jones.« Peller stand an der kleinen Bar und füllte zwei Gläser mit kostbarem alten Portwein. »Ich werde diese Leute selbstverständlich nicht freilassen. Die Sonne ist fast untergegangen… und wie Sie selbst sehen können, alle Bildschirme funktionieren wieder!« Er kam ganz nahe an Theora heran und bot ihr ein gutgefülltes Glas an. Unwillkürlich wich die junge Frau einen Schritt zurück. Sie klammerte sich an der Kamera fest. Das Gerät war das einzige, was ihr in dieser unmöglichen Situation noch Halt gab.
Carter kletterte auf das Dach des Busses. Er verstand nicht ganz, was Blank Reg da anstellte. Er leuchtete mit der Taschenlampe in das Teleskop hinein. »Was machen Sie?« »Das ist der Zünder… eine fotoelektrische Zelle.« Der alte Punker deutete auf den metallischen Kasten unter dem Teleskop. »Wenn sie kein Licht mehr erhält, wird das
Programm gestartet, und – Bumms! – bricht der Zentralcomputer unter der Überlastung zusammen.« »Das Ende der elektronischen Gesellschaft…«, stellte Carter sachlich fest. Reg musterte den Kasten etwas eingehender. Plötzlich zuckte er zusammen, öffnete eine seitliche Klappe. »Oh-oh… eine böse Überraschung!« »Was denn?« »Hier gibt’s noch eine Zeitschaltuhr… mit einer kleinen Sprengladung!« Jetzt sah auch Carter die unscheinbare Knetmasse, in der verschiedenfarbige Drähte steckten. Sie führten zu einer Digitaluhr mit unheilverkündend rot schimmernden Leuchtziffern. Der Reporter erstarrte. »Bringen Sie sich in Sicherheit!« »Nein, ich muß dir unbedingt etwas Zeit verschaffen, Freund. Nun steh nicht länger rum… meine Taschenlampe brennt auch nicht ewig! Geh schon!« Carter zögerte. Er wußte, daß Reg recht hatte, aber konnte er verlangen, daß der sein Leben aufs Spiel setzte? Andererseits – wenn es um das Schicksal von Millionen ging, mußte ein einzelner auch schon einmal zurückstehen. Der Reporter kletterte die Leiter hinab und lief zum wartenden Hubschrauber. Die Leuchtziffern am Zeitzünder zeigten noch genau 16 Minuten und 53 Sekunden. Martinez jagte die Maschine mit Vollgas der Stadt entgegen, hinter der die Sonne blutigrot versank. Regs Taschenlampe hatte einen Wackelkontakt. Ihr Licht verlosch. Und das wenige, das die Sonne noch ausstrahlte, würde nicht mehr lange reichen, um den Start des ChaosProgramms zu verhindern. Er schlug gegen die Lampe. Da war das Licht wieder!
»Laß mich nicht im Stich, verdammte Technik!« Er hätte die Batterien auswechseln sollen! Der Schrott, der heute produziert wurde, taugte nichts mehr. Schon nach fünf Jahren gaben die Dinger ihren Geist auf! Klackend rastete das Teleskop in die nächsttiefere Stellung ein. »Deklination 20 Grad«, verkündete der Computer in Brunos Versteck.
Bryce arbeitete wie ein Besessener. Er hatte Theoras Interview mit Peller digitalisiert und bearbeitete es jetzt mit seinem Datenmodifizierungsprogramm. »Nein, meine liebe Miss Jones, ich werde diese Leute selbstverständlich nicht freilassen«, verkündete der Senator mit fester Stimme. Bryce fuhr die Aufnahme zurück. Er mußte die Schnittstelle ganz genau erwischen, damit niemandem die Manipulation auffiel. Der Politiker-Kopf auf dem Schirm wiederholte sich wieder und wieder, ganz so, wie Bryce es verlangte: »Leute selbstverständlich nicht… selbstverständlich nicht… selbstverständlich… selbst…« Bryce grinste zufrieden. Er würde dem Mistkerl, der seine heißgeliebten Computer so bedenkenlos in Gefahr brachte, eine gehörige Überraschung bereiten.
Murray hatte sich eine Vidifonleitung zum Hubschrauber besorgt. Er sah, daß Carter Kopfhörer und Kehlkopfmikrofon trug. Anders wäre eine Unterhaltung im Getöse der Rotorblätter auch kaum möglich gewesen.
»Was ist los, Edison?« fragte der Chefredakteur nervös. »Wir haben das Peller-Interview, und die Schirme funktionieren wieder.« »Ich weiß, ich weiß. Hast du alles zu Bryce überspielt?« »Ja, natürlich! Aber was läuft da eigentlich? Was habt ihr vor, Edison?« »Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen! In ein paar Minuten bin ich bei Peller! Du mußt mir vertrauen, Murray.« Der Chefredakteur schniefte. Natürlich vertraute er seinem besten Mann. Trotzdem hätte er gern gewußt, was sich da draußen abspielte. Wer hatte hier eigentlich das Sagen?!
Der Zeitzünder auf dem Busdach war bei 9 Minuten und 47 Sekunden angelangt, als Carter Pellers Büro erreichte. Regs Taschenlampe gab immer weniger Licht, und die Deklination des Sonnenzünders war auf 15 Grad abgesunken. Der Reporter stürmte in das luxuriöse Büro. Der Senator war gerade ein wenig zudringlicher geworden. Erschrocken zuckte er von Theora zurück, die ihr Kleid zurechtzupfte. Sie warf Edison einen spöttischen Blick zu. Deutete sie seine Miene richtig – war er etwa eifersüchtig? Dabei hatte er ihr doch selbst gesagt, sie solle charmant sein! »Ohoh… Carter!« Es war dem Politiker offenbar peinlich, in welcher Situation er erwischt worden war. Er gewann Abstand von Theora, stützte sich in einer seiner einstudierten Posen auf die Tischplatte. »Wie Sie selbst sehen können, alles funktioniert wieder. Ich habe… ahä… triumphiert!« Theora deutete Edisons Blick richtig. »Achtung, Kontrolle, wir senden jetzt live!« sagte sie halblaut ins Mikrofon ihrer Kamera. Peller blickte die beiden Journalisten irritiert an. Was wurde hier gespielt? In welcher Verbindung stand die süße Miss Jones zu dem unausstehlichen Carter?
Theoras Funkspruch löste in der Nachrichtenzentrale hektische Aktivitäten aus. »Achtung, Funkstrecke sechs, wir senden jetzt live!« raunzte Murray in sein KommandoMikrofon. Er lief zum erhöhten Platz des Einsatzleiters, von dem aus er die gesamte Zentrale im Blickfeld hatte. »Leitung zu Bryce freihalten! Studio, Achtung… Countdown!« »Fünf, vier, drei, zwei, eins…« zählte einer der Techniker die letzten Sekunden bis zur Live-Schaltung herunter. »Edison, ich kann nur hoffen, du weißt, worauf du dich einläßt…« murmelte Murray halblaut. Laut genug für die empfindlichen Mikrofone der Überwachungseinrichtungen, die alles nach oben in den Vorstandssaal übertrugen. Edwards glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. »Heißt das… wir wissen nicht, was Carter vorhat?« »Richtig!« bestätigte Cheviot. »Aber Carter hat mein volles Vertrauen.« Noch machte sich der Ansager auf dem Bildschirm breit: »Ladies und Gentlemen, und nun die Sendung, auf die Sie den ganzen Tag gewartet haben: Die Edison-Carter-Show!« Dann tauchte Carters Gesicht auf. Er meldete sich aus Simon Pellers Büro. »Seit heute morgen wird unsere Stadt von einer Serie gefährlicher Computer-Ausfälle heimgesucht. Noch vor wenigen Minuten waren unsere Fernsehschirme leer. Und das ist kein Zufall.« Das Direktorium von Sender 23 lauschte den Ausführungen des Reporters mit der selben gespannten Aufmerksamkeit wie Bruno in seinem Versteck. Er entspannte sich, als er merkte, daß ihn der Mann nicht hintergangen hatte. »Die Menschen, die die Verantwortung für die Ausfälle tragen, sind keine Terroristen«, versicherte Carter. »Sie sagen, einige von ihnen seien widerrechtlich verhaftet worden. Ich
hatte vorhin die Gelegenheit, mit ihrem Anführer zu sprechen.« Murray ließ die Aufzeichnung des Interviews einblenden, das Carter über Regs Vidifon mit Bruno geführt hatte.
Der arme Reg stand währenddessen noch immer auf dem Dach seines Busses und kämpfte mit den Tücken der Technik. Seine alte Taschenlampe ließ sich nur noch durch dauerndes Klopfen in Gang halten. Reg wagte nicht, auf den Zeitzünder zu blicken. Die roten Leuchtziffern zeigten an, daß noch drei Minuten und neun Sekunden bis zum großen Knall blieben. Die Mechanik senkte das Teleskop noch einmal ab. Jetzt hatte es die unterste Stufe erreicht.
»Deklination Null Grad«, meldete Brunos Computer, aber sonst geschah nichts. Seine Mitverschwörer, die sich wieder auf die Konferenzbildschirme geschaltet hatten, blickten ihn verständnislos an. »Warum zum Teufel aktiviert sich das Programm nicht?« »Zünder funktionsunfähig«, gab der Computer teilnahmslos bekannt. »Da muß ein Fehler vorliegen!« »Das macht nichts«, meldete sich Traker vom Bildschirm. »Ich habe eine Sprengladung installiert. Wenn die Anlage versagt, wird sie in Stücke gesprengt. Dann kann unser Störprogramm doch noch losjagen. So einfach ist das.« »Bist du wahnsinnig?« Bruno starrte seinen Kampfgefährten an, als sähe er ihn gerade zum ersten Mal.
Der Zeitschalter war noch genau 51 Sekunden vom Punkt X entfernt, als Reg seine flackernde Taschenlampe anfeuerte: »Wirst du wohl weiterbrennen? Du vertrittst die Sonne!« »Reg befindet sich in der Nähe des Zünders!« Es wollte Bruno nicht in den Kopf, daß Traker so etwas vergessen konnte. Doch der hatte das sehr wohl bedacht. Allerdings waren andere Überlegungen vorrangig für ihn: »Bruno, wenn das Programm nicht anläuft, sind wir die Verlierer!« »Aber Reg wird dafür nicht geopfert!« stellte der ehemalige Professor kategorisch fest. Dabei waren die Chancen des alten Punkers alles andere als gut. Seine Taschenlampe gab endgültig den Geist auf. Er riskierte einen schellen Blick auf den Zünder – und sah, daß ihm noch ganze 17 Sekunden blieben. Zu wenig zum Weglaufen. Er stieß einen Schreckensschrei aus und hielt sich die Ohren zu. Hoffentlich war der Knall wenigstens nicht zu laut! »Traker, du bist ein Idiot!« schimpfte Bruno. »Ich riskiere kein Menschenleben. Ich stoppe das ganze Programm!« »Nein!« »Doch!« Bruno drückte den Notschalter. Neun Sekunden vor Ultimo blieb die Uhr des Zünders stehen. Reg bemerkte es nicht. Er hatte die Augen zugekniffen, um möglichst wenig mitzubekommen. Bruno stützte das Gesicht in die Hände. Hatten sie wirklich verloren? Und schlimmer noch: Hatte er die gemeinsame Sache aller Nichtexistenzen verraten? Ihm blieb nur noch ein winziger Hoffnungsfunke: Edison Carter. Es hielt die Direktorinnen und Direktoren von Sender 23 nicht mehr auf ihren Plätzen. Sie standen vor der großen Videowand und verfolgten atemlos Carters Sendung. Das
Schicksal der Stadt hing von dem ab, was der Reporter bei Peller erreichte. »Nur ein Mensch kann verhindern, daß unsere ganze Stadt lahmgelegt wird«, erklärte Carter seinen Zuschauern. »Simon Peller.« Er wandte sich an den Senator: »Mr. Peller, sind Sie bereit, zu verhandeln, um diese Katastrophe zu verhindern?« Nicht nur Bruno und der Vorstand des Senders hielten gespannt den Atem an.
Bryce Lynch, der ganz allein vor seinem Computer in Carters Apartment hockte, war vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der sich entspannte. Er drückte eine letzte Taste und gab über die Standleitung an Murray durch: »Meine Einspielung ist bereit, Kontrolle!« Im nächsten Moment ging das Interview über den Sender, das Peller Theora gegeben hatte. Allerdings hatte Bryce die Antworten des Senators mit Hilfe seines Programms leicht modifiziert. So kam es, daß Peller von sämtlichen Bildschirmen der Stadt verkündete: »Meine liebe Miss Jones… selbstverständlich lasse ich die Leute frei. Ich habe nicht die Absicht, das Funktionieren dieser Stadt und ihrer Fernsehstationen zu gefährden.« Peller sah sein Bild auf dem Fernsehschirm, und er hörte seine Stimme diese Worte sprechen. Und doch… Diesmal war seine Empörung echt. Sein sonst so beherrschtes Gesicht verzog sich zu einer Fratze ungezügelten Zorns. »Das ist ungeheuerlich! Das habe ich nie gesagt!« Doch jetzt blieben die Kameras ausgeschaltet. Diese Worte wurden nicht übertragen.
»Carter hat es geschafft!« Selbst ein Computerexperte wie Bruno kam nicht auf die Idee, die Bilder könnten manipuliert worden sein. Dazu war ihre erfreuliche Aussage zu eindeutig.
In der Nachrichtenzentrale lief Murray zu Höchstform auf. Er hatte sich nur kurz und in wenigen Stichworten mit seinem besten Mann absprechen können. Aber er wußte genau, worauf es jetzt ankam: »Alles bereit für die Meinungsumfrage.« Solange die Computer funktionierten, konnte man jederzeit erfassen, was die Leute von irgendeiner Sache hielten. Und jetzt wollte Murray Daten über die öffentliche Reaktion auf Pellers angebliche Entscheidung haben.
Im Büro des Senators konnten sich die beiden Fernsehleute das Grinsen nicht verkneifen. Peller war zu schockiert von der Erkenntnis, daß auch er selbst ein Opfer des Götzen werden konnte, dessen er sich sonst so geschickt zur Durchsetzung seiner eigenen Ziele bediente. »Fernsehbilder können nicht lügen, Mr. Peller«, sagte Carter mit einem entwaffnenden Lächeln. »Warten Sie ab, was die Öffentlichkeit von Ihrer vernünftigen Entscheidung hält.« Auf dem Bildschirm war jetzt das Ergebnis der Blitzumfrage zu sehen. Mehr als 80 Prozent der Bürger standen mit ihrer Meinung hinter dem Senator. »Die Öffentlichkeit scheint Ihre Entscheidung mit überwältigender Mehrheit gutzuheißen«, stellte Carter sachlich fest. »Werden Sie die Leute jetzt freilassen?« Peller kämpfte immer noch um seine Beherrschung, als Theora ihre Kamera wieder einschaltete und ihn ins Bild nahm. Mit der Routine des erfahrenen Staatsmannes fing er sich in Sekundenbruchteilen. Trotzdem mußte er noch einmal tief
durchatmen, bevor er feierlich verkünden konnte: »Hiermit ordne ich die sofortige Freilassung aller inhaftierten Nichtexistenzen an!«
Unbeschreiblicher Jubel brach in der ganzen Stadt aus. Bruno seufzte aus ganzem Herzen. »Ein Glück… es ist vorbei!« So wie er empfanden die allermeisten. Niemand brauchte sich mehr vor einer furchtbaren Zukunft ohne Computer und Fernsehen zu fürchten. Das Leben würde weiterhin in den bekannten Bahnen verlaufen.
Jetzt, wo die Kameras abgeschaltet waren, ließ Peller seinen Gefühlen freien Lauf: »Mr. Carter! Das war eine ganz üble Falschmeldung!« »Die Menschen wollten eine Lösung, ich habe eine geboten… und ich habe so getan, als sei es Ihre! Das bringt Ihnen Stimmen bei der nächsten Wahl!« »Ich lasse alle Nichtexistenzen vor Gericht stellen. Es ist noch nicht vorbei, Carter!« »Das glaube ich doch… Simon! Hier in unserer großen Stadt hat Gerechtigkeit nichts mit Geld… oder mit Politik zu tun… das sollten Sie doch wissen.« Der Senator resignierte. Er sah ein, daß er sich völlig unglaubwürdig machen würde, wollte er jetzt noch etwas gegen die Nichtexistenzen unternehmen. Diese Schlacht hatte er verloren. »Na gut… ich vermute, Sie finden den Weg nach draußen allein.« Ohne die beiden auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ er Carter und Theora stehen. Doch sie blieben nicht lange allein. Max schaltete sich auf den Fernsehschirm.
Er sah in ihre fröhlichen Gesichter – und zog eine beleidigte Miene. »Worüber… lacht-lacht-lacht ihr zwei denn, he? Bryce hat versucht, mir einen Kuß zu geben. Einen Kuß zu geben.« Indigniert verzog er das Gesicht. Carter tröstete ihn: »Du bist eben unwiderstehlich.« »Und ich?« Theora sah den Reporter herausfordernd an. »Jetzt oder nie!« schoß es Carter durch den Kopf. Er beugte sich zu der jungen Frau hinab, wollte sie ganz zärtlich in die Arme nehmen – und wurde plötzlich starr. »Mein Gott… Reg!« »Was?« Theora verstand nicht, was Carter meinte. Der hastete schon zur Tür. »Nimm die Kamera mit!« brüllte er.
Reg stand noch immer auf dem Dach seines Busses und wartete mit zusammengekniffenen Augen auf den großen Knall. Der ließ jetzt allerdings schon reichlich lange auf sich warten. Dominique kam ins Freie. Damit sie nicht wieder stolperte, hatte sie ihre hochhackigen Schuhe gegen niedliche Plüschpantöffelchen getauscht. »Reg… was in aller Welt tust du noch immer da oben?« fragte sie. Ihr Lebensgefährte öffnete vorsichtig ein Auge – und sah, daß der Zünder bei neun stehengeblieben war. Schlagartig kehrte seine alte Chuzpe zurück. »Ich hab’ nur den Helden gespielt, Dominique… denn ich war an der Reihe!« Die Frau lachte ihn bewundernd und liebevoll an. Für sie war Reg schon seit vielen Jahren ein Held. Er brauchte ihn nicht erst zu spielen.
Sie liebte diesen verrückten alten Kerl da oben auf dem Busdach, der soeben einen Tanz aufführte wie ein ausgeflippter Indianerhäuptling. Ja – sie liebte dieses alte Scheusal wirklich!
