Jay Ingram zählt zu den bekanntesten Alltagswissenschaftlern im englischsprachigen Raum. Der kanadische Wissenschaftsau...
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Jay Ingram zählt zu den bekanntesten Alltagswissenschaftlern im englischsprachigen Raum. Der kanadische Wissenschaftsautor moderiert das erste täglich ausgestrahlte und preisgekrönte TV-Wissenschaftsmagazin und ist Kolumnist des Toronto Star. Der Ehrendoktor der McGill University and Carleton University gewann mehrere Journalistenpreise.
Jay Ingram
Die Geschwindigkeit des Honigs Ungewöhnliche Erkenntnisse aus der Physik des Alltags
Aus dem Englischen von Ingrid Fischer-Schreiber
Campus Verlag Frankfurt/New York
Die kanadische Originalausgabe The Velocity of Honey erschien 2003 bei Viking Canada, Penguin Group (Canada), einem Unternehmen der Pearson Penguin Canada Inc., 10 Alcorn Avenue, Toronto, Ontario M4V 3B2 Copyright © Jay Ingram 2003
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37528-1
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2004. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: mancini-design, Frankfurt am Main Umschlagmotiv: Getty Images Deutschland, München Satz: Fotosatz L. Huhn, Maintal-Bischofsheim Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Für Cynthia, Rachel, Amelia und Max
Inhalt
Prolog: Es gibt keine endgültige Antwort . . . . . . . . . . . . Die ungewöhnliche Physik des ganz Gewöhnlichen
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Die Geschwindigkeit des Honigs . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fallender Toast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kaffee macht Flecken
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Die Illusionen des Lebens
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Die geheimnisvolle Kunst – und Wissenschaft –, ein Baby zu halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zählende Blässhühner
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Auf der Suche nach dem unattraktiven Mann
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Die Touristenillusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Geldautomat und Ihr Gehirn
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Echolokation – unser sechster Sinn? Es ist Zeit – du musst jetzt aufwachen
Wobbelnd zum Stopp
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Die Welt ist ein Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Kennen Sie 290 Personen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Starren Sie mich an?
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Die Geschwindigkeit des Honigs
Dieser Blick ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Der telepathische Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Eine Studie in Scharlachrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Der ultimative Billigflieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Fliegen fangen
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Hüpfende Steine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Curling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Die Zeit vergeht schneller
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Register
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Prolog Es gibt keine endgültige Antwort
Dieses Buch geht einzig und allein von der Annahme aus, dass »noch mehr dahinter stecken muss« – und das gilt für all die unzähligen Augenblicke, die wir unbemerkt an uns vorüberziehen lassen. Unser Leben ist voller Routine, derer wir uns oft überhaupt nicht bewusst sind, und Gott sei Dank sorgt in vielen Fällen unser gesunder Menschenverstand dafür, dass wir sie erst gar nicht wahrnehmen. Aus diesem Grund versäumen wir aber auch vieles, vor allem jene kleinen, scheinbar unspektakulären Ereignisse, die, wenn wir ein bisschen tiefer graben, sehr wohl ihren Charme und ihre Faszination haben. Das ist die Wissenschaft des Alltagslebens. Das Wort »Wissenschaft« weckt in uns unweigerlich die Erwartung, dass Antworten oder Erklärungen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das ist allerdings eine irrige Annahme, die zum Teil auch darauf beruht, wie Wissenschaft in der Schule unterrichtet wird: Es werden keine Laborexperimente durchgeführt, und es gibt kaum wissenschaftliche Texte, die nicht harte Fakten präsentieren. Aber Wissenschaft im Klassenzimmer hat wenig mit der Wissenschaft in der realen Welt zu tun, in der es nur wenige definitive Antworten gibt – wenn es denn überhaupt Antworten gibt. Wenn Sie dieses Buch lesen, weil Sie solche Antworten suchen, dann werden Sie enttäuscht sein. Wenn Sie stattdessen Einsichten in die Geheimnisse der Wissenschaft erlangen wollen, dann sollten Sie weiterlesen. Wissenschaft lässt uns innehalten, unter die Oberfläche blicken und über Dinge nachdenken, denen wir normalerweise keine Beachtung schenken. Ist das etwas Positives? Natürlich. Wie wäre denn unser Leben, wenn wir uns nur durch die alltäglichen Ereignisse hetzen ließen, ohne innezuhalten und auch nur ein bisschen darüber nachzu-
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Die Geschwindigkeit des Honigs
denken, was da eígentlich geschieht? Innehalten und nachdenken hat zwei offensichtliche Vorteile: Erstens garantiert es uns zumindest eine minimale Unterbrechung unseres alltäglichen Trotts, was unserer körperlichen und geistigen Gesundheit gut tut. Zweitens können wir dann nicht anders, als uns darüber zu wundern, wie wenig wir von dem wissen, was sich gerade vor unseren Augen abspielt. Betrachten Sie dieses Buch daher als Selbsthilfebuch, als eine Serie von Aufsätzen, die Stress reduzieren und Ihnen helfen, wieder das Gefühl zu haben, »im Augenblick« zu leben. (Wenn es sich nur auch wie ein Selbsthilfebuch verkaufen würde!) Bei der Wahl der Themen für dieses Buch habe ich mich vom wissenschaftlichen Anreiz, der von ihnen ausgeht, leiten lassen, das heißt von der Faszination, die diese Themen auf mich ausüben. (Aus irgendwelchen unbekannten Gründen geht es dabei sehr oft um Physik und Psychologie – dazwischen gibt es nur sehr wenig.) Mir ist völlig klar, dass dieses Buch nicht mehr tut, als eine Reihe von Erfahrungen zu beschreiben, die wir alle immer wieder machen und die uns so vertraut sind, dass wir sagen können: »Ja, das habe ich auch schon bemerkt« (nur eine Erfahrung – die der Echolokation – werden die meisten von uns noch nie gemacht haben). In den meisten Fällen handelt es sich nicht um jene Art von Forschungsarbeiten, die vom Wissenschaftsmagazin Science als wissenschaftliche Errungenschaft des Jahres gekürt oder die den Nobelpreis gewinnen würde. Aber diese Beobachtungen werden Sie vielleicht ein bisschen genauer über Ihr Leben nachdenken lassen – wenn Sie es ihnen erlauben.
Die ungewöhnliche Physik des ganz Gewöhnlichen
Es ist eine Binsenweisheit, dass überall, wohin wir schauen, Physik am Werk ist. Schließlich besteht ja alles, was wir kennen, aus Atomen und Molekülen, und bei deren Interaktionen kommen Kräfte zum Tragen, die Physiker gemessen und beschrieben haben. Natürlich schließt das nicht unbedingt die geheimnisvollen parapsychologischen Phänomene ein, aber bis wirklich bewiesen ist, dass solche Phänomene existieren, macht es nicht viel Sinn zu spekulieren, ob sie physikalischer oder nicht physikalischer Natur sind. Wenn wir sagen »Alles ist Physik«, so klingt das fast wie der Aufschrei der Physiker, die gerade nur so viel Aufmerksamkeit bekommen, dass sie motiviert sind, weiter zu forschen. Sagen wir jedoch »Überall ist sonderbare Physik am Werk«, dann möchten die Leute mehr hören. Und wenn Sie hinzufügen »An den am allerwenigsten erwarteten Stellen finden wir sonderbare Physik«, dann ist Ihnen die gebannte Aufmerksamkeit des Publikums sicher. (Noch besser wäre natürlich sonderbare Physik plus Sex, aber das Leben eines Wissenschaftsautors ist nun einmal so geartet, dass derartige Gelegenheiten äußerst rar gesät sind.) Ich behaupte also Folgendes: Sonderbare Physik findet direkt vor Ihren Augen statt, und das Beispiel, mit dem ich Ihnen das beweisen möchte, ist zusammengeknülltes Papier. Nehmen Sie ein ganz gewöhnliches Blatt Papier der Größe DIN A4 und knüllen Sie es zu einer Kugel zusammen. Strengen Sie sich richtig an, damit die Kugel so klein wie möglich wird. Während Sie die Kugel, die da auf Ihrer Handfläche liegt, zufrieden anschauen, haben Sie vielleicht das Gefühl, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben. Aber stimmt das wirklich? Egal, wie fest Sie das Papier zusammengeknüllt haben, zu-
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Die Geschwindigkeit des Honigs
mindest 75 Prozent dieser Papierkugel sind nach wie vor Luft. Irgendetwas in diesem Prozess des Zusammenknüllens widersteht Ihren härtesten Anstrengungen. Zum Glück haben einige kluge Experimente an der University of Chicago zumindest einen Teil des Geheimnisses des Zusammenknüllens lüften können. Am James Franck Institute dieser Universität arbeiten Wissenschaftler, denen es Spaß macht, mit einfachen Materialien zu arbeiten und einfache Fragen zu stellen. Aus irgendeinem Grund gibt es auf solch einfache Fragen – zumindest wenn Wissenschaftler sie stellen – oft beunruhigende Antworten. Um herauszufinden, was eigentlich geschieht, wenn wir Papier zusammenknüllen, hat zum Beispiel eine Gruppe dieser Chicagoer Wissenschaftler (unter anderen Sid Nagel und Tom Witten) ein einfaches Experiment erfunden. Sie nahmen ein Blatt aus Mylar (der Handelsname für eine bestimmte Art von dünnem Polyesterfilm) mit 34 Zentimetern Durchmesser, packten es in einen hohen Zylinder und stellten dann ein 200Gramm-Gewicht auf das Mylar. Wie Sie vielleicht erwartet haben, drückt das Gewicht das Mylar zusammen – es zerknüllt es. Aber vielleicht nicht so, wie Sie sich das vorgestellt hatten: Dieser Prozess des Zusammenknüllens war langweiliger als ein dreieinhalbstündiges Baseballmatch. Es erfolgte nicht in einem Zug, sondern das Gewicht drückte das Mylar minuten-, stunden-, tage- ... ja, sogar wochenlang zusammen. Nach drei Wochen hatten die Wissenschaftler das Experiment satt, obwohl es keinerlei Anzeichen gab, dass der Zerknüllungsprozess beendet gewesen wäre. Aber das war noch nicht das Erstaunlichste an diesem Experiment. Nachdem das Gewicht etwas mehr als 8 Minuten auf dem Mylar lag, hoben die Experimentatoren es ungefähr 8 Minuten lang hoch (um genau zu sein: 500 Sekunden), sodass das Mylar einen Großteil seines ursprünglichen Volumens wiedererlangen konnte. Dann legten sie das Gewicht wieder darauf. Was wirklich seltsam war: Das Gewicht drückte das Mylar wieder genau bis an jenen Punkt zusammen, wo es gewesen wäre, wenn das Gewicht nie hochgehoben worden wäre. Es war, als könnte sich das Mylar daran erinnern, wie weit es zusammengeknüllt worden war. Noch seltsamer wurde alles, als man den Zylinder siebeneinhalb Mal pro Sekunde vor- und zurückvibrie-
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ren ließ: Das Zerknüllen beschleunigte sich deutlich, aber nach wie vor gab es kein Anzeichen dafür, dass ein Endpunkt erreicht worden wäre. Wie ist das alles zu verstehen? Wissenschaftler am James Franck Institute haben sich eine Zeit lang mit dieser Frage beschäftigt. In den neunziger Jahren fanden sie heraus, dass jedes Blatt aus jedem beliebigen Material – Papier, Plastikfolie oder eben dem alten Favoriten, Mylar – sich auf ziemlich ähnliche Weise zerknüllen zu lassen schien, solange es nur groß und dünn war. Dieses Zerknüllen ist eigentlich ein Zerknittern, weil scharfwinklige Knicke entstehen, sobald Druck ausgeübt wird. Die Physiker konnten zeigen, dass die Energie, die man beim Zusammenknüllen aufbringt (oder zumindest jener Teil der Energie, der im Blatt gespeichert wird), zu 80 Prozent in diesen Knicken eingeschlossen ist. Sie speichern die Energie wie Federn und können sie auch wieder abgeben: Jedes Blatt, das Sie so fest wie nur möglich in Ihrer Faust zusammendrücken, wird sich auffalten, sobald Sie die Hand wieder öffnen, und zwar unter krampfähnlichen, abrupten Bewegungen. Je stärker man ein Blatt zerknüllt, desto mehr Knicke entstehen natürlich. Aber je mehr Knicke entstehen, desto größer die Kraft, die man braucht, um noch mehr Knicke zu erzeugen. Um den Durchmesser eines zerknüllten Papierballes zu halbieren, muss man eine Kraft aufbieten, die 64-mal größer ist als die, die notwendig war, um den Ball auf sein anfängliches Zerknüllungsniveau zu bringen. Das klingt paradox: Die Kraft, die notwendig ist, um das Papier zu zerknüllen, steigt stetig an, aber im Labor war das Gewicht, das diese Funktion erfüllte, mindestens drei Wochen lang beschäftigt. Was passiert da? Die Energie, die in den Knicken gespeichert ist, muss also nach und nach versickern, aber man weiß nicht mit Sicherheit, ob sie durch Reiben an anderen Knicken im Papier verloren geht oder deswegen, weil permanente Knicke entstehen. Es stellte sich heraus, dass der entgegengesetzte Prozess – das Auffalten eines zusammengeknüllten Blatt Papiers – genauso interessant ist, und zwar weniger vom energetischen Standpunkt aus als vom akustischen: Das ist jene Wissenschaft, die sich mit dem ärgerlichen Knistern beschäftigt, das Ihr Konzertnachbar erzeugt, wenn er ein
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Die Geschwindigkeit des Honigs
Bonbon just im falschen Moment auswickelt. Das ist zwar in erster Linie ein Fall für klinische Psychologen (»Warum tun Sie das jetzt?«), aber es fällt auch ins Gebiet der Physik. Ich weiß nicht, ob Psychologen je dieses Phänomen untersucht haben: Physiker haben es jedenfalls getan. Und nun raten Sie, wo: am James Franck Institute. Eric Kramer und Alexander Lobkovsky benutzten dabei wieder das Standardmaterial für solche Experimente, Mylar. Aber in diesem Fall zerknüllten sie ein Blatt Mylar 30- oder 40-mal, um eine große Anzahl dauerhafter Knicke zu erzeugen. Dann nahmen sie die Geräusche, die das zerknüllte Mylar beim Entfalten machte, in einem Tonstudio digital mit hoher Auflösung auf. Sie hörten zwar das vertraute Knistern, aber in dieser kontrollierten Situation konnten sie zeigen, dass dieses Geräusch in Wirklichkeit nur eine Folge extrem kurzer Klicks war, die ungefähr eine Hundertstelsekunde dauerten. Dabei schien es egal zu sein, wie dick das Mylar war: Jedes beliebige Blatt – von 1 Hundertstel bis 1 Tausendstel Inch – erzeugte beim Auffalten dieselben abgehackten Geräusche. Obwohl die Dauer des Geräuschs fast immer gleich lang war, war die Energie alles andere als gleich: Der Unterschied zwischen der geringsten zur größten (oder vom leisesten zum lautesten Geräusch) lag mindestens in der Millionendimension. Stellen Sie sich einen nagelneuen ungefalteten Bogen aus einem Plastikmaterial vor. Egal, wie Sie ihn biegen oder rollen, er kehrt gleich wieder in seine ursprüngliche flache Ausgangsposition zurück. Sobald Sie aber genug Kraft aufbieten, um Knicke zu erzeugen, kann er niemals wieder in seine ursprüngliche Form zurückfinden. Stattdessen weist das nun zerknitterte Stück Plastik viele stabile Konfigurationen auf. Wenn Sie es zu einem Ball zusammenrollen und dann wieder auslassen, gibt es ein bisschen nach, bleibt aber nach wie vor zusammengerollt. Glätten Sie es, so wird es zwar ein paar zuckende Bewegungen machen, aber flach bleiben. Geknicktes Plastik kann buchstäblich Tausende stabiler Formen annehmen. An diesem Punkt kommen die Geräusche ins Spiel. Wenn Sie beginnen, den zerknüllten Plastikbogen aufzufalten, bringen Sie Energie ein. Das Plastik speichert diese Energie, bis sich so viel Energie angehäuft hat, dass der Bogen in eine neue Form springen kann. Die plötz-
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liche Bewegung des Plastiks erzeugt den plötzlichen Lärm. Wenn Sie ein einzelnes derartiges Ereignis mit den Hunderten von Neuanpassungen multiplizieren, die ein stark zusammengeknülltes Bonbonpapier beim Auffalten durchmacht, dann bekommen Sie genau dieses vertraute Knistern und Knacken. Interessant für uns ist dabei, dass ein langsames Aufwickeln des Bonbonpapiers keinen Einfluss auf die Lautstärke des Geräuschs hat. Es ist immer die gleiche Menge Energie in den Knicken enthalten, und egal, ob diese Energie nun nach und nach oder auf einmal abgegeben wird, sie erzeugt immer die gleiche Menge Lärm. Wenn sich also jemand entschlossen hat, ein Bonbon auszuwickeln, dann bestimmt die Geschwindigkeit nur mehr, ob das Geräusch lang gezogen oder plötzlich ist: Die Lautstärke kann nicht reduziert werden. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, noch mehr Lärm zu erzeugen: Indem man das Bonbonpapier immer wieder vor- und zurückbiegt, ist es theoretisch möglich, das Plastik immer wieder an ein und derselben Stelle zu knüllen, wodurch jedes Mal ein Klicken entsteht. Ich hoffe aber, dass niemand so pervers ist, das in der Öffentlichkeit auszuprobieren. All jenen, die sich jetzt fragen, ob diese Wissenschaftler wirklich keine andere Sorgen haben, könnte ich eine ganze Reihe von Beispielen für Zerknittern und Zerknüllen aufzählen, die noch nicht wirklich erforscht sind und die von solcher Forschung profitieren: zum Beispiel das Verhalten von Stoßstangen bei Kollisionen; die Kontorsionen, die rote Blutkörperchen durchmachen, wenn sie sich durch die engsten Kapillaren unseres Körpers zwängen, oder sogar die Faltungen gigantischer Bergzüge wie des Himalaya. Im richtigen Maßstab betrachtet, schauen sie alle wie zerknittertes Papier aus (denken Sie nur an Satellitenaufnahmen von Bergzügen), und immer sind es dünne Blätter, die sich unter Belastung verbiegen, egal, ob es sich nun um die Zellmembran eines roten Blutkörperchens oder um die Platten der Erdkruste handelt. Wenn Sie bezweifeln, dass diese Art von Forschung das Leben von Menschen verändern kann, dann wird folgende Geschichte Ihre Zweifel höchstwahrscheinlich ausräumen können. Ein Mann namens John Brunkhart, Wissenschaftsredakteur bei America Online, las et-
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was über diese Knüllforschung und reichte folgende Abhandlung bei der Knüll-Webseite des James Franck Institute ein: »Aus welchem Grund auch immer ließ sich in der zweiten oder dritten Klasse eine Gruppe meiner Freunde auf einen Wettstreit ein, um zu sehen, wer ein Blatt aus einem ganz normalen Heft am kleinsten zusammenfalten könne. Wir probierten verschiedene Arten von Faltungen aus und zerknüllten es sogar. Gewonnen hat schließlich mein Freund Joe, der bewies, dass Ausdauer und nicht Kraft der Schlüssel zum Erfolg ist. Er begann mit einem ganz normal zerknüllten Blatt Papier und presste es so lange mit Daumen und Zeigefinger zusammen, wobei er ständig die Hand wechselte, bis das Papierknäuel langsam die Form eines Würfels annahm. Bald schien es, als würde der Papierwürfel nicht mehr kleiner werden. Joe gab aber nicht auf, sondern übte weiter Kraft aus – fast wie in einer meditativen Übung (wahrscheinlich um die langweiligsten Unterrichtsstunden zu überleben). Schnell erkannten wir, dass der Würfel langsam, aber sicher doch kleiner wurde, obwohl Joe am Ende nicht mehr Kraft aufbot als am Anfang. Nach einer Woche ständigen Zusammendrückens war der Papierwürfel schon ganz winzig; die Seitenlänge betrug nicht einmal mehr 1 Zentimeter. Wir konnten es kaum glauben. Natürlich hatten wir versucht, unsere eigenen Blätter mit mehr Kraft auf die gleiche Art und Weise zusammenzudrücken, aber was uns gefehlt hatte, war Joes Ausdauer. Und deshalb hatten sich unsere Blätter auch nie in einen solchen dichten kleinen Kubus verwandelt. Eine Zeit lang fragte ich mich, wie klein der Würfel geworden wäre, wenn Joe auch die darauf folgenden Wochen und Monate weitergemacht hätte. Auch wenn die Auswirkungen immer geringer wurden, schien es doch, als könnte er ihn in alle Ewigkeit weiter zusammendrücken.« Da haben wir’s: Knüllforschung wirft entweder ein neues Licht auf dumme (aber erinnerungswerte) Aktivitäten, mit denen wir uns einmal beschäftigt haben, oder hat weiterreichende Folgen. Was mich betrifft: Ich bin zwar überzeugt, dass diese Forschung zu wichtigen Anwendungen führt, im Moment reicht es mir aber, ein bisschen mehr über zerknülltes Papier zu wissen.
Die Geschwindigkeit des Honigs
Die nächsten drei Kapitel sollten Sie beim Frühstück lesen, und ein bisschen körperliche Aktivität täte Ihnen auch nicht schlecht. Wir wollen nicht herumexperimentieren, sondern ein paar ganz simple Beobachtungen anstellen – was den Vorteil hat, dass Sie das, was Sie beobachtet haben, am Ende auch essen und trinken können. Alles, was Sie brauchen, ist: ein paar Scheiben Toast, flüssiger Honig, ein Löffel oder einer jener Honigspender mit Rillen an einem Ende und eine Tasse Kaffee. Was wir hier machen, ist eine stark gesüßte Version Ihrer allerletzten Physikstunde. Beginnen Sie damit, dass Sie eine Scheibe Toastbrot auf einen Teller legen. Nehmen Sie dann mit dem Löffel oder dem Honigspender ein bisschen Honig und halten Sie ihn direkt über das Brot. Beobachten Sie ihn genau, während Sie langsam den Löffel heben. Der Honig fließt in einem dünnen Strom auf die Toastscheibe, aber kaum halten Sie den Löffel ein bisschen höher, beginnt der Honigstrom sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die einerseits vertraut, andererseits aber auch fremd wirkt. Der Honig fließt nicht in alle Richtungen über die Toastscheibe und dann auf den Teller, wie zum Beispiel Wasser fließen würde. Honig ist zu viskos – er fließt nur widerwillig –, also beginnt er sich an jener Stelle aufzuhäufen, an der er den Toast berührt. Sobald sich eine kleine kegelförmige Anhäufung bildet, ist es, als würde der Honigstrom auf eine Straßensperre treffen. Er fällt nicht mehr direkt auf die Toastscheibe, sondern auf die Spitze des Kegels und beginnt dann, den Hang des Kegels hinunterzufließen. Aber das lenkt den Strom ab und schafft mächtige Kräfte, die den Strom zurück in die ursprüngliche Bahn drängen wollen. Normalerweise ergibt das eines von zwei Resultaten. Wenn Sie
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Die Geschwindigkeit des Honigs
zum Aufnehmen des Honigs etwas benutzen, das dem herabfallenden Honigstrom eine zylindrische Form verleiht, dann beginnt der Honig sich auf dem Toast wie ein Seil aufzuwickeln. Wenn Sie jedoch etwas benutzen, das ein Honigband erzeugt (wenn Sie den Honig zum Beispiel aus einem Gefäß mit einer breiten Öffnung gießen), dann ringelt sich das Band bei seiner Landung auf dem Toast nicht zusammen wie ein Seil, sondern klappt einmal nach rechts, dann nach links. Unregelmäßigkeiten entstehen dabei vor allem, wenn Ihre Hand zittert: Dann wandert der Honig, während er sich aufwickelt oder nach rechts und links klappt, auf der Oberfläche des Kegels herum – der Strom reagiert sehr sensibel auf Veränderungen seiner Ausgangsposition. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die hier wirksam sind, werden deutlicher, sobald Sie Ihre Hand auf und ab bewegen. Senken Sie den Löffel, bis er sich knapp oberhalb der Toastscheibe befindet, und Sie werden sehen, dass die zusammenrollende oder die Faltbewegung nach links und rechts aufhört. Es ist eine Frage der Schwerkraft: Berührt der Honig den Kegel, bevor er eine gewisse Geschwindigkeit erreicht hat, dann bewegt er sich langsam genug, sodass er aufgrund seiner Viskosität genug Zeit hat, um wegzufließen, bevor er sich aufhäufen kann. Hebt man jedoch den Löffel nur ganz leicht an, dann beginnt der Honig sofort wieder sich zusammenzurollen. (Wenn Ihnen danach ist, dann könnten Sie berechnen, mit welcher Geschwindigkeit sich der Honig bewegen muss, um diese Schwelle überschreiten zu können.) Eine Beziehung zwischen der Höhe des Löffels und den Mustern des Aufwickelns bleibt auch dann bestehen, während Sie den Löffel immer höher halten, allerdings tritt hier eine Veränderung ein: Je höher der Löffel, desto schneller die Bewegung, wenn der Honig auf etwas trifft. Als Wissenschaftler in den späten fünfziger Jahren das erste Mal dieses Phänomen untersuchten, verwendeten sie Getriebeöl statt Honig (es erleichtert die Arbeit, wenn Sie wissen, dass jede Charge immer die gleiche Qualität aufweist). Dabei fanden sie heraus, dass sich der Strom bei einer Höhe von 9 Zentimetern mit 120 Windungen pro Sekunde ablegt. Floss er jedoch von einer größeren Höhe – 18 Zentimeter – herab, betrug die Rate 300 Windungen pro Sekunde. Diese Windungsraten sind ganz schön hoch, und das Auge kann die-
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ser Bewegung unmöglich folgen. Fällt der Honig aber aus sehr geringer Höhe herab – genau oberhalb der Stelle, wo die Windungen vollkommen verschwinden –, kann man normalerweise die Geschwindigkeit dieses Sichaufwickelns mit bloßem Auge wahrnehmen. Ist der Strom zylindrisch oder röhrenförmig, dann beginnt er sich einzurollen, wenn er sich auf dem Toast anhäuft, denn er ist ja viskos genug, um sich wie ein fester Körper – zum Beispiel wie ein Seil – zu verhalten. Ein Seil rollt sich ein, wenn Sie es auf den Boden hinablassen, weil das der Weg des geringsten Widerstands ist: Es ist schwer vorstellbar, dass sich ein Seil hin- und herdreht, denn dafür müsste es sich zu abrupt auf sich selbst zurückfalten. Wenn der Honig jedoch wie ein Band fließt und sich beim Auftreffen hin und her faltet, braucht er weniger Energie als zum Aufwickeln. Ein ganz anderes Phänomen tritt auf, wenn man den Löffel mit dem Honig so hoch hält, dass der Honigfaden so dünn wird, dass er sich tatsächlich vom Löffel löst und in Tropfen herunterfällt. Sidney Nagel und seine Kollegen an der University of Chicago haben untersucht, was genau passiert, wenn der Faden so dünn wird, dass er abreißt. Sie haben herausgefunden, dass das, was oberflächlich betrachtet ganz banal zu sein scheint, in Wirklichkeit eine äußerst eigenartige Abfolge von Ereignissen ist. Da sich diese Ereignisse auf mikroskopischer Ebene abspielen, müssen Sie mir einfach glauben, dass sie so und nicht anders stattfinden. Würden wir Wasser auf einen Toast fallen sehen, könnten wir eine ganz andere Dynamik feststellen: Ein Tropfen würde immer größer werden, sich dann plötzlich loslösen und herabfallen, ohne zu kleben oder klebrige Fäden zu ziehen – wie wir es eben gewohnt sind. Dass sich überhaupt ein Tropfen bildet, lässt sich durch die Oberflächenspannung des Wassers erklären, also die Tendenz, dass alle Wassermoleküle auf der Oberfläche von ihren Mitmolekülen nach innen gezogen werden. Diese Oberflächenspannung bewirkt, dass sich rund um einen Tropfen eine Haut bildet, und diese Haut erlaubt es dem Tropfen, zu wachsen, bis sein Gewicht die Kraft der Oberflächenspannung übersteigt und einen Punkt erreicht, an dem er sich loslöst und herabfällt. Aber die Details dieses Prozesses sind äußerst eigenartig. Der Trop-
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Die Geschwindigkeit des Honigs
fen tut mehr, als nur anzuwachsen, sich abzuheben und die Verbindung – zum Beispiel zum Wasserhahn – zu verringern und sich dann vollkommen zu lösen. Er wächst zwar an, und die Verbindung wird dünner, aber sie wird länger, bis der Punkt erreicht ist, an dem der dünne Wasserfaden, der den Tropfen noch an seinem Platz hält, zweioder sogar dreimal so lang ist wie der Tropfen selbst. Der Tropfen ist in der letzten Millisekunde fast kugelförmig, und der Faden ähnelt mehr einer Nadel, die in den Tropfen eingeführt ist. Bei einer Flüssigkeit wie Honig, die viel zähflüssiger als Wasser ist, kann sich auf einem Tropfen ein »Hals« wesentlich länger halten, bevor der Tropfen sich endgültig loslöst. Aber da ist noch etwas anderes im Spiel. Fotos dieser viskosen Tropfen unmittelbar vor ihrem Herabfallen zeigen Erstaunliches: Der Faden schaut dort, wo er den Tropfen berührt, nach wie vor wie eine Nadel aus, aber zwischen dem scheinbaren Ende der Nadel und dem Tropfen hat sich ein weiterer, wesentlich dünnerer Strang gebildet, der die beiden verbindet. Es ist, als würde sich eine 16-spurige Autobahn plötzlich in eine Allee verwandeln. Der Tropfen ist nach wie vor verbunden, aber durch einen Flüssigkeitsstrang, der für das bloße Auge unsichtbar ist. Wenn dieser feine Strang dann länger wird, erscheint, bevor er endgültig abreißt, ein weiterer, wiederum viel dünnerer Strang – die Allee wird zum Gehweg. Alles ist noch miteinander verbunden (obwohl das Ende naht): Der Tropfen hängt an einem Strang, der sich verjüngt und in einen dünneren Strang übergeht, der sich verjüngt und in einen dünneren Strang übergeht ... und das könnte ad infinitum so weitergehen – oder zumindest bis der letzte Strang nur mehr ein oder zwei Moleküle dick ist. Jeder neue Strang ist dünner und bildet sich schneller als alle anderen vor ihm. Sogar Fotos, die Zehntausendstelsekunde vor dem Moment, in dem der Tropfen herabfällt, aufgenommen wurden, zeigen eine intakte Reihe von solchen Übergängen. Als die Wissenschaftler, die diese Versuche gemacht hatten, sie in einem Artikel in der Zeitschrift Science beschrieben, nannten sie den Prozess »Kaskadenstruktur« – ein fast poetisch anmutender Titel für einen Science-Artikel. Sie vermuten, dass Störgeräusche – im Sinne störender Vibrationen – diesen seltsamen Effekt bewirken, aber sie sind sich auch ziemlich sicher, dass es keine natürliche Situation gibt,
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in der es keine solche Störungen gibt. Auf eine Küche mit ihren Luftzügen, Geräuschen, Hitze- und Kälteinseln und vor Hunger zitternden Händen würde das natürlich nie zutreffen ... Deshalb ist die Reise des Honigs von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende, vom Ausgießen bis zum Essen, eine sehr seltsame Reise.
Fallender Toast
Wenn Sie mit Honigströmen experimentieren, bleiben normalerweise etliche Scheiben Toastbrot über, und es ist nicht immer ganz leicht, eine sinnvolle Weiterverwendung dafür zu finden. Wenn sie nicht zu sehr durchtränkt sind, warum lassen wir sie dann nicht über die Tischkante fallen? Das ist zugegebenermaßen kniffliger, wenn Sie in einem Restaurant essen, als wenn Sie in Ihrer eigenen Küche sitzen, aber wir könnten damit ein weiteres Küchenereignis illustrieren, das nach einer wissenschaftlichen Erklärung schreit: Warum landet eine Scheibe Toastbrot immer mit der Butterseite nach unten auf dem Boden? Ich sollte vorab darauf hinweisen, dass eine Scheibe Toastbrot dabei nicht einfach wie eine Münze hinunterfällt und einmal mit dieser, ein andermal mit jener Seite aufkommt und wir hungrige Münder uns nur an jene unglücklichen Male erinnern, als sie mit der Butterseite nach unten am Boden landete. Es ist tatsächlich so. Und es ist nicht die Butter an sich, die dafür verantwortlich ist: Honig, Marmelade, Sardellenpaste – es funktioniert immer. Eine Toastscheibe fällt fast immer mit der bestrichenen Seite nach unten. Während manche Leute versucht haben, dies als ein weiteres Beispiel für die Richtigkeit von Murphys Gesetz zu interpretieren (»was schief gehen kann, geht schief«), haben Analysen und Experimente gezeigt, dass das alles noch viel spannender ist. Es ist wichtig, zuerst die Parameter des Ereignisses festzulegen. Fällt eine Scheibe Toast vom Tisch, so ist das normalerweise kein besonders gewaltsames Ereignis. Meist wird sie nicht direkt vom Tisch gestoßen (obwohl eine sorglose Geste der Begeisterung mit dem Arm das natürlich bewirken könnte), sondern kippt über die Kante oder
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rutscht von einem Teller, den man gerade abstellen will. Toast fällt, er fliegt nur ganz selten. Damit gehört das Ereignis nicht in den Bereich der Aerodynamik, sondern in den simpleren Bereich der Schwerkraft. Nehmen wir an, dass die Scheibe Toastbrot nahe an der Tischkante liegt – vielleicht ragt sie sogar ein bisschen über die Kante hinaus – und einen leichten Schubs erhält. Während sich die Scheibe mehr und mehr über die Tischkante hinaus bewegt, verlagert sich ihr Schwerpunkt immer näher zur Kante. Dieser Schwerpunkt, also der Ort, an dem sich nach Auffassung der Physiker die Masse der Toastscheibe konzentriert, ist der Schlüssel zu dem Ganzen. Sobald sich dieser Punkt in den offenen Raum jenseits der Tischkante ausdehnt, ist das Schicksal der Toastscheibe besiegelt. Aber sie fällt nicht einfach flach hinunter, sondern beginnt zu kippen – das heißt zu rotieren – und tut dies so lange, bis sie auf dem Boden aufkommt. Diese Rotation ist das Geheimnis des Mit-der-Butter-nach-unten-Phänomens. Etliche Gruppen von Experimentatoren haben sich mit diesem Problem beschäftigt. Manche haben echtes Toastbrot verwendet, andere, die die qualitativen Unterschiede zwischen den einzelnen Brotscheiben, seine krümelige Natur und seine Tendenz, mit der Zeit trocken und brüchig zu werden, gestört haben, haben sich mit Toast-ähnlichen Gegenständen beholfen, über die sie mehr Kontrolle haben, zum Beispiel mit einem Stück Sperrholz mit ähnlichen Dimensionen. Brotproben stammten zum Teil aus der Alfred-Nickles-Bäckerei in Navarre, Ohio, und von Michael Cain and Company in Oxford, England. Herabfallende Toastscheiben wurden auf Video aufgenommen, die Zahlen wurden ausgewertet – und hier ist die Zusammenfassung der Ergebnisse. Robert Matthews, ein Wissenschaftsjournalist, der auch an der Universität von Aston in England unterrichtet, veröffentlichte seine Analyse fallender Toastscheiben im European Journal of Physics im Jahr 1995. Matthews verweist zuerst einmal darauf, dass die Butter selbst (oder jeder andere Belag) kein relevanter Faktor ist. Die Menge Butter – er schätzte 4 Gramm – ist verglichen mit den typischen 35 Gramm einer Normtoastscheibe – gering und hat daher keine signifikante Auswirkung auf die Rotationsmechanik des fallenden Brotes. Außerdem ist die Butterschicht nicht dick genug, um die Flug-
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bahn des Toastbrotes zu beeinflussen, sobald es einmal den Tisch verlassen hat – abgesehen vom außergewöhnlichen Fall, in dem der Tisch mindestens zehnmal höher ist als ein normaler Tisch. Nur in diesem Fall könnte die dünne Butterschicht den Luftstrom rund um den Toast signifikant stören. Im Wesentlichen dient die Butter lediglich als Markierung für die Oberseite des Toastbrotes, hat aber keine Auswirkung darauf, mit welcher Seite nun die Scheibe Toastbrot tatsächlich auf dem Boden landet. Ungebutterter Toast verhält sich auf dieselbe Weise (abgesehen davon, dass Sie ihn abputzen und verspeisen könnten, wenn Sie gerade am Verhungern wären). Matthews konzentrierte sich auf die Tendenz der Toastscheibe, zu rotieren, sobald sie den Tisch verlassen hat. Wie ich bereits erwähnt habe, ist diese Rotation der Schlüssel zum ganzen Phänomen. Eine Toastscheibe flattert nicht auf den Boden wie ein Blatt Papier; sie dreht sich und landet immer mit der Butterseite nach unten – mit einer Ausnahme: wenn sie sich um weniger als 90 Grad oder mehr als 270 Grad dreht. Es stellt sich nun folgende Frage: Wie viel Rotation können wir von einer typischen Toastscheibe erwarten? Matthews ging von ein paar entscheidenden Annahmen aus: dass sich die Toastscheibe nicht horizontal bewegt, wenn sie den Tisch verlässt, und dass sie nicht abprallt, wenn sie auf dem Boden landet. Dann präsentierte er eine Reihe von Gleichungen zur Bestimmung des Rotationsverhaltens der Toastscheibe, das davon abhängt, wie weit sie über die Tischkante ragt, bevor sie definitiv kippt. Die Beziehung zwischen Überhang und Rotation ist entscheidend: Die Gleichungen zeigen, dass die Toastscheibe, wenn sie vor dem Kippen weit genug über die Tischkante hinausragen kann, gerade schnell genug rotieren könnte, um eine Umdrehung zu vollenden, bevor sie auf dem Boden landet: Dann würde sie mit der Butterseite nach oben landen. Aber ist dieser Grad des Überhangs überhaupt möglich? Anscheinend nicht. Stellen Sie sich eine regelmäßige Scheibe Toastbrot vor, die ungefähr 10 Zentimeter lang ist und so auf einer Tischkante balanciert, dass genau die Hälfte, also 5 Zentimeter, über dem Abgrund zu liegen kommt. Damit diese Scheibe schnell genug rotieren kann, um vor ihrer Landung eine komplette 360-Grad-Drehung bewerkstelligen zu können, darf sie erst kippen, wenn sie noch weitere
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6 Prozent des Überhangs von 5 Zentimetern – also um ungefähr 3 Millimeter – über den Abgrund geschoben wird. Das mag wenig klingen, liegt aber jenseits der Fähigkeit der meisten Toastscheiben. Matthews fand heraus, dass eine Toastscheibe normalerweise nicht mehr als 0,6 Millimeter hinausgeschoben werden kann, ohne hinunterzufallen. Diese Distanz ist einfach nicht groß genug, um eine genügend schnelle Rotation bewirken und den Toast damit retten zu können. Diese Daten treffen vielleicht nicht auf jede einzelne fallende Toastscheibe zu. Zum Beispiel baute Matthews auch die Annahme ein, dass die Toastscheibe keine horizontale Geschwindigkeit hat, es sei denn, man stößt sie mit dem Arm vom Tisch: Dann hätte sie sehr wohl eine derartige Geschwindigkeit. Die Frage ist nur, wie groß diese Geschwindigkeit dann wäre. Er rechnete damit, dass eine Toastscheibe ungefähr 1,6 Meter pro Sekunde zurücklegen müsste, um durch den Raum zu segeln und mit der richtigen Seite nach oben aufzukommen. Das wären fast 6 Kilometer pro Stunde, eine Geschwindigkeit, die sie unter (oder sogar auf) den Tisch neben Ihnen im Restaurant befördern würde – da wäre sie ganz schön schwungvoll unterwegs ... Matthews Artikel im European Journal of Physics schien ein für alle Male klar zu machen, dass es keine Einbildung ist: Toastbrot landet fast immer mit der Butterseite auf dem Boden. Aber ein jüngerer Versuch, die Situation zu klären, hat dieses Bild wieder etwas getrübt. Michael Bacon und seine Kollegen am Thiel College in Greenville, Pennsylvania, stellten ihre eigene Experimentalreihe an und gingen einen Schritt weiter als Matthews: Sie berücksichtigten auch das Hinuntergleiten der Toastscheibe von der Tischkante, unmittelbar bevor sie kippt und zu fallen beginnt. Ihre Videoaufzeichnungen eines toastscheibengroßen Stückes Sperrholz zeigten, dass der frei fallende »Toast« wesentlich schneller rotierte, als er hätte rotieren sollen, und sie schlossen daraus, dass er aus diesem extrem kurzen Gleitintervall zusätzliche Geschwindigkeit bezog. Wie groß der Unterschied in der realen Welt der fallenden Toastscheiben tatsächlich wäre, ist schwer zu sagen. Die Berechnungen von Bacon und Kollegen ergaben einen großen Spielraum: Bei einem Überhang zwischen circa 0,8 und 2,8 Zentimetern könnte die Toastscheibe mit der Butterseite nach oben aufkommen.
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Um diesen Spielraum tatsächlich nutzen zu können, müssten Sie Ihren Toast aber dazu bringen, mit seinem Schwerpunkt 1 oder 2 Zentimeter über die Kante des Tisches hinauszuragen, bevor er kippt, hinabgleitet und dann fällt. Solange dieser Überhang weniger als 0,8 Zentimeter beträgt, fällt die Toastscheibe mit der Butterseite nach unten, und, wie das Team um Bacon schrieb, »dieser Überhang [muss] in fast allen plausiblen Unfallszenarien vorkommen (die Toastscheibe wird zum Beispiel unachtsam vom Tisch gestoßen), bevor es zum Purzelbaum kommt«. Die Thiel-Wissenschaftler fragen sich in ihrem Artikel im American Journal of Physics auch, ob Bagels mit der Cremeseite nach unten aufkommen, und ich kann das nur bestätigen: Sie landen mit der Cremeseite unten auf dem Boden – aber nicht immer. Meine Tochter Amelia und ihre Freundin Lizzie Barrass arbeiteten in der Schule an einem Wissenschaftsprojekt, bei dem sie Bagels mit unterschiedlicher Kraft vom Tisch stießen. Sie fanden heraus, dass schnell fliegende Bagels einen gewissen Grad an aerodynamischer Stabilität aufweisen: Die richtige Seite bleibt oben, wenn sie mit einer Kraft angestoßen werden, die ungefähr so groß ist, wie wenn man dem Bagel mit der Hand einen Schubs gibt. Sie überprüften nicht, ob das auch für Bagels aus Montreal, Brot, Toast oder andere Trägermedien für Butter oder Streichkäse gilt, oder ob Bagels mit ihrer scheibenartigen Form und ihren abgerundeten Kanten gewisse frisbeeähnliche aerodynamische Eigenschaften aufweisen. Sich schnell drehende Scheiben bleiben lange in der Luft, und einige dieser Bagels legten eine beachtliche Distanz zurück, bevor sie auf dem Boden landeten. Robert Matthews beschließt seine Analyse der Angelegenheit, indem er berechnet, dass wir 3 Meter hohe Tische brauchten, um sicherzustellen, dass jede herabfallende Toastscheibe Zeit hätte, sich um mindestens 270 Grad zu drehen und daher mit der Butterseite nach oben zu landen. Es gab auch den Vorschlag, die Größe einer Toastscheibe zu reduzieren, was vom physikalischen Gesichtspunkt aus gesehen den gleichen Effekt hätte wie die Vergrößerung der Tischhöhe, aber theoretisch brauchte man Toastscheiben mit 2,5 Zentimetern Diagonale – und die wären ungefähr genauso praktisch wie
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3 Meter hohe Tische. Man hatte sogar gemeint, am besten wäre es, die Toastscheiben auf dem Rücken einer Katze zu befestigen – denn Katzen landen immer mit den Füßen voran auf dem Boden ... Matthews meinte, schnelle Reflexe würden es uns erlauben, einer fallenden Toastscheibe einen Schlag zu geben, damit sie wie die Bagels meiner Tochter ohne zu rotieren durch den Raum fliegen könnten. Aber alle diese Lösungsvorschläge sind nicht wirklich praktikabel oder laufen der Natur an sich zuwider. Der Physiker William Press hat 1980 betont, dass die Menschen aus gutem Grund so groß sind, wie sie sind: Wir sind instabiler als vierfüßige Tiere, und wären wir größer, würden wir bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen riskieren. Wir sind also aus gutem Grund so groß, wie wir sind, und unsere Tische haben eine Höhe, die für uns bequem ist. Solange diese Faktoren stimmen, werden Toastscheiben mit der Butterseite auf dem Boden landen.
Kaffee macht Flecken
Der traurige Moment kommt immer dann, wenn die eingetrockneten Honigtropfen aufgewischt und der Boden von allen Toastresten befreit wurde – aber da ist ja noch der Kaffee! Es mögen diese späten Nächte – oder frühen Morgen – im Labor sein, aber egal aus welchem Grund, Physiker sind von einer ganz gewöhnlichen Tasse Kaffee genauso fasziniert wie von anderen Phänomenen am Frühstückstisch. Wenn Sie eine Tasse heißen, schwarzen Kaffee so positionieren, dass das Licht von der Seite darauf fällt, sollten Sie einen weißlichen Schimmer auf der Oberfläche wahrnehmen können. (Das funktioniert mit einer Tasse Tee ohne Milch fast noch besser.) Mit diesem Schimmer hat es mehr auf sich, als man im ersten Moment annehmen würde. Er bildet auf dem Kaffee ein Kachelmuster, wobei diese helleren Kacheln von den anderen durch dunkle Linien getrennt sind. Die Kacheln sind normalerweise 1 Zentimeter breit. Diese Flecken sind das, was in der Sprache der Wissenschaftler »Zellen« heißt, also Bereiche, in denen warme Flüssigkeit aufsteigt und kalte Flüssigkeit absinkt. Konvektion ist jenes Phänomen, um das sich beim Wetter alles dreht, und vor allem auch bei den Meeresströmungen. Im Kleinen passiert das auch in Ihrem Kaffee. Während die oberste Schicht im Kontakt mit der Luft darüber abkühlt, wird sie dichter und sinkt ab, wobei sie wärmeren, weniger dichten Kaffee an die Oberfläche drängt. Aber das passiert nicht planlos oder willkürlich, sondern die Bereiche, wo Kaffee aufsteigt oder absinkt, organisieren sich selbst in mehr oder weniger gleich großen Säulen, eine neben der anderen. In der Kaffeetasse sind die Bereiche mit dem weißlichen Schimmer aufsteigende Säulen heißen Kaffees, und es ist die Hitze des Kaffees, die diesen Schimmer erzeugt. Allerdings geht
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diese vereinfachte Darstellungsweise am Wesentlichen vorbei: Auf der Oberfläche Ihres Kaffees spielt sich ein wahres Drama ab. Der Schimmer ist in Wirklichkeit eine dünne Schicht winziger Wassertropfen, die sich direkt über der Oberfläche des Kaffees gebildet haben und dort weniger als einen Millimeter über der Oberfläche schweben. Er ist weißlich, weil so viel Licht von den Oberflächen reflektiert wird. Die Tropfen bilden sich, weil das Wasser, während es auf der heißen Oberfläche der Flüssigkeit verdunstet, plötzlich abkühlt, kondensiert und koaliert. Die Tropfen, die sich bilden, fallen nicht auf die Oberfläche des Kaffees zurück, weil sie von den Trillionen von Wassermolekülen, die nach wie vor unter ihnen aufsteigen, getragen werden. Während sie über der Oberfläche in der Luft gehalten werden, ähneln sie Wolken in so winzigem Maßstab, dass sie nur unter bestimmten Lichtbedingungen sichtbar werden. Es wäre ein eindrucksvolles Erlebnis, wenn wir uns dort, in dem winzigen Raum unterhalb der Tropfen, aber oberhalb des Kaffees, aufhalten könnten. Einerseits wäre es höllisch heiß, aber wir würden auch durch alles, was da an der Oberfläche verdampft, hin- und hergerüttelt werden und müssten verdammt aufpassen, um nicht in die Abwärtskonvektion gezogen zu werden (die schwarzen Linien, die die Wolken trennen) und in der Schwärze des Kaffees darunter zu ertrinken. Selbst aus unserer ganz banalen Perspektive gesehen (wenn wir einfach auf unseren Kaffee in der Tasse schauen), werden wir von Anfang an gesehen haben, dass die Tropfen schweben – Sie bemerken sicher, dass Ihr Atem sie augenblicklich zerstreut, wie Wolken vor dem Wind, aber sie bilden sich genauso schnell, wie sie sich zerstreut haben. Der einzige Ort, von dem aus Sie direkt hinunter auf die Kaffeeoberfläche schauen können, ist entlang dieser schwarzen Linien; es ist, als ob Sie die Oberfläche der Venus durch einen plötzlich sich auftuenden Spalt in den sie umgebenden undurchdringlichen Wolken erkennen könnten. Der kühle Kaffee sinkt in diese schwarzen Linien und vervollständigt so die Konvektionszelle. Übrigens: Dasselbe passiert auch – ob Sie es glauben oder nicht – in einer Dose gemischter Nüsse. Konvektion spielt eine wichtige Rolle bei dem, was als »Paranusseffekt« bekannt geworden ist: das Phänomen, bei dem größere Nüsse in einer Nusssammlung irgendwann
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oben im Glas landen. Dafür gibt es mehr als einen Grund: Einer der banaleren liegt darin, dass kleinere Nüsse oder Nussstücke durch enge Hohlräume in der Mischung durchfallen können, während größere Nüsse das nicht können. Wesentlich interessanter ist aber die Tatsache, dass eine Art Konvektionsfluss einsetzt, wenn die Dose durchgerüttelt wird, wobei die Nüsse durch die Mitte der Dose aufsteigen, sich oben in Richtung Seitenwände bewegen und letztendlich entlang der Seiten zum Boden sinken. Das Problem für große Nüsse beginnt in dem Moment, in dem sie die Seite der Dose erreicht haben und hinuntergezogen werden: Der Abwärtskanal ist zu eng für sie, also bleiben sie oben. Zurück zu unserer Kaffeetasse: Optisch weniger ansprechend als die flüchtigen Wolken oder die aufgewühlten Konvektionszellen, dafür aber viel weiter verbreitet ist der schwarze Ring, der bleibt, wenn Kaffee verschüttet wird. Sogar dieser Ring gab den Physikern Rätsel auf. Als das Rätsel endlich gelöst war, zeigte sich, dass die daran beteiligten Prozesse interessanterweise genau die gleichen sind, die im Kaffee ablaufen, solange er sich noch in der Tasse befindet: Das Kachelmuster und die Wolken, die Bewegung der Flüssigkeit von einem Ort zum anderen und Verdunstung. Das Rätsel lautet folgendermaßen: Warum bildet ein Tropfen oder eine halbe Tasse Kaffee, die Sie verschütten, einen Ring, wobei fast der ganze schwarze Kaffee sich im Ring sammelt und das Zentrum so gut wie leer ist? Warum trocknet er nicht einfach und hinterlässt einen gleichmäßig beigen Fleck auf der Theke? Einige Anhaltspunkte: Wenn Sie Ihre Kaffeetasse gegen die Decke werfen und dann beobachten, was passiert, wenn der Kaffee eintrocknet, können Sie nachweisen, dass es nichts mit Schwerkraft zu tun hat: Auch hier wird sich bei jedem einzelnen Tropfen ein dunkler Ring an seinem Außenrand bilden. Aber es muss auch etwas mit Verdunstung zu tun haben, also mit jenem Vorgang, bei dem sich die Wassermoleküle in die Luft bewegen und die festen Stoffe zurücklassen. In ein paar frühen Experimenten, die Sidney Nagel und seine Kollegen am James Franck Institute der University of Chicago (schon wieder die!) durchführten, probierten sie das aus, indem sie in den normalen Verdunstungsprozess eingriffen. Bei einem Versuch plat-
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zierten sie einen Tropfen unter einen winzigen Glasdeckel, der genau über der Mitte des Tropfens ein kleines Loch aufwies. Unter diesen Bedingungen würde man erwarten, dass die einzig mögliche Verdunstung vom Zentrum des Tropfens und nicht von seinem Rand ausgehen würde. In diesem speziellen Fall ließen die Tropfen keinen Rand zurück. Die Bildung des Ringes muss also etwas mit der Verdunstung vom Rand des verschütteten Kaffees zu tun haben. In einem zweiten Experiment platzierten die Wissenschaftler Tropfen auf Teflon, ein Material, an dem bekanntlich nichts kleben bleibt. Auf dem Teflon hinterließen die Tropfen ebenfalls keinen Ring. In diesem Fall würde man meinen, die Glätte des Teflons wäre des Rätsels Lösung – was den Eindruck vermitteln könnte, die Beschaffenheit der Oberfläche, auf der der Tropfen landet, sei ein zweiter Faktor bei der Ringbildung. Wenn Sie außerdem ein Mikroskop benutzen, um das Verhalten der winzigen Partikel im gerade trocknenden Tropfen zu beobachten, werden Sie sehen können, dass die Partikel direkt hinaus an den Rand des Tropfens streben. Sidney Nagel vergleicht das mit der Rushhour in New York. Verdunstung, die Oberfläche, die Strömung – das sind die Dinge, die Sie wissen müssen, um den Ring erklären zu können. Stellen Sie sich vor, Sie betrachten einen – stark vergrößerten – Tropfen von der Seite. Jede Flüssigkeit bildet Tropfen, deren Form sich minimal von der anderer Tropfen unterscheidet, wobei der bestimmende Faktor die Oberflächenspannung der Flüssigkeit ist. Ein Tropfen einer Flüssigkeit wie Wasser verhält sich so, als befände sich die Flüssigkeit in einer Tasche: Die Oberfläche des Tropfens fungiert scheinbar als Haut, die den Rest des Wassers zurückhält. Wenn Sie in der Schule das erste Mal etwas von Oberflächenspannung hören, dann ist immer von der Anziehung zwischen Molekülen der Flüssigkeit die Rede. In der Mitte des Tropfens wird ein Wassermolekül von seinen Nachbarn gleichmäßig in alle Richtungen gezogen. Aber die Oberfläche, also die Oberseite, steht in Kontakt mit Luft und nicht mit Wasser, also wird es dort nicht in diese Richtung gezogen. Ist die Temperatur hoch genug, würde das Molekül vielleicht gerne davonfliegen, aber es wird eben nicht in diese Richtung, sondern von den anderen Wassermolekülen hinuntergezogen. Wenn Ihr Wasserhahn
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tropft, dann strömt das Wasser nicht in einer kontinuierlichen Reihe von Mikrotropfen, sondern bildet größere Wasserkugeln, die von der Oberflächenspannung so lange zusammengehalten werden, bis die Schwerkraft übermächtig wird. Ein Tropfen Kaffee, der zum Großteil aus Wasser besteht, bildet sich auf der Theke unter dem Einfluss dieser Oberflächenspannung. Er zerfließt nicht in alle Richtungen und bildet auch keinen Film, der nur ein Molekül dick ist, sondern ballt sich selbst zusammen und bleibt dort. Von der Seite gesehen hätte er vielleicht das Profil eines Einmannzeltes: ein bisschen flacher als ein Iglu. Ausschlaggebend ist der Punkt, an dem der Rand des Tropfens die Oberfläche berührt, auf der er sich befindet: Der Winkel, den der Tropfen genau dort bildet, ist nicht beliebig: Er ist eine grundlegende Eigenschaft von Wasser. Was passiert also, wenn der Tropfen der Luft ausgesetzt ist und zu verdunsten beginnt? An den Rändern fliegen die Wassermoleküle in die Luft und dünnen so die Ränder aus. Genau das aber kann der Rand nicht tun, weil das den Winkel zwischen Rand und Oberfläche verändern würde – und das lässt die Oberflächenspannung nicht zu. Eine Möglichkeit wäre es, dass der Tropfen seine Ränder einzieht, um die ursprüngliche Tropfenform wiederherzustellen. Aber auf normalen Oberflächen funktioniert das nicht, weil der Rand des Tropfens durch winzige Unregelmäßigkeiten an die Oberfläche geheftet ist. Damit meine ich nicht, dass die Kaffeeflecken keine Ränder bilden würden, wenn Sie nur hin und wieder die Arbeitsfläche in der Küche reinigten. Es handelt sich dabei um winzige, mikroskopisch kleine Unregelmäßigkeiten, die in allen Materialien existieren, außer in ganz speziellen. Auf jeder normalen Oberfläche kann der Rand des Tropfens die Buckel und Huppel nicht überwinden; der Tropfen sitzt also in der Falle. Es bleibt ihm nur eine Möglichkeit: Wasser muss weg vom Zentrum des Tropfens an den Rand fließen, um auszugleichen, was verdunstet ist. Natürlich ist es nicht nur das Wasser, das sich aus dem Zentrum des Tropfens an den Rand zurückzieht. Mit dem Wasser gehen auch alle gelösten und festen Stoffe mit, die in einer Tasse Kaffee vorkommen. Sie werden mitgeführt und letzten Endes am Rand des Tropfens abgesetzt, wenn das ganze Wasser verdunstet ist.
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Das Teflonexperiment funktionierte, weil die Oberfläche praktisch keine Unregelmäßigkeiten aufweist, daher kann sich der Tropfen beim Verdunsten zusammenziehen und so seine bevorzugte Form bis zum bitteren Ende wahren. Das Deckelexperiment funktionierte, weil das Wasser nicht an den Tropfenrändern, sondern nur in der Mitte verdunsten konnte. Deshalb bestand für die Flüssigkeit auch keine Notwendigkeit, an die Ränder zu wandern, und sie nahm daher auch keine Partikel mit und bildete keinen Ring. In diesem Fall wurden die Feststoffe einfach dort belassen, wo sie waren; sie bildeten einen Fleck. Trinken Sie Ihren Kaffee in kleineren oder größeren Schlucken, ja, meinetwegen können Sie ihn auch verschütten, aber nehmen Sie sich in jedem Fall ein paar Sekunden Zeit, um ihn zu untersuchen. Schließlich war es ja auch der Anblick eines Apfels, der Isaac Newton zu großen Gedanken anspornte. Es stimmt, dass es nicht viele Newtons gibt, aber ein paar Augenblicke am Frühstückstisch können uns bewusst machen, dass unser Leben unter dem Einfluss von Kräften steht, die wir nicht unter Kontrolle haben: Kräfte wie Oberflächenspannung, Viskosität, Verdunstung und Schwerkraft.
Die Illusionen des Lebens
Ich mag jede Art von Illusionen. Die häufigsten sind visuelle Illusionen, das, was wir landläufig »optische Täuschungen« nennen. Die wissenschaftliche Bezeichnung für diese Phänomene wurde verändert, weil die meisten dieser Täuschungen nichts mit Optik, also mit der Interaktion von Auge und Licht, zu tun haben, sondern aus Fehlern resultieren, die Ihr Gehirn macht, wenn es versucht, sich einen Reim auf eine komplizierte Szene zu machen. Es spielt verschiedene Möglichkeiten durch, wobei es davon ausgeht, dass die Dinge in der Welt da draußen sich so verhalten, wie sie sollten. Manchmal allerdings spielt ihm die Welt da draußen einen Streich. Ein gutes Beispiel ist die Mondillusion, der riesige fette Mond, der über dem Horizont hängt, kurz nachdem er aufgegangen ist (oder unmittelbar bevor er untergeht). Es handelt sich dabei nicht um ein optisches Phänomen, das das durch die Atmosphäre verzerrte oder gebeugte Licht hervorruft. Das können Sie beweisen, indem Sie die Größe des Monds am Horizonts mit der des Monds über Ihrem Kopf ein paar Stunden später vergleichen: Sie werden sehen, dass beide genau gleich groß sind. (Am leichtesten gelingt dieser Beweis, wenn Sie eine Tablette – zum Beispiel Aspirin – in Armlänge vor sich halten. Sie sehen, dass sie den Mond fast ganz verdeckt, egal, wo am Himmel er steht.) Es gibt verschiedene Erklärungen für die Mondillusion. Die populärste besagt, dass für unser Gehirn die Distanz zum Horizont weiter zu sein scheint als die Distanz zum »Dach« des Himmels über unserem Kopf. Wenn es dann mit der Tatsache konfrontiert ist, dass das Abbild, das der Mond auf der Netzhaut unseres Auges erzeugt, in beiden Fällen gleich groß ist, schließt unser Gehirn daraus, dass der Mond größer sein muss,
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wenn er sich am Horizont befindet, und korrigiert die scheinbare Größe dementsprechend. Ich gebe zu, dass mir irgendetwas an dieser Erklärung nicht gefällt. Sie scheint ein bisschen an den Haaren herbeigezogen zu sein, und es gibt allen Grund für die Annahme, dass auch andere Faktoren – zum Beispiel das Nach-oben-Richten des Blicks oder die Neigung des Kopfes, ja, sogar das Vorhandensein von Nebel oder dünnen Wolken – eine wichtige Rolle spielen. Es existieren auch Illusionen des Gehör- und Tastsinns, aber da wir visuelle Geschöpfe sind – und das seit zig Millionen von Jahren – dominieren visuelle Illusionen. Aber es gibt ein Problem mit diesen Illusionen: Damit wir sie verstehen können, müssen sie sehr sorgfältig mittels einer Illustration in einem Buch oder einer Computersimulation dargestellt werden. In unserem Alltag erleben wir sie eher selten. Aber zwei Illusionen, die ich besonders mag, sind nichts Besonderes und leicht zu erleben, und vor allem tun sie, was alle guten Illusionen tun sollten: Sie geben Ihnen Einblick in die manchmal gar seltsamen Machenschaften Ihres Gehirns. Die erste Illusion nenne ich die Mikrowellenillusion, obwohl sie genauso gut funktioniert, wenn Sie eine Uhr mit einem schnellen Sekundenzeiger haben. (Der Timer der Mikrowelle muss eingeschaltet sein und die Sekunden zählen.) Wenn Ihr Blick anfangs nicht auf die Mikrowelle gerichtet ist und Sie sich ihr dann zuwenden, weil Sie wissen wollen, wie spät es ist, dann wird Ihr erster Eindruck sein, dass der Zähler eingefroren ist: Es ist, als wäre das erste Ticken verzögert. Wenn das Ticken scheinbar wieder beginnt, geht es in der normalen Rate weiter. Drehen Sie sich wieder weg und schauen Sie dann wieder hin, und es passiert genau das Gleiche. Das erste Umspringen der Zahlen (oder im Fall der Uhr die erste Bewegung des Sekundenzeigers) dauert länger als die folgenden Bewegungen. Wenn Sie dies mehrmals wiederholen, schwächt sich der Effekt langsam ab, vielleicht, weil Sie beginnen, ihn vorwegzunehmen oder weil irgendein unbekannter psychologischer Faktor wirksam wird. Aber die Schönheit dieser Illusion liegt darin, dass Sie sich jederzeit von ihr lösen können, denn Sie wissen ja, dass Sie sie nach einiger Zeit wieder erleben werden – sobald Sie auf die Uhr oder Mikrowelle schauen.
