Scan by Schlaflos
Buch Fünf Jahre sind vergangen, seit die Insekten Vierlanden verwüstet haben. Jant Shira, der geflüg...
29 downloads
386 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Scan by Schlaflos
Buch Fünf Jahre sind vergangen, seit die Insekten Vierlanden verwüstet haben. Jant Shira, der geflügelte und flugfähige Bote des Imperators, ist jedoch vor allem mit seinen ganz eigenen Problemen beschäftigt: Zum einen hegt er schon seit einiger Zeit den Verdacht, seine Frau hätte eine Affäre, zum anderen wurde nach einem Schaukampf ein neues Mitglied in den Kreis der Unsterblichen aufgenommen - woraufhin der geschlagene Unsterbliche ein Heer gegen das Reich des Imperators aufstellt und sogar bis zu dessen Wohnsitz vorrückt. So richtig übel wird die Sache für Komet allerdings erst, als er vom Imperator den Befehl erhält, sich zusammen mit einigen anderen Unsterblichen als Gesandtschaft des Reichs auf den Weg zu einer vor kurzem entdeckten, bewohnten Insel zu machen - schließlich hasst Jant Schiffsreisen von ganzem Herzen. Die Probleme wachsen ihm über den Kopf, und er greift wieder zu seiner Droge und flüchtet in die andere Welt. Aber auch das ist nicht ungefährlich... Autorin Steph Swainston wurde 1974 im englischen Bradford geboren. Sie studierte Archäologie in Cambridge und war mehrere Jahre an Ausgrabungen der ältesten Begräbnisstätten Großbritanniens beteiligt. Sie arbeitet heute als Informatikerin. Steph Swainston lebt im englischen Reading, wo sie lange Spaziergänge in Wäldern und Mooren unternimmt. Lieferbar: Komet. Fantastischer Roman (24364)
Steph Swainston
Die geschenkte Zeit Fantastischer Roman Aus dem Englischen von Alfons Winkelmann blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »No Present Like Time« bei Gollancz, Orion Publishing Group, London. Umwelthinweh: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Deutsche Erstausgabe Juni 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2005 by Steph Swainston Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung'. HildenDesign, München Umschlagillustration: Natascha Roeoesli/tscha.ch Redaktion: Werner Bauer UH • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-442-24462-1 www.blanvalet-verlag.de Für Brian Das Klima, nicht ihr Befinden ändern diejenigen, die übers Meer fahren. Horaz KAPITEL 1 Januar 2020 In dieser lauen Nacht folgte ich auf meinem Rückflug zum Schloss dem Tal des Moren. Hoch über den Ortschaften von Prärieland hörte ich die Turmuhren schlagen. Die Nachtluft war gestaltlos. Kein Lüftchen regte sich. Konzentriert flog ich mit steifen, flachen Flügelschlägen
dahin, maß die zurückgelegte Strecke anhand der Zeit, maß die Zeit durch das Absingen sämtlicher Lieder, die ich kannte, und sah mich dabei unten um. Ich hob die Flügel und spürte die Luft zwischen meinen Federn hindurchströmen. Dann zog ich sie wieder nach unten, wobei sich das Gefieder flachlegte und die straffen Muskeln um meine Hüften hin und her glitten. Bei Sonnenuntergang lösten sich die Thermiken auf. Ich verlor an Höhe, um sie wieder zu finden, und das Fliegen wurde jetzt erheblich mühseliger. Tief drunten auf den Weiden und am Flussufer entlang bildete sich Nebel. Die Kuppen der Hügel ragten wie dunkle Inseln aus dem Dunst. Dahinter reihte sich bis zur Grenze von Donaise eine Erhebung an die andere. Hecken und Trockenmauern waren schwarze Säume, die Felder aus sauberem weißen Dunst voneinander trennten. Bis auf das Schwirren meiner Flügel herrschte völlige Stille. In der Ferne entdeckte ich einen Lichtpunkt, wie eine Stadt, und warf einen Blick auf meinen Kompass ich flog direkt aufs Schloss zu. Hoffentlich war noch etwas vom 11 Abendessen übrig! Der Punkt löste sich zu einer Ansammlung von einzelnen Lichtern auf, dann teilten sich diese erneut, und der Abstand zwischen ihnen schien sich immer weiter zu vergrößern, je näher ich kam. Lichter glitten vom Horizont her auf mich zu, bis ich den Ort Krongut überflog. Der Schein der Straßenlaternen schnitt helle flache Balken aus dem Dunst. Dichtere Fetzen wirbelten vorüber, und allmählich nahm der Nebel eine eigene Gestalt an. Der Nebel veränderte alles. Er lag über der spiegelnden Oberfläche des Flusses und mäanderte zu den Wiesen am Wasser. Nebel ergoss sich zwischen die kultivierten Eibenschonungen und die Wäldchen mit den spitzen Pappeln, wo die Bögen und Pfeile von morgen gezogen wurden. Nebel trieb über die Dächer des Ortes, wo der größte Teil der Angestellten des Schlosses lebte. Er sammelte sich auf den Karpfenteichen, stahl sich in die Zehntscheuern und ließ sich auf dem Strohdach der Markthalle nieder. Er hüllte die Wassermühle ein, die dunklen Bögen des Aquädukts, Hobsons Stall und den Hof des Schmieds. Nebel überflutete die äußersten Grenzen des Schlosses. Er drang durch die Felder der Bogenschützen vor, lag auf den Turnierplätzen, wälzte sich über die Tennisplätze. Er hüllte den Konzertsaal ein und den Komplex des Badehauses. Eines der spitzen Türmchen des Schlosses zeigte sich als Silhouette vor einem weißen Licht, das sich in dem Dunst zu einer mächtigen Grisaillekugel aufblähte: Die Flutlichter im Amphitheater brannten. Sie beleuchteten lediglich den scharfkantigen Nordostturm, dessen Sandstein in der blendenden Helligkeit verblüffend schwarz wirkte. Allmählich schälten sich Konturen heraus: An der gewaltigen dunklen Masse des Schlosses erkannte ich im Dunst hier und da Teile kantiger Dächer sowie krenellierte Zinnen von Mauern. Die quadratische Basis des Rundturms versank zwei Meter tief in 12 einem Meer aus Nebel. Ich durchflog dichtere Stellen - dann war es, als würde sich das Schloss auf die Ebenen zurückziehen. Aus einer Laune heraus hatte die Architektin vor dreihundert Jahren ihr Studio in dem Türmchen mit Skulpturen überzogen. Adler, Störche und Aale drangen schemenhaft durch den Dunst. Das in den Stein geschnitzte Zeichen ihres ewerbes sowie die Werkzeuge ihrer Zunft waren vom Küchenrauch geschwärzt. An den Fenstern rankte üppig marmorner Efeu von solcher Wirklichkeitstreue empor, dass Vögel in dem Gewirr ihre Nester bauten. Kühl wie Wolken stand mir der Nebel in Augen und Kehle. Ein Küchengeruch nach Holzrauch, Roastbeef und Spülwasser hatte sich darin verfangen, dazu färbte ihn ein schwacher Duft nach Lavendel vom Waschhaus. Verbrannter Waltran aus den Flutlichtern sättigte ihn und verwandelte ihn in Smog. Hinter den Türmen erhoben sich Stockwerke, Giebeldächer sowie weitere Türme. Die Flächen unterhalb der vorspringenden Gebäudeteile waren ein einziges Flechtwerk. der Rasen des Carillonhofs war in breiten Streifen gemäht, zudem hing darüber ein Dach, das seit acht Jahrhunderten eingerüstet war. Auf dem Gang für die Dachdecker stand eine doppelt mannshohe hölzerne Tretmühle. In dem Korb, der an dem Seil um ihre Achse hing, holte man den Stein aus Mitohnanmut hoch. Vor zwei Jahrhunderten hatte ich die Nordfassade für eine Eiswand gehalten, geformt von den Kräften der Natur. Ich hatte den Kopf in den Nacken gelegt, bis ich geglaubt hatte, nach hinten überzuschlagen, hatte die Spitze des Turms aber trotzdem nicht erkennen können. Auf dem harten Gras wenige hundert Meter entfernt hatte ich gekauert, aufgeschaut und begriffen - dass sämtliche Felsspalten herausgemeißelt waren. Die Vorsprünge sind Brüstungen, Statuen idealisierter 13 Unsterblicher, kleidförmige Türmchen, von oben bis unten verziert mit Spitze, alles Symbol der Pracht des Imperators, Gottes Gouverneur in Vierlanden. Der Hals hatte mir wehgetan. In sicherem Abstand umflog ich abbröckelnde, moosfleckige Steinmauern. Ich kam an Fialen vorüber, die mit Ballenblumen verziert waren. Die Kreuzblume, eine Gedenkstatue, setzte sich aus einer Reihe verzierter Bögen zusammen, die auf frei stehenden schwarzen Marmorsäulen ruhten. Sie trug die Signaturen von Eszai, von Menschen, die auf Grund ihrer einzigartigen Talente Unsterblichkeit errungen hatten -einen Platz im Kreis - und hier residierten. Kritzeleien verzierten die Bögen, die Namen von ehemaligen und heutigen Unsterblichen; ich hatte KJS & NW 1892 in einem Herzen im höchsten Topstone eingraviert. Auf dem Kiesplatz zu Füßen der Kreuzblume stand, jetzt im Dunst unsichtbar, eine Statue von Adler, bis vor kurzem König in Awia. Ich hatte angeordnet, sie dort neben den Statuen anderer großer Krieger aufzustellen, damit man sich seiner stets erinnerte.