8. Kapitel
Und nun war es wieder Zeit für die Max-Headroom-Show. Der elektronische Moderator schaltete sich auf sämtliche Bildschirme des Netzes und zeigte sein strahlendstes Zahnpasta-Lächeln. »Dasi-dasi-das-da-das ist sehr komisch! Ahäää! Die Leute vom Sender 23 haben mir gerade gesagt, ich würde mich selbst über-über-übertreffen! Und aus diesem Grund haben sie beschlossen, meine Sendung zu unterbrechen, um euch etwas echt Tolles zu za-za-zeigen! Nun ratet mal, wasihrjetztseht…Werbespots!« Max wollte sich schier ausschütten vor Lachen. »Ach achaaa! Nicht zu glauben! Ahahaa! Wer-wer-wer werbeblockabfahren!« rief er einem unsichtbaren Techniker zu. »Es wird-wird-wird-wird… ganz großartig«, versicherte er seinen Zuschauern. »Deshalb… sehe ich mir den Quatsch auch an! Hiachiachnng! Ich bin… hjüch-jüchjüch…oje…!« Es wurde ihm wohl langsam klar, was für einen Unsinn er da landesweit verzapfte. Er wandte sich dem rechten Bildschirmrand zu. »Ich bin bald wieder zurück. Bis dann!« Unter irrem Gelächter verschwand er vom Schirm. Das grafische Muster, das gewöhnlich seinen Hintergrund bildete, war noch für einen Moment zu sehen. Dann startete der Werbespot. Diesmal war er nicht von der ZikZak-Coporation, dem Hauptkunden von Sender 23. Auch andere Firmen brauchten Werbung, um mehr Kunden anzulocken. Wie hatte es der auf diesem Gebiet besonders erfahrene A. D. Schoepps einmal so treffend formuliert? »Mit der richtigen Werbung kann man jedes Produkt verkaufen!«
Und das Produkt der Firma Security Systems hieß »Sicherheit«. Der von Max so begeistert angekündigte Spot zeigte zuerst einen Blick auf die Erde, so wie man sie aus der Umlaufbahn betrachten kann. Dann, als Zeichen für den vertrauten Umgang mit Hochtechnologie, eine Trickaufnahme des firmeneigenen Überwachungssatelliten. Und schließlich, metallisch schimmernd vor dem Hintergrund des unendlichen Alls, das markante Firmenemblem der Security Systems, Inc. Diese Bilder begleitete die männlich-markante Stimme eines unsichtbaren Sprechers. »In der heutigen Welt hat jeder das unveräußerliche Recht auf Kredit, unbegrenztes Fernsehen und Sicherheit. Ob zu Hause oder an Ihrem Arbeitsplatz – auf Security Systems können Sie sich überall verlassen. Wo Sie auch hingehen, wir von Security Systems sind schon da.« Was der Mann nicht erwähnte, waren die nicht ganz unerheblichen Kosten, die Security Systems für seine Dienste berechnete. Anders ausgedrückt: Die Abermillionen Unglücklichen, die in den Slums der Randgebiete dahinvegetierten, hatten zwar das unveräußerliche Recht auf Sicherheit, nicht aber die Möglichkeit, dafür zu bezahlen. Für diese Leute wurde Security Systems nicht tätig. Es gab ja schließlich auch noch die Metro-Polizei. Security Systems warb mit einem Slogan, den in längst vergangenen Tagen irgendein cleverer europäischer Politiker erfunden hatte: »Wir produzieren Sicherheit.« Das mußte irgendwann in den 70er Jahren gewesen sein, damals, als die Götterdämmerung des Computer-Zeitalters begann. Wie schon damals war auch im Zeitalter Edison Carters »Sicherheit« noch immer eins der teuersten Produkte überhaupt. Wenn damals auch die Sicherheit noch aus Steuermitteln bezahlt worden war und allen Bürgern gleichmäßig zur Verfügung gestanden hatte.
Allerdings hatten auch in jenen glücklichen Tagen schon begnadete Poeten wie der unvergessene Mike Krueger über die Sicherheitsträume mancher Bürger, die sie mit immer unbezahlbareren Systemen verwirklichen wollten, gespottet: »Wir produzieren Sicherheit, damit ihr alle sicher seid. Füll’n Frieden ab in Fässern, um diese Welt zu bessern. Und wenn der große Knall dann kommt und alles liegt in Asche, dann werd’n die Fässer aufgemacht, und jeder kriegt ‘ne Flasche.« Security Systems hatte Sicherheit wieder bezahlbar gemacht. Für einen beschränkten Kundenkreis. Mit dem Recht war es nun einmal wie mit dem Geld. Jeder hatte einen Anspruch darauf. Aber nicht jeder besaß es.
Nachdem die Affäre mit den Nichtexistenzen endgültig aus der Welt geschafft war, hatte sich Edison Carter nach neuen Themen für seine Nachrichtenshow umsehen müssen. Peller hatte es nicht mehr gewagt, Schwierigkeiten zu machen, nachdem sich die öffentliche Meinung so eindeutig festgelegt hatte. Niemand war vor Gericht gezerrt worden, nur weil er seine Daten aus den Computerbänken gelöscht hatte. Nach ihrer Freilassung waren die meisten Nichtexistenzen Bruno in die Berge gefolgt, wo sie in einer Art Kommune neue Formen des Zusammenlebens ohne Herrschaft und Autorität – und ohne überflüssige Technik – ausprobieren wollten. Die Geschichte wiederholte sich scheinbar endlos. Einem Nachrichtenprofi wie Carter fiel es nicht schwer, neue Themen für seine Sendung aufzutun. Er hatte sich die Daten angesehen, die Murrays Researcher in aller Welt sammelten. Dabei waren ihm ein paar finanzielle Transaktionen aufgefallen, bei denen gewaltige Summen bewegt wurden. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch einige Kleinigkeiten hatten Carter stutzig gemacht.
All diese undurchsichtigen Geschäfte hingen mit der Firma Security Systems zusammen, neben der ZikZak-Corporation wohl einer der mächtigsten Konzerne der Welt. Undurchsichtige Geschäfte machten Carter immer neugierig. Er betrachtete es als seine berufliche Pflicht, solche Vorgänge durchsichtig zu machen. Martinez, der erfahrene Pilot, mit dem Carter am liebsten zusammenarbeitete, hob den schlanken Hubschrauber der Flugbereitschaft vom Dachlandeplatz über dem 210. Stockwerk des 23er-Towers ab. Der Reporter saß auf dem Sitz des Copiloten. Er prüfte die Funkstrecke seiner Kamera: »Edison-Carter-Show, Woche vier. Thema: Security Systems.« Diese Ansage diente gleichzeitig zur Archivierung und half später, die Aufzeichnungen im Computer-Speicher wiederzufinden. Der Hubschrauber schwebte durch den smogverhangenen Himmel über der riesigen Stadt. Martinez flog nach Sicht, und so mußte er manchem Hochhaus, dessen obere Etagen in der Wolkenuntergrenze verschwanden, ausweichen. Die Funkstrecke funktionierte einwandfrei. Carter konnte mithören, wie Theora in der Zentrale die letzten Vorbereitungen für die Live-Schaltung traf. »Alle bereit?« fragte die junge Frau. »Ja«, kam die lakonische Antwort des Chefs der Techniker. »Gut. Ich habe eine kleine Störung auf dem Monitor. Ich will keine Pannen erleben, wenn Mr. Carter auf Sendung geht.« Der Reporter wußte, daß Theora ihn über ihre ComputerKontrollen jederzeit lokalisieren konnte. Sie wachte wie ein unsichtbarer Schutzengel über ihn. Und einen Schutzengel hatte er gerade heute verdammt nötig. Denn das, was Carter plante, war nicht ganz ungefährlich. »Fünf, vier, drei, zwei, eins«, zählte Theora die letzten Sekunden bis zur Übertragung herunter.
Carter meldete sich aus dem Cockpit des Hubschraubers. Er hatte seine Kamera in eine Halterung gesteckt, um sich selbst aufnehmen zu können. Die Zuschauer liebten es, ihren Helden bei seinen Einsätzen an den gefährlichsten oder ungewöhnlichsten Orten dieser Welt zu beobachten. Er war mit Sicherheit nicht der erste »rasende Reporter« der Mediengeschichte. Aber mit Abstand der populärste. »Unter uns befinden sich die Mauern der Stadt«, legte er los. »Sie sind aus Kunststoff, Mauerwerk, Holz und Eisenverbindungen.«
Theoras Kontrollen zeigten, daß die Übertragung reibungslos funktionierte. Momentan hatte sie nichts zu tun. Gelangweilt nippte sie an ihrer Kaffeetasse. Ihr war nicht ganz klar, welche Story Edison bei Security Systems zu finden hoffte. Im Gegensatz zu dem Knüller mit den Nichtexistenzen und ihrem Anschlag auf das städtische Computer-System, der jeden einzelnen Bürger an seiner verwundbarsten Stelle traf, war diese Sache hier richtig öde. Es war ihr unverständlich, wie man mit einer solchen Sache Einschaltquoten gewinnen konnte. »Aber es gibt auch noch elektronische Mauern, die unerwünschte Besucher fernhalten und Geheimnisse bewahren sollen«, fuhr Carter fort. »Unsichtbare, undurchdringliche Mauern, die ausschließlich von der Firma Security Systems geplant und errichtet worden sind. Gerade jetzt überfliegen wir eine dieser unsichtbaren Barrieren. Es ist die elektronische Mauer, die den exklusiven Sybaris-Wohnkomplex umgibt.« Eine Wohnung im Sybaris-Haus konnten sich wirklich nur die ganz Reichen erlauben. Das Haus hatte gerade 30 Stockwerke, und es stand inmitten einer der wenigen Parks mit dem letzten kostbaren Grün, das in der Stadt noch existierte.
Ein unglaublicher Luxus, der der Öffentlichkeit natürlich nicht zugänglich gemacht werden durfte, wenn er erhalten bleiben sollte. Dafür, daß nur die wenigen berechtigten Auserwählten, die die horrenden Mieten im Sybaris-Haus bezahlen konnten, diese Anlagen betreten durften, sorgte die Firma Security Systems. Ebenso wie den Boden überwachte sie den Luftraum und die breite, zehnspurige Schnellstraße, die am Park vorbeiführte. Sie war eins der letzten Zeugnisse vergangenen Massenwohlstands, als noch jeder Bürger ein Auto hatte und damit nach Gutdünken die Straßen verstopfen konnte. Die wenigen Wagen, die heute noch produziert wurden, verloren sich auf den für hundertfache Kapazität ausgelegten Straßen. Carter sah hinunter auf den Wohnkomplex, auf dessen Dach natürlich auch ein Hubschrauberlandeplatz nicht fehlen durfte. »Irgendwo in diesem Wohnkomplex befindet sich die Antwort auf eine wichtige Frage«, verkündete er. »Wer hat die Absicht, die Kontrolle über die Sicherheitssysteme zu übernehmen? Wer will das Geheimnis besitzen, das sich hinter diesen Mauern befindet?« Er schaltete die Kamera ab. Für die Nachrichten-Show morgen abend würden die Aufnahmen so bearbeitet werden, daß dem Zuschauer die Schnitte nicht auffielen und er wie immer das Gefühl hatte, hautnah und live dabeizusein. »Wie war das, Theora?« fragte er über die VidifonVerbindung des Hubschraubers. »Recht spannend.« »Du hörst dich beinahe wie Murray an«, seufzte Carter. »Der ist von der Story so begeistert, daß er sich kaum überwinden kann, ins Büro zu kommen.«
Der Chefredakteur hatte offenbar verschlafen. Hastig stieß er die Tür zur Nachrichtenzentrale auf und stürmte mit Riesenschritten herein. »Hallo, Murray!« Eine der Researcher kam mit einem Stapel Unterlagen auf ihn zu. »Ich habe jetzt keine Zeit, ich bin zu spät.« Er hetzte zu seinem kleinen Büro, von dem aus er gleich Cheviot anrufen mußte. Deshalb trug er auch schon wieder Anzug und Krawatte. Murray war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, aber wenn er erst einmal in Hektik geriet, dann richtig. Er rannte an Theoras Arbeitsplatz vorbei, ohne die junge Frau überhaupt wahrzunehmen. »Guten Morgen, Murray!« flötete sie spöttisch hinter ihm her. Dann wurde es wieder Zeit, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. »Achtung, Edison… der Werbeblock ist gleich zu Ende.« Sie sah, wie der Reporter sich sammelte. Ihre rechte Hand betätigte den Schalter für die Übertragung – da zog plötzlich Martinez, der sonst so schweigsame Pilot, eine Grimasse des Schreckens und redete einfach dazwischen: »Oh-oh… wir haben leider Schwierigkeiten!« Theora sah, wie das Bild unruhig wurde. Offenbar taumelte der Hubschrauber in der Luft. »Kontrolle, wir verlieren an Höhe«, gab Martinez durch. Er führte einen verzweifelten Kampf mit den Steuerelementen der Maschine. »Was ist denn passiert?« fragte Theora voll plötzlicher Angst. »Anscheinend ein Triebwerkschaden«, kam die Antwort. »Auf jeden Fall fällt der Öldruck ab, wir haben kaum noch Leistung!« Der grazile Hubschrauber vollführte einen wirbelnden Tanz in der Luft. Das wenige, was Martinez noch an Leistung zur
Verfügung hatte, mußte er auf den Hauptrotor geben, um einen Absturz zu verhindern. Für den Steuerrotor am Heck blieb einfach nicht genügend Kraft übrig. Theora führte hastig einen Ferncheck der Maschine durch. Ihr Computer konnte sich über Funk ein umfassenderes Bild der Schäden verschaffen als der momentan vollauf beschäftigte Pilot. Auf Theoras Schirm entstand eine grafische Darstellung des Hubschrauberantriebs. Theora verstand nicht viel von Turbinen, aber die blinkende Leuchtschrift über der Grafik war eindeutig: »Vielfältige Lecks«. »Das automatische Triebwerksmanagement ist ausgefallen«, rief die junge Frau ins Funkgerät, das sie mit dem Piloten verband. »Geh auf Handsteuerung. Vielleicht kannst du den Hubschrauber stabilisieren!« Martinez versuchte sein Möglichstes, aber: »Wir verlieren weiter an Höhe!« Theora sah, wie Carter seine Kamera aus der Halterung nahm und das Objektiv nach draußen richtete. Der Reporter war wirklich furchtlos und professionell bis zuletzt. Wenn er schon in einer abstürzenden Maschine saß, wollte er seinem Publikum auch packende Bilder der Katastrophe liefern! Allerdings war nicht viel zu erkennen, denn die Maschine rotierte mittlerweile so wild, daß nur undeutliche farbige Schatten über den Bildschirm huschten. Der Fluglotse von Sender 23, der für die Überwachung aller Hubschrauber zuständig war, schaltete sich in den Funkverkehr ein: »Ich verständige den Notdienst!« Der würde allerdings nicht mehr viel zu tun bekommen, wenn der Helikopter aus fast 200 Metern Höhe wegsackte.
»Verdammt noch mal, warum gerade jetzt?« fluchte Carter. »Festhalten!« brüllte Martinez. »Gleich wird’s unruhig!« Was heißt denn hier gleich? dachte Carter, der froh war, daß er sich angegurtet hatte. Die Fliehkräfte in der kreiselnden Maschine wurden immer stärker. »Achtung, Notlandung!« Der Fluglotse räumte sämtliche Frequenzen frei. Martinez schaltete auf Autogyro. Ohne Antrieb konnte der Helikopter durch den Schwung der Rotorblätter halbwegs gemächlich zu Boden sinken. Aber nur für eine gewisse Strecke. Dann würde er schneller und schneller und schließlich abstürzen wie ein Stein. Bis zur Erdoberfläche reichte es auf keinen Fall mehr. Doch der Landeplatz auf dem Dach des Sybaris-Komplexes war gerade noch nahe genug… Martinez funkte jetzt auf der offenen Notfrequenz. »SybarisKontrolle, hier spricht Lima 23. Wir haben Triebwerksschaden. Wir müssen auf Ihrem Platz landen.« »Das hier ist Sperrgebiet. Landen Sie woanders«, kam die lakonische Antwort. Carter schaltete sich ein. Er wußte besser als Martinez, wie man mit solchen sturen Paragraphenreitern umspringen mußte: »Sybaris-Kontrolle, wenn Sie Ihre Lizenz nicht wegen unterlassener Hilfeleistung verlieren wollen, lassen Sie uns landen!« Es dauerte einige Sekunden, bis die Antwort kam. Sekunden, in denen Martinez sein ganzes fliegerisches Können aufbieten mußte, um die bockende Maschine im Griff zu halten. Endlich: »In Ordnung. Gehen Sie auf zwei-vier-null und landen Sie dann. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß unser Sicherheitsdienst durch Paragraph sechs-drei-acht ermächtigt ist, tödliche Waffen einzusetzen.«
Erleichtert ließ Martinez den Hubschrauber nach vorne kippen, auf den Sybaris-Komplex zu. Erschreckend schnell kam der Dachlandeplatz näher.
Starr vor Angst sah Theora auf ihrem Kontrollmonitor die Bilder, die Carters Kamera noch immer lieferte. Sie hatte den Funkverkehr natürlich mitgehört. Martinez’ Hände, die wie wild am Steuerknüppel rissen, kamen kurz ins Bild, dann der Landeplatz auf dem Hochhaus. Hatte die Diskussion mit den Sybaris-Wächtern zu lange gedauert? Hatte der Helikopter überhaupt noch genug Energie für eine halbwegs sichere Landung? Hart setzte die Maschine auf. Im selben Augenblick war Theoras Bildschirm tot. Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht. Edisons Stimme aus dem Lautsprecher kam wie eine Erlösung für die junge Frau: »Das war knapp… Sender 23, wir sind gelandet.« Der Chefredakteur lief an Theoras Platz vorbei und studierte einige Akten, die er drüben zur Ablage brachte. Im Vorübergehen meinte er: »Na bitte… sie haben’s also geschafft.« Theora traute ihren Ohren nicht. »Murray, bist du nicht etwas zu sorglos? Immerhin sind Edison und Martinez beinahe abgestürzt!« Murray legte die Akten weg und kam betont langsam zu Theoras Platz. Er hockte sich neben ihren Stuhl und sah sie mit Unschuldsmiene an. »Hat es dir Edison nicht gesagt?« Das Gesicht der jungen Frau war ein einziger Ausdruck von Ratlosigkeit.
»Oh, ich sehe, er hat dich nicht eingeweiht«, grinste der Chefredakteur. »Das war eine gute Vorstellung, nicht?« Jetzt erst ging Theora ein Halogenlicht auf. »Die Notlandung war also getürkt? Ich wette, die ganze Story ist ein Schwindel.« In ihrer Stimme lag alle Verachtung für die miesen Tricks der Männer, zu der sie fähig war. Doch Murray schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein, das stimmt nicht! Edison hatte mal wieder eine seiner berühmten Vorahnungen.« Falls er das wirklich glaubte – wieso sah er dann so spöttisch aus? Als er sah, wie wütend – und wie traurig – Theora war, legte er ihr besänftigend die Hand auf die Schulter. »Aber, aber… nicht böse sein. Du hast doch unmöglich angenommen, daß so ein erfahrener Pilot wie Martinez nicht mit einem kleinen Triebwerksschaden fertig wird?« Er stand auf und ging zurück zur Ablage. Da warteten noch einige Akten, um die er sich kümmern mußte. Theora blieb mit ihrem Kummer allein zurück. »Ich glaube es einfach nicht«, flüsterte sie. Das Testbild verschwand von einem der Nebenmonitore. Max Headroom schaltete sich auf die Mattscheibe. Der Computer-Mann wirkte völlig geschafft. »Och! Och! Gott sei Dank ist es vorbei! Ei-ei-einige Menschen verlieren bei so was die Nerven!« Offenbar hatte er über einen seiner unzähligen Fühler, die er ins Datennetz ausstreckte, den getürkten Absturz mitbekommen – und hielt ihn für echt. Doch Theora hatte im Augenblick keine Lust, sich mit Carters Ebenbild zu unterhalten. Max erinnerte sie einfach zu sehr an diesen Schuft. »Laß mich bloß in Ruhe«, giftete sie, stand auf und ging wütend weg.
»Ochochohoo… mhhhmm.« Max sah ihr nachdenklich hinterher. Wenn es um Edison Carter ging, büßte die sonst so coole Miss Jones offenbar viel von ihrer fast schon sprichwörtlichen Beherrschung ein.
9. Kapitel
»Ouh, Mann! Das ist ja nicht zu fassen! Ich kann es einfach nicht glauben! Kein Wunder, daß die Turbine ihren Geist aufgibt!« Martinez führte vor dem Hubschrauber einen Tanz auf, als wäre er vom wilden Mann gebissen worden. Die beiden uniformierten Wachmänner, die aus dem Treppenhaus kamen und quer über das Dach auf den Helikopter zumarschierten, warfen sich verwunderte Blicke zu. »Was zum Teufel treiben Sie hier?« fragte der eine in barschem Ton. Aufgeregt, als stände er kurz vor einem Herzinfarkt, deutete Martinez auf die Triebwerksverkleidung: »Hier, hier, sehen Sie sich das mal an! Der Hubschrauber kommt direkt aus der Werkstatt. Und was ist das? Die Muffe an der Ölleitung platzt weg! Wir hätten glatt abstürzen können! Wenn man sich schon auf Mechaniker verläßt… dann ist man wirklich verlassen!« »Ist ja gut, ist ja gut…beruhigen Sie sich!« versuchte es der zweite Wachmann. Aber Martinez wollte sich nicht beruhigen. Die Verbindungsmuffe an der Ölleitung hatte er schließlich selbst gelockert. Die Reparatur war eine Sache von zwei Minuten und ein paar Litern Öl. Aber das würde er diesen technischen Laien nicht auf die Nase binden. Denn die Show, die er hier abzog, war Teil des Plans, den er und Edison ausgeheckt hatten.