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Britische Forscher haben dieses seltsame Phänomen im Jahr 2001 untersucht und sind zum Schluss gekommen, dass es das menschliche Gehirn ist, das für diese Zeitverzögerung verantwortlich zeichnet. Sie glauben, dass das Gehirn die Bewegung der Augen vom ursprünglich betrachteten Objekt zur Uhr ausgleicht. Damit Sie den Moment nicht verschwommen wahrnehmen, datiert das Gehirn das erste Bild der Uhr zurück, um die Zeit wettzumachen, während der sich die Augen bewegten. Und je weiter die Augen sich bewegen müssen und je länger sie dafür brauchen, desto länger ist die scheinbare Verzögerung vor dem ersten Ticken der Uhr. Die Wissenschaftler demonstrierten dies an Freiwilligen, die an einem einfachen Laborversuch teilnahmen. Jeder von ihnen musste mit den Augen ein Kreuz auf einer Hälfte eines Computerbildschirms fixieren und dann den Blick auf eine Null auf der anderen Hälfte richten. Die schnelle Bewegung der Augen (eine »Sakkade«) von einer Seite zur anderen dauerte ungefähr 1 Zehntelsekunde. In dem Moment, in dem die Augen sich zu bewegen begannen, begann der Computer Sekunden abzuzählen, wobei er die Null in eine Eins, dann in eine Zwei usw. verwandelte. Dadurch dass der Zähler gleichzeitig mit der Augenbewegung startete, war sichergestellt, dass die Teilnehmer die Null nicht eine ganze Sekunde lang sehen konnten (ihre Augen mussten ja erst dorthin kommen), sondern erst jede nachfolgende Ziffer. Dieses Experiment erfüllte alle Voraussetzungen für die Illusion, hatte aber einen entscheidenden Vorteil: Die Forscher konnten die Dauer der Sichtbarkeit der Null auf dem Schirm regulieren. Sie gingen von der Annahme aus, dass die Teilnehmer dachten, die Null wäre länger als die folgenden Ziffern sichtbar (sie unterlagen der Illusion), und verkürzten daher die Lebensdauer der Null auf dem Bildschirm, bis sie scheinbar genauso lang wie die anderen Ziffern sichtbar war. Die Dauer, um die die Sichtbarkeit verkürzt wurde, war dann ein Maß für die »Größe« der Illusion. Das Experiment wurde mit unterschiedlichen Entfernungen zwischen der Null und dem Kreuz durchgeführt. Bei der größeren Distanz war eine größere Augenbewegung notwendig, die ein bisschen länger dauerte. Es zeigte sich, dass die Illusion umso »größer« war, je größer die Augenbewegung war: Mussten die Teilnehmer ihre Augen
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nur um 22 Grad (ungefähr einen halben 45-Grad-Winkel) bewegen, musste die tatsächliche Dauer der Null um 880 Tausendstelsekunden verkürzt werden, um den Eindruck zu erwecken, sie dauere eine ganze Sekunde. Mit anderen Worten: Die Illusion hatte die scheinbare Zeit der Sichtbarkeit der Null auf dem Bildschirm um 120 Tausendstel- oder 1 Zehntelsekunde verlängert. Wenn die Augen sich aber über die viel größere Distanz von 55 Grad bewegen mussten, brauchte die Null nur 811 Tausendstelsekunden sichtbar zu sein; die Illusion dauerte also fast 2 Zehntelsekunden. Die Differenz zwischen den beiden Zeiten – 69 Millisekunden – entsprach fast genau der zusätzlichen Zeit, die die Augen brauchten, um ihr Ziel zu erreichen: 67 Millisekunden. Je länger die Messung der Augenbewegung dauerte, desto länger auch die Illusion, weil die Illusion die Unschärfe ausgleichen muss. Und als ob das noch nicht Beweis genug wäre: Eine geringfügige Veränderung des Experiments unterstrich die Bedeutung der Augenbewegungen: Wenn nicht die Augen sich zum Ziel, sondern sich das Ziel zu den Augen bewegt, gibt es keine Illusion. In diesem Fall waren die Augenbewegungen bewusst gesteuert und auf ein einziges Ziel gerichtet, aber unsere Augen verhalten sich nicht immer so. Egal, was Sie in diesem Moment anschauen, Ihre Augen bewegen sich ständig von einem Merkmal des Gegenstandes zu einem anderen, und meistens sind Sie sich dieser Bewegungen nicht bewusst. Wenn Sie zum Beispiel ein Gesicht anstarren, rutschen Ihre Augen von der Stirn zu den Lippen zur Nase zu den Augen zur Nase, hin und her, wobei sie bei jedem Stopp nur ein paar Millisekunden lang innehalten. Auch wenn Sie solche Bewegungen nicht bewusst wahrnehmen, spielen sie eine zentrale Rolle für Ihr bewusstes Wahrnehmen des Gesichts. Bewiesen wurde das schon vor Jahrzehnten bei Experimenten mit winzigen Kontaktlinsen, auf denen Bilder zu sehen waren. Der Trick mit einem Bild auf einer Kontaktlinse besteht darin, dass das Bild über die Linsen stabilisiert ist, egal wie viele Sakkaden die Augen machen. Da das Auge dadurch gezwungen ist, immer auf ein und denselben Teil der Linse zu schauen, kann es das Bild nicht abscannen, was dazu führt, dass es langsam, aber sicher verschwindet! Das war einer der spektakulärsten Beweise dafür, dass Sakkaden ein wesentlicher Bestandteil der visuellen Wahrnehmung sind.
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So seltsam das Phänomen der Sakkade auch ist, noch seltsamer ist die sich daraus ergebende Schlussfolgerung: dass das Gehirn sie ausgleicht, indem es die Zeit anhält. Wenn Sakkaden tatsächlich ein Standardbestandteil der visuellen Wahrnehmung sind und sie immer stattfinden, wenn Sie Ihre Augen offen haben, dann wird Ihr Gehirn wahrscheinlich alle Arten von Stopps erzeugen, um sie zu verschleiern. Vielleicht passiert es auch nicht immer – im obigen Experiment trat keine Illusion auf, wenn sich das Ziel verlagerte, während die Augen sich darauf zu bewegten. Aber wenn Sie sich in einer vertrauten Umgebung befinden, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass sich Gegenstände nicht an dem von Ihnen erwarteten Platz befinden, und daher sollte die Illusion meistens funktionieren. Dass Sie sich der Illusion nicht bewusst sind, kommt natürlich daher, dass Sie Ihre Augen nur sehr selten auf einen Zeitmesser lenken, der die Illusion offensichtlich machen könnte. Aber wenn Sie es tun, dann wird Ihnen die Illusion auch bewusst. Die Vorstellung, dass diese Illusion in erster Linie mit den Augenbewegungen zu tun hat, macht auf Basis dieses Experiments absolut Sinn. Aber ein zweites britisches Forscherteam, das keinerlei Verbindung mit dem ersten hatte, entdeckte, dass es noch eine zweite Version dieser Illusion gibt, die nichts mit dem Sehsinn zu tun hat. Diese Art der Illusion stellt sich ein, wenn Sie darauf warten, dass jemand Ihren Telefonanruf beantwortet. Heutzutage brauchen Sie nicht allzu lange zu warten, bis sich die Mailbox einschaltet, aber wenn die Person, die Sie anrufen, von der Technologie überfordert ist, dann stehen Sie da und hören ein Läuten nach dem anderen. Wenn Sie dabei abgelenkt sind – weil Sie entweder den Hörer vom Ohr weghalten und mit jemandem sprechen oder mit Ihrer Aufmerksamkeit bei irgendetwas anderem sind –, dann wird, sobald Sie sich wieder auf das Läuten konzentrieren, Ihnen die Pause vor dem nächsten Läuten viel länger erscheinen als die darauf folgenden. Es besteht hier eine enge Analogie zur Mikrowellenillusion, mit einem Unterschied: Hier werden weder Gehör- noch Sehsinn angesprochen, daher kann dieses Phänomen nichts mit Sakkaden zu tun haben. In diesem Fall benutzten die Forscher ein ähnliches Experiment, um zu verdeutlichen, dass sie mit einem ähnlichen Phänomen arbeite-
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ten: Sie lenkten die Teilnehmer ab, indem sie sie in einem Ohr eine Reihe von Tönen hören ließen, die sie dann zum anderen Ohr umschalteten, um die Länge der Stille zwischen einem anderen Set von Tönen zu beurteilen. Die meisten hatten den Eindruck, der erste Abstand sei länger als die restlichen, obwohl alle exakt eine Sekunde lang waren. Wie auch in der visuellen Version waren die Experimentatoren in der Lage, die Länge des ersten Abstands so lange zu reduzieren, bis er gleich lang wie die anderen erschien: Diese Länge betrug 825 Millisekunden. Der Abstand musste also auch in diesem Fall um mehr als 1 Zehntelsekunde verkürzt werden, sollte er gleich lang wie die folgenden wirken. Wie ist es möglich, dieses Resultat mit der Mikrowellenillusion in Einklang zu bringen? Offensichtlich haben Augensakkaden nichts mit der Telefonillusion zu tun. Das Team, das das auditorische Experiment entwickelt hatte, fand eine allgemeinere Erklärung. Sie erklären die Illusion mit der Funktionsweise unserer inneren biologischen Uhr. Sie verwiesen auf Experimente, die bereits vor 40 Jahren durchgeführt worden waren und den Schluss nahe legen, das Ticken dieser biologischen Uhr sei variabel. Wenn nichts Bemerkenswertes die Aufmerksamkeit des Gehirns erregt, dann arbeitet die Uhr gleichmäßig. Aber sobald etwas Neues passiert, wird das Nervensystem erregt, und die Uhr tickt schneller. Dieser beschleunigte Rhythmus hält im Allgemeinen nicht sehr lange an – etwas ist für unser Gehirn nur sehr kurz neu –, und die Uhr kehrt schnell wieder zu ihrem ursprünglichen, gleichmäßigen Tempo zurück. Aber in diesem kurzen Intervall, während dessen die Uhr sich beschleunigt, scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Natürlich tickt eine biologische Uhr nicht im wörtlichen Sinn (sondern hängt von chemischen Reaktionen in unserem Gehirn ab), aber der Einfachheit halber nehmen wir hier an, dass sie sehr wohl tickt. Wenn die Uhr ihre Geschwindigkeit verdoppelt, dann dauert ein Ticken, das sonst 1 Sekunde dauert, nun lediglich eine halbe Sekunde. Das würde bedeuten, dass ein Ereignis, das ursprünglich ein Ticken (1 Sekunde) andauert, nun zwei Ticken brauchte (immer noch 1 Sekunde) und damit den Anschein erweckt, sich dramatisch verlangsamt zu haben. Diese Erklärung klingt durchaus plausibel. Aber bei der Mikrowel-
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lenillusion gibt es irgendetwas, das sie trotzdem als visuellen Trick erscheinen lässt. In diesem Experiment entsprach die Dauer der Illusion fast ganz genau jener Zeitdauer, die die Augen brauchten, um sich von einem Ziel zum anderen zu bewegen. Würde dies auch zutreffen, wenn sich lediglich die Geschwindigkeit der biologischen Uhr vorübergehend erhöhte? Die Forscher, die die Mikrowellenillusion beschrieben, sind anderer Ansicht. Sie haben eine neues Experiment erdacht, das diese Illusion auf einen anderen Sinn ausweitet: den Tastsinn. Dieses Experiment überzeugte sie davon, dass die Aufmerksamkeit nicht die Erklärung für das ist, was hier passiert. Beim Tastexperiment mussten die Teilnehmer ihre Hand nach einem Ziel ausstrecken und sie auf dieses Ziel legen. Das Ziel vibrierte beim Kontakt mit der Hand, aber das Vibrationsmuster wechselte zwischen 120- und 60-mal pro Sekunde. Jede dieser verschiedenen Vibrationen dauerte exakt 1 Sekunde, außer der ersten, die regelbar war, so wie die Null auf dem Bildschirm in der visuellen Version des Experiments. Die Teilnehmer durften die Dauer der Vibration so lange verändern, bis sie den Eindruck hatten, sie dauere genauso lang wie die anderen Vibrationen. Wie im ersten Experiment hielten die Teilnehmer die erste Vibration nur dann für gleich lang wie die folgenden, wenn sie fast 1 Zehntelsekunde kürzer war. Das Wichtigste kommt aber noch: Damit der Effekt sich einstellen konnte, musste sich die Hand bewegt haben. Wenn sie bereits auf dem Ziel ruhte, als die Vibration begann, gab es keine Illusion: In dieser Situation passten die Experimentteilnehmer das Timing so an, dass die Dauer annähernd eine volle Sekunde betrug. Aber solange sie die Hand ausstrecken mussten, schienen sie den Eindruck zu haben, dass die erste Berührung viel länger dauerte, als dies tatsächlich der Fall war. Wie kann man diese dritte Version dessen erklären, was die Wissenschaftler »Chronostasis« – das Stillstehen der Zeit – nennen? Die Forscher, die die visuelle und die Tastversion durchführten, gehen davon aus, dass in diesem Fall das Gehirn irgendwie vorbereitet ist. Studien mit Affen scheinen zu zeigen, dass einige Gehirnzellen sich auf eine Sakkade – eine Veränderung der Blickrichtung – vorbereiten, bevor sie tatsächlich stattfindet. Es handelt sich dabei um jene Zellen,
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deren Aufmerksamkeit sich auf das Ziel richtet, sobald der Blick dort angelangt ist. Mit anderen Worten: Es gibt Zellen, die offenbar wissen, wohin sich die Augen bewegen, und die sich darauf vorbereiten, ihre Aufmerksamkeit auf diese Stelle zu lenken. Das waren zwar Affengehirne, und es ging um eine visuelle Aufgabe, aber die Forscher meinen, dass die Vorbereitungsaktivität dieser Zellen ein gemeinsames Merkmal sein könne. Obwohl es keinen direkten Beweis dafür gibt, glauben sie, dass beim Ausstrecken des Arms sehr wohl Gehirnzellen im Spiel sind, die sich auf ähnliche Weise vorbereiten, um auf die Berührung eines anvisierten Ziels zu reagieren, und dabei das Terrain für die Illusion bereiten – und daran wahrscheinlich auch direkt beteiligt sind. Wie das aber genau funktioniert, ist nach wie vor nicht bekannt. Bei drei von fünf Sinnen gibt es also diese Illusion der Zeit, und ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass auch die anderen beiden Sinne, der Geschmacks- und der Geruchssinn, dieser Liste hinzugefügt werden: Sie sind ein bisschen vage und zu schwer zu messen beziehungsweise zeitlich zu erfassen – aber die zeitliche Dimension ist der Schlüssel zu dieser Illusion. Die Experimente, die bislang durchgeführt wurden, waren auf einen exakt funktionierenden Zeitmesser angewiesen, um die Illusion nachvollziehbar zu machen. Aber wir müssen davon ausgehen, dass solche Illusionen in unserem Alltag ständig passieren. Wenn wir keine Uhr haben, die uns die Illusion erkennen lässt, handelt es sich nicht mehr um Illusionen, sondern lediglich um ein nahtloses Gewebe von Ereignissen, das unser Gehirn für uns erschafft. Unser Alltag fühlt sich nicht so an, als wäre er mit mühsam verheimlichten Unschärfen, ungeziemend langen Pausen vor dem Läuten des Telefons oder mit imaginären Berührungen ausgefüllt – so weit wir das überhaupt beurteilen können. Aber sie müssen existieren; wir haben nur einfach keine Möglichkeit, sie fassbar zu machen. Und Sie dachten, Sie wüssten, was rund um Sie herum passiert ...
Die geheimnisvolle Kunst – und Wissenschaft –, ein Baby zu halten
Wir sind nicht symmetrisch. Fast jeder von uns ist entweder Rechtsoder Linkshänder, denn eine echte Beidhändigkeit ist extrem selten. Babys drehen ihren Kopf eher nach rechts als nach links, und das schon im Mutterleib. Und wollen Erwachsene jemanden küssen, so drehen sie ebenfalls ihren Kopf lieber nach rechts als nach links. Aber am erstaunlichsten ist, wie wir Babys in den Arm nehmen: Fast alle Frauen halten ein Kind lieber auf der linken Seite ihres Körpers. Männer teilen diese Vorliebe, wenn auch weniger ausgeprägt, und auch ein halbes Jahrhundert Forschung hat nicht herausfinden können, was der Grund dafür ist. Es gibt allerdings jede Menge Vermutungen über dieses Verhalten: Es wurde (im frühen 19. Jahrhundert) behauptet, dass die linke Brust einer Frau empfindlicher ist als die rechte, weswegen sie danach trachte, den Kopf des Babys auf dieser Seite zu halten. Eine andere Annahme geht davon aus, dass die sowohl beim Kind als auch bei der Mutter emotional ausgerichtete rechte Gehirnhälfte eine Schlüsselrolle spielt. Aber es ist sinnlos, Theorien aufzustellen, wenn man keine Daten hat. Zum Glück gibt es in diesem Fall genug davon. Eine der größten Datenansammlungen ist gleichzeitig auch eine der geheimnisvollsten. Zwar finden sich praktisch überall Beispiele für Mütter, die ihre Babys halten, aber eine der besten Quellen für solche Daten sind trotz allem die Kunstwerke vergangener Epochen. Zumindest drei Forscher haben Kunstkataloge durchforstet und Museen besucht, um herauszufinden, wie man früher Kinder gehalten hat – und das Ergebnis ihrer Nachforschungen ist, gelinde gesagt, erstaunlich. Zwei dieser Studien konzentrierten sich auf europäische Kunst, und zwar auf Gemälde und Skulpturen aus dem alten Ägypten und Grie-
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chenland bis hin zum 20. Jahrhundert. Beide Studien ergaben, dass Frauen ihre Babys überwiegend auf der linken Seite halten (in vielen Fällen handelte es sich um die Madonna mit dem Jesuskind), aber im Lauf der Zeit kam es zu einigen rätselhaften Veränderungen. In einer 1957 veröffentlichten Studie beschreibt Stanley Finger von der Washington University, dass die frühesten Werke, die er untersuchte – jene von Giotto und Fra Angelico aus dem 14. und 15. Jahrhundert –, fast ausschließlich Frauen zeigen, die die Kinder links halten, dass aber diese Vorliebe sich im folgenden halben Jahrhundert dramatisch veränderte. Zum Beispiel halten in 100 Prozent der 26 Gemälde von Fra Angelico (1387-1455) die Frauen die Kinder auf der linken Seite, während die Rate bei den 42 Gemälden Botticellis (1444-1510) auf lediglich 38 Prozent sinkt. Aus irgendeinem unbekannten Grund war man es seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts wieder gewohnt, Kinder auf der linken Seite zu halten, und dabei blieb es bis heute. In einer anderen Studie von Gemälden und Skulpturen kam OttoJoachim Grusser von der Freien Universität Berlin zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Linkshalten dominierte in Malereien aus dem 13. und 14. Jahrhundert, sank um circa 50 Prozent während des 15. und 16. Jahrhunderts und stieg dann langsam wieder auf 60 Prozent im 20. Jahrhundert an. Auch bei Skulpturen herrschte am Anfang das Linkshalten vor, sank dann bis zum Ende des 15. Jahrhunderts auf ungefähr 50 Prozent ab, um bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts an den Ausgangswert zurückzukehren. Wie Sie sehen werden, sind diese Veränderungen, die im Lauf der Zeit stattfanden, mit gängigen Theorien darüber, warum die meisten Frauen (und zu einem geringeren Grad auch die Männer) Babys auf ihrer linken Seite halten, praktisch nicht zu erklären. Aber diese Inkonsistenz gibt es nicht nur in der westlichen Kunst. Eine dritte Studie, für die der chilenische Neurologe Gonzalo Alvarez Kunst aus dem alten Mittel- und Südamerika untersuchte, zeigt, dass es deutliche regionale Unterschiede gibt. In der Zeit zwischen 300 vor Christus und 600 nach Christus tendierten die Kulturen Mexikos und Mittelamerikas dazu, Kinder links zu halten – bis zu 83 Prozent –, während zur gleichen Zeit dieser Wert in den Anden (im heutigen Kolumbien, Peru und Ecuador) viel niedriger, bei knappen 50 Prozent,
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lag. Das war lange vor jedem Kontakt mit den Europäern, und interessanterweise zu einer Zeit des kulturellen Umbruchs in Mittelamerika. Diese drei Studien erfassen insgesamt an die 2 600 Kunstwerke, die in einem Zeitraum von zwei Jahrtausenden entstanden sind. Aber es gibt ein paar Lücken: Sie berücksichtigen keine Arbeiten aus China, Afrika oder Indien, und natürlich sind Gemälde und Skulpturen kein Äquivalent für authentische Fotografien. Da Kunst interpretativ ist und Launen, Moden und sogar dem Willen des Auftraggebers unterworfen ist, können diese Werke nicht als vollkommen verlässliche Dokumentation des Trageverhaltens der Menschen dieser Epochen angesehen werden. Dennoch haben wir hier eine enorme Datenmenge, und auf dem Hintergrund der Theorien darüber, warum Frauen und Männer Babys so tragen, wie sie es tun, bekommen diese Kunstwerke eine viel größere Bedeutung. Die erste Theorie, die die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Wissenschaft erregen konnte, wurde vom Psychologen Dr. Lee Salk (dem Bruder des Erfinders der Polioimpfung Jonas Salk) in den späten sechziger Jahren aufgestellt. Als er im Central-Park-Zoo in New York eine Rhesusäffin beobachtete, die ihr Neugeborenes (auf der linken Seite) hielt, begann er sich für dieses Rätsel zu interessieren. Er fragte sich, ob das Herz oder, genauer gesagt, der Klang des Herzschlags das Geheimnis sei: Halten Frauen ihre Neugeborenen auf ihrer linken Seite, damit das Kind den beruhigenden (und vertrauten) Rhythmus ihres Herzens besser hören kann? Salk stellte seine eigenen informellen Beobachtungen von Müttern mit Neugeborenen an und fand heraus, dass von 255 rechtshändigen Müttern 83 Prozent ihr Baby auf ihrer linken Seite hielten. Das Überraschende dabei war, dass das Ergebnis bei linkshändigen Müttern fast identisch war: 78 Prozent. Als Salk die Mütter nach den Gründen für ihr Halten befragte, antworteten die Linkshänderinnen, dass sie, weil sie Linkshänderinnen waren, die Kinder so besser halten konnten. Die Rechtshänderinnen gaben an, dass sie dadurch die rechte Hand frei für andere Dinge hatten. Beides waren sehr vernünftige Antworten, aber Salk vermutete, dass beides Rationalisierungen für ein höchstwahrscheinlich unbewusstes Verhalten waren.
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Um tiefer in dieses Geheimnis einzudringen, ging Salks Kollege Hyman Weiland in einen Supermarkt. Er positionierte sich so, dass er Leute, die den Supermarkt durch eine automatische Tür verließen (so brauchten sie keine Hand frei zu machen, um die Tür zu öffnen), beobachten konnte. Er berücksichtigte nur jene Personen, die eine einzige Tüte trugen, die ungefähr die Größe eines Babys hatte. Bei mehr als 400 Personen konnte er absolut keine Präferenz für rechts oder links entdecken: Die Verteilung war genau 50 zu 50. Diese und andere Studien überzeugten Weiland und Salk, dass die Linkstendenz etwas damit zu tun hat, dass man ein Baby und nicht einfach ein Paket oder Ähnliches trägt. Salk hatte bereits seine persönliche Kunststudie durchgeführt und ähnliche Trends wie die oben erwähnten herausgefunden: Bei den mehr als 400 Gemälden und Skulpturen, die er untersuchte, überwog das Linkshalten. Aber es war eine zufällige Beobachtung in einer Kinderklinik in New York, die ihn direkt zu seiner Herzschlagtheorie führte. Er bemerkte, dass Mütter, deren Kinder zu früh auf die Welt gekommen waren und die daher zumindest die ersten 24 Stunden nach der Geburt von ihren Neugeborenen getrennt waren, ihre Babys viel seltener links hielten. Ein ganz einfaches Experiment brachte Klarheit: Man übergab das Baby seiner Mutter, indem man es ihr genau in ihrer Körpermitte hinhielt, und beobachtete, an welche Seite ihres Körpers sie das Kind nahm. Dieser Versuch bestätigte, dass Mütter, die nach der Geburt nicht von ihren Kindern getrennt wurden, diese viel eher auf ihrer linken Seite hielten als Mütter, die eine solche Trennung durchgemacht hatten. Salk wies nach, dass dieser Effekt nichts mit der Unreife des Babys, sondern nur mit der Tatsache, dass Mutter und Kind getrennt waren, zu tun hatte. Salk schloss daraus, dass das Geräusch des mütterlichen Herzschlags der ausschlaggebende Faktor für das Linkshalten sein müsse. Schließlich ist er ein Geräusch, das die Kinder im Mutterleib hören, und einer der wenigen ständigen und vertrauten Stimuli, der auch nach der Geburt vorhanden ist. Das Herz liegt zwar mehr oder weniger auf der Mittellinie des Körpers, ist aber leicht nach links geneigt. Nach Salks Einschätzung reicht das, um Mütter dazu zu bewegen, ihr
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Baby links an ihrem Körper zu halten. Er führte dann ein Experiment durch, um seine Annahme zu überprüfen: Eine Gruppe von Babys in einer Kinderabteilung hörte Aufnahmen des menschlichen Herzschlags, während eine andere Gruppe in der Abteilung keinerlei Geräusche zu hören bekam. (Ursprünglich bestand der Plan darin, der zweiten Gruppe das Geräusch eines schnell schlagenden Herzens oder irgendeinen anderen Lärm vorzuspielen, aber die Babys reagierten sofort mit Unbehagen, weshalb dieser Plan aufgegeben wurde.) Nach drei Tagen hatten jene Kinder, die den Herzschlag hörten, mehr an Gewicht zugelegt und weinten seltener als jene in der Kontrollgruppe. Das überzeugte Salk nicht nur davon, dass das Geräusch des Herzschlags ein wesentlicher Faktor in der frühen Mutter-Kind-Beziehung sein muss, sondern dass das Kind den Herzschlag leichter wahrnehmen kann, wenn die Mutter es auf ihrer linken Seite hält. Jene Mütter, die während der ersten 24 Stunden nach der Geburt von ihren Kindern getrennt waren, hatten offenbar einen entscheidenden Meilenstein für die Entwicklung dieses Verhaltens versäumt. So bestechend Salks Theorie und die sie stützenden Experimente auch scheinen, sie konnten bei weitem nicht alle überzeugen. Manche argumentierten, dass ein Kind, das rechts gehalten wird, den Herzschlag genauso gut hören kann; andere hatten den Eindruck, dass nicht alle Alternativen bedacht worden waren. Die Vorstellung, die linke Brust sei empfindlicher als die rechte, fand auch nicht viel Unterstützung. Mit der Zeit schalteten sich immer mehr Psychologen in die Debatte ein und fragten sich, ob vielleicht irgendeine Form der Kommunikation zwischen Mutter und Kind begünstigt wird, wenn die Mutter das Kind im linken Arm hält. Die Psychologie basiert auf unserer Einseitigkeit. Unser Gehirn ist ziemlich genau in der Mitte gespalten, und die beiden großen Hemisphären, die linke und die rechte, verarbeiten Informationen auf unterschiedliche Weise. Sie sind nicht vollständig getrennt – lassen Sie sich nicht von Tricks zur Selbstverbesserung in die Irre führen, die Ihnen versprechen, Sie müssten nur Ihre rechte Hemisphäre einschalten und schon wären Sie über Nacht ein Tennisstar. Es ist nicht so, dass die beiden Gehirnhälften nichts voneinander wissen: Sie sind durch ein dickes Kabel von Neuronen verbunden, über das sie verzögerungslos
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kommunizieren. Aber tatsächlich hat jede Hälfte ihre Besonderheiten, was Studien an Menschen bestätigen, bei denen dieses Verbindungskabel zwischen den beiden Hälften durchtrennt wurde, um die Heftigkeit epileptischer Anfälle zu mildern. Im Falle von Mutter und Kind interessiert uns die hemisphärenspezifische Verarbeitung gefühlsbetonter Signale. Was den Gesichtsausdruck und den Ton der Stimme betrifft, so scheint vieles dafür zu sprechen, dass die rechte Hälfte die darunter liegenden Emotionen ein bisschen schneller und geschickter erfassen kann als die linke. Hier ein Beispiel: Wenn Psychologen Versuchspersonen kurz das zeigen, was sie »chimäre« Gesichter nennen (eine Gesichtshälfte ist neutral, die andere zeigt einen Ausdruck wie Zorn oder Traurigkeit), dann behauptet die Mehrheit, das Gesicht zeige jene Emotion, die die vom Probanden aus gesehene linke Seite (also die rechte Seite des Gesichts) darstellt. Ist die linke Seite neutral und die rechte zornig, so wird das Gesicht insgesamt als zorniges Gesicht bewertet. Die Tendenz, die Emotion, die die rechte Gesichtshälfte erkennen lässt, fürs Ganze zu nehmen, kann auf die rechte Gehirnhälfte zurückverfolgt werden, denn die Verschaltung vom Auge zum Gehirn erfolgt im Wesentlichen über Kreuz: Bilder, die für die linke Seite eines jeden Auges sichtbar sind, werden primär an die rechte Gehirnhälfte weitergeleitet und umgekehrt. Das ist ein kurzzeitiger Effekt – wenn Sie lange genug auf ein Gesicht starren, dann werden sich natürlich beide Gehirnhälften dessen voll bewusst sein. Aber für einen Augenblick wird die linke Seite von dem, was Sie anschauen, zur rechten Gehirnhälfte übertragen und umgekehrt. Das Gleiche gilt auch fürs Hören. Was das linke Ohr hört, wird in erster Linie an die rechte Gehirnhälfte gesendet. »Dichotische Hörtests« sind insofern das auditorische Gegenstück zu den chimären Gesichtern, als sie Hinweise darauf liefern, welche Gehirnhälfte beim Aufspüren von Emotionen dominiert. Und auch hier ist die rechte Gehirnhälfte überlegen: Wenn Sie über Kopfhörer zwei gleichzeitig, aber mit unterschiedlicher Gefühlsfärbung gesprochene Sätze hören, dann setzt der Satz, den Ihr linkes Ohr hört, den anderen außer Kraft. Mit anderen Worten: Ein zorniger Ton in Ihrem linken Ohr, gepaart mit einem freundlichen Ton im rechten Ohr wird Sie davon überzeugen,
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dass die Grundstimmung eine zornige ist, weil Ihre rechte Hemisphäre – zu der der Ton aus dem linken Ohr geschickt wird – emotionale Töne besser erkennen kann. Dieser Effekt wird deutlich, wenn wir Sprache hören: Das A und O von Sprache – Grammatik, Satzstruktur und Vokabular – wird in der linken Gehirnhälfte dekodiert, aber Melodie und Ton des Gesprochenen werden in der rechten verarbeitet. Welche Rolle kann diese Überkreuzverschaltung beim Halten von Babys spielen? Stellen Sie sich vor, Sie halten ein Baby in Ihren Armen, wobei sein Kopf zu Ihrer Linken zeigt, also die von den meisten Frauen bevorzugte Haltung. Das Gesicht des Babys liegt in Ihrem linken visuellen und auditorischen Feld, und jeder Gesichtsausdruck, jedes Geräusch des Babys wird vorzugsweise an Ihre rechte Gehirnhälfte gesandt – also die Hälfte, die Sie in dieser Situation wählen würden, weil sie Gefühle so gut erfassen kann. Wenn Sie das Kind an Ihrer rechten Seite halten, würden die emotionalen Signale hingegen an die linke Hemisphäre gesandt werden, die zwar eine gute Hälfte ist, was die Intelligenz betrifft, die aber weniger gut ist, wenn es um das Erkennen von Gefühlen geht. Aber nicht nur die Wahrnehmung von Emotionen, sondern auch deren Ausdruck erfolgt in beiden Hälften unterschiedlich. Jede Seite des Gehirns kontrolliert die Bewegungen der jeweils entgegengesetzten Körperhälfte, auch die der Gesichtsmuskeln. Die sehr emotionale rechte Hemisphäre dominiert auch hier, was bedeutet, dass Emotionen auf der linken Seite des Gesichts deutlicher zum Ausdruck kommen. (Beachten Sie die Ironie: Wenn Sie ein Gesicht betrachten, sind Sie vor allem für die rechte Hälfte dieses Gesichts empfänglich, wobei aber die eigentlichen Gefühle auf der linken Seite stärkeren Ausdruck finden.) Ein Baby, das die Mutter auf ihrer linken Seite hält, zeigt der Mutter nicht nur die linke Seite seines Gesichts, sondern sieht auch die ausdrucksstärkere Seite des Gesichts der Mutter. Es wäre ein zu kniffliges Unterfangen, die Babys zu fragen, was am besten für sie ist, aber die Mütter kann man ja fragen. Und das kommt dabei heraus. John Manning von der Liverpool University war einer der ersten Forscher, der diese Vorstellungen von den Gehirnhälften experimentell untersucht hat. Er versammelte eine Gruppe von 400 jungen
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Mädchen zwischen sechs und 16 Jahren, um herauszufinden, auf welcher Seite sie vorzugsweise ein Baby halten. Warum Mädchen dieser Altersgruppe, die noch nie Babys hatten? Man wusste bereits, dass Mädchen ab dem Alter von vier Jahren eine Vorliebe dafür haben, Babys auf der linken Seite zu halten (eine faszinierende Beobachtung, die beweist, dass dieses Linkshalten zumindest nicht dadurch ausgelöst wird, dass man ein Kind geboren hat). Manning teilte die Mädchen in Gruppen ein, ließ sie eine lebensechte Puppe statt eines Babys halten und testete dann, ob es einen Unterschied bei den Haltevorlieben gab, wenn eines oder beide Augen abgedeckt waren. Die Ergebnisse stützten die Annahme, dass die Gehirnhälften etwas damit zu tun haben könnten. Die Gruppe, bei der kein Auge abgedeckt war, favorisierte mit deutlichem Vorsprung das Linkshalten: 80 Prozent. Dieser Prozentsatz veränderte sich kaum bei der Gruppe, deren rechtes Auge abgedeckt war. Wurde aber das linke Auge abgedeckt, so hatte das dramatische Auswirkungen: Die Tendenz, die Puppe links zu halten, reduzierte sich auf 61 Prozent, also weniger als die 66 Prozent in der »blinden« Gruppe. Die plausibelste Erklärung dieser Resultate ist, dass die Blockade des linken Auges die visuelle Kommunikation mit der Puppe unterbricht und viele der Mädchen dazu zwang, die Puppe auf die freie rechte Seite zu verlagern. Aber trotz dieser Behinderung zog nach wie vor mehr als die Hälfte die linke Seite vor. Manning setzte dieses Experiment mit Müttern und ihren echten Babys fort. Jede Mutter wurde gebeten, zu dem Kinderbett zu gehen, in dem das Baby lag, das Baby aufzunehmen, zu ihrem Stuhl zurückzukehren und sich zu setzen. Auch hier wurden Augenabdeckungen verwendet (obwohl es aus verständlichen Gründen keine »blinde« Gruppe gab). Diesmal war das Ergebnis noch verblüffender: Waren beide Augen frei, hielten über 60 Prozent der Frauen ihre Kinder auf der linken Seite, war hingegen das linke Auge abgedeckt, hielten 60 Prozent das Baby rechts. Eigenartig war bei diesem Versuch, dass in der Kontrollgruppe, deren beide Augen frei waren, nicht wie sonst 75 bis 80 Prozent das Kind links hielten. Manning vermutete, dass der Grund dafür darin liegt, dass die Babys in diesem Experiment bis zu elf Monate alt waren, und vorangegangene Studien hatten gezeigt, dass die Tendenz zur linken Seite mit der Zeit geringer wird.
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Berücksichtigen wir nur diese Experimente, könnten wir leicht zum Schluss gelangen, dass Sehen und Gefühle gemeinsam die wichtigste Rolle beim Halten eines Babys spielen, aber die danach angestellten Experimente, die eigentlich diese Ergebnisse stützen sollten, konnte diese Beziehung nicht untermauern. Vor allem ein Experiment, das sich sehr eng an das Design des Manning-Experiments hielt, ergab, dass vor allem Frauen nicht signifikant beeinflusst waren, sobald das linke Auge abgedeckt war, Männer hingegen sehr wohl: Sie gingen bereitwillig dazu über, das Kind rechts zu halten, wenn ihr linkes Auge abgedeckt war, was, wenn überhaupt, den Schluss nahe legt, dass Männer stärker vom Anblick des Babys (oder, wie in diesem Fall, der Puppe) abhängig sind. Aber es ja bekannt, dass bei Männern die Tendenz zum Linkshalten weniger stark als bei Frauen ausgeprägt ist. Für Männer mag das Sehen einen besonderen Stellenwert haben, für Frauen vielleicht einen geringeren. Aber diese Ungewissheit hinsichtlich der Bedeutung des Sehens hat jene Forscher nicht entmutigen können, die glauben, dass die rechte Gehirnhälfte und deren Gefühlsbetontheit für das Linkshalten verantwortlich sind. Einige von ihnen sind der Ansicht, dass die Verbindung nicht so sehr auf dem Sehen, sondern viel mehr auf dem Hören beruht. 1996 haben die Kommunikationswissenschaftler Jechil Sieratzki und Bencie Woll aus London, England, die These aufgestellt, dass Geräusche wahrscheinlich wichtiger sind als das Sehen. Ihre Argumente: Mütter quer durch alle Kulturen sprächen ihren Kindern dieselben Laute vor, und es sei bewiesen, dass der Klang der Stimme der Mutter für einen Säugling wichtiger ist als ihr Herzschlag (ein weiteres Minus für das Herzschlagargument); außerdem regle die rechte Hemisphäre den emotionalen Inhalt dieser mütterlichen Laute. Der entscheidende Faktor kann also wieder die Positionierung sein: Die Stimme des Babys wird dank der Verschaltung des Hirns vorzugsweise von der rechten Hemisphäre gehört; die rechte Gehirnhälfte liest ihrerseits die zum Ausdruck gebrachte Emotion sofort, wodurch die Beziehung zwischen den beiden gestärkt wird. Befände sich das Baby auf der rechten Seite, würde, wie Sieratzki und Woll schrieben, »das Schlaflied anders klingen«. Leider war es genauso schwierig, Beweise für diese Theorie zu sam-
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meln, wie eine Bestätigung für die Annahme zu finden, dass die Beziehung zwischen den Gehirnhälften visueller Natur ist. Oliver Turnbull von der University of Wales und Heather Bryson von der Aberdeen University testeten Studentinnen in zweierlei Hinsicht: hinsichtlich ihrer Tendenz, sich auf ihre rechte Gehirnhälfte zu verlassen, um die emotionale Botschaft in einer Sprache, die sie nicht sprechen, zu entschlüsseln, und hinsichtlich ihrer Babyhaltepräferenz. Man könnte erwarten, dass diejenigen, die Babys links halten, sich stark auf die rechte Gehirnhälfte verlassen, sofern das Babyhalten von der Wahrnehmung gefühlsbetonter Laute determiniert ist, aber Turnball und Bryson konnten keine derartige Beziehung feststellen. Sie konnten jedoch sehr wohl bestätigen, dass drei Viertel der Studentinnen eine Puppe lieber links hielten, aber es gab keine Korrelation zwischen dieser Vorliebe und einer Bevorzugung des linken Ohres (der rechten Hemisphäre) bei der Erkennung von Gefühlen. Turnbull und Bryson fragten sich, ob für die Bevorzugung der linken Seite vielleicht bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Sinne (Seh-, Hör- oder sogar Tastsinn) verantwortlich seien. Aber bis dato wurden keine Experimente durchgeführt, um diese Annahme zu überprüfen. Das ist im Moment der Stand der Dinge bei diesem Rätsel. Selbst wenn die Vorliebe für die linke Seite etwas mit der Spezialisierung der rechten Gehirnhälfte auf Gefühle zu tun hätte, so passiert hier doch etwas Seltsames. Erinnern Sie sich, dass die Studien von Kunstwerken gezeigt hat, dass es im Lauf der Zeit scheinbar substanzielle Verschiebungen gegeben hat – in Europa verlagerten sich von einem Jahrhundert zum nächsten die Vorlieben von links nach rechts und wieder zurück. Solche Trendwenden lassen sich nur sehr schwer anhand von Unterschieden in den Gehirnhälften erklären. Man müsste hier also von der Annahme ausgehen, dass das, was fest verdrahtete Unterschiede zu sein scheinen (die auch die Menschenaffen aufweisen), sich in relativ kurzer Zeit verändern kann. Außerdem zeigt die Untersuchung der Kunst aus Mittel- und Südamerika, dass zu einer bestimmten Zeit auch regionale Unterschiede bestanden. Wenn Sie dann auch noch eine zusätzliche Studie berücksichtigen, aus der hervorgeht, dass in Madagaskar die Frauen ihre Kinder am liebsten rechts und nicht links halten, dann wird alles noch rätselhafter.
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Sollte das Geheimnis tatsächlich im Gehirn liegen, dann müssen wir Erklärungen dafür finden, warum zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten scheinbar unterschiedliche Vorlieben herrschten. Das wird nicht leicht sein, denn auch wenn das Gehirn noch so anpassungsfähig und plastisch ist, muss schon ein massiver Einfluss wirksam werden – der bis heute nicht identifiziert ist, ja, den wir uns nicht einmal vorstellen können –, damit sich die Spezialisierung der Gehirnhälften so radikal verändern kann. Eine derartige Umstellung geschieht bei vielen, aber nicht allen Linkshändern, allerdings gibt es keinen Hinweis darauf, dass das Halten der Babys mit Links- oder Rechtshändigkeit zu tun hätte; tatsächlich halten die meisten Linkshänder die Babys ebenfalls links. Es mag sein, dass wir von einer Antwort noch weit entfernt sind. Ich muss zugeben, dass mir die Gehirnhälftentheorie, als ich das erste Mal von ihr hörte, nicht sehr einleuchtend erschien. Alles in allem kann der Vorteil, den wir daraus gewinnen, dass die »emotionale« rechte Hemisphäre zuständig ist, höchstens marginal sein. Wir brauchen keine rechte Gehirnhälfte, um den Kummer im Weinen eines Babys zu hören oder das Glück in seinem Lächeln zu sehen. Vielleicht machen die Wissenschaftler zu viel des Aufhebens um diese Sache. Aber wenn es nicht das Gehirn ist, was dann?
Zählende Blässhühner
Das amerikanische Blässhuhn ist kein besonders spektakulärer Vogel. Sein Körper ist im Wesentlichen schwarz, und es lebt in Sümpfen und seichten Gewässern und wahrscheinlich fällt es kaum jemandem auf, außer vielleicht Vogelbeobachtern – und selbst sie verfallen nicht in Begeisterungsstürme, sondern haken es meist einfach auf ihrer Liste ab. Aber das amerikanische Blässhuhn hat eine frappierende Fähigkeit, die nur selten, wenn überhaupt, bei Tieren in freier Wildbahn eindeutig nachgewiesen wurde: Es kann zählen. Das Zählen wurde dem weiblichen Blässhuhn durch den Selektionsdruck aufgezwängt. Weibliche Blässhühner produzieren im Durchschnitt acht Eier pro Gelege, aber anscheinend ist ihnen das nicht genug, denn sie haben den unwiderstehlichen Drang, ein paar Extraeier in die Nester anderer weiblicher Blässhühner zu legen. Vielleicht ist es sogar ein Understatement, von »ein paar« zu sprechen: Bruce Lyon von der University of California in Santa Cruz hat herausgefunden, dass weibliche Blässhühner in British Columbia im Allgemeinen drei Eier in ihrem Nest hatten, die nicht ihre eigenen waren – zusätzlich zu den acht eigenen. Das erinnert an die hässliche Gewohnheit der Kuhstärlinge, die ihre Eier in die Nester anderer Vögel legen. Allerdings finden es die Kuhstärlinge nicht einmal der Mühe wert, eigene Nester zu bauen, und haben es nur auf die anderer Arten abgesehen. In diesem Fall jedoch steht Blässhuhn gegen Blässhuhn, wobei der Vogel, der die meisten Eier legt, eine uralte Schlacht gewinnt: Er gibt seine Gene an die nächste Generation weiter. In Wirklichkeit liegen die Dinge aber ein bisschen komplizierter: Es geht nicht nur darum, die meisten Eier zu legen, denn diese Eier müssen ja auch vom Weibchen im Nest ausgebrütet werden. Dafür muss
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das Weibchen diese Eier akzeptieren und wie ihre eigenen behandeln. Wenn es sie akzeptiert, so ist das ein enormer Nachteil für das Weibchen, denn es ist ja nicht im Geringsten daran interessiert, fremde Blässhühner aufzuziehen. Das Leben ist hart: Lyons Untersuchung hat gezeigt, dass ungefähr die Hälfte aller ausgebrüteten Jungen nicht überlebte und dass jedes Mal, wenn ein Weibchen ein fremdes Ei erfolgreich ausgebrütet hat, sie eines ihrer eigenen verlor. Weibliche Blässhühner haben daher Strategien entwickelt, um jene Eier ausfindig zu machen und zu eliminieren, die nicht ihnen gehören. Das ist ausgefuchster, als es sich anhört. Die meisten Blässhuhneier sehen einander sehr ähnlich – obwohl zwischen den Gelegen geringfügige Unterschiede im Muster der Flecken und in der Hintergrundfarbe bestehen. Daher müssen die Weibchen sehr schlau sein, um die Eindringlinge ausfindig machen zu können. Aber irgendwie schaffen sie es, denn sie sortieren die Eier, die andere gelegt haben, aus und entledigen sich ihrer. Ein fremdes Ei wird aber nicht immer entfernt: Manchmal schiebt das Weibchen ein fremdes Ei einfach an den Rand des Geleges. So ein Weibchen nennt man »Annehmer«. Lyon vermutet, dass das immer dann der Fall ist, wenn das fremde Ei den eigenen so sehr ähnelt, dass das Weibchen nicht hundertprozentig sicher sein kann, dass es nicht doch eines ihrer eigenen Eier ist. Statt zu riskieren, durch das Eliminieren des Eis eines ihrer eigenen Jungen zu töten, schiebt sie das Ei einfach an den Rand, wo es nach wie vor Chancen hat, ausgebrütet zu werden, wenn auch später als die anderen Eier, die ohne Zweifel die ihren sind. Sollte sich herausstellen, dass sie sich geirrt hat und das Ei tatsächlich ihr eigenes ist, kann sie es noch immer ausbrüten, allerdings ist es dann unwahrscheinlicher, dass es auch überleben wird. Das Faszinierendste dabei ist, dass die Weibchen ihr Eierlegen kontrollieren, indem sie die Anzahl der Eier im Nest zählen – wenn es genug sind, legen sie keine mehr. Jene Blässhühner, die fremden Eiern erlauben, im Nest zu bleiben, also die »Annehmer«, schließen ihren Legeprozess früh ab, um sicherzustellen, dass in ihrem Nest genauso viele Eier liegen, wie liegen sollen. Diejenigen hingegen, die Eier verstoßen (die »Ablehner«), verfolgen eine andere Strategie: Sie legen so lange selbst Eier, bis das Nest ungewöhnlich voll ist, und eliminieren
Zählende Blässhühner
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erst dann die Eindringlinge. Damit das gelingt, müssen sie die Anzahl der eigenen und die der fremden Eier feststellen können und auf dieser Basis so viele eigene Eier wie notwendig legen. (Würden sie eine andere Strategie anwenden, wie zum Beispiel den im Nest verbleibenden Raum zu schätzen, dann würden Annehmer und Ablehner zum gleichen Zeitpunkt aufhören, Eier zu legen – aber der zentrale Unterschied besteht darin, dass die Ablehner nur die Eier zählen, die sie behalten wollen, und nicht die Gesamtzahl, die vor ihnen liegt.) Das ist sogar noch kniffliger, als es klingt, denn die weiblichen Blässhühner treffen die Entscheidung, keine weiteren Eier mehr zu legen, lange bevor sie tatsächlich das letzte Ei produzieren – die Diskrepanz beträgt immerhin einige Tage. Auch wenn das Weibchen letzten Endes acht eigene Eier hat, traf es die Entscheidung bereits zu einem Zeitpunkt, als es erst drei oder vier eigene hatte: Es hört dann auf, weitere Follikel zu produzieren, wobei aber vier weitere Eier schon unterwegs sind. Dennoch ist klar, dass es zählt, zumindest bis vier, wenn nicht sogar weiter. Sollten Sie sich wundern, was das mit der Wissenschaft in Ihrem Leben zu tun haben soll – verlassen Sie sich auf mich und vergleichen wir diese Blässhühner mit anderen Vögeln und Tieren. Ein altes Naturforschermärchen erzählt folgende Geschichte (ich habe diese Version Stanislas Dehaenes Buch The Number Sense entnommen): »Ein Adeliger wollte eine Krähe schießen, die ein Nest auf einem Turm seines Anwesens gebaut hatte. Als er sich diesem Turm näherte, flog der Vogel davon, bis er sich außerhalb der Reichweite des Gewehrs befand, und wartete, bis der Mann verschwand. Sobald er gegangen war, kehrte die Krähe zu ihrem Nest zurück. Der Mann beschloss, einen Nachbarn um Hilfe zu bitten. Die beiden Jäger gingen gemeinsam in den Turm, und ein bisschen später verließ nur einer von ihnen wieder den Turm. Aber die Krähe fiel nicht auf diesen Trick herein, sondern wartete geduldig, bis auch der zweite Mann den Turm verlassen hatte, und kehrte erst dann zu ihrem Nest zurück. Auch mit drei, dann vier und sogar fünf Männern gelang es nicht, den intelligenten Vogel zu täuschen. Jedes Mal wartete die Krähe, bis alle Jäger gegangen waren. Schließlich kam eine Gruppe von sechs Jägern. Als fünf von ihnen den Turm verlassen hatten, kehrte der Vogel, der doch kein
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so guter Zähler war, vertrauensvoll zurück und wurde vom sechsten Jäger erlegt.« Wenn diese Krähe ein Blässhuhn gewesen wäre, hätte sie vielleicht überlebt! Dieses Märchen enthält ein paar Körnchen Wahrheit, die in Experimenten bestätigt wurde. Erstens können viele verschiedene Arten von Vögeln und anderen Tieren zählen, auch solche, deren Intelligenz uns nicht sonderlich zu beeindrucken vermag. Zweitens sind ihre zählerischen Fähigkeiten beschränkt: Konnte die Krähe in dieser Geschichte tatsächlich korrekt bis fünf zählen, dann wäre sie ein außergewöhnlicher Vogel gewesen. Was aber bei den zählerischen Fähigkeiten von Tieren wirklich erstaunlich ist, ist, dass sie diese Fähigkeiten mit Kindern teilen. Die Tierexperimente sind unkompliziert. Tauben eignen sich für diesen Zweck sehr gut: Man kann ihnen leicht beibringen, auf einen Knopf zu picken, um Futter zu bekommen. Sobald sie das beherrschen, kann man ihnen beibringen, dreimal oder fünfmal oder sogar 24-mal zu picken. Tauben haben ein Zahlen»verständnis«, das wir diesen eher ungeliebten »fliegenden Ratten« nie zutrauen würden. Sie können lernen, dass sie Futter bekommen, wenn sie 45-mal auf einen einzigen Knopf picken, dass aber ein anderer Knopf erst nach 50-mal picken Futter hergibt. Dann setzt man den Vogel vor drei Knöpfe: der 45-Picker-Knopf auf einer Seite, der 50-Picker-Knopf auf der anderen und ein dritter Knopf in der Mitte. Der dritte Knopf leuchtet auf, und die Taube reagiert, indem sie zu picken beginnt. Hat der Vogel entweder 45- oder 50-mal gepickt, erlischt das Licht. Um die Belohnung zu bekommen, muss der Vogel sich merken, ob er nach 45- oder 50-mal aufgehört hat, und sich dann den entsprechenden Knopf suchen und picken – und das tut er tatsächlich mit schöner Regelmäßigkeit! Andere Experimente haben gezeigt, dass Waschbären lernen können, auf eine Schachtel mit drei (und nur drei) Weintrauben zu tippen; Vögel können jeden fünften Samen, den sie finden, auswählen; und Ratten haben in ihrem kleinen Gehirn anscheinend eine Art abstrakten Zahlensinn, da sie verstehen, dass zwei Lichtblitze das Gleiche wie zwei Töne sind (oder zumindest drücken sie den richtigen Knopf, wenn man es von ihnen verlangt). Sind sie einmal darauf trainiert, einen Hebel zu betätigen, wenn sie zwei Lichtblitze gesehen oder zwei
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Töne gehört haben, dann betätigen sie einen Hebel sogar dann, wenn sie einen Ton und einen Blitz gleichzeitig wahrgenommen haben. Wir sprechen hier nicht von Tieren mit großen Gehirnen wie Menschenaffen oder Delfinen. Hier ist die Rede von »Spatzen«hirnen. Aber trotzdem haben diese Tiere einen Zahlensinn. Und was ist mit den Menschen? Lange Zeit nahm man es nicht ernst, dass Kleinkinder etwas mit Zahlen anfangen können. Ja, man sprach ihnen diese Fähigkeit lange überhaupt ab. Es gab Experimente, und eine ganze Denkschule erklärte, das Erlernen von Zahlen sei ein gradueller, zeitaufwändiger Prozess. Aber diese Vorstellungen wurden in den frühen achtziger Jahren über den Haufen geworfen. Ein Psychologe an der University of Pennsylvania, Prentice Starkey, leitete eine Reihe von Experimenten, die zum ersten Mal zeigten, dass auch Säuglinge und Kleinkinder zählen können. Diese Experimente waren komplex in ihrem Aufbau, weil es offensichtlich schwierig ist, Babys zu fragen, was sie denken. Starkey bediente sich der Technik der Überraschung: Säuglinge schenken Dingen so lange Aufmerksamkeit, solange sie sie nicht langweilen. (Sie sind die geborenen Fernsehkonsumenten.) Starkey ließ zwischen 16 und 30 Wochen alte Babys auf dem Schoß ihrer Mutter sitzen. Vor ihnen befand sich eine Leinwand, auf die eine Reihe von Dias mit Punkten und echten Gegenständen projiziert wurde. Als den Babys ein Dia nach dem anderen, auf dem jeweils zwei schwarze Punkte zu sehen waren, gezeigt wurde, nahm die Zeitspanne, während der sie die Dias anschauten, stetig ab. Aber sobald drei Punkte erschienen, schauten die Babys sie wieder länger an: 2,5 Sekunden verglichen mit 1,9 Sekunden. Diese Experimente wurden später mit noch kleineren Kindern – die jüngsten waren nur einige Tage alt – wiederholt und abgewandelt, indem man die Babys zum Beispiel nicht nur auf Punkte schauen ließ, sondern ihnen Dias mit Gegenständen zeigte, wobei einige nah, andere weiter entfernt, einige klein, andere groß waren. Damit sollte ausgeschlossen werden, dass die Babys auf irgendeinen Unterschied in den Dias zeigten oder reagierten, der nicht mit der Anzahl zu tun hatte. Zwei andere Experimente vermitteln ein genaueres Bild vom Zahlenverständnis – oder -unverständnis – kleiner Kinder. Auch an diesen
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Versuchen war Prentice Starkey beteiligt. Er und sein Team setzten Babys vor zwei Diaprojektoren. Einer zeigte zwei Gegenstände, der andere drei. Aus einem Lautsprecher, der zwischen den beiden Projektoren stand, ertönten Trommelklänge. Nachdem es sich die Babys gemütlich gemacht hatten, schauten sie länger auf jene Dias, die zwei Gegenstände zeigten, wenn der Lautsprecher zwei Trommelschläge erzeugte, und länger auf Dias mit drei Gegenständen, wenn sie drei Trommelschläge hörten. Starkey und seine Kollegen vertraten die Meinung, dass die Babys eine Beziehung zwischen den Trommelschlägen und den Gegenständen auf den Dias herstellten, was bedeuten würde, dass sie über einen abstrakten Zahlensinn verfügten. Für sie bedeutete »zwei« so viel wie zwei beliebige Dinge, nicht nur zwei Dinge auf einer Leinwand. Die dritte Variation dieses Themas war die aufsehenerregendste. Die ersten Versuche dieser Art wurden 1992 von Karen Wynn von der Yale University durchgeführt. Wynn nutzte ebenfalls das Interesse und den Ausdruck der Überraschung der Babys als Maß für das, was sie verstehen, aber in diesem Fall war der Rahmen etwas ausgefeilter. Wynn wollte nicht nur wissen, ob Babys die Zahlen kennen, sondern auch, ob sie damit arbeiten können. Können sie addieren und subtrahieren? Sie begann mit der wohl bekannten Tatsache, dass sogar sehr kleine Kinder stark reagieren, wenn etwas passiert, was unmöglich oder magisch anmutet. Wenn zum Beispiel ein Gegenstand mitten in der Luft zu hängen scheint, sind sie wie gebannt. Ist ein Gegenstand, der hinter einer Leinwand versteckt wurde, dann nicht da, wenn die Leinwand weggezogen wird, können sie es nicht fassen und starren ungläubig, als würden sie erwarten, dass der Gegenstand wieder erscheint. Das Experiment funktionierte folgendermaßen: Vier und fünf Monate alte Babys saßen vor einem Miniaturpuppentheater. Als Erstes sahen sie, wie die Hand (des Experimentators) eine Spielzeugmickymaus auf die Bühne stellte. Dann erschien eine Leinwand, die die Mickymaus versteckte. Anschließend erschien die Hand wieder, diesmal mit einer zweiten Mickymaus, die sie hinter die Leinwand stellte. Dann verschwand die Hand, wobei man gut sehen konnte (und das ist wichtig), dass die Hand leer war. Bis zu diesem Punkt war, mathe-
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matisch gesehen, Folgendes passiert, sofern die Babys das überhaupt nachvollziehen konnten: eine Mickymaus plus eine Mickymaus. Aber manchmal war plötzlich nur mehr eine Mickymaus da, wenn die Leinwand entfernt wurde – die andere war durch eine geheime Falltür entfernt worden. Die Babys reagierten, als ob gerade etwas Verbotenes geschehen wäre. Sie starrten auf diese unerwartete Szene, wobei sie eine ganze Sekunde länger hinschauten, als wenn die Leinwand die erwarteten zwei Mickymäuse freigab. Die Babys waren beim umgekehrten Experiment sogar noch erstaunter: beim magischen und unmöglichen 2 – 1 = 2. Diese Experimente zeigten, dass Menschenbabys ungefähr gleich gut sind wie Tiere, soweit es die einfache Mathematik betrifft. (Wynns Experiment wurde tatsächlich mit Rhesusaffen wiederholt, wobei statt Mickymäusen Auberginen verwendet wurden.) Aber diese Experimente sind nicht unumstritten. Von Anfang an wurde kritisiert, dass sich Babys bei den gezeigten Dingen auf andere Merkmale als einfach nur die Zahlen bezogen. Waren die Punkte schwarz auf weißem Hintergrund, so berücksichtigen die Babys vielleicht den gesamten Schwarzanteil auf dem Dia und nicht die tatsächliche Zahl. Oder beachteten sie die Helligkeit des Dias, die sich offensichtlich verändert, wenn es durch mehr schwarze Punkte verdunkelt wurde? Einige Kritiker meinten sogar, dass die Babys von der »Konturenlänge« der gezeigten Dinge ausgingen – das heißt der Gesamtlänge des Umfangs aller Punkte. Unzählige Experimente wurden erdacht und überarbeitet, um diese möglichen Schwachstellen zu berücksichtigen. Karen Wynns Experimente zur Addition und Subtraktion wurden ebenfalls sehr genau unter die Lupe genommen. Ein Kritikpunkt war, dass aufgrund des Designs des Experiments die Babys wesentlich länger nur eine Mickymaus als zwei sahen. (Das Experiment begann immer mit einer Maus und endete manchmal auch mit einer Maus.) Wenn – und ich vermute, dass das ein sehr großes Wenn ist – die Babys von der Komplexität des Experiments überwältigt sein sollten, dann ist es ihnen vielleicht einfach lieber, jene Situation zu beobachten, die ihnen am vertrautesten ist und bei der sie sich am wohlsten fühlen – eine Mickymaus.
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Eine andere Möglichkeit in der 1 + 1 = 1-Version ist, dass diese Babys mehr Gegenstände erwarten und überrascht sind, wenn die Anzahl der Mäuse gleich bleibt. Wynn zerstreute diese Einwände, indem sie den Babys zwei unterschiedliche Ergebnisse präsentierte: 1 + 1 = 2 und 1 + 1 = 3. Erwarten die Babys tatsächlich einfach nur mehr Gegenstände, dann sollten diese beiden Resultate für sie gleichwertig sein, aber in Wirklichkeit interessierte sie die unmögliche 1 + 1 = 3-Version wesentlich mehr, was wiederum die Annahme nahe legt, dass sie zählen und vorwegnehmen können, wie das Ergebnis ausschauen soll. Manchmal lassen sich Wissenschaftler sehr viel einfallen, um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Karen Wynn entwickelte ein Experiment, bei dem Babys sich bewegende Schwärme schwarzer Kreise gezeigt wurden. Sie ging von der Annahme aus, dass Kreise, die sich wie Bienen in einem Schwarm gemeinsam bewegen, von den Kindern als ein einziges »Ding« interpretiert würden. Im Experiment sahen manche Babys vier Gruppen mit je zwei Kreisen, während andere zwei Gruppen mit je vier Kreisen erkannten. Beachten Sie, dass die Gesamtzahl der Kreise (und ihrer Merkmale) gleich war, aber die Anzahl der »Dinge« war zwei oder vier. Wynn war sich sicher, dass die Babys aufhorchen würden, wenn man die Bilder vertauschte, weil sie plötzlich eine andere Anzahl von Objekten sahen, auch wenn die Anzahl der Kreise, die diese Objekte bildeten, die gleiche war. Und sie hatte Recht. Ich bezweifle, dass dieses letzte Experiment die Kontroverse über das Zahlenverständnis bei Kindern beenden kann, aber meiner Meinung nach sprechen diese Indizien dafür, dass schon sehr kleine Kinder über ein gewisses Zahlenverständnis verfügen. Diese Forschungen haben einige interessante Nebenerkenntnisse gebracht: Es zeigt sich das Zahlenverständnis so früh im Leben, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach angeboren ist. Manche Wissenschaftler vertreten sogar die Meinung, dass es im Gehirn so etwas wie ein Zahlenzentrum gibt, so wie andere davon ausgehen, dass es ein Sprachzentrum gibt. Die Entstehung eines derartigen angeborenen Moduls müsste entwicklungsgeschichtlich ziemlich früh anzusetzen sein, weil wahrscheinlich auch jene Tiere, die wie die Babys über eine elementare Fähigkeit verfügen, mit Zahlen umzugehen und sie zu manipulieren, eine Version dieses Moduls besitzen.