Der hohe Aigrette-Turm, durch den ich raste, schien im Nebel zu treiben. Er war das Ehrenmal für die Schlacht am Schlangenkreuz, ein offenes, völlig ausgehöhltes Rechteck, eine Laterne aus Luft. Auf allen Ebenen waren die Säulen oben dicker als unten, so dass es aussah, als würden sie herabtropfen - schmelzen. Er hatte keine Wände, seine Säulen stützten weitere Säulen eines innen liegenden zweiten und dritten Turms; ich durchflog das Gitterwerk, das dünn wie Vogelknochen war, ohne innezuhalten. Kleine konturlose Gruppen von Leuten schritten die Allee zur Arena hinab. Einige trugen Öllampen, deren goldene Lichtpfeile in die Ferne davonschossen. Unmittelbar neben dem weißen Schein der Flutlichter sammelte sich eine ganze 14 Menge an Laternen. Ich muss nachsehen, was dort los ist. Ich stelle mich auf einen Flügel, ziehe die Knie an und wende. Der Boden kippt scharf ab, als ich auf den Wald aus Dächern, auf das Schloss hinabstürze wie eine Wespe auf eine überaus prächtige Blume. Ich schieße so tief über das Vorwerk hinweg, dass meine Flügelspitzen es streifen, schwenke scharf nach rechts ab und verfehle ganz knapp den Blitzableiter. Der Fahrtwind dröhnt in meinen Ohren, als ich zur Arena hinabtauche und überlege, ob die Sicht gut genug für eine gefahrlose Landung ist. Nebel trieb zusammen mit mir über das niedrige Dach der angrenzenden Turnhalle, und eine Sekunde später strömte er aus den offenen Mündern eines Dutzends Wasserspeier, die wie Schachfiguren in Gestalt heiterer Könige geschnitzt waren und sich mit dem Gesicht nach unten über die Ziergärten hinausbeugten. Ich durchflog einen der Ströme, nahm in dem feuchten Nebel gewissermaßen eine Dusche. Während ich auf starren Schwingen hineinglitt, kräuselten sich Wirbelströme um meine Flügelspitzen, so dass ich zwei spiralförmige Spuren zurückließ. Die Arena liegt innerhalb eines großen Amphitheaters mit hohen, halb aus Balken bestehenden Mauern, die von Fahnenmasten gekrönt sind. Der Nebel hatte sie noch nicht eingehüllt, sondern stieg von draußen wie Wasser um ein sinkendes Schiff empor - das ovale Gebäude sah aus, als ob es in eine unsichtbare Erde hinabglitte. Vier Flutlichter auf zehn Meter hohen Eisengerüsten standen in den Ecken des Amphitheaters. Ich umkreiste das nächstgelegene, ließ die Beine baumeln und landete auf seiner Metallhülle. Dann schüttelte ich Nebelfetzen aus meinen Flügeln und zog die Schwingen fest um mich, so dass ich von langen Federn ummantelt dastand. Die Blende war sehr heiß. Ich schlurfte nach vorn und kau15 erte mich an die Kante. Das einzige Geräusch war das Zischen der Öllampen. Über mir und um mich herum war alles dunkel - aber der Platz unten war in helles Licht getaucht. Zwei Gestalten im Zentrum hieben mit Rapier und Dolch aufeinander ein. Dort war Gio Serein, der Fechter des Kreises. Während meiner Zeit als Heranwachsender in Hacilith war er der Unsterbliche mit dem größten Fanclub gewesen. Jedes Kind mit einem Stecken in der Hand hatte so getan, als wäre es Serein, und viele, viele Jugendliche hatten den Ehrgeiz entwickelt, gegen ihn anzutreten. Das da unten konnte nur eine Herausforderung sein. Ich sah mir genauer an, wer denn da gegen ihn in den Ring gestiegen war. Ein junger Bursche aus Awia, der die dunklen Stummelflügel zusammengefaltet hielt, damit sie kein Ziel böten. Seine Flugfedern waren im Zickzack gestutzt, in der gegenwärtigen Mode, wodurch sie leichter wurden. Das kurze braune Haar war an den Seiten rasiert und stand obenauf in schweißfeuchten Stacheln hoch. Um beweglich zu sein, trug er bloß Hemd und Kniehose. Sein schweißfleckiges Hemd war vom Dunkelblau der Eliteinfanterie Tangares. Die linke Hand, die den Rapiergriff umklammert hielt, steckte in einem Handschuh. Er bewegte sich, als bestünde er aus Sprungfedern. Serein hatte die Knöchel oben und den Daumen auf der Rapierklinge liegen, so dass er starke Hiebe aus dem Handgelenk ausführen konnte. Der Fremde jedoch schlug einen der Hiebe mit seinem Dolch weit zur Seite, tauchte seinerseits ab und griff mit dem eigenen Dolch und Rapier an. Mit einem Aufschrei führte Serein einen tiefen Gegenstoß durch. Der Neue fegte das Rapier beiseite, machte eine Doppelfinte zum Gesicht, und Serein wich erneut zurück, wobei er scharf auf seine Körperhaltung achtete. Dann lief er dicht heran und trat dabei die Sägespäne mit dem Lederschuh hoch. 16 Der Awianer kannte diesen Trick jedoch; er parierte den Angriff. Knirschend glitt Metall über Metall. Ich schaute auf, und die schiere Anzahl der Zuschauer nahm mich gefangen. Die zwanzig Ränge hohen Reihen waren gerammelt voll, und jede Minute trafen weitere Menschen ein, bliesen ihre Laternen aus, schoben sich die Gänge hinab, setzten sich auf die Stufen oder lehnten sich gegen die Pfosten. Einen freien Platz für mich hätte es nirgendwo mehr gegeben. Direkt mir gegenüber befand sich eine Loge mit Baldachin, von wo aus man den besten Blick auf die Arena unten hatte. Darin saß der Imperator San auf einem Sessel und beobachtete gleichmütig und völlig ausdruckslos die beiden Kämpfer. Eine magere Hand ruhte auf seinen Knien, die andere hielt die Armlehne umklammert. Sein Gesicht war von er goldenen Bespannung beschattet, schmale, gebieterische Züge, umrahmt von weißem Haar, das ihm lose bis auf die Schultern herabhing. Wenn San den Thronsaal verlassen hatte, musste das hier wirklich wichtig sein. Ich faltete meine Flügel ordentlich zusammen, so dass sich die Spitzen in meinem Rücken kreuzten, und neigte den Kopf, für den Fall, dass er herüberschaute.