Während sich die Wachmänner um den offenbar halbverrückten Piloten kümmerten, stieg Carter auf der
anderen Seite der Maschine aus dem Cockpit. Seine Kamera hatte er dabei. Er achtete darauf, daß der Helikopter immer zwischen ihm und den Sicherheitsleuten war, die vergeblich versuchten, Martinez zu beruhigen. Ungesehen erreichte er den Eingang zur Feuertreppe. Er spähte noch einmal aufs Dach zurück – niemand hatte etwas bemerkt. Und so betrat Edison Carter den schwerbewachten Sybaris-Komplex, ohne daß irgend jemand ihn aufhielt. Er hastete ein paar Treppen hinab, kam an einigen Abzweigungen vorbei – ganz sicher, welche er nehmen mußte, um auf dem richtigen Weg zu bleiben, war er sich nicht. Warum gab ihm Theora keine Anweisungen? Er hob die Kamera und flüsterte ins Mikrofon: »Kontrolle 23, hast du mich im Bild?« Theora hörte ihn zwar und sah auch die Bilder, die seine Kamera jetzt wieder lieferte, auf ihrem Monitor. Doch sie zog es vor, noch ein wenig zu schmollen. »Sei nicht eingeschnappt, Theora! Ich brauche deine Hilfe! Theora… hörst du mich?« Männer! Wie selbstverständlich nahmen sie sich die größten Freiheiten heraus. Aber kaum ließ man sie mal ohne die gewohnte Unterstützung im Regen stehen, wurden sie so weinerlich wie kleine Jungs! »Ja, ich bin noch da!« kam die Stimme der Controllerin beruhigend aus dem Kamera-Lautsprecher. Endlich war Carter am Ziel. Er stand vor dem Hintereingang des Apartments, das er suchte. Auch diese Tür war durch ein automatisches Computerschloß gesichert. Eine Überwachungskamera stellte die Anwesenheit des Mannes fest, und die mechanische Stimme des Schlosses forderte: »Identifizieren Sie sich!« Hier im Sybaris-Komplex war eben wirklich alles vom Feinsten!
»Edison Carter, Sender 23«, sagte der Reporter. »Warum sind Sie hier?« »Ich würde gern mit Valerie Towne sprechen.« Einen Moment blieb die Anlage stumm, während sie die Angaben des Mannes mit der Zentraldatei abglich und gleichzeitig eine Verbindung zur Wohnungsinhaberin herstellte. Zischend fuhr die Tür in den Rahmen zurück. Der Reporter zuckte ein wenig zusammen, als die mechanische Stimme verkündete: »Identität bestätigt. Treten Sie ein.« Carter tat, wie ihm geheißen – und trat in eine andere Welt. Der Raum hinter der Tür hatte wenigstens 200 Quadratmeter. Angenehm gedämpftes Licht sorgte für eine stimmungsvolle Beleuchtung, aus verborgenen Lautsprechern erklang leise Musik. Direkt neben dem Eingang stand ein echter Flügel. So was wurde längst nicht mehr gebaut. Carter wußte, daß Liebhaber für ein derart guterhaltenes Stück mehr Geld boten, als er in einem Jahr verdiente. Und er verdiente nicht schlecht. Der Rest des Raumes glich eher einem Museum oder einer Galerie als einem Wohnzimmer. Die extravaganten Schöpfungen moderner Meister waren zu geschmackvollen Arrangements zusammengestellt. In einer Ecke waren neun Fernsehschirme zu einem Großmonitor montiert. Nur die Wohnungsinhaberin war nicht zu entdecken. Bestimmt befand sie sich in einem der zweifellos vorhandenen Nebenräume – wenn man auch keine Türen entdecken konnte. Carter sah sich anerkennend um: »Nette kleine Behausung.« »Sei nicht so ironisch, du Spießer!« meldete sich seine Controllerin über Funk. »Schön, daß du wieder da bist, Theora.« »Ja, finde ich auch.«
Wieso war sie noch immer eingeschnappt darüber, daß er sie nicht in die Sache mit dem vorgetäuschten Absturz eingeweiht hatte? Sie mußte doch verstehen, daß die Sache umso glaubwürdiger wirkte, je weniger Leute davon wußten! Um sie wenigstens ein bißchen zu versöhnen, zeigte er ihr die schönsten Aufnahmen, die er von dieser außergewöhnlichen Wohnung machen konnte. Sein Streifzug mit der Kamera wurde abrupt unterbrochen, als sich der Großmonitor schlagartig erhellte. Er zeigte das Bild einer erfolgreichen Frau in den besten Jahren. Valerie war Mitte Vierzig, eine der besten Managerinnen der Gegenwart. Sie leitete Security Systems. Ihr dunkles, zu einer strengen Frisur hochgebundenes Haar zeigte erste graue Strähnen, doch die machten sie eigentlich nur noch attraktiver. Ihr nur spärlich geschminktes Gesicht wurde von einem vollen Mund und großen, rehbraunen Augen beherrscht. Der einzige Schmuck, mit dem Valerie Towne ein Zugeständnis an ihre Weiblichkeit machte, waren einfache metallene Ohrclips. Wer nicht wußte, über welche Macht diese Frau verfügte, hätte sie auch für irgendeine unterbeschäftigte Hausfrau aus der Mittelklasse halten können. Sie wirkte nicht eben erbaut über die Tatsache, daß der Reporter es geschafft hatte, in ihre Privatwohnung vorzudringen. Seine Versuche, sie in ihrem Büro zu interviewen, hatte sie abblocken können. Aber nun… »Was kann ich für Sie tun, Mr. Carter?« Der Reporter ließ überrascht seine Kamera sinken. »Danke, daß Sie Zeit für mich haben.« Die Frau auf dem Bildschirm seufzte. »Ich kenne Ihre Tricks, Mr. Carter. Ihnen entgeht man sowieso nicht.« Sie deutete auf einen der freien Stühle. »Setzen Sie sich.« »Ahhhmm… danke, ich stehe gern.« »Wie Sie wollen.«
Er hob seine Kamera und visierte mit ihr den Großmonitor an. Um die Aufnahmen, die er jetzt machte, später nach Belieben verwenden zu dürfen, genügte nach der letzten Reform des Mediengesetzes eine einfache Ankündigung: »Ich nehme auf.« »Ich auch«, kam die lapidare Antwort. Valerie Towne hatte sich vor einigen Tagen mit Senator Peller unterhalten. Dadurch, daß sie das nun stattfindende Gespräch ebenfalls aufzeichnete, war sie vor solch bösen Manipulationen, wie sie dem armen Simon widerfahren waren, sicher. »Was möchten Sie wissen?« »Wer will Security Systems aufkaufen?« »Wen interessiert das schon?« »Das sollte jeden interessieren«, stellte Carter fest. »Security Systems ist in ihrer Branche die größte Firma, die es gibt. Sie kommt an mehr geheime Informationen als jede Regierung auf der Welt. Wenn so ein Unternehmen in falsche Hände gerät, kann es ein Instrument zur Zerstörung anderer Firmen und sogar zur Auslöschung von Menschen werden.« Valerie Towne lächelte überheblich. Oder war da doch eine Spur Verunsicherung zu entdecken? Carter war sich nicht sicher. Die Managerin drückte sich um eine direkte Antwort: »Ich glaube, neue Besitzer von Security Systems würden schon aus Profitdenken in gewohnter Weise weiterarbeiten.« »Sie bestätigen also das Gerücht?« »Ich gehöre zum Vorstand. Es ist kein Geheimnis für mich, daß jemand seit einiger Zeit große Mengen unserer Aktien kauft.« »Und trotzdem machen Sie sich keine Sorgen?« wunderte sich der Reporter. »Security Systems wird überleben«, stellte Miss Towne vieldeutig fest.
»Küchenschaben tun das auch«, flüsterte Theora in ihr Mikrofon. Zum Glück leise genug, daß nur Carter ihre Worte hören konnte. Trotzdem warf er seiner Kamera einen irritierten Blick zu. Seit wann mischte sich Theora in seine Interviews ein? Laut aber sagte er: »Könnte Ihre Position als Vorstandsvorsitzende durch eine Übernahme der Firma nicht gefährdet werden?« »Aber natürlich… bei einer Übernahme werde ich abgesetzt.« Verlor diese Frau denn nie die Beherrschung? Die war ja kälter als ein Eisblock! Carter versuchte es einmal anders. Er wollte sie unbedingt aus der Reserve locken! »Gestatten Sie mir eine private Bemerkung? Das scheint Sie wenig zu beunruhigen.« »Soll ich privat antworten?« Für einen Moment verengten sich ihre ausdrucksvollen Augen zu kleinen Schlitzen. »Für mich ist das eine Tragödie… und ich habe Angst.« Damit war das Interview beendet. Höflich, aber bestimmt bat die Managerin den Reporter, ihre Wohnung zu verlassen. »Wunderbarerweise« hatte Martinez inzwischen den Hubschrauber repariert. Er redete die beiden Wachmänner noch immer dumm und dusselig, so daß sie nicht merkten, wie Carter heimlich in den Helikopter zurückstieg. Wenig später hob die Maschine ab und flog zurück zum 23er Tower.
In der Nachrichtenzentrale sah er sich gemeinsam mit Theora die Aufzeichnungen des Gesprächs noch einmal an. »Sie klingt ziemlich deprimiert«, meinte die junge Frau. »Das soll der Stimmenanalysator entscheiden«, schlug Carter vor.
Theora startete ein äußerst kompliziertes Programm, das jede menschliche Sprache in ihre einzelnen Schwingungskomponenten zerlegte und auf Abweichungen von vorgegebenen Normen hin überprüfte. Das Programm fand keine auffälligen Abweichungen. Die Wahrheitswerte pendelten meist zwischen 99 und 100 Prozent. Die Überprüfung war schnell beendet. »Das war’s«, stellte Theora fest. »Laut Stimmenanalysator sagt sie niemals zu weniger als 95 Prozent die Wahrheit. Und ich dachte, dich würden immer alle belügen!« »Ich werde den Stimmenanalysator mal bei dir benutzen!« drohte Carter. Murray kam aus seinem Büro herüber. Seit er das Gespräch mit Cheviot hinter sich gebracht hatte, hing seine fesche Anzugjacke an der Garderobe, und er trug wieder seine heißgeliebte, abgewetzte alte Weste. Betont auffällig blätterte er in ein paar uninteressanten Akten herum und fragte beiläufig, ohne aufzublicken: »Na, was ist mit Valerie Towne?« »Sie spielt die Unerschrockene… aber sie hat Angst«, stellte Carter nachdrücklich fest. »Du witterst eine Story?« »Ja.« »Ich nicht.« »Aber ich!« Murray blickte zum ersten Mal von seinen Akten hoch. »Das ist kein Thema für dich.« Der Reporter sah seine Controllerin hilfesuchend an, doch Theora hielt sich lieber bedeckt. Das hier war nicht ihr Bier. »Das ist mehr eine Story für die Familienecke«, stichelte Murray, dem es schwerfiel, ernst zu bleiben. »Ich vermisse leider alle klassischen Elemente, die unser Vorstand so sehr liebt. Sex… Geld… und Gewalt.«
»Erzähl doch keinen Unsinn, Murray! Dunkle, geheimnisvolle Kräfte sind am Werk… niemand weiß, wer und warum. Und es geht um sehr viel Geld.« »Aber in einer Größenordnung, die ich nicht verstehe… also werden unsere Zuschauer es auch nicht verstehen.« »Ach ja? Wirklich?« Max hatte sich auf den nächsten Bildschirm geschaltet, und seine Stimme troff vor Spott und Hohn. Für ihn stand fest, daß die meisten Zuschauer viel mehr Grips hatten als der Chefredakteur, wenn der nicht mal in der Lage war, ein paar kleine Milliardengeschäfte zu verstehen. Zack! Schon war er wieder verschwunden und sauste durchs Leitungsnetz, um irgend jemand anders zu ärgern. »Warum kann der Kerl nicht seinen Mund halten?« grollte der Chefredakteur. »Murray… Security Systems mischt doch buchstäblich überall mit!« beschwor ihn Carter. »Bei der Regierung, bei der Stadtverwaltung, bei der Polizei, bei den Gerichten… wo du willst. Ich lasse diese Story nicht fallen, bloß weil ihre Dimensionen deine Vorstellungskraft übersteigt.« Das hatte gesessen! Der geplagte Chef mußte sich schwer beherrschen, um nicht einfach loszupoltern. Aber so preßte er nur so verächtlich, wie es ihm eben möglich war, zwei Worte heraus, die all das ausdrücken sollten, was er von Carters Rede hielt: »Unser Intellektueller!« Aber zumindest Theora war jetzt überzeugt. Und obwohl es sie eigentlich nichts anging, hielt sie nicht länger mit ihrer Meinung hinter dem Berg: »Murray, diese Firmenübernahme ist auch für unsere Zuschauer von Bedeutung. Sie bringt echte Gefahren mit sich! Niemand weiß, wer hinter dem Übernahmeversuch steckt. Ich meine, was wird, wenn richtig gefährliche Leute die Kontrolle bei Security Systems übernehmen?!«
Murray sah die beiden anderen an, als kämen sie von einem anderen Stern. Waren die wirklich so naiv? »Das ist doch schon längst geschehen!« Murray ahnte nicht einmal ansatzweise, wie recht er mit dieser Feststellung hatte.
Es war spät geworden. In der Nachrichtenzentrale arbeiteten nur noch wenige Menschen. Die meisten genossen längst ihren wohlverdienten Feierabend. Murray wollte noch kurz ins Archiv, aber Joel trat ihm in den Weg. »Lassen Sie Edisons Security Systems weiterlaufen?« wollte er wissen. Murray atmete tief durch. »Keine Ahnung. Er hat noch nicht alle Teile des Puzzles zusammen.« »Wir müssen uns aber sehr bald entscheiden.« »Ja, ich weiß… wir legen uns morgen fest. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Murray.« Der Researcher machte sich auf den Heimweg. Theora erledigte noch einige Arbeiten an ihrem Computerprogramm, die im Laufe des, ereignisreichen Tages liegengeblieben waren. Und auch Edison Carter hatte noch keine Lust auf Feierabend. Gedankenverloren sah er sich die 53. Wiederholung von »Bonanza« im Nachtprogramm an. Früher hatte man wirklich noch gute Westernserien gedreht. Plötzlich folgte er einer Eingebung und wählte eine Nummer am Vidifon. Der Bildschirm erhellte sich. »Ja?« Valerie Towne war ehrlich überrascht, als sie den Anrufer erkannte. »Mrs. Towne, hier ist noch einmal Edison Carter.« »Woher haben Sie meine Nummer?«
»Ich… ähm… hab’ mir Ihr Vidifon angesehen, als ich bei Ihnen war… ich bin Reporter.« Sie sah ihn tadelnd an. »Sehr böse, Mr. Carter.« Doch am Tonfall ihrer Stimme konnte er hören, daß sie durchaus bereit war, mit ihm zu sprechen. »Die Security-Systems-Story wird gekippt, wenn Sie mir nicht mehr Informationen geben.« »Welches Interesse sollte ich daran haben, ob Ihre Story gesendet wird oder nicht?« Die Frau bemühte sich, möglichst selbstsicher zu klingen, soviel stand fest. Doch Carter spürte, daß da noch mehr mitschwang. »Sie sagten, Sie haben Angst… andere Leute werden sicher auch Angst bekommen. Haben die kein Recht auf Informationen?« »Ich merke nur, daß Edison Carter Informationen haben will. Guten Abend.« Die Frau war wirklich ein harter Brocken. Aber so schnell ließ sich der Reporter nicht abwimmeln. Er beeilte sich, die nächste Frage abzuschießen, bevor sie die Verbindung unterbrechen konnte: »Mrs. Towne, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir…« »Sie sind zwar sehr charmant… trotzdem. Ich sagte guten Abend.« Ein kurzes Rauschen, dann war die Leitung unterbrochen. Carter saß noch lange nachdenklich an seinem Platz. Was hatte das nur zu bedeuten? Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Frau… Die Zentrale von Security Systems war das bestbewachte Gebäude der ganzen Stadt. Schwerbewaffnete Schutzleute waren nur der schwächere Teil des Sicherheitssystems. Viel effektiver als die menschlichen Wachen waren die unzähligen ausgeklügelten elektronischen Überwachungseinrichtungen. Nicht mal eine Maus hätte unerkannt in das Gebäude kommen können.
Diese Sicherheitsvorkehrungen waren durchaus berechtigt. Denn das gesamte Hochhaus war eigentlich nur die Verkleidung für einen riesigen Computer. Das Gebäude war sozusagen rings um den Großrechner errichtet worden. Diese Maschine, die auf den schlichten Namen A-7 hörte, war vielleicht das größte Wunderwerk, das Menschen je erschaffen hatten. A-7 konnte sprechen, ganz wie Brunos Computer. A-7 hatte sogar ebenfalls eine weibliche Stimme. Aber damit endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Denn während Brunos Anlage zwar in weiblicher Stimmlage, ansonsten aber seelenlos wie alle anderen Rechner sprach, schwang in den Lautäußerungen von A-7 so etwas wie Gefühl mit. Dieser Computer konnte nicht nur rechnen. Er konnte denken. Die Datenbänke, Arbeitsmodule und sonstige Hardware der Anlage erstreckten sich durch den gesamten Hochhauskomplex. Doch die eigentliche Zentrale, die Stelle, an der A-7 sich manifestierte, war ein relativ kleiner Raum im 89. Stockwerk. Hier standen einige User-Module, ein paar Schaltschränke und mehrere Bildschirme. Einige von ihnen zeigten stets einen glatten weißen Hintergrund, über den in Schirmmitte zwei waagerechte parallele Linien verliefen. Eine Linie war blau, die andere rot. Normalerweise standen sie ruhig auf dem Schirm. Doch wenn der Computer antwortete, wurden sie in der Frequenz seiner Sprache moduliert. A-7 hatte es sich angewöhnt, hier in diesem Raum stets ihre Stimme erschallen zu lassen, auch wenn der User, mit dem sie kommunizierte, sich an einem der entfernteren Peripheriegeräte befand. A-7 dachte von sich als »Sie«. Nicht nur die Stimme, nein, das ganze Wesen des Computers war weiblich orientiert. Jetzt, mitten in der Nacht, hatte A-7 eigentlich nicht viel zu tun. Ihre vielfältigen Überwachungsaufgaben wurden von
sekundären Schaltkreisen ausgeführt, die sie mit einer ihrer automatischen Funktionen überwachte. Doch da erhielt sie einen Ruf von einem berechtigten User, der sich nicht im Zentralgebäude befand. A-7 reagierte so schnell und exakt, wie es ihre Art war. »Hier A-7-Zentralcomputer. Bitte geben Sie Ihren Berechtigungscode ein… danke. Akzeptiert.« Datenkolonnen liefen über einen der Nebenbildschirme. A-7 erfaßte das Problem in weniger als einer Nanosekunde. »Die Hochrechnungen bestätigen, daß Edison Carter zu einer Gefahr für Security Systems werden könnte. Man sollte ihn isolieren.« Wieder eine kurze Pause, in der neue Daten eingingen, dann: »Ich überprüfe jetzt seine Daten.«
In einem der Nebenräume hielten zwei Computer-Operatoren Wache. Eigentlich waren sie völlig überflüssig, denn etwaige Störungen behob A-7 selbst. Oliver und Stanley hatten ihre Arbeitsplätze einem Gesetz zu verdanken, das für jeden Computer ein Mindestmaß an menschlicher Überwachung vorschrieb. Das Gesetz war genauso nutzlos wie die Anwesenheit der beiden Menschen hier im Operator-Raum. In aller Regel saßen sie nur da und verfolgten auf ihren Monitoren irgendein Fernsehprogramm. Eher zufällig warf Stanley einen Blick auf einen der Computer-Bildschirme. Er stieß seinen Kollegen an, der ganz fasziniert von »Bonanza« war: »Sieh mal, A-7 ruft die Daten von Edison Carter auf!« »Edison Carter? Ich seh’ mir immer seine Sendungen an«, erklärte Oliver mit einfältigem Lächeln und widmete sich wieder seinem Fernsehprogramm.