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Man muss schon weit in der Evolutionsgeschichte zurückgehen, um den gemeinsamen Ahn von Menschenbaby und rechnender Taube zu finden, aber Tiere und Menschen haben nicht nur diese Rechenstärken gemeinsam, sondern auch die Schwächen. Sowohl Tauben als auch Menschen – auch Erwachsene – haben Schwierigkeiten, zwischen Zahlen zu unterscheiden, sobald diese größer werden oder nahe beisammen liegen. Wenn Sie zum Beispiel gefragt werden, so schnell wie möglich zu sagen, welche Zahl in einer Reihe von Zahlen größer ist, dann wird Ihnen das bei drei und sechs viel schneller gelingen als bei 33 und 36. Und je weiter die Zahlen auseinander liegen, desto einfacher wird es. Jene Tauben, die den Unterschied zwischen 45 und 50 kennen, tun sich schon wesentlich schwerer, wenn sie 49 und 50 unterscheiden sollen. Und noch etwas: Babys sind ziemlich gut, wenn es um die Zahlen Eins, Zwei und Drei geht, aber mit größeren Zahlen haben sie Schwierigkeiten. Uns Erwachsenen geht es auch nicht anders. Bitten Sie Erwachsene, die Anzahl von Punkten zu identifizieren, die auf einer Leinwand erscheinen: Sie sind ziemlich schnell, solang es weniger als drei sind. Aber sobald die Anzahl der Punkte auf vier steigt, steigt auch die Reaktionszeit: Bei ein bis drei Punkten beträgt die Durchschnittszeit zum Erkennen der Anzahl 6 Zehntelsekunden, bei vier Punkten dauert es schon 8 Zehntelsekunden und mehr als 1 Sekunde bei fünf Punkten. Gleichzeitig steigt auch die Anzahl der Fehler. Wahrscheinlich sollten wir nicht zu viel hineininterpretieren, aber es kann möglich sein, dass wir die ersten drei Zahlen deswegen so gut beherrschen, weil wir uns auf ein angeborenes Ziffernmodul verlassen können, das sehr gut mit diesen Zahlen, aber weniger gut mit größeren umgehen kann. Das könnte sogar kulturelle Auswirkungen haben: Stanislas Dehaene und andere haben darauf hingewiesen, dass einige Zahlensysteme auf der Welt, inklusive der römischen Zahlen, ein einfaches Design für die ersten drei Zahlen (I, II, III) benutzen, aber bei größeren Zahlenwerten dann radikal von diesem Schema abgehen (IV). Ich erinnere mich genau, vor einigen Jahren gelesen zu haben, dass eine ferne Kultur (die damals wahrscheinlich als »primitiv« tituliert wurde) über vier Zahlen verfügte: Eins, Zwei, Drei und »Viele«. Es war nicht so, dass diese Menschen keine
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höhere Mathematik kannten; sie ließen nur ihr Zahlenmodul sprechen. Ein letzter Gedanke betrifft die Zahl Null, eine Zahl, die sehr nahe bei der Eins, Zwei und Drei liegt, auf die sich diese Experimente konzentrieren, und doch ist die Null eine Zahl, die in mancher Hinsicht vollkommen anders ist. Karen Wynns Experimente mit Addition und Subtraktion kamen zu bizarren Ergebnissen, wenn sie den Kindern 1 – 1 = 1 zeigte. (Dafür musste eine Mickymaus wieder zurück auf die Bühne springen.) In diesem Fall reagierten die Kinder überhaupt nicht überrascht. Es war, als ob sie anders als bei den übrigen Experimenten keine Erwartung hinsichtlich des Ergebnisses von 1 – 1 hatten. Das mag uns befremdlich erscheinen, aber die Null hat eben ihre speziellen Eigenheiten. Einerseits ist sie erst relativ spät in der Geschichte der Mathematik aufgekommen – die Babylonier hatten bereits 1 500 Jahre lang Zahlen benutzt, ohne sich je um die Erfindung der Null gekümmert zu haben, und sogar als die Null schließlich ihren Platz in den Zahlensystemen der verschiedenen Kulturen gefunden hatte, wurde sie sehr oft als Bezeichnung für einen leeren Raum und weniger als eigenständige Zahl verwendet. Wir sollten diese Analogie nicht überstrapazieren, aber es scheint, als ob sich die verzögerte Anerkennung der Null als Zahl in der Geschichte der Mathematik in der Kindheit wiederholte. Karen Wynns Kinder scheinen nicht zu wissen, was eine Null ist, und auch viel ältere Kinder wissen es nicht: Vorschüler, die wissen, dass Null »nichts« bedeutet, werden noch immer argumentieren, dass die kleinste Zahl die Eins ist. Eine Frage stellt sich jetzt: Weiß ein Blässhuhn, dass Null eine Zahl ist?
Auf der Suche nach dem unattraktiven Mann
Das Summen einer Stechmücke an einem lauen Sommerabend ist ebenso typisch kanadisch wie der Ruf des Haubentauchers. Obwohl ich eine Menge volkstümlicher Berichte gelesen und viele Zeichnungen von den Stechrüsseln weiblicher Stechmücken (oder Moskitos) gesehen habe, wo man sieht, wie sie sich auf der Suche nach einem Blutgefäß in die Haut bohren, wird das Vorspiel zu diesem hässlichen Moment meist außer Acht gelassen. Wie hat das Weibchen Sie in diesem dunklen Raum gefunden? Hat es Sie gesehen, gerochen, gehört oder Ihre Anwesenheit irgendwie anders gefühlt? Wäre es möglich, bessere Antimückenmittel zu entwickeln, wenn wir genau wüssten, wie diese chemischen Substanzen die nach Beute suchenden weiblichen Stechmücken von uns abhalten? Allein die Beobachtung des Flugverhaltens dieser gefürchteten Insekten liefert uns schon einige Hinweise darauf, wie sie uns ausfindig machen. Die folgende Beschreibung des Stechmückenverhaltens ist für eine wissenschaftliche Zeitschrift ungewöhnlich anschaulich. Sie stammt aus einem Artikel von Anthony Brown, der 1996 im Journal of the American Medical Association erschienen ist: »Wenn ein Mann in einem von Stechmücken verseuchten Gebiet steht und dort eine leichte Brise weht, dann werden ihm die Stechmücken ausweichen, aber jene, die in den Abwind seiner Ausdünstungen geraten, werden umdrehen und sich auch noch aus einer Entfernung von bis zu 30 Fuß zu ihm hinaufarbeiten.« Sich im Abwindkegel der »Ausdünstungen« einer Person zu befinden, kann, zumindest was unsere Spezies betrifft, extrem unangenehm sein, aber offenbar sind weibliche Stechmücken doch irgendwie anders. »Steht ein Mann in einem geschlossenen Raum, so ignorieren
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ihn die Stechmücken um ihn herum, aber sobald er sich niederlegt, aktiviert er alle jene Moskitos, die die aufsteigenden Konvektionsströme über seinem Körper wahrnehmen.« Wenn in diesen Beschreibungen von einem Mann die Rede ist, so ist das nicht einfach der Sexismus der sechziger Jahre – Tatsache ist, dass Männer öfter gestochen werden als Frauen. (Es stimmt auch, dass Erwachsene häufiger gestochen werden als Kinder.) Aber Begriffe wie »Strömung« und »Ausdünstung« lassen das Ganze so klingen, als wären Gerüche und Ausdünstungen – und nicht der Anblick des Menschen oder irgendwelche Geräusche – der entscheidende Faktor, der Stechmücken anlockt. Wenn das stimmt, dann stören Antimückenmittel vielleicht auf irgendeine Weise die Fähigkeit der Stechmücken, diese Gerüche wahrzunehmen und herauszufinden, wo sich die Geruchsquelle befindet. Aber lassen wir uns Zeit. Es mag schon stimmen, dass Gerüche eine Schlüsselrolle spielen, aber Stechmücken können uns sehen, und sie tun es auch. (Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass von uns produzierte Geräusche die Stechmücken anlocken, es sein denn, wir ahmen ihr superlästiges Summen nach, und selbst dann hätten es nur die ohnehin nicht stechenden Männchen auf uns abgesehen – aber nicht um uns zu stechen, sondern um sich mit uns zu paaren.) Die visuelle Wahrnehmung ist alles andere als unwichtig, ja, unter Umständen nehmen die weiblichen Stechmücken uns zuallererst über diesen Sinneskanal wahr. Je dunkler das Objekt, desto attraktiver: Offenbar sind die Augen der Stechmücken unempfindlich für die Farben in der Mitte des Spektrums – also für orange bis blau-grün. Es kann sein, dass Farben, die weiter am Rand des Spektrums angesiedelt sind – also rot in der einen Richtung, violett in der anderen – auf jagende Stechmücken schwarz wirken und daher sehr wohl ihr Interesse erregen. Und wenn sich dieser dunkle Gegenstand dann auch noch bewegt, umso besser. Produziert er außerdem noch einen flackernden Effekt – wenn sich zum Beispiel eine schwarz-weiße Oberfläche, vorzugsweise eine gestreifte oder karierte, bewegt –, so wäre das geradezu ideal für Stechmücken. »Wenn Sie wie ein Schiedsrichter angezogen sind, dann gehen Sie heute besser nicht in die Wälder ...« Aber die meisten von uns haben am eigenen Leib erlebt, dass wir in
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moskitoverseuchten Gegenden auch dann gebissen werden, wenn wir weiße Kleidung tragen, und wahrscheinlich gar nicht so selten. Könnten wir vielleicht besser verstehen, was auf Stechmücken – abgesehen von der Kleidung – so anziehend wirkt, wenn wir Menschen untersuchen, die sie anlocken beziehungsweise nicht anlocken? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Ja: Es gibt Menschen, die für Stechmücken attraktiver sind als andere, aber herauszufinden, warum dem so ist, ist eine andere Sache. In einer denkwürdigen Anstrengung testete vor einigen Jahrzehnten ein kalifornisches Team 838 Personen auf ihre Attraktivität für Stechmücken. Jede Person bekam einen kleinen Moskitokäfig (einen Plastikzylinder mit Netzen aus Nylongewebe an jedem Ende), den sie drei Minuten lang auf ihren Unterarm presste. In dem Käfig befanden sich pro Versuch nur vier Moskitos, aber trotzdem kamen im ersten Testlauf nur 17 von 838 Personen ohne Stich davon. Bei einem neuerlichen Test blieb von diesen 17 nur eine Person verschont. Der betreffende Mann wurde noch neun Mal getestet, wobei er insgesamt nur drei Stiche davontrug. Hier haben wir nun den »unattraktiven Mann«, auf den der Titel dieses Kapitels anspielt, aber obwohl die Forscher uns in ihrem Bericht versichern, dass »umfangreiche Studien« mit diesem Mann durchgeführt wurden, ergab sich leider kein Hinweis darauf, warum er so unattraktiv war. Das ist auch heute noch ungefähr der Stand der Dinge: Es steht außer Frage, dass einige Menschen eher gestochen werden als andere, aber es ist nicht klar, warum. Wenn man berücksichtigt, dass der typische menschliche Körper ständig Hunderte von chemischen Zusammensetzungen absondert, wäre es nicht überraschend, wenn unterschiedliche Mischungen dieser Substanzen unterschiedliche Signale an die Stechmücken sendeten. Aber das Schwierige ist, genau diese Chemikalien dingfest zu machen. Ein 21 Jahre alter Mann, den dasselbe Team ebenfalls in den sechziger Jahren untersucht hatte, konnte nicht schwitzen und wurde seltener gebissen. Allerdings zahlte er einen hohen Preis dafür, dass die Moskitos ihn in Ruhe ließen – nicht schwitzen können ist eine schwerwiegende Behinderung. Dieser Fall illustriert jedoch auf sehr dramatische Weise eine Erkenntnis, zu der andere Forscher seitdem gelangt sind: Schweiß spielt eine Rolle
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beim Anlocken von Stechmücken, und wahrscheinlich riecht der Schweiß mancher Menschen süßer als der anderer. In der Mitte der neunziger Jahre bestätigte ein in Tansania durchgeführtes Experiment die Annahme, dass Menschen unterschiedlich attraktiv für Stechmücken sind. Drei Freiwillige schliefen neun Nächte lang in Zelten, die mit Eingangs- und Ausgangsfallen für Stechmücken bestückt waren. (Sie hätten sich einen Teil der Mühe beim Basteln der Eingänge sparen können, wenn sie mich die Zelte hätten aufstellen lassen: Das hätte unter Garantie dafür gesorgt, dass Horden von Moskitos anwesend gewesen wären.) Die Freiwilligen tauschten im Laufe der neun Nächte die Zelte, nahmen aber ihr Bettzeug mit, um sicherzustellen, dass mögliche Unterschiede in der Stichhäufigkeit nicht auf den Geruch der Textilien zurückzuführen wären. Eine der drei Versuchspersonen erwies sich als deutlich weniger attraktiv für drei Arten von Stechmücken, die den Weg in die Zelte gefunden hatten. Aber nicht nur der Unterschied zwischen einzelnen Menschen ist hier ausschlaggebend: Bei einem japanischen Experiment fand man heraus, dass gewisse Körperteile attraktiver als andere sind. Stechmücken interessieren sich in erster Linie für die Füße und erst dann für Hände und Gesicht. Warum genau in dieser Reihenfolge, weiß niemand. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Stechmücken öfter bei Menschen landen, die gerade ein Bier getrunken haben. Forscher waren in der Lage, einige dieser menschlichen »Ausdünstungen«, die Stechmücken anlocken, zu identifizieren, aber es war alles andere als leicht. Aufzeichnungen von einzelnen Nervenzellen in den Fühlern der Stechmücken (die allein schon ein wahres Meisterwerk darstellen), kombiniert mit detaillierten Bildern dieser Fühler, die mittels Elektronenmikroskop gemacht wurden, haben gezeigt, dass ungefähr 90 Prozent der Nerven in den Fühlern für das Aufspüren von Chemikalien in der Luft zuständig sind und dass sowohl Kohlendioxid als auch Wärme und Milchsäure eine starke Anziehungskraft auf Stechmücken ausüben. Das leuchtet auch ein: Wir sind warm, wir atmen Kohlendioxid aus und geben über unseren Schweiß Milchsäure ab. Noch interessanter ist in diesem Zusammenhang der intelligente Apparat, den die Stechmücken benutzen, um
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diese Substanzen aufzuspüren: Sie bedienen sich verschiedener miteinander verbundener Detektoren, die dafür sorgen, dass die weibliche Stechmücke effizient und sicher ihr Ziel erreicht. Unser Atem besteht aus ungefähr 4 Prozent Kohlendioxid oder CO2. Das ist hundertmal konzentrierter als in der Luft um uns herum, daher ist es auch nicht überraschend, dass ein mit einem CO2-Detektor ausgerüstetes Insekt uns vor einem gasförmigen Hintergrund ausmachen kann. Aber das allein erklärt noch nicht alles, denn die CO2Fahne, die unserem Mund entströmt, wird sofort vom Wind davongetragen, in Gaswolken fragmentiert und augenblicklich verdünnt. Doch die CO2-Detektoren der Insekten sind auch dieser Aufgabe gewachsen: Sie sind perfekt auf jene Gaskonzentrationen abgestimmt, denen sie aller Wahrscheinlichkeit nach begegnen werden, wobei ihre Empfindlichkeit bei diesem 4-Prozent-Niveau am ausgeprägtesten ist. Gleichzeitig sind sie aber auch imstande, Veränderungen in der Konzentration wahrzunehmen, die lediglich 0,01 Prozent ausmachen. Und nicht nur das: Sie sind impulsempfindlich. Stechmücken, die in einem Windkanal einem ständigen Strom von CO2 ausgesetzt waren – eine Situation, die in der Natur wohl nie vorkommt –, entschieden sich dafür, nicht gegen den Wind zu fliegen. Aber Moskitos, die stillstehen, können durch einen Hauch CO2 dazu gebracht werden, sich in die Luft zu erheben. Die CO2-Detektoren der Moskitos liegen nicht auf den Fühlern, sondern auf kleinen Ausstülpungen am Kopf, den »Sensilla Ampullacea«. Ihre Rolle ist klar: Wenn man sie amputiert, kann der Moskito das Gas nicht wahrnehmen. Genauer erklärt: Aufzeichnungen aus den Nerven, die diese Ausstülpungen erregen, zeigen, dass sie durch CO2-Fahnen aktiviert werden. Übrigens scheint die Architektur dieser Nerven komplexer zu sein, als es für diese Aufgabe notwendig wäre: Sie wirken fast ein bisschen überzüchtet, aber wie gesagt, man versteht ihren Funktionsmodus noch nicht wirklich. Vielleicht haben sie etwas zu tun mit dem Koordinieren des CO2-Signals mit anderen Signalen, mit denen der Moskito in Kontakt kommt, da sie andere Gerüche (wie zum Beispiel Milchsäure) nur dann wahrnehmen können, wenn gleichzeitig auch CO2 vorhanden ist. Diese Koordination ist gar nicht so einfach, da dabei Signale, die über die Fühler gesammelt wur-
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den, den von den Detektoren aufgezeichneten CO2-Signalen entsprechen müssen – so wie der Anblick eines mit Käse überbackenen Sandwiches dessen Geruch entsprechen muss. Sogar männliche Stechmücken werden von Kohlendioxid angelockt, auch wenn sie nicht stechen. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Männchen sich dorthin begeben, wo die Wahrscheinlichkeit am größten ist, einem Weibchen zu begegnen (ein alt bekanntes Verhalten), und Weibchen findet man eben am ehesten dort, wo Säugetiere CO2 ausatmen. Diese Säugetiere sind außerdem warm, und die Antennen der weiblichen Stechmücken sind – vor allem an der Spitze – mit hoch sensiblen Temperaturrezeptoren gespickt. Diese Rezeptoren reagieren sehr schnell auf Veränderungen der Temperatur von 5 Hundertstel Grad Celsius, indem sie eine Salve von Nervenimpulsen abfeuern. Laborstudien haben gezeigt, dass sie solch winzige Wärmespuren auch in den Luftströmen erspüren können, die von einem Kaninchen ausgehen, das von der Stechmücke 2 Meter entfernt ist. Gleichzeitig reagieren diese Temperaturdetektoren nur geringfügig auf jene langsamen Veränderungen in der Temperatur, mit denen das Insekt konfrontiert ist, wenn es von Ort zu Ort fliegt. Es scheint, als sei die Temperaturempfindlichkeit der Stechmücken in feuchter Luft höher, aber es gibt keinen überzeugenden Beweis dafür, dass sie tatsächlich auch Sensoren für Feuchtigkeit besitzen. Andererseits besteht kein Zweifel daran, dass sie sich an Milchsäure orientieren, wobei hier andere spezialisierte Rezeptoren auf den Fühlern zum Einsatz kommen. Wie im Fall der CO2-Rezeptoren sind auch diese Rezeptoren auf gewisse Konzentrationen von Milchsäure abgestimmt, die von der menschlichen Haut (und nur von menschlicher Haut) abgesondert werden. Wenn Sie also von einem weiblichen Moskito verfolgt werden, dann befinden sich dessen Milchsäurerezeptoren mit ziemlicher Sicherheit in einem Alarmzustand, auch wenn dies nicht immer der Fall ist. Es gibt Phasen im Leben einer weiblichen Stechmücke, während derer es für sie sinnlos ist, eine Beute weiter zu verfolgen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sie gerade erst ausgeschlüpft oder schon mit Blut vollgesogen ist oder bereits eine Reihe von Eiern ausbrütet. Während dieser Phasen sind
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die Milchsäurerezeptoren, die normalerweise Salven von Nervenimpulsen abfeuern, inaktiv: Wahrscheinlich werden sie von Hormonen, die im Blut des Weibchens zirkulieren, betäubt. Es war sogar möglich, eine Bluttransfusion nach Stechmückenart von einem solchen Moskito auf ein hungriges Exemplar durchzuführen, woraufhin der Empfängermoskito augenblicklich aufhörte, nach Beute zu suchen. Diese Fähigkeit zur Kontrolle der weiblichen Lust auf Blut ist ein weiteres Beispiel dafür, wie raffiniert das Verhalten der Stechmücken ist – raffiniert zumindest für einen des Denkens nicht mächtigen, aus Chitin bestehenden Roboter. Sie »entscheidet« nicht, ob sie Sie angreifen soll oder nicht – sie tut das, wofür sie ausgelegt ist. Ein Stechmückenangriff mag für uns höchst unangenehm sein, aber für das Insekt selbst ist er unter Umständen tödlich. So wie es Nerven sind, die als Reaktion auf das Vorhandensein von Chemikalien in der Luft feuern und bestimmen, ob uns Stechmücken angreifen, so ist auch ihre Entscheidung, uns zu verschonen, neurochemisch bedingt. Sobald eine Stechmücke mit Blut angesogen ist (sie hat dann 5 Mikroliter aufgenommen, von denen nichts als ein verschmierter Fleck übrig bleibt, wenn wir zugeschlagen haben), senden Dehnungssensoren in ihrem geweiteten Bauch eine Botschaft ans Gehirn, die bewirkt, dass sie kein weiteres Blut mehr aufnimmt: Sie zieht ihre nadelähnlichen Mundwerkzeuge aus dem Opfer heraus und fliegt davon. Die Effizienz dieses Systems kann auf sehr drastische Weise demonstriert werden, wenn man die Nerven durchtrennt, die die Botschaft vom Bauch zum Gehirn transportieren: Der Moskito nimmt weiter Blut zu sich, bis er buchstäblich explodiert. Die Tatsache, dass er mit Blut gefüllt ist, bewirkt nicht nur, dass er wegfliegt, sondern verhindert auch, dass er entweder wieder zu Ihnen zurückkommt, um sich mehr zu holen, oder sich ein anderes Opfer aussucht. Zwar ist das anfängliche Vermeidungsverhalten vom Nervensystem diktiert, aber später werden dann Hormone freigesetzt, die dieses Vermeidungsverhalten aufrechterhalten. Wärme, CO2 und Milchsäure sind wahrscheinlich die drei für Stechmücken attraktivsten Substanzen (obwohl nicht klar ist, wie das mit ihrer scheinbaren Vorliebe für Füße, Hände und Gesicht – in dieser Reihenfolge – zusammenhängt). Sie können zwar Stechmücken
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mit einem künstlichen Mix aus warmer, feuchter Luft, die Kohlendioxid und Milchsäure enthält, anlocken, aber diese Stechmücken werden die Probe nicht bestehen – das heißt, sie werden nicht landen und die Oberfläche nicht auf der Suche nach Blutgefäßen anbohren. Das ist nur ein Beweis dafür, dass es andere chemische Substanzen geben muss, die für Stechmücken attraktiv sind und in summa das vollständige menschliche Anziehungspaket ausmachen: Es gibt bislang keine im Labor hergestellte Mischung, die Stechmücken schwarmweise anlocken kann – was ein schwitzender menschlicher Körper aber ganz leicht schafft. Sie werden jedoch nach und nach identifiziert. Ein gewitzter Wissenschaftler schloss von der Vorliebe einer bestimmten Stechmückenart für die Füße von Menschen per Analogie darauf, dass dieses Insekt sich auch von Käse angezogen fühlen könnte, vor allem von Limburger Käse – wahrscheinlich deswegen, weil in beiden Fällen ähnliche Bakterienarten den typischen Geruch hervorrufen. Wir wissen also inzwischen einiges darüber, was Weibchen anzieht, aber können wir damit auch erklären, wie Mückenabwehrmittel, so genannte Repellentien, funktionieren? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Ein Mückenabwehrmittel könnte sich wie ein Film über die Fühler legen und verhindern, dass sie mit – egal welchen – Gerüchen in Kontakt kommen. Dazu müsste sich das Repellent unter Umständen direkt in spezifische Geruchsrezeptoren auf den Fühlern einklinken. Andererseits könnten Abwehrstoffe das Gegenteil tun und die Stechmücken verwirren, indem sie sie überstimulieren. Oder sie haben überhaupt nicht mit den Mücken selbst zu tun: Vielleicht verhindern Repellentien einfach, dass Gerüche Ihre Haut verlassen, sodass die Moskitos nichts mehr zu riechen haben. Ganz einfache Beobachtungen liefern uns Hinweise darauf, wie sich Moskitos verhalten, die Repellentien ausgesetzt sind. In den sechziger und siebziger Jahren beobachteten Wissenschaftler, wie weibliche Stechmücken in Luftströme hineinflogen, die, wie sie es nannten, »wirtsbezogene Stimuli« enthielten, und wieder hinausflogen. Die Weibchen schienen nicht zu reagieren, wenn sie in eine solche Luftströmung gerieten, kehrten aber sehr wohl wieder zurück, wenn sie diesen Luftstrom zufällig verlassen hatten. Geriet jedoch ein Moskitoweibchen in einen Luftstrom, der ein Repellent enthielt, wandte es
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sich entweder ab, wenn es in den Strom eintrat, oder kehrte nicht mehr zurück, wenn es ihn einmal verlassen hatte. Irgendwie veränderte also das Repellent das Verhalten der Moskitos, auch wenn man anhand dieser einfachen Beobachtungen nie genau herausfinden konnte, wie. Aber das waren die sechziger Jahre, und seitdem ist die Wissenschaft ein gutes Stück weitergekommen. Was ein ganz spezielles Repellent betrifft, so gibt es inzwischen fundierte, eindeutige Beweise, dass es eines der primären Systeme der Moskitos zum Aufspüren eines Wirten durcheinander bringt. Es handelt sich um den Mückenschutz DEET. (Nur eine Anmerkung zum Namen: DEET hieß ursprünglich N,N-Diethyl-M-Toluamid, was zumindest eine grobe Annäherung an die Initialen war. Aber dann wurde der Namen geändert, und nun heißt es N,N-Diethyl-3-Methylbenzamin, was überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit »DEET« hat, obwohl es sich um die gleiche Substanz handelt: das – bei weitem – beste Antimückenmittel, das je erfunden wurde.) Es gab nie echte Zweifel an DEETs Überlegenheit, aber dieser Status fand im Sommer 2002 eine neue Bestätigung, als eine Studie im Journal of the American Medical Association DEET mit einer Reihe von Konkurrenzprodukten verglich und herausfand, dass DEET hinsichtlich umfassenden Langzeit-Schutzes vor Moskitostichen alle anderen Repellentien übertraf. Diese Überlegenheit lässt sich in ein paar Zahlen zusammenfassen: Die höchste Konzentration an DEET schützt ungefähr fünf Stunden lang, während das nächstbeste Präparat, ein Mückenmittel auf Sojabohnenbasis, nur ungefähr zwei Stunden wirkt. Citronella hingegen ist so unwirksam, dass es Moskitos praktisch anlockt. Von einem Mittel auf Eukalyptus-Basis erfuhren die Forscher zu spät, um es gründlich untersuchen zu können, aber bei ersten Tests schien es sehr gut zu wirken. Es gibt auch andere Antimückenmittel, die in dieser Studie nicht berücksichtigt wurden, die aber in unterschiedlichen Settings bei unterschiedlichen Moskitoarten gut funktioniert haben. Es mag sein, dass eines dieser Präparate mit DEET mithalten kann, aber im Moment ist N,N-Diethyl-3-Methylbenzamin das Antimückenmittel der Wahl. Diese Ergebnisse wurden jedoch nicht so begeistert aufgenommen,
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wie Sie vielleicht denken, nicht einmal in der West-Nile-Region, denn die meisten Menschen stehen DEET sehr skeptisch gegenüber, vor allem weil es ihre Sonnenbrillen oder das Glas ihrer Uhr aufgelöst hat. DEET ist, wie sie sagen, ein starker Weichmacher, und es besteht der Verdacht, es könne das auch mit unserer Haut oder inneren Organen anstellen. Tatsächlich löst es sich direkt in der Haut auf und wird von ihr absorbiert. Es irritiert die Schleimhäute der Augen und Lippen (wenn Sie so unvorsichtig sind und es dort auftragen), und in der medizinischen Literatur wird von heftigen Reaktionen auf DEET berichtet. Aber diese Reaktionen summieren sich auf weniger als 50 im Laufe von 40 Jahren und 8 Milliarden Dosen. Drei Viertel dieser 50 medizinischen Komplikationen zogen keinerlei Folgeschäden nach sich. Ich will DEET nicht entschuldigen: Es war für einige beängstigende, ja, sogar fatale Nebenwirkungen verantwortlich, vor allem bei kleinen Kindern. Aber alles weist darauf hin, dass eine 10-ProzentLösung von DEET, die sorgfältig aufgetragen wird, kein signifikantes Gesundheitsrisiko für Kinder darstellt. Erwachsene sollten höchstens 30-prozentige Lösungen verwenden, aber das ist kein wirklicher Nachteil, auch nicht in dichten Wäldern. Eine Erhöhung der Konzentration von 30 auf 50 Prozent steigert den Effekt des Mittels nur minimal. Die Wirkung dieses Antimückenmittels ist beeindruckend. Eine in Alaska durchgeführte Studie, wo die Luft buchstäblich schwarz vor Moskitos war, zeigte, dass auf der Haut aufgetragenes DEET die Anzahl der Stiche von einem Maximum von unglaublichen, irren 3 360 Stichen in einer Stunde auf einen (!) Stich pro Stunde reduzierte. Es steht außer Zweifel: DEET wirkt, und man weiß auch ziemlich genau, warum. DEET scheint die Milchsäurerezeptoren auf den Fühlern der Stechmücken auszuschalten. Die mit diesen Rezeptoren verbundenen Nerven feuern nicht, wenn der Rezeptor der Milchsäure ausgesetzt ist. Scheinbar spielt es keine Rolle, dass sehr wohl Kohlendioxid und warme feuchte Luft, die zwei anderen wichtigen Lockfaktoren, vorhanden sind. Dadurch, dass die Milchsäurerezeptoren außer Gefecht gesetzt sind, ist das Weibchen blind für uns. Die Wirkung von DEET kann sogar am Verhalten der Stechmücken selbst abgelesen werden. Wenn eine Stechmücke in Schwaden
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von Luft hineinfliegt, die keine attraktiven Gerüche mitführen, fliegt sie irrend umher, einmal in die eine, dann wieder in die andere Richtung, wobei sie manchmal Schwenks um 90 Grad und mehr macht. Wenn sich dieselbe Stechmücke jedoch in einer Schwade mit Milchsäure befindet, bewegt sie sich im Wesentlichen aufwärts und macht maximal 45-Grad-Schwenks in jeder Richtung. Gerät sie in eine Mischung aus Lockstoffen und DEET, legt sie wieder ein zielloses Verhalten an den Tag, als würde sie den Geruch eines Ziels suchen. Sie wird von DEET nicht vertrieben – sie merkt nur nicht mehr, dass eine Beute da ist. Letzten Endes werden die Wissenschaftler wahrscheinlich irgendwann genau nachweisen können, wie DEET und diese Milchsäurerezeptoren interagieren. Sollte es eine Art Schlüssel-Schloss-Mechanismus geben, dann wäre es möglich, noch wirksamere, länger wirkende und sichere Repellentien zu entwickeln. Aber heute sind wir noch sehr weit davon entfernt, wirklich zu verstehen, wie Stechmücken uns aufspüren und wie Antimückenmittel diese Mechanismen durchkreuzen.
Echolokation – unser sechster Sinn?
Echolokation ist jene wundervolle Sinnesleistung, die es Fledermäusen und Delfinen erlaubt, zu navigieren, ohne zu sehen. Am besten wissen wir über die Echolokation bei Fledermäusen Bescheid: Sie können ein fliegendes Insekt in der Dunkelheit orten und sogar dessen Größe und Beschaffenheit abschätzen. Sie finden ihr Ziel, indem sie Ultraschalltöne von sich geben und das Echo auswerten, das die unglückliche Beute zurückwirft. Echolokation ist ein Sinn, der aufs Feinste auf das Alltags- oder besser Allnachtleben der Fledermäuse abgestimmt ist, hat aber nichts mit uns zu tun. Der Philosoph Thomas Nagel schrieb einmal einen Artikel mit dem Titel »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, in dem er behauptete, dass wir uns nie vorstellen können, wie es wäre, eine Fledermaus zu sein, weil Fledermäuse in einer durch Echolokation konstruierten Welt leben. Aber ist Echolokation tatsächlich jenseits unserer kühnsten Träume? Vielleicht nicht ganz. Einige Forscher sind heute der Ansicht, dass auch wir Echolokation nutzen könnten oder – und das wäre noch viel dramatischer – sie jetzt schon nutzen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Auch wenn man das als sechsten Sinn einstufen müsste, wäre es nicht überraschend, dass wir uns dessen nicht gewahr sind – wir verlassen uns bei unserer Orientierung so sehr auf unseren Sehsinn, dass die relativ kleine Wirkung eines reflektierten Tons in all den Informationen, die uns unsere Augen liefern, untergehen würde. Aber Menschen, die nicht sehen können, könnten vielleicht imstande sein, sich dieses Sinns zu bedienen und daraus etwas sehr Bedeutungsvolles machen. Der Gedanke, dass Menschen fähig sein könnten, sich der Echolokation zu bedienen, hat eine lange Geschichte. Es gibt jede Menge
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anekdotenhafter Geschichten, die mehr als zweihundert Jahre alt sind und von Blinden erzählen, die die Lage und Entfernung von Gegenständen, die ihnen im Weg sind, fühlen können. Aber die ersten ernst zu nehmenden und genauen Experimente wurden in den frühen vierziger Jahren an der Cornell University durchgeführt. Im ersten dieser Experimente, dessen Ergebnisse im Jahr 1944 veröffentlicht wurden, bat man zwei blinde und zwei sehende Menschen, denen die Augen verbunden wurden, sich einer Wand zu nähern und zwei Zeichen zu geben: eines, wenn sie glaubten, zum ersten Mal die Gegenwart der Wand zu spüren, und ein zweites, wenn sie sicher waren, sich der Wand so weit wie möglich genähert zu haben, ohne aber mit ihr zusammenzustoßen. Einer der beiden blinden Teilnehmer war unglaublich gut in beidem: Er konnte offenbar das Vorhandensein der Wand aus einer Entfernung von 8 Metern und mehr erspüren und sich ihr problemlos bis auf 15 Zentimeter nähern. Aber sogar die sehenden Teilnehmer konnten die Wand mit der Zeit immer besser lokalisieren, und auch wenn die Zahlen nicht so beeindruckend waren, ihre Leistung war es sehr wohl, ging man doch im Allgemeinen davon aus, dass nur jemand, der viele Jahr blind war, einen »sechsten« Sinn voll entwickeln könne. Allerdings war nicht klar, um welchen Sinn es sich dabei eigentlich handelte. Der außergewöhnlich talentierte Blinde in dieser Studie war überzeugt, dass sein Erfühlen der Wand etwas mit einem »Gesichtssehen« zu tun hat, das er fühlte, als er sich der Wand näherte. Das war nichts Neues. Im 19. Jahrhundert hatte es hin und wieder Versuche gegeben, um zu demonstrieren, dass Blinde in der Lage sind, Hindernisse auf ihrem Weg zu »finden«. Immer wieder tauchte dabei die Vermutung auf, gewisse unspezifische Sensoren im Gesicht könnten Veränderungen im Luftdruck oder Luftströme, die vom Hindernis aufgewirbelt wurden, erspüren. Manche gingen sogar so weit und behaupteten, dieser »Entfernungssinn« sei rund um Augen und Ohren am stärksten und rund um Mund und Lippen am schwächsten ausgeprägt. Aber das blieben Vermutungen, weil es niemandem gelang zu beweisen, dass ein derartiges Gesichtssehen existierte – ein Sinn, den Blinde besitzen und Sehende nicht. Die einzige vernünftige Erklärungsalternative war, dass diese Men-
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schen Schall nutzen konnten, um Gegenstände auf ihrem Weg wahrzunehmen – eine Erklärung, die andere Forscher im 19. Jahrhundert sehr stark befürworteten. Sie gingen von der Vorstellung aus, dass Schall von Oberflächen reflektiert wird und dabei Mini-Echos erzeugt, die sich in irgendeiner Weise verändern, je näher man einem Gegenstand kommt. Die Cornell-Experimente wurden so angelegt, um zwischen diesen beiden Möglichkeiten unterscheiden zu können. Die Leiter der Experimente, Milton Cotzin und Karl Dallenbach, erdachten ein bemerkenswert akribisches und umfassendes Set an Versuchen, um exakt festzustellen, was für die Teilnehmer notwendig war, damit sie die Wand vor sich finden konnten. Sie ließen die Testpersonen mit Schuhen auf nacktem Boden oder barfuß auf einem Teppich gehen oder ausgeklügelte Filzschleier tragen, um mögliche Luftzüge oder eine andere Druckeinwirkung auf dem Gesicht auszuschließen. In einem anderen Versuch mussten die Teilnehmer Ohrenstöpsel tragen, die die Intensität des Schalls reduzierten, oder – und das war der bemerkenswerteste Versuch – in einem isolierten Raum sitzen und über Kopfhörer den Geräuschen lauschen, die einer der Experimentleiter machte, während er mit einem Mikrofon in der Hand auf die Wand zuging. Die Resultate waren eindeutig: Jede Technik, die die Menge an Geräuschen, die die Teilnehmer hören konnten, reduzierte, verminderte ihre Fähigkeit, die Wand zu finden; jede Technik, die irgendwie mit dem »Gesichtssehen« in Konflikt geriet, zeitigte keine Auswirkungen auf ihre Fähigkeiten. Sogar der blinde Teilnehmer, der sich anfangs absolut sicher war, den Druck auf seinem Gesicht spüren zu können, musste sich schließlich seine Fehleinschätzung eingestehen. Die ersten Anhaltspunkte dafür ergaben sich, als sich seine Leistung drastisch zu verschlechtern begann, sobald er in Socken auf einer doppelten Lage aus Teppichen auf die Wand zuging. In diesem Fall fühlte er, dass die »Druckempfindung nirgends auch nur annähernd so stark war wie vorher«. Er musste schließlich kapitulieren, als er sich mit einem Schleier über dem Gesicht der Wand näherte und realisierte, dass er verzweifelt nach irgendwelchen Anhaltspunkten für seine Position lauschte: »Ich merke, wie ich mit den Socken am Teppich kratze, um wenigstens irgendein Geräusch zu produzieren.« Am Ende des Expe-
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riments war auch für ihn klar, dass er beim Lokalisieren der Wand mit Geräuschen gearbeitet haben musste. Karl Dallenbach, der bei diesem Experiment tonangebende Forscher, führte auch eine Reihe anderer Versuche durch: In einem Versuch wollte er bestimmen, welche Art von Frequenzen sich am besten für Echolokation eigneten (je höher, desto besser). In einem anderen wollte er herausfinden, ob es Auswirkungen auf die menschliche Fähigkeit zur Echolokation hätte, wenn man den Versuch aus dem kontrollierten Innenraumenvironment, in dem das erste Experiment stattfand, ins Freie verlagerte (es hatte keine Auswirkung). Ein Experiment, mit dem er die geeignetsten Schallfrequenzen herausfinden wollte, löste bei den Teilnehmern, von denen einige bereits am Experiment des Jahres 1944 teilgenommen hatten, ungewöhnliche Reaktionen aus. Dieses Experiment unterschied sich vom ersten dadurch, dass die Teilnehmer nicht gingen, sondern in einem separaten Raum auf einem Stuhl saßen, während sich ein Roboterlautsprecher, der sich lautlos an von der Decke hängenden Drähten bewegte, der Mauer näherte und dabei verschiedene Geräusche erzeugte. Die Teilnehmer hörten über Kopfhörer die Geräusche und hofften, Hinweise zu erhalten, ob die Wand näher kam. In Anbetracht dieses künstlichen Settings schafften sie es erstaunlich gut. Als eine Art weißes Rauschen (ein Geräusch, das alle hörbaren Frequenzen in sich vereint) auf die Wand projiziert wurde, konnten sowohl die Blinden als auch die sehenden Teilnehmer die Wand erspüren, als sie ein paar Meter entfernt war, und sie konnten sich ihr bis auf weniger als 30 Zentimeter nähern, bevor sie den Versuchsleiter baten, die Vorwärtsbewegung der Lautsprecher zu stoppen. Dieser Versuch wurde auch mit reinen Tönen durchgeführt, also mit Tönen, wie sie zum Beispiel eine Stimmgabel abgibt. In diesem Fall war das Verhalten der Probanden sehr seltsam. Entweder stießen sie mit der Wand zusammen oder sie wollten sich ihr nicht mehr weiter annähern, sobald sie einmal signalisiert hatten, dass sie die Präsenz der Wand wahrnahmen. Irgendwie lieferten diese reinen Töne nur einen Teil der Information – dass die Wand da war –, aber nicht mehr als das. Ein reiner Ton jedoch rief eine überraschende Wirkung hervor: ein extrem hoher Ton mit 10 000 Schwingungen pro Sekunde, was einer Note mehr als
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fünf Oktaven über dem mittleren C gleichkommt, also wesentlich höher als die höchste Note auf einem Klavier. Die Teilnehmer am Experiment machten sehr eigenartige Erfahrungen mit diesem hohen Ton: »Bei diesem Ton gibt es Fluktuationen, die an Wasser, das sich kräuselt, erinnern«; »der Ton wird durchdringender und schriller, wenn er sich dem Hindernis nähert«; »er schreit förmlich in der Nähe des Hindernisses«. Trotz dieser intensiven Erfahrungen waren sie sich nicht ganz sicher, welche Eigenschaft dieses Tons sie das Hindernis erspüren ließ. War es seine Lautstärke, seine Höhe oder beides? Weitere Experimente ergaben, dass es eine Veränderung in der Tonhöhe war, und die Wissenschaftler kamen zu der Erkenntnis, dass es etwas mit dem Doppler-Effekt zu tun haben müsse. Auf diesem Effekt beruht die drastische Veränderung der Tonlage eines Zugsignals oder eines hochtourigen Automotors, wenn Zug oder Auto an einem vorbeirasen. Dies geschieht, weil die Schallwellen sich aufhäufen, sobald der Zug oder das Auto näher kommen (wodurch die hohe Frequenz zustande kommt), und sich wieder ausdehnen, sobald der Zug oder das Auto an einem vorbeigefahren sind (was zu einer niedrigeren Frequenz führt). Das funktioniert bei diesen Fahrzeugen, weil sie schnell genug unterwegs sind, um signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Schallwellen zu erzeugen. Aber bei den meisten Experimenten zur Echolokation bewegen sich nur die Teilnehmer, und zwar im Gehtempo, was an sich nicht schnell genug ist, um den Doppler-Effekt hervorzurufen. Wie jedoch Dallenbach unterstrich, bewegen sich in diesem Experiment sowohl Schallquelle (die Schritte oder der Lautsprecher) als auch Empfänger (das Ohr oder das Mikrofon) auf die Wand zu, sodass die tatsächliche Geschwindigkeit sich verdoppelt. Seine Berechnungen zeigten, dass der einzige reine Ton, mit dem sie experimentiert hatten und der bei dieser Geschwindigkeit möglicherweise eine unterscheidbare Veränderung in der Höhenlage hervorrufen hätte können, genau jener war, der tatsächlich funktioniert hatte: ein Ton mit 10 000 Schwingungen pro Sekunde. Natürlich gehen wir normalerweise nicht umher, um hochfrequenten reinen Töne zu lauschen, aber wir hören Töne, wie zum Beispiel Schritte, die eine Mischung verschiede-
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ner Frequenzen darstellen, wobei manche sicher im höherfrequenten Bereich angesiedelt sind. Diese Versuche, die schon ein halbes Jahrhundert zurückliegen, schienen kein besonderes Interesse an der menschlichen Echolokation bewirkt zu haben. Es musste ein weiteres Jahrzehnt vergehen, bis der nächste Forschungsbericht zum Thema veröffentlicht wurde, diesmal von Winthrop Kellogg an der Florida State University. Kellogg testete die Fähigkeit seiner Probanden, Distanz, Größe und Oberflächenbeschaffenheit von Gegenständen zu beurteilen, die vor ihnen aufgestellt wurden, während sie selbst saßen. Die beiden blinden und die beiden sehenden Versuchsteilnehmer wären sicher sehr amüsiert gewesen, hätten sie die Szene sehen können: Scheiben aus Sperrholz mit 0,64 Zentimeter Durchmesser hingen an Seilen, und diese hingen wiederum an Fahrradreifen, sodass die Scheiben unvermittelt näher an die Gesichter der Teilnehmer oder weiter von ihnen weg bewegt werden konnten. Da es keine Trittgeräusche gab, die Echos hätten hervorrufen können, durften die Teilnehmer bei diesem Experiment jede beliebige Art von Lärm erzeugen: Einige schnippten mit den Fingern, manche zischten oder schnalzten mit der Zunge oder pfiffen, aber die meisten sprachen oder sangen. (Alle diese Geräusche enthalten hohe Frequenzen, die beim Zurückverfolgen von Echos am hilfreichsten sind.) Die blinden Teilnehmer benutzten außerdem noch ein Verhalten, das auch Delfine an den Tag legen, wenn sie etwas tun, was Kellogg »auditorisches Scannen« nannte: Das war offenbar ein Versuch, die Entfernung der hölzernen Scheiben besser abzuschätzen, indem man den Zeitpunkt der Ankunft des Schalls in einem Ohr mit dem im anderen Ohr vergleicht. Kellogg zeigte, dass die blinden Probanden nicht nur große Geschicklichkeit bei der Bestimmung der Entfernung der Scheiben zeigten, sondern auch die Unterschiede zwischen Scheiben aus unterschiedlichen Materialien erkennen konnten. Eine Testperson konnte unterscheiden, wann sich eine Scheibe mit 30 Zentimeter Durchmesser um ungefähr 10 Zentimeter näherte beziehungsweise entfernte, und beide konnten zwischen Scheiben aus Denim, Holz und Metall unterscheiden. An all diesen Experimenten waren blinde Menschen beteiligt, die
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seit Jahren Echolokation benutzten (auch wenn sie sich dessen gar nicht bewusst sind), oder sehende Menschen, die sowohl ein langwieriges Training hinter sich hatten als auch Erfahrungen mit Experimenten mitbrachten und die daher die Chance gehabt hatten, ihre latenten Fähigkeiten zur Echolokation zu entwickeln. Aber was ist mit uns? Setzen wir in unserem Alltag ebenfalls auf irgendeine Weise Echolokation ein? Und wenn ja, sind wir uns dessen bewusst? Eric Schwitzgebel von der University of California Riverside vertritt die Meinung, dass wir alle mit Echolokation arbeiten, wobei er sich aber fast sicher ist, dass wir es ohne unser Wissen tun. Er argumentierte, dass selbst die Teilnehmer an den Experimenten der vierziger Jahre nicht wirklich sicher sagen konnten, wie sie eigentlich die Gegenwart einer sich nähernden Wand wahrnahmen, und dass derjenige, der dies am besten beherrschte, zuerst dachte, er setze »Gesichtssehen« ein. Schwitzgebel betont, dass ein massiver Unterschied in unserer akustischen Erfahrung besteht, je nachdem, ob wir eine geflieste Halle durchschreiten oder ob wir über die Fliesen in einem Badezimmer gehen: Wenn ein Geräusch durch das andere ausgetauscht würde, so wäre das für uns sehr seltsam. Schwitzgebel gibt auch Folgendes zu bedenken: Angenommen, wir öffnen eine Tür und gehen einen vertrauten Gang entlang, ohne zu wissen, dass jemand einen beladenen Stuhl im Gang direkt hinter uns vergessen hat, so würden wir diesen Stuhl trotzdem entdecken, weil wir eine Veränderung im Klang des Ganges wahrnehmen können. Im Kleinen können Sie Echolokation selbst ausprobieren: Halten Sie Ihre Hand ungefähr eine Armlänge vor Ihr Gesicht und bewegen Sie sie dann langsam in Richtung Gesicht, während Sie ein zischendes Geräusch von sich geben. Sie werden bemerken, dass sich bei einer bestimmten Entfernung das zischende Geräusch zu verändern beginnt und sich noch weiter verändert, wenn Sie mit der Hand näher zu Ihrem Gesicht kommen. Die Veränderung des Geräuschs, die Sie wahrnehmen, ist relativ komplex: Sie wird »Ripple-Noise-Pitch« genannt und entsteht dadurch, dass das ausgesendete Zischen ständig auf verschiedene Weise mit dem wiederkehrenden Echo interferiert, während sich Ihre Hand dem Gesicht nähert. Zugegebenermaßen ist es etwas ganz anderes, ein zischendes Ge-
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räusch auf unsere Hand hin abzugeben, als uns lediglich auf unsere Ohren zu verlassen, um beim Gehen Zusammenstöße zu vermeiden. Aber zumindest legt es den Schluss nahe, dass wir uns bis zu einem gewissen Grad ständig der Echolokation bedienen können. Dabei tun wir vielleicht weitaus mehr, als lediglich das Echo unserer Stimmen oder Schritte zu verfolgen, das von einer Wand vor uns zurückgeworfen wird. Egal, was Sie tagsüber tun, es gibt unzählige Schallquellen in Ihrer Umgebung, die einen liegen näher, die anderen sind weiter entfernt, einige decken den Großteil des für uns wahrnehmbaren Frequenzspektrums ab, andere hingegen enthalten nur einige wenige Frequenzen. Um Echolokation nutzen zu können, muss das Gehirn in der Lage sein, etwas Relevantes aus dieser Fülle an Information herausfiltern zu können. Die beschriebenen Experimente lassen uns vermuten, dass wir dazu auch imstande sind, wenn auch in einem auf Laborsituationen beschränkten Maße. Die nächste Herausforderung besteht nun darin, zu zeigen, dass wir auch bei offenen Augen unseren Weg mit unseren Ohren »sehen« können.
Es ist Zeit – du musst jetzt aufwachen
Vor mehr als hundert Jahren schrieb der große amerikanische Psychologe William James: »Mein ganzes Leben war ich über die Exaktheit erstaunt, mit der ich Nacht um Nacht und Morgen um Morgen zur genau gleichen Minute aufwache, sobald es mir einmal zufällig zur Gewohnheit geworden ist ... Nachdem ich lange im Bett wach gelegen bin, stehe ich plötzlich auf, ohne die Zeit zu wissen, und tage- und wochenlang werde ich dann jeden Tag um exakt die gleiche Zeit aufwachen, als ob dies von irgendeinem inneren physiologischen Prozess ausgelöst würde, der einen inneren Countdown auslöst.« James beschrieb hier ein Phänomen, das offenbar nicht nur auf ihn zutrifft: Die Fähigkeit, ohne Wecker zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Wir alle kennen Menschen, die behaupten, das zu können – die Frage ist nur, ob sie sich etwas vormachen (indem sie glauben, dass sie bereits tatsächlich wach waren, als der Wecker läutete, oder indem sie x-mal pro Nacht aufwachen, das letzte Mal eben genau vor dem Läuten des Weckers) oder ob es einen unabhängigen Beweis dafür gibt, dass zumindest manche Menschen diese Fähigkeit besitzen. Einer der ersten Versuche, dies genau – und relativ objektiv – zu untersuchen, wurde vom britischen Arzt Winslow Hall in The Journal of Mental Disease im Jahr 1927 beschrieben (obwohl andere schon Jahrzehnte vorher Untersuchungen dazu angestellt hatten). Er hatte seine eigene Fähigkeit, aufzuwachen umfassend getestet, wobei er manche Tests schon zehn Jahre vor der Veröffentlichung der Studie begonnen hatte. Seine Berichte sind ergreifend zu lesen, weil er zugibt, dass ihn »körperliche Schmerzen« normalerweise mehrmals pro Nacht aufweckten; dieses häufige Aufwachen – das nichts damit zu tun hatte, dass eine innere Uhr die Stunden bis zum Aufwachen zählt
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– machte die Interpretation seiner Resultate schwieriger. Aber Hall berichtete, dass er bei mehr als der Hälfte von gut hundert Versuchen innerhalb von 15 Minuten der festgesetzten Zeit aufwachte und 18mal zur exakt festgelegten Zeit. Das ist ganz schön beeindruckend, aber dieser Bericht illustriert eine der frustrierenden Seiten dieser Studien: Sagt die Tatsache, dass Winslow Hall aufwachen konnte, wann er wollte, irgendetwas über den Rest von uns aus? Ich bin mir da nicht so sicher. Einerseits schien Hall über ein ungewöhnlich gutes Zeitgefühl zu verfügen, egal, ob wach oder im Schlaf. In einem Experiment versuchten er und drei Freunde, die Tageszeit zu erraten. Als sie das Signal dazu erhielten, gaben sie sich bis zu fünf Sekunden Zeit, um zu erraten, wie spät es war. Später beschlossen sie, diese Fünfsekundenfrist zu streichen und sofort zu sagen, wie spät es ihrer Einschätzung nach sei. Ihre Ergebnisse waren ohne diese Nachdenkfrist sogar ein bisschen besser: In 45 Prozent der Fälle konnten sie den Zeitpunkt auf drei Minuten genau erraten, bei 10 Prozent lagen sie ganz richtig. Bei der Verzögerung um fünf Sekunden betrugen die Ergebnisse 41 beziehungsweise 9 Prozent. Hall versuchte sich das Zifferblatt seiner Uhr vorzustellen, während sie noch in seiner Tasche lag. »Am 19. Oktober 1917 stellte ich mir vor, wie der Stundenzeiger sich der Fünf näherte. Als ich versuchte, ein Bild des Minutenzeigers zu sehen, war ich überzeugt, es sei 22 Minuten vor 5 Uhr; daraufhin konnte ich in meiner Vorstellung sehen, dass der Minutenzeiger dementsprechend positioniert war. Als ich tatsächlich auf die Uhr schaute, zeigte sie exakt 22 Minuten vor 5 Uhr.« Nach seinen eigenen Berechnungen konnte Hall in mehr als 40 Prozent der Fälle die Zeit auf drei Minuten genau erraten, eine Trefferquote, die in etwa den ersten Experimenten mit seinen Freunden vergleichbar ist. Halls Experiment, so beachtlich es ist, lässt einige Details des Prozedere außer Acht, die für die Beurteilung der Ergebnisse aber wichtig wären: Auf welche Weise wurden die vier Teilnehmer am Experiment genau »herausgefordert«, die Zeit zu erraten, und welche Art von Hinweisen auf die Zeit war ihnen zugänglich, sieht man von ihrer inneren Uhr ab? Trotzdem zeigen seine Ergebnisse Übereinstimmungen mit Versu-
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chen, die seitdem angestellt wurden. Wie Hall selbst schrieb: »Ein Zeitsinn existiert.« Was bei Hall jedoch einzigartig war: Er verließ sich in ungewöhnlichem Maße auf die Visualisierung des Zifferblatts seiner Uhr. Er tat dies sowohl bei seinen Experimenten tagsüber als auch bevor er zu Bett ging. In keinem der späteren Experimente wurde je eine ähnliche Technik angewandt, also ist es schwer zu beurteilen, ob diese Methode auch anderen Menschen helfen könnte oder ob es einfach nur Halls Methode war, seiner mentalen Zeit zu folgen. Ganz offenbar war aber die Vorstellung für ihn sehr wichtig. In einem Bericht über ein erfolgreiches Aufwachen (10. Juli 1917, 4 Uhr 30) gibt er an, mitten in einem Traum eine rosa Tafel gesehen zu haben, auf der mit handschriftlichen schwarzen Buchstaben das Wort Wahrheit stand. Dieses Bild weckte ihn auf, aber er wunderte sich später, ob ein Bild seiner Uhr nicht direkter wäre. Es gab andere Hinweise darauf, dass die Vorstellung eine wichtige Rolle spielt: In einer deutschen Studie aus den zwanziger Jahren berichteten einige Teilnehmer, dass sie mitten in einem Traum die Worte »Es ist Zeit, du musst jetzt aufwachen« gehört hatten. Seit Halls Bericht fanden viele Untersuchungen der Fähigkeit, zu einer festgelegten Zeit aufzuwachen, statt. Alle zeigen, dass einige Menschen es manchmal schaffen, während es bei anderen ein hoffnungsloses Unterfangen ist und sie die festgelegte Zeit um Stunden verpassen. Bei keiner Studie gab es Personen, die jeden Morgen exakt zur festgelegten Zeit aufwachen konnten. Natürlich ist auch der Begriff »exakt« relativ. Ob man fünf Minuten vor oder nach dem angepeilten Zeitpunkt aufwacht, ist normalerweise irrelevant, und diese Art von Genauigkeit scheint relativ weit verbreitet zu sein. Aber es besteht nach wie vor eine Kontroverse darüber, ob diese Fähigkeit tatsächlich so verbreitet ist, wie es scheint. Ein Skeptiker, Harold Zepelin, wies darauf hin, dass frühe Studien, wie die von Winslow Hall, mit Vorsicht zu genießen seien, weil bei ihnen eine unabhängige Bestätigung der Resultate durch außenstehende Beobachter fehle. Zepelin argumentierte weiter, dass moderne Studien in Schlaflabors gezeigt haben, dass ein Aufwachen aus eigener Kraft in den meisten Fällen in einer Phase schneller Augenbewegungen
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(»Rapid-Eye-Movement«, REM oder Träumen) geschieht, also in einer Phase, in der ein Aufwachen ohnehin wahrscheinlicher ist und die noch dazu eine Phase gesteigerter Bewusstheit ist, was es vielleicht leichter macht, sich an die Aufgabe zu erinnern. Ein normaler Nachtschlaf umfasst einige REM-Perioden, wobei eine jeweils länger als die vorherige ist. Dadurch wird es im Lauf der Nacht immer wahrscheinlicher, dass REM-Schlaf und Aufwachen zeitlich zusammenfallen. Zepelin vermutet, dass das, was wie ein Aufwachen auf einen inneren Befehl hin ausschaut, in Wirklichkeit ein Erwachen aus einer REMPhase ist, das ohnehin passiert wäre. Vielleicht glauben Sie jetzt, dass es ja nicht besonders schwierig sein könne, festzustellen, ob es sich dabei tatsächlich um einen Zufall handelt oder nicht: Man muss doch lediglich herausfinden, wie oft Leute tatsächlich zur festgelegten Zeit aufwachen und wie wahrscheinlich es ist, dass sie einfach nur durch Zufall in diesem Moment aufwachen. Das Problem ist nur, dass der Schlaf von Nacht zu Nacht anders verläuft, und selbst wenn Sie zu jenen Menschen gehören, die einige Male pro Nacht aufwachen, ist es doch extrem unwahrscheinlich, dass sie jede Nacht zur gleichen Zeit aufwachen. In einer Nacht erwischen Sie bei einem Aufwachen vielleicht wirklich die anvisierte Zeit, in der nächsten aber schon wieder nicht. Vor allem aber legen jahrzehntelange Studien den Schluss nahe, dass Menschen öfter zum vorgenommenen Zeitpunkt aufwachen, als man erwarten würde, wenn es purer Zufall wäre. Irgendetwas ist hier im Gange. Auch andere Charakteristika dieses Phänomens haben sich im Lauf der Experimente herauskristallisiert. Eines dieser Charakteristika ist, dass Leute zu wissen scheinen, ob sie diese Fähigkeit haben oder nicht – der Erfolg scheint mit den Erwartungen dieser Personen übereinzustimmen. Außerdem scheint Motivation eine wichtige Rolle zu spielen. In einem israelischen Experiment versuchten sieben Teilnehmer in zwei aufeinander folgenden Nächten zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Dann verbrachten die zwei Besten – jene, die es auf zehn Minuten genau schafften – weitere zwei Wochen im Schlaflabor, aber ihre Treffsicherheit sank drastisch, bis auf einen Mittelwert von fast 80 Minuten Abweichung. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass ich umso eher mit oder vor dem Wecker aufwache, je wichtiger (oder
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angstbesetzter) das Ereignis ist; das israelische Experiment scheint diesen Eindruck zu bekräftigen. Ein zweites verblüffendes Merkmal besteht darin, dass hier diese Erfolgsrate ungefähr gleich groß ist wie bei Personen, die versuchen abzuschätzen, wie viel Zeit vergangen ist, während sie wachlagen: Auch hier liegen ungefähr 40 Prozent in ihren Schätzungen nur ein paar Minuten daneben. Dies wiederum lässt darauf schließen, dass es eine Art inneren Schrittmacher gibt, der durchgehend 24 Stunden pro Tag, und das sieben Tage pro Woche, funktioniert. Eines der faszinierendsten Experimente zur Erforschung der Fähigkeit, das Vergehen von Zeit zu schätzen, berücksichtigte daher auch die Zeitschätzung im wachen und im schlafenden Zustand. Dieses Experiment fand 1931 und 1932 statt. Dabei wurden zwei Personen nacheinander in einem Isolationsraum der Cornell University untergebracht, wo sie sehr lange ausharren mussten, damit man erkennen konnte, wie gut sie das Vergehen der Zeit tatsächlich einschätzten. Der Raum war einfach eingerichtet: ein Bett, ein Tisch, ein Sessel und ein Waschbecken. Die Toilette, Wasser und Essen befanden sich außerhalb des Raums auf einem Gang. Die Kommunikation zwischen Versuchsperson und Wissenschaftlern erfolgte über eine Glocke und ein »Sprechrohr« und war immer dann erlaubt, wenn die Versuchsperson auf den Gang gehen wollte. Diese auf Vorwarnung basierende Kommunikation verhinderte jedes zufällige Zusammentreffen zwischen Versuchsperson und Experimentator, denn das hätte den Versuchspersonen Hinweise auf die tatsächliche Uhrzeit geben können. Die Wissenschaftler überwachten die Aktivitäten der beiden Versuchspersonen, die ihrerseits regelmäßig schätzten, wie viel Zeit bereits vergangen war. Es gab allerdings Unterschiede in der jeweiligen Versuchsanordnung. Der erste Teilnehmer, Herr Glanville, wurde gebeten, ungefähr jede halbe bis ganze Stunde festzuhalten, wie spät es seiner Meinung nach ungefähr war, und aufzuschreiben, warum er zu dieser Einschätzung gelangt war. Seine Aufzeichnungen sollte er bei Gelegenheit im Gang zurücklassen. Glanville durfte alles niederschreiben, was er wollte, was dazu führte, dass er etliche Briefe und sogar einen Teil einer Geschichte verfasste. Die zweite Versuchsper-
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son, Herr MacLeod, wurde kürzer gehalten: Da die Experimentatoren das Gefühl hatten, dass Glanville zu viel Zeit mit dem Schreiben verbracht hatte, wurde MacLeod instruiert, nicht zu schreiben. Er diktierte die Zeitschätzungen immer dann in ein Aufnahmegerät, wenn er dazu aufgefordert wurde, und durfte die Zeiten nicht in Form von Uhrzeiten festhalten, sondern musste schätzen, wie viele Minuten seit seinem letzten Bericht vergangen waren. Zwei Dinge waren bei diesem Experiment besonders beeindruckend: Erstens die gesamte Zeit, die die beiden Versuchspersonen in diesem Raum verbrachten: Glanville verbrachte dort 85 Stunden und 50 Minuten, MacLeod 47 Stunden und 56 Minuten. Im Fall von MacLeod ist das praktisch ein Wochenende, bei Glanville sogar ein verlängertes Wochenende. Aber ihre Schätzungen waren wirklich erstaunlich. Obwohl beide während des Verlaufs des Experiments in ihren Schätzungen schwankten und manchmal drei, vier oder sogar mehr Stunden von der tatsächlichen Zeit abwichen, bestimmten sie den Zeitpunkt des Endes des Experiments mit unglaublicher Genauigkeit. Glanville lag nur 40 Minuten daneben, MacLeod 26 Minuten. In beiden Fällen betrug die Abweichung weniger als 1 Prozent – auch wenn Glanville in der Nachbesprechung zugab, dass er nicht überrascht gewesen wäre, wenn er einen halben Tag zu viel oder zu wenig geschätzt hätte. Diese Studie lieferte eine Fülle frappierender Details, aber eines war für die Fähigkeit, zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen, besonders relevant: Die Schätzungen der Uhrzeit (»Ich habe 8 Uhr 30 angegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei 8 Uhr 30«) waren durchgehend korrekter als die der Zeitspanne, die seit der letzten Schätzung vergangen war (»Ich würde sagen, dass ungefähr zwei Stunden seit dem Mittagessen vergangen sind ... aber es würde mich nicht wundern, wenn ich mich um einige Stunden in beide Richtungen geirrt hätte.«) Wie die Autoren der Studie betonten, war die »allgemeine Orientierung« in der Zeit wesentlich genauer als Schätzungen einer bestimmten Zeitspanne. Das Aufwachen zum richtigen Zeitpunkt könnte man also leichter durch eine Art allgemeine Zeitorientierung während des Schlafs – etwas wie eine biologische Uhr – erklären als durch die Annahme, man würde zum Beispiel irgendwie die Anhäu-
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fung verstrichener Zeit von einem Aufwachen zum nächsten mitverfolgen. Einen flüchtigen Eindruck von dieser biologischen Uhr vermittelt eine Studie, die 1999 in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde. Ein Team der Universität Lübeck berichtete, dass bei Versuchspersonen, denen man ankündigte, man würde sie um 6 Uhr morgens wecken, der Pegel des Stresshormons ACTH (adrenocorticotropes Hormon) ungefähr eine Stunde vor dem Aufwachen dramatisch anzusteigen begann. Wurden die gleichen Versuchspersonen hingegen ohne Vorwarnung geweckt, verzeichneten sie keinen Anstieg des Hormonspiegels. Diese hormonelle Veränderung könnte der Trigger für das Aufwachen ohne Hilfsmittel sein. Man wusste bereits, dass ACTH beim Aufwachen mitspielt, da der ACTH-Spiegel, aber auch der eines anderen Hormons, Cortisol, gegen Ende des Schlafs langsam ansteigt und den Tageshöchstwert im Moment des Aufwachens erreicht. Diese Hormone werden auch abgegeben, wenn man Stress erwartet. Tatsächlich stiegen bei diesem Experiment beide Hormone bei jenen Versuchspersonen sofort an, die ohne Vorwarnung um 6 Uhr geweckt worden waren. Die Autoren sind der Meinung, dass diese zweifache Steigerung des Hormonspiegels eine Stressreaktion auf das überraschende Aufwachen war. Dieses Experiment lieferte den allerersten Beweis dafür, dass Aufwachen, bevor der Wecker läutet, tatsächlich eine chemische Basis hat, die sich zumindest eine Stunde vor der angestrebten Aufwachzeit herausbildet. In diesem Sinn ist dies der erste »harte« Beweis dafür, dass es in unserem Gehirn eine Uhr gibt, die Tag und Nacht tickt, egal ob wir wachen oder schlafen. Man könnte jetzt sogar spekulieren, dass wir immer dann, wenn rechtzeitiges Aufwachen wirklich wichtig ist, vermehrt Stress empfinden und der Stresshormonspiegel dementsprechend ansteigt. In Kombination mit dem natürlichen Anstieg von ACTH, der sich einstellt, wenn wir zu einer gewissen Zeit aufwachen wollen, könnte das zu einem sehr unruhigen Schlaf führen, bei dem man immer wieder zu früh aufwacht. Das Ganze ist ein bemerkenswertes, wenn auch schwer fassbares Phänomen. Es zeigt, dass sich das Gehirn während des Schlafs nicht nur an einen Befehl erinnern kann, sondern dass es diesen Befehl – auf
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irgendeine noch unentdeckte Art und Weise – mit dem Ticken einer biologischen Uhr verbinden und so das Aufwachen auslösen kann. Wie könnte das funktionieren? Es gibt nur äußerst vage Annahmen, zum Beispiel die Vorstellung, dass hier zumindest zwei Systeme am Werk sind: eines, das in der Erwartung des Aufwachens einen leichteren Schlaf bewirkt, und eines, das die Zeit in gewissen Abständen von der biologischen Uhr abliest, dann beides verbindet und das Aufwachen auslöst. Die Tatsache, dass alles während des Schlafs passiert, gibt Rätsel auf. Im Unterschied zu Winslow Hall wird es meiner Meinung nach den meisten von uns, die glauben, von allein zu einer bestimmten Zeit aufwachen zu können, nicht so gut gelingen, auch tagsüber, bei wachem Bewusstsein, die korrekte Uhrzeit zu erraten. Vielleicht sollte dieser Aspekt bei den nächsten Experimenten untersucht werden. Solche Versuche wären weniger kompliziert als Versuche mit dem Aufwachen und könnten mit Dutzenden von Personen gleichzeitig durchgeführt werden. Vielleicht könnten sie zeigen, wie genau unsere innere Zeitmessung sein kann, selbst wenn sie sich gegenüber der ständigen Aktivität eines wachen Gehirns behaupten muss.