Tornado, der Kraftmensch des Schlosses, der links vom Imperator saß, war so groß, dass er jene Seite der Loge vollkommen ausfüllte. Während er unter der Bespannung hervorlugte, drückte er sie mit dem Kopf hoch. Rechts neben ihm stand Raa, die Seefahrerin, auf deren Gesicht ein großes breites Grinsen lag. Ihre Hände ruhten auf den breiten Hüften unter einem weißen Kaschmirpullover. Rehgen, die Ärztin, saß mit ihrer Gehilfin auf einer Bank am Rand der Arena und war bereit zum Eingreifen, falls etwas schiefginge. Verstreut n der Menge erkannte ich viele meiner Mit-Unsterblichen, 17 die sich allesamt völlig auf die Duellanten konzentrierten. Na ja, dachte ich, es wäre kein neues Jahr, wenn Serein nicht einen weiteren Herausforderer gehabt hätte, aber normalerweise hätten seine Unterstützer in der Menge gebrüllt, gejohlt und gezischt. Diesmal jedoch hing eine atemlose Stille in der Luft. Die Duellanten umkreisten einander, ließen gewissermaßen die Muskeln spielen. Beobachteten einander angespannt. Beide hielten die Schwertspitze vor sich in Terz, die Dolche in der rechten Hand standen gerade nach rechts ab. Ihre Füße hatten eine dunkle kreisförmige Spur im Sand hinterlassen. Sie mussten schon seit ewigen Zeiten am Werk sein; ihre Kleidung war nass und der Sand feucht vom Schweiß. Serein stieß zu, die Knie gebeugt. Der Awianer traversierte, und Serein verhedderte sich fast mit dem Griff im eigenen, eng anliegenden Ärmel. Keine Sekunde lang ließen sie sich aus den Augen; ich wusste, wie das war. Kopf gehoben und Körper im Gleichgewicht, alle Bewegungen aus dem Augenwinkel im Blick behalten, gleich, wie hell der Stahl um deinen Kopf herum blitzte. Serein holte zu weit aus. Der Herausforderer stieß nach seinem Bauch, und der Fechter musste zurückweichen. Der Awianer sprang heran, streckte durch, zielte nach der Sehne in dessen Kniekehle. Sein Gegner parierte, und seine Klinge neigte sich nach unten. Das Rapier des Awianers glitt ab, er lenkte es zur Wade, aber Serein sprang rasch beiseite. Klasse Zug! Ja! Da wirst du blass vor Neid, was, Serein! Ich sprang auf dem Gehäuse des Flutlichts auf und ab, bis das ganze Ding zitterte und bebte. Entschuldigung. Wieder umkreisten sie einander. Offensichtlich waren sie erschöpft, versuchten jedoch weiter zu entdecken, welche Lücken sich in der Deckung des anderen auftun mochten. Jegli18 che Schwäche galt es zu erkennen, vorauszusehen und für sich zu nutzen. Sie bewegten sich völlig synchron, lasen einander die Zeitplanung von den Augen ab. Durchschauten die Finten. Jedes Mal, wenn Serein eine Möglichkeit zum Ausbruch suchte, tat es der Neue ihm gleich und folgte wie ein Schatten jedem strategischen Zug. Serein wechselte in die Secunda. Er wirbelte den Dolch herum, so dass die Klinge unter seiner Hand lag, und wollte sie dem Awianer übers Gesicht ziehen. Krach! Klirr! Sie trennten sich. Serein hat sein Leben mit dem Studium der Kunst des Tötens verbracht. Warum hatte er noch nicht gesiegt? Seine Fußabdrücke zogen sich in einem seiner geometrischen Muster über den Sand. Er wandte jeden ihm bekannten Trick an und erreichte dennoch nichts. Einige Leute kletterten das Dach hinauf und zündeten das letzte Flutlicht an. Falls die Duellanten bemerkten, dass der weiße Glanz noch intensiver wurde, so reagierten sie zumindest nicht darauf. Sie konzentrierten sich aufs Zustoßen und Parieren, sie beugten sich mit beiden Händen zugleich vor, und der Dolch blockte das Rapier. Als Serein das blonde Haar zurückschleuderte, flog eine Gischt aus Schweißtropfen davon. Mein Flutlicht war ein guter Aussichtspunkt. Darüber hinaus konnte ich, ein halber Rhydanner, Bewegungen rascher erfassen als die Flachländer, also sah ich Sereins Hiebe in allen Einzelheiten; für die anderen Zuschauer mussten sie lediglich eine verwischte Bewegung sein. Das war ein Serein, der müde und deswegen langsamer geworden war. Ich wusste, wie unmöglich rasch er sich bewegt, wenn er frisch ist, weil er mich einmal mit einem gepolsterten Rapier grün und blau geschlagen hatte. Serein war zwei Meter groß, seine kräftigen Arme waren 19 durchzogen von eisenharten Muskeln. Er bleckte die Zähne zu einem Knurren, während er sich innerlich zuschrie: kon-zen-trie-ren! Selbst aus dieser Entfernung las ich die Verdrossenheit in seinen blassen Augen: Warum willst du nicht aufgeben? Warum kann ich dich nicht treffen? Er setzte weiterhin seinen Hass in große, wütende Hiebe um, die sein Gegner einfach mit dem Dolch beiseite fegte. Er hielt das Rapier vor sich und verkleinerte dadurch den Angriffswinkel. Sie waren beide so gut, wie es körperlich nur möglich war. Der Ausgang des Zweikampfs hinge davon ab, wer zuerst ausrutschen oder einfach aufgeben würde, zu Fall gebracht von übermäßiger Erschöpfung. Vielleicht war Serein ein ganz klein wenig vorsichtiger als der Junge, weil er mehr zu verlieren hatte. Serein hieb zweimal nach dem Scheitel des Jungen, stieß nach dessen Füßen. Sein Gegner versuchte, die Klinge mit dem Korb seines Dolchs aufzufangen, verfehlte sie. Dieser Junge war herumgekommen, so viel stand für mich fest. Er kämpfte wie ein Unsterblicher. Ich war ganz allein hergeflogen, eine tagelange Reise, und erfasste ihre Bewegungen mit dem ganzen Leib. Ich war in den entlegenen Dunkelbergen gewesen, weshalb ich die Menge umso stärker wahrnahm. Dort, der Bogenschütze. Blitz stand den Duellanten am nächsten, hatte sich weit über die Bande gebeugt und starrte die beiden verzückt an. Ein breites Tuch im Blau von Glimmerwasser lag ihm um die Schultern, und ein
Köcher mit weiß gefiederten Pfeilen hing ihm an der Hüfte. Er hat die Statur einer Bronzestatue. Auch die Willenskraft einer solchen und, um ehrlich zu sein, ebenso ihren Sinn für Humor. In diesem Jahrhundert ist er weniger eisig als sonst, weil er mal wieder eine hoffnungslose Liebesaffäre hinter sich ge20 bracht hat. Ihn zu entdecken war einfach; die Menge hielt respektvoll Distanz. Obwohl sie alle Schulter an Schulter standen, war Blitz ganz für sich allein. Ich schwang mich, die Flügel gerade nach hinten gestreckt, von meinem Aussichtspunkt hinab zum Rand der Arena und legte unmittelbar neben ihm eine glatte Landung hin. »Wer ist der Herausforderer?« Blitz lächelte, ohne sich umzuwenden. »Willkommen zurück, Jant! Wie war der Weg herab von Grat?« »Sehr neblig. Wer ist das?« »Dieser junge Mann ist Zaunkönig, ein Berufssoldat aus Sommertag. Er hat die Garde der Königin verlassen und vergangene Woche formell seine Herausforderung an Serein ausgesprochen.« »Hat mich der Imperator deswegen zurückgerufen?