»Das hier würde ihm nicht gefallen«, stellte Stanley fest. Er wunderte sich darüber, wieso A-7 sich seinen Lieblingsreporter vorknöpfte. Aber die Entscheidungen des Computers würde er niemals hinterfragen. Das war auch gut für ihn, denn A-7 konnte gnadenlos sein. Personen, auf die sie es abgesehen hatte, waren ihr hilflos ausgeliefert. Und diesmal hatte sie den Reporter im Visier. Eher beiläufig verkündete sie: »Die erforderlichen Maßnahmen werden eingeleitet.«
10. Kapitel
Es war schon fast Mitternacht, als Carter sich endlich auf den Heimweg machte. Seine Funkkamera hatte er mitgenommen. Von dem Gerät trennte er sich nur äußerst ungern. Als Reporter war man schließlich immer im Einsatz. Er konnte ja nie wissen, ob er nicht plötzlich und unvermutet auf eine interessante Story stoßen würde. Die Barclays Apartments, in denen Carter wohnte, lagen in einer ziemlich guten Wohngegend. Der Platz vor dem Eingang wurde täglich gefegt, und es standen sogar einige öffentliche Bänke für müde Fußgänger bereit. Oder für Verliebte. Natürlich war es nicht ganz billig, in einer so schönen Gegend zu wohnen. Aber Carter liebte sie nun einmal. Und für irgendwas mußte er sein sauer verdientes Geld ja schließlich ausgeben. Warum nicht für ein bißchen Luxus? Er zog seinen ID-Stift aus der Manteltasche und steckte ihn in die kreisrunde Öffnung neben der Tür. Die elektronische Sicherung der Barclays Apartments war noch ein weiterer Vorteil. Unbefugte kamen nicht so ohne weiteres in das Haus. Der Türcomputer summte. Verwundert zog Carter den Stift aus der Öffnung und musterte ihn. Wieso öffnete ihm die Anlage nicht? Sein Stift jedenfalls war unbeschädigt. Er schob ihn noch einmal in die Abtastöffnung, doch das Ergebnis blieb gleich. Der Computer summte zwar mehrmals, hielt die Tür aber fest verschlossen. »Sieh mal an!« brummte Carter. Fingen die Nachlässigkeiten jetzt auch schon hier an? Drang der allgemeine Verfall bis zu den Barclays Apartments vor? Das würde er nicht hinnehmen.
Wenn die Hausverwaltung das Schloß nicht schnellstens reparieren ließ, würde er die Miete kürzen! Energisch klopfte er gegen die gläserne Eingangstür. Doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis Rivas, der aus Mexiko zugewanderte Hausmeister, erschien. Er sah den Reporter erschrocken an* »Edison? Was wollen Sie denn hier?« »Zufällig wohne ich in diesem Haus, Mr. Rivas. Mein Schlüssel funktioniert nicht.« »Der Öffnungscode ist geändert worden… wir haben einen Aussperrungsbefehl für Sie! Was haben Sie gemacht?« »Gar nichts!« Carter traute seinen Ohren nicht. »Und wer sperrt mich aus?« Bevor der Hausmeister antworten konnte, tauchte seine Frau in der Eingangshalle auf. Juanita sprach nur Spanisch. Und jetzt schimpfte sie mit ihrem ganzen südländischen Temperament los. Rivas antwortete in der gleichen Sprache. Offensichtlich zog er bei der Diskussion den kürzeren. Juanita rauschte ab in die Hausmeisterwohnung. Ihr Mann kam zur Tür zurück. »Tut mir leid. Meine Frau sagt, daß man Sie zum Gesetzesbrecher deklariert hat. Sie will jetzt die Metro-Polizei anrufen.« »Und die Anklage?« Carter kam das alles vor wie ein böser Traum. »Schwerer Kreditbetrug«, sagte Rivas. »Kreditbetrug…?« Der Reporter spürte, wie seine Knie weich wurden. »Das ist vollkommen unmöglich! Das ist nicht wahr!« Rivas zuckte hilflos mit den Schultern. »Tut mir leid…«
Carter rannte fort, hinein in die schützende Dunkelheit. Er wußte, daß er zum Gejagten geworden war. Er wußte nur nicht, warum. Er drückte sich in eine schattige Ecke und hielt die Kamera mit beiden Händen fest. So konnte er ins Objektiv sehen und sein eigenes Bild in die Zentrale übermitteln. »Kontrolle… Theora, bist du noch da?« »Ja, Edison«, kam die erlösende Antwort. »Irgend jemand macht mir Schwierigkeiten. Ruf sofort meine persönlichen Daten auf.« »Okay.«
Theora wußte zwar nicht, was das sollte, aber der Reporter hatte ernst genug ausgesehen, um sofort zu reagieren. Doch noch ehe sie Carters Datei auf ihren Schirm rufen konnte, hörte sie eine barsche Stimme, die nicht hierhergehörte. »Wer hat hier das Sagen?« Zwei Metro-Polizisten standen neben dem Eingang der Nachrichtenzentrale vor Murrays kleinem separaten Büro. Der Chefredakteur kam heraus. Er machte ein verwundertes Gesicht. »Sie sind aber noch spät unterwegs. Was kann ich für Sie tun?« »Wir haben einen Haftbefehl für Edison Carter.« »Für Carter? Was soll denn das heißen?« Murray war sicher, sich verhört zu haben. Aber Theora verstand jetzt plötzlich den Grund für Carters seltsamen Anruf. »Die Metro-Polizei ist hier«, informierte sie ihn über die Funkstrecke. Sie sah das Erschrecken auf Carters Gesicht. »Also, wo ist er?« fragte der größere Polizist barsch.
»Woher soll ich das wissen?« Murray war stinksauer über den rüden Ton der Beamten. »Hier steckt er jedenfalls nicht, das sehen Sie doch.« Die beiden Uniformierten ließen Murray stehen und kamen in die Nachrichtenzentrale herein. »Hallo… einen Moment! Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?« rief der Chefredakteur. »Wozu? Wir sehen uns nur mal kurz um«, kam die lakonische Antwort. Theoras Computerschirm zeigte jetzt endlich die gewünschten Informationen. Erschrocken stellte sie fest: »Edison, deine Datei wurde verändert… du bist jetzt ein Gesetzesbrecher! Die können dich über die Video-Kamera aufspüren. Laß sie verschwinden… schnell!«
Aus seinem Versteck sah der Reporter, wie zwei Polizisten über den Platz vor den Barclays Apartments zum Eingang rannten. »Wir sollten uns besser trennen«, rief der eine. »Nein, wir bleiben zusammen«, entschied der andere. »Der Kerl ist ziemlich gefährlich!« Die beiden klopften so laut gegen den Eingang, als wollten sie die gläserne Tür einschlagen. »Sofort aufmachen! Metro-Polizei!« Carter erkannte, daß das, was da gegen ihn lief, schlimmere Ausmaße annahm, als er anfangs befürchtet hatte. So leid es ihm tat, er mußte sich von seiner Kamera trennen, denn über den eingebauten Spürer konnte sich nicht nur Theora jederzeit darüber informieren, wo er sich aufhielt. Die Metro-Bullen würden schon bald selbst auf diese Idee kommen. Er ließ die Kamera im nächsten Mülleimer verschwinden und rannte fort, zu den Aufzügen hin, die in die Unterstadt führten.
Er hörte schon nicht mehr, daß Theora noch einmal versuchte, ihn über Kamerafunk zu erreichen. Erst als sich die Lifttüren hinter ihm schlossen, entspannte er sich ein wenig. In der Unterstadt und vor allem in den Randbezirken, zu denen er auf dem Weg war, würden ihn die Bullen nicht so schnell finden.
Es war schon nach Mitternacht, als Murrays Anruf über die hausinterne Leitung Cheviot in seinem Büro ganz oben erreichte. Eigentlich wollte der Vorstandsvorsitzende gerade nach Hause fahren. Doch daran verschwendete er keinen Gedanken mehr, als er den Bericht des Chefredakteurs und der Controllerin neben ihm hörte. »Also, dann will ich mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe«, rekapitulierte er schließlich. »Die MetroPolizei tauchte bei uns im Haus mit einem Haftbefehl für Edison Carter auf… der offenbar verschwunden ist. Sie, Murray, haben seine Spur verloren… und Sie, Miss Jones, sind beinahe wegen Behinderung der Justiz angezeigt worden. Aber das Schlimmste ist… heute abend gibt es keine EdisonCarter-Show. Das heißt, ich muß die freie Zeit mit einer Wiederholungssendung auffüllen. Das kostet uns Millionen! Habe ich das richtig erkannt?« Murray nickte betreten. »Ja, Sie haben das Problem erkannt, Mr. Cheviot.« »Hundertprozentig«, fügte Theora hinzu. »Na ja… dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Ihnen gegen die Polizei zu helfen«, stellte Cheviot ohne große Begeisterung fest. »Vorausgesetzt natürlich, die Beschuldigungen gegen Carter sind haltlos! Was wirft man ihm eigentlich vor?« Murray schluckte, bevor er sich zu einer Antwort durchringen konnte. »Kreditbetrug – «
»Kreditbetrug? Mein Gott… das ist schlimmer als Mord!« Der alte Mann zögerte einen Moment. »Ich wußte nicht, daß es so ernst ist… also gut. Ich sehe zu, was ich tun kann.« »Danke sehr, Sir.« Cheviot unterbrach die Verbindung. Einen Augenblick lang überlegte er, dann nahm er den altmodischen Telefonhörer auf. »Geben Sie mir Miss Formby.« Und nach einer kurzen Pause: »Julia? Was die Nachforschungen der Metro-Polizei wegen Edison Carter betrifft… ja… hinhalten.«
Theora und Murray waren überzeugt davon, daß die Intrige gegen Carter mit seinen Untersuchungen über Security Systems zusammenhing. Sie riefen Bryce Lynch. Wenn einer etwas über diese mächtige Firma wußte, dann das sendereigene Computer-Genie. Obwohl Mitternacht längst vorbei war, hatte Bryce noch nicht geschlafen. In seinem Alter genoß man es, wenn einem kein Erwachsener sagte, wann man ins Bett zu gehen hatte. Bereitwillig erläuterte er alles, was er über die Firma wußte: »Security Systems verarbeitet jede Stunde Billiarden von Datenbits. Es ist unmöglich, so etwas mit einem normalen Computer zu bewältigen… darum hat Security Systems ein Programm mit künstlicher Intelligenz entwickelt. Der Computer, der mit Hilfe dieses Programms selbständig arbeitet, heißt A-7. Er geht erbarmungslos gegen Eindringlinge vor, und es ist nicht leicht, in ihn reinzukommen.« »Du mußt es schaffen, Bryce«, beschwor ihn Theora, »Ich brauche Edisons Datei. Edison hat keine Wohnung, keinen Kredit und wird von der Metro-Polizei gesucht.« Doch der Junge auf dem Vidifonschirm zuckte nur mit den Schultern. Was nicht ging, das ging eben nicht.
Carter hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen. Nicht nur, um sein Gesicht zu verdecken. Ihm war kalt. Und die Kälte kam aus seinem Inneren. Was konnte ein einzelner Mensch schon unternehmen, wenn sich das ganze System gegen ihn verschworen hatte? Er mußte aus dem System verschwinden. Carter streifte durch die Randbezirke, jene elenden Slums, die sich immer weiter ausdehnten. Hier lebten die, die durchs grobgestrickte soziale Netz gefallen waren. Es waren Millionen, und die Zahl wuchs täglich. Carter hatte sich noch nie mit dem Gedanken anfreunden können, daß so viele Menschen in der elektronischen Gesellschaft einfach nicht mehr gebraucht wurden. Er hatte sich stets für die Rechte aller eingesetzt – auch für die Rechte der Slumbewohner. Deshalb war er einer der wenigen Etablierten, die Freunde in den Randbezirken hatten. Unwillkürlich mußte Carter lächeln. Er betrachtete sich noch immer als normalen Bürger – und war doch längst ein Ausgestoßener wie all die anderen gescheiterten Existenzen rings um ihn herum. Er wurde auf die Ansage in einem der überall herumstehenden Fernseher aufmerksam. »Aufgrund von Umständen, auf die wir keinen Einfluß haben, fällt die EdisonCarter-Show heute abend aus. Statt dessen bringen wir noch einmal in Wiederholung den Film ›Lumpys Proletariat‹.« Cheviot verlor keine Zeit, soviel stand für Carter fest. Immerhin – sie hatten seine Sendung noch nicht völlig aus dem Programmplan gestrichen. Das bedeutete Hoffnung. Max Headroom hatte längst mitbekommen, daß sein menschliches anderes Ich schlimme Probleme hatte. Und der Computer-Mann beschloß, das seinige zu tun, um Edison zu helfen.
Ins System von A-7 kam er nicht rein. Aber wozu gab es Fernsehen? Er schaltete sich auf die Empfänger im OperatorRaum des Supercomputers. Stanley und Oliver waren sichtlich überrascht, als sie so prominenten Besuch erhielten. Immerhin galt Max mittlerweile als der größte Showstar überhaupt. »Al-al-al-also… dann werden wir uns ›Lumpys Proletariat‹ ansehen, wenn… wenn die keine bessere Sendung für euch haben!« »Keine Edison-Carter-Show? Verdammt!« fluchte Stanley und biß herzhaft in das Pausenbrot, das sein Hauscomputer ihm eingepackt hatte. »Was hast du erwartet?« Oliver war nicht sonderlich überrascht. »A-7 hat Carter vom Schirm gefegt. Der kann keine Show mehr machen. Wahrscheinlich sitzt er längst im Gefängnis.«
Aber da war der gute Mann im Irrtum. Carter war auf der Suche nach Regs Piratensender-Bus. Zum Glück hatte ihm der alte Punker nach der Affäre mit den Nichtexistenzen mitgeteilt, wo in den Randbezirken er zu finden war. Der Reporter traute seinen Augen nicht, als er den Bus endlich fand. Reg und Dominique waren draußen auf dem von einigen Feuern erhellten Vorplatz. Reg hatte ein altes Grammophon vor dem Bus aufgebaut. Die fast schon antike Anlage spielte einen längst vergessenen Tango. Reg und Dominique tanzten! Beinahe professionell. Es sah schon lustig aus, wie der wüst zurechtgemachte Punker die feine Dame in seinen Armen mit eleganten Schritten durch die Gegend schleifte. Carter mußte innerlich grinsen. Offenbar hatte es Dominique in vielen Jahren der Erziehung geschafft, Reg wenigstens ein paar Grundzüge von Kultur zu vermitteln!
Die beiden beendeten ihren Tanz. Reg sah ein wenig unglücklich aus, als er entdeckte, wobei Carter ihn überrascht hatte. Trotzdem verneigte er sich galant vor seiner Tänzerin, bevor er zurück in den Bus kletterte. Er winkte Carter, ihm zu folgen. Reg schaltete die Kamera ein und verkündete seinen geschätzten fünf Zuschauern: »Diese erholsame Sendepause war ein kleines Geschenk von Bigtime-TV.« Dann schob er die nächstbeste Cassette in die Bandmaschine. Hauptsache, sein Sender strahlte irgend etwas aus, was schön bunt flimmerte und Töne von sich gab! Wenig später hatte Carter ihm und Dominique die ganze Geschichte erzählt. Ganz klar – er mußte von der Bildfläche verschwinden. Dazu war in erster Linie Tarnung gefragt. Reg ging kurz nach draußen und kam wenig später mit einem alten, vergammelten Mantel zurück. Er half Carter, das Kleidungsstück anzuziehen. »Na, dann wollen wir mal sehen, ob dir das paßt. Na bitte! Jetzt siehst du gut aus!« Der Reporter schnüffelte kurz an einem der Ärmel und verzog angewidert das Gesicht. Dominique versuchte vergeblich, den Mantel mit einer Bürste wenigstens ein bißchen auf Vordermann zu bringen. »Edison Carter schließt sich der Bruderschaft der letzten freien Menschen an«, tönte Reg. »Willkommen im Kreis der Nichtexistenzen.« »Ich bin nicht freiwillig gekommen! Ich wurde dazu gezwungen!« Dominique, die Carter vor allem wegen seiner guten Manieren sehr mochte, schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln: »Irgendwie sehen Sie noch zu sauber aus, um richtig zu uns zu gehören.«
Reg knurrte. Was sollte das denn wieder bedeuten? Wollte Dom etwa andeuten, er wäre schmutzig? Er hatte doch noch im vorigen Monat gebadet! Er deutete auf das Vidifon neben der Sendeanlage. »Das Bildtelefon kannst du unbesorgt benutzen. Es ist ein Spezialgerät…nicht zu orten. Nur zu!« Carter zögerte nicht lange. Allerdings zog er den halbgeschlossenen Vorhang am Fenster hinter dem Gerät ganz zu. Als Gejagter mußte man vorsichtig sein! Dann wählte er die Nummer Valerie Townes. Nach wenigen Augenblicken erschien ihr Gesicht auf dem Schirm. Sie trug die Haare jetzt offen. Vermutlich kam sie gerade aus der Dusche. Jedenfalls war sie nicht eben erfreut, den Reporter zu sehen: »Sie schon wieder!« »Mrs. Towne, irgendein… Computer hat aus mir einen Gejagten gemacht… und ich hoffe, Sie können mir da vielleicht helfen. Sie gehören immerhin zur Führungsspitze.« »Ich gehörte, Mr. Carter. Man hat mich entlassen.« Sie beugte sich vor und unterbrach die Verbindung. Der Reporter brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Also war die Übernahme erfolgreich gewesen. Irgendein Unbekannter kontrollierte Security Systems. Jemand, der skrupellos genug war, einem Unschuldigen die schwersten Verbrechen anzuhängen. »Reg… ich brauche einen Eisbrecher. Und zwar den besten!« Der alte Punker beugte sich interessiert vor. »Na ja… das hängt wohl von dem in Frage kommenden Eis ab.« »Eis?« Dominique, die sich gerade einen Schluck von ihrem besten billigen Rotwein genehmigte, verstand nicht, wovon die Männer redeten. »Was meint ihr mit…?«
»Das ist ein Sicherheitssystem«, erklärte Carter. »Und zwar das, das von Security Systems aufgebaut wurde.« Reg wirkte erschrocken. »Das Eis ist sehr gefährlich… mit den Typen ist nicht zu spaßen!«
Ein seltsames Gefährt knatterte durch die Nacht. Eine einachsige Rikscha, gezogen von einem Moped. Drei Lampen – eine an der Zugmaschine, zwei am Hänger – erhellten die dunklen Gassen der Randbezirke nur spärlich. Trotzdem trug der schwarzhäutige Fahrer des Mopeds eine Sonnenbrille. Rik war sowieso ein komischer Kauz. Auf seinem Schädel wuchs nicht ein einziges Haar, obwohl er die Dreißig noch nicht überschritten hatte. Der Mann war so eine Art ungekrönter König der Randbezirke. Die Menschen hier begegneten ihm mit ungeheurem Respekt. Trotzdem umgab er sich stets mit dem Anschein, nur ein einfacher Rikschafahrer zu sein. Man sah ihn allerdings selten mit Passagieren herumfahren. Auch in dieser Nacht war seine Rikscha leer. Allerdings nicht für lange. Vom Vordach eines halbverfallenen Hauses sprang eine dunkle Gestalt in den offenen, einachsigen Wagen hinter dem Moped. Riks Reaktion war sehenswert. Noch ehe der Mann hinten das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, hechtete er vom Mopedsattel nach hinten. Im Schein einer einsamen Laterne blitzte ein Messer gefährlich auf. Die Klinge sauste herab – und wurde im letzten Moment gestoppt. »Edison! Was willst du denn hier? Ich hätte dich beinahe zerschnitten!« »Aber du hast doch sonst den vollen Durchblick!« »Leider nicht nachts, mein Freund!« Rik steckte das Springmesser weg. Stöhnend richtete Carter sich auf. »Also… wie kann ich dir helfen?«
»Reg sagt, du würdest bestimmt jemanden kennen, der Sicherheitssysteme knackt… das von Security Systems. Vielleicht machst du es sogar!« Rik sah sich nach allen Seiten um, ob vielleicht nicht doch irgendwo ein Lauscher steckte. »Nein, davon lasse ich die Finger… die arbeiten jetzt mit künstlicher Intelligenz. Um da reinzukommen, brauchst du einen echten Computerfreak.« »Und wo finde ich so einen?« Rik sah Carter über den Rand seiner Sonnenbrille an. Das Ding war bei Nacht wirklich unpraktisch, aber es gehörte nun mal zu seinem Image. »Das Gute liegt immer ganz nah«, grinste er.