Die Touristenillusion
Eine meiner erstaunlichsten – und beunruhigendsten – Erfahrungen machte ich, als ich mit dem Auto eine mir fremde Stadt besuchte und für die Heimfahrt dieselbe Strecke wie für die Hinfahrt wählte. Die Hinfahrt scheint immer länger zu dauern als die Rückfahrt – und zwar nicht nur ein bisschen länger, sondern sehr viel länger. Ich erinnere mich noch sehr eindringlich daran, wie ich vor ein paar Jahren im Sommer mit dem Auto in eine mir unbekannte Stadt im östlichen Ontario fuhr. Bei jeder Kurve der Straße, die an einem See entlang führte, glaubte ich, den Bestimmungsort unmittelbar vor mir zu sehen. Bei jedem Hügel hoffte ich, den Blick auf einen Kirchturm zu erhaschen, und doch fuhr ich und fuhr ich und fuhr ich, ohne dass ein Ende der Felder auf der einen Seite der Straße und des Seeufers auf der anderen in Sicht war. Als ich jedoch am darauf folgenden Tag zurückfuhr, hatte ich einen vollkommen anderen Eindruck: Es war eine kurzweilige Fahrt, bei der keine Spur von Spannung, Unsicherheit oder Überraschung aufkam. Dieser Effekt ist vor allem dann wirklich überraschend, wenn Sie mit dem Auto unterwegs sind, aber er stellt sich auch ein, wenn Sie mit dem Rad fahren, ja, sogar wenn Sie zu Fuß gehen; die Geschwindigkeit ist also weniger wichtig als die Tatsache, dass Sie einen Bestimmungsort haben. Da die Bezeichnung »Hinfahrt/Rückfahrt-Diskrepanz« ein bisschen schwerfällig ist, habe ich dieses Phänomen »Touristenillusion« genannt – sie funktioniert immer dann, wenn die Hinfahrt an einen Ort führt, von dem man nicht exakt weiß, wie weit er entfernt liegt, und die Rückfahrt auf derselben Route wie die Hinfahrt erfolgt. Solange die Reisegeschwindigkeit mehr oder weniger gleich bleibt, ist dieser Effekt erstaunlich deutlich, ja, sogar schockie-
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rend, und bedeutet eine drastische Störung der menschlichen Fähigkeit, Zeitspannen zu schätzen. Leider ist es ziemlich knifflig, genau zu erklären, warum die Rückfahrt so viel kürzer zu sein scheint als die Hinfahrt. Im Unterschied zu visuellen Illusionen, bei denen man die Erfahrung beliebig oft wiederholen kann, ist diese Illusion jedes Mal eine andere und kann per definitionem nicht exakt wiederholt werden. Zweitens ist auch ein psychologisches Labor bei der Erklärung des Phänomens keine große Hilfe, teils deswegen, weil die Erfahrung normalerweise Stunden dauert, also eine für ein Experiment unbequem lange Dauer – selbst Erstsemester in Psychologie haben ihre Schmerzgrenze. Trotzdem gibt es einige Forschungsarbeiten, die uns Hinweise darauf geben, was dabei vor sich geht. Erstens scheint ein wesentlicher Teil der Touristenillusion darin zu bestehen, dass man nicht weiß, wo genau und wie weit entfernt der Zielort liegt. Man muss ja nicht gleich überhaupt keine Vorstellung von der Distanz oder Lage des Zielorts haben – normalerweise wissen Sie ungefähr, wohin Sie fahren und wann Sie dort ankommen sollten –, aber sie funktioniert nicht annähernd so gut, wenn Sie über ein detailliertes Wissen verfügen, wenn Sie also eine Karte benutzen oder eine Reihe von Fixpunkten kennen. Die Fahrt muss etwas Geheimnisvolles an sich haben, was dazu führt, dass Sie sehr genau auf jedes Detail der Landschaft, durch die Sie fahren, achten. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass eine gewisse Erwartungshaltung und Antizipation sowie die Aufmerksamkeit eine Rolle bei der auf der Hinfahrt auftretenden Zeitdehnung spielen, während die Tatsache, dass diese drei Faktoren auf der Rückfahrt fehlen und ich gewisse inzwischen bekannte Merkmale erkenne, wahrscheinlich einen Einfluss auf die Zeitwahrnehmung bei der Rückfahrt hat. Die Frage ist nun, ob diese Faktoren tatsächlich eine Rolle spielen, und wenn ja, ob sie unsere Wahrnehmung von Zeit beeinflussen. Wir haben eine innere Uhr – unsere biologische Uhr –, aber die geht nicht immer im exakt gleichen Rhythmus. Die Vorgänge in unserem Gehirn, die Medikamente, die wir einnehmen, ja, sogar unser allgemeiner Gesundheitszustand können unsere Einschätzung von Zeit
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Die Geschwindigkeit des Honigs
beeinflussen. Eine der anschaulichsten Demonstrationen einer solchen Veränderung dieser inneren Uhr lieferte der Biochemiker Hudson Hoagland in den dreißiger Jahren, als er bemerkte, dass seine Frau, die mit 40 Grad Fieber im Bett lag, die Zeit völlig falsch einzuschätzen schien. Sie bat ihn, in die Apotheke zu gehen, und obwohl er nur 20 Minuten ausblieb, war sie davon überzeugt, dass er viel länger weg gewesen sein musste. Hoagland, der durch und durch Wissenschaftler war, experimentierte dann mit dem Zeitgefühl seiner Frau: Er bat sie, 1 Minute abzuschätzen, indem sie bis 60 zählte, Sekunde um Sekunde. Je höher das Fieber stieg, desto schneller zählte sie. Scheinbar beschleunigte das Fieber die biologische Uhr (chemische Reaktionen laufen bei höheren Temperaturen tatsächlich schneller ab), sodass ihre Uhr schneller als gewöhnlich tickte, als er in die Apotheke gegangen war, was bei ihr den Eindruck erweckt hatte, er sei viel länger als 20 Minuten außer Haus gewesen. Ich nehme an, Sie würden genau diese Illusion erleben, wenn Sie auf der Hinfahrt Fieber hätten, auf der Rückfahrt aber wieder gesund wären. Aber offensichtlich gehen die meisten dieser Experimente nicht von dieser Basis aus, und es ist tatsächlich eher unwahrscheinlich, dass dieser besondere Zeitmesser bei dieser Illusion überhaupt mitspielt. Es scheint, dass hier weniger eine relativ präzise biologische Uhr gestört ist, sondern etwas Ungenaueres am Werk ist, ein »Zeitsinn« und nicht ein tatsächlicher Zeitmesser. Am genauesten wurde die Touristenillusion bei Experimenten nachgestellt, die versuchten, Gedächtnis und Aufmerksamkeit mit unserer Schätzung von Zeit zu verbinden. In den späten sechziger Jahren benutzte der Psychologe Robert Ornstein eine Computermetapher, um zu erklären, wie wir »Dauer« schätzen, also die Menge Zeit, die eine Erfahrung oder eine Reihe von Ereignissen zu brauchen scheinen: Wenn Sie regelmäßig Information in einen Computer einspeisen und wissen, wie diese Information im Computer gespeichert wird, können Sie abschätzen, wie viel Speicherplatz von dieser Information belegt wird. Die bloße Menge an Information und deren Komplexität bestimmen, wie viel Speicherplatz gebraucht wird. Ornstein geht davon aus, dass bei Zunahme des benötigten Speicherplatzes parallel dazu die scheinbare Dauer des Prozesses zunimmt. Das würde bedeuten,
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dass die Hinreise, die ja neu ist, voller neuer Informationen ist, im Unterschied zur Rückreise, bei der man lediglich bereits Bekanntes wiedersieht. Ornstein betonte aber ausdrücklich, dass die Art und Weise, in der Information gespeichert wird, genauso wichtig ist wie die Menge an Information selbst. Zum Beispiel müssen wir uns anstrengen, um uns die Ziffernfolge 186719452002 zu merken, es sei denn, wir wissen, dass es sich um das Jahr der Gründung der kanadischen Föderation, des Endes des Zweiten Weltkriegs und der Goldmedaille für Kanada im Eishockey in Salt Lake City handelt. Sobald Sie den Code kennen, brauchen Sie weniger Speicherplatz; und wenn Sie sich viele solcher sinnvollen Ziffernkombinationen merken müssen, dann hätten Sie den Eindruck, dafür weniger Zeit zu brauchen, als wenn Sie jede einzelne als Folge von Ziffern speichern müssten, die nichts miteinander zu tun haben. Eines meiner Ornsteinschen Lieblingsexperimente veranschaulicht auch sehr gut, worauf er hinaus will. Studenten, die sich freiwillig gemeldet hatten, hörten zwei unterschiedliche Audiobänder mit einer Reihe von Alltagsgeräuschen, zum Beispiel mit dem Geräusch einer Schreibmaschinentype, die die Walze berührt, oder einer schnellen Drehung dieser Walze, das Zuziehen eines Reißverschlusses, das Zerreißen von Papier oder das Geräusch, das entsteht, wenn man über den Hals einer Bierflasche bläst (nicht irgendeiner Bierflasche, sondern eines Pilsner Urquells). Abgesehen davon, dass Studenten heutzutage die ersten beiden Geräusche gar nicht mehr wiedererkennen würden (während ihnen letzteres Geräusch wohl nur allzu bekannt wäre), arrangierte Ornstein die Geräusche auf zwei verschiedene Arten: Auf dem ersten Band wurde jedes Geräusch 20-mal in Folge wiederholt, bis alle zehn Geräusche abgespielt waren; auf dem zweiten Band wurden die Geräusche in zufälliger Reihenfolge abgespielt, bis die Studenten insgesamt ebenfalls wieder 200 Geräusche gehört hatten. In beiden Versionen war die Gesamtmenge an Information identisch, sie war nur einmal auf simplere und einmal auf kompliziertere Weise arrangiert. Die Zufallsserie wurde als ungefähr ein Drittel länger eingeschätzt als die andere, was die Annahme bestätigte, dass die Komplexität der Information die scheinbare Dauer bestimmt.
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Bei Ornsteins Experimenten wurden die Teilnehmer nach Beendigung des Experiments gebeten zu beurteilen, wie lang das Experiment gedauert hatte. Das ist ein wichtiger Punkt: Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Sie gebeten werden, die Dauer eines Experiments nach Beendigung des Experiments zu beurteilen oder während des laufenden Experiments. Es ist wichtig, das auseinander zu halten, weil hier auf den ersten Blick ein Widerspruch zu bestehen scheint. »Die Zeit verfliegt, wenn Sie Spaß haben.« Diese Binsenwahrheit geht davon aus, dass die Zeit umso schneller zu vergehen scheint, je interessanter, spannender (und lustiger) die Aktivität ist, mit der man die Zeit verbringt. Das würde bedeuten, dass die scheinbare Dauer dieser Aktivität geringer und nicht größer wäre, aber Ornsteins Experimente (und viele andere, die seitdem durchgeführt wurden) konnten zeigen, dass die Aktivität länger und nicht kürzer scheint, wenn Sie an sie zurückdenken. Wie kann eine Erfahrung in dem Moment, in dem wir sie durchleben, kurz erscheinen, während sie im Rückblick lang erscheint? Weil, wie der große amerikanische Psychologe William James vor mehr als hundert Jahren unterstrich, die Beurteilung von Zeit, während sie vergeht, unsere Aufmerksamkeit sehr stark beansprucht, während die Beurteilung bereits vergangener Zeit auf unserer Erinnerung beruht und Aufmerksamkeit und Erinnerung zwei grundlegend verschiedene Dinge sind. Die meisten Neurowissenschaftler stimmen darin überein, dass die Gehirnressourcen, die wir unserer Aufmerksamkeit widmen können, beschränkt sind und, was noch gravierender ist, mit den Ressourcen geteilt werden müssen, die man zum »Zählen« der Zeit braucht: Wenn der Großteil Ihrer Kapazität darauf konzentriert ist, komplexe Informationen zu verarbeiten oder viele unterschiedliche Informationsbruchstücke zu beachten, egal, ob sie komplex sind oder nicht, dann können Sie nicht gleichzeitig auch das Vergehen der Zeit verfolgen. Das ist der Grund, warum Zeit wie im Flug vergeht. Wenn Ihr Geist auf etwas anderes als auf das Vergehen von Zeit konzentriert ist, dann macht Sie das glauben, dass weniger Zeit vergangen ist. Wenn Sie aber an nichts anderes denken als an die Zeit, dann dehnt sie sich aus, was im Sprichwort »Wenn man daneben steht, kocht das
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Wasser nie« zum Ausdruck kommt. (Es gibt übrigens eine 1980 im Bulletin of the Psychonomic Society veröffentlichte Studie mit dem Titel »Wenn man daneben steht, kocht das Wasser nie: Erwartung als Variable beim Einschätzen des Vergehens von Zeit«.) Studenten beobachteten einen Topf, in dem etwas kochte, und schätzten dann die Zeit, die vergangen war. Ihre Schätzungen waren – wenig überraschend – länger als die jener Studenten, die den Topf nicht beobachteten. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass dieses Phänomen auch bei der Beobachtung langer Zeiträume auftritt. Das perfekte Beispiel sind Kinder, die auf Weihnachten warten: Bei ihnen sind alle mentalen Ressourcen auf das langsame Nahen des großen Tages konzentriert – die Zeit zieht unendlich langsam dahin. Aber die Stunden des Weihnachtsabends selbst vergehen dann im Nu. Experimente haben gezeigt, dass Zeit leicht mit Dingen verwechselt werden kann, die scheinbar nichts damit zu tun haben, zum Beispiel mit Geschwindigkeit oder mit zurückgelegten Entfernungen. In den fünfziger Jahren hat der Psychologe John Cohen Passagiere in Autos mit blickundurchlässigen Scheiben gesetzt und ihnen gesagt, sie würden eine Fahrt unternehmen, während der irgendwann eine Glocke läuten würde. Nach der Fahrt wurden die Passagiere gebeten, die Dauer der Fahrt, die Geschwindigkeit und die zurückgelegte Entfernung zu schätzen. Die überraschende Entdeckung war, dass eine Verbindung zwischen allen drei Faktoren bestand. Wenn die Glocke zeitmäßig genau zur Hälfte der Fahrt läutete, aber die eine Hälfte der Fahrt schneller erfolgte als die andere, dann glaubten die Passagiere, dass die schnellere Hälfte länger gedauert hatte. Dieses Experiment kann im Labor nachgestellt werden: Eine Person betrachtet ein Set von drei Lichtern, die so platziert sind, dass die ersten zwei relativ nahe beieinander stehen, aber das dritte zehnmal weiter entfernt steht. Wenn die drei Lichter nacheinander im exakt gleichen Intervall aufleuchten, dann erscheint für die Beobachter die Zeit zwischen dem zweiten und dem dritten Licht (also zwischen denen, die am weitesten voneinander entfernt sind) als signifikant länger. Aber auch bei diesen Experimenten wurde die Zeit beurteilt, während sie verstrich, und nicht erst, nachdem sie schon verstrichen war. Die Situation ist eine ganz andere, wenn Sie auf etwas zurückblicken,
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zum Teil deswegen, weil Sie sich beim Beurteilen von vergehender Zeit auf die Zeit selbst und nicht so sehr auf andere Faktoren konzentrieren. Wenn Sie jedoch bereits vergangene Zeit schätzen sollen, geht es weniger um Aufmerksamkeit, sondern mehr um Erinnerung. An je mehr Ereignisse während einer spezifischen Zeitphase Sie sich erinnern können, desto länger scheint die Zeit gewesen zu sein (wie Robert Ornstein gezeigt hat). Richard Block von der University of Montana ist ein anerkannter Experte auf diesem Gebiet, und er hat einen wichtigen Aspekt ins Spiel gebracht. Er geht davon aus, dass nicht nur die Anzahl oder Komplexität von erinnerten Ereignissen unsere Wahrnehmung davon beeinflussen, wie viel Zeit vergangen ist, sondern auch der Kontext. In diesem Fall kann der Kontext die Art und Weise, wie Information verarbeitet wird, der psychische Zustand des Betreffenden oder sogar das physische Setting sein. Aufgrund vieler Experimente gelangte Block im Lauf der Jahre zum Beispiel zu folgender Überzeugung: Führt man zwei mehr oder weniger identische Aufgaben durch, wird man zu einem späteren Zeitpunkt die erste der beiden als länger dauernd einschätzen. Auch wenn diese Schlussfolgerung aus psychologischen Tests abgeleitet wurde, die in einem Setting stattfanden, das ganz anders war als die Umstände der Touristenillusion, scheint es doch, als ob dies einen guten Teil dieser Illusion erklären könnte. Block betonte, es sei ein bisschen überraschend, dass die erste von zwei Erfahrungen im Rückblick länger zu dauern scheint, denn beim Schwinden der Erinnerung sollten Ereignisse eigentlich zuerst aus der früheren Version getilgt werden, sodass diese kürzer erscheint. Aber da die erste Erfahrung einen neuen Kontext einführt und die zweite lediglich darauf aufsetzt, scheint die erste Erfahrung länger anzudauern. Ändert sich der Kontext und bleibt aber die Menge an Information exakt gleich, so ändern sich auch die Einschätzungen der Zeit. In einer Studie zu diesem Thema verlangte man von Studenten, zwei Aufgaben zu erledigen, wobei eine einfach war – sie mussten eine Reihe von Worten in Großbuchstaben erkennen –, während die andere schwierig (oder zumindest schwieriger) war – sie mussten jene Worte auswählen, die einen Teil des menschlichen Körpers bezeichneten. Für
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jene Studenten, die nur eine Aufgabe erledigen mussten – egal, ob die einfache oder die schwierigere –, schien weniger Zeit vergangen zu sein als für jene, die zwischen den Aufgaben hin- und herspringen mussten. (Hinge unser Gefühl für verstrichene Zeit nur von der Menge an verarbeiteter Information ab, dann hätten die Studenten, die nur die schwierige Aufgabe erledigten, den Eindruck haben müssen, dass mehr Zeit vergangen war, als jene, die zwischen den Aufgaben wechselten.) Block stieß auf denselben Effekt, als er die Studenten zwischen den Tests zeitweise den Raum verlassen und auf den Gang oder in einen ganz anderen Raum gehen ließ. Je mehr Veränderungen, desto länger die geschätzte Zeit. Indem er die Umgebung oder den Präsentationsmodus von Information veränderte, gelang es ihm, die Illusion auszuschalten, dass die erste der beiden Erfahrungen immer länger zu dauern scheint. Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es viel leichter, die Touristenillusion zu analysieren. Es ist nicht schwer, sich in die Situation hineinzuversetzen, egal, ob Sie nun Fahrer oder Mitfahrer sind: Sie wissen, dass Sie sich auf ein Ziel zu bewegen, aber Sie wissen nicht genau, wann Sie es erreichen werden oder wie es ausschauen wird – Sie kennen den Namen eines Ortes und nicht viel mehr. Während des Erlebnisses selbst konzentrieren Sie sich mit einem Gutteil Ihrer Aufmerksamkeit auf die sich ständig verändernde Landschaft, auf Ihre Müdigkeit und Ihre Erwartungen; Sie achten auf jedes einzelne neue Straßenschild, Sie werden von den ungeduldigen Kindern auf dem Rücksitz abgelenkt, Sie müssen Ihrem Partner erklären, warum es so lange dauert, Sie fragen Ihren Partner, warum es so lange dauert ... Es gibt unzählige Dinge, die man gesehen, gehört und gefühlt hat und an die man sich wieder erinnert. Mit jeder einzelnen dieser Erinnerungen ist automatisch ein Kontext verbunden. Richard Blocks Untersuchungen haben gezeigt, dass man diesen Kontext nicht bewusst ins Gedächtnis rufen muss – er kommt ganz automatisch mit. Ja, es ist schwierig, Erinnerungen vom Kontext zu trennen. Jede Veränderung – irgendetwas Neues hinter einer Kurve, die plötzliche Erinnerung daran, dass Ihre Essenseinladung immer näher rückt – ist ein Beispiel für beides. Sogar die Tatsache, dass Sie manche Dinge sehen, andere wiederum hören oder darüber sprechen – das alles summiert
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sich und bildet unterschiedliche Kontextmuster. Alle beeinflussen Ihre Erinnerung an die Hinfahrt, aber sie beeinflussen nicht Ihr Gefühl dafür, wie viel Zeit beim Fahren tatsächlich vergeht. Das klingt zwar, als würde die Zeit unbemerkt vergehen, sobald wir die Aufmerksamkeit auf gerade stattfindende Ereignisse richten, aber in Wirklichkeit dreht sich diese Aufmerksamkeit um nichts anderes als um Zeit: »Wann sind wir endlich dort?« Die Rückfahrt ist eine ganz andere Geschichte. Sie kennen die Gegend, wie die Studenten, die für die zweite Runde eines psychologischen Tests in einem Hörsaal sitzen. Allein dadurch haben Sie das Gefühl, dass weniger Zeit vergangen ist. Es ist für einzelne Ereignisse oder Anblicke viel schwerer, als neue Erinnerung durchzugehen; die alte Eiche auf dem Hügel ist bereits als Erinnerung von der Hinreise im Gedächtnis gespeichert, und obwohl Sie sie wiedererkennen, gilt sie nicht als neue Erinnerung. Sie werden sich nicht einmal die Mühe machen, die Straßenschilder zu lesen, die für Sie bei der Hinfahrt so wichtig waren. Die Aufmerksamkeit liegt jetzt, wo der wesentliche Teil der Reise vorbei ist, auf ganz anderen Dingen. Natürlich könnten Sie die Illusion leicht dadurch ausschalten, dass Sie auf dem Rückweg eine andere Strecke fahren, aber dabei müssen Sie eines bedenken: Sie würden dadurch Ihrem Gedächtnis zwar eine neue Erfahrung bescheren, aber Sie würden sich der Gelegenheit berauben, eine beeindruckende Illusion zu erleben. Es gibt immer wieder neue Autofahrten, aber große Illusionen können wir nur alle Jubeljahre einmal erleben ...
Der Geldautomat und Ihr Gehirn
Ich hoffe, ich bin nicht der Einzige, der folgende verwirrende Situation erlebt hat: Ich will bei einem Geldautomaten Geld abheben, also muss ich meine Bankkarte bei der Türsperre einführen, um Zutritt zum Foyer der Bank zu erhalten. Aber es scheint, dass Geldautomaten nicht nur anders funktionieren als Tankstellen, Parkuhren oder andere Automaten, die Ihre Karte akzeptieren, sondern sich auch voneinander unterscheiden. Einige der Schlitze sind horizontal, andere vertikal angelegt. Bei einigen muss der schwarze Streifen nach oben zeigen und links liegen, andere muss man horizontal einführen und der schwarze Streifen muss rechts liegen und nach unten zeigen. Wenn auch Sie relativ lange nachdenken müssen, wie Sie nun die Karte tatsächlich einführen müssen, dann können Sie sich jetzt entspannen: Dreißig Jahre Forschung zeigen, dass Ihr Gehirn eine anspruchsvolle geistige Gymnastik machen muss, um das richtig hinzukriegen. Es gibt mehr als eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen. Eine besteht schlicht und einfach darin, jede Steckrichtung der Karte auszuprobieren, bis es eben funktioniert. Das kann jedoch langwierig und peinlich sein, und manchmal steigen wir dabei einfach aus. Wozu haben Sie ein Gehirn, wenn nicht, um dieses Problem zu lösen und es auf Anhieb richtig zu machen? Dafür müssen wir etwas tun, was »Mentalrotation« heißt: Wir müssen die Karte im Geist herumdrehen, bevor wir sie in den Schlitz stecken. Dieser Prozess wurde im Detail untersucht, und das Erstaunliche dabei ist, dass das, was dabei passiert, dem realen Vorgang sehr nahe kommt: Wenn wir die Karte in unserem Geist herumdrehen, ist es fast genauso, als würden wir sie in der Hand herumdrehen.
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Die ersten Experimente, die zeigten, was dabei genau vor sich geht, fanden in den frühen siebziger Jahren statt. Der Psychologe Roger Shepard und seine Studentin Jacqueline Metzler zeigten Leuten Bilder mit Paaren seltsamer 3-D-Objekte und fragten sie, ob die beiden Objekte in unterschiedlichen Positionen wirklich dieselben waren oder ob es sich um zwei spiegelbildliche Objekte handelte. Es war, als würde man zwei Handschuhe sehen, die in unterschiedlichen Winkeln positioniert sind, und müsste beurteilen, ob sie ein Paar bilden oder ob sie der gleichen Hand gehören. Aber die Objekte im ShepardMetzler-Experiment waren schwieriger als Handschuhe: Handschuhe sind zweidimensional, während es sich hier um dreidimensionale Objekte handelte. Es waren Ketten von zehn kleinen Würfeln, die auf seltsame Weise miteinander verbunden waren. Einmal schauten sie aus wie der Buchstabe »L«, wobei ein zusätzlicher Arm oben aus der Seite herausragte. Wenn Sie schon einmal einen Intelligenztest absolviert haben, dann kennen Sie diese Objekte wahrscheinlich. Sie können teuflisch schwierig sein, sind aber bei Psychologen, die sich mit der mentalen Rotation beschäftigen, sehr beliebt: Sie sind auch heute noch – mehr als dreißig Jahre nach den Experimenten von Shepard und Metzler – das Testobjekt der Wahl. Die Aufgabe bei diesem Experiment bestand darin, ein Objekt in der Vorstellung so lange zu drehen, bis es mehr oder weniger deckungsgleich mit dem anderen ist. An diesem Punkt ist es dann möglich, zu beurteilen, ob es sich tatsächlich um die gleichen oder um unterschiedliche Objekte handelt. Ich bin nicht sicher, ob irgendjemand die Ergebnisse, die die Versuche dann lieferten, erwartet hatte: Je mehr ein Objekt in der Vorstellung gedreht werden musste, desto länger dauerte es, bis man zu einer Entscheidung kam. Mit anderen Worten: Es braucht Zeit, ein Objekt in der Vorstellung zu drehen und zu wenden, genauso wie in der realen Welt. Scheinbar gibt es niemanden, der eine solche 3-D-Figur ohne weiteres in die richtige räumliche Ausrichtung bringen kann; sie muss herumgedreht werden, als würde man sie tatsächlich in der Hand halten. Dabei sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass es eine lange Liste von Dingen gibt, die wir in der Vorstellung tun können, ohne dass das auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem hätte, was in der realen Welt passiert: Denken Sie
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nur an Träume, an die Fähigkeit, uns an den Ort unserer Kindheit zu versetzen oder uns unseren nächsten Urlaub auszumalen. Aber in diesem Fall scheint unser Gehirn nicht in der Lage zu sein, eine einfache Entscheidung zu fällen, sondern muss den Gegenstand – oder, richtiger gesagt, ein Bild dieses Gegenstands – mühsam hin und her bewegen, so als würde dieser Gegenstand vor uns liegen. Shepards Testpersonen berichteten, dass sie sich vorstellten, wie sie die Objekte so lange drehten, bis der obere Arm parallel zum Arm des anderen Gegenstands lag, dann überprüften sie, ob die Arme am andere Ende übereinstimmten oder nicht. Shepard wies darauf hin, dass nicht nur Menschen zu dieser Mentalrotation in der Lage sind: Er berichtete von einem Deutschen Schäferhund, der durch den Spalt in einem Zaun, bei dem eine Latte fehlte, sprang, um einen langen Stock zu holen. Nachdem er den Stock mit dem Maul gefasst hatte, sprang er wieder zurück durch den engen Spalt, wobei er lediglich kurz stehen blieb und seinen Kopf so drehte, dass der Stock durch den engen Spalt passte. Der Hund war imstande, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn er den Stock nicht drehte. Vermutlich tat er das, ohne mit sich selbst zu sprechen, also ist Sprache nicht notwendig, um diesen Trick zu schaffen. (Für mich ist das insofern überraschend, als ich merke, dass ich vor der Tür zu einem Geldautomaten sehr oft mit mir spreche.) Zwischen den Teilnehmern herrschte weitgehend Übereinstimmung, was die für das Experiment benötigte Zeit betraf: Für ihre Entscheidung brauchten sie zwischen einer Sekunde (wenn die Gegenstände gleich ausgerichtet waren) und fast viereinhalb Sekunden (wenn die Gegenstände die maximale Abweichung von 180 Grad aufwiesen). Mathematisch gesehen, ergibt das eine Rotationsgeschwindigkeit von gerade 50 Grad pro Sekunde. Shepard betonte, dass man aufgrund dieser Übereinstimmung in der benötigten Dauer ausschließen musste, dass die Teilnehmer etwas anderes taten, als die Gegenstände im Geist zu drehen. Sie konnten sich zum Beispiel nicht die Gegenstände in die Formel »zwei Blöcke, Drehung nach rechts, vier Blöcke, Drehung nach oben, zwei Blöcke, Drehung nach links, zwei Blöcke« codieren und dann die Codes der beiden Gegenstände vergleichen, weil es ungefähr gleich lang dauern
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würde, um jedes Paar zu beurteilen, egal, wie unterschiedlich die räumliche Ausrichtung war. Wenn ich vor dem Zugang zu einem Geldautomaten stehe, vergleiche ich die Ausrichtung auf meiner Karte mit der auf dem Schlitz, und die Erfahrung sagt mir, dass es sich hier um einen zweistufigen Prozess handelt: Zuerst halte ich die Karte so, dass sie dem Schlitz entspricht, dann drehe oder kippe ich sie so, dass das kleine Diagramm an der richtigen Stelle liegt, und öffne die Tür. Die Experimente, die vor 30 Jahren durchgeführt wurden, erklären zum Teil, was in meinem Gehirn abläuft, wenn ich das tue: Ich vollführe eine Mentalrotation der Karte, um sie richtig auszurichten. Aber da ist noch mehr im Spiel. Kürzlich durchgeführte Experimente haben bestimmen können, welche Teile des Gehirns an einer Mentalrotation beteiligt sind. Eine daran beteiligte Gehirnregion ist der Scheitellappen, ein breiter Bereich im oberen Teil des Gehirns. (Wenn Sie eine Baseballkappe tragen und sie nach hinten schieben, sodass die Stirn frei ist, dann bedeckt Ihre Kappe genau diesen Scheitellappen.) Dieser Teil des Gehirns ist bei der Beurteilung Ihrer Position und an der Raumorientierung beteiligt. Schädigungen des rechten Scheitellappens führen zu einer Wahrnehmungsstörung, die »unilateraler Ausfall« genannt wird: Dabei sind Sie sich all dessen, was auf Ihrer linken Seite passiert, nicht bewusst. Manche Menschen, die an einem solchen Ausfall leiden, müssen sich selbst beibringen, ihr Essen von der rechten Seite des Tellers zu essen (denn nur diese Speisen nehmen sie wahr) und dann den Teller so zu drehen, dass sie auch das sehen können, was sie anfangs nicht wahrnehmen konnten. (Eine Frau drehte nicht den Teller, sondern lernte ihren Stuhl so zu drehen, dass sie sich dem Teller von der linken Seite zuwandte.) Ein solcher Ausfall ist eine ernste Behinderung, die durch Verletzungen des Gehirns ausgelöst wird, zeigt aber, wie wichtig die Scheitellappen für die Wahrnehmung des Raums und der Gegenstände im Raum sind. Ein durch eine Schädigung des rechten Scheitellappens verursachter linksseitiger Ausfall ist wesentlich häufiger als ein rechtsseitiger, was darauf schließen lässt, dass die rechte Gehirnhälfte die Raumwahrnehmung steuert. Eine Schädigung des linken Scheitellappens
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scheint selten einen rechtsseitigen Ausfall herbeizuführen, wahrscheinlich weil die allmächtige rechte Gehirnhälfte diesen Ausfall kompensiert. In den neunziger Jahren herrschte meist die Auffassung, die rechte Gehirnhälfte sei auch für die Mentalrotation zuständig, aber einige Studien legen den Schluss nahe, dass das ein zu sehr vereinfachtes Bild ist. Eine Forschergruppe behauptet, dass sich die beiden Gehirnhälften die Aufgabe teilen: In ihren Experimenten schien die rechte Hälfte das innere Bild des ursprünglichen Objekts besser aufrechterhalten zu können, während die linke das zweite Objekt so lange drehte, bis beide deckungsgleich waren oder auch nicht. Daniel Voyer von der St. Francis Xavier University fand Hinweise darauf, dass die rechte Gehirnhälfte dominiert, wenn das Gehirn zum ersten Mal mit dieser Aufgabe konfrontiert ist, dass aber die linke Hemisphäre zuständig ist, sobald die Aufgabe mit einem gewissen Training zur Routine wird. In diesem Fall ist die rechte Gehirnhälfte für neue Abläufe verantwortlich, während die linke für Abläufe zuständig ist, die bereits erarbeitet und zur Routine wurden. Das ergibt ein ziemlich komplexes Bild. Ein Mann, bei dem durch einen Schlaganfall die rechte Gehirnhälfte und damit seine Fähigkeit, seine Hände mental zu rotieren, beeinträchtigt war, konnte aber sehr wohl andere Objekte mental rotieren. Es gelang ihm recht gut, die Shepard-Objekte zur Deckung zu bringen, aber er hatte Schwierigkeiten zu beurteilen, ob das Bild einer Hand mit zwei ausgestreckten Fingern deckungsgleich mit dem einer anderen Hand war, bei der zwei andere Finger ausgestreckt waren. Dieser eine Fall lässt den Schluss zu, dass bei der mentalen Rotation von Körperteilen andere Gehirnregionen angesprochen werden als bei der Rotation von Objekten, was eigentlich auch nicht überraschend ist: Unser Körper und der Raum, in dem wir uns bewegen, unterscheiden sich grundlegend voneinander, und es könnte durchaus stimmen, dass mentale Bilder unserer Arme, Beine, Füße und Hände (und die Kontrolle über ihre Bewegung) von einer einzigen Gehirnregion gesteuert werden. Bei mir kommen wahrscheinlich alle diese speziellen Gehirnregionen zum Einsatz, wenn ich vor einer Tür stehe, die ich mit meiner Bankkarte öffnen muss, denn ich rotiere ja mental ein Objekt – meine
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Karte –, um die Ausrichtung der Karte mit dem Diagramm auf dem Türöffner zur Deckung zu bringen. Gleichzeitig überprüfe ich aber auch die Beziehung zwischen der Karte und meiner Hand, und bewege dann meine Hand in die richtige Position, um die Karte einzuführen. Die Bewegung meiner Hand ist ein neuer Schritt in diesem Gesamtablauf – bis jetzt handelte es sich ja um eine rein mentale Rotation –, aber die überraschendste Erkenntnis der letzten Jahre in Sachen Mentalrotation war wohl die Entdeckung, dass jene Gehirnregionen, die die Bewegung kontrollieren – die motorischen Bereiche –, tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Mentalrotation spielen, auch wenn man für diese Rotation keinen Finger rühren muss. Das klingt merkwürdig. Wenn wir uns vorstellen, ein Objekt auf einem Computerbildschirm rotieren zu lassen, so bedeutet das ja schließlich nicht, dass wir dieses Objekt auch tatsächlich bewegen, und doch scheint unser Gehirn genau das zu planen. In einem der ausgefeiltesten Experimente zu dieser Frage ließ Andreas Wohlschlager vom Max-Planck-Institut Versuchspersonen vor einem Computermonitor Platz nehmen und zeigte ihnen Bilder typischer Shepard-Objekte. In diesem Fall mussten sie jedoch zwei Aufgaben erledigen: Die erste bestand wie im klassischen Experiment darin herauszufinden, ob zwei dieser Objekte gleich oder verschieden waren – also der vertraute Mentalrotationstest. Die Versuchspersonen gaben zu erkennen, ob zwei Objekte übereinstimmten oder nicht (nachdem sie sie gedreht hatten), indem sie mit ihrer linken Hand einen Knopf drückten. Anschließend jedoch mussten sie mit ihrer rechten Hand einen Trackball, wie wir ihn von Videospielen kennen, in die Richtung drehen, die von einem Pfeil auf dem Bildschirm angegeben wurde. Der Trick lag in der Anordnung der Ereignisse: Zuerst erschien ein Pfeil, der anzeigte, in welche Richtung der Trackball gedreht werden musste, doch die Versuchspersonen durften nicht sofort handeln, sondern mussten die Richtung im Gedächtnis behalten, während sie die Aufgabe zur Mentalrotation ausführten, wobei sie mit der linken Hand den Knopf drücken mussten, um anzugeben, ob die beiden Objekte zusammenpassten. Dann schließlich kamen sie wieder zu ihrer rechten Hand zurück, um den Trackball in die Richtung zu bewegen, die der Pfeil am Anfang angegeben hatte.
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Wohlschlager benutzte diesen eher komplizierten Prozess, um eine einfache Frage zu beantworten: Wird Ihre Fähigkeit zur Mentalrotation beeinträchtigt, wenn Sie eine Bewegung zwar planen (wie die Personen in seinem Experiment, wenn sie den Pfeil sahen), aber nicht unmittelbar ausführen? Mit anderen Worten: Wird dadurch, dass Ihr Gehirn sich vorstellt, eine reale Bewegung auszuführen, eine zweite, nur vorgestellte Bewegung schwieriger? Die Antwort ist ja. Die Teilnehmer am Experiment brauchten für die Mentalrotation, die notwendig war, um zu entscheiden, ob Objekte zusammenpassen, dann länger, wenn sie bereits eine Handbewegung planten, an der ebenfalls eine Rotation beteiligt war. Besonders schwierig war es, wenn die geplante Handbewegung gegen den Uhrzeigersinn erfolgte, die Mentalrotation aber im Uhrzeigersinn. Die beiden kamen einander in die Quere, und die Reaktionszeit war noch länger, was einen überzeugenden Beweis dafür liefert, dass die motorischen Bereiche des Gehirns in eine Art heimliche Bewegungsplanung involviert sind, selbst wenn Sie Gegenstände nur in Ihrer Vorstellung drehen. Wohlschlagers Experiment ist nur eines von vielen. Einige Studien, die mit transkranieller Magnetstimulation arbeiteten (eine Technik, bei der Magnetfelder zeitweilig Teile des Gehirns deaktivieren), zeigten, dass das Deaktivieren der motorischen Bereiche der linken Gehirnhälfte die Fähigkeit der Versuchspersonen verminderte, rotierte Formen zur Übereinstimmung zu bringen. Das Seltsame dabei ist, dass der motorische Bereich erst viel später (wenn man in Tausendstelsekunden rechnet) als jene Bereiche in Aktion tritt, die für die Analyse der Form der Objekte zuständig sind. Zuerst Form, dann geplante Bewegung. Während ich dieses Kapitel schrieb, wurden Forschungen publiziert, die dieser Angelegenheit eine zusätzliche kuriose Wendung verleihen: Unser Gehirn achtet offenbar mehr auf Objekte, die wir anfassen können, als auf andere Dinge. Forscher am Dartmouth College zeigten, dass bei Personen, denen man gleichzeitig zwei Gegenstände zeigt – einen, den sie zu halten gewohnt sind, zum Beispiel eine Gabel oder ein Stift, und einen, der nicht fassbar ist, wie zum Beispiel eine Wolke –, die Gehirnaktivität auf das greifbare Objekt gelenkt wird. Noch seltsamer ist, dass in diesem Fall die rechte Gehirnhälfte erregt
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wird. Das Team ist noch dabei zu überprüfen, ob Rechts- und Linkshändigkeit dabei eine Rolle spielen. Es stellt sich nun folgende Frage: Hat die inzwischen fast allgegenwärtige Bankkarte bereits den Status eines »fassbaren« Objekts erlangt, oder verhindert die Tatsache, dass man sie auf jede mögliche Art halten kann (ein Teil des Problems, das ich hier lösen möchte), dass sie jene Gehirnregionen stimuliert, die zum Beispiel den Griff eines Messers oder den Stift in der aufrechten Position erkennen? Wenn sie »greifbar« ist, dann wird die neuronale Aktivität noch intensiver sein. Zurück zum Bankautomaten, um uns hier Licht ins Dunkel zu bringen. Ich halte also meine Karte in der Hand, mit der Absicht, sie in die richtige Position zu bringen, um sie in den Schlitz zu stecken, die Tür zu öffnen und die Maschine zu veranlassen, mein Geld auszuspucken. Chaos in meinem Gehirn! (Wäre ich eine Frau, würde jetzt zwar auch Chaos herrschen, aber eine andere Art von Chaos. Vieles lässt darauf schließen, dass bei Männern und Frauen, die zwar gleich gut in mentaler Rotation sind, unterschiedliche Gehirnregionen in unterschiedlicher Reihenfolge angesprochen werden. Es gibt viele Präzedenzfälle für geschlechtsbedingte Unterschiede wie diesen – sogar die Sprache scheint in weiblichen und männlichen Gehirnen unterschiedlich organisiert zu werden.) Meine Scheitellappen strengen sich an, um herauszufinden, wie sie die Karte in meiner Hand mit dem Bild neben der Tür zur Deckung bringen sollen. Sie und andere Gehirnregionen, die die Bewegungen meines Körpers steuern, strapazieren nun ihre Synapsen, um Bild, Karte und Bewegung in Übereinstimmung zu bringen. Sobald alle Systeme überzeugt sind, dass ich die Karte richtig halte, geht es nur mehr darum, sie in den Schlitz zu befördern, eine Handlung, die nur ein paar Millionen Neuronen mehr beschäftigt. Zu guter Letzt gibt es aber auch eine positive Neuigkeit: Aufgaben zur Mentalrotation gelingen mit ein bisschen Übung leichter. Solange die Banken also die Kartenschlitze für ihre Geldautomaten einheitlich platzieren, werde ich diese Aufgabe im Lauf der Zeit immer schneller bewältigen können. Irgendwann werde ich den Eindruck haben, meine Karte sei bloß eine Verlängerung meines Arms, dann wird meine rechte Hemisphäre die Aufgabe an die linke übergeben, und
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schließlich wird das alles vollkommen aus meinem Bewusstsein verschwinden und meinem Gehirn mehr Platz für andere, anspruchsvolle Gedanken lassen. Vielleicht werde ich dann ja Gedichte schreiben, wenn ich zum Geldautomaten gehe.
Wobbelnd zum Stopp
Mit einem kanadischen Dollar können Sie heutzutage zwar keine großen Sprünge mehr machen, aber Sie können ihn immerhin noch auf dem Tisch rotieren lassen. Da es sich um eine vergleichsweise große Münze handelt, dreht sie sich relativ gut, auch wenn sie nicht sehr weit dabei kommt – sie bleibt an einem Ort. Während sie sich dreht und taumelt wie ein langsam werdender Kreisel, »wobbelt« sie dabei immer exzentrischer und neigt sich immer mehr. Während die Münze so an Geschwindigkeit zulegt, wird das Geräusch, das sie beim Rotieren erzeugt, immer höher, bis sie dann schließlich mit einem lauten »Wrumm« abrupt liegen bleibt. Viele Forscher haben sich darüber den Kopf zerbrochen, auch wenn sie als Wissenschaftler lieber mit idealisierten Scheiben als mit einfachen Münzen arbeiten. Sie haben sich gefragt, warum sich eine Scheibe so verhält, wie sie sich verhält, vor allem in den letzten Augenblicken, die sie gerne als »Zittern« (»shudder«) bezeichnen. Um zu verstehen, warum die Experten von einem Phänomen so fasziniert sind, das wir Laien jederzeit mit nicht mehr als einer Münze und einem Tisch demonstrieren können, müssen wir zwischen zwei verschiedenen Effekten unterscheiden. Diese beiden Effekte sind »Spin« und »Wobbeln«, also Drehung und Taumeln. Wenn Sie eine Münze zwischen Daumen und Zeigefinger halten, sie hochkant stellen und dann in Drehung versetzen, wird sie auf der Kante rotieren, und manchmal sogar ziemlich lang. In gewisser Hinsicht ist das nicht überraschend – es ist ja nicht wirklich schwer, eine Münze auf ihre Kante zu stellen. Ein britischer Mathematiker hat einmal berechnet, dass es eine endliche Chance gibt – klein, aber endlich –, dass eine Münze, die Sie in die Luft werfen, auf
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der Kante landet. Das ist die Eigenbewegung der Münze um die Vertikalachse (»Spin«). Aber eine Münze beginnt unweigerlich zu taumeln. Hat sie ihre anfängliche Stabilität verloren, steht sie nicht mehr auf der Kante, sondern eher auf der Kante der Kante, und das ist der Anfang des Wobbelns – ein ganz anderes Phänomen als der Spin. Das Phänomen des Wobbelns kann man besser an einem Kreisel beobachten, da dieser normalerweise eine klar definierte Drehachse hat. Egal, welche Form der Kreisel hat, die Achse ist jener Teil, dem Sie einen Drall geben, um ihn in Drehung zu versetzen. Wenn der Kreisel zu wobbeln beginnt – wobei sich der Kreisel noch relativ schnell drehen kann –, können Sie leicht erkennen, dass dieses Wobbeln trägere, viel langsamere, aber immer größer werdende Kreise in der entgegengesetzten Richtung beschreibt. Der technische Begriff dafür ist »Präzession«, und sogar die Achse der sich drehenden Erde präzediert. Eine Folge der Präzession ist, dass der Stern, den wir heute Nordstern oder Polarstern nennen, sich vor Tausenden von Jahren ganz woanders am Himmel befand und man ihn sicher nicht als »Nordstern« bezeichnen hätte können. Aber die Achse der Erde ist seitdem präzediert, und so sehen wir heute den Polarstern an einer anderen Stelle. Wenn ein Kreisel zu präzedieren beginnt, kann er nicht mehr zurück: Das Wobbeln beschreibt immer größere Kreise in der Luft, bis der Kreisel schließlich kippt, den Tisch berührt – das ist sein Ende. Die Münze verhält sich sehr ähnlich, allerdings ist ihre Bewegung nicht so leicht zu beobachten. Die Drehung ist gut sichtbar, aber um das Wobbeln in Aktion erkennen zu können, dürfen Sie nicht der Achse folgen (die bei der Münze nicht so offensichtlich ist wie die eines Kreisels), sondern jenem Punkt der Münzkante, der in Kontakt mit dem Tisch ist, denn es ist dieser Kontaktpunkt, der wobbelt: Er bewegt sich in immer größer werdenden Kreisen. Am besten kann man diesen Effekt beobachten, indem man von oben direkt auf die Münze schaut, während sie zu wobbeln beginnt. Der Dollar dreht sich vergleichsweise langsam – das ist der Spin. Aber wenn Sie sich niederknien und von der Seite über die Tischfläche auf die Münze schauen, sehen Sie, dass sich ein einzelner Punkt auf der Kante der Münze auf der Tischfläche herumbewegt. Er bewegt sich
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viel schneller als der Spin – ungefähr so, wie Personen in einer wogenden Menschenmenge nirgends hingehen, sondern die wogende Menge im Stadium umherwandert. Aber hier passiert etwas Eigentümliches, und das hat etwas mit dem Geräusch zu tun, das ich am Anfang dieses Kapitels erwähnte. Das ist deswegen spannend, weil dieses Geräusch in dem Moment, bevor die Münze umfällt, plötzlich sehr hoch wird. Vielleicht ist es sogar dieses Geräusch, das Sie als Erstes bemerken. Nehmen Sie sich dann Zeit, um die Bewegung zu beobachten, während Sie gleichzeitig auf dieses Geräusch achten: Sie werden erkennen, dass dieses Geräusch mit der ständigen Beschleunigung des Wobbelns einhergeht, das in den letzten Mikromomenten, bevor die Münze zittert und innehält, immer unschärfer wird. Dabei schaut es fast so aus, als ob das Wobbeln sich durch nichts mehr aufhalten ließe und immer schneller würde – wenn die Münze nicht kippte. Und tatsächlich könnte es sein, dass das ständig schneller werdende Wobbeln kein Limit hat. Im Jahr 2000 hat der britische Mathematiker Keith Moffatt in der Zeitschrift Nature einen kurzen Bericht über die Kräfte, die eine sich drehende Münze antreiben, veröffentlicht. Er kommt darin zu dem Schluss, dass die Gleichungen, die diese Bewegung beschreiben, voraussagen, dass das Wobbeln unendliche Werte erreicht, während die Münze kippt und sich immer langsamer dreht. Abgesehen davon, dass das, wie wir wissen, nicht wirklich der Fall ist, ist es für Physiker eine irritierende Entdeckung, da es auf etwas hinweist, was die Physiker eine »Singularität« nennen, also eine Situation, in der die Gesetze der Physik versagen. Sehr große Dinge enthalten Singularitäten, zum Beispiel der Big Bang am Anfang des Universums, als es unendlich klein war, oder schwarze Löcher, in denen die Schwerkraft unendlich groß ist. Aber eine wobbelnde Münze? Moffatt wurde neugierig, weil seine Gleichungen den Schluss nahe legten, dass es einen Moment gibt, in dem der Winkel sich dem Wert Null und die Rotationsrate sich einem unendlichen Wert nähert, während der Winkel zwischen Münze und Oberfläche immer kleiner wird (die Münze kippt) und die Münze immer schneller wobbelt. Da aber in diesem Fall das tatsächliche Ergeb-
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nis, wie wir wissen, nie etwas Unendliches ist, begann Moffatt nach einer Erklärung zu suchen. Verschiedene Kräfte verhindern, dass das Wobbeln unendlich wird. Die nach Moffatts Ansicht wichtigste Kraft ist die Reibung im Luftpolster zwischen der kippenden Münze und der Oberfläche, auf der sie wobbelt. Wenn sich die Münze dem Ende ihrer Bewegung nähert, ist sie so weit gekippt, dass sie sich fast parallel zur Oberfläche befindet, und man kann sich leicht vorstellen, dass die Luft zwischen Münze und Oberfläche gegen die Oberfläche der Münze gedrückt wird. Moffatt errechnete, dass die Kräfte, denen die Münze in diesem Moment ausgesetzt ist, groß genug sind, um das Wobbeln zu stoppen und zu verhindern, dass sich eine Singularität bildet. Und bei allen seinen Berechnungen hatte er noch genug Gelegenheit, mit einer sich drehenden Scheibe zu spielen – noch dazu im Namen der Wissenschaft. Die Scheibe, die er für die Überprüfung seiner Gleichungen wählte, ist ein Spielzeug aus dem Hause Tangent Toys: die Euler-Scheibe, benannt nach Leonhard Euler, auf den ein Gutteil jener Mathematik zurückgeht, die in Studien wie diesen zur Anwendung kommt. Die Euler-Scheibe verhält sich wie eine sich drehende Münze, hat aber besondere Eigenschaften. Erstens ist sie groß und schwer – sie wiegt mehr als 400 Gramm – und erinnert an einen Hockeypuck aus Edelstahl. Zweitens sind ihre Kanten im Unterschied zu denen einer Münze maschinell bearbeitet und ganz glatt. Wenn Sie eine solche Scheibe kaufen, dann bekommen Sie auch einen Spiegel dazu, auf dem Sie sie rotieren lassen können. Sie schafft es, länger als eine Minute zu rotieren und zu wobbeln, bevor sie zum Stillstand kommt – eine Dollarmünze hingegen rotiert maximal 10 Sekunden lang. Nach Moffatts Gleichungen müsste eine Euler-Scheibe 100 Sekunden rotieren können, was auch durchaus realistisch ist. Moffatts Analysen konnten aber die Geschichte der rotierenden Münzen und der Euler-Scheiben nicht endgültig klären, sondern riefen nur noch mehr Kontroversen hervor. Eine Reihe von Mathematikund Physikkünstlern hat sich sofort mit diesem Problem beschäftigt und radikal andere Vorstellungen entwickelt. Eine Gruppe amerikanischer Wissenschaftler hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass
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Dinge wie Eheringe ebenfalls immer schneller wobbeln, um dann unter Zittern abrupt liegen zu bleiben, obwohl sie kein Luftkissen unter sich haben, das sie zusammendrücken könnten. Mit ihren Experimenten erteilten sie der Idee vom Reibungswiderstand der Luft eine zumindest für uns Laien endgültige Absage: Sie ließen Münzen in einem Glas rotieren, aus dem sie vorher die Luft abgepumpt hatten. Die Münzen verhielten sich exakt so, als hätte sich Luft im Glas befunden. Das Fehlen von Luft hat also keine signifikante Auswirkung auf das Wobbeln der Münze, wie man aufgrund von Moffatts Gleichungen hätte annehmen können. Diese Wissenschaftler hielten Moffatts idealisiertes Bild für zu simpel. Vielleicht wäre die Reibung zwischen der Kante einer Münze oder einer Euler-Scheibe tatsächlich minimal, wenn der Kontaktpunkt einen Kreis auf der Tischoberfläche beschreiben würde, aber es spielen hier verschiedene Kräfte zusammen, die das sehr unwahrscheinlich machen. Einige dieser Kräfte sorgen dafür, dass die Kante der Münze »in einer ruckartigen Bewegung« auf der Tischoberfläche entlang scheuert. Diese Wissenschaftler nehmen an, dass die Reibung die Münze auf und ab hüpfen lässt und schließlich deren Bewegung so sehr stört, dass die Münze zum Stillstand kommt. Ihrer Meinung nach spielen hier »Kanten, die sich an der Tischoberfläche reiben«, die entscheidende Rolle. Sie wiesen außerdem darauf hin, dass anhand der Euler-Scheibe bewiesen werden kann, wie wichtig die Reibung bei der Verlangsamung der sich drehenden Scheibe ist: Wenn sie auf einem Tisch und nicht auf der extrem glatten Spiegeloberfläche in Drehung versetzt wurde, drehte sich die Scheibe nur ein paar Sekunden lang und nicht 100 und mehr Sekunden, für die sie bekannt ist. Moffatt räumte ein, dass andere Faktoren mitspielen könnten und seine Gleichungen auf die Euler-Scheibe abgestimmt seien, wobei Gleichungen, die exotischere Einflüsse berücksichtigen, schwer oder fast unmöglich zu lösen seien. Manche Kommentatoren unterstützten Teile von Moffatts Argumentation. Eine Gruppe der University of Massachusetts in Amherst arbeitete Moffatts Gleichungen weiter aus, indem sie Zeitraffervideos von verschiedenen rotierenden, schweren Stahlringen und Stahlscheiben aufnahm. Sie fanden heraus, dass Moffatts Gleichungen das Verhalten dieser Gegenstände ganz gut be-
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schrieben, obwohl sie aufgrund der Videos gewisse Anpassungen vornehmen mussten. Was allerdings letztendlich dazu führt, dass die Münze langsamer rotiert und kippt, darüber waren sie jedoch anderer Ansicht als Moffatt. Wie die Kritiker, die Dinge in einem Vakuum rotieren ließen, meinten auch sie, dass die Reibung zwischen der Kante der Münze und der Oberfläche für diese Verlangsamung verantwortlich sei. Als sie Scheiben auf verschiedenen Oberflächen in Drehung versetzten (Glas, Stahl, Schiefer – nach steigender Reibung geordnet), veränderten sich die Gleichungen dementsprechend, was nicht hätte passieren dürfen, wenn die Luft der Schlüsselfaktor gewesen wäre. Schließlich war ja die Luft in jedem Fall dieselbe. Sie versuchten das Ganze auch mit dem Ring und konnten zeigen, dass Scheibe und Ring sich gleich verhalten, obwohl ein Ring nur wenig Luft unter sich einschließen kann. Aber die Wissenschaftler negierten die Wichtigkeit der Luft keineswegs vollkommen, sondern errechneten, dass bei extremen Spinraten, die der Singularität nahe kamen, der Luftwiderstand den Rollwiderstand übertrifft und somit den wesentlichen Faktor beim Herunterbremsen der Münze darstellt. Aber lange davor hat die Reibung zumindest in der Realität die Münze bereits so weit verlangsamt, dass sie kippt. Sie nahmen an, dass extrem dünne Scheiben vielleicht ein anderes Verhalten an den Tag legen, aber aufgrund ihrer vorsichtigen Formulierungen (»es wäre eine Herausforderung, die Steifigkeit und Zirkularität der Scheibe sicherzustellen«) hatte ich das Gefühl, dass sie an wirklich sehr dünne Scheiben dachten, solche, von denen nur Physiker träumen können. Die Fragen, die Moffatts Untersuchungen und Antworten aufwerfen, illustrieren sehr gut die manchmal frustrierende Kluft zwischen der Präzision der Physik und der Schlamperei in der realen Welt. Die meisten von uns möchten ja einfach nur wissen, warum eine taumelnde Münze sich immer schneller zu bewegen scheint. Aber diese Frage kann nur anhand von Theorien korrekt beantwortet werden, die in Gleichungen münden, die ihrerseits in Experimenten getestet werden können. Wie Moffatt unterstrich, beziehen sich einige dieser Gleichungen auf allerneueste Erkenntnisse über auf glatten Oberflä-
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chen rotierende, starre Scheiben. Gleichungen sind eine elegante Beschreibung dessen, was passiert, aber jede beschreibt immer nur ein enges Spektrum an Möglichkeiten: Diese Scheibe, die sich mit dieser Geschwindigkeit auf dieser Oberfläche bewegt, wird sich auf diese Weise verhalten. Eine solche Beschreibung trifft dann vielleicht schon nicht mehr auf eine simple Münze auf dem Küchentisch zu. Sogar die Euler-Scheibe unterscheidet sich erheblich von einer rotierenden Münze. Erstens ist die Kante, auf der sie sich dreht, nicht eckig wie bei einer Münze, sondern maschinell so bearbeitet, dass sie glatt und abgerundet ist. Das stabilisiert die Scheibe und verhindert, dass sie umfällt, wenn sie die Haftung verliert. Aber es gab nicht nur Kritik: Einige Wissenschaftler wurden von Moffatt dazu motiviert, ihre eigenen Gedanken zur Euler-Scheibe zu veröffentlichen. Oliver O’Reilly vom Department für Maschinenbau der University of California Berkeley ist einer dieser Wissenschaftler. Er und sein Kollege Patrick Kessler glauben, dass sowohl die Vibration der Münze, die einsetzt, wenn sie beschleunigt, als auch die gleichzeitig auftretende Vibration der Oberfläche, auf der sie wobbelt, für diesen ansteigenden Laut und den zitternden Stopp mit verantwortlich sind. Sie führen ins Treffen, dass sowohl die wobbelnde Scheibe als auch die Oberfläche vibrieren und einige dieser Vibrationen durch die Scheibe verstärkt werden. Das ist, als würden Sie ein Glas in Vibration versetzen, indem Sie mit der Spitze eines Fingers über die befeuchtete Kante des Glases streichen, wobei das Glas aber ebenfalls nur gewisse Schallfrequenzen verstärkt. Kessler und O’Reilly gehen davon aus, dass diese Vibrationen dazu führen können, dass die Scheibe dann, wenn sie sich der Horizontalen nähert, praktisch den Kontakt mit der Oberfläche verliert. Die Scheibe schwebt für einen Moment in der Luft, aber wenn sie landet, hört ihre Bewegung auf. O’Reilly und Kessler betonen, dass sie ihre Analyse weiterführen könnten, vor allem weil sie bei ihrer Simulation von der Annahme ausgingen, dass Scheibe und Oberfläche starr seien. Wenn sie aber tatsächlich vollkommen starr wären, könnten sie nicht vibrieren. Um ihre Vorstellungen über Vibration überprüfen und die Bewegung der Scheibe noch realistischer erfassen zu können, müssten sie eine neue
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Simulation schaffen, die, wie sie sagen, »sehr teuer« wäre. Berücksichtigen wir auch noch Moffatts Kommentar, dass die Bestimmung der Reibungskräfte am Kontaktpunkt von Scheibe und Oberfläche ein »kniffliges Problem« sei, das, so weit ich weiß, noch einer definitiven Analyse harrt, dann wissen wir, woran wir sind. Das Problem der rotierenden Münze geht nicht nur bis an die Grenzen dessen, was wir wissen, sondern sogar an die Grenzen dessen, was wir überhaupt wissen können. Und das ist mehr, als man normalerweise für einen Dollar bekommt.