« Blitz sah mich zum ersten Mal an. »Nein. Erwähne das nicht in der Öffentlichkeit - San hat Arbeit für uns. Ich bin auch zurückgerufen worden, und ich bin ganz und gar nicht glücklich darüber, da ich die Seite meiner Anverlobten verlassen musste.« Blitz ist die einzige mir bekannte Person, die sich so vornehm-altertümlich ausdrückte, fiel mir mal wieder auf. »Zaunkönig sieht aus wie ein Hauptmann des Heerbanns.« »Ist er auch. Er hat sich in der Stadt einen Namen gemacht. Nach und nach erklimmt er die Rangleiter, und ich glaube, dass er sich durch die Tatsache, ein so fantastischer Fechter zu sein, nicht gerade beliebt gemacht hat. Höflinge riechen Gerüchte und suchen ihn auf, um sich selbst zu beweisen, aber Zaunkönig will nicht anerkennen, wann man zu verlieren hat. Die Narben, die Drossel Carniss durch ihn zurückbehalten hat, sehen eher nach einer Auspeitschung als nach einem Duell aus. Wenn er von Adel wäre, könnte er höher aufsteigen. Es ist eine Schande; vermutlich hat ihn die unsichtbare Bar21 riere zwischen hoch und niedrig so frustriert, dass er es mit einer Herausforderung versucht hat.« »Beide sehen müde aus.« »Jant, sie haben um sechs angefangen.« »Scheiße!« Blitz zeigte zur Menge hinüber. »Lange genug, dass die Eszai und ganz Krongut hinzustoßen konnten. Sei ruhig jetzt! Er ist so klein, dass ich nicht weiß, wie er das eigentlich durchhält.« Auf den Sägespänen war kein Blut zu sehen. »Vier Stunden, und sie haben einander nicht angerührt?« »Jeder hat ein Schwert zerbrochen. Pscht!« Zaunkönig hatte die Techniken des Breitschwerts offensichtlich ebenso gut trainiert wie die idealen Fechtpositionen. Ein Überkopfhieb aufs Gesicht hinab, ein Stoß auf den Bauch, ans Rapier angepasst Duellwaffen, von Menschen entworfen, um Streitigkeiten zwischen sich in ihrer Stadt beizulegen. Es zählte nur der Gewinner. Die Satzung des Schlosses ist simpel: Zwei Männer auf einem Feld, und am Ende des Tages wird einer von ihnen unsterblich sein und der andere könnte gut und gern unter der Erde liegen. Sie benutzten identische Rapiere, Klingen aus Damaststahl von gleicher Länge und gleichem Gewicht, die das Schloss zur Verfügung stellt, damit die Herausforderung auch fair ist. Dem Herausforderer ist erlaubt, die Zeit des Wettkampfs festzusetzen, aber der herausgeforderte Unsterbliche verkündet die Art des Wettstreits. Serein war ein ehemaliger Fechtmeister; er hatte die Kunst in Prärieland und Morenzia populär gemacht. Vor drei Jahrhunderten gewann er seinen Platz im Kreis durch einen Breitschwertkampf, dann jedoch hat er gewöhnlich zur Bedingung gemacht, dass Herausforderer sich seines gewohnten Rapiers und Degenbrechers zu bedie22 nen hätten. Zaunkönig war so untersetzt, dass die lange Klinge wohl kaum zu seinen Gunsten ausgewählt worden war, aber er konnte sie problemlos handhaben. Gerade hieb er direkt auf Sereins Oberkörper ein. Serein warf die Hände hoch und sprang zurück. Er landete in hoher Handlage, beide Klingen auf Zaunkönigs Gesicht gerichtet. Zaunkönig duckte sich darunter weg zum Angriff er hielt sich sehr tief, ein Bein nach hinten ausgestreckt, und vollführte einen Satz nach vorn, das Rapier auf Armeslänge vor sich. Serein beugte sich herab und wollte zustoßen, aber Zaunkönig sprang rasch wieder auf die Beine. Nun hielt der Fechter still, parierte mit dem Dolch, stieß zu. Zaunkönig nahm seine Klinge zurück, um außer Reichweite zu bleiben, und stieß unter Sereins Arm durch. »Das sind drei von links«, murmelte Blitz. »Er wird jetzt was anderes tun.« Das wollte uns Zaunkönig weismachen. Er griff von links an. Er wechselte auf das andere Bein und fasste den Dolch so, dass die Klinge unter seiner Hand lag. Er beugte sich mit geradem Rücken vor und vollführte einen weiten Hieb, war jedoch zu nahe herangekommen und wäre fast in Sereins Rapier hineingelaufen. Die Menge holte tief Luft, da sie einen zwiefachen Tod erwartete, aber Zaunkönig, der kurzzeitig das Gleichgewicht verloren hatte, wich zurück, und die beiden umkreisten einander erneut. Zaunkönig hieb heftig nach Sereins Schulter. Wenn ich an seiner Stelle wäre, täte ich ... Serein vollführte einen Satz und hielt den Hieb lediglich mit seinem Dolch auf, bevor er an Schwung gewann.
Na ja, das täte ich nicht. Dann versuchte er, Zaunkönig einen Tritt in die Eier zu versetzen. 23 Zaunkönig sprang davon, warf sich nach hinten und ripostierte gleichzeitig. Unwillkürlich holte ich tief Luft. Nie zuvor hatte ich einen Fechter gesehen, der sich so akkurat bewegte. Serein konnte nicht zur Seite ausweichen und wich mit blassem Gesicht zurück. Zum ersten Mal gab er seine Verteidigungsposition auf, was Zaunkönig Zeit zum Angriff verschaffte; er versuchte, dem Fechter mit einem senkrecht geführten Hieb den Schädel zu spalten. Serein blockte ab, drehte seine Waffe und hieb nach Zaunkönigs ungeschützter Hand. Zaunkönig wich gerade eben rasch genug zurück, um seine Hand zu behalten. Er parierte und hielt den Dolch zur Unterstützung unter seine Klinge. Er hob Sereins Waffe an, die Klingen gekreuzt, aber der Fechter riss sie los. Zaunkönig sah ihm direkt ins Gesicht; sein ganzer Körper war durchgebogen, die Körpermitte ferngehalten und das linke Bein sicher aufgesetzt. Beim Gedanken daran, dass sie um die Unsterblichkeit kämpften, fanden sie frische Kräfte in sich. San verbietet seinen Unsterblichen, ihre Herausforderer zu töten, obwohl hin und wieder echte Unfälle geschehen. Serein wirkte fuchsteufelswild, weil das alles so lange dauerte. Er kanalisierte sein gesamtes Können darauf, derjenige zu sein, der dem jungen Mann einen blutigen Hieb versetzte. Natürlich könnten Sereins Schüler ihm so viel Geld bieten, wie sie wollten, es würde ihn trotzdem nicht dazu verleiten, seine besten Züge preiszugeben. Er lehrte seine Schüler nie genügend, dass sie ihn hätten herausfordern können. Aber Zaunkönig hatte anscheinend sämtliche von Sereins Techniken von Grund auf neu erfunden und seine eigenen Neuerungen hinzugefügt. Serein vollführte absichtlich einen Angriff aus der weiten Mensur heraus. Es war ein Versuch, den Abstand zu Zaunkö24 nig zu verkürzen. Der ließ sich jedoch nicht darauf ein, sondern hielt gute Distanz. Serein versuchte es mit einem besseren Winkel, und diesmal parierte Zaunkönigs Dolch tief. Serein richtete sein Rapier direkt darauf. Die Klingen prallten zusammen. Serein hieb seinen Schwertknauf auf Zaunkönigs Faust. Wie ein Pfeil schoss der Dolch aus der betäubten Hand davon. Zaunkönig schenkte ihm weiter keinen Blick, sondern warf sein Rapier in die rechte Hand und bewegte die Finger. Er war ernstlich im Nachteil. Sereins Augen folgten Zaunkönigs Ausdruck, als er sich zu einem Lächeln herabließ. »Es ist bloß eine Frage der Zeit...