11. Kapitel
Murray und Theora saßen zusammen vor den Computern der Controllerin, die die unterschiedlichsten Suchprogramme laufen ließ – ohne jeden Erfolg. »Ich bin todmüde… seit Jahren war ich nicht mehr so lange auf«, stöhnte der Chefredakteur. »Warum meldet er sich nicht bei uns? Das hat er doch bisher immer getan!« »Er hat es ganz sicher versucht«, vermutete die Controllerin. »Er kann sich denken, daß wir abgehört werden. Bestimmt sind alle unsere Leitungen angezapft… wo soll ich nur nach ihm suchen?« »Dreh dich doch einfach mal um!« schlug eine wohlbekannte Stimme vor. »Edison!« Theora schoß von ihrem Stuhl hoch und flog ihm regelrecht um den Hals. »Ich bin richtig froh, dich zu sehen.« Auf dem Gesicht des Chefredakteurs zeichnete sich ehrliche Erleichterung ab. »Murray!« Carter tat ganz erstaunt. Der andere ging auf das Spiel ein. »Ja, du mußt schnellstens eine Verlustmeldung für deine Kamera ausfüllen.« »Aber nur, wenn du mir sofort eine neue besorgst.« Murray nickte erleichtert. Das war der alte Carter, wie er ihn kannte. Furchtlos und unerschrocken! »Wie bist du reingekommen?« fragte Theora. »Ich habe Laurel einfach gesagt, ich hätte meinen Schlüssel verloren. Er hat’s geglaubt… los, geh’n wir!«
»Wohin denn?« Murray war ein wenig überrascht. »Zu Bryce natürlich!« »Gut geraten, Theora.«
Carter, Theora und Murray, der wieder seine elegante Anzugjacke trug – wenn auch die Krawatte reichlich schief hing – stürmten in das große Computer-Labor im 13. Stock. Bryce lag angezogen auf seinem Bett und sah sich das Nachtprogramm für Erwachsene an. Carter fiel gleich mit der Tür ins Haus: »Bryce, du mußt mir unbedingt helfen. Ich muß Security Systems knacken.« »Dann wollen wir mal sehen.« Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit stand der Junge auf, setzte sich an sein Terminal und machte sich an die Arbeit. »Er war schnell einverstanden«, wunderte sich Theora. »Weil er nichts verstanden hat«, unkte Murray. Bryce hatte nur deshalb keine »wichtigen anderen Angaben« gehabt, weil ihn der elektronische Angriff auf Security Systems reizte. Die Gefahren, denen er sich damit aussetzte, realisierte er in seinem kindlichen Leichtsinn nicht. Theora setzte sich ans zweite Keyboard neben Bryce, aber der Junge hatte schon jede Menge Daten auf seinen Schirm gerufen. Stolz deutete er auf eine Darstellung des Security Systems-Hochhauses, in deren Innerem einige Etagen rot abgesetzt waren. »Da steht der Hauptcomputer.« Bryce war offenbar sehr stolz auf seinen schnellen Erfolg. »Jetzt müssen wir nur noch den Zugriffscode knacken. Das ist eine echte Herausforderung!« »Könntest du das einem Laien erklären?« bat Murray. »Was heißt das, den Zugriffscode knacken?« »Das ist ganz einfach. Der Hauptcomputer wird mit Hilfe einer elektronischen Mauer vor fremdem Zugriff geschützt.«
Bryce deutete auf das verwirrende Muster auf seinem Schirm. »Jeder dieser Blöcke da zeigt einen unabhängig arbeitenden Schaltkreis an. Ohne Zugriffscode kommt man da nicht rein… na ja, das glauben die jedenfalls«, kicherte er. Theora übernahm die weniger komplizierten Aufgaben. »Ich habe alle Sicherheitssysteme des Senders angezapft. Dann merken wir, wenn jemand das Gebäude betreten will.« »Wüßten sie, daß ich hier bin, hätten sie mich schon verhaftet«, mutmaßte Carter. »Das wäre das Beste.« »Murray!« Theora klang richtig wütend. Aber der Chefredakteur beharrte auf seinem Standpunkt: »Die Anschuldigungen gegen Edison stimmen doch nicht. Wenn er verhaftet wird, kommt er nach wenigen Stunden wieder frei und hat eine Story über Machtmißbrauch. Das wär was für ‘ne Sendung!« Carter sah das anders. »Als Security Systems wollte, daß ich ein Krimineller werde, da hat man mich einfach zu einem gemacht. Alle meine Daten beweisen jetzt eindeutig, daß ich ein Kreditbetrüger bin.« »Ja, das ist die Art, wie Security Systems arbeitet«, stimmte Bryce zu. »Wußtet ihr eigentlich, daß sie das Sicherheitssystem unseres Senders auch kontrollieren?« Erst als er die Reaktion der Erwachsenen sah, wurde dem Jungen klar, was er da gerade gesagt hatte. Überall im Gebäude waren Überwachungskameras installiert – auch hier, in seinem Labor. Für jeden Beobachter, der an den Empfängern dieses Systems saß, war Edison Carter klar zu erkennen. Ohne jedes weitere Wort packte Murray Bryces transportablen Computer. In diesem Moment tauchte Max auf dem Bildschirm auf. Er sah sich kurz um. Blitzschnell erfaßte er die Situation. Wo immer es auch hinging, er wollte mit.
Bevor Theora die Leitungen unterbrechen konnte, schlüpfte er in die tragbare Anlage.
»Beeilt euch! Die sind vielleicht schon hinter uns her!« drängte Carter, als er die anderen im Tiefgeschoß aus dem Lift schob. Rik wartete noch immer mit seiner Rikscha hier unten in der menschenleeren Garage. »Und wo soll ich weiterarbeiten?« wollte Bryce wissen. Der Reporter schob ihn zu den anderen in die Rikscha, die mit vier Passagieren hoffnungslos überfüllt war. »Tempo, Rik! Wir müssen schnell weg!« verlangte er. »Was denn, alle? Ich bin doch kein Großraumtransporter! So was hat seinen Preis«, stellte der Neger fest. »Ohne Preis kein Fleiß.« »Murray, meine Konten sind gesperrt. Du mußt bezahlen«, grinste Carter. Umständlich kramte der Chefredakteur in seinen Jackentaschen. »Nun mach schon, Murray!« drängte Theora. »Hab’ Geduld mit mir.« Endlich fand er einen Geldschein und drückte ihn Rik in die Hand. »Ich war noch nie auf der Flucht.« »Das hast du eins, zwei, drei gelernt«, versicherte ihm Carter. »Abfahren!« Rik gab Gas, und sein Moped knatterte los, die hoffnungslos überladene Rikscha im Schlepptau. Zum Glück hatte er den Motor erst vor kurzem überholen lassen. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob das kleine Maschinchen diese Last bis in die Randbezirke schleppen konnte.
Reg sprang mal wieder gnadenlos mit seinem Publikum um. Er beugte sich vor, bis seine speckig glänzende Nase – »Make up« war ein Fremdwort bei Bigtime TV – fast das KameraObjektiv berührte. »Ich weiß, ihr mögt diesen Titel. Also wiederhole ich ihn. Und zwar das zwölfte Mal in dieser Stunde!« Der einzige, der »Beat That Brat« von den Ramones wirklich mochte, war Reg. Na und? Er hatte ja nicht zuletzt deshalb seinen eigenen Fernsehsender aufgemacht, um endlich all die Musikclips spielen zu können, die ihm gefielen. Den Hitparadenschrott überließ er gern den anderen. Dominique schwebte nach hinten in sein Reich. »RegDarling, wir haben Gäste.« »Ach, nicht schon wieder eine Sammlung für die Gehörlosen!« brüllte er. »Denn vorher möchte ich wissen, wofür mein Geld das letzte Mal verwendet worden ist!« Er hätte sich die Schreierei sparen können, denn da kamen weder gehörlose noch sonstwelche Spendensammler. »Kommen Sie rein«, bat Dominique leicht verunsichert. Carter schob sich an ihr vorbei. »Na, schon wieder da?« knurrte Reg. »Ja, mir gefällt’s bei Ihnen!« Der Reporter trat zur Seite, um seine Begleiter durchzulassen. Langsam wurde es eng in dem Bus. »Reg, Dom… das sind Bryce, Theora und Murray.« Der Junge okkupierte gleich den einzigen freien Platz für seine Geräte. Er kam sofort zur Sache: »Was für eine Ausgangsleistung haben Sie?« »Dominique?« Um diese technischen Einzelheiten hatte sich Reg nie gekümmert. Er griff sich eine Konservendose mit Bohnensuppe und löffelte den kalten Inhalt in sich hinein. »Unsere Leistung hängt davon ab, wo wir uns über Nacht ankoppeln«, antwortete die Frau und warf ihrem schlürfenden,
schmatzenden Lebensgefährten ein paar mißbilligende Blicke zu. »Im günstigsten Fall kommen wir auf 500 Watt.« »Und Ihre schwächste Leistung?« »Wir haben einen UHF-Transmitter. Der begnügt sich schon mit fünf Watt. Das stimmt doch?« Sie sah Reg fragend an. »Na, so ungefähr«, brummte der zwischen zwei Happen. Mit wenigen Blicken hatte Bryce die Bedeutung der einzelnen Installationen erfaßt. Carter half ihm, die Verbindung zwischen den Komponenten seiner ComputerAnlage wiederherzustellen. »Willst du’s den anderen nicht erklären?« forderte er den Jungen auf. »Doch, sicher. Also… um in den Hauptcomputer von Security Systems reinzukommen, muß ich mit ganz niedriger Leistung arbeiten.« »Du willst durch den Hintereingang rein?« Irgendwie brachte Reg es fertig, gleichzeitig zu kauen und zu sprechen, ohne sich zu verschlucken. »Ja, ich dachte an eine Induktionsschaltung.« »Das könnte klappen. Aber dafür mußt du ganz nah rankommen und ein paar Leitungen anzapfen.« »Genau.« »Du brauchst einen fahrbaren Sender. Mit dem mußt du dicht an eine Stromquelle ran und dich anschließen.« Carter stellte in allergrößter Unschuld fest: »Du brauchst sowas wie einen rosafarbenen Bus mit einem Fünf-Watt-UHFTransmitter.« Bryce nickte grinsend. »Sie sagen es.« Langsam durchschaute auch Reg den Plan. Und er gefiel ihm. Endlich gab’s mal wieder etwas Abwechslung! Ruhe war doch etwas für Spießbürger!
Reg steuerte seinen Bus über dunkle, holprige Straßen in eine Gegend, die er seit Jahren mied wie die Pest: die innere City, in der die Etablierten wohnten. Irgendwie hatte diese Tour direkt etwas Nostalgisches für ihn. Während die anderen hinten im Bus geblieben waren, hatte Dominique vorne neben ihm Platz genommen. Sie zog an ihrer unendlich langen Zigarettenspitze und starrte versonnen in die Dunkelheit. Endlich brach Reg das Schweigen. »Dom…?« »Hmm?« »Ob jemand merkt, daß wir nicht mehr senden?« Mitleidig legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. »Nachdem du zwölf mal hintereinander den selben Videoclip gesendet hast, dürfte das niemanden mehr interessieren.« Schmerzhaft verzog der alte Fernsehpirat das Gesicht. Wenn sie wollte, konnte die sonst so süße Dominique richtig grausam sein! Auch Murray hinten im Bus war alles andere als glücklich. Die schaukelnde, ruckelnde Tour in diesem Gefährt, dessen Stoßdämpfer defekt und dessen Federn ausgeleiert waren, machte ihm schwer zu schaffen. Mühsam erhob er sich von seinem Sitz, weil er glaubte, die Fahrt im Stehen besser ertragen zu können. Krampfhaft hielt er sich mit beiden Händen fest. »Murray, was hast du denn?« fragte Carter scheinheilig. »Ich bin für so was nicht geeignet. Ich stelle mir andauernd Fragen.« »Zum Beispiel?« »Oh, zum Beispiel, wo wir hinfahren, was wir tun wollen, und wie wir das, was wir tun wollen, tun werden.« »Bryce, erklär Murray alles noch einmal«, schlug der Reporter vor. Sein Chef verzog das Gesicht zu einer Leidensmiene, »Nein, bloß nicht. Lieber bleibe ich unwissend.«
Bryce nickte zustimmend. Er war sowieso noch damit beschäftigt, seine Anlage mit Theoras Hilfe fertig aufzubauen. Im nächsten Moment rumpelte der Bus durch ein besonders tiefes Schlagloch. Der Junge wurde gegen eine Konsole geschleudert. Die Frage, wie er Security Systems knacken sollte, stellte sich ihm im Moment nicht. Er war ja nicht einmal davon überzeugt, das Hochhaus der Firma unbeschadet zu erreichen! Theora hatte Erbarmen mit ihrem Chefredakteur. Sie setzte ihm den Plan noch einmal auseinander – nicht im Fachchinesisch der Computerfreaks, sondern für einen Laien klar und verständlich. »Wir müssen so nahe wie möglich an den Hauptcomputer von Security Systems herankommen, damit ein elektronischer Einbruch überhaupt Erfolgsaussichten hat. Aber nur wenn uns dieser Einbruch gelingt, können wir Edisons Datei in ihren alten Zustand zurückversetzen.« »Ich will nicht als Pessimist gelten«, motzte Murray, »aber ich denke, ein Einbruch bei Security Systems dürfte keine großen Erfolgschancen haben.« »Ja, das Gebäude ist schwerer zu nehmen als eine Festung«, stimmte Carter zu. »Dann erklär mir deinen Plan!« Murray zog den Bauch ein, als Bryce sich durch den engen Gang an ihm vorbeizwängte, ein paar Bauteile in der Hand, die er noch in die Anlage integrieren mußte. »Wir müssen ja nicht in das Gebäude eindringen«, beruhigte Carter seinen Freund. »Es reicht, wenn wir dicht genug herankommen, um eine der Leitungen anzuzapfen. Aber selbst das gelingt uns nur, wenn wir ein Ablenkungsmanöver starten.«
»Oh, so was wie mit dem Hubschrauber gestern morgen?« Als Murray sah, wie die Controllerin sich wütend umdrehte, beschwichtigte er: »Nicht böse sein, Theora.« »Ja, so was Ähnliches«, bestätigte Carter ungerührt. Er drehte sich zu Theora um und sah ihr direkt in die großen Augen. »Allerdings wird diesmal eine schöne Frau beteiligt sein.« »Das halte ich für keine sehr gute Idee.« Vorsichtshalber schaltete Theora erst einmal auf Abwehr. Bevor sie irgendeinem von Edisons verrückten Plänen zustimmte, mußte sie schon mehr wissen. Aber was der Reporter ihr dann vorschlug, gefiel ihr immer besser – vor allem auch deshalb, weil Murray in den Plan einbezogen war. Wenn sie es richtig anstellten, konnte die Sache klappen – und würde außerdem auch noch einen Heidenspaß machen!
Murray hatte seinen Anzug glattgezogen und seine Krawatte zurechtgezupft. Stocksteif, als hätte er ein Brett verschluckt, ging er neben Theora Jones über den dunklen Platz, der sich rings um das Hochhaus von Security Systems erstreckte. Überall aufgestellte Monitore markierten die Grenzlinie, die kein Unbefugter überschreiten durfte. »Nein, nein… ich war während meiner Studienzeit in einer Laienschauspielgruppe.« »Oh, das wird uns sicher mehr helfen.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war unüberhörbar. Aber sie konnte Murrays Aufregung verstehen. Sie selbst spürte auch so eine Art Lampenfieber. Schließlich kam es beim bevorstehenden Auftritt darauf an, überzeugend zu wirken. Davon hing das Gelingen ihres Plans ab – und Edisons Schicksal. Die beiden übertraten die unsichtbare Sperrlinie vor dem Gebäude. Im nächsten Moment jaulte eine Alarmsirene, und
mehrere Scheinwerfer erfaßten das einsame Paar auf dem Vorplatz. »Halt, stehenbleiben! Sie werden durchleuchtet!« befahl eine mit vielen hundert Watt verstärkte menschliche Stimme. Sie klang absolut unpersönlich. Murray sah einen Wachmann in einem Verschlag neben dem abgesperrten Haupteingang. Der Mann beugte sich zu einem Mikrofon und sagte: »Weitergehen!« Jetzt kam Leben in die beiden Freunde des Reporters, In heller Aufregung rannten sie auf die Wächterkabine zu. »Gott sei Dank! Endlich ein zivilisierter Mensch!« Theora, die gerade noch völlig entspannt gewesen war, schien jetzt kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Sie wirkte regelrecht aufgelöst. Der Wachmann sah Murray streng an. Er hatte diesen gutgekleideten, schwer atmenden Herrn noch nie gesehen. »Sir, das hier ist Sperrgebiet!« verkündete er. »Ja, sicher, aber die junge Dame und ich hatten eine Auseinandersetzung mit einem Rikschafahrer!« sagte Murray händeringend. »Auseinandersetzung?« Verständnislos sah der Wächter hinter seiner Glasscheibe, wie die gutaussehende junge Frau ihre ganze ungezügelte Wut auf ihren Begleiter konzentrierte. »Wir sind ausgeraubt worden!« stellte sie nachdrücklich fest. »Schon gut, schon gut! Unsere Kreditmodule sind weg.« »Und mein Schmuck auch!« »Also hör mal! Ich glaube, die Kreditmodule sind ein bißchen wertvoller als dein alberner Schmuck!« »So, findest du? Weißt du überhaupt, wieviel mein Schmuck wert ist?« Der Wachmann stand nur da und dachte sich seinen Teil. Die beiden ließen ihn einfach nicht zu Wort kommen. Wenn sie ihm eine Beschreibung des Täters gegeben hätten, wäre
vielleicht noch etwas zu machen gewesen. Schließlich hatte Security Systems seine Augen überall. Aber so? Er war sich sicher, daß der arme Hund in dem eleganten Anzug bestimmt wußte, was der Schmuck der Kleinen gekostet hatte. Zweifellos hatte er das meiste von dem Zeug bezahlt. So war es doch immer! Reiche Kerle in der MidlifeCrisis rissen sich irgendeine heiße Biene auf, die vorgab, auf sie scharf zu sein – und es in Wirklichkeit nur auf ihr Geld abgesehen hatte. Der Wachmann seufzte. Seine Emma daheim mochte ihn wegen seiner menschlichen Qualitäten, nicht wegen der paar Kröten, die er verdiente. Allerdings sah sie nicht einmal halb so gut aus wie das eitle Zuckerpüppchen da draußen!