Die Welt ist ein Dorf
Wir alle haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass die Welt tatsächlich ein Dorf ist: Sie kaufen sich Pommes frites bei einem Kiosk in Brüssel, und es stellt sich heraus, dass die Person vor Ihnen in der Schlange die Wohnung mit jemandem teilt, der in Edmonton ins gleiche Gymnasium ging wie Sie. Dieses Phänomen nennt man »Komplexitätstheorie«(auch: »Sechs Grade der Trennung« oder salopper »Sechs-Ecken-Theorie«). Es bezeichnet die Vorstellung, dass Sie mit jedem anderen Menschen auf der Welt über eine Kette von nicht mehr als sechs Menschen verbunden sind, wobei jeder die nächste Person in der Kette kennt. Dieser Gedanke hat ein Theaterstück, einen Kinofilm und Spiele inspiriert, die Schauspieler (The Six Degrees of Kevin Bacon), Baseballspieler, Leute, die unter Umständen Monica Lewinsky kennen, miteinander verbanden – mein Favorit ist eine Webseite der University of Virginia mit dem Titel »The Oracle of Bacon at Virginia« (ein sehr flüchtiger Besuch wird Sie überzeugen, dass Elvis Presley Filme mit so gut wie allen Leuten drehte, die damals lebten). Es ist im Allgemeinen nicht bekannt, dass der erste Artikel über dieses Phänomen im Mai 1967 in der ersten Nummer von Psychology Today veröffentlicht wurde. Im Unterschied zu heute war Psychology Today damals viel stärker in Richtung experimentelle Psychologie und weniger in Richtung Selbsthilfe orientiert. Es ist ungewöhnlich, einen höchst einflussreichen Originalartikel wie diesen in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift zu finden. Der Artikel stammte aus der Feder des Psychologen Stanley Milgram, der ein faszinierendes Experiment über das »Kleine-Welt«-Phänomen machte. Milgram erhielt 680 US-Dollar vom Laboratory of Social Rela-
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tions der Harvard University, um ein Experiment zu entwickeln, das die Annahme überprüfen sollte, dass zwei Amerikaner über eine kurze Kette von Bekannten verbunden werden können. Er wählte die Städte Wichita, Kansas, und Omaha, Nebraska, als Ausgangspunkte für die Beziehungskette. (Milgram gibt in dem Artikel zu, dass diese Städte von Cambridge, Massachusetts, aus gesehen »sehr weit weg in der großen Ebene oder irgendwo sonst« lagen). Er suchte Freiwillige in diesen Städten, deren Job es war, mit einer einzelnen Person in Verbindung zu treten: In der Wichita-Studie war die Zielperson die Frau eines Studenten der theologischen Fakultät in Cambridge, in der Omaha-Version war es ein Börsenmakler in Boston. Die Teilnehmer erhielten ein Dokument, das die Zielperson bestimmte, aber sie wurden angehalten, diese Person nicht direkt zu kontaktieren (es sei denn, sie kannten sie schon), sondern das Dokument an irgendjemanden weiterzuleiten, mit dem sie per Du waren und der diese Person wahrscheinlich kannte. Jeder, der das Dokument in die Hand bekam, fügte seinen Namen zur Liste hinzu, die so die Kontaktkette aufzeichnete. Milgram und seine Kollegen hatten anfangs zwar keine Ahnung, ob das Experiment überhaupt funktionieren würde, aber diese Zweifel wurden schnell ausgeräumt: Vier Tage nach Beginn des Experiments wandte sich ein Lehrer am theologischen Seminar in Cambridge an die Frau des Studenten und sagte: »Alice, das ist für dich.« Zuerst dachten die Experimentatoren, dieser Umschlag hätte versehentlich Cambridge nie verlassen, aber die Liste der Teilnehmer auf dem Umschlag bestätigte den »Kleine-Welt«-Effekt: Die Kontaktkette bildeten ein Weizenfarmer, ein örtlicher Pfarrer, der Lehrer in Cambridge und die Zielperson. Tatsächlich bestand zwischen Farmer und Zielperson nur eine Entfernung von 2 Grad. Diese Kette erwies sich als eine der kürzesten. Andere Ketten variierten zwischen zwei und zehn Mittelspersonen, wobei fünf der Mittelwert war und sechs am häufigsten auftrat. Ein typischeres Beispiel war die Kette, zu der ein Selbstständiger in Council Bluffs, Iowa, gehörte, ein Verleger in Belmont, Massachusetts, und sechs weitere Personen, die alle in Sharon, dem Wohnort der Zielperson, lebten. Warum bündelte sich diese Kette um die Zielperson? Es ist nur ein
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Beispiel für viele erstaunliche Resultate dieses ersten, noch relativ groben Experiments. Milgram selbst ist schon eine Geschichte wert. Er ist vor allem für seine Experimente bekannt, in denen er zeigte, wie Menschen leicht überredet werden können, einen Hebel zu drücken, von dem sie annahmen, er würde einem Freiwilligen einen kräftigen Elektroschock verpassen, und das nur, weil der Experimentator es ihnen befahl. Das Experiment war fiktiv – es wurden keine echten Elektroschocks verabreicht, und die stöhnenden Versuchspersonen waren Schauspieler –, aber das Experiment an sich war schockierend. Ich habe Videoaufzeichnungen gesehen; das Erschreckendste dabei ist die echte Angst, die die Teilnehmer empfanden, die zwar den Versuchsleiter (einen von Milgrams Kollegen) anflehten, er möge ihnen erlauben, mit den Elektroschocks aufzuhören, die aber gleichzeitig auf Befehl die Spannung erhöhten. Aber Milgram sollte auch wegen des ersten »Kleine-Welt«-Experiments in Erinnerung bleiben – und zwar nachhaltiger, als es jetzt scheinen mag –, denn seine Studie stand immerhin am Anfang der momentanen Bemühungen, die menschliche Kommunikation und soziale Netzwerke in all ihrer Vielfalt – vom Internet bis hin zur Übertragung von Krankheiten – zu verstehen. Aber so fesselnd dieses Experiment auch ist: Rechtfertigen die Ergebnisse tatsächlich den Schluss, dass wir alle über nicht mehr als sechs Ecken verbunden sind? Die Psychologin Judith Kleinfeld von der University of Alaska durchforstete Milgrams Aufzeichnungen über sein Experiment, die an der Bibliothek der Yale University zugänglich sind, und sie glaubt, dass jede Schlussfolgerung aus dem Experiment möglich ist. Kleinfeld argumentiert, dass die Vorstellung der »sechs Grade der Trennung« deshalb auf so großen Zuspruch stößt, weil Menschen – im Sinne des Gedankens »all you need is love« der sechziger Jahre – glauben wollen, dass alle mit allen verbunden sind (sie nennt es die »herzerwärmende Parabel«), und sie fragt sich, was die Bedeutung eines solchen Verbundenseins wäre, wenn es nur stimmte. Kleinfelds anfängliche Begeisterung, als sie Milgrams Originalmaterial zum Experiment fand, wandelte sich schnell in Enttäuschung. Was sie fand, war »bestürzend«, wie sie es ausdrückte. Nehmen wir
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zum Beispiel das erste Experiment, bei dem der Brief aus Wichita der Frau des Theologiestudenten in Cambridge überbracht werden sollte, dessen dramatischen Aspekt Milgram in seinem Artikel in Psychology Today so hervorhob (»Alice, das ist für dich«). Dieser Brief ging über nur zwei Verbindungspersonen, aber was Milgram in seinem Artikel nicht erwähnte, ist die Tatsache, dass das einer der wenigen erfolgreichen Versuche war. Für dieses Experiment wurden 60 Teilnehmer rekrutiert, und 50 begannen tatsächlich eine Kette, indem sie einen Brief an eine andere Person weitergaben, aber nur drei Briefe wurden tatsächlich dem Empfänger in Cambridge zugestellt. Diese Information ist in einem undatierten Schriftstück in Milgrams Archiv enthalten. Die Durchschnittsanzahl von Leuten, die an den drei erfolgreichen Ketten beteiligt waren? Acht. Das zweite Experiment, das in Nebraska startete und beim Effektenmakler in Massachusetts endete, war erfolgreicher. Milgram veröffentlichte ein Diagramm der Ergebnisse in seinem Psychology TodayArtikel, das zeigte, dass in diesem Fall meistens sechs Mittelspersonen involviert waren, daher der Begriff »Sechs Grade der Trennung«. Trotzdem waren aber nur 28 Prozent der Ketten vollständig (44 von 106). Außerdem scheint es, dass die Personen, die als Anfangspunkte der Ketten gewählt wurden, alles andere als repräsentativ waren. Im Nebraska-Experiment waren die meisten der Teilnehmer entweder Besitzer von Spitzenpapieren an der Börse oder Leute, die aus einer einzigen Adressenkartei stammten. Natürlich sind Aktienbesitzer eher in der Lage, sich – irgendwann – mit einem Wertpapierhändler in Massachusetts kurzzuschließen. Dazu kommt noch, dass Leute, deren Namen in einem derartigen Verteiler auftauchen, ein höheres Einkommen haben und gut vernetzt sind, wodurch sie als Kandidaten für ein derartiges Experiment geradezu prädestiniert sind. Trotz dieser vorteilhaften Ausgangssituation erreichte Milgram gerade einmal eine Erfolgsrate von 30 Prozent, eine erstaunlich niedrige Rate für eine Studie, die Auslöser für die weithin verbreitete Überzeugung von der Verbundenheit der menschlichen Gesellschaft ist. Manchmal passiert es, dass ein ursprünglich nachdenklich stimmendes Experiment, auch wenn es alles andere als perfekt ist, den An-
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stoß zu Wiederholungen gibt, die seine Schwachstellen überdecken, weil sie die ursprünglichen Erkenntnisse stützen. Ganz anders in unserem Fall: Judith Kleinfeld konnte nur sehr wenige Hinweise darauf finden, dass irgendjemand Milgrams Experiment im Detail wiederholt hätte. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. Verständlicherweise möchten Forscher einer Studie ihren eigenen Stempel aufdrücken, und daher sind Schritt-für-Schritt-Wiederholungen (etwas, von dem wir immer glaubten, es sei Teil der wissenschaftlichen Methode) eher selten. Aber in diesem Fall war der Mangel an Wiederholungen – und Ergebnissen – besonders auffallend. Einer dieser Versuche, der 1968 durchgeführt wurde, kam zu keinen statistisch signifikanten Schlüssen, weil die Anzahl derjenigen, die reagierten, weniger als 20 Prozent betrug. Bei einem anderen Versuch schafften nur 7 Prozent der Briefe den Weg vom Absender zum Empfänger. Allerdings, so betont Kleinfeld, wurde diese Studie dadurch erschwert, dass die Forscher nur über derart geringe Mittel verfügten, dass sie den Teilnehmern weder Briefmarken noch Kuverts zur Verfügung stellen konnten! Eine Studie, die im Sommer 2003 veröffentlicht wurde, setzte auf E-MailKommunikation, aber auch hier waren nur ungefähr 1,5 Prozent der Ketten vollständig. Judith Kleinfeld kam zu dem Schluss, dass Milgram zwar nicht beabsichtigte, uns in die Irre zu führen, sondern sich wahrscheinlich von der Wunschvorstellung täuschen ließ, die Welt sei so klein und wir seien tatsächlich mit einem anderen Menschen auf dem Planeten durch eine kleine Zahl von Mittelspersonen verbunden. Sie betont auch, dass die meisten von uns vielleicht ähnlich denken. Und sie gibt zu, dass sie davon fasziniert ist, wie sehr Leute von »Kleine-Welt«-Erfahrungen hingerissen sind und wie sehr sogar skeptische Akademiker glauben, tatsächlich in einer kleinen Welt zu leben, auch wenn es kaum Beweise gibt, die diese These stützen könnten. Kleinfeld kommt zum Schluss, dass sowohl das Streben nach persönlicher Sicherheit als auch religiöse Gründe ausschlaggebend dafür sind, warum Leute an eine kleine Welt glauben. Vielleicht ist die Komplexitätstheorie bloß ein Mythos. Es ist aber auch möglich, dass die letztendliche Anzahl, wenn sie überhaupt je berechnet werden kann, der Sechs sehr nahe kommen kann – wir wis-
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sen es einfach nicht. (Es gibt übrigens die Meinung, dass vier Grade der Entfernung wahrscheinlicher sind, sofern Leute tatsächlich so viele andere Menschen kennen, wie manche Studien nahe legen – siehe unser nächstes Kapitel.) Aber diese Ungewissheit konnte die Forschung nicht aufhalten. Die Vorstellung der »Sechs Grade der Trennung« blüht und gedeiht in den sozialwissenschaftlichen Fakultäten überall auf der Welt, und einige neue Ansätze gehen abstrakter an die Fragestellung heran, als es Milgram in seiner ersten Studie tat. Eine viel beachtete Weiterentwicklung der »Kleine-Welt«-Forschung ist 1998 Steven Strogatz und Duncan Watts gelungen. Die beiden Wissenschaftler wählten einen mathematischen Ansatz: Sie verglichen zwei Arten von Netzwerken (es handelt sich um soziale Netzwerke, sofern Menschen involviert sind, aber Watts und Strogatz zeigten, dass sie genauso gut auch einfache Nervensysteme oder Stromnetze beschreiben können). Sie unterschieden dabei zwischen zwei Arten von Netzwerken: Die erste Variante, ein »geordnetes« Netzwerk, ist straff und lokal organisiert, wobei alle Personen (oder Nervenzellen oder Kraftwerke) exakt die gleiche Anzahl von Verbindungen aufweisen, die alle eng umeinander gebündelt sind; die andere Variante ist ein »zufälliges« Netzwerk, das, wie der Name sagt, völlig zufällig entsteht und Verbindungen in alle Richtungen aufweist. Die meisten persönlichen Netzwerke – Sie können Ihr persönliches Netzwerk auf einem Blatt Papier aufzeichnen, indem Sie Ihre Freunde miteinander in Beziehung setzen –, sind in hohem Maß, aber nicht vollkommen geordnet. Die meisten Ihrer Freunde kennen nicht nur Sie, sondern auch andere Ihrer Freunde, also werden die Linien zwischen Bekannten einander immer wieder kreuzen, wodurch das Netzwerk einen »Cliquencharakter« bekommt. Aber sobald einer Ihrer Freunde in eine andere Stadt zieht und dort einen neuen Freundeskreis aufbaut, zerbricht die straffe Organisation des ursprünglichen Freundeskreises. Watts und Strogatz simulierten dieses Ereignis mit idealisierten Computernetzwerken. Sie begannen bei vollkommener Ordnung und führten langsam immer mehr Zufallsfaktoren ein, indem sie das Netzwerk Schritt für Schritt neu vernetzten. Diese Neuvernetzung bestand darin, eine oder zwei Verbindungen herzunehmen, sie vom nächsten Nachbarn zu lösen und mit einem entfernteren Punkt im sel-
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ben Netzwerk zu verbinden. Sie waren erstaunt, weil dadurch sehr schnell ein Netzwerk entstand, das alle Merkmale einer kleinen Welt aufwies. Als Watts und Strogatz ihre Methode auf reale Netzwerke anwandten, also auch auf Stromnetze und Nervensysteme und eine Liste von Schauspielern in Kinofilmen, schienen alle drei den Kriterien dieser hybriden Art von Netzwerk, das sie geschaffen hatten, zu entsprechen. Wenn nur ein paar der Beziehungen zwischen Mitgliedern eines geordneten Netzwerks neu vernetzt wurden, so bewirkte das zwei Dinge: Erstens ermöglichte dies eine augenblickliche und weitreichende Kommunikation innerhalb des Netzwerks. Solange ein Netzwerk sehr geordnet und geclustert ist, braucht es lange, bis zum Beispiel eine Verbindung zwischen Toronto und Medicine Hat hergestellt ist. Aber sobald Sie ein paar Jokerverbindungen einfügen (zum Beispiel eine, die sich quer über das Land erstreckt und im südlichen Alberta landet), wird diese Kommunikation über große Distanzen hinweg plötzlich möglich. Zweitens bleibt der Großteil des Netzwerks geclustert, das heißt es bewahrt im Wesentlichen die Struktur eines typischen persönlichen Netzwerks. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass er ziemlich weit ausholt, um zu erklären, warum uns unter Umständen tatsächlich nur sechs »Ecken« trennen. Wir alle haben eine Kerngruppe von Freunden, aber wir haben auch Beziehungen über große Entfernungen hinweg (»zufällige Beziehungen«), die uns einer beliebigen Zielperson auf der Welt viel näher bringen. Die Netzwerke, die am leichtesten zu untersuchen sind, sind jene, die durch Zusammenarbeit entstehen, also zum Beispiel Netzwerke von Wissenschaftlern, die gemeinsam Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften verfassen, oder Schauspieler, die gemeinsam in einem Kinofilm spielen. Der Vorteil solcher Netzwerke liegt darin, dass diese Zusammenarbeit dokumentiert ist, was sowohl auf wissenschaftliche Literatur als auch zum Beispiel auf die Internet Movie Database zutrifft (www.imdb.com). Zugegebenermaßen variiert die Natur solcher Beziehungen innerhalb dieser Netzwerke: Im wissenschaftlichen Bereich haben sich Kollegen meist im Labor kennen gelernt oder haben dort sogar zusammengearbeitet; Schauspieler sind je nach Laune des Regisseurs in einem Team zusammengewürfelt worden. Dennoch lie-
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fern sie ein ungewöhnlich gut dokumentiertes Bild von Menschen, die mit anderen Menschen zusammenkommen. In der vielleicht ungewöhnlichsten Anwendung dieser Forschungen haben spanische Wissenschaftler die Welt von Spider-Man analysiert – die Beziehungsnetzwerke zwischen den Superhelden in Marvel-Comics. Am 11. Februar 2002 veröffentlichten sie ihre Erkenntnisse in der Zeitschrift Preprint. Sie haben sich aus einem rein akademischen Grund für dieses »Marvel-Universum« entschieden: Sie wollten wissen, ob die mathematischen Beschreibungen realer kollaborativer Netzwerke auch auf dieses vollkommen fiktive Netzwerk zutreffen. Mit anderen Worten: Weisen reale Bekanntschaften zwischen Menschen irgendeinen geheimnisvollen, aber typisch menschlichen Charakter auf, oder legen alle Arten von Netzwerk dasselbe mathematische Verhalten an den Tag? Die spanischen Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Superhelden miteinander auf ähnliche Weise vernetzt sind wie wir Normalsterblichen – mit einem kuriosen, aber signifikanten Unterschied. Das Marvel-Universum ist wahrlich wunderlich. Einerseits sind viele Superhelden, die dieses Universum bewohnen, allgemein bekannte Gestalten – Spider-Man, X-Men, Captain America und die Fantastischen Vier –, andererseits gibt es doch auch sehr viele, die weniger bekannt sind, aber komplexe Beziehungen zu zahllosen anderen Superhelden aufweisen. Die spanischen Forscher zitieren das Beispiel von »Quicksilver, der zum ersten Mal als Mitglied von Magnetos Bruderschaft der ›Evil Mutants‹ in den frühen Ausgaben von Uncanny X-Men auftrat, dann Mitglied der Avengers und danach von X-Factor wurde, bis er schließlich als Führer der Knights Of Wundagore endet. Außerdem ist er der Sohn von Magneto, dem Zwillingsbruder von Scarlet Witch, und heiratete Crystal, die frühere Verlobte der Menschlichen Fackel von den Fantastischen Vier, die Mitglied der Inhumans ist«. Im System der Forscher gelten zwei beliebige Superhelden als vernetzt, wenn sie im selben Comic auftreten. Auch wenn die Superhelden dank Stan Lee von Marvel und seinen Schreibern geschaffen wurden und auf den ersten Blick kein »natürliches« kollaboratives Netzwerk bilden, stehen doch die meisten Figuren, die in ein und
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demselben Comic vorkommen, in enger Beziehung zueinander, egal, ob die nun kooperativer oder gegnerischer Natur ist. Insofern könnte man sie eher mit echten Wissenschaftlern als mit Schauspielern vergleichen. Die Datenbank, die die Forscher dazu nutzten, war Russ Chappells »Marvel Chronology Project« (www.chronologyproject.com), wo jeder einzelne Auftritt der Marvel-Figuren in chronologischer Ordnung verzeichnet ist: Bis jetzt scheinen dort 96 000 Auftritte von mehr als 6 500 Figuren in 13 000 Comics auf. Der schiere Umfang dieses Marvel-Universums ist nicht annähernd so interessant wie die Details, die darin verborgen liegen: So taucht zum Beispiel eine durchschnittliche Figur in ungefähr 15 Comics auf; den Rekord für die größte Präsenz hält Spider-Man mit 1 625-mal, während Captain America der Superheld mit der größten Anzahl von Mitarbeitern ist: Er hat sage und schreibe 1 933 Mitarbeiter! Das Marvel-Universum erweist sich als ein mehr als bloß zufälliges Netz von Beziehungen zwischen den Figuren, und so soll es auch sein, denn jedes echte kollaborative Netzwerk ist enger geknüpft als ein zufälliges, weil die einzelnen Gestalten immer wieder mit denselben Personen interagieren, statt neue Kombinationen nach dem Zufallsprinzip zu bilden. Wäre das Marvel-Universum ein rein zufälliges, dann hätte jede Figur 175 Beziehungen zu anderen Figuren; die tatsächliche Anzahl beträgt aber 52: Superhelden arbeiten öfter mit denselben Leuten zusammen als Schauspieler oder Wissenschaftler. Die größte Distanz zwischen zwei Figuren des Netzwerks ist fünf. Mit anderen Worten: Sie können zwei Superhelden mit einer Kette von nicht mehr als vier Mittelsleuten verbinden, was Milgrams »Sechs Graden der Trennung« schon sehr nahe kommt. Fünf ist die größte Entfernung; zwei beliebige Figuren sind durchschnittlich nur zwei Partner entfernt. Es handelt sich also um einen sehr eng verflochtenen Haufen. Und während Spider-Man auch noch heute die Fantasie zu beflügeln vermag, so ist es Captain America, der das Zentrum des Superheldennetzwerks bildet: Er ist durchschnittlich 1,7 Figuren von jeder anderen entfernt. Aber das Marvel-Universum weist eine Eigenheit auf: Es »clustert« nicht auf die gleiche Art wie reale Netzwerke. In den meisten Netzwerken sind zwei Personen, die einen gemeinsamen Bekannten haben,
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einander persönlich bekannt – das nennt man Clusterbildung. In der Filmwelt zum Beispiel ist es wahrscheinlicher, dass zwei Schauspieler, die mit einem dritten zusammengearbeitet haben – auch wenn es in unterschiedlichen Filmen war –, bereits in ein und demselben Film als zwei zufällig ausgewählte Schauspieler aufgetreten sind. Reale Netzwerke arbeiten auf folgende Weise: Sie verzweigen sich ausgehend von existierenden Beziehungen und weisen ein mathematisch messbares Clusterverhalten auf. Ein zufälliges Netzwerk hingegen zeigt nur eine geringe Clusterbildung, weil es ohne Rücksicht auf die Beziehungen zwischen den Personen, die es ausmachen, gebildet wird. Das Marvel-Universum liegt irgendwo dazwischen. Es neigt stärker als ein zufälliges Netzwerk zu Clusterbildung, allerdings ist diese nicht annähernd so stark ausgeprägt wie bei realen Netzwerken. Was bedeutet das? Das wagt niemand zu sagen. Die Autoren kommentierten ihre Entdeckung mit folgenden Worten: »Es scheint, als hätten die Marvel-Autoren die Figuren den einzelnen Bänden auf andere Weise zugeordnet, als dies bei natürlicher Interaktion der Fall gewesen wäre.« Demgegenüber imitiert das Marvel-Universum sein reales Gegenstück in verschiedener Hinsicht, was darauf schließen lässt, dass seine Erfinder bewusst oder unbewusst eine soziale Welt konstruierten, die in vielerlei Hinsicht real ist. Jedenfalls viel realer als die Figuren, die sie bevölkern. Sagt uns das Marvel-Netzwerk aber etwas über uns selbst und die sozialen Netzwerke, denen wir angehören? In gewissem Sinne ist es beruhigend: Falls Sie fürchten, dass wir alle in Matrix-Manier unter der Kontrolle irgendeines höchsten Wesens oder einer höchsten Maschine stehen und unser Leben bloß spielen, dann müssten wir dessen schöpferischem Wirken ja durch das Fehlen signifikanter Clusterbildung in der Gesellschaft auf die Spur kommen können. Nachdem uns das nicht gelingt, sind wir entweder tatsächlich frei oder unsere Schöpfer verstehen es besser als Stan Lee und seine Kollegen, Gesellschaften zu erschaffen.
Kennen Sie 290 Personen?
Ob wir nun über sechs – oder weniger – Ecken mit jedem anderen Menschen verbunden sind oder nicht, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie viele Leute wir kennen. Nehmen wir einen Extremfall her: Wie viele »Ecken« liegen zwischen einem Eremiten, der in den tiefen Wäldern von New Brunswick lebt, und seinem Gegenstück am nördlichen Ende von Vancouver Island? Der Eremit muss seinen Nachschub im örtlichen Kaufhaus kaufen, also kennt er den Inhaber dieses Geschäfts. Dieser wiederum kennt mit Sicherheit einen lokalen Politiker. Politiker aller Couleur kennen einander, also ist es wahrscheinlich, dass dieser Politiker einen Abgeordneten seines Gebiets kennt, der seinerseits einen Abgeordneten kennt, der für das nördliche Vancouver Island zuständig ist. Der Rest ist nichts als die Umkehr dessen, was wir gerade getan haben. Aber hier handelt es sich um ein eher atypisches Beispiel, einen Mix von Typen. Ein Eremit ist ein Mensch, der jene Art von persönlichen Kontakten minimiert, die eine Verbindung über sechs Ecken möglich scheinen lässt, während Politiker das genaue Gegenteil von Eremiten sind. Wie aber schaut es in typischeren Fällen aus? Wie viele Personen kennen Sie? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn die Schwierigkeit liegt im Wort »kennen«. Bedeutet »kennen«, wie es in manchen Studien der Fall war, dass Sie alle Menschen, mit denen Sie per Du sind, kennen? Oder »kennen« Sie Personen, die Sie, wenn notwendig, auch kontaktieren könnten? Gehören dazu nur jene Leute, denen Sie in den nächsten 60 Tagen begegnen werden, oder auch all jene, die sie je gekannt haben und die noch am Leben sind? Das ist das eine Problem. Das zweite besteht darin, dass Sie unweigerlich einige vergessen würden, würde man Sie bitten, die Namen aller
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Ihnen bekannten Personen zu notieren. Die meisten Leute sind präziser, wenn es sich um aktuelle Kontakte handelt (also um Personen, mit denen sie in den letzten 24 Stunden zu tun hatten und nicht in der letzten Woche). Am wenigsten treffsicher sind sie bei Kontakten, die sie vor mehr als zwei Wochen hatten. Alles was weniger – oder erstaunlicherweise deutlich mehr – als zwei Wochen zurückliegt, wird besser erinnert. Das ist frustrierend für Sozialwissenschaftler, die gern wissen möchten, wie die menschliche Gesellschaft in Netzwerke von Bekanntschaften aufgeteilt ist. Würden wir diese Netzwerke verstehen, dann könnten wir eine ganze Reihe von disparaten sozialen Prozessen besser erklären, angefangen von der Verbreitung von Gerüchten bis hin zur Übertragung von Krankheiten. Aber wie kann man diese Probleme bei der Erforschung dieser Netzwerke ausschalten? Legen Sie dieses Buch aus der Hand (ich weiß, dass das nicht leicht ist), und probieren Sie es selbst aus. Schreiben Sie die Namen aller Personen auf, die Sie erkennen und mit ihrem Namen anreden können. Mit einer Einschränkung: Die betreffende Person muss ebenfalls in der Lage sein, Sie beim Namen zu nennen – damit fallen schon einmal alle Leinwandstars, Hockeyspieler, Rockmusiker und Politiker weg. Aber Sie müssen sich genug Zeit geben. Bei früheren Versuchen lag der Durchschnitt bei 500, aber die Bandbreite ist erstaunlich. In einer dieser Studien rangierten die Schätzungen bei Büroangestellten zwischen 50 und 10 000 Bekannten. Der Mittelweg betrug 522, aber es ist schwer, einer solchen Ziffer Glauben zu schenken, wenn die Schätzungen so sehr auseinander klaffen. Und diese 500 werden noch mehr, sobald man die Leute daran erinnert, auch noch Verwandte, Schulfreunde, frühere Kollegen oder Klubkollegen einzubeziehen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie knifflig dieses Problem ist, sollten wir einen Schritt zurückgehen und die Anzahl der uns bekannten Menschen mit der Anzahl der uns bekannten Wörter vergleichen. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass der Durchschnittswortschatz eines Nordamerikaners 50 000 Wörter ausmacht. (Diese Zahl wird im Alter zwischen 15 und Ende 20 erreicht, das heißt, dass eine typische Person, die im Alter von zwei Jahren zu sprechen beginnt, innerhalb von 15 Jahren an die 50 000 Wörter lernen
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muss – das macht immerhin zehn neue Wörter pro Tag.) Aber wie lange brauchten Sie, um diese Wörter aufzulisten? Selbst wenn Sie Tagebuch führen und alle neuen Wörter, die Sie an einem Tag benutzen, notieren würden, gäbe es viele Begriffe, die monatelang nie auftauchen würden. Es scheint, als wäre das simple Auflisten der Namen unserer Bekannten nicht die beste Methode, um die Gesamtanzahl herauszufinden, zumindest nicht innerhalb einer vernünftigen Zeit. Sozialwissenschaftler haben verschiedene Techniken ausprobiert, und wie Sie sehen werden, hängt die Anzahl der Menschen, die Sie kennen, davon ab, wie Sie diese Menschen zählen. Eine Möglichkeit, Licht ins Dunkel zu bringen, besteht darin, mit Methoden zu beginnen, die hohe Schätzungen bringen, und sich dann von dort nach unten zu arbeiten. Ithiel de Sola Pool vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) war einer jener Sozialwissenschaftler, die sich schon früh für dieses Problem interessierten. Er wählte nach dem Zufallsprinzip dreißig Seiten aus den Telefonbüchern von Chicago und Manhattan aus, durchsuchte dann jede Seite nach Familiennamen, die auch ihm bekannte Personen trugen. Dann multiplizierte er die Anzahl der Namen mit der Anzahl der Seiten pro Telefonbuch, um abzuschätzen, auf wie viele er gekommen wäre, wenn er das gesamte Telefonbuch durchsucht hätte. Pool kam beim Telefonbuch von Chicago auf 3 100 Personen, bei dem von Manhattan auf 4 250. Das sind natürlich keine sehr präzisen Methoden, aber wenn Sie die Ergebnisse kombinieren, dann schaut es so aus, als hätte Pool gut 3 000 Bekannte. Das Ergebnis ist insofern verdächtig, als Pool schon davor etwas anderes versucht hatte und dabei auf ganz andere Zahlen gekommen war. Er hatte ein Notizbuch mit sich herumgetragen und den Namen einer jeden Person notiert, mit der er Kontakt hatte. Pool musste mit der betreffenden Person gesprochen haben (auch Telefongespräche zählten), er musste ihr schon begegnet sein und musste ihren Namen wissen. Er führte dieses Tagebuch hundert Tage lang. Natürlich wuchs diese Liste in den ersten paar Tagen sehr schnell, aber nach einer Zeit begannen die Namen langsamer zu fließen. Sein Gesamter-
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gebnis waren letztendlich 685 Personen. Als er diese hundert Tage auf zwanzig Jahre extrapolierte, kam er zum Schluss, dass sein persönliches »Bekanntenvolumen« – also die Anzahl von Menschen, die Sie kennen – ungefähr 1 500 betragen musste. Das schien der Anzahl von Personen, mit denen er tatsächlich in Kontakt war, schon recht nahe zu kommen, und es ist auch eine durchaus gesunde Anzahl von Bekannten – aber immerhin sind es um die Hälfte weniger Namen als bei der Telefonbuchuntersuchung. Woher kommt diese Differenz? Das Telefonbuch erlaubte Pool, sich an Leute zu erinnern, mit denen er nie mehr Kontakt hatte, die aber sehr wohl als »Bekannte« gelten konnten – wenn sie zufällig in sein Büro geschneit kämen, könnte er sie mit ihrem Namen begrüßen. Aber es war unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich auftauchen würden, vor allem während der 100-Tage-Frist des Tagebuchs. Man könnte nun einwerfen, dass die Telefonbuchmethode die Gesamtheit der Personen, die man kennt oder gekannt hat, besser abbilden kann. Auch andere Forscher haben seitdem den Telefonbuchansatz verfolgt, wobei sie die Technik jedes Mal leicht verändert haben, um offensichtliche Probleme zu vermeiden. Namen wie Smith zum Beispiel füllen ganze Seiten, und wenn man zufällig eine derartige Seite wählt, wäre dadurch die Vielfalt der Namen, die man zu sehen bekommt, augenblicklich drastisch reduziert. Andererseits kennen die meisten von uns wahrscheinlich zumindest einen Menschen, der Smith heißt, also hätten Sie wahrscheinlich einen Treffer auf einer solchen Seite. Ob diese beiden widersprüchlichen Fehlerquellen einander ausgleichen, ist, soweit ich weiß, nicht bekannt. Linton Freeman und Claire Thompson aus Kalifornien haben versucht, diese Fehlerquellen vollkommen auszuschalten, indem sie das Konzept der Seite verwarfen und direkt mit den Namen im Telefonbuch arbeiteten. Sie wählten 305 Familiennamen nach dem Zufallsprinzip aus dem Telefonbuch von Orange County und baten Studenten, die in Orange County lebten, Namen von Bekannten aus dieser Liste auszuwählen. Nachdem sie die Ergebnisse auf das gesamte Telefonbuch hochrechneten, rangierte die Anzahl der Bekanntschaften pro Student zwi-
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schen 4 707 und 6 333, im Durchschnitt betrug sie also 5 520, ein Wert, der nicht gravierend von Pools ursprünglicher Schätzung von über 3 000 abwich, aber doch definitiv höher war. Diese Zahlen scheinen mir absolut erstaunlich, aber gleichzeitig ist es schwer, ihnen etwas entgegenzusetzen, vor allem wenn man bedenkt, dass in dieser Studie Studenten aus Orange County das Telefonbuch von Orange County benutzten. Die Tatsache, dass verschiedene Städte verschiedene Bevölkerungsmischungen aufweisen – und daher auch die Familiennamen eine sehr unterschiedliche Mischung bilden –, bedeutet, dass bei den Telefonbuchstudien Menschen, Ort und Buch aufeinander abgestimmt sein sollten. In diesem Fall jedoch erwiesen sich die Werte als weniger verlässlich, als es anfangs schien. Die ursprüngliche Orange-County-Studie wurde 1989 veröffentlicht, aber kurz danach nahm sich eine andere Forschergruppe noch einmal das Telefonbuch von Orange County vor und fand kleine, aber signifikante Fehler, die sich in die erste Studie eingeschlichen hatten. Eine neuerliche Analyse reduzierte die Anzahl der Bekanntschaften von einem Mittelwert von 5 520 auf weniger als die Hälfte, auf 2 025. Aber auch bei dieser Methode ist die Anzahl der Bekanntschaften wahrscheinlich wesentlich größer, als wenn die Studenten die Tagebuchmethode angewandt oder einfach jeden, den sie kannten, aufgelistet hätten. Pools Tagebuchmethode wurde auch mit Gruppen von Menschen ausprobiert. Bei einer derartigen Studie mussten die Teilnehmer ihre Kontakte ebenfalls hundert Tage lang notieren, wobei die Ergebnisse wieder sehr weit auseinander lagen: nämlich zwischen 72 und 1 043. Eines ist also klar: Es ergeben nicht nur unterschiedliche Methoden, seine Bekanntschaften zu schätzen, unterschiedliche Ergebnisse, sondern auch ein und dieselbe Methode ergibt, wenn sie auf unterschiedliche Menschen angewandt wird, extrem weit auseinander liegende Werte. Der Schlüssel zu dem Problem ist unser Gedächtnis oder, genauer gesagt, das Versagen unseres Gedächtnisses. Wir brauchten all diese ausgefeilten Methoden gar nicht, die trotz ihres ausgeklügelten Designs derart disparate Resultate ergeben, wenn wir imstande wären, uns hinzusetzen und die Namen all unserer Bekannten aufzuschrei-
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ben. Aber nicht nur, dass wir das nicht können oder gar nicht versuchen wollen: Die meisten Leute haben Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern, woran sie sich schon einmal erinnert haben. Ein Teilnehmer einer Studie listete innerhalb von fünf Tagen 117 Bekannte auf, aber fast drei Jahre später konnte er 31 davon nicht mehr nennen oder sich nicht mehr an sie erinnern. Telefonbuchstudien ergeben vielleicht deshalb die höchste Anzahl von Bekanntschaften, weil man dabei auch Personen aus der Vergangenheit berücksichtigen kann; Tagebücher, die schwierig zu führen sind, reduzieren die Werte drastisch. Aber sogar sie blasen vielleicht die tatsächliche Anzahl von Bekannten auf. Die Sozialwissenschaftler und Mathematiker Russell Bernard und Peter Killworth und ihre Kollegen haben sich jahrzehntelang mit diesem Problem herumgeschlagen und Methoden zur Schätzung der Anzahl der persönlichen Kontakte entwickelt, bei denen die Resultate ein paar Hundert betragen. Vor allem eine Methode, die »Scale-up-Methode«, deutet auf den Wert 290 als einen der realistischsten und konsistentesten für die Anzahl von Leuten hin, die Normalsterbliche kennen. Dabei wurden Freiwillige gebeten, die Anzahl von Bekannten anzugeben, die einer von mehreren sorgfältig definierten Gruppen zugehörten: Verschiedene Studien haben zum Beispiel Gruppen wie gebürtige Amerikaner, Postangestellte, Diabetiker, Gefangene, Personen mit dem Vornamen Christopher, Kimberley oder Nicole, Aidskranke, Zwillinge und Opfer von vor kurzem passierten Morden erfasst. Die Theorie dahinter geht von folgender Annahme aus: Angenommen, eine dieser Gruppen repräsentiert 1 Prozent der Bevölkerung und eine Person kennt drei davon, dann kennt sie – wenn man diese eine Gruppe als Basis nimmt – wahrscheinlich 300 Personen. Freilich kennen Sie in einer Gruppe mehr Leute als in einer anderen, aber je mehr Gruppen erfasst werden, desto eher erhält man einen konsistenten Wert. Solange die tatsächliche Größe solcher Gruppen in der Gesamtbevölkerung bekannt ist, können die von den Teilnehmern angegebenen Zahlen hochgerechnet werden, und man kann abschätzen, wie viele Personen sie kennen, Punkt, aus. Aber auch diese Methode hat so ihre potenziellen Probleme (das
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kennen wir ja schon ...). Die Teilnehmer sind sich vielleicht nicht bewusst, dass manche der Leute, die sie kennen, zu einer dieser Subpopulationen (wie Zwilling oder Diabetiker) zählen. Oder sie haben nicht alle gleichermaßen Gelegenheit, Mitglieder dieser Gruppen kennen zu lernen. Ein Beispiel sind Aidskranke – in jeder Gruppe von Freiwilligen wird es einige geben, bei denen es wahrscheinlicher ist als bei anderen, dass sie Aidskranke kennen. Aber es gibt Möglichkeiten, die Resultate derartiger Untersuchungen zu überprüfen, und diese Zahlen stimmen ganz gut überein. Bemerkenswerterweise haben einige Untersuchungen dieser Art den Wert 290 ergeben oder zumindest einen Wert, der nahe bei 290 liegt. Allerdings gibt es auch Ausnahmen: Während zufällig ausgewählte Personen ungefähr 290 Menschen zu kennen scheinen, kennen spezielle Gruppen wie zum Beispiel Priester Hunderte mehr (was nicht wirklich überrascht, denn ein Priester ist ja aufgrund seines Berufs verpflichtet, ein großes persönliches Netzwerk zu pflegen). Aber Bernard und Killworth und ihre Mitarbeiter sind der Ansicht, dass wir alle mindestens 290 Personen kennen. Es hat einige interessante, aber deprimierende Anwendungen dieser Forschungen gegeben. Bernard und Killworth haben ihre Scaleup-Methode benutzt, um folgende Frage zu beantworten: »Wie viele Amerikaner kennen entweder jemanden, der bei den Ereignissen des 11. September gestorben ist, oder jemanden, der seinerseits jemanden kennt?« Ihre Analyse legt nahe, dass ungefähr 100 Millionen Amerikaner jemanden kennen, der seinerseits jemanden kennt, der an diesem Tag starb. Hier steht die Forschung nun: Je nachdem, welche Methode man anwendet, erhält man Listen mit Bekannten, die von 290 bis zu ein paar Tausend reichen. Was stimmt nun? Keine oder alle: Es gibt keine »richtige« Antwort – die Antwort, die Sie bekommen, hängt davon ab, wie Sie die Frage gestellt haben. Das wiederum wird bestimmt von der Zeit, die Sie zur Verfügung haben, von dem, was Sie unter »kennen« verstehen, und davon, wie gut die Tricks funktionieren, mit denen Sie Ihr Gedächtnis überlisten. Aber trotz all dieser Unsicherheiten sind die meisten Sozialwissenschaftler überzeugt davon, dass diese Forschungen zu neuen Erkenntnissen über die Übertragung von
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Krankheiten (die vielfach von persönlichem Kontakt abhängt), über die Verbreitung von Information, vor allem via Internet, und über die Struktur von Gesellschaften an sich führen werden. Es ist doch schon seltsam, dass es für ein soziales Tier so schwierig ist, eine für sein Leben so wichtige Zahl – die Anzahl der anderen Tiere, die es kennt – zu eruieren.
Starren Sie mich an?
Stellen Sie sich vor, es sind die frühen siebziger Jahre und Sie fahren in Ihrem Chevy Malibu die Straßen von Palo Alto in Kalifornien entlang. Sie kommen an eine Ampel, die Rot zeigt, und bleiben stehen. Wenn Sie Ihren Kopf beiläufig zur Seite drehen, blicken Sie genau in die Augen einer Person, die ungefähr einen Meter von Ihnen entfernt steht. Und diese Person schaut nicht weg. Sie fixiert Sie mit einem standhaften Blick. Sie sind unangenehm berührt und machen sich aus dem Staub, sobald die Ampel auf Grün springt. Die perfekte Reaktion! Ohne dass Sie es wissen, haben Sie gerade an einem klassischen psychologischen Experiment teilgenommen, und Ihre Reaktion auf das Angestarrtwerden ist genau das, worauf die Experimentatoren gewartet haben. Das Experiment war ein Versuch zu dokumentieren, wie Menschen reagieren, wenn sie angestarrt werden. Für mich ist es überraschend, dass die meisten Zielscheiben dieses starrenden Blicks einfach fliehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Experiment, wenn man es heute wiederholen würde, ziemlich viele aggressive Reaktionen hervorrufen würde: Bilden nicht Drohung und Gegendrohung inzwischen einen Teil der Etikette auf unseren Straßen? Die Versuchsleiter haben sehr genau gewusst, dass eine Reihe von Menschenaffen, Pavianen und andere Affen einen starrenden Blick als Drohgebärde einsetzen, aber sie wussten auch, dass es in den meisten Fällen das dominierende Tier ist, das starrt, und die typische Antwort in Unterwerfung oder Rückzug aus der Situation besteht. Die »Versuchsanordnung« an der Ampel war also perfekt. Die Experimentatoren wollten wissen, ob Starren als Drohgebärde empfunden wird. Außerdem wollten sie wissen, was geschieht, wenn die Person, die angestarrt wird, vorübergehend nicht
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in der Lage ist, der Situation zu entkommen – blockiert durch die rote Ampel. Würde die Reaktion unangemessen sein, sobald sie die Möglichkeit hätte, zu entkommen? Wenn ja, würde das die Beobachtung eines solchen Verhaltens wesentlich erleichtern. Gasgeben bei grünem Licht ist wesentlich leichter zu quantifizieren als ein subtiles Wegdrehen des Kopfes. Und so funktionierte das Ganze: Der Experimentator fuhr auf einem Motorrad (das in einem Artikel im Journal of Personality and Social Psychology als »schrottreif« tituliert wurde) bis zur roten Ampel und wartete, dass ein Auto in der Nebenspur halten würde. Als es so weit war, wandte er den Kopf und starrte den Fahrer an – ohne mit der Wimper zu zucken. Die Distanz zwischen den beiden betrug nur ungefähr eineinhalb Meter. Als die Ampel auf Grün sprang, wurde eine Stoppuhr aktiviert, die maß, wie lange das Auto bis zur anderen Seite der Kreuzung brauchte. Der Experimentator auf dem Motorrad diente manchmal auch als sein eigener Kontrolleur, indem er einfach da saß und niemanden anstarrte. Die Ergebnisse waren eindeutig: Im Durchschnitt brauchten Autofahrer, die angestarrt wurden, 1,2 Sekunden weniger, um die Kreuzung zu durchfahren. Das klingt wenig, aber stoppen Sie selbst, wenn Sie bei Grün losfahren, und Sie werden sehen, dass diese Fahrer tatsächlich sehr flott unterwegs gewesen sein müssen. Wenn Sie zu denjenigen gehören, die tatsächlich einen Chevy Malibu besaßen (oder haben Sie ihn immer noch?), dann glauben Sie sicherlich, dass die angestarrten Fahrer deswegen so beschleunigt haben, weil sie dachten, man wolle sie zu einem Rennen über die Kreuzung auffordern. Um das zu überprüfen, ersetzten die Versuchsleiter den Motorradfahrer durch einen Fußgänger, der an der Straßenecke bei der Ampel stand. Alles andere, auch die Entfernung zwischen den beiden Personen, war gleich – selbst das Ergebnis. Der wirklich spannende Teil dieses Experiments – der auch zeigt, wie ausgefuchst solche Experimente sein können – begann, als die Forscher das Gefühl hatten, sie müssten beweisen, dass es tatsächlich das Starren war, das die Leute dazu brachte, Gas zu geben, und nicht nur die Tatsache, dass jemand neben ihnen etwas Seltsames tat. Mit anderen Worten: War Starren lediglich eine von vielen
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seltsamen Verhaltensformen, die Leute zum Gasgeben bewegen kann? Um diese Möglichkeit zu testen, mussten sie eine Version des Experiments entwickeln, die sich in jeder Hinsicht mit der Urversion deckte, nur dass der Wissenschaftler nicht starrte, sondern etwas Ungewöhnliches oder, wie sie es in ihrem Artikel formulierten, etwas »Unangebrachtes« tat. Das war insofern knifflig, als dieses unangebrachte Verhalten nicht aus irgendwelchen anderen Gründen ablenkend sein durfte. Zum Beispiel entschieden sie sich aus gutem Grund dagegen, einen Mann an der Straßenkreuzung eine Peitsche schwingen zu lassen, denn das hätte als Bedrohung interpretiert werden können. Schließlich einigten sie sich auf folgende Variante: Ein Student saß mit einem Hammer auf dem Gehsteig und hämmerte auf den Gehsteig ein, wenn ein Auto auf die Ampel zufuhr. Dieses tatsächlich eher unangebrachte Verhalten brachte die Fahrer aber nicht dazu, Reißaus zu nehmen. Wissenschaftler versuchen, in einem Experiment alles zu kontrollieren, bis auf die Variable, der ihr Interesse gilt (in diesem Fall die für die Überquerung der Kreuzung notwendige Zeit), aber das ist oft leichter gesagt als getan. In diesem Experiment zum Beispiel gab es keine Möglichkeit, zu steuern, wie viel später als das Motorrad das anzustarrende Auto bei der Kreuzung ankam, was dazu führte, dass die tatsächlich fürs Starren verfügbare Zeit stark variierte und zwischen 3 und mehr als 20 Sekunden lag. Aber dieser nicht steuerbare Aspekt erwies sich als einer der interessantesten Teile des Experiments: Die Dauer des Starrens hatte keinen Einfluss auf die Fahrer, die angestarrt wurden. Jene, die dem kürzesten Anstarren ausgesetzt waren, fuhren genauso schnell an wie die anderen, die den starrenden Blick eine halbe Minute oder länger ertragen mussten. Die Schlussfolgerung: Es gibt einen Augenblick – und der tritt sehr schnell ein, innerhalb von ein paar Sekunden –, in dem sich ein Blick in ein Starren verwandelt. Sobald diese Schwelle überschritten ist, verändert sich die Beziehung zwischen den beiden Menschen. Dieses Experiment ist eines von Hunderten, die eine der subtilsten Formen der menschlichen Interaktionen zu erklären versuchen: den Blickkontakt. Die Ironie liegt darin, dass wir, die wir während unserer gesamten im Wachzustand verbrachten Zeit Blickkontakt haben,
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nicht wirklich einsehen, was daran so kompliziert sein könnte. Es klingt alles so vertraut: Männer lassen sich weniger auf Blickkontakt ein als Frauen; wenn Sie mit jemandem sprechen, dann schauen Sie Ihr Gegenüber normalerweise erst dann wirklich an, wenn Sie schon fast ausgeredet haben; manchmal werfen Sie einen Blick auf Ihren Gesprächspartner, um zu verhindern, dass er Ihnen ins Wort fällt, wenn Sie gerade eine Pause machen. In diesen Situationen erfolgt der Blickkontakt in einem linguistischen Kontext. Aber er ist auch emotional. Wenn ein Bild tausend Worte wert ist, dann ist ein Blickkontakt mit jemandem am anderen Ende eines vor Menschen wimmelnden Raums ganze Absätze von müßigen Phrasen wie »Und was tun Sie?« wert. Normalerweise bedeutet Blickkontakt den Beginn von etwas: von trivialen, aber auch nicht so trivialen Dingen, von guten wie schlechten. Das ist ein Grund dafür, warum Kellner so gut Blicken ausweichen können. So faszinierend all das ist: Es gibt einen Aspekt beim Blickkontakt, der einen der Grundbausteine menschlichen Verhaltens darstellt, was man aus diesen angeführten Beispielen nicht unbedingt ableiten kann. Es handelt sich um die Rolle, die der Blick beim Verstehen dessen, was andere denken, spielt. Zu wissen, was der andere denkt – manche Psychologen sprechen von einer »Theorie des Geistes« –, scheint eine für den Menschen typische Fähigkeit zu sein. Der Neurowissenschaftler Simon Baron-Cohen von der Cambridge University in England meint, dass das menschliche Gehirn mit einem vorgefertigten Satz von »Modulen« ausgestattet ist, die wir uns wie Softwareprogramme vorstellen können, die kooperieren, damit wir uns in den Geist eines anderen versetzen können. Die Gesamtheit dieser Module wird »Mind Reading Model« genannt. Obwohl noch nicht genug Beweise für die Existenz solcher Module vorliegen, vereint Baron-Cohens Theorie nahtlos all jene mentalen Operationen, die notwendig sind, um zu wissen, was andere Menschen denken. Man unterscheidet vier solcher Module: den Intentionalitätsdetektor (ID), den Blickrichtungsdetektor (Eye-Direction-Detector, EDD), den Geteilte-Aufmerksamkeits-Mechanismus (Shared-Attention-Mechanism, SAM) und den Theorie-des-Geistes-Mechanismus (Theory-ofMind-Mechanism, ToMM).
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Das Ganze soll folgendermaßen funktionieren: Der Intentionalitätsdetektor erlaubt uns, die Absichten anderer Lebewesen zu erahnen. Wenn der Hund die Katze jagt, glauben wir, dass er die Katze fangen will. Das ist eine sehr einfache, nicht besonders raffinierte mentale Fähigkeit. Der Blickrichtungsdetektor findet in einem Gesicht die Augen, erkennt anhand der Position der Pupillen, wohin das Gesicht schaut, stellt dann die Annahme auf, dass die Person hinter dem Gesicht all das sehen kann, was in der Blickrichtung liegt. Der Geteilte-Aufmerksamkeits-Mechanismus geht einen Schritt weiter. Baron-Cohen schätzt, dass er im Alter von ungefähr einem Jahr zu wirken beginnt und uns erlaubt zu erkennen, ob wir dasselbe Ding wie jemand anderer anschauen: Ein Kind, das am Tisch sitzt, schaut seitlich auf den Schokoladekuchen, und Sie benutzen Ihr SAM, um davon abzuleiten, dass es der Kuchen und nicht die Karotten sind, die das Kind anschaut. Bei einer Geburtstagsparty von zweijährigen Kindern gibt es eine Menge solcher SAMs, die derartige Berechnungen anstellen. Schließlich tritt noch der ToMM auf den Plan, aber erst im Alter von zwei oder drei Jahren. Es ist das ausgereifte Expertensystem in diesem Set mentaler Module, das im Gedankenlesen einen Schritt weiter geht als die anderen Module und dadurch Täuschungen erkennt, selbst vortäuscht und sogar Fantasiespiele mit anderen spielt. Es erlaubt uns zu wissen, was andere denken. Es ist nicht klar, ob das menschliche Gehirn vier voneinander getrennte Regionen besitzt, die diesen Modulen entsprechen. Allerdings gibt es genügend Hinweise, dass die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, für das menschliche soziale Leben von eminenter Bedeutung ist und zumindest im Falle sehender Menschen von der Fähigkeit, in den Augen anderer lesen zu können, abhängt. Und das beginnt früher, als Sie sich wahrscheinlich vorstellen. Eine 2002 veröffentliche Studie zeigt, dass Kinder von Geburt an lieber Gesichter betrachten, die ihnen in die Augen schauen. Man zeigte Babys Paare von Bildern ein und derselben Person, wobei diese einmal geradeaus und einmal zur Seite schaute. Die Babys betrachteten das Bild mit den sie direkt anschauenden Augen öfter und signifikant länger. Die Wissenschaftler zeichneten dann die Gehirnwellenak-
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tivität einer Gruppe von vier und fünf Monate alten Kleinkindern auf. Sie suchten Gehirnwellenmuster, die bei Erwachsenen erscheinen, wenn sie Gesichter betrachten, und sie fanden heraus, dass diese Wellen bei den Babys den Höchstwert erreichen, wenn sie Gesichter betrachteten, deren Blick direkt auf sie gerichtet war. Offenbar ist Blickkontakt etwas, worauf das menschliche Gehirn schon sehr früh im Leben anspricht – ja, er kann sogar Teil eines Schaltkreises im Gehirn sein, der aufgrund seiner Vernetzung explizit für diese Aufgabe gemacht ist. Es gelingt uns schon im Kleinkindalter, die Blickrichtung eines Augenpaars zu erkennen, weil die Pupillen von Weiß umgeben sind. Das Weiße des Auges ist auf beiden Seiten deutlich sichtbar, und wenn Sie auf beiden Seiten gleich viel Weiß sehen können, dann schauen die Augen Sie direkt an. Die Kopfstellung spielt ebenfalls eine wichtige Rolle: Wenn jemand seinen Kopf halb von Ihnen wegdreht, aber Sie trotzdem anschaut (ein »Seitenblick«), dann kommen die Pupillen seiner Augen auf einer Seite zu liegen, wobei der Großteil des Weißen auf der anderen Seite liegt. Das macht für Sie keinen Unterschied – Sie können auch in diesem Fall mühelos erkennen, dass die Person Sie anschaut –, allerdings muss Ihr Gehirn ein Sensorium für eine ganze Reihe von Augenpositionen haben – links, rechts, oben, unten –, denn nur dann kann es erkennen, wann ein Blick Sie anvisiert. Übrigens liefert das Geradeaus-Starr-Signal »Pupille in der Mitte des Auges« zumindest eine teilweise Erklärung für die unheimliche Tendenz von porträtierten Gesichtern, Ihnen mit dem Blick durch einen Raum zu folgen. Wenn Sie ein echtes Gesicht anschauen, das vor sich hinstarrt, während Sie sich im Raum bewegen, dann verschiebt sich die Position der Pupille in Bezug auf das Weiße des Auges, während Sie sich bewegen. Wenn Sie weit genug zur Seite gehen, dann können Sie das Weiße auf der anderen Seite überhaupt nicht mehr sehen. Aber weil das gemalte Porträt flach ist, sehen Sie, egal aus welcher Richtung Sie es anschauen, immer etwas Weiß auf beiden Seiten der Pupille, und Ihr Gehirn schließt daraus automatisch, dass die Person auf dem Porträt Sie direkt anstarrt. Das Weiße des Auges heißt »Sklera«, und als japanische Wissenschaftler menschliche Augen mit denen von mindestens der Hälfte al-
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ler Primaten verglichen – mit Augen von Gorillas, Schimpansen, Pavianen und Meerkatzen –, entdeckten sie, dass unsere Augen einzigartig sind. Wir sind die einzigen Wesen mit einer weißen Sklera, und wir zeigen mehr von dieser Sklera als alle anderen Tiere. Die Wissenschaftler vermuten, dass für manche Tiere eine dunkle Sklera von Vorteil ist (Raubtiere haben dadurch Schwierigkeiten zu beurteilen, ob ein Tier sie wahrnimmt oder nicht). Menschen hingegen sind stärker auf die kommunikative Fähigkeit des Weißen der Augen angewiesen. Vielleicht haben sich die menschlichen Augen von »blickverschleiernden« zu »blickkommunikativen« Augen entwickelt. Wer hätte gedacht, dass das Weiße der Augen ein Kommunikationsmedium darstellt, genauso wie Lächeln oder Stirnrunzeln? Studien des Gehirns mittels bildgebender Verfahren haben gezeigt, dass das Gehirn geradezu darauf drängt, den Augen eines anderen zu folgen. In einer Studie wurde eine Gehirnregion, die eine Schlüsselrolle beim Verlagern unserer Aufmerksamkeit von einer Stelle auf eine andere innehat, aktiv, sobald die Versuchspersonen Gesichter sahen, deren Augen wegschauten. Mit anderen Worten: Die Versuchspersonen, die Gesichter sahen, deren Augen zur einen oder anderen Seite schauten, beschlossen nicht bewusst, deren Blick zu folgen; ihr Gehirn aktivierte ganz von selbst neuronale Mechanismen, die die Suche nach dem Gegenstand der Aufmerksamkeit in Gang setzten. Wir alle wissen, dass wir dorthin schauen, wohin der andere schaut; was wir aber nicht realisieren, ist, in welchem Ausmaß das eine automatische Gehirnfunktion ist und wie wichtig sie für unser soziales Leben ist. Allerdings kann der Blickrichtungsdetektor, genauso wie auch alle anderen automatischen Systeme, getäuscht werden. Wenn man Personen Bilder von Gesichtern zeigt, bei denen der Augenkontrast umgekehrt ist – wenn also die Pupille weiß und die Sklera dunkel ist –, dann haben sie Schwierigkeiten zu bestimmen, wohin diese Augen schauen. Meistens verwechseln sie diese dunkle Sklera mit der Pupille und schreiben dem Blick die genau falsche Richtung zu, auch wenn die »Pupille« in diesem Fall die falsche Größe und Form hat. Die Versuchspersonen machen diesen Fehler auch dann, wenn sie wissen, dass sie ein Negativbild anschauen, woraus man folgern kann, dass die automatische Beurteilung der Blickrichtung ein mächtiger neuro-
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naler Mechanismus ist, der sich einer Korrektur durch den denkenden Teil des Gehirns widersetzt. Hier könnte Baron-Cohens Blickrichtungsdetektor am Werk sein. Die Tatsache, dass wir uns so sehr auf das Schema dunkle Pupille / weiße Sklera verlassen, könnte auch erklären, warum in den billigsten, geschmacklosesten, aber doch wirkungsvollsten Horrorfilmen beim Bösewicht der Kontrast der Augen von hell zu dunkel wechselt (dass er auch noch die Augen rollt, hat auch etwas damit zu tun). Genauso haben Sie vielleicht gedacht, dass das unangenehme Gefühl, das Sie überkommet, wenn Sie sich verkatert in Gesellschaft anderer Menschen befinden, einfach daher stammt, dass Sie sich mies fühlen. Aber wenn Ihre Augen gerötet sind, fällt es anderen schwer, Ihre Absichten zu erkennen, weil die Pupille sich nicht gegen einen reinweißen Hintergrund abzeichnen kann. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es tatsächlich so etwas wie die »Bloodshot-Illusion«. Wenn also wie beim Kater der normale Kontrast zwischen Pupille und Sklera fehlt, kann man sich noch immer an der Richtung orientieren, in die der Kopf des anderen zeigt, und so herausfinden, wohin er seine Aufmerksamkeit richtet. Auf das und nicht viel mehr müssen wir uns verlassen, wenn wir jemanden aus der Ferne sehen. Ich habe früher Football gegen einen Quarterback gespielt, der die Kunst perfektioniert hatte, seinen Kopf in eine Richtung zu drehen, aber aus den Augenwinkeln in die andere Richtung zu schauen. Die meisten von uns, die versuchten herauszufinden, in welche Richtung er seinen Wurf machen würde, starteten in die Richtung, in die sein Kopf zeigte, und meistens blamierten wir uns ganz schön. Aber selbst wenn Sie die Augen in einem Gesicht deutlich sehen können, kann eine leichte Drehung des Kopfes in die eine oder andere Richtung die sichtbare Richtung der Augen subtil verändern, sodass ein EDD an sich nicht genug ist – vielleicht brauchen wir dazu auch einen Kopfrichtungsdetektor. Erst wenn wir unsere Fähigkeit, die Blickrichtung zu interpretieren, mit der anderer Tiere vergleichen, erkennen wir, wie enorm wichtig diese Fähigkeit ist und wie sehr sie uns sogar von Tieren unterscheidet, zu denen wir eine enge Beziehung haben. Ich habe einen ganz normalen, für Hundeverhältnisse recht intelligenten Pudel.