«, meinte Blitz. Zaunkönig stieß Sereins Rapier mit der Klinge nach oben und hieb ihm über den Bauch. Serein streckte die Arme aus. Sein Selbstvertrauen erreichte den Gipfelpunkt; er musste nicht weichen. Er konnte einfach warten. »Serein wird ihn abstechen wie ein Schwein.« Zaunkönig vollführte einen geraden Stoß aus der Quart heraus, den Serein leicht beiseite drückte. Alle sahen zu, wie Serein Zaunkönig Schritt um Schritt über die Arena zurücktrieb, bis sie genau unter der Loge des Imperators waren. Zaunkönig sah von Sereins Rapier zum Dolch, und ich erkannte, dass ihm der Mund offen stand. Serein organisierte sich jetzt so, dass er die Sache zu einem Ende bringen konnte. Er fintierte mit dem Dolch, schwang sein Rapier in einer auswärts gedrehten Schleife herum, um es umso stärker direkt auf Zaunkönigs Kopf sausen zu lassen. Und Zaunkönig ging direkt in den Angriff hinein. Mit der eigenen Hand packte er die Innenseite von Sereins Hand am Griff und drückte sie beiseite. Sein Rapier klemmte Sereins Dolch ein, und er streckte diesen Arm voll zur anderen Seite aus. Er kippte seine Klinge; die Spitze senkte sich an Sereins Kehle. Serein kämpfte, hielt inne. Sie standen so 25 eng voreinander, dass sie sich fast an der Brust berührten. Zaunkönig sah Serein direkt in die Augen, vollführte eine fast unmerkliche Bewegung mit der Degenspitze, und ein rotes Flüsschen rann unter dem Adamsapfel des Fechters herab und zwischen seinen Schlüsselbeinen vorn ins Hemd hinein. Das erste Blut. Zaunkönig riss beide Arme in die Luft. »Ja!«, schrie er. »Ich hab's geschafft! Ich hab's verdammt noch mal geschafft!« Eine Sekunde lang herrschte völliges Schweigen, und man konnte sehr wohl sagen, dass jedem in der Menge der gleiche Gedanke durch den Kopf ging: Wie tapfer muss man sein, um in eine Angriffsvorbereitung Hineinzutreten Zaunkönig war bereit zu sterben, falls sein Trick fehlschlug. Im Wissen, dass er irgendwann einmal sterben musste, setzte er für die ultimative Belohnung alles aufs Spiel. Serein hatte jene tödliche Entschlossenheit verloren - nun ja, wir Eszai leben alle auf geschenkter Zeit. Die Menge brach in Jubelstürme aus. Eine Dame gleich neben mir hielt sich die Hände über die Ohren, weil das Geschrei so laut war. »Was für eine Zeitplanung!«, stieß Blitz atemlos hervor. »Was für eine verdammte Zeitplanung!« Er schwang sich über die niedrige Umgrenzung und rannte durch die Arena. Ich erreichte die Duellanten als Erster und sah Blitz brüderlich einen Arm um Zaunkönigs Schultern legen. Zaunkönig senkte sein Rapier und stand schwankend da, kurz vor einer Ohnmacht. Plötzlich fand ich mich mitten im Brennpunkt des Geschehens wieder. Das Gebrüll der Menge war
ohrenbetäubend. Die Reihen außerhalb des erhellten Grunds waren unsichtbar, aber der Applaus war wie eine Mauer aus Lärm. Ein Schlachtruf erhob sich wie ein Lauffeuer und breitete sich durch die Ränge aus: »Zaunkönig ist Serein! Zaunkönig ist 26 Serein!« Fechter des Heerbanns stampften mit den Füßen auf die Holzbänke; der Donner ging unermüdlich weiter. Soldaten in Zivil strömten in die Arena. Ich klatschte, bis mir die Handflächen schmerzten. »Ja!«, schrie Tornado, eine Faust in die Höhe gereckt. Er steckte sich zwei Finger in den Mund und stieß einen langen Pfiff aus. »Gut gemacht!«, rief Blitz. »Gut gemacht, mein Freund!« Er drehte ihn der kreischenden Menge entgegen und hob Zaunkönigs zitternden Arm. »Der Sieger!« Serein, geschlagen, öffnete die Hände und ließ Dolch und Rapier auf den niedergetretenen Sand fallen. Sie rochen schwach nach Desinfektionsmittel. Er sah sich nach einem Ort um, wo er sich hinlegen konnte, kniete nieder und kauerte sich dann aus Scham und schierer Erschöpfung hin und legte die Hände über den Kopf. Zaunkönig wirkte verängstigt. Das Erschrecken auf seinem Gesicht wurde stärker, je mehr er begriff, wie viele Menschen dort draußen waren. Sein Gesicht glänzte vom Fett, das er sich auf die Stirn geschmiert hatte, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen liefe. Er war über die Grenzen seines geistigen und körperlichen Durchhaltevermögens hinaus; er geriet ins Stolpern. Blitz wollte ihn zur Bank der Ärztin bringen, aber die Menge verschluckte sie und hob daraufhin Zaunkönig in ihrer Mitte hoch, die Hände auf Beinen und Rücken, und er glitt wie ein Wellenreiter durch die Massen. Sie trugen ihn in den Gang und rasch hinaus aus der Arena. Unter den Flutlichtern glänzten zerzauste Schwingen und allerlei Rücken, als sie sich von uns entfernten. Serein und ich blieben allein zurück. Das Meer aus Nebel schlug eine Bresche durch die Mauer am anderen Ende, quoll herab und wälzte sich über den Grund auf uns zu. 27 »Das war's«, murmelte der Fechter. »War's das? Bin ich draußen?« Allmählich kam er wieder hoch, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. »Serein«, erwiderte ich, »am Ende kommt das auf uns alle zu.« Er sah mich wehmütig an, aber ich wusste nicht genau, ob er wegen übermäßiger Erschöpfung oder aus Bitterkeit seufzte. »Sobald ich den Kreis verlassen habe, werde ich dich nicht wieder sehen«, gab er zu. »Besuch mich nicht, Jant - ich möchte nicht, dass du mich altern siehst.« Er legte sich eine Hand an die Kehle, rieb darüber und sah auf seine gerötete Handfläche. Das Blut hatte praktisch aufgehört zu fließen, aber es klebte ihm vom Kinn bis zur Taille hinab. Er sah zu der Unzahl leerer Logen auf. »Es ist die Furcht, die es dir nimmt.« Eine Sekunde lang legte er mir die Hand auf die Schulter. Dann hob er sein Rapier auf, zerbrach es über dem Knie und verließ das Feld. KAPITEL 2 Ich stieg die Wendeltreppe zu meinem Turmzimmer hinauf. Nach oben hin wurden die Wandgemälde immer schauerlicher und grotesker. Ich erinnere mich nicht mehr daran, sie gemalt zu haben; ich musste wirklich ziemlich benebelt gewesen sein. »Hallo, Liebling!«, sagte ich, als ich über die Schwelle trat. Nachtigall wartete im unteren Teil der runden Maisonette, die Hände in die Hüften gestemmt. Ärger würzte ihre Stimme. »Jetzt sieh dich mal an! Völlig zerzaust! Gott, du siehst aus wie ein Jongleur vom Hacilith-Jahrmarkt! Raus aus diesen mottenzerfressenen Bergklamotten und rein in einen An28 zug ... Hier, nimm den hier; der ist elegant.