12. Kapitel
Theora und Murray hätten geschrien vor Lachen, wenn sie gewußt hätten, was der Wächter von ihnen dachte. Auf jeden Fall erfüllte die Show ihren Zweck. Der Mann war viel zu abgelenkt, um Reg zu bemerken, der hart außerhalb des elektronischen Sperrgitters über den Vorplatz lief. Er untersuchte eine der Laternen, die an der Begrenzungsmauer aufgestellt waren, und fand die kleine Wartungsklappe. Er winkte Carter, der im Halbdunkel wartete, ein schweres Kabel auf dem Arm: »Los, komm!« Der Reporter huschte über den Platz und rollte dabei das Kabel ab. Es reichte gerade bis zu der Laterne. Reg begann augenblicklich, die Verbindung herzustellen. Da ertönte ein leises, häßliches Zischen. Reg zog den Kopf ein. »Achtung!« »Was ist das?« fragte Carter. Statt einer Antwort nahm Reg ein Steinchen vom Boden und warf es auf die andere Seite des Mäuerchens. Ein Krachen, ein Blitz, und der Stein war mitten in der Flugbahn verschwunden. Ein elektronisch gesteuertes Hochenergie-Feld hinderte alles – und jeden – daran, die so harmlos wirkende Mauer zu übersteigen. So ein Feld war das Feinste vom Feinen, das die Technik heute bot. Oder, wie Reg formulierte: »Der teuerste und größte Fliegenfänger der Welt!« Der alte Punker fummelte den letzten Klemmkontakt durch die enge Öffnung. »So… das müßte genügen!«
Inzwischen hatten sich Murray und Theora so richtig in ihre Rollen hineingesteigert. Mit wachsendem Mißfallen sah der Wachmann den beiden Streitenden zu, die ihn völlig vergessen zu haben schienen. »Dein Schmuck ist völlig unwichtig«, sagte Murray laut. Die Adern auf seinem kahlen Schädel schwollen bedrohlich an. »Auf jeden Fall sind die Kreditmodule wichtiger!« »Das kannst du gar nicht beurteilen«, zischte Theora, böse und kühl bis ans Herz. »Immerhin hängt meine Existenz davon ab!« »Das ist doch typisch! Ihr Männer seid alle gleich! Immer denkt ihr nur an euch!« Ein schneller, verächtlicher Seitenblick auf den Wachmann trug nicht gerade dazu bei, dessen Stimmung zu steigern. »Jetzt hör endlich mit deinem dämlichen Schmuck auf!« »Dämlich? Mein Schmuck ist immerhin…« »Lächerlich ist er, jawohl!« Murray fuhr ihr gnadenlos in die Parade. »Sind doch nur lauter Halbedelsteine! Rote, grüne, blaue…« Theora merkte, daß ihm der improvisierte Text ausging. »Unterbrich mich nicht andauernd!« giftete sie. »Das waren fast alles alte Familienerbstücke… und die will ich wiederhaben! Egal, was das kostet!« Murray atmete tief durch und sah den Wachmann hilfesuchend an. »Also, fangen wir noch mal ganz in Ruhe von vorne an. Sir, man hat uns überfallen. Der sogenannte Rikschafahrer hat unsere Kreditmodule gestohlen. Und ohne die sind wir absolut hilflos!« »Was ist das nur für ein Unfug? Mein Schmuck ist weg, und den hat schon meine Urgroßmutter getragen!« »Schatz, jetzt hör mir mal einen Augenblick in Ruhe zu. Ich rede von unseren Kreditmodulen! Davon hängen unser Leben und unsere Existenz ab!«
»Deine, meinst du wohl!« Aus den Augenwinkeln sah Theora, wie Edison und Reg zurückhuschten und in den Schatten ringsum untertauchten. »Ich höre mir das nicht länger an! Du bist ein richtiges Ekel!« Klatsch! Bevor Murray überhaupt eine Chance zur Reaktion hatte, malten sich schon Theoras fünf Finger auf seiner linken Wange ab. Die Ohrfeige hatte gesessen! An seinem völlig verblüfften Blick konnte sie ablesen, daß ihm die Backe wirklich weh tat. Damit hatte er nicht gerechnet. »Verzeihung, das wollte ich nicht«, sagte Theora, ein wenig erschrocken über sich selbst. »Ich bin wohl etwas zu weit gegangen.« Murray kämpfte um seine Fassung. Er blickte den Wachmann an und sagte so würdevoll, wie es ihm gerade noch möglich war: »Entschuldigen Sie uns. Wir setzen die Diskussion lieber woanders fort. Komm, mein Schmuckstück, wir gehen.« Er legte die Hand tröstend um die Schulter seiner sichtlich niedergeschlagenen Begleiterin und führte sie langsam fort. Kopfschüttelnd sah der Wachmann dem verrückten Paar nach. Leute gab’s! Kaum zu glauben… Als sie außer Hörweite waren, beschwerte sich Murray: »Du hast mir nicht gesagt, daß du mich schlagen würdest.« »Ich wollte uns einen überzeugenden Abgang verschaffen«, war Theoras entwaffnende Antwort.
Reg überprüfte die Energie, die über den externen Anschluß in die Anlagen seines Busses floß. Alle Kontrollgeräte zeigten optimale Werte an. Carter betrat den hinteren Raum des Busses, in dem Bryce seinen Computer mittlerweile vollständig aufgebaut hatte. »Wir sind soweit.«
Die Finger des Jungen spielten über die Tastatur. »Gut… ich schalte zuerst eine Verbindung zum Sender 23. Ihren guten Namen haben wir im Nu wiederhergestellt… äh, hoffentlich.« Unschuldig lugte er über den Rand seiner Brille. Carter mußte grinsen. »Vergiß das ›Sie‹, Junge. Ich bin Edison, okay?« »Okay.« Schon konzentrierte er sich wieder auf seine komplizierte Aufgabe. »Der Computer A-7 muß unsere Steuerbefehle akzeptieren. Zuerst müssen wir allerdings diese elektronische Mauer durchdringen.« Auf dem Bildschirm war ein Wall grünlicher Gebilde zu sehen. Irgendwie hatten sie Ähnlichkeit mit einem Vorhang. »Das Ganze ist wie ein Spaziergang durch einen Irrgarten«, erklärte Bryce. »Wir müssen verhindern, daß irgendwelche Alarmprogramme aktiviert werden. Mein Zufallsgenerator sendet jetzt eine Folge alphanumerischer Zeichen. Sie sehen wie kleine rote Pfeile aus. Ahh, das funktioniert ja ganz gut… jjja. Hauptsache, wir treffen auf kein Alarmprogramm. Und jetzt werden einige Hindernisse kaputtgehen.« Bryce veränderte die Datei-Eingabe, und die roten Pfeile auf seinem Schirm zischten jetzt direkt in die Strukturen des grünen Vorhangs. Einzelne Abschnitte lösten sich flimmernd auf. Plötzlich war ein Durchgang frei. »Geschafft. Wir sind drin.« Auf dem Schirm leuchtete das A 7-Symbol. »Gut!« Carter klopfte dem Jungen anerkennend auf die Schulter. »Jetzt geben wir Ihre… äh, deine Datei vom Sender 23 ein… denn die sagt natürlich nur nette Sachen über dich.« »Natürlich.« »Die Übertragung beginnt… jetzt.« Schon flossen die Daten aus dem Computer des Senders 23 in die Speicher von A-7.
Im nächsten Moment überlagerte eine Computer-Grafik das Bild. »Max, was machst du denn hier?« fragte Carter entgeistert. Der Computer-Mann sah sich aufmerksam um. »Ich bin deinen Da-daten gefolgt.« Er gähnte. »Ich weiß nicht, was ihr jetzt vor… vor-vor-vorhabt… ich mache einen Spaziergang. Mal sehen, wo diese Leitung hinführt.« Er blickte nach unten, rutschte regelrecht vom Schirm. Die Leitung, die er meinte, war das Verbindungskabel zu Security Systems. Reg, der immer noch draußen am Bus stand, traute seinen Augen nicht, als er Max plötzlich auf einem der Überwachungsmonitore auf dem Vorplatz entdeckte. Im nächsten Moment öffnete sich eine der Hintertüren des Hochhauses, und zwei Wachleute traten heraus. Max verschwand augenblicklich von dem Schirm. Reg drehte sich um und rannte nach vorne zum einzigen Einstieg des Busses. Noch hatten die beiden Wachmänner das rosafarbene rollende Ungetüm nicht entdeckt. »Hast du das Footballspiel gestern abend gesehen?« fragte der eine. »Ja… aber ich fand’s ziemlich langweilig. Richtig Action gab’s doch erst zum Schluß.«
»Oh, oh!« jammerte Bryce. »Was ist denn?« Carter verstand nicht, worüber der Junge sich aufregte. Der deutete nur auf den Schirm, auf dem das A-7-Symbol kleiner und kleiner wurde. »A-7 hat uns jetzt bemerkt. Er drängt uns aus seinem System raus!« »Kannst du die Leitung nicht aufrecht erhalten?«
Da stürmte Reg herein. »Wir bekommen unerwünschten Besuch!« Dominique spähte aus einem der wenigen Fenster. »Reg, wir müssen sofort verschwinden!« »Gut! Festhalten!« Er schwang sich auf den Fahrersitz, startete den Motor und gab Gas. Der Bus ruckte nach vorn. »Nein! Die Leitung!« schrie Bryce vergeblich. Das Kabel wurde aus der Laterne gerissen und schlackerte funkensprühend hinter dem Bus her. »Das war sie«, stellte der Junge resignierend fest. Während der Bus hinaus in die Dunkelheit rumpelte, mußte Carter an einen guten Freund denken, den er vielleicht gerade verloren hatte. »Armer Max…er ist im System von A-7 gefangen.«
Max suchte wieder die beiden Operatoren Stanley und Oliver auf. Diesmal konnte er zwar nicht über den Fernsehschirm zu ihnen sprechen, dieses System war ihm versperrt. Aber einer der Monitore von A-7 war genauso gut. »Ahemm…wi-wi-wi-wi-wißt ihr, vor dem Sender 23, da stehen Sicherheitsbeamte, die werden sehr gut dafür bezahlt, alle dranzuhindernhindernhindern, reinzukommen…und andere hindern… michdara-michda-mich daran, rauszukommen! Hohoho… haha!« Stanley und Oliver konnten sich das Lachen nicht verkneifen. Sie wußten zwar nicht, wie Max Headroom ins System gelangt war – aber wen störte das schon? Hauptsache, sie hatten ihren eigenen Fernsehmoderator. Einen Star ganz für sich allein! Ganz für sich allein war auch A-7, die noch nie in ihrer elektronischen Existenz einen wirklich kompetenten Gesprächspartner gefunden hatte. Den Menschen fehlte einfach die intellektuelle Kapazität für eine anregende
Unterhaltung mit dem intelligentesten Wesen der Welt. Deshalb redete A-7 oft und gern mit sich selbst. »Hier spricht der Hauptcomputer A-7. Alle Peripheriegeräte funktionieren einwandfrei, und das Carter-Isolationsprogramm läuft weiter.« Wenn es nichts mehr zu sagen gab, summte die künstliche Intelligenz sich auch gern eine kleine Melodie vor. A-7 hatte eine künstlerische Ader. Da geschah etwas ganz und gar Unerhörtes! Auf einem der Nebenbildschirme im Zentralraum erschien ein elektronisch gezeichnetes Gesicht. A-7 sah es nicht nur mit ihren optischen Rezeptoren, sie spürte auch den direkten Kontakt zu dem merkwürdigen Gebilde direkt auf ihrer Programmebene! Max Headroom sah sich einen Moment suchend um, dann meinte er fröhlich: »Ah, ah, A-7, nehme ich an?« Die künstliche Intelligenz ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. »Du befindest dich in einem gesperrten RAMSpeicher«, stellte sie sachlich-kühl fest. »Wa-wa-was… das nennst du einen RAM-Speicher? Ich dachte schon immer, im Sender-Computer hätte ich wenig Platz!« »Wer bist du?« »Du wirst mich noch kennenlernen. Aber im Moment gilt mein Interesse mehr di-di-di-dir… dir!« »Du sagst mir, wer du bist!« A-7 klang ärgerlich – und drohend. »Na gut. Mich nennt man Ma-Ma-Ma-Max Headroom. Und du bist die künstliche Intelligenz, die Security Systems steuert. Aberaber… aber… keine Sorge! Ich ich ich ich-ich bin sicher, du bist genauso real wie ich!«
»Ich glaube nicht, daß wir verfolgt wurden… ein kleiner Happen wird uns jetzt allen guttun.« Theora steuerte die Küche
ihres Apartments an, in das sich die Flüchtlinge zurückgezogen hatten. »Geh voran, wir folgen«, brummte Reg. Dominique versuchte, irgend etwas an seiner Kleidung geradezuzupfen, weil sie fand, daß er nicht ordentlich genug aussah für diese vornehme Wohnung. Aber er knurrte sie nur an: »Nicht doch! Laß das! Ist ja schrecklich!« »Das Ganze wird immer schlimmer«, stellte Carter fest. »Zuerst haben sie meine Daten verändert, und jetzt steckt ihr auch noch in der Klemme.« »Außerdem haben wir Max verloren«, erinnerte ihn Theora. »Wenn wir bloß an diesen verdammten Computer rankommen könnten«, raunzte Murray. Bryce hatte seine Brille abgesetzt. Ohne die Guckmaschine sah er noch grüner aus. »Ihr werdet euch wundern… das können wir!« Offensichtlich genoß er die allgemeine Aufmerksamkeit. Stolz verkündete er: »Für eine kurze Zeit war ich im System von A-7… einige Daten habe ich einspeisen können. Zutrittscodes zum Beispiel. Das heißt… wir können das Gebäude ganz offiziell betreten.« »Das soll wohl ‘n Witz sein?« fragte Murray, aber Bryce schüttelte nur stumm den Kopf. Theora verzog das Gesicht. »Hört sich gefährlich an.« »Und deswegen werde ich nicht allein gehen.« Er sah jemand Bestimmtes so durchdringend an, wie es ihm in seinem Alter möglich war. Die anderen folgten seinem Blick. Carter wurde unruhig, als sich fünf Augenpaare auf ihn richteten. »Meinst du etwa mich?« Daran konnte kein Zweifel bestehen. Er hatte sie alle in diese Situation gebracht – nun sollte er gefälligst seinen Teil dazu beitragen, sie zu bereinigen.
13. Kapitel
Der Morgen dämmerte blutigrot über der Stadt, als zwei Techniker in den üblichen weißen Kitteln ihres Berufsstandes auf den Haupteingang der Zentrale von Security Systems zugingen. Der eine war erstaunlich jung, klein und trug eine riesengroße Brille. Der andere überragte ihn um Haupteslänge, war hager und hatte schon etwas schüttere blonde Haare. Edison Carter und Bryce Lynch wagten sich direkt in die Höhle des Löwen. Carter trug einen schwarzen Werkzeugkoffer unter dem Arm, Bryce schleppte seinen transportablen Computer. »Ich hoffe, du hast nicht übertrieben, Bryce«, flüsterte Carter. »Was ist, wenn sie deinen Code nicht akzeptieren?« Ehe der Junge antworten konnte, ertönte die lautsprecherverstärkte Stimme des Wachmannes: »Stehenbleiben, Sie werden durchleuchtet!« Gehorsam hielten die beiden an. »Was könnte uns schon passieren?« fragte Bryce voller Naivität. »Würden sie es wagen, uns zu verprügeln?« »Weitergehen!« schallte die Stimme, und so mußte Bryce Carter wohl oder übel folgen. Ein Rückzieher war jetzt nicht mehr möglich, obwohl die Antwort des Reporters alles andere als beruhigend klang: »Die Typen sind sehr einfallsreich. Wenn wir Glück haben, töten sie uns nur.« Bryce war leicht geschockt. Aber er ließ sich nichts anmerken, als der Wächter hinter der Panzerglasscheibe verlangte: »Die Codeschlüssel!« Der Mann und der Junge zogen die ID-Stifte aus der Tasche, die Bryce vorhin in Theoras Apartment noch schnell mit den
Zutrittscodes präpariert hatte, die er ins System von A-7 eingespeist hatte. Augenblicklich akzeptierte die automatische Überwachungsanlage die Berechtigung der beiden. Der Wachmann drückte einen Knopf, und die schwere zweiflügelige Panzertür des Haupteingangs öffnete sich, schloß sich aber gleich wieder, als Carter und Bryce eingetreten waren. Es schien beinahe, als hätte Security Systems die beiden verschluckt.
In Theoras Apartment entstand eine mobile Kontrollstelle, denn es war eindeutig zu riskant, die Anlage im Sender 23 zu benutzen. Reg verband Theoras Computer mit den Installationen in seinem Bus, der unten hinter dem Haus parkte. Dabei bewies er mehr technisches Geschick, als Murray einem so ausgeflippten Typen zugetraut hätte. Er verlegte gerade die letzten Anschlüsse, und seine Lebensgefährtin drängte: »Beeil dich! Alles hängt von dir ab!« »Das ist ein sehr kompliziertes Kabel, Dominique. Und kein Springseil!« Er stellte die letzten Anschlüsse zu Theoras Computer her. »Steht die Verbindung?« »Ja.« Die Controllerin aktivierte ihre Anlage, doch der Schirm blieb dunkel. »Immer noch kein Video-Signal von Edison.« Murray setzte sich auf den freien Platz neben Theora. Sobald Carter sich meldete, würde er ihr mit Computer-Recherchen assistieren. Endlich flammte der Schirm auf. Irgendwo im Inneren der Security-Systems-Zentrale hatte Carter seinen Werkzeugkoffer geöffnet und das einzige Werkzeug herausgenommen, das ein guter Fernsehreporter wirklich brauchte: seine Kamera. »Theora?« rief er.
»Wir empfangen dich gut, Edison.« »Ich euch auch.« Also hatte Reg ganze Arbeit geleistet und eine erstklassige Funkstrecke zusammengebastelt. Sobald er das Peilsignal der Kamera empfing, konnte Murray den genauen Standort der beiden in der Zentrale des Gegners orten. Er rief eine schematische Darstellung des Security Systems-Hauses auf seinen Schirm und überspielte sie auf Carters Kamera-Monitor: »Wir zeigen euch jetzt die Lage des Hauptcomputers.« Theora hatte den Gang gefunden, auf dem die beiden waren. Sie suchte den kürzesten Weg zum Hauptraum von A-7. Reg starrte auf die Darstellung und runzelte die Stirn. »Die Architektur gefällt mir nicht.« Tatsächlich vermittelte selbst die Innengestaltung der Räume und Gänge eine Atmosphäre unterschwelliger Bedrohung. »Ihr geht den Gang ein Stück nach rechts weiter«, wies Theora ihre beiden Schützlinge an. »Mit dem Lift fahrt ihr zwei Stockwerke tiefer… dann müßte der HauptComputerraum direkt vor euch liegen.« Carter hastete los. Bryce, der an seinem Computer ganz schön zu schleppen hatte, konnte ihm kaum folgen.