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Hunde sind stärker als andere Tiere auf den Menschen eingestellt, einschließlich ihrer engen Verwandten, der Wölfe, aber auch stärker als Schimpansen. Sie folgen der Richtung, in die ein Mensch deutet, und mein Hund schaut mir sicher auch in die Augen, aber das ist es auch schon. Er ist gewiss nicht in der Lage, meinem Blick zu einem Gegenstand am anderen Ende eines Raumes zu folgen, und es wäre ein schöner Schock für mich, wenn er wüsste, was ich denke. (Ich hingegen weiß, dass er ans Fressen denkt, ob ich nun seine Augen sehe oder nicht.) Es hat viele Versuche gegeben, herauszufinden, ob Affen, Menschenaffen im Speziellen, bis zu einem gewissen Grad Blicke lesen können wie wir, und es scheint allgemein anerkannt zu sein, dass alle zumindest gewisse Fähigkeiten im »Gedankenlesen« besitzen, wobei Menschenaffen weiter sind als andere Affen. Doch letzten Endes haben weder Schimpansen noch Gorillas eindeutig beweisen können, dass sie die Gedanken eines anderen Affen oder eines menschlichen Experimentators lesen können. Aber clever sind sie trotzdem. Nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte von einem jugendlichen Pavianmännchen, das einen kleinen Pavian zusammenschlug, der dann um Hilfe schrie. Die Erwachsenen kamen angerannt, und der halbwüchsige Pavian starrte sofort in die Ferne, als ob die Bedrohung von einem Raubtier in dieser Richtung ausgegangen wäre, wodurch er sich einer Bestrafung entziehen konnte. Gescheit, aber nicht ganz nach Menschenart. Es ist deswegen so wichtig, nicht nur die Rolle, die der Blickkontakt im sozialen Leben spielt, zu verstehen, sondern auch die Gehirnmechanismen dahinter, weil bei manchen Störungen dieses System nicht richtig funktioniert. Die bekannteste dieser Störungen ist der Autismus. Simon Baron-Cohen ist auch ein bekannter Autismusforscher. Er (und viele andere Wissenschaftler) ist überzeugt, dass die Schwierigkeiten, die autistische Menschen im sozialen Bereich haben, auf ihre Unfähigkeit zurückzuführen sind, sich auf Blickkontakt einzulassen. Das ist aber nicht alles: Aufgrund ihrer Unfähigkeit, Blickkontakt herzustellen, sind sie nur eingeschränkt in der Lage, die »Gedanken« anderer zu »lesen«, und das wiederum ist zumindest teilweise auf ihre Unfähigkeit zurückzuführen, die Blickrichtung bei anderen Menschen zu interpretieren.
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Autistische Menschen neigen dazu, nicht dort hinzuschauen, wohin jemand zeigt, und sie zeigen selbst nur selten auf Dinge oder Menschen. Vieles deutet darauf hin, dass dieses Verhalten nicht nur offensichtliche Defizite bewirkt, sondern auch weiterreichende Probleme verursacht, zum Beispiel die Unfähigkeit zu verstehen, was in anderen vorgeht, oder sich vorzustellen, dass in einer anderen Person überhaupt etwas anderes vorgehen könnte. Kleine Kinder lernen schnell, dass ein Gesicht, bei dem die Augen nach oben und weg von ihnen schauen und dabei nichts speziell fokussieren, »nachdenkt«, aber autistische Kinder desselben Alters sind nicht in der Lage, diesen Unterschied zu erkennen. Wenn man Baron-Cohens Modell folgt, sind sie offenbar in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, die Blickrichtung zu erkennen, Aufmerksamkeit zu teilen und eine »Theorie des Geistes« zu erwerben. Eine englische Studie testete 16 000 Kleinkinder im Alter von 18 Monaten auf ihre Fähigkeiten, auf etwas zu zeigen, dem Blick eines anderen zu folgen und so zu tun, als würden sie spielen; zwölf von ihnen versagten in allen drei Tests, und zehn dieser zwölf wurden als Autisten erkannt. Wissenschaftler versuchen nun herauszufinden, welcher Teil oder welche Teile des Gehirns bei solchen Menschen gestört sind. Es ist schon faszinierend zu sehen, dass unser mentales Gebäude sich aus so einfachen Bausteinen zusammensetzt. Es beginnt mit dem Gehirn, das der Blickrichtung eines anderen folgen kann, und daraus baut sich die menschliche Persönlichkeit in ihrer ganzen Vielfalt auf, von der Freude fantasievollen Spielens bis hin zur Grausamkeit der Täuschung.
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Jeder, der schon einmal einem interessanten Menschen quer über einen Raum hinweg fest in die Augen geschaut hat, weiß, dass ein derartiger Blick eine sehr große Kraft in sich bergen kann. Aber wie groß ist diese Kraft? Es muss die Kraft hinter der Vorstellung sein, dass »Liebe auf den ersten Blick« möglich ist. Ein attraktives Gesicht kann einem den Kopf verdrehen, aber das allein reicht noch lange nicht. Wenn man jedoch jemandem direkt in die Augen schaut, passiert etwas vollkommen anderes. Und es wird Sie erstaunen, wie machtvoll das ist, was da passiert. Experimente, die Ekhard Hess in den sechziger Jahren an der University of Chicago durchgeführt hat, sind ein Beispiel dafür. Hess wollte herausfinden, ob geweitete Pupillen irgendeine Wirkung auf die Person haben, die sie anschaut. Er zeigte männlichen Versuchspersonen eine Reihe von Bildern, und auf einem war eine attraktive Frau zu sehen. Tatsächlich erschien sie zweimal in diesem Satz von Bildern: Einmal waren ihre Pupillen so retuschiert, dass sie stark geweitet wirkten, einmal waren die Pupillen normal groß. Er fand heraus, dass die Männer signifikant oft das Bild mit den geweiteten Pupillen attraktiver fanden. Und sogar ihre Pupillen weiteten sich, während sie das Bild betrachteten. Obwohl einige Männer meinten, die Frau mit den geweiteten Pupillen sei »femininer« oder »hübscher«, war sich keiner der Veränderung der Pupillen bewusst. Aber warum? In weiteren Experimenten konnte Hess zeigen, dass sich unsere Pupillen weiten, wenn wir einen interessanten Menschen oder Gegenstand betrachten. In einer Versuchsreihe zeigte er hungrigen Testpersonen zufällige Gegenstände, darunter auch Stücke eines sehr lecker wirkenden Kuchens. Jedes Mal, wenn die hungrigen Ver-
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suchspersonen solch essbare Dinge sahen, weiteten sich ihre Pupillen. Waren sie nicht hungrig, hatte der Kuchen keine Wirkung auf ihre Pupillen. Geweitete Pupillen signalisieren also Interesse. Wenn ein Mann einer Frau in die Augen blickt und ihre Pupillen sich weiten, dann spürt er, dass sie sich für ihn interessiert. Er fühlt sich – vielleicht ganz unbewusst – geschmeichelt und zeigt seinerseits Interesse. Hess betonte, dass aus diesem Grund wahrscheinlich italienische und spanische Frauen im Mittelalter ihre Augen mit »Belladonna« (»schöne Frau«) eintropften, das aus den Blättern oder Beeren der gleichnamigen Pflanze gewonnen wird. Die aktive Substanz in Belladonna ist Atropin, ein chemischer Stoff, der die Pupillen weitet. Eine stark verdünnte Lösung wird von Augenärzten verwendet, wenn sie Ihre Augen vor einer Untersuchung weiten wollen. Die molekulare Struktur von Atropin ahmt die von Acetylcholin nach, einem Neurotransmitter, der Nervenimpulse auf Muskeln überträgt. Atropin klinkt sich in Acetylcholin-Rezeptoren ein, blockiert sie und verhindert damit, dass Acetylcholin Zugang zu ihnen erhält, wodurch der normale Zyklus vom Weiten und Zusammenziehen der Pupillen unterdrückt wird. Natürlich ist die Größe der Pupillen nur einer von vielen Faktoren, die die Attraktivität eines Gesichts bestimmen, wobei es keine leichte Aufgabe ist, festzustellen, was nun eigentlich Attraktivität ausmacht. In den vergangenen Jahrhunderten haben Mathematiker eine Schlüsselrolle gespielt: Künstler des Mittelalters teilten Gesichter in sieben gleiche Teile ein: einen für das Haar, zwei für die Stirn, zwei für die Nase, einen für den Raum zwischen Mund und Nase und ein letztes Segment für das Kinn. In einigen Fällen wurden diese Entfernungen miteinander verbunden, sodass zum Beispiel die Entfernung zwischen verschiedenen Gesichtsmerkmalen das Verhältnis 3 zu 2 aufwies. Diese aufgesetzten Entscheidungen waren stark von numerologischen Überlegungen geprägt, die nichts mit Schönheit zu tun hatten. Heute versuchen Wissenschaftler in Experimenten herauszufinden, was ein Gesicht attraktiv macht. Bei einigen der interessantesten Versuche wurden Bilder von Gesichtern überlagert, um Gesichter zu erzeugen, die attraktiver erschei-
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nen. In einem typischen Experiment nimmt man zwei Gesichter, gleicht sie größenmäßig aneinander an und berechnet den Durchschnitt von Hell und Dunkel im gesamten Gesicht. Die helleren beziehungsweise dunkleren Bereiche liefern Schatten und Konturlinien, die dem Gesicht seine Dreidimensionalität und Textur verleihen. Durch das Mischen von Hell und Dunkel der beiden Gesichter werden die markanten Schatten und Merkmale gemildert, was ein Gesicht ergibt, das zwischen den beiden Ausgangsgesichtern liegt. Studien dieser Art zeigen, dass die meisten von uns glauben, ein Gesicht sei umso attraktiver, je »gemischter« es ist. Dieser Effekt unterscheidet sich von dem einer Weichzeichnerlinse, die Falten oder Unebenheit der Haut ausgleicht, weil diese Technik auch bei Strichzeichnungen von einem Gesicht funktioniert. Aber es scheint nicht zu stimmen, dass Durchschnitt gleich schön ist. Ausgefeiltere Versionen dieser Technik ergaben, dass Gesichter, die im Urzustand als attraktiv empfunden und überlagert wurden, noch immer attraktiver sind als gewöhnliche Gesichter, die auf diese Weise gemischt werden. Gewöhnliche (also nicht ganz so attraktive) Gesichter können nie aufholen. Wäre aber Durchschnitt gleich schön, müssten sie es eigentlich schaffen: Wenn wir alle uns nur genug dem Durchschnitt näherten, sollten wir geradezu umwerfend sein! Diese Mechanismen funktionieren bei Menschen unterschiedlicher Kulturen: Ein »gemischtes« Gesicht, das sich nicht wesentlich von einem Allerweltsgesicht unterscheidet, wird als attraktiv empfunden. Warum dem so ist, ist nicht ganz klar. Manche Wissenschaftler glauben, dass es mit Evolution und Kinderkriegen zu tun hat und ein durchschnittliches Gesicht etwas über Gesundheit und die Fähigkeit, Kinder aufzuziehen, aussagt, was ein eigenwilliges Gesicht nicht vermitteln kann. Aber so genau weiß das noch niemand. Zurück zu den Augen. Nach all dem könnten Sie nun erwarten, dass ein durchschnittliches Gesicht mit großen Pupillen unschlagbar ist. Das mag zwar stimmen, aber in jedem Fall müssten diese großen Pupillen Sie direkt anschauen. Im Jahr 2001 führten Wissenschaftler am Institut für kognitive Neurowissenschaften des University College, London, Untersuchungen mit Bildgebungsverfahren des Gehirns durch, die zeigten, dass Blickkontakt direkt unser Urteil über die
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Schönheit eines Gesichts beeinflusst. Sowohl männlichen als auch weiblichen Versuchspersonen wurden 40 verschiedene Gesichter in verschiedenen Posen gezeigt. Dasselbe Gesicht wurde einmal mit geradeaus blickenden Augen gezeigt (um Blickkontakt herzustellen), einmal mit abgewendeten Augen. In manchen Fällen war der Kopf leicht zu einer Seite gedreht, wiederum mit den beiden verschiedenen Blickrichtungen. Die Versuchspersonen betrachteten die Gesichter, während mittels des Brain-Imaging-Verfahrens die Aktivität einzelner Gehirnregionen untersucht wurde. Dann beurteilten die Versuchspersonen die Gesichter nach ihrer Attraktivität. Die Resultate waren auf den ersten Blick sehr erstaunlich. Eine Hirnregion, das ventrale Striatum, zeigte mehr Aktivität, sobald ein attraktives Gesicht präsentiert wurde, aber nur wenn dieses Gesicht Blickkontakt herstellte. Wenn die Augen desselben Gesichts wegschauten, reduzierte das ventrale Striatum seine Aktivität. Es handelt sich also um eine Hirnregion, die auf ein attraktives Gesicht reagiert, aber nur, wenn dieses Gesicht dem Betrachter in die Augen schaut. Was bedeutet das? Es war bereits bekannt, dass das ventrale Striatum eine Schlüsselrolle bei der Verbindung von Lustzentren, Belohnung, Emotion und Aktion spielt. Diese Resultate lassen nun darauf schließen, dass es auch eine Rolle bei der »Evaluation von Reizen mit Relevanz für soziale Situationen« spielt, wie es die Forscher ausdrückten. Mit anderen Worten: Wenn Sie ein attraktives Gesicht sehen, wird das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert, aber wenn das Gesicht in die andere Richtung blickt, macht das ventrale Striatum zu und dämpft diese hohen Erwartungen. Aber sobald das attraktive Gesicht den Blick erwidert, beginnt das ventrale Striatum zu arbeiten. Erinnern Sie sich an die »Liebe auf den ersten Blick?« Es reicht nicht, dass das Gesicht schön ist – es sollte Sie schon auch anschauen. Außerdem vermuten die Forscher, dass ein unattraktives Gesicht den gegenteiligen Effekt auslösen kann (allerdings war das nicht Teil des Experiments). Wenn ein weniger hübsches Gesicht Blickkontakt herstellt, könnte das ventrale Striatum in den Stand-by-Modus wechseln; schaut das unattraktive Gesicht hingegen weg, würde das Striatum »vor Erleichterung«, wie die Forscher meinen, aktiv werden. Ist es nicht verblüffend, dass ein solches Urteil über Attraktivität,
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gepaart mit einem unbewussten Abschätzen des Blickkontakts, zu potenziell dramatischen Augenblicken im Leben führen kann? Im Gehirn dreht sich alles darum, ob wir Belohnung erwarten oder nicht. Liebe? Das ist was für Romantiker.
Der telepathische Blick
Können Sie sagen, ob Sie jemand von hinten anstarrt? Fühlen Sie etwas, was ein Psychologe im Jahr 1898 als »Zustand unangenehmer Spannung oder Steifheit im Nacken« beschrieb, »mit dem manchmal ein Klingeln einhergeht, das in Volumen und Intensität ansteigt, bis eine Bewegung unausweichlich wird, die es wieder mildert«? Verschiedene Untersuchungen haben geschätzt, dass 70, 80 oder sogar 90 Prozent der Menschen glauben zu spüren, ob sie jemand heimlich anstarrt. Glauben ist eine Sache, aber gibt es Beweise dafür? Im Moment ist die Sachlage alles andere als klar. Leider wirken hier auch die Experimente, die zum Gefühl, angestarrt zu werden, gemacht wurden, nicht wirklich klärend. Im Allgemeinen erhalten Versuchsleiter, die man als Verfechter des Paranormalen einstufen könnte, positive Ergebnisse, während Skeptiker negative Resultate erzielen. Die ganze Frage ist inzwischen in einen Kampf zwischen Behauptung und Gegenbehauptung ausgeartet und wird zusätzlich noch dadurch verschärft, dass ein neues Experiment nie eine exakte Wiederholung eines vorhergehenden ist. Dadurch können ständig neue Behauptungen aufgestellt werden, aber auch neue Kritiken finden genug Nährboden. In diesem Fall kann man nur eine Ahnung von den Kontroversen vermitteln, aber keine klare Antwort geben. Die Beschreibung des Gefühls des Angestarrtwerdens, die ich im ersten Absatz zitiert habe, stammt von E. B. Titchener von der Cornell University. Titchener veröffentlichte 1898 in der Zeitschrift Science einen Aufsatz mit dem Titel »Das Gefühl, angestarrt zu werden«. Er begann mit einer Beobachtung, die auch heute noch ihre Gültigkeit hätte: dass ein gewisser Anteil seiner Studenten glaubt sagen zu können, wann sie angestarrt werden.
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Titchener führte einige Experimente durch, um diese angebliche Fähigkeit zu testen, aber leider berichtete er nichts über die Ergebnisse. Doch er lieferte eine genaue Erklärung des Phänomens, die alles auf den Kopf stellte. Er ging davon aus, dass wir uns dessen bewusst sind, was hinter uns passiert, vor allem dann, wenn tatsächlich Leute hinter uns sitzen. Das zeigt sich insbesondere darin, dass wir uns immer wieder durch die Haare fahren oder über unsere Schulter sehen. Er meinte, dass diese allgemeine nervöse Aktivität manchmal tatsächlich einen Blick nach hinten auslöst. Titchener unterstrich dann scharfsichtig, dass Sie, wenn Sie hinter dieser Person säßen und ihre Bewegung des Kopfdrehens aus dem Augenwinkel wahrnähmen, sich dieser Person dann wahrscheinlich direkt zuwenden würden. Und was würde diese Person dann sehen? Sie, wie Sie sie anstarren. Und was würde diese Person dann denken? Dass Sie sie von Anfang an angestarrt haben. Das ist eine clevere Beweisführung, aber kein echter Beweis. Fünfzehn Jahre später beschäftigte sich J. E. Coover mit dieser Frage, und er veröffentlichte die Ergebnisse einer Studie, bei der er Studenten (die er ausgewählt hatte, weil sie behaupteten zu wissen, wann sie angestarrt werden) die Chance gab, zu erraten, ob sie während einer Phase von 15 Sekunden angestarrt würden oder nicht. Eine Schachtel mit einem Würfel darin sorgte dafür, dass man nicht voraussagen konnte, wann gestarrt wurde: Eine ungerade Augenanzahl bedeutete »Starren«. Zehn Studenten hatten jeweils hundert Versuche, und am Ende des Experiments lagen sie in 50,2 Prozent der Fälle richtig, was wie Coover selbst bemerkte, »eine erstaunliche Annäherung« an ein Zufallsergebnis war. Hätte man Münzen geworfen, dann wäre man wahrscheinlich gar nicht so nahe an 50 zu 50 gekommen wie die Studenten. Coover bat seine Studenten auch zu beurteilen, wie sicher sie sich in ihrem jeweiligen Urteil waren. Er benutzte diese Daten, um die zu erwartende Kritik zu entkräften, dass man nicht jene Beurteilungen, bei denen die Studenten sich nicht sicher waren und sich tatsächlich geirrt hatten, mit jenen, in denen sie sich ganz sicher waren, in einen Topf werfen dürfe. Es hätte ja sein können, dass dieses Vertrauen ins eigene Urteil ein echtes Maß für einen machtvollen psychischen Pro-
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zess ist. Leider war dem nicht so: Die Studenten erzielten genauso hohe Treffer beim reinen Raten wie in jenen Fällen, wo sie sich sicher fühlten. Coovers Studie, die sehr einfach angelegt war, illustriert aber sehr gut die zentralen Probleme, mit denen Experimente zum Gefühl des Angestarrtwerdens zu kämpfen haben. Die Entscheidung zu starren oder nicht zu starren muss vollkommen zufällig getroffen werden: Die Versuchspersonen, die angestarrt werden, dürfen auf keinen Fall ein Muster erkennen und sich ihre Antworten dementsprechend zurechtlegen können. Diese Frage der Zufälligkeit ist noch heute ein strittiger Punkt, genauso wie die statistischen Analysen. Coover war angesichts der 50,2 Prozent sehr angetan, aber im Jahr 2000 evaluierte eine Gruppe an der Middlesex University in England seine Daten und kam zu folgender Beurteilung: Es stimmt zwar, dass die Studenten immer dann, wenn sie das Gefühl hatten, nicht angestarrt zu werden, im Zufallsbereich lagen, aber in einem statistisch signifikanten Maß konnten sie sagen, wann sie tatsächlich angestarrt wurden. In den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von Coovers Untersuchung im Jahr 1913 war es ziemlich ruhig um das Phänomen des telepathischen Blicks. Das änderte sich erst wieder in den neunziger Jahren. Im British Journal of Psychology, in The Journal of Parapsychology und im Journal of the Society for Psychical Research wurde eine Studie nach der anderen publiziert. Einige zeigten, dass dieses Phänomen tatsächlich existiert, andere behaupteten bewiesen zu haben, dass es nicht existiert. Es bringt nichts, hier die Ergebnisse der einzelnen Studien aufzulisten, obwohl es interessant ist, dass mit jeder neuen Studie auch neue Methoden entwickelt wurden, um mögliches Schwindeln auszuschließen, sei es bewusst oder unbewusst. Anfangs saß der Starrende direkt hinter dem Angestarrten, dann saß der Starrende hinter einem Einwegspiegel, um die Möglichkeit auszuschließen, dass leise Geräusche Hinweise darauf gaben, ob der Starrende den Angestarrten anschaute oder nicht. Im nächsten Schritt wurde der Angestarrte in einen eigenen Raum in 20 Meter Entfernung gesetzt, der mittels Videokamera und Monitor mit dem anderen Raum verbunden war. William Braud und seine Kollegen vom Institute for Transpersonal
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Psychology in Palo Alto, Kalifornien, nahmen eine einschneidende technologische Verbesserung vor. Sie beschäftigten sich mit der Frage, ob die Fähigkeit zu wissen, ob man angestarrt wird oder nicht, von subtilen inneren Signalen abhängt, die leicht verdrängt werden können, sobald man die Versuchspersonen bittet zu beurteilen, ob sie angestarrt werden oder nicht. In einer solchen Situation denken die Testpersonen nämlich aktiv nach und suchen nach jener Art von Signalen, die sie zu fühlen hoffen. Diese Form mentaler Aktivität könnte die Person blind für die schwachen körperlichen Signale machen, die sie sonst aber sehr wohl registrieren könnte. Träfe diese Annahme zu, so würde das auch erklären, warum bis dahin nur so wenige positive Ergebnisse erzielt worden waren. Braud trat also für ein radikales Überdenken des Experiments ein: Er ließ die Testpersonen nicht mitteilen, ob sie das Gefühl haben, angestarrt zu werden, sondern erfand eine Möglichkeit, diese mutmaßlichen inneren Signale anzuzapfen, indem er etwas maß, was als »spontaner phasischer Hautwiderstand« bekannt ist. Mit dieser Methode kann eine unbewusste Erregung des Nervensystems registriert werden, wie bei einem Lügendetektor (nur mit hoffentlich verlässlicheren Resultaten). Brauds Methode zeigt, wie sehr die Experimentatoren bemüht sind, eindeutige Ergebnisse und gute Statistiken zu erzielen und jede Möglichkeit des Schwindelns auszuschließen. Nachdem man der Versuchsperson den Raum mit dem Fernsehmonitor gezeigt hatte, auf dem die »starrende« sie sehen würde, nahm die Versuchsperson in einem anderen Raum in einem Lehnstuhl Platz. Man befestigte zwei Elektroden zur Messung des Hautwiderstands an der linken Hand und bat die Testperson, 20 Minuten ruhig sitzen zu bleiben. Während dieser 20 Minuten würde die starrende Person gelegentlich intensiv auf ihr Bild auf dem Monitor starren. Die Testperson wurde gebeten, nicht erraten zu wollen, wann der andere sie anstarrte. Nachdem die starrende Person beziehungsweise die Experimentatorin in den ersten Raum zurückgekehrt war, nahm sie »einen versiegelten undurchsichtigen Umschlag«, der eine Zufallssequenz von zehn Mal Starren und zehn Mal Nichtstarren enthielt, wobei jede Phase 30 Sekunden dauerte und jeweils von einer 30-Sekunden-Ruhephase gefolgt war.
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Um zu starren, drehte die Experimentatorin ihren Stuhl so, dass sie dem Fernsehmonitor zugewandt war, und starrte 30 Sekunden lang. Während der Pausen, in denen sie nicht starrte, war sie vom Monitor abgewandt. Um jedes mögliche unbeabsichtigte Starren auszuschalten, wurden alle reflektierenden Oberflächen abgedeckt. So konnte die Experimentatorin nicht unabsichtlich den Monitor sehen. Weder die Starrende noch der Angestarrte sahen je die Resultate der Aufzeichnungen der Nervenaktivität der Versuchsperson. Die Ergebnisse waren, gelinde gesagt, provokant. Die Aufzeichnungen des Hautwiderstands zeigten, dass es zumindest bei drei von vier Experimenten eine statistisch signifikante Beziehung zwischen Angestarrtwerden und Reaktionen des Nervensystems gibt. Am interessantesten war jedoch die Art der Reaktion. Beim ersten Experiment verzeichneten die Angestarrten verstärkte Hautreaktionen, wie man sie auch im Zustand gesteigerter Wachsamkeit oder beim Gefühl empfindet, dass einem die Haare im Nacken zu Berge stehen, wie es in den traditionellen Beschreibungen des Gefühls, angestarrt zu werden, heißt. Nach dem Experiment unterzog sich die Starrende, Donna Shafer, einem Telepathieseminar, im Zuge dessen ihr das Gefühl, andere anzustarren und deren Nähe zu spüren, vertrauter wurde. In den folgenden Experimenten, bei denen sie wieder die Rolle der starrenden Person einnahm, fühlte sie sich, wie sie sagte, »entspannter, positiver und angstfreier«, und die Hautreaktionen der von ihr angestarrten Personen gingen in eine andere Richtung als im ersten Experiment, als wären die angestarrten Personen ebenfalls entspannter gewesen. Weitere Details wurden ins Spiel gebracht, und eines der interessantesten betraf die Korrelation zwischen den Reaktionen der Testpersonen und den Ergebnissen, die sie bei anderen Tests erzielten, die Angst und soziale Belastung maßen: Je höher hier die Punktezahl war, desto stärker war die elektrodermische Veränderung beim Angestarrtwerden. Braud und seine Kollegen haben eine Reihe möglicher Erklärungen dafür formuliert: dass solche Menschen wachsamer sind, mehr soziale Interaktion brauchen und sie daher besser wahrnehmen, oder dass sie mehr daran gewöhnt sind, allein zu sein, und die Bedingungen, unter denen das Experiment stattfand, nicht weiter seltsam fanden und daher stark reagieren konnten.
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Gut – jetzt haben Sie wahrscheinlich den Eindruck, dass hier ohnehin alles zusammenpasst und Sinn macht. Wenn eine ruhige, entspannte, »geistig verbundene« Frau Sie mit vermutlich wohlwollendem Blick anstarrt, dann stehen die Chancen gut, dass Sie sich entspannt und nicht verstört fühlen. Aber vergessen Sie eines nicht: Diese Frau starrt in einen Fernsehmonitor; der Angestarrte sitzt vor einer Kamera. Sie befinden sich in zwei getrennten Räumen, die Türe zwischen den Räumen ist geschlossen. Wenn sich die angestarrte Person ruhiger fühlt, weil die Frau sie anstarrt, dann geht hier irgendetwas Paranormales vor. Ich glaube nicht, dass Parapsychologen behaupten würden, dass ihre Ausstrahlung durch das Videokabel wieder zurückwandere oder irgendwie sonst durch den Äther ströme – obwohl die Autoren nicht explizit sagen, wie das möglich ist. Sie starrt nicht auf die Testperson, sondern auf ein pixeliges Bild der Testperson. Was würde passieren, wenn das Bild kein Livebild, sondern eine Aufzeichnung wäre? Was, wenn die starrende Person sich in der West Edmonton Mall befinden würde? Würde dieses seltsame Experiment dann noch immer positive Ergebnisse bringen? Die Frage, wie das alles funktionieren könnte, lässt die meisten Wissenschaftler verstummen. Es ist nicht möglich, dies mit einem bekannten wissenschaftlichen Mechanismus zu erklären. Es hat jede Menge Erklärungsversuche gegeben, und einer stammt von jenem Mann, dem der »telepathische Blick« einen Gutteil seiner Bekanntheit verdankt: Rupert Sheldrake. In seinem 1994 erschienen Buch Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten, vertritt Sheldrake die Ansicht, dass das breite Publikum in die Erforschung kontroversieller Wissenschaftsgebiete einbezogen werden und selbst Experimente durchführen sollte, da diese Themen zu revolutionär seien (oder es sich zu sehr um Randthemen handele), als dass Wissenschaftler sie ernst nehmen könnten. Wenn Sie Sheldrakes Webseite »Sheldrake Online« auf http://www.sheldrake.org/deutsche/ besuchen, können Sie dort Anleitungen herunterladen, in denen er erklärt, wie Sie mit ihren Freunden Experimente zum telepathischen Blick durchführen können. Er fordert Sie auf, ihm die Ergebnisse zu schicken, die er dann in seine Datenbank einspeist, in der er Reaktionen zum Thema aus der ganzen Welt sammelt.
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Das Problem dabei ist natürlich, dass solche Beweise einen Skeptiker nie zum Verstummen bringen werden – es gibt einfach zu viele Möglichkeiten für bewusste oder unbewusste Fehler oder Schwindeleien. Ich halte Sheldrakes Vorgehen außerdem insofern für ungeschickt, als er aufgrund dieses Ansatzes – und seiner hohen Reputation – zur bevorzugten Zielscheibe für Skeptiker wird. Es besteht die starke Tendenz, sich auf ihn einzuschießen, während eigentlich die Experimente von Braud und anderen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollten. Aber Sheldrake schlägt nicht nur vor, dass Sie das zu Hause ausprobieren sollten, sondern hat auch eine mögliche Erklärung für die Funktionsweise dieses telepathischen Blicks. In Sieben Experimente schreibt er: »Das Sehen ist etwas, das über den Körper hinaus nach draußen geht. Licht geht ein in die Augen, und das Sehen geht aus durch die Augen ... Geben Sie sich einmal die Freiheit, Ihrer eigenen unmittelbaren Erfahrung zu trauen, und lassen Sie den Gedanken zu, dass die Wahrnehmung all der Dinge um Sie her wirklich dort bei den Dingen ist. Ihr Bild von dieser Seite beispielsweise ist genau da, wo es zu sein scheint, vor Ihnen. Diese Idee ist so verblüffend simpel, dass man sie kaum begreift.« Wenn jetzt Bilder tatsächlich aus unseren Augen hinausgehen und die von uns betrachteten Gegenstände berühren, dann können diese Gegenstände, wenn es sich dabei um Menschen handelt, diesen Blick vielleicht tatsächlich fühlen. Okay, aber das ist eine so simple Idee, dass ich Schwierigkeiten habe, sie zu verstehen ... Warten Sie. Das Problem ist nicht, dass es so simpel ist – sondern dass es keinerlei Beweis dafür gibt, nicht den geringsten. Mysteriöse Blickstrahlen schießen aus meinen Augen hinaus auf die Gegenstände, die ich betrachte? Ich glaube nicht daran. Die Idee, Bilder könnten von den Augen herausprojiziert werden, ist nicht neu, auch wenn Sheldrake einer der wenigen ist, der sie in den letzten Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden formuliert hat. Im sechsten Jahrhundert vor Christus meinte Pythagoras, dass das Auge Strahlen auf das Objekt, das es anschaut, aussendet. Diese Idee wurde mehr als einmal aufgegriffen und war im Mittelalter wieder populär. Natürlich ist es eine Sache, jemanden mit dem Blick zu berühren, der vor einem sitzt, und es ist eine ganz andere Sache, dasselbe via Videokamera zu
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tun, wie in William Brauds Experiment. Aber Rupert Sheldrake ist nicht die Autorität – und sollte auch nicht als solche gesehen werden –, wenn es darum geht, wie der telepathische Blick funktioniert. Die meisten Wissenschaftler, die derartige Experimente durchgeführt haben, halten sich zumindest in ihren Berichten mit Spekulationen darüber, wie das Ganze funktionieren könnte, zurück – auch wenn Sie davon ausgehen können, dass man es für einen Aspekt der geheimnisvollen (paranormalen oder telepathischen) Psikraft hält. Ein letzter Kommentar zu einem besonders spannenden Experiment: Marilyn Schlitz glaubt an diese Phänomene; Richard Wiseman ist ein Skeptiker. Gemeinsam haben sie zwei Experimente zum telepathischen Blick durchgeführt, eines in Wisemans Labor an der University of Hertfordshire, das andere im kalifornischen Labor von Schlitz. Die beiden waren in den Experimenten, die sich in allen Details deckten, jeweils der Starrende. Das Verblüffende war, dass Wiseman bei beiden Experimenten keine Wirkung erzielte, während bei Schlitz ein signifikanter Effekt feststellbar war. Dieses Phänomen, der »Versuchsleitereffekt«, wurde auch schon bei anderen Experimenten festgestellt. Es gibt einige Erklärungsversuche für so disparate Ergebnisse wie in diesem Fall: Man vermutet unter anderem, dass einige Experimentatoren stärkere Psifähigkeiten haben oder besser als andere imstande sind, bei den Testpersonen Psifähigkeiten auszulösen (natürlich werden Experimentatoren, die an Psi glauben, bessere Ergebnisse erzielen als andere); oder dass eine Gruppe von Testpersonen zufällig besser in Psi ist. Eine weitere Erklärung geht davon aus, dass geschwindelt wurde, um einen Effekt bewusst herbeizuführen oder ihn zu verleugnen, oder dass es irgendwelche unbekannten Schwachstellen im Experiment gab, die die Resultate in der einen oder anderen Hinsicht beeinflussten. Interessant dabei ist, dass diese Erklärungen sich in zwei Kategorien einteilen lassen: die prosaische (irgendetwas ging schief beim Experiment) und die auf Sensation ausgerichtete (Psi existiert). Wie gut passen diese Möglichkeiten zum Schlitz-Wiseman-Experiment? Schwachstellen sind bei Experimenten gang und gäbe und oft schwer zu eruieren, aber in diesem Fall scheinen sie eher unwahrscheinlich, weil sowohl Schlitz als auch Wiseman das Experiment
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exakt in der gleichen Weise und am gleichen Ort durchführten – allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen. Schwindelei? Es wäre für die Teilnehmer nicht schwer gewesen, zu schwindeln, aber Schwindelei seitens eines einzigen Teilnehmers hätte nicht gereicht. Um signifikante Ergebnisse zu erzielen, hätten schon etliche Testpersonen schwindeln müssen. Haben Schlitz oder Wiseman geschwindelt? Es wurden beim Design des Versuchs etliche Vorkehrungen getroffen, um ein Schwindeln seitens der Versuchsleiter auszuschließen; dazu kommt noch, dass die Strafe für Schwindeln – nämlich eine absolute Diskreditierung – das sicherlich verhindert hätte. Die übrigen Möglichkeiten hängen von der Existenz von Psifähigkeiten entweder bei den Testpersonen oder bei den Experimentatoren ab. Es scheint mir allerdings merkwürdig, strittige Ergebnisse eines Experiments durch das Phänomen, das untersucht werden soll, erklären zu wollen. Wenn Sie ein Psiskeptiker sind, dann werden Sie wohl kaum der Argumentation folgen, dass Marilyn Schlitz es besser versteht, Psifähigkeiten bei Menschen hervorzurufen als Richard Wiseman. Wiseman selbst ist sich nicht sicher, was da passiert ist, obwohl er meint, dass alle Möglichkeiten überprüft werden müssten; man müsse zum Beispiel die Computersoftware überprüfen, um sicherzustellen, dass sie bei beiden Versuchen auf die gleiche Weise arbeitete. Verstehe ich etwas falsch, oder handelt es sich tatsächlich um ein bedeutendes Experiment? Schlitz selbst sagte: »Das zeigte mir, dass die Absicht des Experimentators eine wichtige Rolle spielt und etwas am Konzept von Objektivität und Distanz nicht stimmen kann.« Kein Wunder, dass die meisten Wissenschaftler angesichts der Möglichkeit zurückschrecken, dass an diesen Experimenten etwas dran ist: Das würde die gesamte Grundlage der Wissenschaft erschüttern. So weit es mich betrifft, so können Sie alle jene »Anhänger« ignorieren, die Sie auffordern, die Ergebnisse Ihrer Versuche mit dem telepathischen Blick, die sie in der Küche ihrer Großmutter veranstalten, einzuschicken, aber genauso auch die Skeptiker, die hinter Ihnen im Café sitzen, Sie anstarren und das dann ein Experiment nennen. Ich warte ab, was die Untersuchungen von Schlitz und Wiseman ergeben.
Eine Studie in Scharlachrot
Es gibt eine Regel der Natur, die wir nicht außer Acht lassen sollten: Wenn etwas sehr einfach wirkt, ist es nicht einfach. Wenn etwas einfach so zu geschehen scheint, dann passiert meist etwas im Hintergrund, das noch nicht entdeckt wurde. Wie Shrek in der gleichnamigen Dream-Works-Produktion sagte: »Oger sind wie Zwiebeln ... sie haben Schichten.« Wenn das stimmt, dann ist die Natur der ultimative Oger. Ein gutes Beispiel dafür und eines der packendsten jährlichen Naturschauspiele in Nordamerika ist die herbstliche Verfärbung der Blätter. Die Farben sind einfach fantastisch, aber warum grüne Blätter orange, rot und gelb werden, ist eine Frage, die Biologen seit mehr als einem Jahrhundert beschäftigt. In den letzten Jahren wurden einige faszinierende, wenngleich vorläufige Antworten gegeben, die diesem biologischen Schauspiel ganz neue und dramatische Tiefen verliehen. Während ich das schreibe, bin ich mir im Klaren darüber, dass manche Leute glauben, Wissenschaftler, die die Farben des Herbstes untersuchen, würden Daten und Theorien vorbringen, die von der Großartigkeit dieses Schauspiels ablenken und das Magische banalisieren – so wie Keats Newton beschuldigte, mit seinen Enthüllungen über die Brechung des Sonnenlichts den »Regenbogen zu entzaubern«. Für mich passiert da das genaue Gegenteil: Ein schillernder oder gar ein zweifacher Regenbogen wirken auf mich nach wie vor faszinierend, und das Wissen über die fantastische Physik dahinter verstärkt dieses Erleben sogar noch. Manchmal erinnere ich mich sogar an den verbitterten, antisozialen, aber brillanten Newton, der Prismen in seinem kleinen Zimmer in Cambridge aufstellte. Sie können jetzt dieselbe Art von Erfahrung mit den Farben des Herbstes machen.
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Nehmen Sie ein beliebiges, vor dem Jahr 2000 verfasstes Biologiebuch her, und Sie werden lesen können, dass die Farben der Herbstblätter das Resultat eines Prozesses sind, der mehr mit Abbau und Aufspaltung zu tun hat als mit Erschaffen. Sommerblätter sind voll mit Chlorophyll, also jenem Molekül, das das Sonnenlicht einfängt und diese Energie in neue Baustoffe für den Baum verwandelt. (Chlorophyll ist in Chloroplasten enthalten, in winzigen Blattorganen mit einer einzigartigen Geschichte. Sie waren einmal frei lebende Algen, die sehr früh in der Geschichte des Lebens eine primitive Zelle befielen und sich dort einnisteten. Viele Hunderte Millionen Jahre später fangen die Nachkommen dieser Algen Sonnenenergie in allen heute lebenden Grünpflanzen ein.) Sobald der Sommer auf der nördlichen Halbkugel in den Herbst übergeht und die Sonne tiefer steht, reduziert sich die den Blättern zur Verfügung stehende Menge an Sonnenenergie. Es wird für sie immer schwerer, die komplexen molekularen Montagebänder aufrechtzuerhalten, die diese Sonnenenergie in nützliche Produkte umwandeln, und irgendwann wird das Ganze zu einem Verlustgeschäft. Für viele Bäume – mit Ausnahme der Nadelbäume – besteht dann die beste Strategie darin, auf Fotosynthese zu verzichten (also auf die Produktion neuen Materials aus Sonnenlicht, Wasser und Kohlendioxid), und zwar bis zum nächsten Frühling, wenn die Sonnenlichtmenge wieder so weit angestiegen ist, dass sich das Ganze wieder rentiert. Auch wenn die Herbstblätter ihren Job nicht mehr erfüllen können, sind sie nach wie vor eine wertvolle Ressource voller chemischer Substanzen, die in dem Moment wieder nützlich sein werden, wenn der Baum wieder beginnt, Sonnenenergie zu sammeln. Bevor also die Blätter vor Einbruch des Winters abfallen, sammeln die Bäume die wichtigsten Substanzen aus den Blättern ein, transferieren sie in die Zweige und stoßen erst dann die Blätter ab. Dieser Recyclingprozess beginnt im August, lange bevor wir überhaupt irgendeine Veränderung in den Blättern bemerken, aber zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bäume bemerken, dass die Intensität der Sonnenstrahlen und die Länge des Tages abnimmt. Chlorophyll ist eines jener Materialien, die die Bäume aus ihren Blättern beziehen. Jedes Chlorophyllmolekül enthält vier Stickstoff-
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atome, ein Element, das zu wertvoll ist, um verschwendet zu werden. Chlorophyllmoleküle werden daher zerlegt, ihr Stickstoff zurück in den Baum befördert und bis zum nächsten Frühling aufbewahrt. Blätter sind grün dank ihres Gehalts an Chlorophyll (es absorbiert die anderen Farben des Sonnenlichts, aber reflektiert grün), und sobald das Chlorophyll erschöpft ist, kommen die anderen Farben, die während des Sommers vom Grün überdeckt waren, zum Vorschein. Dazu zählen das Gelb und Orange von Karotinoiden, also jene Farben, die auch Gemüse gelb beziehungsweise orange färben. Diese Karotinoide waren während des ganzen Sommers vorhanden und halfen mit, jene Wellenlängen des Sonnenlichts einzufangen, die das Chlorophyll nicht erfasst, aber wir können sie erst sehen, wenn das Chlorophyll verschwunden ist. Dieses Demaskieren erklärt schon viele der Herbstfarben, wie das Gelb bei Esche, Birke und Pappel. Aber es sagt noch nichts über die strahlend roten und purpurfarbenen Blätter von Ahorn und Sumach. Diese Schattierungen haben aber die Wissenschaftler gezwungen, neue Theorien über die Farben der Blätter zu entwickeln, und manche sind tatsächlich radikal neu. Woher das Rot kommt, war schon lange bekannt: Es stammt aus chemischen Substanzen, den so genannten Anthocyaninen. Erstaunlich dabei ist, dass Anthocyanine nicht schon die ganze Zeit vorhanden sind und nur darauf warten, durch den Rückzug des Chlorophylls sichtbar zu werden, sondern völlig neu in den Blättern erzeugt werden, während der Baum sich auf das Abstoßen der Blätter vorbereitet. (Die Erzeugung von Anthocyaninen sowie der Abbau von Chlorophyll und andere Vorbereitungen für den Herbst beginnen bereits, bevor wir irgendeine Veränderung wahrnehmen können.) Aber es ist nicht leicht, den Sinn hinter der Herstellung von Anthocyaninen zu erkennen – warum soll ein Baum in seinen Blättern neue Substanzen herstellen, wenn er schon genug damit zu tun hat, die bereits existierenden zurückzuholen und zu konservieren? Es hat einige seltsame und wundersame Theorien über diese Anthocyanine gegeben. Einige Forscher sind der Meinung, sie könnten die Blätter gegen Angriffe durch Insekten oder Pilze schützen, oder sie könnten Früchte fressende Vögel anlocken oder die Frosttoleranz-
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grenze hinaufsetzen. Jede dieser Theorien ist problematisch, auch die Tatsache, dass Blätter nur für relativ kurze Zeit rot sind, sodass die fungizide oder Anti-Pflanzenfresser-Wirkung nicht wirklich sinnvoll erscheint. Die Erwärmung der Blätter wurde noch nicht getestet. Eine der erstaunlichsten Ideen wurde vom italienischen Wissenschaftler Marco Archetti publiziert, für den die lebhaften Farben des Herbstes Teil eines Spiels zwischen Insekten und Bäumen sind, das über Leben oder Tod entscheidet. (Dieser Gedanke wurde ursprünglich vom verstorbenen William Hamilton formuliert, aber es war Archetti, der ihn ausarbeitete.) Archetti geht von folgender Annahme aus: Im Kampf zwischen den Pflanzen fressenden Insekten und den Pflanzen, von denen sich diese Insekten ernähren, könnte es sich für die Pflanzen (hier: die Bäume) auszahlen, damit zu werben, dass sie gesund und robust sind und es ihnen nicht schwer fällt, chemische Verteidigungsmaßnahmen aufzubauen, die einen Befall abwehren können. Wenn Insekten solche Werbung beachten, könnten sie dazu verleitet werden, ihre Eier auf anderen, weniger resistenten Wirtspflanzen abzulegen. Eine Möglichkeit für die Bäume, ihre Stärke zu demonstrieren, wäre die leuchtende Farbe ihrer Blätter im Herbst. Wenn das stimmt, dann würden Insekten, die im Herbst ihre Eier auf Bäume legen (Archetti und Hamilton konzentrierten sich dabei auf die Blattlaus), die Farben des Herbstes genau beobachten und ihre Eier nur auf Bäume legen, deren Blätter weniger kräftige Farben aufweisen, also auf Bäume, die sich nicht so gut gegen die Blattläuse verteidigen können. In diesem Fall kann man getrost von Werbung sprechen, denn wie in unserer Welt kann Werbung auch in der Natur falsche Tatsachen vorspiegeln. Was würde einen nicht so robusten Baum davon abhalten, leuchtende Farben zu zeigen und die Blattläuse damit zu täuschen, sodass sie ihn meiden? Die Antwort lautet: die Kosten. Beim Gelb und Orange der Blätter spielt dieser Kostenfaktor wahrscheinlich keine Rolle, weil diese Farben ja lediglich durch den Rückzug des Chlorophylls bedingt sind. Bei den Anthocyaninen würde er hingegen wirksam werden, denn ihre Herstellung verbraucht Energie. Würden die Bäume sie allein zur Abschreckung von Insekten erzeugen, dann wäre dieser Energieaufwand nur gerechtfertigt, wenn die
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Insekten die Bäume dann auch wirklich in Ruhe lassen würden. Aber sobald alle Bäume, egal ob schwach oder stark, im Herbst leuchtende Farben produzieren, können die Insekten keine Auswahl treffen. Sie würden ihre Eier wahllos ablegen, und das würde bedeuten, dass schwache Bäume sich zwar anstrengen, leuchtende Farben zu zeigen, aber genauso zur Beute würden wie ihre stärkeren Nachbarn. Sie hätten Energie investiert (was ihre Schwäche nur noch verstärkt), ohne im Gegenzug etwas zu erhalten, und das ist genau jene Art von Verliererstrategie, die eine Art in den Abfalleimer der Evolution befördert. Wenn es andererseits schwache Bäume weniger kosten würde, Beute der Blattläuse zu werden, als falsche Werbung zu betreiben, dann würden sie sich wahrscheinlich nicht die Mühe antun, die Insekten in die Irre zu führen. In diesem Fall könnte sich ein Gleichgewicht einstellen: Starke Bäume stellen ihre Stärke mittels leuchtender Farben zur Schau, schwächere Bäume zeigen ihre echten, blasseren Farben, und Insekten könnten dementsprechend ihre Wahl treffen. Die Idee, dass Bäume mit den leuchtendsten Herbstfarben auch die robustesten sind und ihre Robustheit gegenüber potenziell räuberischen Insekten zur Schau stellen, klingt sehr plausibel. Meiner Meinung nach hat das alles nur einen Haken: Es gibt nicht viele Beweise für die Richtigkeit dieser Theorie – und ich denke, Sie stimmen mir zu, dass das ein nicht ganz zu vernachlässigender Aspekt ist. Keiner weiß, ob Blattläuse ihre Auswahl aufgrund der Brillanz von Farben treffen; niemand weiß, ob es tatsächlich die robusteren Bäume sind, die sich mit den leuchtendsten Blättern schmücken; niemand weiß, ob sich auch andere Insekten als Blattläuse davon abhalten ließen. Wenn man alle Theorien berücksichtigt, dann gibt es eine, die am besten erklärt, warum Blätter es sich antun, rotes Anthocyanin genau dann zu bilden, wenn sie ohnehin genug mit Vorbereitungen auf den Winter zu tun haben. Manchmal spricht man von der »Sonnenschutz«-Hypothese. Diese Hypothese klingt paradox, weil sie davon ausgeht, dass die Herbstblätter dieses rote Pigment, das Anthocyanin, herstellen, um die Licht absorbierende Substanz Chlorophyll vor zu viel Lichteinstrahlung zu schützen. Warum muss Chlorophyll geschützt werden, wenn es doch in der Natur der Lichtabsorbierer schlechthin ist? Warum muss es just zu einer Zeit ge-
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schützt werden, in der die Bäume es abbauen, um so viel wie möglich davon zu retten? Es gibt allerdings Antworten auf diese knifflige Fragen: Das meinte ich, als ich sagte, die Natur sei vielschichtig. Zum Beispiel kann Chlorophyll, das zwar aufs Beste dafür geeignet ist, Sonnenenergie einzufangen, unter gewissen Bedingungen auch zu viel davon abbekommen. Trockenheit, niedrige Temperaturen und Nährstoffmangel können den Fotosynthesemechanismus der Blätter stören, und Herbstblätter haben immer wieder mit niedrigen Temperaturen zu kämpfen, wenn nicht auch mit den anderen negativen Faktoren. Wird das Blatt dann von Sonnenlicht durchdrungen, bedeutet das eine Übererregung dieses Mechanismuses. Aber das Problem der Lichtüberempfindlichkeit ist im Herbst sogar noch akuter, weil das Blatt sich auf den Winter vorbereitet, indem es seine innere Maschinerie abbaut. Das bedeutet, dass die Energie, die von den Chlorophyllmolekülen absorbiert wird, sobald sie von Lichtpartikeln bombardiert werden, nicht sofort in nützliche Prozesse und Produkte kanalisiert wird, wie es bei einem intakten Sommerblatt der Fall wäre. Vielmehr können erregte Chlorophyllmoleküle in diesen instabilen Herbstblättern gewisse Formen von Sauerstoff erzeugen, die sich extrem zerstörerisch auf das Blatt auswirken würden. Insgesamt ist es also zum Wohl des Herbstblattes, wenn es seinem Chlorophyll nicht erlaubt, zu viel Licht zu absorbieren. Die Lösung besteht darin, Anthocyanine zu produzieren, die das Licht blockieren und das Chlorophyll schützen. Auch wenn Sie nie vermutet hätten, dass derartige Prozesse für die Rotfärbung der Blätter im Herbst verantwortlich sind, so liefert uns die Natur selbst einige Hinweise dafür. Einer ist ganz offensichtlich: Bei vielen Bäumen sind die Blätter auf der sonnenbeschienenen Seite am rötesten. Und nicht nur das: Das Rot ist auf der Oberseite des Blattes intensiver. Es ist außerdem seit Jahrzehnten bekannt, dass leuchtendes Rot am ehesten bei warmen, sonnigen, trockenen Tagen und kühlen Nächten entsteht, also genau unter jenen Bedingungen, die Blätter besonders empfindlich für übermäßige Lichteinwirkung machen. Und noch ein Faktor kommt hier zum Tragen – der für uns aber nur dann wahrnehmbar wird, wenn wir oft zwischen Nord und Süd pendeln: Bäume wie der Ahorn sind normalerweise viel röter, das
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heißt, sie produzieren viel mehr Anthocyanin, je weiter im Norden sie stehen. Dort ist es kälter, sie sind gestresster, ihr Chlorophyll ist empfindlicher und braucht besseren Sonnenschutz. Oberflächlich gesehen, sind die roten Wälder im September und Oktober am attraktivsten, ja, manchmal bieten sie ein geradezu atemberaubendes Spektakel, aber in Wirklichkeit absolvieren sie einen Wettlauf gegen die Zeit: Sie müssen so viel wie möglich von dem noch in den Blättern vorhandenen wertvollen Material schützen und abtransportieren, bevor der erste Frost sie vollkommen verschließt. Die dafür notwendige Energie liefert die Fotosynthese. In dieser Phase befinden sich die Blätter außerdem in einem besonders verletzlichen Zustand, weil das Herzstück ihres Mechanismus, das Chlorophyll, gleichzeitig eines der wichtigsten Blattmaterialien ist, das sie retten müssen. Es besteht also ein sehr heikles Gleichgewicht: Das Blatt nutzt wahrscheinlich die meiste Energie aus der Fotosynthese dazu, die wertvollsten Materialien zurück in den Baum zu drängen. Gleichzeitig schöpft es einen Teil dieser Energie ab, um Anthocyanine herzustellen, die die schwindenden Chlorophyllreserven vor einem Übermaß an Sonnenlicht schützen sollen. Wenn alles wie geplant funktioniert, ist die Energie ungefähr zu der Zeit erschöpft, zu der auch die letzten wertvollen chemischen Substanzen die Blätter verlassen. Die wissenschaftliche Geschichte muss also erst noch geschrieben werden: Nicht jedes Detail konnte in Experimenten bestätigt werden, und es ist nach wie vor nicht klar, warum einige Bäume rote Pigmente produzieren, während andere sich nicht die Mühe machen. Vielleicht haben Bäume, deren Blätter sich gelb färben – oder sich überhaupt nicht verfärben –, andere Strategien, um im Herbst eine übermäßige Sonneneinstrahlung zu verhindern. Ihre Geschichte ist zwar fürs Auge nicht so spektakulär, aber sie wird sich gewiss auch als sehr komplex und subtil erweisen.
Der ultimative Billigflieger
Uns alle fasziniert jede Art von Flug und Fluggerät, sei es das dramatische Abheben eines Spaceshuttles oder die akrobatischen Flugbewegungen eines Kolibris. Beides ist spektakulär, und da wie dort entstehen enorme Kosten, die einmal in Dollars, einmal in Kalorien gemessen werden können. Wir sind auf Geschwindigkeit und Leistung fixiert, aber das ist eine kurzsichtige Betrachtungsweise. Auch wenn wir uns auf sehr minimalistische Weise an das Phänomen Flug annähern, erschließt sich uns bei genauerer Betrachtung die Schönheit der Aerodynamik – und noch dazu ohne viele Kosten. Manche Organismen sind das Gegenstück zu den so genannten »Small Market«Teams im Sport – sie müssen aus weniger mehr machen. Ahornbäume sind ein perfektes Beispiel dafür. Nein, ein Ahorn selbst fliegt nicht, aber seine Samen fliegen. Ahornsamen sind in einer dünnen Faserschicht eingeschlossen, die wie ein Flügel geformt ist: die bekannten Ahornnasen. Dieser Flügel ist eigentlich die Frucht des Ahorns, in der der Samen eingeschlossen ist. Wie jeder, der in der Nähe eines Ahorns wohnt, weiß, kann eine steife Brise zur richtigen Jahreszeit Hunderte solcher Ahornnasen durch die Luft wirbeln lassen, die dann wie Hubschrauber zu Boden trudeln. Diese wirbelnde Bewegung – die Fachleute sprechen von »Autorotation« – ist ein Wunder an Low-Budget-Aerodynamik. Das Ziel des Ahorns ist es, seine Samen so weit wie möglich zu verbreiten. Je langsamer sie zu Boden fallen, desto länger befinden sie sich in der Luft und desto eher kann der Wind sie aus dem Schatten des Mutterbaums befördern. Deswegen ist die Aerodynamik so wichtig für den Ahorn (und für andere Baumarten, die Flügelsamen produzieren). Wenn man einen dieser unzähligen Samen aufklaubt, die auf einem
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Parkplatz oder im Rinnsal gestrandet sind, wirkt er eher unscheinbar, aber sie nutzen die Luft auf eine so raffinierte Weise, dass Generationen von Wissenschaftlern große Fantasie an den Tag legten, um deren Funktionsweise zu erklären. Ein ganzes Kapitel könnte man über diese Experimente schreiben: Im 19. Jahrhundert zum Beispiel versuchte man, anhand der Spuren, die die Ahornnasen bei ihrer Landung im Sand hinterlassen, auf ihr Flugverhalten zu schließen. Im 20. Jahrhundert bildete man ganze Netzwerke aus Lichtquellen, Kameras und Spiegeln, mit denen man ihren Flug Sekunde für Sekunde aufzeichnete, oder entwickelte künstliche Flugsamen, die manchmal bis zu 30 Zentimeter lang waren. Und so mancher Experimentator stapfte in Schneeschuhen durch die Winterlandschaft, um rosa gekennzeichnete Ahornnasen zu finden, die über den Schnee glitten. Aber ich werde Ihnen nur ein Beispiel als Kostprobe geben, aus dem Sie ersehen, welcher Einfallsreichtum notwendig ist, um etwas so Alltägliches, aber doch so Geheimnisvolles wie den Flug einer Ahornnase zu verstehen. Einen der frühesten Versuche mit Flugsamen jeder Art beschrieb 1933 Howard Siggins von der Californian Forest and Range Experiment Station. Siggins wollte eine Möglichkeit finden, um aufzuzeichnen, was passiert, wenn Nadelbaumsamen in Massen von einem Baum freigesetzt werden; er wollte wissen, welche Art von Samen am schnellsten fällt. Aber er konnte nicht einfach nur im Wald stehen und beobachten: Bei so vielen Samen und Windböen hatte er einfach keine Chance, es war zu kompliziert. Er musste eine Methode entwickeln, um das Fallen der Samen in einer kontrollierten Situation beobachten zu können. Bei seinem ersten Versuch ließ er die Samen auf dem Militärparadengelände der University of California in Berkeley von einem Fahnenmast aus einer Höhe von mehr als 30 Metern fallen. Er beschrieb die Resultate als »stark variabel«. Der Grund dafür waren die vielen störenden Luftströmungen, hervorgerufen durch warme Luft, die von unbedeckten Stellen am Boden aufstiegen, auf dem die Studenten ihre Übungen gemacht hatten. Aber dann hatte Siggins eine Eingebung. Der Glockenturm der Universität hatte einen durchgehenden Aufzugschacht, der über 60 Meter hoch war. Wenn in allen Stockwerken
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die Türen geschlossen waren, bildete der Schacht eine gut isolierte Kammer mit stehender Luft, perfekt fürs Fallenlassen von Samen. Aber Siggins wusste noch immer nicht, wie er am besten feststellen sollte, welcher Samen – Mammutbaum, Douglastanne oder Gelbkiefer – am schnellsten fiel. Er entschied sich für folgende Methode: Als er die Samen aus einer Art Falle in der Nähe des oberen Endes des Schachtes fallen ließ, landeten sie auf einem 1 Quadratmeter großen Rechteck aus Mousseline. Einer von Siggins Assistenten musste 6 Sekunden, nachdem die ersten Samen gelandet waren, eine zweite Lage Stoff ausbreiten, nach weiteren sechs Sekunden eine dritte Lage und so weiter (ein anderer Assistent stoppte die Intervalle mit einer Stoppuhr). Letzten Endes stapelten sich die Stoffe, und jeder enthielt einen Haufen von Samen, die ungefähr mit gleicher Geschwindigkeit gefallen waren. Dieses recht arbeitsintensive Experiment brachte allerdings auch ziemlich brauchbare Ergebnisse. Siggins konnte zeigen, dass die Samen in ihrer Fallrate weit voneinander abwichen: von fast 3 Metern pro Sekunde bis gerade einmal 75 Zentimeter pro Sekunde, und seltsamerweise schien die Tendenz zu herrschen, dass leichtere Samen schneller fielen. Natürlich soll Galileo bewiesen haben, dass unterschiedlich schwere Gegenstände mit gleicher Geschwindigkeit fallen, aber sein Experiment am Schiefen Turm von Pisa ließ die Wirkung des Luftwiderstands außer Acht, und Steine sind auch nicht wirklich aerodynamisch. (Es stimmt auch, dass Galileo dieses Experiment höchstwahrscheinlich nie durchgeführt hat, zumindest nicht am Schiefen Turm von Pisa, aber das Gesetz hat trotzdem Gültigkeit.) Samen können zwar nicht »fliegen«, weisen aber ein besseres Flugverhalten auf als Steine. Etwas muss ihre Sinkrate kontrollieren, wobei wir uns vor Augen halten müssen, dass ein Samen idealerweise möglichst langsam fällt. Siggins vermutete, dass eine bessere aerodynamische Leistung etwas zu tun hat mit der Länge des Flügels des Samens und dem Kreis, den dieser beim Fallen in der Luft beschreibt, allerdings führte er keine weiteren Versuche zur Überprüfung dieser Annahme durch. Die Sterblichkeit des Menschen hinderte ihn daran: Er starb, bevor seine Studie veröffentlicht wurde. Der größte Teil der Forschung über den Flug von Flügelsamen
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wurde seit den siebziger Jahren durchgeführt. Meist geht es dabei um beeindruckende Versuche in Aerodynamik, aber man kann sich dem Problem auch auf eine etwas benutzerfreundlichere Weise nähern, indem man einfach eine Ahornnase aufklaubt und untersucht. Der Fachbegriff für eine Ahornnase ist »Samara«, ein elegantes Wort, das ich von jetzt an dafür verwenden werde. Samaras unterscheiden sich von Art zu Art, aber allen sind einige Merkmale gemein, die Sie das nächste Mal, wenn Sie sie von Ihrer Windschutzscheibe kehren, bemerken werden. Versuchen Sie einmal, ein Samara auf der Spitze Ihres Fingers zu balancieren. Sie werden sehen, dass fast der ganze Flügel des Samara auf eine Seite weist: Der Großteil der Masse ist im Samen konzentriert. Dieser Faktor bestimmt ganz wesentlich sein Flugverhalten. Betrachten Sie nun die Form des Flügels: Von oben sehen Sie, dass das Samara am Samenende schmal ist, dann langsam breiter wird und sich zur Spitze hin wieder ein bisschen verjüngt. Fahren Sie zum Schluss mit Ihrer Fingerspitze über die Oberfläche des Samara: Sie ist rau und von dicken Adern durchzogen. Die meisten dieser Adern konzentrieren sich auf einer Seite des Flügels, und zwar auf jener, die die Anströmkante bildet, mit der das Samara die Luft durchschneidet, während es sich dreht. Diese kurzen Beobachtungen sind Ihr Eintritt in die Welt der Samara-Aerodynamik – oder die Einweihung in die Frage, wie man mit den geringsten Kosten am meisten aus einem Flug macht. Werfen Sie nun ein Samara in die Luft, und Sie werden sehen, dass Folgendes passiert. Das Samara steigt so lange auf, bis die Schwerkraft es abwärts zu beschleunigen beginnt. Nun befindet es sich in jener Position, die es normalerweise einnimmt, wenn es sich von einem Baum gelöst hat. (David Greene von der Concordia University hat gezeigt, dass Samaras eher an trockenen, windigen Tagen abfallen – die niedrige Feuchtigkeit fördert das Austrocknen der Befestigung am Zweig, und der Wind liefert die nötige Zugkraft, die dann endgültig die Befestigung am Zweig lockert, wodurch das Samara sich lösen kann. Dass es sich bei starkem Wind losreißt, ist perfekt geplant: So ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Samara in unbebauten Gebieten landen kann.)