« Sie gab mir einen leichten und ungewöhnlich sittsamen Kuss auf die Wange. Ich sah mich in unserer unaufgeräumten Wohnung um, die mein Weib mit Modellzeichnungen, Kosmetika, Tuchrollen und einer gewaltigen Garderobe in Beschlag genommen hatte, in der ein Rhydanner-Paar ziemlich glücklich hätte leben können, da war ich mir eigentlich sicher. Meine sorgfältig gestapelten Briefe waren unter Nachtigalls achtlos hingeworfenen Kleidern ineinander gerutscht und die gesammelten, wohlgeordneten Haufen von Korrespondenz zu einer einzigen Masse verklebt, wie Papierland, und alles roch nach ihrem teuren Parfüm. Angesichts meines Entsetzens meinte sie: »Ich habe mal gründlich aufgeräumt.« »Das war mein Ordnungssystem! Die Briefe, die ich gelesen habe, gehen auf den Tisch, bemerkenswerte Briefe auf den Fußboden unter den Schreibtisch. Diejenigen, die ich nicht gelesen habe, sind auf dem Kamin gleich neben den Tannenzapfen ... Wo sind die denn hin?« Meine alphabetisch sortierten Bücher waren übersät mit abgebrannten Streichhölzern und Siegelwachs. Eine Unmenge abgeworfener Federn zierte meine Sammlung alter Plakate. Die Chaiselongue, auf der ich mich so gern lümmelte, war unter Nachtigalls Gewändern begraben; Musterbögen klebten an unseren Bettpfosten. Überall lag ihre Unterwäsche herum. Sie hatte sogar den staubigen Tisch für sich in Beschlag genommen, auf dem meine kostbare Destillationsapparatur stand, obwohl ich die Glasretorten und den Kühler einzig noch zur Herstellung von Malzbonbons aufgebaut hatte. Nachtigall trug ein Bustier aus grüngelbem Satin; plissierte Ärmel umkränzten ihre kleinen schwarzen Flügel. Ihr breites pechschwarzes Halsband, ein Erbstück, wirkte wie ein Kragen. »Das ist der letzte Schrei«, schnurrte
sie. »Na ja, zumindest behaupte ich das.« 29 »Und wie kriegt man das auf?« Mit ihren bloßen Schultern wirkte sie nur umso verlockender. Ich versuchte, ihr Haar zu lösen, aber ihre normalerweise losen dunklen Wellen waren zu einem komplizierten Chignon zurückgekämmt. Das große Feuer von 2015 hatte die Stadt meines Weibes in Ziegelsteinscherben und ascheschwarzen Schutt verwandelt. Von ihrem schwarzen steinernen Herrenhaus stand bloß noch eine einzelne Außenmauer. Schleimspuren aus geschmolzenem und wieder erstarrtem Glas zogen sich von den Spitzbögen der Fenster herab; Bleidächer lagen als verfestigte Pfützen am Boden. Die verkümmerten Bäume in ihrem Wald waren bis auf den Boden niedergebrannt. Jedes Gebäude und jede Gießerei in Waffenschmiede war zerstört, keines ihrer Besitztümer den Flammen entronnen. Waffenschmiede war ihr Geburtsort und der Ort unserer Flitterwochen gewesen; Nachtigalls Bestreben war jetzt, alles wieder aufzubauen. Zum Glück verkaufte sich ihre DesignerMode gut auf den Laufstegen von Hacilith, und soweit es sie betraf, war die Tatsache von Zaunkönigs Beitritt zum Kreis Gelegenheit, der Mode eine neue Richtung zu geben. Sie streichelte mir die Flügel, als ich mir die enge Hose abstreifte und mich umzog. Lange Flügel gelten als äußerst attraktiv, und da Federn viel Pflege brauchen, kümmern sich Awianer sorgfältig um ihre höchst pflegebedürftigen Leiber. »Ich habe das Duell nicht gesehen«, sagte Nachtigall. »Ich musste endlich fertig werden. Von Rehgen habe ich gehört, dass der Herausforder Serein eine Verletzung zugefügt hat, an die er noch lange denken wird.« »Es war ein Duell ums erste Blut«, meinte ich. »So lautete die Regel, also blieb Zaunkönig nichts anderes übrig.« »Was ich so höre, ist Zaunkönig ein toller Hecht«, bemerkte sie. Ich zuckte die Achseln, setzte mich vor den Spiegel und ließ mir von ihr mein schwarzes hüftlanges Haar bürsten und 30 sämtliche Knoten entfernen, die beim Fliegen entstanden waren. Es war eine einzige Qual. Anschließend schob ich die Federn kreuzförmig hindurch wie die Segel einer Windmühle und zog mir einen Lidstrich unter die Augen. »Hör mal!« Nachtigall hob einen Finger. Weit unten im Innenhof rasselten und klapperten die Kutschen und stritten sich um die freien Abstellplätze. »Einige Damen haben sich selbst zu seinem Empfang eingeladen. Das können keine Reporter sein, denen wäre es nämlich niemals gelungen, sich beim Tor an Kauz vorbeizuschleichen.« »Uns bleibt noch eine Stunde. Ich bin wochenlang ganz allein in Grat gewesen. Ich will dich.« Nachtigall entzog sich mir - als wollte sie das edle Kunstwerk nicht ruinieren, das sie aus sich gemacht hatte. Ich bedachte sie mit einem vollen Blick aus meinen Katzenaugen, die sie so exotisch fand. »Wir sollten einen Platz Freiräumen, wo wir uns hinsetzen können ... Vielleicht hinlegen.« »Komm mit ins Getümmel!«, forderte sie mich auf. Nachtigall, du und deine knallharte Souveränität! Anders als die stattlichen Häuser von Awia waren die aus Sandstein errichteten Außenbastionen des Schlosses dick, robust und unangreifbar. Zweck des Schlosses war die Verteidigung von ganz Vierlanden; es beschützte sämtliche Güter und legte sich selbst immer mehr Torhäuser und Curtainwalls zu, während an den Herrenhäusern Balkone und Tanzsäle mit Gewölbedecken, verzierte Türmchen und bemalte Erker erblühten. Der Boden um das Schloss war zur Abwehr von Insekten zu gewaltigen Erdwällen aufgeworfen worden. Das Bett des Moren hatte man zu einem Doppelgraben rund um den von Menschenhand errichteten Hügel umgeleitet. Die doppelte Außenmauer, die um die acht Seiten des Schlosses verlief, 31 verstärkten riesige runde, glatte steinerne Türme, die mit Zinnen und niedrigen Spitzdächern geschmückt waren. Entlang der Mauern flatterten laut die Fahnen; die Symbole der gegenwärtig sechzehn Güter und zwei Städte von Vierlanden. Fünfzig Stander wehten unter dem Sonnenbanner des Schlosses, jeder mit dem Zeichen, das der Eszai für seine oder ihre Stellung ausgewählt hatte. Der Palast des Imperators fügte sich ins Schloss ein wie der Kern in eine Nussschale. Seine Marmortürme ragten hoch aus dem Innern der undurchdringlichen Curtainwall. Der Turm des Thronsaals war der höchste; Bauern, die auf dem Krongut werkten, sahen die Sonne auf seiner Spitze funkeln, und sie wussten, dass der Imperator auf dem Thron darunter saß. Als Nachtigall und ich unseren nüchternen Turm verließen, sahen wir so gut wie nichts durch den kalten Nebel; sein Schweigen dämpfte jeden Laut und entzog dem Palast allen Glanz. Lichter leuchteten hinter Schiebefenstern sowie den ovalen Oculusfenstern im Mare's-Run-Flügel, die wie Bullaugen aussahen. Dort hatte Raa ihre Räumlichkeiten. Ein Balkon mit steinerner Balustrade lief um das gesamte obere Stockwerk herum, wie die Galerie auf einem Schiff. Mare's Run war vor fünfhundert Jahren zwischen den Außenmauern und dem Palast errichtet worden; es füllte einen guten Teil des Raums, wo einmal Gärten gelegen hatten. Mehrere weitere Bauten waren so gestaltet, dass sie in die Westseite der Kluft passten: der Speisesaal sowie ein Theater mit einer muschelförmigen Bronzekuppel, die von einem weißen Leuchttürmchen gekrönt war. Bei meinem Eintritt in den Kreis hatte ich nicht die Räumlichkeiten belegt, die mir als Kurier im Glockenspielhof des Palastes zugestanden hätten. Lieber war ich in die ungenutzte Wohnung oben im