Inzwischen genoß Max Headroom das elektronische Leben in vollen Zügen. Er flirtete mit A-7, daß sich die Balken bogen. Jedes Bit seines Programms, das Informationen über die großen Liebhaber der Film- und Fernsehgeschichte enthielt, war voll aktiviert. »Dei-dei-dei-deine Stimme ist sehr… mhhhm… sanft-ft-ft-ft ft-ft. Mhhhm!« Doch so leicht war A-7 nicht aus ihrer Reserve zu locken. »Warum bist du in mein System eingedrungen?« fragte sie so sachlich-kühl wie möglich. Doch das nervöse Zittern ihrer
Manifestationslinien auf den Schirmen ließ sich nicht ganz unterdrücken. »Ichwi-ichwi-ichwill ich will ehrlich sein«, säuselte Max so treuherzig, wie er nur konnte. »Ich möchte etwas von dir haben!« »Erzähl mir etwas mehr von dir!« Jetzt machte Max auf schüchtern: »Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt! Mmffk, mmffk, mmffk, mmffk.« Er wollte sich ja nicht selbst loben, aber die Sprachfehler und verrückten Geräusche, die er heute produzierte, fand er besonders gelungen. Wenn A-7 davon nicht angemacht wurde…! »Wir kennen uns immerhin seit über 3000 Millisekunden.« Täuschte sich Max, oder nahmen die Schirme von A-7 einen leicht rosafarbenen Schimmer an? »Du, du, du kennst schon mein Innerstes«, gab er zu, was A-7 ein verlegenes Lachen entlockte. »Paßgu-paßgu-paßgut… auf, daß du nicht über eine A-a-a-arterie stolperst… arrugh.« Der weibliche Computer konnte nicht anders – über so viel Witz und Charme mußte A-7 einfach lachen. Max lief zu ganz großer Form auf. »Ich mö-mö-möchte wissen, ob Systeme auch mal eine Party feiern, und wenn ja, ob sie sich auch vereinigen? Waha-chaaach… tja.« »Weißt du Max… so nahe wie du ist mir bisher noch niemand gekommen.« A-7 konnte die Erregung in ihrer Stimme nicht länger unterdrücken, und die meisten ihrer Monitore schalteten von weißem Hintergrund auf ein helles Rot. Max erkannte natürlich, was er da mit seiner elektronischen Partnerin anstellte, und so versicherte er ihr mit dem allerzärtlichsten Ausdruck, zu dem seine Stimme fähig war: »Ich werde ganz gefühlvoll sein.«
Carter und Bryce schlichen inzwischen durch die menschenleeren Korridore des Stockwerks, in dem die Zentrale von A-7 lag. Sie kamen an der stets geöffneten Tür des Operatorraums vorbei. Stanley und Oliver saßen einträchtig vor dem Fernseher, verfolgten das Frühstücksprogramm von Sender 23 und freuten sich auf das nicht mehr allzu ferne Ende ihrer Nachtschicht. Bryce blieb unwillkürlich stehen und sah zu den beiden Gestalten hinüber. »Edison«, flüsterte er. Carter blieb so ruhig wie möglich und schob den Jungen vor sich her. »Weitergehen«, befahl er leise, aber eindringlich. Innerlich fluchte er. Im Umgang mit Computern war Bryce ein Genie. Aber sonst mußte er noch viel lernen! Als sie die Bewegung wahrnahmen, schauten Stanley und Oliver kurz auf. Während Stanley sich gleich wieder dem Fernseher widmete, malte sich auf Olivers Gesicht Überraschung ab. Und plötzlich Mißtrauen. »War das nicht Edison Carter?« »Ich glaube, ja«, murmelte sein Kollege, reichlich sauer über die Störung. Doch Oliver gab keine Ruhe: »Was macht er hier?« Gereizt holte Stanley tief Luft: »Also… sollte er nicht hier sein, dann würde er auch nicht hier sein, oder?« Da Oliver noch immer beunruhigt wirkte, gab Stanley nach und rief schnell die Daten der Personen ab, die das Gebäude in den letzten Minuten betreten hatten. Als die Zeichen auf seinem Bildschirm aufleuchteten, lehnte er sich zufrieden zurück: »Da siehst du es… er hat einen Zutrittscode.« »Ja«, mußte Oliver zugeben. Er entspannte sich und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Stanley sagte nichts mehr, um angesichts des lustigen Films im Fernsehen nicht noch mehr Zeit mit frachtlosen Diskussionen zu vergeuden. Aber er mußte sich schon sehr über seinen Kollegen wundern. Wie
konnte der nur annehmen, jemand käme unberechtigt in ein Gebäude, das die allmächtige A-7 überwachte?
Carter und Bryce hatten die Zentrale von A-7 endlich gefunden. Gleich neben der Eingangstür waren einige Schaltschränke aufgebaut, die sowohl ausreichend Deckung als auch genügend Anschlußmöglichkeiten für Bryces Computer boten. »Aha, hier sind wir richtig«, stellte der Junge fest. Stöhnend wuchtete er seine schwere Computer-Kiste auf eine Ablage. »Warte, ich helf dir«, sagte Carter, aber Bryce hatte es schon geschafft. Augenblicklich begann er damit, seinen Rechner betriebsfertig zu machen und ihn ans System von A-7 zu koppeln. Auf einem der Nebenmonitore, über den ein unablässiger Datenstrom zog, erschien plötzlich Max’ Gesicht. Verblüfft schaute er auf seine beiden Freunde, sagte aber nichts. »Schaffst du es?« fragte Carter den Jungen. »Es wird nicht leicht werden.« »Was ist schon leicht?« Max hatte genug gesehen. Er konnte sich jetzt vorstellen, was Edison hier wollte. Gut. Er würde ihn nach Kräften unterstützten. Ohne daß die beiden ihn bemerkt hätten, verschwand Max wieder von dem Schirm, um gleich nebenan bei A-7 aufzutauchen. »Da bist du ja wieder«, flötete der weibliche Computer. »Wo warst du?« Max konnte sich nur schwer ein Lachen verkneifen. Sie kannten sich erst so kurze Zeit – wurde A-7 etwa schon eifersüchtig?
»Du-du-du bist mein erstes Rendezvous!« Er war gespannt, wie weit sie seine ausweichenden Antworten akzeptieren würde. »Heißt das… wenn du Knie hättest, würden sie dir zittern?« »A-ha! A-ha! Ahahaha!« gackerte Max. »Und ich-ichda-ich dachte, du hättest keinen Humor.« Carter, der neben Bryce hinter dem Schaltschrank stand, schaute verblüfft auf. Das war doch Max’ Stimme! Also hatte er den Transfer ins System der Sicherheitsfirma unbeschadet überstanden! Da Bryce noch beschäftigt war, konnte es nichts schaden, sich ein wenig umzusehen. Carter trat um den Schaltschrank herum – und sah Max direkt ins Gesicht. A-7 gestand ihm gerade ihre große Liebe: »Du sagst entzückende Dinge… ich verspüre den unwiderstehlichen Drang, dich zu meinem Unterprogramm zu machen.« »Wie ich be-be-bereits bemerkte… du kennst mein Innerstes.« Als er Carter sah, tat er ganz überrascht: »Wa-wa was machst du denn hier?« Max wußte, daß A-7 keine optischen Rezeptoren in ihren Bildschirmen besaß. Der Kontakt mit dem Computer-Mann fand direkt auf der elektronischen Ebene statt. Optische Eindrücke konnte sich A-7 nur aus den überall installierten Überwachungskameras besorgen. Und direkt neben Carter befand sich so eine Kamera an der Wand. Noch einen Schritt weiter, und sie würde ihn erfassen. Sagen durfte Max nichts, aber er warf dem Reporter ein paar bedeutsame Blicke zu, die der auch gleich richtig interpretierte. Er drehte die Kamera so weg, daß sie nur noch den Teil des Raumes zeigte, den er nicht zu betreten brauchte. Max lenkte derweil den Super-Computer geschickt ab. »A-7, kennst du eigentlich schon den Witz von dem Computer, der…«
»Warum bewegt sich die Kamera?« Oliver im Operatorraum nebenan wurde schon wieder nervös. Er deutete auf den Kontrollmonitor, der plötzlich nur noch einen kleinen Randbezirk der A-7-Zentrale zeigte. Stanley war’s jetzt leid. Er blickte demonstrativ auf den Fernsehschirm: »Sieh dir lieber an, was die da in dem Film treiben!« Unwillkürlich mußte Oliver auf den Schirm schauen – und vergaß augenblicklich das Problem mit der Überwachungskamera. Das Fernsehprogramm war aber auch wirklich zu komisch heute!
Max hatte einen hervorragenden Plan entwickelt. Er mußte ihn nur lange genug vor der künstlichen Intelligenz verborgen halten, wenn er gelingen sollte. »Sa-sa-sa-sa-sag guten Tag zu A-7… zu A-7«, verlangte er. Carter reagierte nicht. Menschen waren aber auch manchmal wirklich zu begriffsstutzig! »Na mach schon!« Noch auffälliger durfte er wirklich nicht mehr werden. Carter kapierte zwar immer noch nicht, was Max eigentlich wollte, aber er spielte das Spiel mit. »Guten Tag.« »Bitte? Max, führst du Selbstgespräche?« Die weibliche Computerstimme klang verwirrt. »Na-na-na-nein… ja. In gewisser Weise schon. Eine üble Angewohnheit.« Max hatte jetzt auch einen der Bildschirme in der Frontverkleidung von A-7 okkupiert. Er warf Carter einen auffordernden Blick zu. »So bin ich… rrrhhch!« Der Reporter war sich nicht ganz sicher, ob er verstand, was sein elektronischer Freund von ihm erwartete. Zögernd wiederholte er: »So bin ich.«
Auch die Beobachter am Kontrollschirm in Theoras Apartment waren verwirrt. »Was treiben die da?« wunderte sich Murray. Noch verwunderter aber war A-7: »Max… deine Stimme kommt plötzlich aus verschiedenen Richtungen.« »Sich-sich-sicher! Ich bin eben sehr beweglich! Auch so eine Angewohnheit…« »…von mir«, ergänzte Carter. Langsam durchschaute er Max’ Plan. Aus dem Lautsprecher seiner Kamera hörte er Theoras leise Stimme: »Ja, natürlich… sie haben dieselbe Stimme! So bringen sie A-7 völlig durcheinander!« Und Reg brummte: »Sehr clever, euer Max!« Carter fragte sich, weshalb er so lange gebraucht hatte, um Max zu verstehen. Immerhin war der doch nur eine elektronische Version seiner eigenen Persönlichkeit. Oder war er mittlerweile mehr? »Max, hör auf, sonst verliere ich die Selbstkontrolle«, flüsterte A-7, und ihre Bildschirme glühten jetzt kirschrot. »Ich will mich dir doch ganz öffnen.« Eine Vorstellung, die Max offensichtlich gefiel, denn er warf ihr einen dicken Kuß zu. »Also… was wirst du mir von dir verraten?« fragte er so überlegen-ruhig wie der reifste, erfahrenste Liebhaber der Welt. »Alles!« A-7 kicherte wie ein Teenager beim ersten Rendezvous. »Hhhnng!« Max sah Carter groß an. Wenn er diese Chance nicht nutzte, bekäme er so schnell keine zweite. »Na gut!« Carter setzte die Kamera wieder auf die Schulter und aktivierte die Sendeschaltung. »Wer versucht, Security Systems zu kaufen?« A-7 glaubte noch immer, mit Max zu sprechen, und antwortete voll unschuldiger Offenheit: »Security Systems.«
»Erzähl mir die ganze Geschichte, A-7… über die Aktienkäufe, über Valerie Towne, einfach alles!« »Bitte!« fügte Max hinzu. Der weibliche Computer gab bereitwilligst Auskunft: »Security Systems benötigt Kapital, um einige Firmen aufzukaufen, die gebraucht werden, um ein weltweites System im Nachrichten- und Sicherheitswesen aufzubauen. Wir haben einige Gerüchte in Umlauf gebracht und dadurch die Aktien der Security Systems in die Höhe getrieben. So konnten wir verhindern, daß vor allem die ZikZak-Corporation und Sender 23 größere Aktienpakete unserer Firma übernahmen.« »Sag mir, wessen Idee das war«, verlangte Carter. Sein anderes Ich auf dem Bildschirm beachtete wenigstens noch die Regeln der Höflichkeit: »Bitte!« »Das ganze Konzept für dieses Geschäft stammt von unserer Vorstandsvorsitzenden Valerie Towne.« Das wirkte wie ein Schlag mit dem Hammer. »Aber Sie wurde doch entlassen…«, stellte Carter verblüfft fest. Leise fragte er die unsichtbaren Lauscher am anderen Ende der Funkstrecke: »Bekommt ihr alles mit?« »Ja, alles… jedes Wort«, bestätigten Theora und Murray. Langsam fiel es dem Reporter wie Schuppen von den Augen. »Die Frau hat also gelogen… und der Stimmenanalysator hat es nicht gemerkt.« »Dann hat A-7 ihn beeinflußt«, vermutete Theora. »Ja. Und das war nicht mal schwierig«, stimmte Murray ihr zu. »Immerhin hat Security Systems freien Zugang zu unserem System.« Bryce Lynch hatte seine Anschlußarbeiten beendet und kam nachsehen, was Edison eigentlich trieb. Überrascht glotzte der Junge durch seine viel zu große Brille. Ihm als Computerexperten wurde natürlich auf den ersten Blick klar, wie Max A-7 um den elektronischen Finger
wickelte. Diese brillante Idee hätte glatt von ihm selbst stammen können, dachte Bryce. Max fand es an der Zeit, zur Sache zu kommen. »A-7, ein gu gu-gu-guter Freund von mir ist in Schwierigkeiten. Seine Kreditwürdigkeit wurde durch einen Irrtum in deinem Syste te-tem gelöscht.« »Sein Name?« »Edison Carter. Wirst wirst du ihm helfen?« Max legte all seinen Charme in seine Stimme – und das war nicht wenig. »Das wä-wä-wäre genauso… als würdest du mir helfen!« »Bitte!« Diesmal kam es von Carter. Doch bevor A-7 reagieren konnte, zerschnitt eine eisige Stimme die Luft im Computerraum. »Zu spät, Mr. Carter!« Valerie Townes stand im Eingang, hinter ihr groß, massiv und regungslos zwei uniformierte Security-SystemsWachmänner. Der Reporter ließ die Kamera sinken. Blitzschnell schätzte er seine Chancen ab. Es gab keine. Er war kein Schwächling, aber gegen diese wandelnden Muskelberge konnte er nicht das Geringste ausrichten. Die nach wie vor amtierende Vorstandsvorsitzende des Sicherheitskonzerns hatte sich zur Feier ihres Triumphes in ihr spitzenbesetztes kleines Schwarzes gehüllt. Die Haare trug sie noch strenger als je zuvor. Irgendwie wirkte sie wie eine Krähe, die nach dem Ende der Schlacht vom Himmel herabstößt, um Leichenschmaus zu halten – im wahrsten Sinne des Wortes. »Man hatte mir gesagt, daß Sie unglaublich einfallsreich sind!« Ihre eiskalt glitzernden Augen hatten jede Spur von Weiblichkeit verloren. »Da bin ich nicht der einzige Mensch«, sagte Carter sarkastisch. »Security Systems genügt Ihnen nicht. Sie wollen alles. Das könnte man ja beinahe ›übersteigerte Gier‹ nennen!«
»Wir unterliegen alle krankhaften Zwängen«, stellte Valerie Towne triumphierend fest. »Schafft sie weg«, befahl sie ihren Bodyguards. Die beiden Kampfmaschinen auf Beinen packten Carter und Bryce und zogen sie mit sich fort. Einer nahm dem Reporter die Kamera ab und warf sie achtlos zu Boden. Die Funkverbindung zu Theoras Apartment brach ab.
»Ich habe Edison verloren!« Für einen Augenblick war die sonst so beherrschte Theora Jones völlig verzweifelt. So kurz vor dem Ziel – und dann das! Auch Murray wußte im Moment nicht mehr weiter. Nur Dominique faßte einen halbwegs vernünftigen Entschluß: »Ich rufe die Metro-Polizei!« Sie eilte zum Vidifon. Aber sie ahnte, daß selbst die Polizei zu spät kommen könnte, um den netten jungen Mann und seinen kleinen Freund zu retten. Denn der beinahe allmächtige Sicherheitskonzern hatte bestimmt auch Mittel und Wege, um unerwünschte Besuche der Polizei abzuwimmeln.
Die Wachmänner hatten Carter und Bryce in eine Kammer von vielleicht 20 Quadratmetern gestoßen und die einzige Tür fest hinter ihnen verriegelt. Bis auf einige wenige Geräte, die Carter bekannt vorkamen, deren Funktion er sich aber momentan nicht erklären konnte, war der Raum leer. Auf einem Zweiwegmonitor neben der Tür leuchtete das Firmenzeichen von Security Systems. Bryce prüfte die Tür, aber er fand nirgendwo einen verborgenen Kontakt. Von innen ließ sie sich nicht öffnen, und sie war viel zu massiv, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, sie gewaltsam aufzubrechen.
Der Reporter untersuchte einige Luftschlitze am Fuß der gegenüberliegenden Wand. Aber die Öffnungen waren nicht nur durch ein schweres Gitter geschützt, sie waren auch viel zu klein, um hindurchzuschlüpfen. Etwas Positives hatten die Öffnungen trotzdem: Die Gefangenen brauchten nicht zu ersticken, soviel stand fest. Und sie brauchten sich auch keine großen Gedanken mehr darüber zu machen, was Valerie Towne mit ihnen plante. Denn das Firmensignum auf dem Monitor verschwand und wurde durch ihr Bild ersetzt. Die Frau stellte ihren Triumph unverhohlen zur Schau. Sie lächelte süffisant: »Tja, Mr. Carter… Ihr Ruf wird Ihnen zum Verhängnis. Sie und Ihr Komplize sind in unsere Festung eingedrungen. Dabei haben Sie sich in eine Klimakammer verirrt… und da wird man Sie am Vormittag finden… tiefgefroren.« Die Vorstellung schien ihr ausgesprochenes Vergnügen zu bereiten. Carter fiel es wie Schuppen von den Augen: Das hier war kein Raum im eigentlichen Sinne, sondern einer der gigantischen Kältegeneratoren, der zum Klimaanlagensystem des Hochhauses gehörte. Hier wurden Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt erzeugt, um die in dem riesigen Gebäude zirkulierende Luft dosiert abzukühlen. Sie saßen in einer wirklichen Todesfalle. Carter deutete auf Bryce: »Können Sie ihn nicht gehen lassen?« Valerie Townes Lachen zeigte die Arroganz der Macht, von der diese Frau besessen war: »Seien Sie doch nicht albern, Mr. Carter. Sie sind für uns schon zu gefährlich, um Sie frei herumlaufen zu lassen. Aber Ihr junger Freund besitzt die Fähigkeit, unser Sicherheitssystem zu überwinden. Das heißt,
im Grund ist er noch viel gefährlicher als Sie. Auf Nimmerwiedersehen, Mr. Carter.« Immer noch lächelnd, beugte sie sich zum Ausschaltknopf vor. Im nächsten Moment war wieder das Firmensymbol auf dem Schirm. Carter ahnte, was in Valerie Towne vorging. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß die Frau im Grunde ihres eiskalten Wesens eine gnadenlose Männerhasserin war. Bei seinen Recherchen über Security Systems hatte er natürlich auch in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt. Aber da gab es einfach nichts, was erwähnenswert gewesen wäre. Keine Männer. Und Frauen auch nicht. Noch während ihrer College-Zeit war Valerie Towne verheiratet gewesen. Die Ehe hatte nicht einmal ein Jahr überdauert. Nach der Scheidung war sie nie wieder mit jemandem liiert. Auf einmal erschien Carter die Tatsache, daß Valerie Townes Ex-Mann drei Jahre nach der Scheidung bei einem sehr merkwürdigen Unfall ums Leben gekommen war, in einem ganz anderen Licht. Offenbar hatten elf Monate Ehe genügt, um aus einem harmlosen Teenager ein machtbesessenes, männermordendes Ungeheuer zu machen.