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Es beginnt direkt hinabzustürzen, aber nur einen Augenblick lang. Sobald die Spitze auch nur ganz geringfügig aus der Vertikalen ausbricht, verfängt sich die Flügeloberfläche in der Luft, und das Samara beginnt zu rotieren – das alles passiert innerhalb von ein paar Hundertstelsekunden. Sobald sich die Samaras drehen, fallen sie mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 1 Meter pro Sekunde. In dieser Phase befinden sie sich im Gleichgewicht: Die Schwerkraft zieht sie hinab (und will sie abwärts beschleunigen), aber der Flügel konterkariert die Schwerkraft, indem er einen Auftrieb erzeugt; das heißt, er übt Druck auf die Luftsäule aus, durch die er reist, und das verlangsamt seine Abwärtsbewegung. In mancher Hinsicht verhält sich das Samara wie das Rotorblatt eines Hubschraubers: Je schneller es rotiert und je größer der Kreis, den es beschreibt, desto größer auch der Auftrieb. In keinem Fall kommt es dabei dem aerodynamischen Ideal so nahe wie zum Beispiel eine feste Scheibe, die Druck auf die Luft ausübt (denken Sie an eine Frisbeescheibe), oder wie ein – schon ziemlich idealer – Fallschirm. Um dieses komplizierte Verhalten nachahmen zu können, haben sich Aerodynamikexperten etwas ausgedacht, was sie »Idealrotor« nennen und das der Maßstab ist, mit dem sie alles andere vergleichen: Es handelt sich um ein Gerät, das unendlich dünn ist und aus einer unendlichen Anzahl von Lamellen besteht. Ein Hubschrauberrotorblatt ist nicht wirklich ein idealer Rotor, weil es lediglich 5 Prozent der gesamten Kreisscheibe abdeckt, und ein Samara schafft auch nicht viel mehr, nämlich ungefähr 12 Prozent. Aber ein Samara verhält sich recht anständig, wenn es in der Luft liegt. Es sinkt ungefähr 25 Prozent schneller als eine flache Scheibe, 38 Prozent schneller als ein Fallschirm (derselben Masse) und ungefähr genauso schnell wie ein Vogel ..., der nicht mit den Flügeln schlägt. Aber es braucht sich nicht um seine Stabilität in der Luft zu kümmern wie andere Flugobjekte. Je größer der Bereich, den das Rotorblatt eines Hubschraubers oder ein Samara abdeckt, desto näher kommt es dem aerodynamischen Ideal. Dass beim Samara der Samen an einem Ende liegt, kommt ihm in dieser Hinsicht zugute. Jedes Objekt dieser Form rotiert um einen Punkt, der sehr nahe bei seinem Massemittelpunkt
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liegt, und je näher bei einem Ende sich diese Massekonzentration befindet, desto größer ist der vom Flügel abgedeckte Bereich. Diesen Unterschied kann man auch beim Stab eines Cheerleaders beobachten, je nachdem ob er den wirbelnden Stab am Ende oder in der Mitte hält. Damit ein Flugobjekt wie ein Samara eine gute Leistung erzielen kann, sollte sich dieses Zentrum innerhalb von 30 Prozent, gerechnet vom Ende des Flügels, befinden, und Samaras erfüllen diese Vorgabe ohne weiteres. Wenn man den Samen also an einem Ende positioniert, kann der Flügel den größtmöglichen Bereich abdecken und den größtmöglichen Auftrieb liefern. Was hat es nun mit der Form auf sich? Das Samara ist am Samenende dünn, wird dann immer breiter und verjüngt sich zur Spitze hin wieder. Je mehr Flügeloberfläche, desto besser, weil auch hier gilt: Die Sinkrate ist umso niedriger, je größer der Flügelbereich ist. Aber es reicht nicht, dem Samen einfach die Form eines Ventilatorblatts zu geben, da hier auch Feinheiten der Luftströmung zum Tragen kommen. Während das Samara durch die Luft gleitet, variiert die Geschwindigkeit der Luft, die über seine Oberfläche streicht: Je weiter man in Richtung Spitze geht, desto schneller bewegt sich die Luft über die Oberfläche, ganz einfach wegen der Distanz vom Mittelpunkt der Rotation (die Pferde in der äußeren Reihe des Karussells bewegen sich schneller als die nahe der Nabe.) Um von dieser Luft mit höherer Geschwindigkeit profitieren zu können, muss das Blatt breiter sein. Andererseits gibt es Probleme an der äußersten Spitze. Ein breites, stumpfes Ende würde die Entwicklung kleiner Luftwirbel rund um die Spitze fördern, was Luftwiderstand erzeugen und damit die Rotation des Samara verlangsamen würde. Deshalb ist es ratsamer, ein Samara zu bauen, das sich in Richtung Spitze verjüngt, und das so eingesparte Material dazu zu verwenden, das ganze Ding länger zu machen (und ihm dadurch ein bisschen mehr Auftrieb zu verleihen) – und genau das passierte offensichtlich bei dem Samara. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen einem Samara und einem Hubschrauberrotorblatt oder einem Flugzeugpropeller ist die Textur der Oberfläche: Rotorblätter und Propeller sind glatt, Samaras hingegen nicht. In dieser Hinsicht ähneln Samaras eher den Flügeln von Insekten oder kleinen Vögeln. Für Aerodynamikspezialisten ist
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das durchaus einleuchtend: Die Kräfte, die den effektivsten Flug bewirken, unterscheiden sich je nach der Größe des Objekts: Eine 747 in die Luft zu bekommen ist etwas ganz anderes, als den Fall eines Samara verlangsamen zu wollen. Die raue Textur schafft eine Turbulenz genau an der Oberfläche des Samara, und diese Turbulenz hilft den Fall zu verlangsamen. Die Dellen in einem Golfball schaffen die gleiche Art von lokaler Turbulenz und erhöhen ganz drastisch die Zeitspanne, die der Ball in der Luft verweilen kann. Die Adern, die die Oberfläche des Samara durchziehen, verstärken die Rauheit noch zusätzlich und spielen außerdem eine wichtige Rolle für die Flugstabilität. Sie werden bemerken, dass sie sich in Richtung der Anströmkante bündeln, also jener Kante, die beim Fall die Luft durchschneidet. Sie helfen, das Gewicht vom Flügel nach vorne hin zu dieser Anströmkante zu verlagern – die hintere Kante hat weniger Adern und ist leichter. Diese Konstruktion verleiht dem fallenden Samara Stabilität, es kann dadurch länger in der Luft verweilen. Aufgrund der Gesetze der Aerodynamik sollte der Großteil des Gewichts an einem beliebigen Punkt auf dem Flügel näher der Anströmkante liegen, wenn man den so genannten »Angriffswinkel« aufrechterhalten will. Damit ist die Neigung der Anströmkante gemeint, während sie durch die Luft schneidet. Die Bündelung der Adern sorgt für die richtige Gewichtsverteilung, und Samaras ohne solche Adern haben stattdessen eine verdickte Anströmkante. Die Adern verhindern außerdem, dass sich der Flügel beim Austrocknen verzieht, und das ist gut so, denn ein trockeneres, leichteres Samara fliegt weiter. Alle diese Merkmale werden leicht übersehen, dabei sind sie aber absolut notwendig, wenn das Ziel der ganzen Übung erreicht werden soll: sich länger in der Luft zu halten und möglichst weit entfernt vom Mutterbaum wieder zu landen. Die erwähnten Strukturen weisen noch weitere Merkmale auf, die ich jetzt nicht beschrieben habe, die aber ebenfalls wichtig für das Erreichen dieses Ziels sind. Das wirklich Tolle an einem fallenden Samara ist aber, dass die verschiedenen Aspekte von Form und Gewichtsverteilung gemeinsam ein Maßnahmenpaket zur Selbstkorrektur darstellen, für den Fall, dass während des Flugs etwas schief geht. Jeder Fehler während des Flugs – zum Beispiel ein zu großer Neigungswinkel, was zum Überziehen führt,
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oder eine zu große Neigung nach vorn, die sich in Höhenverlust bemerkbar macht – verändert augenblicklich Richtung und Druck der über die Oberfläche streichenden Luft, wodurch die Stabilität wiederhergestellt wird. Ahornbäume sind nicht die einzigen Bäume, die ihre Samen mit Flügeln ausstatten, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Andere Bäume, die einem anderen Überlebensdruck ausgesetzt sind, haben mit leicht unterschiedlichem Design experimentiert. Der Götterbaum (Ailanthus), eine in Nordamerika heimisch gewordene und nun in städtischen Gebieten verbreitete Art, produziert ein Samara, das sich nicht nur dreht, sondern sich im Fall auch wie ein Helikopter verhält. Auf den ersten Blick scheint das die schlechtere Wahl gewesen zu sein, denn Ailanthussamen fallen schneller als Ahornsamen. Aber sie drehen sich wie Spielkarten, die man in die Luft schnippt, und diese Drehung sorgt für Stabilität, bei Karte oder Samen, auch unter turbulenten Bedingungen – und das ist von Vorteil für den Ailanthussamen, wenn er von starkem Wind vom Baum gerissen wird. Ahornsamaras hingegen sind zwar sehr gut ausgestattet für einen langsamen Fall bei mäßigem Wind, aber sie können bei starken Böen ihr Gleichgewicht verlieren und fallen dann wie Steine. Alles in allem muss man gewisse Kompromisse eingehen. Ein Baum kann nur das, was er hat, in die Produktion von Samen investieren, und diese Beschränkung bestimmt auch das Design seines Samara. Wahrscheinlich wäre es keine gute Idee, jedes Jahr ein perfektes Samara zu bilden – vielleicht bliebe es dann minutenlang in der Luft, aber irgendwann würde es trotzdem wieder auf der Windschutzscheibe des Geländewagens des Nachbarn landen. Ein Baum erzeugt also die besten Samen, die er sich leisten kann, mit den Materialien und der Energie, die ihm zur Verfügung stehen, und das in einer ansprechenden, aber nicht perfekten Form, und schickt sie auf den Weg. Solche Samen fallen nicht wie Steine, aber sie erheben sich auch nicht in die Lüfte wie die Vögel. Die Natur macht immer das Beste aus einer unvollkommenen Situation, und irgendwie sind die Ergebnisse nie langweilig.
Fliegen fangen
Einander Bälle zuwerfen und sie auffangen kann manchmal einfach und langweilig sein, aber irgendwie hat dieses Werfen, Zuschauen, Verfolgen und Fangen – das Zeitverschwenden an sich – auch etwas Befriedigendes an sich. Werfen und Fangen zählen sicher zu den einfachsten repetitiven Aktivitäten, denen die Menschen nachgehen (und wir alle wissen, wie viel Spaß sie machen können), aber die Lektüre wissenschaftlicher Literatur kann uns dieses Wissen nicht vermitteln. Der Prozess des Fangens eines Balls – was manche Psychologen das »Outfielderproblem« nennen – ist Gegenstand ernster Kontroversen. Bevor ich Sie in die Tiefen dieser strittigen Frage entführe, möchte ich auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Das Outfielderproblem ist im Grunde nicht das Problem der Outfielder (beim Baseball bezeichnet man damit jene Spieler der Verteidigung, die eine von drei Positionen im äußeren Spielfeld einnehmen), sondern ein Problem für Psychologen und eine Hand voll Physiker (und einige von ihnen sind gleichzeitig auch Outfielder). Die meisten Menschen lernen bereits im zarten Kindesalter, wie man einen Ball fängt, und niemand muss dazu wissen, was dabei im Gehirn vor sich geht. Allerdings handelt es sich dabei um alles andere als eine triviale Angelegenheit, und Psychologen wissen inzwischen, wie schwierig es ist, überhaupt herauszufinden, was in uns vorgeht, wenn wir einen Ball durch die Luft fliegen sehen, die passende Position suchen und ihn fangen. Das Fangen selbst ist besonders knifflig: Wie Sie vielleicht aus Ihrer eigenen Erfahrung wissen oder bei Kindern beobachten konnten, die gerade erst lernen, einen Ball zu fangen, geschieht dieses Fangen in mehreren Phasen: In der letzten Phase greifen wir nach dem Ball und umschließen ihn mit unseren Fingern, was eine äußerst komplexe Gehirntätig-
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keit voraussetzt. Aber so weit sind die Psychologen noch lange nicht, denn sie haben sogar Schwierigkeiten, den einfachsten Teil dieser Sequenz zu verstehen: wie wir dem Ball bei seinem Flug durch die Luft mit dem Blick folgen und woher wir wissen, wo er landen wird. Ein Physiker, Seville Chapman, begann die moderne Diskussion über das Fangen eines Balls mit einem Artikel, der 1968 im American Journal of Physics erschien. Chapman wählte die einfachste aller Situationen – ein Ball wird einem Spieler direkt zugeworfen – und beschrieb eine Strategie, die es dem Spieler erlauben sollte, den Ball zu fangen. (Interessanterweise ist dieses Beispiel zwar vom physikalischen Gesichtspunkt aus einfach, aber für die meisten Ballspieler ist ein Ball, der direkt auf sie zukommt, am allerschwierigsten zu fangen.) Um Chapmans Beschreibung dieses Prozesses zu verstehen, sollten Sie eigentlich ins Freie gehen und jemanden bitten, Ihnen einen Ball zuzuwerfen, aber im Moment stellen wir uns einfach vor, wir stünden auf einem Spielfeld und warten auf den Ball. Bedenken Sie, dass der Ball direkt auf Sie zukommt, das heißt, sobald er den Baseballschläger verlässt und beginnt aufzusteigen, scheint er gerade hinauf in die Luft zu wandern. Wenn der Ball direkt vor Ihnen landen wird, dann scheint er von Ihnen aus gesehen aufzusteigen, an Geschwindigkeit zu verlieren, dann stehen zu bleiben und direkt vor Ihnen auf den Boden zu fallen. Nach Chapmans Auffassung gäbe es eine Möglichkeit sicherzustellen, dass man sich im richtigen Moment dort befindet, wo der Ball auf dem Boden auftrifft: indem Sie sich ständig so positionieren, dass der fliegende Ball mit einer konstanten Rate zu steigen scheint, und zwar, bis er in Ihrer Hand gelandet ist. Das mag unmöglich klingen, weil der Ball, auch wenn er anfangs aufzusteigen scheint, sehr schnell den höchsten Punkt erreicht und dann beginnt zu Boden zu fallen. Aber verfolgen Sie den Ball vor Ihrem geistigen Auge zurück und Sie werden entdecken, dass Sie genau das tun. Stellen Sie sich noch einmal vor, dass ein Ball direkt in Ihre Richtung geworfen wird, aber so sanft, dass er kurz vor Ihnen auf dem Boden aufkommt. Sobald der Ball beim Aufsteigen langsamer zu werden scheint, bedeutet das, dass er vor Ihnen auf dem Boden landen wird und Sie nach vorn rennen müssen. Dann hätten Sie wieder den Ein-
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druck, als würde der Ball aufsteigen. Wenn der Ball aber über Sie hinaus zu fliegen droht, dann müssten Sie sich rückwärts bewegen, um den scheinbaren Aufstieg des Balls zu verlangsamen. In beiden Fällen sollten Sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankommen – vorausgesetzt, Sie sind schnell genug. Das Ausschlaggebende dabei ist, jede Beschleunigung zu vermeiden: Solange der Ball sich mit konstanter Geschwindigkeit zu bewegen scheint, bleiben Sie, wo Sie sind; sobald er schneller oder langsamer wird, müssen Sie sich bewegen. Es geht darum, die scheinbare Beschleunigung des Balls auszugleichen, sobald sie wahrnehmbar wird. Manche Forscher haben die optische Erscheinung eines Balls, der direkt auf Sie zufliegt, sogar mit dem Bild eines Lifts verglichen, der in einem großen Gebäude am Schlagmal mit konstanter Geschwindigkeit hochfährt. Würden Sie Ball und Lift zur Deckung bringen, dann müssten Sie sich lediglich so bewegen, dass der Ball vor dem Lift bliebe, und er würde direkt in Ihren Händen landen. (Das klingt seltsam, aber es funktioniert.) Wenn jedoch ein Ball vor Ihnen auf den Boden fällt, dann kippt das imaginäre Gebäude weg von Ihnen, und Sie müssen sich nach vorn bewegen, damit der Ball mit dem Lift scheinbar Schritt halten kann. Und ein Ball, der über Ihren Kopf hinaus fliegt, würde mit einem Lift Schritt halten, der sich in einem Gebäude aufwärts bewegt, das in Ihre Richtung gekippt ist. Chapmans Strategie ist sehr einfach und funktioniert in dem seltenen Fall sehr gut, in dem der Ball direkt auf Sie zukommt, obwohl einige wichtige Elemente des realen Lebens wie zum Beispiel starker Wind oder einfach der ganz normale Luftwiderstand außer Acht gelassen werden – wie so oft bei der Erstellung neuer Theorien. Einige Berechnungen zeigen, dass ein mittels eines Baseballschlägers abgeschossener Ball unter normalen Bedingungen nur 60 Prozent der Strecke fliegt, die er in einem Vakuum zurücklegen würde. Dieser verkürzte Flug weist außerdem eine einseitige Flugbahn auf – der Ball beschreibt nicht die vollkommene Parabel, die sich Chapman vorstellte. Aber das sind kleine Probleme verglichen mit folgender Frage: Was, wenn der Ball sich auf die eine oder andere Seite bewegt? Das scheint eine ganz andere Geschichte zu sein. Chapman erkannte, dass hier die Dinge etwas komplizierter liegen,
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und ging davon aus, dass dabei das Gehirn des Outfielders zwei Dinge beachten muss: eines ist das Erfolgsrezept, das ich gerade diskutiert habe: sich so zu bewegen, dass der Ball ständig aufzusteigen scheint. Das andere besteht darin, sich in Bezug auf den Ball konstant in einer Himmelsrichtung zu befinden. Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Center Field und der Ball wird so geschlagen, dass er rechts von Ihnen vorbeizufliegen droht. Dann müssen Sie losrennen, damit der Ball stetig aufzusteigen scheint, und gleichzeitig müssen Sie den Ball zum Beispiel Südsüdwest von sich halten. Dann werden Sie letzten Endes wieder an der richtigen Stelle stehen. Dieser spezielle Fall, in dem der Ball so abgeschlagen wird, dass er seitlich von einem anzukommen droht (ein bisschen seitlich, sagte Chapman), war für Chapman nur ein nebensächlicher Aspekt, dem er lediglich einen Absatz – den vorletzten des drei Seiten langen Artikels – widmete. Dieser Fall stellte sich aber als strittigster Teil seiner Theorie heraus. Chapman muss zugute gehalten werden, dass er als Erster das Problem formulierte, aber Pioniere werden eben immer wieder Zielscheiben von Kritikern. Die Psychologen, die Chapmans Arbeit weitergeführt haben, sind überzeugt davon, dass Chapmans Annahme, wir würden seitlich gerichtete Bälle verfolgen, indem wir sie in einer konstanten Richtung halten, falsch ist. Ja, sie sind sich nicht einmal sicher, ob er die einfache Version des Balls, der direkt auf Sie zukommt, richtig interpretiert hat. Einige Laborstudien legen nämlich den Schluss nahe, dass Menschen das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Beschleunigung nicht besonders gut einschätzen können (was bei Chapmans Theorie aber Voraussetzung wäre). Wenn man sie bittet, Beschleunigung mit jener Genauigkeit abzuschätzen, die man brauchte, um einen Ball zu fangen, so scheint das in den meisten Fällen zu viel verlangt zu sein – meinen zumindest einige Forscher. Dazu kommt noch ein anderer verschärfender Faktor: Verfolgt man den Flug eines Balls, dessen Ziel seitlich von einem liegt, muss man sich ihm so nähern, dass er immer in derselben Himmelsrichtung bleibt, und das erfordert eine schwierige zweite Berechnung. Aber trotzdem sind sich die meisten Personen einig, dass es leichter und nicht schwieriger ist, einen
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Ball zu fangen, der nicht direkt auf einen zufliegt. Paradoxerweise sind also Bälle, die direkt auf uns zukommen, am schwersten einzuschätzen, aber vom psychologischen Standpunkt aus am leichtesten zu beschreiben. Diese Schwierigkeiten veranlassten Psychologen dazu, wieder ins Labor zurückzukehren, um ihre Annahmen zum Outfielder-Problem weiter zu verfeinern. Und aus diesem Denkprozess ergab sich eine neue Theorie. Während Chapmans Theorie als »Optical-AccelerationCancellation« (OAC, optische Annullierung der Beschleunigung) bekannt ist, heißt die neue Theorie LOT (»Linear-Optical-Trajectory«, lineare optische Flugbahn). LOT geht davon aus, dass Sie dann, wenn Sie einem Ball nachjagen, der seitlich an Ihnen vorbeizufliegen droht, die Geschwindigkeit des Balls gar nicht beachten, sondern einfach seine Flugbahn auf dem Hintergrund des Himmels verfolgen und sich ständig bewegen, damit die Flugbahn nicht von einer geraden Linie abweicht. Ich kann das auch in meiner Vorstellung nachvollziehen: Wenn die Flugbahn des Balls sich zu krümmen scheint, dann beschleunige oder verlangsame ich, um sie wieder »gerade zu biegen«. Nach Expertenmeinung ist das für ein menschliches Gehirn leichter, als eine Beschleunigung zu beurteilen, wovon aber Chapmans OAC-Theorie ausging. Aber egal, welche Methode das Gehirn nun tatsächlich anwendet, damit wir einen Ball fangen können (auch Brain-Tracking genannt), und egal, wie befriedigend das alles vom geometrischen Gesichtspunkt sein mag – es muss doch eine Möglichkeit geben herauszufinden, ob wir es tatsächlich tun oder nicht. Die Schwierigkeit liegt hier vor allem darin, die richtigen Experimente zu entwickeln. Um zu verstehen, was im Gehirn eines Outfielders vorgeht, müsste man herausfinden, ob er sich dem Ball auf andere Weise nähert, je nachdem, ob er die OAC-Methode oder die LOT-Methode verwendet. Mit anderen Worten: Messen Verteidigungsspieler beim Laufen die Geschwindigkeit des Balls oder dessen Bahn in der Luft? Die Psychologen Michael McBeath und Dennis Shaffer von der Arizona State University, von denen die LOT-Hypothese stammt, gehen davon aus, dass Verteidigungsspieler, die die LOT-Methode benutzen, zuerst beschleunigen, dann einer gekrümmten Bahn bis zum Landepunkt
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des Balls folgen und wieder langsamer werden, bevor sie den Ball fangen. Wenn sie hingegen die OAC-Methode benutzen, dann müssten sie eigentlich direkt zu der Stelle hinlaufen, an der sie den Ball auffangen. McBeath und Shaffer machten Videoaufnahmen von Outfieldern, wie sie Bälle in der Luft abfingen, und fanden heraus, dass über 70 Prozent ihrer Laufwege eine Krümmung aufwiesen, die auf den Einsatz von LOT und nicht von OAC schließen ließ. Als man Kameras auf den Schultern der Spieler montierte, erkannte man, dass der Ball den Spielern aufgrund ihrer Bewegung so erschien, als würde er sich in einer geraden Linien bewegen – auch ein Indiz für LOT. Die Ergebnisse wurden 1995 in der Zeitschrift Science veröffentlicht. McBeath und Shaffer (sowie Ko-Autorin Mary Kaiser), die sich über die Bestätigung ihrer Annahme sehr freuten, fügten am Ende ihrer Arbeit noch einen Punkt an. Wir alle haben Outfielder gesehen, die bei ihrer Jagd nach dem Ball direkt in dem Begrenzungszaun des Outfields landen. Nach Meinung des Forscherteams kommt das daher, weil sie LOT nutzen, um sicherzugehen, dass sie tatsächlich den Ball fangen werden; sie wissen nur nicht, wann und wo. Es mag überraschen, dass das Outfielder-Problem auch durch die LOT-Theorie nicht als gelöst galt, ganz im Gegenteil: Die Kontroversen wurden nur noch heftiger. Als Reaktion auf den Artikel von McBeath, Shaffer und Kaiser in Science argumentierte ein Team von Physikern an der Purdue University (ich glaube nicht, dass sie ihren Kollegen Chapman rächen wollten), dass LOT aus folgendem Grund nicht stimmen könne: Es war ihnen gelungen, Szenarien zu entwerfen, in denen ein Outfielder mit der LOT-Strategie 5 Meter neben der Stelle ankam, auf der der Ball aufschlug. In ihren Augen lag es daran: Auch wenn ein Verteidigungsspieler läuft, um die Flugbahn des Balls scheinbar gerade zu halten, könnte der Ball seine maximale Höhe erreichen und dann zu fallen beginnen, und zwar immer entlang derselben geraden Linie. Mit anderen Worten: Wenn Sie sich nur darauf konzentrieren, die Bahn des Balls gerade zu halten, entgeht Ihnen unter Umständen die Tatsache, dass der Ball gleich auf dem Boden aufkommt. Das Team um McBeath entgegnete, dass sie nie behauptet hätten, LOT sei die einzige Methode, die zur Anwendung komme, um einen
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seitlich ankommenden Ball zu fangen, sondern einfach die primäre Methode. Vielleicht, fügten sie hinzu, bedienen sich die Outfielder daneben auch der OAC-Methode. Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass auch andere Wahrnehmungen ins Spiel kommen, wenn der Ball näher und näher kommt. Ungefähr in der letzten halben Sekunde ist der Ball so nahe, dass er immer größer zu werden scheint. Diese scheinbare »optische Ausdehnung« des Balls übernimmt gegen Ende wahrscheinlich das Kommando, damit man die Hand zum Fangen vor den Ball platzieren kann. Wenn ein Fänger gezwungen ist, schnell zu laufen und den Ball im Sprung zu fangen, dann muss seine Konzentration in diesen letzten Momenten natürlich darauf gerichtet sein, dass die Hand den Ball erreicht. Am Outfielderproblem sind verschiedene Brain-Tracking-Mechanismen beteiligt; dazu zählen wahrscheinlich auch LOT, OAC und wer weiß wie viele andere. Ohne darauf weiter eingehen zu wollen, möchte ich nur hinzufügen, dass einige verblüffende Experimente diese Ansätze vollkommen in Frage stellten. Jemand wagte tatsächlich zu thematisieren, ob das Verfolgen des Balls mit dem Auge genug sei. Diese Experimente zeigten – was nicht ganz unerwartet war –, dass Spieler dem Ball während seines gesamten Flugs folgen, aber man erkannte gleichzeitig auch, dass ein leuchtender Ball auch in einem vollkommen verdunkelten Raum im Laufen gefangen werden kann. Was bedeutet das? Wenn Sie dem Ball folgen und dabei Bezug nehmen auf seinen Hintergrund (was sicherlich hilfreich ist, um Geschwindigkeit oder Richtung des Balls abzuschätzen), dann brauchen Sie auch einen Hintergrund! Aber genau der fehlt in einem dunklen Raum. Diese Experimente legen folgenden Schluss nahe: Die Tatsache, dass Sie sich der Bewegungen Ihres Kopfes und Halses bewusst sind, während Sie den Ball mit den Augen verfolgen, trägt wahrscheinlich dazu bei, dass Sie wissen, wie der Ball fliegt und wo er auf dem Boden auftreffen wird. Die Nervensignale, dank derer wir wissen, in welche Richtung unser Kopf und unsere Augen zeigen, arbeiten sehr schnell und können eine Beschleunigung des Kopfes sehr gut wahrnehmen. Einige Forscher haben versucht, die Situation zu vereinfachen. Sie gehen davon aus, dass wir zum Fangen des Balls nichts anderes tun
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müssen, als den Ball irgendwo zwischen Horizontaler und Vertikaler zu halten, also zwischen dem Boden und dem höchsten Punkt. Dabei stellt sich aber folgende Frage: Wie wissen wir, ob wir nicht sicherheitshalber besser einen Schritt zurück machen, solange der Ball aufsteigt, aber noch nicht seinen höchsten Punkt erreicht hat? Wenn Sie Outfielder während eines Spiels beobachten, werden Sie sehen, dass sie sich je nach Flugbahn des Balls unterschiedlich verhalten, aber beide wichtigen Theorien verlangen größere Konsistenz als das. Es stimmt auch, dass die Spielsituation manchmal diktiert, wie man sich einem fliegenden Ball nähert. Wenn ein Läufer versuchen sollte, von der zweiten zur dritten Base vorzurücken, sobald der Ball gefangen ist, dann wird ein guter Fänger sich leicht hinter den Fangpunkt platzieren, sodass er sich vorwärts bewegen kann, um den Ball zu fangen, und dieses Vorwärtsmoment nutzen, um dem Wurf zur dritten Base mehr Kraft zu verleihen. Dieser Tatsache wird in diesen Geschichten nicht Rechnung getragen. Es gibt im Baseball die Möglichkeit, dass ein Fänger keine der oben genannten Theorien beherzigt. Das beste Beispiel ist Willie Mays faszinierendes Catch im Centre Field im Endspiel von 1954. Vic Wertz von den Cleveland Indians warf einen Ball in den tiefsten Teil der Polo Grounds, ein Wurf, der in jeder anderen Anlage – oder in jedem anderen Teil dieser Anlage – ein Home Run gewesen wäre. Mays rannte am Crack of the Bat los, rannte direkt weg vom Home Plate, und es gelang ihm, den Ball zu fangen, indem er lediglich in der letzten Sekunde nach dem Ball griff. Das Verblüffende dabei war, das Mays während des Laufens nur ein oder zwei Mal nach dem Ball schaute; es war, als hätte er von Anfang an gewusst, wo der Ball landen würde. Aber das scheint – zumindest für Menschen – nicht möglich zu sein. Es gibt jedoch einen Fisch, der das kann: der Schützenfisch. Der Schützenfisch ist ein merkwürdiges Tier. Seine Beute lebt außerhalb des Wassers. Er behält die überhängende Vegetation im Auge, und wenn ein Insekt dort landet, dann bespritzt er es mit schnell hintereinander abgeschossenen Wassertropfen, wodurch das Insekt in den meisten Fällen im Wasser landet. Das ist an sich schon eine erstaunliche Leistung, vor allem weil der Fisch an der Stelle, an
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der das Wasser auf die Luft trifft, mit der Lichtbrechung zu kämpfen hat. Wir alle wissen, dass sich ein Stock, der sich halb im Wasser, halb außerhalb des Wasser befindet, zu biegen scheint. Wenn man nach dem Bild des Endes des Stockes greift, wird man danebengreifen. Der Schützenfisch bewältigt dasselbe Problem offenbar wesentlich effizienter (und nicht indem er nur auf Insekten direkt oberhalb von sich zielt, wie einige Dokumente im Internet meinen) und hat regelmäßig Erfolg dabei. Das Insekt ins Wasser zu befördern, ist jedoch nur der erste Schritt. Normalerweise verharren andere Schützenfische in Beobachterposition, und sobald ein Insekt von seinem Platz vertrieben wird, setzt ein Wettrennen darum ein, wer es verzehren darf. Hier kommen die bemerkenswerten Fangfähigkeiten des Schützenfischs ins Spiel. Experimente, die der Wissenschaftler Stephan Schuster an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg durchgeführt hat, zeigen, dass sich der spuckende Fisch und seine Gefährten innerhalb von 1 Zehntelsekunde nach Abschuss der Beute an jene Stelle des Wassers begeben, an der das Insekt landen wird. Das Verblüffende dabei ist, dass der Fisch das Insekt danach nicht mehr beobachten muss – in diesem ersten kurzen Moment hat er alles berechnet, was er wissen muss, und im Unterschied zu Baseball-Spielern braucht er das Objekt der Begierde nicht zu verfolgen – er steuert einfach die Stelle an, an der das Insekt im Wasser landen wird. Schuster hat einige Experimente ersonnen, um zu beweisen, dass der Schützenfisch das, was für sein Gehirn gilt, in einem Sekundenbruchteil erfindet. Zuerst band er eine Fliege an einen Faden und gab einem Schützenfisch in einem Aquarium die Gelegenheit, die Fliege abzuschießen. Das Problem dabei war, dass die Fliege auf halbem Weg zur Wasseroberfläche hängen blieb und dort am Faden baumelte. Der Fisch, der sich des Schicksals der Fliege nicht bewusst war, steuerte unbeirrt auf den Punkt zu, an dem das Opfer eigentlich hätte landen müssen. Das zeigt, dass der Schützenfisch die Beute zwar nicht auf ihrem ganzen Weg verfolgt, aber trotzdem eine Art frühes Nachspüren einsetzt. Die Frage ist nun, ob der Fisch tatsächlich einen mentalen Schnappschuss der anfänglichen Flugbahn der Fliege macht und dann dieser Bahn bis an den Punkt folgt, wo sie auf das Wasser trifft.
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Oder tut er etwas wesentlich Einfacheres: Merkt er sich lediglich die Geschwindigkeit und Richtung und erfindet eine Flugbahn, der er dann folgt? Schuster ging also einen Schritt weiter und legte eine Glasplatte über das Aquarium. Sobald dieses Mal ein Fisch auf ein Insekt auf der Glasplatte zielte, richtete Schuster einfach einen Luftstrahl auf die Fliege, sodass sie ungefähr in die Richtung trieb, in der sie bei freiem Fall auf dem Wasser hätte landen müssen. Obwohl die Fliege sich horizontal und nicht abwärts bewegte, begab sich der Fisch an die richtige Stelle im Wasser und wartete dort wie Captain Hooks Krokodil. Diese Experimente illustrieren eine allgemeine Wahrheit, was unser Verhalten betrifft: Je einfacher die Methode, die das Gehirn zur Bewältigung einer Aufgabe einsetzt, desto eher kann es getäuscht werden. Der Schützenfisch nutzt wesentlich weniger geistige Kraft, um die Fliege zu fangen, als wir, daher ist er aber auch fehleranfälliger. Aber diese Fehler sind in der natürlichen Umgebung so selten (es gibt nicht viele Insekten, die an den Pflanzen angebunden sind, auf denen sie sitzen), dass es sich für sie auszahlt, sich mit einer Lightversion des Nachspürens zu begnügen. Die Menschen hingegen müssen ihren Millionen schweren Verträgen gerecht werden und Gold-GloveAwards (jährliche Auszeichnung für die besten Fänger beim Baseball) gewinnen, also müssen sie LOT und OAC zu Hilfe nehmen.
Hüpfende Steine
Kultur und Technologie verändern das Alltagsleben manchmal in atemberaubendem Tempo, aber glücklicherweise widersetzen sich manche Erfahrungen beharrlich jeder Veränderung. Die kindliche Freude am Steinehüpfen ist eine davon. Ich möchte hier den ersten Satz aus einem wissenschaftlichen Aufsatz über das Thema aus den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts (!) zitieren: »Es ist wohl bekannt, dass Steine, die schräg übers Wasser geworfen werden, hüpfen, und das ist der bevorzugte Zeitvertreib von Buben, die an den Flussufern spielen.« Und nun der erste Satz aus einem wissenschaftlichen Artikel zu demselben Thema, diesmal allerdings aus dem Jahr 2002: »Fast jeder hat schon einmal versucht, einen Stein über einen See zu werfen und die Anzahl der Sprünge zu zählen, die dem Stein gelangen. Je mehr, desto besser natürlich.« Es scheint, als hätte sich nichts verändert, außer der Hinweis darauf, dass vor allem Buben ihre Freizeit gerne mit Steinehüpfen verbringen. Aber trotz der anhaltenden Faszination, die von diesen hüpfenden Steinen ausgeht, verstehen wir heute kaum besser als damals, was eigentlich passiert, wenn die Steine hüpfen. Die Gedanken und Beobachtungen des Wissenschaftlers aus dem 18. Jahrhundert, den wir zitiert haben, decken sich über weite Strecken mit dem, was wir heute wissen. Der hier zitierte Wissenschaftler war Lazzaro Spallanzani, und wenn dieses Buch nicht ein Buch über die Wissenschaft unseres Alltags wäre, würde ich dieses Kapitel ihm allein widmen, nicht der Wissenschaft von den hüpfenden Steinen, denn er war ein ganz außergewöhnlicher wissenschaftlicher Kopf.
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Nur um den Rahmen für seine Arbeit über die hüpfenden Steine abzustecken: Spallanzani ist vor allem bekannt für seine Experimente, die bewiesen, dass Leben nicht einfach aus dünner Luft heraus entstehen kann. Die Theorie, die diese Annahme beweisen wollte, wurde »Urzeugung« genannt, und es gibt einige alltägliche Beobachtungen, die sie zu stützen scheinen: Lassen Sie einen Hamburger (oder das Äquivalent des 18. Jahrhunderts) auf einem Tisch liegen, und sehr schnell wird er vor Maden wimmeln. Legen Sie alte Kleider und Getreide in einen Sack, und ein, zwei Wochen später können Sie Mäuse züchten. Es scheint, als ob diese unbelebte Materie eine Form von Leben enthält, die sich unter den richtigen Bedingungen durchsetzt und lebendige Dinge hervorbringen kann. Als Spallanzani begann, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, hatte es bereits Versuche gegeben, die diese Vorstellung zweifelhaft erscheinen ließen (wenn Sie den Hamburger so abdecken, dass Fliegen keinen Zugang haben, gibt es auch keine Maden), aber es herrschte nach wie vor der weit verbreitete Glauben, Leben könne aus Nichtleben entstehen. Spallanzani widerlegte diese Theorie, indem er Brühe einmal abgekocht und einmal nicht abgekocht in kleine Flaschen füllte. Er versiegelte einige dieser Flaschen, während er andere nur locker zukorkte. Spallanzani war überzeugt davon, dass die Mikroorganismen, die die offenen Flaschen bevölkerten, aus der Luft und nicht aus der Flüssigkeit stammten, und sein Experiment gab ihm Recht: In jenen Flüssigkeiten, die lange abgekocht und dann in den Flaschen versiegelt worden waren, wuchs nichts. Wurde sie jedoch nur unzulänglich abgekocht, konnte sich Wachstum einstellen, genauso wie bei den zugekorkten Flaschen. Auch wenn die Vorstellung einer Urzeugung noch bis zur Zeit von Louis Pasteur in so manchen Köpfen herumspukte, halfen Spallanzanis Experimente, das Blatt zu wenden. Aber Spallanzani tat viel mehr als das. Er war der erste Biologe, der zeigte, dass ohne Samen keine Befruchtung geschieht, und führte eine Reihe von Experimenten durch, die bewiesen, dass Fledermäuse mithilfe ihrer Ohren und nicht ihrer Augen navigieren (siehe das Kapitel »Echolokation – unser sechster Sinn?«) – und er studierte hüpfende Steine.
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Spallanzanis Aufsatz über Steine und wie sie über das Wasser hüpfen ist eine seiner weniger bekannten wissenschaftlichen Arbeiten. Übers Internet fand ich schließlich in der öffentlichen Bibliothek von Bologna eine Kopie in Auszügen, nachdem ich den lateinischen Titel eingegeben hatte: De Lapidibus Ab Aqua Resilientibus. Dieser Text ist zwar wenig bekannt, aber er ist ein wunderschön geschriebener Artikel, der einige Aspekte hüpfender Steine untersucht, die auch heute noch, 250 Jahre später, die Wissenschaft beschäftigen. Anfangs diskutiert Spallanzani die von anderen vorgebrachte Überlegung, die Elastizität des Wassers lasse die Steine von der Oberfläche abprallen. Die Tatsache, dass er einige Seiten der Erforschung dieses Ansatzes widmete, erinnert daran, dass auch noch Jahrzehnte nachdem das Alphatier der Physik, Isaac Newton, seine Spuren auf diesem Gebiet hinterlassen hatte, die Vorstellungen von der Natur von Materie, Energie und Kraft unscharf waren und noch immer etwas Geheimnisvolles an sich hatten. Spallanzani zeigt dann mit beträchtlicher Ausführlichkeit, dass die Elastizität des Wassers – was immer das tatsächlich war – wenig mit dem Hüpfen eines Steins zu tun hat. Aber in dem Moment, in dem er tatsächlich Steine ins Wasser wirft, beginnt sein Experiment auf einmal sehr modern zu wirken. Zum Beispiel betont er, dass dünne, flache Steine, die mit der Spitze voran ins Wasser geworfen werden, sinken (sie »suchen den Grund«, wie er es formulierte). Wenn man sie jedoch »mit der breiten Seite zur Wasseroberfläche gekehrt« wirft, dann hüpfen sie. Jeder, der heute Steine hüpfen lässt, weiß das, aber ich bezweifle, dass das auch im 18. Jahrhundert der Fall war. Spallanzani ging dann noch einen Schritt weiter und wies darauf hin, dass Steine höher hüpfen, wenn sie mit der Vorderkante leicht nach oben gekippt geworfen werden. Außerdem bemerkte er, dass der Stein auch dann, wenn er bereits das Wasser berührt hat, gekippt bleibt und diese Position auch bei den folgenden Sprüngen beibehält. Dann machte er eine Entdeckung, die er selbst offenbar für wesentlich hielt: Statt sich auf die Orientierung des Steins zu konzentrieren, untersuchte Spallanzani, welche Wirkung der Aufschlag auf dem Wasser hatte. Er beschreibt ihn folgendermaßen: »Sobald das Wasser vom Stein getroffen wurde, wurde es hinabgedrückt in eine Vertiefung, die aus einer doppelt geneigten Ebene zu
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bestehen schien, und der Stein schien über eine Ebene abzusteigen und über die andere aufzusteigen, um dann abzuheben.« Spallanzani muss gute Augen gehabt haben, um erkennen zu können, dass ein hüpfender Stein auf der einen Seite einer Vertiefung in der Wasseroberfläche hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufgleitet, um sich dann in die Luft zu erheben. Wie Sie gleich sehen werden, hat es bis 1968 gedauert und den Einsatz von Hochgeschwindigkeitsaufnahmen erfordert, bis seine Beobachtungen Bestätigung fanden. Spallanzani gelang es sogar, einen Stein in die Luft zu befördern, indem er ihn mit Daumen und Zeigefinger hielt, ihn ungefähr eine Handbreit über die Wasseroberfläche streichen ließ und erst dann losließ. Er bemerkte, dass die Bugwelle, auf der der Stein reitet, wenn er abhebt, deutlich sichtbar war. Diese kurze Beschreibung wird aber Spallanzanis gründlicher Arbeitsweise nicht gerecht: Er schoss sogar Schrotkugeln über eine Wasseroberfläche und dann in Lehm, um die Winkel zu vergleichen, die ein Hüpfen ermöglichen. Vielleicht denken Sie, Schrotkugeln hätten nicht viel mit Steinen zu tun, aber Spallanzani versuchte herauszufinden, warum Sie einen vollkommen flachen Stein aufrecht stehend hüpfen lassen können, während Sie sich bei einem gewölbten Stein beugen und ihn fast parallel zur Wasseroberfläche werfen müssen. Sie tun das, um den Winkel zu verringern, den der Stein beim Aufschlagen mit dem Wasser bildet: Je flacher der Winkel, desto eher hüpft der Stein. Je größer jedoch der Winkel, desto größer auch jener Teil der Auftreffkraft, der abwärts ins Wasser gerichtet ist. Ist diese Abwärtskraft zu groß, gibt es kein Hüpfen. Sie können sich das folgendermaßen vorstellen: Ein Stein, den Sie werfen, trifft immer mit derselben Kraft auf dem Wasser auf, egal wie er beim Aufprall ausgerichtet ist. Trifft er mit der flachen Seite auf, dann verbreitet sich die Auftreffkraft über die Oberfläche des Wassers, was allein schon reicht, damit er abprallen und hüpfen kann. Kommt er jedoch mit der Kante auf, dann ist dieselbe Kraft auf einer schmalen Kante konzentriert – das zuzüglich der anderen Faktoren wie die Form des Steins, der Winkel, mit dem er aufs Wasser auftrifft, und der Widerstand des Wassers selbst lassen ihn durch die Oberfläche schneiden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es dauerte viele Jahre – zwei Jahrhunderte, um genau zu sein –, bis
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wieder ein Forscher dieses Phänomen so ernst nahm wie Spallanzani und genauso minutiös beschrieb, was er beim Steinehüpfen beobachtete. In der Zeitschrift Scientific American vom April 1957 beschreibt ein pensionierter Englischprofessor, Ernest Hunter Wright, seine eigenen Versuche mit dem Steinehüpfen. Als er eines Tages am Strand unterwegs war und das Meer zu bewegt war fürs Steinehüpfen, versuchte er seine Steine stattdessen auf dem feuchten, harten Sand des Strandes hüpfen zu lassen. Als er die Markierungen, die die Steine auf dem Sand hinterlassen hatten, untersuchte, war er verwirrt: »Ich denke, ich muss genauso erstaunt gewesen sein wie der alte Crusoe, als er Freitags erste Fußstapfen entdeckte! Der erste Sprung des Kieselsteins war nur 14 Zentimeter lang; der zweite gut 24 Zentimeter; dann kam wieder ein kurzer Hüpfer von nur 14 Zentimetern, dann ein Sprung von circa 150 Zentimetern und schließlich wieder ein Sprung von 14 Zentimetern – insgesamt sieben große Sprünge, die von 14-Zentimeter-Sprüngen unterbrochen wurden.« Wrights Beobachtungen widersprechen allem, was man je beim Steinehüpfen gesehen hat – mit seltenen Ausnahmen verringert sich die Distanz zwischen den einzelnen Sprüngen, bis der Stein schließlich an Schwung verliert und sinkt. Aber er war überzeugt davon, dass das, was er dort am Strand bei starkem Seegang gesehen hatte, auch tatsächlich passiert sein muss: »Ich stelle mir vor, dass das Gleiche auch auf dem Wasser geschieht, obwohl im Wasser keine Spuren zurückbleiben, die diese Geschichte erzählen könnten.« Aber schließlich und endlich war er nur ein Englischprofessor. Aber bitte kein vorschnelles Urteil: Er besaß tatsächlich einen gewissen wissenschaftlichen Instinkt. Wright meinte, man müsse den Flug und das Aufprallen eines geworfenen Steins aufzeichnen, und er konsultierte sogar einige »renommierte« Physiker, um eine Erklärung für das Kurz-langMuster zu bekommen, aber vergeblich. Ja, sie gaben ihm überhaupt keine Antwort, sagte er. Wright erhielt jedoch einige Hinweise von anderer Seite. Einer besagte, dass der Stein sich bei jedem Aufprall um seine Achse dreht (was die zwei 14 Zentimeter entfernten Markierungen erklärt) und dann wieder abhebt. Eine andere Erklärung ging davon aus, dass der Stein zuerst mit dem hinteren Ende auftrifft, dann kippt, um mit dem vorderen Ende aufzutreffen, bevor er weiterhüpft.
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Wright konnte keine der beiden Erklärungen wirklich überzeugen, und soweit ich weiß, hat niemand bislang Wrights Beobachtungen erklären können, die inzwischen fast 50 Jahre zurückliegen. Ich vermute, dass man hier nicht zu kategorisch sein darf, denn immerhin erhielt Scientific American mehr als 10 000 Zuschriften von Lesern von Wrights Artikels. Trotzdem dauerte es bis 1968, bis sich die Zeitschrift wieder dem Steinehüpfen widmete und die Resultate einiger neuer, sehr genauer Experimente veröffentlichte, die der Student Kirston Koths durchgeführt hatte. Seine Versuche umfassten genau das, wovon Wright geträumt hatte: Fotografien. Steine im Flug zu fotografieren ist nicht einfach, und Koths sah sich gezwungen, den Versuch in einen geschlossenen Raum zu verlagern, denn nur so hatte er alles gut genug unter Kontrolle, um es auch aufnehmen zu können. Statt echter Steine – deren Hüpfverhalten jeweils kleine Unterschiede aufweist – verwendete er einen Satz symmetrischer Sandsteinscheiben und markierte die eine Seite mit einem, die andere mit zwei schwarzen Streifen, um die Ausrichtung der Steine auf den Fotos eindeutig erkennbar zu machen. Zum Ausleuchten der fliegenden Steine benutzte Koths eine Kamera, die eine Blitzlichtserie erzeugt, wobei jeder Blitz ein Millionstel einer Sekunde lang ist – oder, wie er es formulierte, »so lange wie ein Auto braucht, um bei einer Geschwindigkeit von 60 Meilen pro Stunde eine Strecke zurückzulegen, die der Dicke seiner Lackschicht entspricht«. Das Experiment war alles andere als einfach. Sein erster Versuch, Wrights auf dem Sand hüpfende Steine zu wiederholen und auf Film festzuhalten, schlug fehl, weil der Film durch die Helligkeit des Sands überbelichtet war. Er musste von vorn anfangen und den Sand schwarz färben. Während des Versuchs musste Koths das Licht abdrehen, den Blitz aktivieren, den Stein werfen (und genau in die Wanne mit Sand oder Wasser treffen), die Blende der Kamera öffnen – und das alles in wenigen Sekunden. Aber schließlich hatte er doch einige Antworten gefunden. Bei einem Stein, der auf dem Sand hüpfte, war der kurze Sprung, den Wright bemerkte, tatsächlich darauf zurückzuführen, dass der Stein aufkam, sich drehte und wieder innerhalb dieser kurzen Strecke von ungefähr 14 Zentimetern aufkam, um dann wieder abzusprin-
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gen. Manchmal setzte sich diese anfängliche Drehung fort: Der Stein taumelte, während er durch die Luft flog, aber manchmal stabilisierte er sich selbst und strich mit der rechten Seite nach oben über den Sand, bevor er wieder aufkam. Was die Wasservariante des Steinehüpfens betrifft, so hatte Koths hier mit Problemen zu kämpfen: Seine Blitztechnik funktionierte nicht, weil Wasserspritzer die Details des Aufpralls verschleierten. Er musste sich auf Hochgeschwindigkeitsaufnahmen verlagern, und damit gelangen ihm die ersten guten Bilder von Steinen, die über das Wasser hüpfen. Aber das Verblüffendste dabei ist (obwohl weder er noch irgendjemand sonst sich dessen bewusst war), dass er das bestätigte, was Lazzaro Spallanzani zwei Jahrhunderte zuvor beobachtet hatte. Koths bewies, dass ein typischer Stein mit der Hinterkante voran auf dem Wasser aufkommt (wir wussten schon immer, dass die meisten hüpfenden Steine leicht geneigt – Vorderkante nach oben, Hinterkante nach unten – abgeschossen werden), dann auf dem Wasser entlanggleitet und sich dabei weiter nach hinten neigt. Sobald er dabei einen maximalen Winkel von 75 Grad erreicht (zum Vergleich: der Turm von Pisa hat eine Neigung von 80 Grad), baut sich unterhalb seiner Vorderkante eine Welle auf (die schiefe Ebene von Spallanzani), und der Stein katapultiert sich selbst wieder aus dem Wasser. Es ist ein schrittweiser Vorgang: ein langer Satz, dann ein Aufschlag, wieder ein langer Satz – hier gibt es keine kurzen Sprünge à la Wright. Aber Koths gibt zu, dass »die gesamte Interaktion zwischen Stein und Wasser ganz schön komplex ist«. Den Aufprall des Steins auf dem Wasser so zu beschreiben, wie ich es gerade getan habe, ist in Wirklichkeit irreführend, denn man vergisst dabei sehr leicht eines: Wenn sich der Stein neigt und sich die Welle darunter aufbaut, dann befindet sich im Stein noch ein enormes Vorwärtsmomentum, das ihn – wenn er Glück hat – noch viele weitere Sätze machen lässt. Diese Energie ist irgendwie in der Lage, den Stein von seinem Kontakt mit dem Wasser loszureißen und ihn wieder in die Luft zu befördern – gegen die Schwerkraft –, bis er fällt und ein weiteres Mal auf dem Wasser aufkommt. Es scheint logisch, dass manche Unterschiede zwischen dem Verhalten des Steins auf Sand und dem auf Wasser sich durch die Wir-
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kung der Reibung erklären lassen: Trifft ein Stein auf die raue Sandoberfläche, dann raubt ihm das viel mehr Energie, als wenn er vom Wasser »abprallt«, und verlangsamt den Drall des Steins wesentlich stärker, auch wenn der Stein genug Energie zurückhält, um mehrmals zu hüpfen. (Dieser Drall stabilisiert den Stein im Flug, wie das auch bei einem Kreisel der Fall ist.) Aber die Auftreffkraft ist signifikant und wahrscheinlich groß genug, um den Stein umzudrehen, und das manchmal sogar mehrmals. Auf dem Wasser verhält es sich anders: Der Aufprall zwingt den Stein nicht, sich zu drehen, sondern drückt ihn die Wasserwand hinauf, die sich dann in eine Abschussrampe für den Stein verwandelt. Es sollte möglich sein, irgendein Medium zu finden, dessen Konsistenz hinsichtlich des Hüpfverhaltens zwischen Sand und Wasser liegt. Dann könnte man den Schwellenwert bestimmen, bei dem der Stein sich nicht mehr dreht, sondern das Medium zusammengedrückt wird. Hätte Spallanzani gewusst, wie Steine auf dem Sand hüpfen, dann hätte er gewiss eine weitere gelehrte Abhandlung darüber geschrieben, und wir wären heute weiter, als wir es sind. Die zumindest bis heute letzte Episode dieser Geschichte wurde in den vergangenen 15 Jahren geschrieben. 1988 beschäftigte sich Richard Crane in einem Artikel in Physics Teacher mit einem der kniffligsten Aspekte hüpfender Steine: mit der Rolle der Eigendrehung (»Spin«). Ein sich drehender Stein ist sowohl in der Luft als auch beim Auftreffen wesentlich stabiler, und Crane arbeitete sich durch die Gleichungen, um Bestätigung für die Annahme zu finden, dass diese Eigendrehung der wichtigste Aspekt ist. Er interessierte sich vor allem für das Phänomen der Präzession, jenes »Wobbeln« oder Trudeln, das für ein rotierendes Objekt wie einen Kreisel, aber auch für die sich drehende Erde so typisch ist (siehe das Kapitel »Wobbelnd zum Stopp«). Die Richtung dieses Wobbelns ist immer der Eigendrehung entgegengesetzt, und im Fall eines auf dem Wasser aufschlagenden Steins sollte es nach Cranes Meinung die Tendenz zu kippen oder durch die Oberfläche zu schneiden aufheben. Es ist schwierig festzustellen, in welche Richtungen die verschiedenen Kräfte in einer solchen Situation wirken, aber Crane geht von folgendem Szenario aus: Die Vorderkante eines geworfenen Steins beginnt zu tief zu sinken, sodass der Stein anfängt, sich zu einer Seite zu
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neigen. Diese Neigung verändert ihrerseits die Kraft, die das Wasser auf eine Seite ausübt, und erzeugt Präzession – das Wobbeln –, wodurch die Vorderkante wieder aufgerichtet wird. Das klingt ja sehr elegant ... Schließlich trat Ende 2002 der französische Wissenschaftler Lyderic Bocquet – der Autor der eingangs zitierten Zeilen – nach Durchsicht aller vorliegenden Zahlen mit einigen theoretischen Ansätzen auf den Plan, die bestätigen sollen, was man schon gesehen oder vermutet hat. Er weist darauf hin, dass die maximale auf den Stein einwirkende Auftriebskraft – das, was den Stein aus dem Wasser befördert, sobald er aufgeschlagen ist – dann auftritt, wenn er nur teilweise eingetaucht ist, weil dann die Auftriebskraft auf keinen Widerstand trifft. Wäre der Stein vollkommen eingetaucht, dann würde die Auftriebskraft das Gewicht des Wassers über dem Stein nicht mehr ausgleichen können und er würde, wie Spallanzani sagte, »den Grund suchen«. Diese Auftriebskraft hängt von einer Reihe von Parametern ab: von der Geschwindigkeit, der Größe und dem Gewicht des Steins. Bocquet rechnete aus, dass der Stein etliche Umdrehungen pro Sekunde machen muss, um so stabil im Flug zu sein, dass er die maximale Anzahl an Sprüngen erreichen kann. Und was ist nun diese maximale Anzahl an Sprüngen? Nun, ein Stein, der gut geworfen wird, das heißt mit einer Geschwindigkeit von 12 Metern pro Sekunde (das sind ungefähr 40 Kilometer in der Stunde), sollte theoretisch 38-mal springen. Und das ist zufällig der Weltrekord ... Ein langsamerer Stein, der zum Beispiel nur mit einer Geschwindigkeit von 8 Metern pro Sekunde (ein bisschen mehr als 25 Kilometer pro Stunde) geworfen wird, sollte nur 17 Sprünge schaffen. Aber Bocquet glaubt, dass die Eigendrehungsrate wahrscheinlich genauso wichtig ist, aber hier ein hoher Wert schwer zu erreichen ist: Für den aktuellen Weltrekord braucht man, wenn man den Gleichungen glaubt, eine Eigendrehungsrate von 14 Umdrehungen pro Sekunde. Es gibt aber so viele Unwägbarkeiten, dass er vorsichtig meint, diese Ziffer dürfe nicht »wörtlich« genommen werden. Und was kommt als Nächstes? Bocquet und seine Kollegen wollen demnächst ein Katapult bauen, um die Steine auf beliebig wiederhol-
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bare Weise kontrolliert aufs Wasser schleudern und jede Phase des Flugs einer wissenschaftlichen Analyse unterziehen zu können. Insofern tritt Bocquet in die Fußstapfen von Spallanzani. Steinehüpfen macht viel Spaß, und so war es offenbar schon vor Jahrhunderten. Ein großer Teil dieses Spaßes rührt daher, dass jeder einzelne Wurf anders als die vorhergehenden ist. Aber diese Schwankungen machen es unmöglich zu analysieren, was dabei wirklich passiert. Jeder Wissenschaftler möchte die einzelnen Details des Wurfs verstehen, aber nicht, um das Spiel zu entzaubern (wie so viele Menschen fälschlich annehmen), sondern um dem Phänomen eine neue Dimension zu verleihen, indem die Geheimnisse hinter dem Geheimnis geklärt werden (womit unweigerlich eine weitere Schicht an Geheimnissen geschaffen wird). Die Untersuchung der hüpfenden Steine ist vielleicht ein endloses Unterfangen, aber ich wage zu behaupten, das Spallanzani die Idee eines Katapults sehr gefallen hätte.