Nordwestturm in der Außenmauer umgezogen, weil es einfacher für mich war, von dort abzuheben. 32 Mein Fenster bot mir einen Ausblick von einhundert Kilometern weit über den Fluss hinweg sowie auf die Spielfelder und die weißen Torpfosten; rote Ampferstängel stachen aus dem grünen rauen Grund der Binnardweide hervor. Nachtigall hat mich nie dazu überreden können, in den Palast zurückzuziehen. Nachtigall zitterte, deshalb breitete ich einen Flügel aus und tätschelte ihr die Schulter. Ihre Flügel sind wesentlich kleiner als die meinen, wie bei allen Awianern, denn obwohl sie die einzigen geflügelten Menschen sind, können sie dennoch nicht fliegen. Ich bin die einzige Person, die je zum Fliegen imstande gewesen ist. Diese Fähigkeit habe ich dem Umstand zu verdanken, dass ich halber Rhydanner mit leichtem Körperbau und langen Gliedmaßen bin und dazu die körperliche Tüchtigkeit des Bergbewohners besitze, was sich mit Vaters awianischer Seite gut ergänzt. Hand in Hand ging ich mit Nachtigall den umschlossenen Gang über einen Strebebogen entlang, der sich von der Außenmauer zum Palast hinüberspannte. Es war eine schmale, Schwindel erregende Brücke, die über dem Dach der großen Halle schwebte und sich dünn und zart in die Luft erstreckte. Unter uns sahen wir lediglich den Schimmer der Lampen in den Nischen draußen vor der Halle und auf vier Steinstufen, die zu zwei Flügeltüren mit üppigen Paneelen hinaufführten. Das dreieckige Giebelfeld war sogar noch üppiger verziert: zwei tief ausgeschnittene bombastische weiße awianische Adler, flankiert vom Sonnenbanner des Schlosses. Auf unserem Gang über den Strebepfeiler überquerten wir den Kopf der Marmorstatue, die das Giebelfeld krönte, eine schlanke Frau mit Schwert und Schild und ausgestreckten üppig gefiederten Schwingen. Manchmal lande ich auf dem Dach und erlebe sie dann jäh aus einer merkwürdigen Perspektive - sie ist doppelt so hoch wie ich. Die Halle hatten 33 Architekten aus Glimmerwasser errichtet, und Blitz ist der einzige Eszai, der sich daran erinnern mochte, was die Statue eigentlich symbolisiert. Sie konnte alles sein: Freiheit und Gerechtigkeit ebenso wie die feuchten Träume von einhundert Generationen halbwüchsiger Awianerjünglinge. Während ich so mit Nachtigall dahinging, wurde ich den Eindruck nicht los, dass der ganze Bau blasiert wirkte, als habe er die Atmosphäre zu vieler geflüsterter Indiskretionen bei formellen Partys eingesogen und würde schlicht auf die nächsten warten. Wir stiegen zu einem kleinen Kreuzgang hinab. Ein Säulengang verlief rund um einen Rasen, über dem der Dunst lag; wir schritten zwei Seiten ab. Draußen vor dem Thronsaal war die steinerne Decke kunstvoll zu einem Fächergewölbe gemeißelt; Bossen hingen herab wie blättrige Stalaktiten. Anstelle von Stoff bestanden die Draperien, die das Portal zum Thronsaal umrahmten, aus Bernstein. Nach dem schmalen Narthex wirkte der Thronsaal umso gewaltiger. Nachtigall und ich schritten das lange Schiff hinter die Abschirmung hinab und verneigten uns vor dem Imperator. Imperator San war wie immer als Erster gekommen. Dies war ein wichtiger Anlass, also trug er die hohe spitze Platinkrone, die ihm Awia bei der Gründung des ersten Kreises zum Geschenk gemacht hatte. Normalerweise trug San überhaupt keine Krone. Wir ließen uns in einer der vorderen Bankreihen nieder, weil sie dem Sonnenthron am nächsten standen und ich hören wollte, was Zaunkönig zu sagen hatte. Auf dieser Seite der Abschirmung stiegen die einander gegenüberliegenden Bankreihen leicht an, wie in einem Hörsaal. Ich beobachtete schweigend, wie die anderen Eszai hereinkamen und die Reihen nach und nach füllten. Die meisten Frauen ließen den Blick auf Blitz ruhen, einige aber auch auf mir. Ich bezweifle, dass ich bei Hofe eine gute Figur ab34 gebe, da die Mode, bleich und zerzaust auszusehen, längst von gestern ist, aber der Eindruck, den ich auf sie mache, lässt sich nach wie vor nicht leugnen. Ich kommandiere vielleicht nicht auf dem Schlachtfeld, aber ich kann dem Ergebnis die bestmögliche Wendung geben. Auch bin ich vielleicht kein leidenschaftlicher Jäger, kann aber dafür die Wochenendausgabe einer Zeitung komplett ausweiden. Beim Sparring sind mir Worte lieber als Schwerter, und ich setze gewöhnlich einen Schuss eher mit der Spritze, als dass ich einen Pfeil abschieße, doch davon bin ich jetzt völlig frei. Zaunkönig trat am anderen Ende des Thronsaals ein, eine winzige Gestalt unter dem riesigen Rosettenfenster. Symbolisch war es wichtig, dass er allein eintrat. Nervös sah er sich um und machte einen Satz, als sich die Türen hinter ihm mit einem mächtigen Knall schlössen. Dann setzte er sich steifbeinig in Bewegung. Offensichtlich schmerzten ihn sämtliche Knochen. Er schritt über den ganzen langen, scharlachroten Teppich, der weitaus erschreckender war als jede Kampfarena, auf uns zu. Die Bogenschützen des herrschaftlichen Heerbanns auf der Galerie mit ihren Langbögen beobachteten ihn genau. »Das ist der neue Fechter«, flüsterte ich Nachtigall zu. »Diese Prüfung wird für ihn schlimmer sein als das Duell.« Meine Einführung war eine entsetzliche Strapaze gewesen. »Bevor das hier vorbei ist, wird er sich vielleicht heftig wünschen, da draußen gestorben zu sein.« Sie beugte sich vor, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. »Hängt davon ab, wie viel er zu verbergen hat.« Zaunkönig schritt langsam an uns vorüber, damit sämtliche neugierigen Augen der Eszai genügend Zeit hatten, ihn in sich aufzunehmen. Sein kurzes Haar war nass vom Bad oder Dampfbad. Seine Kleidung war sauber, aber nach wie vor von einem matten Blau und mit Löchern im Ärmel, wo