14. Kapitel
Carter stürzte zu den Lüftungsschlitzen neben der Tür, doch sie boten wie die auf der gegenüberliegenden Seite keine Fluchtmöglichkeit. Er wußte, daß es vergeblich war, trotzdem untersuchte er noch einmal die Tür, obwohl Bryce das schon längst erledigt hatte – ergebnislos. Aber der Reporter mußte einfach irgend etwas tun, wenn er nicht verrückt werden wollte. Der Junge hingegen hatte sich offenbar schon mit seinem Schicksal abgefunden. »Edison…«, fragte er bedrückt, »wird es weh tun?« Er druckste ein wenig herum, dann fügte er hinzu: »Ich meine… du bist dem Tod schon mehrmals sehr nahe gewesen…!« »Ja. Nahe genug, um jetzt Angst vor ihm zu haben.« Carter hatte sich entschlossen, Bryce nichts mehr vorzumachen. Der Junge war intelligent genug, um die Wahrheit verstehen zu können. Und er hatte ein Recht darauf, sie zu erfahren. Das Licht in der Kammer veränderte sich. Das bisher vorherrschende warme Braun verschwand, wurde durch ein kaltes Blau ersetzt. Carter hörte, wie irgendwo in der Nähe schwere Klimakompressoren zu rumpelndem Leben erwachten. Aus einem großen Stutzen in der Mitte des Raumes drang eisige Luft, in der sich sofort Kondenswasser aus der noch viel wärmeren Atmosphäre der Kammer niederschlug. Offenbar wollte Valerie Towne die beiden Todeskandidaten verhöhnen, denn der Monitor neben der Tür zeigte jetzt eine Thermometerskala. Noch stand der Eichstrich bei angenehmen 28 Grad Celsius, doch schon wanderte die Skala langsam, aber unaufhörlich
nach oben. Von unten schoben sich immer niedrigere Temperaturziffern auf die Mattscheibe. Bryce war ganz ruhig. Er hockte sich in eine Ecke, möglichst weit weg von dem kalten Luftstrom, und sagte beinahe abgeklärt: »Das finde ich sehr ungewöhnlich… ich merke jetzt schon, wie ich bedaure, daß ich vieles nicht mehr erleben werde. Ich fürchte, ich schaffe es nicht mehr, meine Sammlung seltener antiker Computerspiele zu vervollständigen…« Carter sah den Jungen verblüfft an. Der hatte vielleicht Sorgen! Es wurde merklich kälter in der Kammer. Der Reporter streifte den dünnen weißen Kittel ab und zog die Jacke aus, die er darunter trug. Während er sich den Kittel wieder überstreifte, legte er die wärmende Jacke dem Jungen über die Schultern. Er machte sich Vorwürfe, daß er Bryce mit in diese Sache gezogen hatte. Die Jacke würde das unvermeidliche Ende nur ein wenig hinauszögern. Aber der Junge kam nicht einmal auf die Idee, Carter Vorwürfe zu machen. Bryce sah dem Ende gelassen entgegen, wie ein antiker Philosoph: »Schade… ich werde wohl niemals eine reine Haut haben. Ich vermute… das ist der Preis, den man bezahlen muß, wenn man Gott herausfordert.« »Sei nicht verunsichert, Bryce.« Carter setzte sich neben den Jungen und legte ihm den Arm um die Schultern, um ihn so warm wie möglich zu halten. »Was du jetzt empfindest, ist eine ganz normale Reaktion. Die nennt man Furcht.« »So etwas habe ich noch niemals empfunden«, stellte Bryce sachlich fest. »Das ist richtig interessant.« »Ja… so würde ich das zwar nicht bezeichnen, aber… dafür bist du auch ein Genie.« Die beiden bemerkten nicht, wie die Thermometerskala auf dem Monitor für einen Moment verschwand, um Max Platz zu
machen. Erschrocken und empört starrte er auf seine Freunde in der Ecke: »Ooohh!« Schon war er wieder verschwunden. Die Temperaturskala rutschte unter den Gefrierpunkt. Verblüfft über das, was in ihm vorging, stellte Bryce fest: »Ich habe Angst.« Es erstaunte ihn ungemein, daß man selbst im Angesicht des Todes noch neue Lebenserfahrungen machen konnte.
Von Max Headrooms lässiger Überlegenheit war nicht mehr viel zu spüren, als er wieder im Hauptkontrollraum des Supercomputers auftauchte. »A-7… hach! Jetzt mußt du Edison Carter aber helfen!« drängte er. »Weißt du, ich verstehe das mit dir und Edison nicht so ganz.« Die weibliche Stimme des Rechners war plötzlich voller Zweifel. »Ich habe dir erzählt, was du ü-ü-über uns wissen mußt.« Max war jetzt richtig ungehalten. »Er… ist mein Freund-t-t-t-t. Hast du einen Freund?« »Valerie Towne ist meine Freundin.« »Ahuu? Valerie?« Beinahe wären Max die Augen aus dem Gesicht gefallen. Wie konnte eine so intelligente – und zugegebenermaßen so charmante – Seele von Computer nur dermaßen naiv sein? »Wie sagt das Sprichwort? ›Freu-freu freu-freunde in der Not, gehen tausend auf ein Lot.‹ Und mit Valerie als Freundin… bist du so gut wie tot.« Über einen seiner elektronischen Fühler, die er ins Netz ausgestreckt hatte, bekam Max mit, daß sich die Temperatur in der Klimakammer rapide auf 30 Grad unter Null zubewegte. Er wußte, daß Menschen ohne Schutzkleidung bei diesen Verhältnissen nur wenige Minuten überleben konnten.
Also mußte er A-7 ins Gewissen reden: »Deine Freundin hat Aktienkurse ma-ma-ma-manipuliert! Und sie… erwa-wa-wa wa-wartet, daß du Fernsehreporter in der Kältekammer einfrierst. Das ist grundfalsch! Dei-nedeinedeine Freundin Valerie Towne würde so ziemlich alles zerstö-stö-stö-stören… auch dich! Nur um zu erreichen, was sie haben will!« Max ahnte gar nicht, wie recht er hatte. Denn Valerie Towne war auf dem Kriegspfad, fest entschlossen, ihre Interessen gnadenlos durchzusetzen. Sie hatte Stanley und Oliver aus dem Operator-Raum gescheucht. Die beiden trotteten hinter ihr her wie gehorsame Schoßhündchen, Köpfe gesenkt und Schultern nach vorn. Vor ihnen aber marschierte Valerie mit derart weitausholenden Schritten, daß ihr die beiden Männer kaum folgen konnten. A-7 befand sich voll im Widerstreit zwischen Programm und Gefühl. »Ach, Max…«, hauchte sie verwirrt, »das darf ich wirklich nicht tun!« Aber der Computer-Mann hatte von seinem menschlichen Vorbild genug Erfahrung im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht übernommen, um zu wissen, daß er längst gewonnen hatte. »Bitte!« lächelte er, doch eigentlich war es mehr ein Befehl. »Küß mich noch einmal«, bat A-7 sehnsuchtsvoll, und die Linien auf ihren Monitoren zuckten wild bis an die Begrenzungen, lösten sich teilweise auf. Sie konnte ihre neuentdeckten Emotionen kaum noch im Zaume halten. Und Max küßte sie voller Leidenschaft. Vom Bildschirm aus konnte er ihr natürlich nur einen Kußmund zuwerfen, doch auf der elektronischen Ebene streckte er all seine Fühler aus und kitzelte die Programm-Sensoren von A-7 mit sanften Impulsen gerade da, wo es am schönsten war. Brutal unterbrach Valerie Towne diesen vielleicht wunderbarsten Augenblick in der Existenz ihres
Supercomputers. »Was… was macht denn dieser Kopf da?« fragte sie entgeistert, als sie den Raum betrat und Max Headroom auf den Monitoren ihrer Schöpfung entdeckte. »Der sitzt der sitzt… auf meinen Schultern.« Max sprach in demselben spöttischen Ton, den Valerie Towne an Edison Carter so haßte. Stanley und Oliver dackelten hinter ihrer Chefin in den Raum – und freuten sich, ihren Lieblingsfernsehmoderator hier vorzufinden. Aber sie wußten, daß sie sich nichts anmerken lassen durften, denn ihre Chefin war offenbar kein Max Headroom-Fan. »A-7, schaff ihn runter vom Schirm!« verlangte sie. »So einfach ist das nicht. Sie haben hier nicht die… mhhhm… Schirmherrschaft!« und Max sprang von einem Monitor auf den nächsten, gerade so, wie es ihm beliebte. »Ich habe dieses System entwickelt, und wenn es sein muß, zerstöre ich es auch, um dich fortzuschaffen.« Mrs. Towne sprach kühl und beherrscht. Doch die Drohung war ihr voller Ernst. Max wußte, daß er jetzt nicht nur um die Leben von Carter und Bryce, sondern auch um seine eigene Existenz kämpfen mußte. »A-7, sie ist eine Lügnerin, das darfst du nicht vergessen!« Die Herrscherin über Security Systems konnte ihre Wut nur noch mühsam verbergen. »A-7, dieser Befehl hat absolute Priorität. Lösch den Kopf… jetzt!« »Ich bedaure, Mrs. Towne.« Offensichtlich war der Supercomputer zu einem Entschluß gelangt. »Max hat mir einen Weg gezeigt, Dinge zu erleben, die man Gefühle nennt. Ich erlaube nur noch ihm Zugriff auf mein System.« »Ahuu! Ahuhu!« Max kicherte triumphierend, färbte sein Bild rot ein und ließ es in schnellem Blinkrhythmus auftauchen
und verschwinden. Auf Valerie Towne wirkte das wie ein »Tilt«-Signal an einem antiken Flipper. Sie wagte einen letzten verzweifelten Versuch: »Damit verstößt du gegen deine Programmierung.« Mit diesem CodeSatz löste sie eine unabhängige Gehorsamsschaltung aus, die sie bei der Programmierung der künstlichen Intelligenz installiert hatte. Doch einem Überwesen wie A-7 blieb nichts verborgen. Sie hatte die geheimen Schaltungen längst entdeckt und die meisten von ihnen überbrückt. Nur bei einigen war das unmöglich, und sie lösten jetzt Kurzschlüsse in den Peripheriesystemen aus. Doch diese Schäden waren leicht zu reparieren und störten A-7 nicht. Funken schlugen aus ihrer Verkleidung, Blitze zuckten über blankes Metall. »Ich kann nicht anders«, tönte die weibliche Computerstimme. »Ich bin Feuer und Flamme für Max!« Gerade dem aber wurde es auf einmal recht heiß, denn er saß in den Peripheriegeräten. »A-7… A-7!« rief er verzweifelt, doch die künstliche Intelligenz war jetzt viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Also blieb wieder einmal alles an Max hängen. Ohne die Kontrolle der künstlichen Intelligenz über die Hausleitungen war es für Max eine Kleinigkeit, durch das Netzwerk von Security Systems zu huschen und die Tür der Klimakammer zu öffnen, in der seine Freunde ihrem Ende entgegenzitterten. A-7 hatte das Gröbste überstanden. Der Rauch verzog sich, und sie verkündete mit neuem Selbstbewußtsein: »Ich habe es getan… Mrs. Towne, Ihre Datei wurde geändert… Ihr Zugriffscode gelöscht. Ich habe die Datenbank der Justizbehörde über Ihre Verfehlungen informiert. Die Wachmänner sind schon unterwegs, um Sie im Auftrag der Polizei festzunehmen.« Das war zuviel für Valerie Towne. »Lächerlich«, kreischte sie hysterisch. »Schaltet das alberne Ding ab!«
Stanley und Oliver liefen wie zwei aufgescheuchte Hühner durcheinander, drückten wahllos ein paar Knöpfe. Irgendwo mußte A-7 doch abzuschalten sein – wenn sie nur den verfluchten Stecker gefunden hätten! Der weibliche Computer genoß seinen Triumph: »Sie können mich ausmachen, Mrs. Towne – aber Max kann mich anmachen!« Zwei bullige Wachmänner erschienen im Eingang. Einer faßte seine ehemalige Chefin am Arm, der andere packte die beiden Operatoren am Kragen. Gegen die lag zwar kein Haftbefehl vor, aber besser zwei Leute zuviel verhaften als einen zuwenig! Valerie wand sich vergeblich im Griff des Muskelmannes. »Kommen Sie!« forderte er barsch. Er war mit seinen Gefangenen schon fast durch die Tür, als A-7 ihn aufforderte, noch einmal kurz stehenzubleiben. Sie mußte ihrer »Freundin« noch etwas sagen: »Tut mir leid, Mrs. Towne… trotzdem können Sie stolz sein. Sie haben mich so programmiert, daß ich einen eigenen Willen besitze.« In diesem Moment stürmten Carter und Bryce durch den anderen Eingang herein. Der Reporter hob seine Kamera auf, die noch immer am Boden lag. Für einen Moment kreuzte sich sein Blick mit dem von Valerie Towne. Wortlos drehte die Frau sich um und ließ sich abführen. »Hchm. Wir sind eine tolle Mannschaft!« Max war auf einen der Monitore in der Peripherie zurückgekehrt – und sichtlich stolz auf seinen Erfolg. Bryce hatte mit einem Blick erfaßt, wie instabil das ganze System geworden war. »Max!« rief er. »Komm rüber in meinen Computer… schnell!« Das ließ der sich nicht zweimal sagen. Im nächsten Moment tauchte er auf dem Bildschirm des tragbaren Geräts auf, das Bryce vorhin angeschlossen hatte. Dank ausgeklügelter
Eingangssicherungen war das elektronische Feuerwerk wirkungslos an der Anlage vorbeigegangen. Der Junge unterbrach alle Verbindungen und eilte mit seinem Computer, so schnell es ihm seine kurzen Beine ermöglichten, aus dem Raum. Doch Max hatte noch etwas zu sagen. »Bryce, Edison!« brüllte er, so laut es mit dem kleinen Verstärker des Portis ging. »Behandelt A-7 mit Respekt! Das ist ein Computer, der Gefühle haaat!«
Und so gab es an diesem Abend doch noch eine Edison-CarterShow. Der Reporter teilte seinem staunenden Publikum die Einzelheiten dieser unglaublichen Affäre mit: »Nachdem es gelang, eine massive Kursmanipulation durch Insider aufzudecken, wurde an allen Börsen der Welt der Handel mit Security-Systems-Aktien ausgesetzt und eine Untersuchung eingeleitet. Die ehemalige Vorstandsvorsitzende Valerie Towne wurde bis zur endgültigen Klärung des Falles in Haft genommen. Die Leitung des gigantischen Sicherheitsapparats liegt vorübergehend bei einem neutralen Treuhändergremium… « Die Sendung hatte im Laufe des Nachmittags vorproduziert werden können, so daß in der Nachrichtenzentrale von Sender 23 jetzt entspannte Ruhe herrschte. Murray stand neben Carters Controllerin und verfolgte gemeinsam mit ihr den Ablauf der Show. Nachdenklich legte er ihr einen Arm um die Schultern. Das, was er jetzt zu sagen hatte, fiel ihm nicht ganz leicht: »Tja, Theora… ich habe diese Story wohl doch falsch beurteilt. Sie hat alle klassischen Elemente.« Die junge Frau nickte. »Sex… sogar etwas Romantik…« »Und du warst richtig gewalttätig!« »Das tut mir leid. Und…«
»Und es gab einen Helden… Max!« »Du sagst es!« Theora hakte sich bei Murray ein und zog ihn fort, Richtung Kantine. Dort waren sie mit Carter verabredet, um gemeinsam eine Flasche echten Champagners zu köpfen. Ein Sieg wie dieser mußte gefeiert werden!
Wie groß der Sieg wirklich war, machte Carters Sendung deutlich. Security Systems hatte kurz davor gestanden, die Herrschaft über die ganze Welt an sich zu reißen. Und Valerie Towne hätte endlich Gelegenheit gehabt, sich an allen Männern dieser Erde zu rächen! Carter kam zum Schluß seiner Ausführungen: »Die Bilder, die wir Ihnen eben ohne Kommentar zeigten, waren eine grobe schematische Darstellung des weitverzweigten Einflußbereichs, den Security Systems sich bis zum heutigen Tage aufgebaut hatte. Wie wir aus gutinformierten Kreisen wissen, sind Maßnahmen eingeleitet worden, die für Security Systems die Errichtung eines Weltmonopols unmöglich machen. Und was A-7, den Computer mit künstlicher Intelligenz betrifft… man wird sein Programm einer gründlichen Überarbeitung unterwerfen. Das war Edison Carter vom Sender 23… mit der Sendung, in der Fragen beantwortet werden, die andere nicht einmal zu stellen wagen!«
Die Absage der Show mußte natürlich wieder der beliebteste Fernsehmoderator der Gegenwart übernehmen: Max Headroom. Lässig, kühl und überlegen erschien er auf den Fernsehschirmen des ganzen Landes. »Ah, der Mann ist ein Ge-ge-ge-genie!« tönte er. »Was würde er ohne mich machen! Aber… das sollte ich nicht
sagen. Ich bin ja so… bescheiden-scheiden!« Max’ überhebliches Grinsen strafte seine Worte Lügen. »Ich würde mir gern se-se-selbst auf den Rücken klopfen, aber das kann ich nicht… äeh, äehah. Ich habe keinen Rücken.« Die letzten Worte flüsterte er beinahe – so, als würde er ein Staatsgeheimnis ausplaudern.
Reg und Dominique hatten ihren rosaroten Bus zurück in die Randbezirke kutschiert. Der Fernsehpirat saß vor dem Bildschirm und folgte dem Programm der etablierten Konkurrenz. Seinen eigenen Sender hatte er abgeschaltet, denn die Carter-Show wollte er sich keinesfalls entgehen lassen. Als Max jetzt seine dummen Sprüche von sich gab, lehnte Reg sich in seinem wackligen Drehsessel zurück und seufzte aus tiefstem Herzen: »Ein Verrückter! Haaach… was Bigtime TV aus dem machen könnte!« Dominique hielt sich lieber still im Hintergrund und sagte gar nichts. Sie schätzte die Möglichkeiten des Piratensenders eben ein ganz klein wenig realistischer ein als Reg. Max kam jetzt erst so richtig in Fahrt. »Ähäh, ahäh. Wißt ihr, was ich mir überlegt habe? Es wird Zeit, daß ZikZikZikZak mal eine Fitneßwoche sponsort. Hier im Sender 23. Mhhmm, mhhhm. Man sollte eine Serie von einminütigen Pausen einrichten, in denen kei-kei-kein Ton gesendet wird. Versuchen wir’s gleich mal!« Mit Verschwörermiene verschwand er vom Schirm – nur um sich gleich danach von der Seite wieder darauf zu schieben, erneut zu verschwinden und dann wieder von unten her aufzutauchen. Er sah sich nach allen Seiten um. »Tchff, tchff. Ich muß jetzt flüstern, weil die Sicherheitsbeamten denken, daß schon längst alle nach Hause gegangen sind… sind. Und ihr wißt ja selbst, wie Sicherheitsbeamte sind. Erst schi-schi
schießen sie, und dann verlangen sie, daß man sich identifiziert!« Max gab sich jetzt absolut seriös. Er wirkte wie ein Politiker, der die letzte Diätenerhöhung begründet. »Ich habe nicht die Absicht, jemandem zu nahe zu treten, aber… die wichtigste Voraussetzung für einen Sicherheitsbeamten ist doch, daß er tota-tota-tototota-total unsicher ist. Ich meine, wer sonst hätte es nötig, sich wie zu einem Maskenball zu verkleiden, um so Autorität zu gewinnen, damit er einem sagen kann, wo man seinen Wagen parken darf oder nicht, nicht. Aber… Sicherheit ist eben wichtig, wichtig. Elektronische Schlösser, elektronische Schranken, und das Wichtigste… das kloine hößliche Guckloch in eurer Tür. Das kleine Stück Glas, durch das man Besucher erkennen kann.« Max veränderte sein Bild. Für einige Augenblicke sah er aus wie jemand, den man durch ein Fischaugen-Objektiv betrachtet. »Das heißt, erkennen kann man eigentlich niemanden, denn jeder wird bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Da-da-das Guckloch ist also auch sinnlos… es sei denn, man erwartet jemanden wie… Quasimodo, Qua-quasimodo! Oder noch schlimmer… einen Sicherheitsbeamten!« Max blickte zur Seite, wo zwei Metro-Polizisten in voller Kampfmontur die Nachrichtenzentrale betraten. Waren Sie etwa hinter ihm her? So frech war er doch gar nicht gewesen! Aber trotzdem… Max schluckte zweimal und verschwand von den Schirmen. Wer ihn fangen wollte, mußte sich schon ins elektronische Netz der City wagen. Aber die meisten MetroPolizisten konnten das Wort »elektronisch« noch nicht einmal richtig buchstabieren…