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Mir ist egal, was Sportelitisten sagen, und mir ist auch egal, dass viele Curlingfans nur Gelegenheitsspieler sind und lieber herumstehen und sich während des Spiels miteinander unterhalten. Tatsache ist, dass das Spiel auf seinem höchsten Niveau unglaubliche Geschicklichkeit erfordert. Und was noch faszinierender ist: Für Physiker stellt Curling eine große Herausforderung dar, weil die einfache Bewegung des Curlingsteins, wie er auf dem Eis dahinschlittert, sich bis jetzt jeder Erklärung widersetzt. Lässt ein Spieler den Stein los, verleiht er dem Griff einen Drall entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn, und während der Stein über das Eis gleitet, beginnt er zu »curlen«, also einen Bogen nach links oder rechts zu beschreiben, je nachdem welcher Drall ihm ganz am Anfang versetzt wurde. Ein (von oben gesehen) gegen den Uhrzeigersinn gerichteter Drall bewirkt, das der Stein einen Bogen nach links beschreibt und umgekehrt. Dieser Bogen kann relativ groß sein und eine seitliche Abweichung von einem Meter und mehr bedeuten. Genau das verleiht dem Spiel seine Raffinesse und verlangt auch die größte Geschicklichkeit. Wenn ein Stein ordentlich geworfen wird, kann er um bereits auf dem Eis platzierte Steine herum»curlen« und sich hinter ihnen verstecken. So wird er immun gegen jeden Angriff, außer ein anderer Stein schafft es, einen ähnlichen Bogen zu beschreiben. Das ganze Spiel baut auf der Fähigkeit der Steine auf, beim Dahingleiten auf dem Eis einen Bogen zu beschreiben, aber warum sie das tun, ist ein Geheimnis. In anderen Fällen, die oberflächlich betrachtet sehr ähnlich gelagert sind, passiert nämlich das genaue Gegenteil. Wenn Sie zum Beispiel ein ganz normales Trinkglas auf den Kopf stel-
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len und es über eine glatte Oberfläche gleiten lassen, zum Beispiel eine polierte Theke oder eine Küchenarbeitsfläche (wie es bei den offiziell genehmigten Events bei den World Beer Games der Fall ist), wird es eine mehr oder weniger gerade Linie beschreiben. Aber sobald Sie ihm einen Drall versetzen, dreht es sich zwar, doch es bewegt sich in genau die entgegengesetzte Richtung eines Curlingsteins. Wenn es (wieder von oben gesehen) gegen den Uhrzeigersinn rotiert, beschreibt es einen Bogen nach rechts, nicht nach links. Der Bogen eines Curlingsteins weist also ein wesentliches Merkmal auf, das ihn von einem auf den Kopf gestellten rotierenden Glas unterscheidet. Die Physiker, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, glauben, dass das Eis für diesen Unterschied verantwortlich ist, aber wenn es darum geht, diese Annahme in Bewegungsgleichungen umzusetzen, die tatsächlich voraussagen, was man beim Spiel sieht, so schaut es schon wieder ganz anders aus. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Faktoren hier mitspielen, lohnt es sich, sich mit der Physik eines umgedrehten Glases zu beschäftigen. Zumindest vom physikalischen Gesichtspunkt aus gesehen, ähnelt das Glas dem Curlingstein mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Obwohl der Stein aus fast 20 Kilo Granit besteht, kommt nur ein minimaler Teil dieser Masse in Kontakt mit der Eisoberfläche. Der Stein selbst hat einen Durchmesser von 28 Zentimetern, aber die Unterseite ist konkav, wodurch nur ein dünner Streifen – weniger als ein Zentimeter breit – auf dem Eis aufkommt. In diesem Sinn ruht der Stein wie ein gestürztes Glas nur auf einem sehr schmalen Rand. Vergessen wir aber nicht, dass sie sich, wenn sie gleichzeitig dahingleiten und sich drehen, in die genau entgegengesetzte Richtung bewegen. Versteht man diese seltsame Tatsache, dann hat man den ersten Schritt zum Verstehen des Curlings getan. Die Physik des Trinkglases scheint relativ gut geklärt zu sein. Niemand wird bestreiten, dass die Reibung die wichtigste Rolle dabei spielt. Reibung ist das, was überwunden werden muss, damit das Glas auf den Weg kommt, und Reibung ist das, was es schließlich auch zum Stehen bringt. Wenn das Glas einfach gerade nach vorn geschoben wird, merkt es die Reibung stärker auf der Vorderseite als auf der Rück-
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seite, und zwar so viel stärker, dass es nach vorn kippt, wenn Sie zu fest anschieben. Wenn das einmal klar ist, dann stellt sich die nächste Frage: Inwiefern bestimmt die Reibung, der ein rotierendes Glas ausgesetzt ist, die Kurve, die es auf dem Küchentisch beschreibt? Und genau da beginnen die Reibereien ... Um der Wissenschaft ab hier folgen zu können, müssen Sie sich vorstellen, Sie hängen über dem Glas, das sich drehend fortbewegt. Angenommen, die Drehung erfolgt im Uhrzeigersinn: Die Drehung verändert die simple Vorn-mehr-hinten-weniger-Verteilung der Reibung rund um den Rand des Glases. Da die Vorderseite des Glases sich nach rechts dreht, nimmt sie zumindest einen Teil der auf sie einwirkenden Reibung als aus dieser Richtung kommend wahr. Die Hinterseite des Glases hingegen dreht sich nach links und hat ebenfalls den Eindruck, als würde ein Teil der Reibung von dort stammen. Aber die Tatsache, dass das Glas sich dreht, hat nichts daran verändert, dass die Vorderseite des Glases mehr Reibung erfährt als die Hinterseite. Das bedeutet, dass die von rechts kommende Kraft größer ist als die Kraft von links, und daher muss das Glas nach links driften. Es dreht sich rechts und wird nach links abgeleitet. Das ist die Geschichte des umgedrehten Wasserglases auf dem Küchentisch. Es ist nicht leicht, Gleichungen aufzustellen, die diese Bewegungen so beschreiben, wie sie tatsächlich in der realen Welt passieren. Zum Beispiel hat Ray Penner vom Malaspina University-College in Nanaimo, Britisch-Kolumbien (einer von drei Physikern, die Aufsätze über Curling veröffentlicht haben und die in Britisch-Kolumbien leben), etliche kurze Stücke eines Plastikrohrs über eine leicht mit Stärkemehl bestreute Bank geschossen (so hinterlässt die Bewegung des Rohrs eine sichtbare Spur), um eine Bestätigung dafür zu bekommen, dass das Rohr (das hier für das Trinkglas steht) sich in die von der Physik vorausgesagte Richtung und im entsprechenden Maß dreht. Und nicht nur das: Je schneller das Glas rotiert, desto mehr wird, grob gesprochen, seine Bahn abgelenkt. Penner und seine Kollegen schließen daraus, dass umgedrehte Gläser empfindlich sind. Curling hingegen ist noch viel mysteriöser. Ein anderer der Wissenschaftler aus Britisch-Kolumbien, Mark Shegelski, hat herausgefunden, dass die Demonstration mit dem auf
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den Kopf gestellten Trinkglas Curlingspieler vollkommen verblüfft: Sie halten es für Magie oder vermuten, dass das Glas irgendwie präpariert wurde. Natürlich ist das auch schon deswegen eine gute Demonstration, weil Curlingspieler scheinbar nie weit weg sind von einer langen, glatt polierten Oberfläche und einem beachtlichen Nachschub an Trinkgläsern ... Die Physik des Trinkglases mag ja geklärt sein, aber die des Curlingsteins ist davon noch weit entfernt. Natürlich ist es etwas anderes, ob ein Gegenstand auf einer Eisfläche dahingleitet, aber dieses »andere« zu identifizieren, hat sich als extrem verzwickt herausgestellt. Die ersten Versuche gehen bis ins Jahr 1924 zurück. E. L. Harrington von der University of Saskatchewan (Wer weiß? Vielleicht hätte er länger gelebt, wenn er nach Britisch-Kolumbien übersiedelt wäre?) publizierte in Proceedings and Transactions of the Royal Society of Canada einen Bericht, in dem er seine Versuche, dieses Spiel zu verstehen, beschrieb. Damit initiierte er auch die noble Praxis, ausgefeilte Rube-Goldberg-Apparate zu erfinden, um das Phänomen unter kontrollierten Bedingungen zu studieren. Man muss es ihm aber zugute halten, dass Harrington als Erster beobachtete, was echte Curlingsteine auf einer Schicht Curlingeis tun. In einem gewissen Sinn verwandelte er die Eisfläche in ein riesiges Blatt Millimeterpapier, denn er befestigte mittig über die gesamte Länge der Eisfläche (gut 30 Meter) ein Längenmaß, gerade so hoch, dass der Stein durchpasste. Außerdem ritzte er die gesamte Eisfläche in Abständen von 30 Zentimetern ein. Es war eine arbeitsintensive Studie, bei der ihn vier Personen unterstützten: Eine warf den Stein, folgte ihm und sagte jede vollendete halbe oder volle Drehung an; eine andere zeichnete den Zeitpunkt dieser Ankündigungen auf, und zwei weitere bestimmten die exakte Position des Steins zu jedem dieser Zeitpunkte. Aber Harrington ging noch weiter. Er entwickelte eine Laborversion des Spiels, um die Wirkung der Reibung im Detail zu untersuchen. Das Laborsetting war eine Art von Rollenumkehr: Das Eis bewegte sich, der Stein blieb unbewegt. Harrington baute einen von Eis überzogenen Drehtisch mit einem Durchmesser von ungefähr 75 Zentimetern, platzierte den Stein darauf und brachte Rollen an, um die Kräfte zu messen, denen der Stein ausgesetzt war, wenn ein Elektro-
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motor den Drehtisch in Rotation versetzte. Er ging sogar so weit, dass er das Eis genauso »pebbelte«, wie eine Curlingeisfläche gepebbelt wird. (Mehr zum Pebbling später.) Er kombinierte die Beobachtungen der auf echtem Curlingeis in Bewegung versetzten Steine mit den auf dem Drehtisch gemessenen Kräften und schloss daraus, dass »der Stein bei höheren Geschwindigkeiten weniger Haftung mit dem Eis hat« – das heißt, der Einfluss der Reibung auf den Stein ist gering, wenn er gerade erst abgeschossen wurde, nimmt jedoch zu, je langsamer der Stein wird. Mit dieser Idee versuchte er auch den Curl zu erklären. Er wies darauf hin, dass die beiden Seiten eines rotierenden Steins sich in Bezug auf das Eis mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen, so wie es beim auf den Kopf gestellten Trinkglas der Fall ist. Manchmal ist es schwer, sich das vorzustellen, weil sich natürlich der ganze Stein mit exakt derselben Geschwindigkeit vorwärts bewegt – die langsameren Teilchen bleiben ja nicht zurück. Aber stellen Sie sich vor, Sie schweben über einem sich im Uhrzeigersinn drehenden Stein und beobachten eine beliebige Stelle auf der rechten Kante des Steins: Diese Stelle bewegt sich zwar mit dem Rest des Steins mit, aber tatsächlich bewegt sie sich mit der Drehung rückwärts. Der Nettoeffekt ist nach wie vor die Vorwärtsbewegung, aber sie ist langsamer, als wenn sich der Stein nicht drehen würde. Und sobald diese Stelle an der anderen Seite des Steins angelangt ist, dreht sich die Situation um: Die Stelle bewegt sich mit dem Stein und zusätzlich mit der Drehung vorwärts. Daher kann man durchaus mit der Vorstellung arbeiten, dass die beiden Seiten des Steins sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen. Solange sich der Stein, verglichen mit der Rotation, schnell genug vorwärts bewegt, fallen diese Differenzen nicht weiter ins Gewicht. Wenn aber die gesamte Geschwindigkeit des Steins abnimmt, wächst die Diskrepanz zwischen der Geschwindigkeit, die aus der Vorwärtsbewegung resultiert, und der Geschwindigkeit, die sich aus der Rotation ergibt (die Drehung verlangsamt sich weniger). Das bedeutet für einen sich im Uhrzeigersinn drehenden Stein, dass die Geschwindigkeit der rechten Seite nun viel geringer ist als die der linken Seite. Wie Harrington bemerkte, wächst die Reibung mit abnehmender Geschwindigkeit. Das bedeutet, dass die rechte Seite des Steins beim
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Langsamerwerden mehr Reibung fühlt. Aber da die linke Seite nicht im gleichen Maß langsamer wird, muss der Stein beginnen, sich nach rechts zu drehen. Harrington wies auch darauf hin, dass manchmal, wenn die Vorwärtsgeschwindigkeit des Steins sich Null annähert, die Differenz zwischen den beiden Seiten des Steins so groß ist, dass eine Seite tatsächlich zum Stehen kommt, wodurch der Stein sich so plötzlich dreht, dass »sich am Ende der vom Stein beschriebenen Bahn eine Art Haken bildet«. Es ist beruhigend zu wissen, dass dieses Problem vor gut siebzig Jahren geklärt wurde. Oder wurde es vielleicht gar nicht geklärt? Ray Penner stimmt mit Harringtons Ergebnissen überein, schränkt diese Zustimmung aber gleich auch wieder ein: Seiner Meinung nach kann dieser Rechts-links-Reibungsmechanismus nur dann funktionieren, wenn eine ganz bestimmte Art von Reibung im Spiel ist, die so genannte Stick-Slip-Reibung, ein abwechselndes »Kleben« und »Rutschen«. Es ist genau dieselbe Reibung, die auch dann wirkt, wenn ein Geigenbogen über die Saiten geführt wird – der Ton klingt zwar sehr gleichmäßig, aber auf Mikroebene handelt es sich in Wirklichkeit um eine endlose Reihe von Stopps und Starts, von Kleben und Rutschen. Wenn diese Stick-Slip-Reibung an der Vorderseite des Curlingsteins wirkt, dann dreht er sich herum und bewegt sich in die erwartete Richtung. Penner argumentiert, dass das Curlen des Steins das Ergebnis einer Links-rechts-Asymmetrie jener Art ist, die Harrington vor fast 80 Jahren erkannt hat. Aber nicht jeder ist mit dieser Lösung einverstanden. In den späten achtziger Jahren meinte der oben erwähnte Mark Shegelski, beim Curling sei nicht eine Links-rechts-Diskrepanz, sondern eine Vornhinten-Diskrepanz im Spiel. Wäre die Vorderseite eines Steins weniger Reibung ausgesetzt als die Rückseite – genau das Gegenteil vom Trinkglas –, dann würde er in die dem Glas entgegengesetzte Richtung curlen. Er ging davon aus, dass das Gewicht des Steins genug Druck auf das Eis ausübt, um es für einen Moment zu schmelzen. Die Reibung zwischen der Unterseite des Steins und dem Wasser ist wesentlich geringer als zwischen Stein und Eis. Auf geschmolzenem Eis würde also der Stein leichter gleiten. Aber vergessen wir nicht, dass der einzige Teil des Steins, der überhaupt Kontakt mit dem Eis hat,
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dieser dünne Ring auf seiner Unterseite ist. Shegelski meinte, dass je nach Geschwindigkeit des Steins ein größerer oder kleinerer Teil dieses Rings auf dem Wasser gleiten würde und weniger Reibung ausgesetzt wäre. Die Verteilung von flüssigem Wasser rund um den Ring würde von der Geschwindigkeit des Steins und seiner Rotation abhängen: Bei niedriger Geschwindigkeit würde der Stein beim Rotieren Wasser von hinten nach vorn ziehen und damit ein Reibungsungleichgewicht erzeugen, das bestimmt, in welche Richtung sich der Stein bewegt. (Dass Shegelski Anerkennung als wahrer Curlingphysiker verdient, zeigt sich in der Tatsache, dass er zwar keine Rohre über Stärkemehl schoss und auch keinen gigantischen Drehtisch baute, sondern eine patentierte Apparatur, mit der er den Durchmesser des Randes eines Standardsteins verändern kann, um zu überprüfen, wie das das Ausmaß des Curlens beeinflusst.) Aber inzwischen ist sich Shegelski nicht mehr so sicher, ob sein ursprüngliches Modell auch wirklich funktioniert. Ray Penner kaufte es jedenfalls nicht – er baute die vordere Hälfte des Steins nach, um herauszufinden, ob sie leichter über das Eis gleitet als ein ganzer Stein ... was nicht der Fall ist, obwohl es so sein müsste, wenn die vordere Hälfte des Steins tatsächlich einer geringeren Reibung ausgesetzt wäre. Andere meinen, dass das Schmelzen des Eises nicht die Antwort sein kann. Mark Denny ist ebenfalls ein Physiker (der in Britisch-Kolumbien lebt – wo sonst?), der sich mit dem Curlingproblem auseinander gesetzt hat. Er führt ins Treffen, dass der Stein gar nicht jenen enormen Druck erzeugen kann, der notwendig ist, um Eis zu schmelzen. Und selbst wenn er es täte, würde die gepebbelte Textur der Eisoberfläche das Schmelzwasser irrelevant machen. Er argumentiert folgendermaßen: Eine Curlingeisfläche ist nicht vollkommen glatt. Sobald sie mit Wasser besprengt wird, bildet sich eine Schicht winziger Tropfen, die eine kieselartige, »gepebbelte« Oberfläche bildet, sodass der Stein auf einer endlosen Reihe von Erhebungen dahingleitet – ein weiteres sportliches Täuschungsmanöver. Ein Curlingstein vermittelt den Eindruck, als wäre er wie ein Stück Felsen fest auf dem Eis verankert, aber in Wirklichkeit ist das Eis ein Mosaik winziger Erhebungen, und der einzige Bereich des Steins, der tatsächlich diese Erhe-
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bungen berührt, ist ein wenige Millimeter breiter Streifen. Der massive Stein hat also fast keinen Kontakt zu der Eisfläche unter sich. Selbst wenn der Druck des Steins einige dieser »Eiskiesel« zum Schmelzen bringen könnte, würde nach Dennys Meinung das so freigesetzte Wasser einfach in die Täler dazwischen fließen, während der Stein selbst auf ungeschmolzenem Eis dahinglitt. Die anderen Curlingphysiker lassen sich von diesem Argument nicht abschrecken. Ihrer Meinung nach würde eine nur einige wenige Moleküle dicke Wasserschicht die Stein/Eis-Oberfläche schmieren. Außerdem würde dieses Wasser ohnehin nur ein paar Sekundenbruchteile existieren, also viel zu kurz, um irgendein Fließen zu ermöglichen. Denny ist bereit zu akzeptieren, dass der Stein das Eis erwärmen könnte, was nicht bedeutet, dass er es auch schmilzt, und dass bereits diese Erwärmung die Reibung zwischen den beiden herabsetzen könnte, aber die Debatte Erwärmen versus Schmelzen ist, wie auch andere Debatten in diesem Fall, ungelöst. Denny hat seine eigenen Vorstellungen davon, was da vor sich gehen könnte. Er vermutet, dass der Stein das Eis nicht schmilzt, sondern die hervorstehenden Erhebungen abträgt, die sich dann in Abfall verwandeln, der unter der Vorderkante des Steins stecken bleibt. Einige der größeren Stücke würden einfach beiseite gefegt (er spricht vom »Schneepflugmodell«), während kleinere Partikel praktisch sofort zerdrückt würden. Mittelgroße Stückchen jedoch würden unter der rotierenden Vorderkante gefangen und zur Seite transportiert werden. Je nach Größe dieser Teilchen und je nachdem, wie weit sie unter dem Stein herumtransportiert werden und ob sie als Eis überleben oder zu Wasser werden, könnten sich zwei widersprüchliche Reibungskräfte entwickeln: eine, die den Stein nach links treibt, und eine, die ihn nach rechts treibt. Denny ist sich sicher, dass Gleichungen auf den korrekten Effekt verweisen: Eisabfall bewegt einen gegen den Uhrzeigersinn rotierende Stein nach links. Obwohl niemand bis jetzt die Existenz dieser Eisspäne bezeugen konnte, gibt es für Denny indirekte Beweise dafür. Wer schon einmal mit dem Gesicht nahe bei einem Stein war, der sich auf dem Eis bewegt, hat das seltsame Geräusch gehört, das er erzeugt. Dieses Knarren kommt laut Denny dadurch zustande, dass das Eis durch die Be-
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wegung zermalmt wird. Außerdem spürt man, wenn man den dahingleitenden Stein leicht berührt, dass er vibriert. Denny betont auch, dass jeder Stein, der geschossen wird, Abfall rund um den Rand des dünnen Ringes ansammelt, der in Kontakt mit dem Eis kommt. Dieser Abfall könnte durch den Schneepflugeffekt entstehen. (Das ist eine interessante Theorie, aber so weit ich weiß, hat Denny keinen Apparat gebaut, um sie zu beweisen – was aber die Conditio sine qua non bei diesen Forschungen zu sein scheint.) Es herrscht kein Mangel an Theorien darüber, warum Curlingsteine sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Nur wenige dieser Theorien sind jedoch mit überzeugenden Gleichungen bestückt, die ihre Richtigkeit beweisen könnten. Die Anzahl von Artikeln über Curling, die in der jüngsten Vergangenheit im Canadian Journal of Physics veröffentlicht wurden (zehn in fünf Jahren) macht deutlich, wie knifflig das Problem ist. Und es gibt noch einige wichtige Punkte, die ich bis jetzt noch nicht erwähnt habe. Vielleicht haben Sie gedacht, dass die Drehung des Griffs den Bogen in der Bahn des Steins bewirkt und dieser Bogen umso größer ausfällt, je schneller diese Drehung ist. Falsch. Es besteht zwar eine gewisse Beziehung zwischen den beiden Faktoren, aber sie ist minimal und noch nicht gut beschrieben. Auch wenn alles, was über ein paar Drehungen hinausgeht, die Ablenkung nicht zu vergrößern und noch mehr Drehungen sie wieder zu reduzieren scheinen, ließ Mark Shegelski Curler einem Stein einen solchen Drall versetzen, dass er sich 80-mal auf seinem Weg übers Eis drehte. Solche Steine wiesen eine beachtliche Abweichung von 2 Metern auf, also das Doppelte der normalen. Ein weiteres Mysterium ist die Beziehung zwischen Vorwärtsbewegung und Drehung. Hört das eine vor dem anderen auf? Gibt es einen Stein, der sich nirgends hinbewegt, aber sich trotzdem noch dreht? Und wie schaut es mit dem umgekehrten Fall aus? Dann ist da noch das Wischen. Es sorgt dafür, dass der Stein länger gleitet, und reduziert den Curl, den der Stein beschreibt. Ich habe einmal folgende Theorie gehört: Die Strohbesen, mit denen man in den guten alten Zeiten vor dem Stein gewischt hat, erzeugen in Teilen ein Vakuum und saugen den Stein förmlich vorwärts. Ich glaube, alle Curlingphysiker sind sich darin einig, dass dem nicht so ist. Der Stein
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ist einfach zu massiv, das Vakuum – wenn denn da überhaupt eines ist – zu dünn. Aber abgesehen davon, wer weiß? Drückt der Besen die Eiskiesel nieder? Heizt er das Eis auf, womöglich sogar bis zum Schmelzpunkt, und erzeugt er dadurch eine dünne Schicht Wasser, über die der Stein gleiten kann? Mark Shegelski äußerte einmal die Idee, dass die für den Curl verantwortliche Reibungsdifferenz zwischen vorn und hinten reduziert würde, falls das Wischen tatsächlich einen Teil des Eises vorn beim Stein zum Schmelzen bringen könnte. Das wäre auch eine Erklärung dafür, warum das Wischen die Größe des Bogens verringert. Wir im 21. Jahrhundert sind uns also nach wie vor nicht sicher, warum Curlingsteine curlen. So viel wissen wir: Es hat etwas mit Reibung zu tun; Reibung transformiert Rotation in eine bogenförmige Bahn; Wischen ist hilfreich; Physiker, die das Curling erforschen, bauen coole Apparate; und offenbar müssen Sie die physikalischen Hintergründe nicht verstehen, um das Spiel spielen zu können.
Die Zeit vergeht schneller
Wenn Sie noch ein Teenager sind, dann ist dieses Kapitel für Sie eigentlich uninteressant, aber vielleicht sollten Sie es besser doch lesen, damit Sie wissen, was auf Sie zukommt. Es geht um eine Erfahrung, die wir alle machen, wenn wir älter werden: Im Laufe der Jahre vergeht die Zeit immer schneller. Sie müssen nicht wirklich alt sein, um das zu bemerken, aber der Effekt wird immer drastischer, je weiter die Jahre fortschreiten. Und irgendwann hören wir uns dann sagen: »Ich kann es kaum glauben ... es ist schon Mitte 2004 und ich habe mich gerade erst an 2003 gewöhnt ...« Fast jeder von uns hat schon Bekanntschaft gemacht mit diesem Phänomen; die Frage ist nur, warum? Eine simple Erklärung, die immer wieder herangezogen wird, besagt, dass unser Sinn für das Vergehen von Zeit direkt davon beeinflusst wird, wie viel Zeit wir in unserem Leben bereits durchlebt haben. Für meinen elfjährigen Sohn Max macht zum Beispiel ein Jahr ungefähr 9 Prozent seines gesamten Lebens aus, bei mir hingegen weniger als 2 Prozent. Wenn unser Gefühl für ein Lebensjahr davon abhängt, welchen Anteil unserer gesamten Erfahrung ein Jahr repräsentiert, dann scheint es für ihn langsamer zu vergehen als für mich, weil es für ihn relativ ereignisbeladener ist als für mich. Aber die Annahme, dass das erklärt, warum sich die Zeit im Lauf des Lebens beschleunigt, ist eben nur eine Annahme. Es müsste einige Daten geben, die sie stützen, und die gibt es tatsächlich. Die interessanteste einzelne Arbeit zu dieser Frage hat Robert Lemlich von der University of Cincinnati in der Mitte der siebziger Jahre publiziert (was für mich wie gestern erscheint). Seiner Meinung nach muss die Vorstellung, das gefühlte Vergehen eines Jahres stehe in Beziehung zur Anzahl von Jahren, die der Betreffende bereits gelebt hat,
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in einem wichtigen Punkt verändert werden: Da ohnehin alles subjektiv ist, sollte dieses gefühlte Jahr nicht mit chronologischen Jahren, sondern mit subjektiven Jahren in Beziehung gesetzt werden. Das heißt: Ihre Schätzung der Dauer eines Jahres, das gerade vergangen ist, sollte nicht mit der tatsächlichen Anzahl von gelebten Jahren verglichen werden, sondern mit Ihrem subjektiven Gefühl von der Dauer Ihres Lebens. Die Tatsache, dass jedes Jahr, das vergeht, kürzer wirkt, bedeutet, dass Lemlichs Vorschlag einige verwirrende Implikationen hätte. Als Ingenieur näherte er sich dieser Frage auf sehr pragmatische, mathematische Weise und stellte eine Reihe von Gleichungen auf. Gehen wir von folgender Annahme aus: Sie sind 40 Jahre alt und werden Ihr 80. Lebensjahr noch erleben. Lemlich rechnete aus, dass die Zeit jetzt ungefähr doppelt so schnell vergeht wie in Ihrer Jugend, was uns wahrscheinlich auch ganz nachvollziehbar erscheint. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, wie lange für uns die Sommerferien waren, und der Beginn eines neuen Schuljahrs schien ein völlig neues Kapitel in unserem Leben aufzuschlagen. Aber die Ausweitung dieser Berechnung wird uns dann nicht mehr so sehr gefallen. Die Zahlen sagen Ihnen, dass Sie die Hälfte des Lebens hinter sich haben, aber da die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, legen Lemlichs mathematische Spielereien den Schluss nahe, dass Sie irgendetwas ganz anderes fühlen. Er rechnet vor, dass Sie im Alter von 40 Jahren – subjektiv gesehen – bereits 71 Prozent Ihres Lebens gelebt haben. Und es wird noch schlimmer: Wenn Sie 60 sind und eigentlich noch 20 Jahre vor sich haben, werden diese 20 Jahre lediglich wie 13 Prozent Ihres Lebens wirken. Diese Zahlen sind schockierend genug (und vielleicht wollen Sie sie auch nicht zur Kenntnis nehmen, aber fragen Sie sicherheitshalber einmal Ihre Großeltern, wie sie sich fühlen), aber das Ganze wird noch bizarrer, wenn man weitere Rückschlüsse zieht und sich die Frage stellt, wann in unserem Leben wir das Gefühl haben, die Hälfte des Lebens gelebt zu haben. Der 40-Jährige, der Pate für diese Berechnungen stand, hätte demnach bereits mit 20 das Gefühl gehabt, die Hälfte seines Lebens hinter sich gebracht zu haben. Damit meine ich nicht, dass er sich mit 20 schon wie 40 fühlt, sondern dass er mit 20
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bereits die Hälfte seines gesamten subjektiven Lebens durchlebt zu haben glaubt. Diese Ziffern sind erstaunlich, und es fällt schwer, ihnen Glauben zu schenken, aber Lemlich überprüfte sie in einigen Experimenten. Er bat eine Gruppe von Studenten und Erwachsenen zu schätzen, wie viel schneller die Zeit in der Gegenwart zu vergehen schien als zu einer Zeit, da sie erst ein Viertel oder eine Hälfte ihres gegenwärtigen Alters alt waren. Seine Theorie nahm die Antworten fast ganz exakt vorweg: Die Zeit schien für die Versuchspersonen zweimal so schnell zu vergehen wie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ein Viertel ihres aktuellen Alters alt waren, beziehungsweise 1,4-mal schneller als zu dem Zeitpunkt, zu dem sie halb so alt waren. Lemlichs Theorie wurde in einer Reihe anderer Situationen überprüft, und auch wenn nicht jeder Versuch, sie zu wiederholen, seine mathematischen Thesen bestätigte, so stimmten sie doch in den meisten Fällen. Was seltsam ist: Jener Teil seiner These, der davon ausgeht, dass wir die Hälfte unseres Lebens bereits erfahren haben, wenn wir noch sehr jung sind, fand bereits vor 200 Jahren eine Bestätigung. Sidney Ross vom Rensselaer Polytechnic Institute stieß auf folgende Passage, die der englische Hofdichter Robert Southey 1837 verfasste: »Egal, wie lange du lebst, die ersten 20 Jahre deines Lebens sind der längste Teil deines Lebens. Sie erscheinen so lang, während sie vergehen; sie scheinen so gewesen zu sein, wenn wir auf sie zurückblicken; und sie nehmen mehr Raum in unserer Erinnerung ein als all die Jahre, die ihnen folgen.« Southey bezieht sich dann auf den amerikanischen Lehrer Jacob Abbott, der das Alter auf »zwischen 15 und 20« eingrenzte. Ross unterstreicht, dass nach Lemlichs Gleichung – bei einer angenommen Gesamtlebensdauer von 70 Jahren – das Alter von 17,5 Jahren jener Zeitpunkt ist, den wir als die Hälfte unserer subjektiven Lebenszeit ansehen, ein Alter, das exakt mit Abbotts und Southeys Schätzungen übereinstimmt. Aber warum sollten wir den Eindruck haben, die Zeit würde im Lauf des Lebens immer schneller vergehen? Es kann ja nicht einfach nur damit zu tun haben, dass jedes Jahr einen kleineren Prozentsatz des Ganzen darstellt. Es könnte sein, dass unsere biologische Uhr mit zunehmendem Alter immer langsamer tickt. In diesem Fall würden
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die äußeren Ereignisse scheinbar immer schneller vergehen. Ganz grob gesprochen würde in fortgeschrittenem Alter dann etwas, was früher eine Stunde gedauert hat, nur eine halbe Stunde dauern, weil eben die biologische Uhr langsamer läuft. Wir haben tatsächlich eine biologische Uhr in unserem Gehirn, und es gibt so manchen Hinweis darauf, dass sie verlangsamt werden kann. In Wirklichkeit haben wir sogar mehrere Uhren, von denen die meisten wahrscheinlich nichts mit der scheinbaren Beschleunigung der Zeit zu tun haben. Dazu zählen unter anderen die Uhr, die die meist 29 Tage zwischen den Menstruationsblutungen zählt, und die zirkadiane Uhr in den verschiedenen Organen, die 24-Stunden-Perioden misst. Beide sind relativ ungenau, und beide können neu gestartet werden (die zirkadiane Uhr durch den Tag-Nacht-Zyklus, die Menstruationsuhr durch viele Faktoren, auch durch den Zyklus anderer Frauen.) Aber da diese Uhren die Zeit unabhängig von dem messen, was wir tun oder denken – teils weil wir uns ihrer Geschwindigkeit gar nicht bewusst sind, teils weil sie sich ohnehin nicht nennenswert zu verlangsamen scheinen –, können wir sie getrost außer Acht lassen. Sie sind lediglich Zeitmesser, die dem Körper helfen, effizient zu arbeiten. Am anderen Ende des Zeitspektrums steht die Uhr, mit deren Hilfe wir das Vergehen kleiner Zeitabschnitte, die nur einige Sekunden ausmachen, schätzen können. Auch wenn nicht genau bekannt ist, wie das funktioniert, haben viele Experimente gezeigt, dass es komplizierter ist, als es uns die Uhrenanalogie glauben macht. Wenn es sich lediglich um eine Uhr handelt, die in unserem Gehirn tickt, wer oder was beobachtet und zählt dann die Sekunden? Da muss noch etwas anderes dahinter stecken. Stellen Sie sich vor, man bittet Sie, einem Ton zu lauschen, auf dessen Ende eine Pause folgt, nach der der Ton ein weiteres Mal gespielt wird. Dieses zweite Mal müssen Sie in dem Moment »stopp« rufen, in dem Sie den Eindruck haben, der Ton hätte genauso lang gedauert wie das erste Mal. Das ist im Grunde eine einfache Aufgabe, aber Ihr Gehirn muss trotzdem über eine gewisse Grundausstattung verfügen, um sie richtig erfüllen zu können. Eines der Dinge, die Sie dazu brauchen, ist ein Zeitmesser, eine Art biologischer Uhr; außerdem brau-
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chen Sie etwas, was diese Uhr benutzen kann, um die Länge des Tons zu beurteilen; und als Drittes brauchen Sie etwas, das diese Länge reproduzieren kann, während der zweite Ton gespielt wird – nur so können Sie wissen, wann sie »stopp« sagen müssen. Jede Uhr im Gehirn, dank der Sie das Vergehen von Zeit schätzen können, muss diese drei Komponenten aufweisen. Experimente wie das gerade beschriebene erbringen zum Teil sehr seltsame Ergebnisse. Wir überschätzen meist die Dauer sehr kurzer Zeitspannen und unterschätzen alles, was länger dauert, und liegen nur innerhalb eines sehr engen Spektrums dazwischen relativ richtig. In manchen Fällen liegt der Bereich, in dem wir richtig schätzen, um die 6 Zehntelsekunden, in anderen Fällen beträgt er um die 3 Sekunden, je nachdem wie das Experiment angelegt ist. Diese Ergebnismuster sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute konsistent. Vor mehr als einem Jahrhundert herrschte bereits die Meinung, die beiden unterschiedlichen Fehlerarten müssten auf die Existenz von zwei verschiedenen Zeitmessern hindeuten, und heute hat sich diese Ahnung als richtig erwiesen. Es gibt solide Beweise dafür, dass in unserem Gehirn mehr als eine Uhr tickt oder dass zumindest nicht nur eine Gehirnregion zur Zeitschätzung herangezogen wird. Wissenschaftler sind sich nicht ganz einig, um welche Gehirnregionen es sich dabei handelt oder welche Rolle sie genau spielen, aber im Wesentlichen arbeiten die Zeitmesser des Gehirns folgendermaßen: Winzige Zeitintervalle – Sekundenbruchteile – werden von tief im Gehirn liegenden Zentren erfasst. Diese Zeitmesser operieren auf einem Niveau, das unter unserer Wahrnehmungsschwelle liegt, sie sind also nicht Teil dessen, was wir das »denkende« Gehirn nennen. Eines dieser Zentren wird in den frühen Stadien der Parkinsonkrankheit geschädigt, was dazu führt, dass Parkinsonkranke solch kurze Zeitspannen nur ungenau schätzen können. Das Neurotransmittermolekül Dopamin (jene chemische Substanz, die es den Neuronen dieser Gehirnregion erlaubt, miteinander zu »sprechen«) spielt eine entscheidende Rolle beim Zeitmessen: Bei der Parkinsonkrankheit ist zu wenig Dopamin vorhanden, und auch verschiedene Drogen können den Dopaminspiegel entweder sinken oder ansteigen lassen. Marihuana senkt den Dopaminspiegel und verlangsamt die Uhr, sodass die Zeit be-
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schleunigt wird. (Wenn Sie glauben, dass eine Verlangsamung der inneren Uhr logischerweise dazu führen müsste, dass die Zeit langsamer vergeht, dann stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn Ihre verlangsamte Uhr nun eine Sekunde für eine halbe Sekunde hält, dann scheint in dieser Zeitspanne zweimal so viel wie gewöhnlich zu passieren und daher scheint es, als würde sich die Zeit beschleunigen – was wie eine Minute wirkt, sind in Wirklichkeit zwei Minuten.) Im Gegensatz dazu hebt Kokain den Dopaminspiegel und beschleunigt die Uhr. Falls Sie jetzt fragen, wozu eine Uhr gut sein soll, die Zeitintervalle von weniger als einer Sekunde beurteilen kann, dann fragen Sie jetzt besser nicht weiter. Ohne eine solche Uhr wären Sie nicht in der Lage, Jeopardy zu spielen: Dabei müssen Sie Ihren Finger schnell und sehr präzise zum Signalknopf führen, und dazu bedarf es eines extrem genauen Timings und exakter Koordination innerhalb kurzer Zeitspannen – genau das, was dieser Zeitmesser kann. Wenn Sie etwas schätzen wollen, was länger als ungefähr 1 Sekunde dauert, dann holen Sie andere Gehirnregionen zu Hilfe, nämlich Regionen, die weniger mit Zeitmessung, sondern mehr mit Aufmerksamkeit und Erinnern zu tun haben. In solchen Situationen ist auch die Cortex, die kunstvoll gefaltete Oberfläche des Gehirns, gefordert. Wie man inzwischen weiß, sind der rechte Scheitellappen – also jener Teil des Gehirns, der direkt unter und hinter Ihrem rechten Ohr liegt – und der rechte Stirnlappen maßgeblich an der Beurteilung von wenige Sekunden dauernden Zeitspannen beteiligt. Der Scheitellappen spielt bei der Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle: In diesem Fall ist Aufmerksamkeit wichtig, um die Anzahl der Ticktacks der Uhr zu registrieren, die vergehen, während zum Beispiel ein Ton gespielt wird. Der Stirnlappen ist für das zuständig, was die Neurowissenschaftler als »Arbeitsgedächtnis« bezeichnen (umgangssprachlich besser bekannt als »Kurzzeitgedächtnis«), das in einem Experiment wie dem oben erwähnten darüber bestimmt, ob wir die Länge eines vorangegangenen Tons mit dem, der gerade gespielt wird, vergleichen können. Patienten, bei denen die rechte Unterseite ihres Stirnlappens geschädigt ist, unterschätzen das Vergehen einiger Sekunden ganz massiv, während bei einer Schädigung des linken Stirnlappens solche Fehlleistungen nicht feststellbar sind.
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Aber trotzdem ist die Geschichte alles andere als klar. Die rechte Seite des Gehirns mag zwar für das Zeiterfassen ausschlaggebend sein, aber ein ergreifender medizinischer Fall zeigt, wie wichtig dafür auch die linke Hemisphäre ist. Der Patient, ein 66 Jahre alter Mann, wurde mit einem Tumor auf der linken Seite seines Stirnlappens in ein Düsseldorfer Krankenhaus eingeliefert. Er beklagte sich darüber, dass alles mit einer, wie er sagte, »beschleunigten« Bewegung erfolgte. Er musste sein Auto an der Straßenseite anhalten, weil der Verkehr mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihm vorbeizurauschen schien; er hatte den Eindruck, einen Zeitrafferfilm zu sehen. Die ohnehin schon halsbrecherische Geschwindigkeit des Fernsehens wurde derart verstärkt, dass Fernsehen für ihn unerträglich wurde. Er hatte das Gefühl, das Leben würde zu schnell vergehen und er könne nicht mehr Schritt halten. Er gab deswegen alle seine früheren Aktivitäten und Hobbys auf und schränkte sein soziales Leben radikal ein. Als er gebeten wurde, 60 Sekunden zu schätzen, lagen seine Schätzungen im Durchschnitt bei 286 Sekunden, also bei mehr als viereinhalb Minuten. Diese viereinhalb Minuten schienen für ihn eine Minute zu sein – kein Wunder, dass die Welt chaotisch wirkte. Stellen Sie sich vor, der Verkehr, der sonst in vier Minuten an Ihnen vorbeizieht, tut dies plötzlich in nur einer Minute. Aber in anderen Bereichen war er nicht wesentlich beeinträchtigt: Er wusste das Datum, und bei der Schätzung der Tageszeit lag er nur ungefähr 1 Stunde daneben. Aber diese so drastisch falsche Einschätzung 1 Minute – stellen Sie sich eine Videokassette vor, die Sie im Schnelllauf vorspulen – legt den Schluss nahe, dass seine innere Uhr durch den Tumor in Mitleidenschaft gezogen worden war und jetzt dramatisch langsamer tickte. Dieser unglückliche Patient litt an einer extremen Version dessen, was bei uns allen zu passieren scheint, wenn wir älter werden. Es kann sein, dass unser Zeitmesser in zwei Punkten versagt. Wie wir bereits gesehen haben, braucht eine Uhr ja nicht nur einen Zeitmesser, sondern auch noch etwas anderes, denn sonst wüsste sie nicht, wann sie mit dem Zählen der Ticktacks des Zeitmessers beginnen muss und wann sie stoppen soll – und dazu gehört Aufmerksamkeit. Wenn Sie dem Fluss der Information keine Aufmerksamkeit schenken können, dann werden Sie einige Ticktacks der Uhr versäumen, und Ihr Zeitge-
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fühl wird sich dadurch verlangsamen. Darüber hinaus kann es sein, dass der Zeitmesser selbst wie viele andere Prozesse im Körper im Laufe des Alters langsamer wird. Fergus Craik und Janine Hay vom Rotman Research Institute in Toronto haben ein Experiment erarbeitet, das illustrieren soll, was im Alter mit unserem Zeitsinn passiert. Das Experiment bestand aus zwei Teilen: Während des ersten Teils mussten die Testpersonen auf einem Computerbildschirm eine Reihe von leuchtenden Stellen betrachten, im zweiten Teil mussten sie dann die verstrichene Zeit schätzen. Die Stellen auf dem Bildschirm hatten verschiedene Eigenschaften, die variiert werden konnten, wie Form, Farbe, Größe und Position auf dem Bildschirm. Es war ein komplexes Bild, weil bei jeder einzelnen Stelle Form, Farbe, Größe sowie horizontale und vertikale Position auf dem Bildschirm sieben unterschiedliche Zustände aufweisen konnten. Die Teilnehmer mussten innerhalb von 10 Sekunden eines oder mehrere dieser Merkmale bestimmen. Wenn sie nur ein Merkmal bestimmen mussten, zum Beispiel die Form, dann war die Aufgabe leicht; wenn es aber um vier oder fünf ging, dann war es schon wesentlich schwieriger. Sie mussten außerdem das Vergehen von Zeit auf zwei verschiedene Weisen beurteilen: Einmal stellte der Computer die Frage: »Wie lang haben Sie an dieser Aufgabe gearbeitet?« Bei der zweiten Version mussten die Teilnehmer selbst beurteilen, wann eine Zeitspanne, zum Beispiel 1 Minute, vergangen war. Es gab zwei Gruppen von Teilnehmern: In der einen Gruppe waren die Testpersonen zwischen 18 und 32 Jahren alt, in der anderen zwischen 63 und 83. Das Experiment war aufgrund seiner Anordnung sehr aufschlussreich: Wenn bei älteren Menschen die innere Uhr tatsächlich langsamer ginge, dann müsste sich das in ihren Schätzungen niederschlagen; wenn geringere Aufmerksamkeit das Problem wäre, dann würde sich das in den Zeitbeurteilungen während der schwierigsten Teile des Bildschirmtests zeigen. Und die Ergebnisse? Zeit scheint für ältere Menschen tatsächlich langsamer zu vergehen. Sie unterschätzten die Zeit, die vergangen war, als sie die Frage »Wie lange haben Sie an dieser Aufgabe gearbeitet?« beantworten mussten, wobei ihre Schätzungen im Durchschnitt
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30 Sekunden betrugen, wenn in Wirklichkeit 60 Sekunden vergangen waren. Sie machten auch Fehler, als sie bei einer Aufgabe nach einer bestimmten Zeit aufhören sollten: Sie hörten nach 120 Sekunden auf, glaubten aber, dass erst 1 Minute vergangen war. In beiden Fällen scheinen ihre Zeitmesser halb so schnell zu gehen wie die der jüngeren Testpersonen. Handelte es sich um mangelnde Aufmerksamkeit oder um eine physikalische Verlangsamung einer Uhr? Craik und Hay schließen aus ihren Experimenten, dass die Schwierigkeit der Aufgaben am Computerbildschirm keine signifikante Auswirkung auf die Zeitschätzung bei den älteren Personen hatte. Wenn man also von diesem Experiment ausgeht, dann scheint es, als würde die Fähigkeit von Erwachsenen, ihrer inneren Uhr zu folgen, nicht leiden, wenn ihr Gehirn gleichzeitig mit einer Aufgabe beschäftigt ist. Die Uhr war einfach langsamer, Punkt, aus. Jetzt geht es nur mehr darum, diese beiden Fäden miteinander zu verknüpfen. Die Jahre vergehen immer schneller; unsere Uhren gehen immer langsamer. Erklärt Letzteres Ersteres vollkommen? Ich wäre versucht, ja zu sagen, aber ich fürchte, die Frage ist noch ein bisschen zu kompliziert dafür. Keiner der beiden Prozesse ist beständig und unaufhaltsam; beide können durch Ereignisse im Leben, durch chemische Veränderungen oder beides verändert werden: Lebensereignisse rufen chemische Veränderungen hervor. Alles, was ich weiß, ist, dass ich die mir noch bleibenden 19 Prozent meines subjektiven Lebens genießen will – Uhr hin oder her.
Dank
Recherchen für ein Buch wie dieses sollte am besten jemand machen, der sehr sorgfältig arbeitet, sich nicht leicht ablenken lässt und ein Borderlineneurotiker ist – und vor allem muss er sich in Bibliotheken wohl fühlen. Glücklicherweise habe ich bei meinen Büchern immer solche Leute gefunden, und auch dieses Mal war es so. Tiffany Boyd hat den größten Teil der Recherche erledigt und es immer geschafft, genau die richtigen Quellen zu finden, die sie manchmal mit ihren eigenen lustigen, aber oft auch sehr bissigen Kommentaren versah. Ich weiß aus der Erfahrung mit der Recherche für einige Kapitel, dass dieser Job kein leichter ist. »Ich würde gern etwas darüber schreiben, dass die Zeit immer schneller vergeht, je älter man wird.« Das war meine Vorgabe, und sie musste die Fakten liefern. Ich habe sicher einige Personen vergessen, die ganz spezielle Beiträge zu diesem Buch geliefert haben, und das tut mir leid. Das könnten Personen sein wie Penny Park, Adriane Lam und andere im Büro von Daily Planet beim Discovery Channel, die von meiner Leidenschaft wissen und immer wieder einmal einschlägige Artikel auf meinem Schreibtisch vergessen. Es ist ein Luxus, in einem Büro zu arbeiten (vor allem beim Fernsehen!), wo alle über Wissenschaft reden! Susan Folkins von der Penguin Group (Kanada) half, dieses Manuskript in etwas Unterhaltsames zu verwandeln, Shaun Oakey machte es lesbar, und Michael Schellenberg war so geduldig, monatelang auf dessen Fertigstellung zu warten. Meine Tochter Amelia, ihre Freundin Lizzie Barrass und Lizzies Eltern sind verantwortlich für die entscheidenden Experimente mit den taumelnden fliegenden Bagels. Dan Williman übernahm die heikle Aufgabe, Lazzaro Spallanzanis Abhandlung über die hüpfenden Steine aus dem Vulgärlateinischen
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ins Englische zu übertragen – auf Spallanzanis Gedanken beruht das gesamte Kapitel. Ich bin immer wieder angenehm davon überrascht, wie viel Zeit sich Wissenschaftler dafür nehmen, die Art von Fragen zu beantworten, die ich stelle. Zu jenen, die sich die Zeit nahmen, mir ihre Forschungen zu erklären, zählen Allison Sekuler, Richard Block, Fergus Craik, Oliver O’Reily, Sidney Nagel (ein Wissenschaftler, der über die wunderbare Fähigkeit verfügt, Papier zerknüllen und Honig tropfen lassen zu können), Eric Schwitzgebel, Michele Holbrook, Michael McBeath, Bruce Lyon, Karen Wynn, Ray Penner, Mark Shegelski und Mark Denny (der »Curlingclub«), Russell Bernard und Peter Killworth, Kielan Yarrow, David Greene, Richard Wiseman und Marilyn Schlitz. Ich danke ihnen allen.
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Abbott, Jacob, 205 Acetylcholin, 145 Aerodynamik, 26, 165–171 ideale, 169 Affen, 44, 59 Ailanthus, 172 Alfred Nickles Bäkerei, 23 Alter, 203–211 chronologisches vs. subjektives, 204 Alverez, Gonzalo, 43 American Journal of Physics, 26, 174 Anthocyanine, 160–164 und Insekten, 160–162 Archetti, Marco, 161 Atropin, 145 Attraktivität bei Menschen, 144–148 und Kunstwerke, 145–146 Aufwachen, s. Schlaf Augen, s. Blickkontakt, Pupillen, 141, 155, 173–182 Bewegung der, 37–38 der Stechmücken, 64 der Tiere, 140–142 Sklera der, 139–141 und Gehirn, 47, 49–50, 137–141 und Sakkade(n), 36–41 Authismus, 143
Baby-Halten, 42–52 Experimente beim, 45–46, 48–50 Links-, Rechts-Händigkeit beim, 44–46, 52 Babys Additions-/Subtraktionsfähigkeiten von, 57–62 und Blickkontakt, 136–137, 142 und Herzschläge, 44–46, 50 und Zählfähigkeit, 57–62 Bacon, Michael, 25–26 Bäume, s. Ailanthus, Blätter und Fotosynthese, 159, 163–164 und Insekten, 161–162 Baron-Cohen, Simon, 137–138, 141– 143 Barrass, Lizzie, 26 Befruchtung, 184 Beidhändigkeit, 42 Belladonna, 145 Bernard, Russell, 131–132 Beschleunigung, 177–178, 180, 204– 212 Bewegung, 201, 209 Gleichung für, 110–112, 195, 200–201 von Curlingsteinen, 196–202 Big Bang, 110 Bilder, 83–84, 92, 99–107
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Biologische Uhr, 39–40, 82–89, 91– 92, 205–208 Blässhühner, 53–62 Blässhuhn, amerikanisches, 53–55 Blätter und Anthocyanin, 160–162, 164 und Chlorophyll, 159–164 und Karotinoide, 160 und Sonnenlicht, 159–160, 162– 164 Verfärbung der, 158–164 Blickkontakt, 136–137, 139–144, 146–147 Blinde, 74–79 Block, Richard, 96–98 »Bloodshot-Illusion«, 141 Bocquet, Lyderic, 191–192 Botticelli, Sandro, 43 Braud, William, 151–153, 155–156 British Journal of Psychology, 151 Brown, Anthnoy, 63 Brunkhart, John, 15 Bryson, Heather, 51 Bulletin of the Psychonomic Society, 95 Canadian Journal of Physics, 201 Captain America, 123–125 Chapman, Seville, 174–178 Chappell, Russ, 124 »chimäre« Gesichter, 47 Chlorophyll, 159–164 »Chronostasis«, 40 Cohen, John, 95 Comics, 124–125 Coover, J. E., 150–151 Cotzin, Milton, 76 Craik, Fergus, 210–211 Crane, Richard, 190
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Curling, 193–202 Dallenbach, Karl, 76–78 De Lapidibus Ab Aqua Resilientibus, 185 Dehaene, Stanislas, 55, 61 Delphine und Echolokation, 74, 79 Denny, Mark, 199–201 Distanz, 95–96 Dopamin, 207–208 Doppler-Effekt, 78 Echolokation (auch Echo), 74–81 »Ripple-Noise-Pitch«, 80 Schallfrequenzen, 77–79 Eier und Vögel, 53–55 von Stechmücken, 68 Elektroschock, 118 Emotionen und Blickkontakt, 136–137 und Gehirnhälften, 47–52 und Geräusche, 46–48, 50 und Gesichtsausdruck, 47–48, Epilepsie, 47 Erde und »Präzession«, 109 Erinnerung und Bekanntschaften, 127, 130– 131 und Zeitgefühl, 91–98, 204–208 Euler, Leonard, 111 Euler-Scheibe, 111–115 European Journal of Physics, 23, 25, Fallschirm, 169 Fangen der Outfielder, 173–182 des Schützenfisches, 181–182
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Die Geschwindigkeit des Honigs
eines Balls, 173–182 Finger, Stanley, 43 Fisch, 180–182 Fledermaus, 74, 184 Flüssigkeiten, s. Honig; Öl; Wasser Oberflächenspannung von, 19, 29, 32–33 Tropfenränder von, 32–33 Verdunstungsprozess von, 30–31, 33 Viskosität von, 17–20, 33 Flug flacher Steine, 185–192 von Bällen, s. Fangen von Samen, 165–172 Fotosynthese, 159, 163–164 Fra Angelico, 43 Freeman, Linton, 129 Frisbee, 169 Galilei, Galileo, 167 Gehirn Cortex des, 208–209 des Schützenfisches, 181–182 Hemisphären des, 46–52, 102– 103, 105–107, 209 motorische Bereiche des, 104–105 Scheitellappen des, 102–103 und Aufmerksamkeit, 94–96, 208–209 und Dopamin, 207–208 und Fähigkeit zur Mentalrotation, s. Mentalrotation und Fangen, 176–182 und fassbare Objekte, 105–106 und Kurzzeitgedächtnis, 208 und reale vs. vorgestellte Bewegung, 105 und Sakkade(n), 36–41 und Verstehen, was andere denken, 137–138, 142–143
und Zeitverzögerungen, 36–38 weibliches vs. männliches, 106 Zahlenzentrum im, 60–62 Geldautomat, 99–107 Geräusch, 14–15, 108, 110, 114 des Herzschlags, 44–46, 50 und Hochfrequenz, 78 und »Kaskadenstruktur«, 20–21 und Babys, 45–46, 48, 50, 58 und Doppler–Effekt, 78 und Echolokalisation, 74–81 und Gehirnhemisphären, 46–48, 50 und Zeit einschätzen, 93–94 Geschwindigkeit des Honigs, 17–21 und Doppler-Effekt, 78 von Curlingsteinen, 196–198 »Gesichtssehen«, 75–76, 80 Geteilter-Aufmerksamkeits-Mechanismus (Shared-Attention-Mechanism, SAM), 137–138 Giotto di Bondone, Agnolo, 43 Glanville, A. D., 86–87 Glas, 114, 194–196 Gleichungen für Bewegung, 110–113, 195, 200 für wobbelnde Münzen, 110–114 und Alter, Zeitdauer, 204–205 Greene, David, 168 Grusser, Otto-Joachim, 43 Hall, Winslow, 82–84 Hamilton, William, 161 Harrington, E. L., 197–196 Hay, Janine, 210–211 Herzschlag, 44–46, 50 Hess, Ekhard, 144–145 Hoagland, Hudson, 92 Hören, s. Geräusch
Register
Honig, 17–21 Hormone, 88 Horrorfilme, 141 Hubschrauber, 169, 172 hüpfende Steine, 183–192 Hunger und erweiterte Pupillen, 144–145 Illusionen »Bloodshot«-, 141 Dauer von, 36 der Berührung, 40–41 »Mikrowellen-«, 35–38 Mond-, 34 Telefon-, 38–39, 41 Touristen-, 90–98 und Töne, 38–39 und Zeit, 35–41 visuelle, 34–38 Information, 92–97 Ingram, Amelia, 26 Insekten und Anthocyanin, 160–162 und Bäume, 161–162 und Schützenfisch, 180–182 Institute for Transpersonal Psychology, 151–152 Institut für kognitive Neurowissenschaften, 146 Intentionalitätsdetektor, 137 James, William, 82, 94 James Franck Institute, 12–16, 30–31 Journal of Mental Disease, The, 82 Journal of Parapsychology, The, 151 Journal of Personality and Social Psychology, 135 Journal of the American Medical Association, 71 Journal of the Society for Psychical Research, 151
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Käse und Stechmücken, 70 Kaffee Oberfläche des, 28–29 Ring durch Verschütten, 30–33 Kaiser, Mary, 178 Kante (auch Ränder) der Euler-Scheibe, 111–112, 114 von Gläsern, 114, 195 von hüpfenden Steinen, 185–192 von Münzen, 109, 111–112, 114 von Tropfen, 32–33 Karotinoide, 160 »Kaskadenstruktur«, s. Geräusche Keats, John, 158 Kellogg, Winthrop, 79 Kessler, Patrick, 114 Killworth, Peter, 131–132 Kleinfeld, Judith, 118, 120 Knüllforschung, 11–16 Körperuhr, s. Biologische Uhr Komplexitätstheorie, 116, 118–122, 124, 126 Kohlendioxid und Stechmücken, 66–70 Kokain, 208 Konvektion, 28–30 und »Paranusseffekt«, 29–30 Koths, Kirston, 188–189 Kramer, Eric, 14 Krankheit Parkinson’sche, 207 Übertragung von, 127, 132–133 Kreisel, s. Münzen Kunst, 42–46, 144–148 Lee, Stan, 123, 125 Lemlich, Robert, 203–205 lineare optische Flugbahn (»LinearOptical-Trajectory«, LOT), 177– 179, 182
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Die Geschwindigkeit des Honigs
Lobkovsky, Alexander, 14 Lyon, Bruce, 53–54 MacLeod, R. B., 87 Manning, John, 48–50 Marihuana und Zeitgefühl, 207–208 »Marvel Chronology Project«, 124 »Marvel-Universum«, 123–125 Mathematik, s. Zählfähigkeit und Babys, 57–61 und menschliche Attraktivität, 145–146 und Netzwerke, 121–125 und Tiere, 53–56, 59, 61 und Zahlensysteme, 61–62 Unendlichkeit in der, 110–111 Matthews, Robert, 23–27 Max-Planck-Institut, 104 Mays, Willie, 180 McBeath, Michael, 177–178 Menschen Atem der, 67 Beidhändigkeit bei, 42 Bilder von Gesichtern der, 145 Gesichtsausdruck der, 47–49 Größe der, 27 Herzschlag der, 44–46, 50 Seit-Halte-Studien, 44–46, 48–52 und Kohlendioxid, 67 und Milchsäure, 66–70, 72–73 und »Ripple-Noise-Pitch«, 80 Symmetrie der, 42 Verbindungen unter, 116–133 Wortschatz der, 127–128 menschliche Verbundenheit, 116–133 Mentalrotation, 101–107 reale Bewegung vs., 105–106 und Schlaganfall, 103 und Tiere, 101
Metzler, Jacqueline, 100 Michael Cain and Company, 23 Milchsäure und Stechmücken, 66–73 Milgram, Stanley, 116–121, 124 Moffatt, Keith, 110–115 Münzen, 108–115 Mylar, Zerknüllen von, 12–14 Nagel, Sidney und Experimente, 12, 19, 30–31 Nature, 88, 110 Netzwerke Bekanntschafts-, 126–133 geordnete vs. zufällige, 121, 125 und Clusterbildung, 125 und Comics, 123–125 und Mathematik, 121–125 und Zusammenarbeit, 122–125 zwischen Menschen, 116–125 Newton, Isaac, 33, 158, 185 Nordstern, 109 Null, 62 Number Sense, The, 55 Öl, fließendes, 18–19 Optik, 34 optische Annulierung der Beschleunigung (»Optical-Acceliration-Cancellation«, OAC), 177–179, 182 O’Reilly, Oliver, 114 Ornstein, Robert, 92–94 »Outfielderproblem«, 173–181 Papier Zusammenknüllen von, 11–13, 15–16 -würfel, 16 »Paranusseffekt«, 29–30 Parkinsonkrankheit, 207 Pasteur, Louis, 184
Register
Penner, Ray, 195, 198–199 Physics Teacher, The, 190 Physik, 11, 194–196 und »Singularitäten«, 110–111, 113 Plastik, 13–15 Polarstern, 109 Pool, Ithiel de Sola, 128–130 »Präzession«, 109, 191 Preprint, 123 Press, William, 27 Proceedings and Transactions of the Royal Society of Canada, 196 Psifähigkeiten, 156–157 Psychology Today, 116, 119 Pupillen geweitete, 144–145, 146 und Blickrichtungsdetektor (EyeDirection-Detector, EDD), 137– 138, 140–141 und das Weiße des Auges, 139– 141 und Gesichtsportraits, 139 und Geteilter-AufmerksamkeitsMechanismus (Shared-AttentionMechanism, SAM), 137–138 Pythagoras, 155 Raum und Wahrnehmung, 102–103 Reibung, 194–202 Stick-Slip-, 198 und sich drehende Münzen, 111– 115 »Ripple-Noise-Pitch«, 80 Ross, Sidney, 205 Rotation, 22–27, 100–107 Rotman Research Institute, 210 Sakkade(n), 36–41 Salk, Lee, 44–46
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Samaras, 168–172 Samen Ailanthus, 172 fallende, 167, 171–172 Flügel-, Forschung an, 167–168 Flug von, 165–172 Nadelbaum-, 166 und Befruchtung, 184 Scannen, auditorisches, 79 Scheiben, s. Münzen Schiefer Turm von Pisa, 167, 189 Schlaf, 82-89 Schlitz, Marilyn, 156–157 Schützenfisch, 180–182 Schuster, Stephan, 181–182 Schwarze Löcher, 110 Schwerkraft, 18, 110, 168 Schwitzgebel, Eric, 80 Science, 20, 149, 178 Scientific American, 187–188 »Sechs Grade der Trennung«, s. Komplexitätstheorie Shafer, Donna, 153 Shaffer, Dennis, 178 Shegelski, Mark, 195, 198–199, 201– 202 Sheldrake, Rupert, 154–156 Shepard, Roger, 100–101 Shrek, 158 Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten, 154–155 Sieratzki, Jechil, 50 Siggins, Howard, 166–167 Singularitäten, 110–111, 113 Six Degrees of Kevin Bacon, The, 116 Southey, Robert, 205 Spallanzani, Lazzaro, 183–187, 189– 192 Spider-Man, 123–124 Starkey, Prentice, 57–58
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Die Geschwindigkeit des Honigs
Starren, 134–143 Stechmücken, 63–73 und Abwehrmittel, 63, 70–73 Steine, s. hüpfende Steine Strogatz, Steven, 121–122 Superhelden, 123–124 Symmetrie, s. Menschen Tee, 28 Teflon, 31, 33 telepathischer Blick, 149–158 Theorie-des-Geistes-Mechanismus, 137–138 Thiel Collage, 25 Thompson, Claire, 129 Tiere, s. Vögel; Fische; Insekten; 139– 141 Fähigkeiten der Mentalrotation der, 101 mathematische Fähigkeit der, 59, 61 Zählfähigkeit der, 53–57 Titchener, E. B., 149–150 Toast, 22–27 Turnbull, Oliver, 51 Uhr, s. Biologische Uhr und Gehirn, 205–208 zirkadiane, 206 »unilateraler Ausfall«, 102 University of Chicago, s. James Franck Institute »Urzeugung«, 184 »Versuchsleitereffekt«, 156 Vibrationen der Curlingsteine, 200–201 wobbelnder Münzen, 114–115 Viskosität, 17–20, 33 visuelle Illusionen, s. Illusionen, visuelle
Voyer, Daniel, 103 Wasser Auftreffen flacher Steine auf das, 186, 189–191 Elastizität des, 185 Fließen des, 17, 19–20, 32 Oberflächenspannung des, 19–20, 31–32 Viskosität von, 19–20 Watts, Duncan, 121–122 Weiland, Hyman, 45 Wertz, Vic, 180 Wiseman, Richard, 156–157 Witten, Tom, 12 Wobbeln der Erdachse, 109, 190 und hüpfende Steine, 190–191 und sich drehende Münzen, 108– 115 und sich drehende Objekte, 190 Wohlschlager, Andreas, 104–105 Woll, Bencie, 50 World Beer Games, 194 Wright, Ernest Hunter, 187–189 Wynn, Karen, 58–60, 62 Zahlen, s. Zählfähigkeit; Mathematik Zählfähigkeit, 53–62, s. Mathematik und Gesundheit/Krankheit, 91–92 und Vögel, 53–56 Zeit Aufwach-, 82–89 Bilder der, 84 Einschätzen der, 83–84, 86–87, 90–98, 205–207, 210–211 Vergehen der, 203–211 Wahrnehmungen von, 35–41, 91, 93–98, 204–205, 207–208 -sinn, 84, 92–94 Zepelin, Harold, 84–85