35 früher das Abzeichen seines Heerbanns gesessen hatte. Er sah weder nach links noch nach rechts, nur geradeaus auf den Thron des Imperators - obwohl natürlich nicht auf den Imperator selbst. Als er die unterste Stufe der Plattform erreicht hatte, kniete er nieder. »Mein Herr und Imperator«, setzte er an. Die Stimme versagte ihm. Er setzte erneut an: »In aller Bescheidenheit bitte ich darum, in den Kreis aufgenommen zu werden, und ich beanspruche den Titel eines Serein für mich, da ich Gio Ami Serein bei einer fairen Herausforderung besiegt habe.« Einen Moment lang überlegte er, den Blick abgewandt wie ein Schauspieler, der sich an seinen Text zu erinnern versuchte -aber auch, weil er dann nicht San ansehen musste. »Ich beabsichtige, jede Minute meines Lebens Euch und Vierlanden zu dienen.« San betrachtete schweigend Zaunkönig und die Mitglieder des Kreises. Selbst auf diese Entfernung spürte ich die Schärfe seines unglaublich klaren und intelligenten Blicks. San trug stets Weiß - einen Wappenrock mit Einsatzstreifen aus farblosen Juwelen über einer einfachen Robe, die bis zum Boden reichte. Der Stil von Sans Kleidung war seit dem Jahr der Gründung des ersten Kreises derselbe geblieben, vierhundert Jahre nach dem Weggang Gottes. Sie bedeckte seinen gesamten Körper, abgesehen von seinen schmalen ringlosen Händen. Der Sonnenthron war ebenfalls ein Symbol der Dauerhaftigkeit geblieben. Ein uraltes Breitschwert und ein Rundschild hingen auf seiner Rückseite - eine beständige Erinnerung daran, dass San, sollten wir Eszai am Ende bei Vierlandens Kampf gegen die Insekten versagen, erneut eigenhändig die Schlacht lenken würde. In den Ställen des Schlosses stand stets ein Streitross für ihn bereit. Niemals war es geritten, niemals benutzt worden. 36 San erhob sich und schritt zum Rand des Podiums. »Du hast dich für den Kreis erwählt. Du hast bescheiden deine Talente der Welt zur Verfügung gestellt. Ich danke dir. Jeder erfolgreiche Herausforderer muss eine letzte Vorschrift erfüllen, um unsterblich zu werden. Du musst mir alles von deinem bisherigen Leben berichten! Erzähle alles, was du für bedeutsam hältst, von deinen frühesten Erinnerungen an bis zu den Ereignissen, die dich hierher geführt haben. Du wirst nicht lügen. Mein Kreis wird dein Zeugnis anhören, aber er wird dich weder unterbrechen noch ein Urteil fällen. Nichts, was du enthüllst, wird je wiedererzählt werden. Nur eine Weigerung zu sprechen wird deinen Eintritt in den Kreis gefährden, nichts jedoch von dem, was du sagst. Du hast bereits gewonnen. Die Zeremonie geht anschließend mit deinem Empfang weiter: Eine Stunde lang dürfen die anderen Mitglieder deines Kreises dich nach Belieben befragen. Du wirst stets wahrheitsgemäß Antwort geben; sie werden dich weder kritisieren noch verdammen. Ihnen ist nicht gestattet, zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort deine Worte zu wiederholen. Wenn irgendeiner je enthüllt, was er oder sie erfährt, wird er oder sie aus dem Kreis ausgestoßen. Während der darauf folgenden Stunde kannst du die anderen Unsterblichen über sich selbst befragen. Sie sind gleichermaßen dazu angehalten, die Wahrheit zu sprechen, und du darfst nie enthüllen, was sie dir sagen.« Es ist die einzige Chance, die du je dazu haben wirst, fügte ich im Stillen hinzu. San schien voller Erwartung. Zaunkönig litt in dem eindringlichen Schweigen und setzte also zögernd an: »Mein Name ist Zaunkönig Wolke. Ich bin ... ich stamme aus dem Ort Landhäuschen in Sommertag. Insekten töteten meine Mutter, als ich ein kleiner Junge war, und mein Vater hat mich 37 großgezogen. Er war ein Soldat des Heerbanns, der für seine Dienste Land erhalten hatte, und er hat mich das Fechten gelehrt ... Mit fünfzehn habe ich ihn weit übertroffen ... Aber er hat voller Stolz Duelle mit den anderen Männern der Stadt organisiert. Von ihnen habe ich gelernt, und bald habe ich immer gesiegt. Also keimte in mir vage der Traum, es mit dem Kreis zu versuchen. Im folgenden Jahr focht ein zum Straßenräuber gewordener Soldat ein Duell mit meinem Vater aus, der seine Identität kannte. Der Räuber erwartete ihn an der Straße, auf dem Rückweg vom Pub. Mein Vater kehrte nie nach Hause zurück. Ich suchte nach ihm - unermüdlich. Erst drei Tage später spülte der Fluss seinen zerfetzten und schmutzigen Leichnam an das sandige Ufer unmittelbar vor dem Haus der Gouverneurin. Er war so übel zugerichtet, dass wir nicht sagen konnten, wie er gestorben war. Ich lieh mir reiche Gewänder, um mich zu verkleiden, und suchte nach dem Straßenräuber. Ich ritt die Straße von Unterland auf und nieder, bis er sich mir entgegenstellte. Innerhalb einer Minute hatte ich das Schwein entwaffnet, und er kniete vor mir nieder und bettelte um Gnade. Bevor ich ihn dem Magistrat übergab - er wurde gehängt -, schnitt ich ... schnitt ich ihm ... schnitt ich ihn Stück für Stück auseinander. Bis er mir sagte, was er meinem armen Vater angetan hatte. In der ersten Nacht vergrub er den Leichnam in den Wäldern draußen vor der Stadt. Er konnte bloß eine flache Grube auskratzen, weil drei Baumwurzeln in der Erde ein tieferes Graben verhinderten. Am folgenden Tag sorgte er sich, dass ein zufälliger Passant vielleicht das Grab finden und sein Verbrechen ans Licht bringen würde. Also grub er in der zweiten Nacht bei rauem Wetter den Leichnam aus, trug ihn zum Spiegellandmoor und vergrub ihn erneut, diesmal in einem 38 tiefen Loch. Dann jedoch quälte ihn die Vorstellung, dass der Torf des Moorlands die Leiche auf immer konservieren und das aufgewühlte Gras das Grab entdecken würde. Also grub er ihn in der folgenden Nacht wiederum aus. Anschließend warf er die Leiche von der Spitze eines felsigen Auswuchses in den Fluss. Der
Fluss brachte die zerschlagenen Überreste direkt zur Tür von Gouverneurin Buchfink... Es tut mir leid, was ich dem Straßenräuber angetan habe ...« San bemerkte nichts dazu, also fuhr Zaunkönig fort: »Wie dem auch sei ... als ich wusste, dass ich allein war, entschloss ich mich zu einer Reise nach Süden. Wenn ich in Sommertag geblieben wäre, wäre ich jetzt immer noch dort und hätte nach und nach alles vergessen, wovon ich je geträumt hatte. Ich ging zu Tangare und trat den Reihen des Eliteheerbanns bei. Ich half, die Insekten aus Rachiswasser und dem Land um den Oszen zu vertreiben. Ich bin stolz darauf, sagen zu dürfen, dass ich mich gut hielt, und als Skua fiel, machte man mich zum Divisionskommandanten. Dann erkannte ich jedoch, dass die Zukunft, die mir bevorstand, immer dieselbe wäre. Ich steckte fest. Ich sparrte mit allen und jedem. Ich verprügelte die Mitglieder der Oberschicht nach Strich und Faden, aber sie kehrten stets zurück und wollten weitere Duelle, weil sie nicht glauben konnten, dass sie den Sohn eines Kleinbauern nicht besiegen könnten. Am Ende schlug ich sie alle. Na ja, ich verärgerte sie ... Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, oder? Ich habe etwas getan, das sie nie tun konnten. Meine Träume vom Kreis kehrten zurück. Gott sei Dank zählt für das Schloss mein Geschick mehr als mein Hintergrund, überlegte ich mir; es gibt einen Ausweg aus diesem Zirkus. Fünf geschlagene Jahre lang verbrachte ich meine gesamte Freizeit mit Üben. Ich war voller Zweifel und Hoffnung. Ich hielt mich für leichtgläubig und einen Trottel, weil 39 ich in Betracht zog, gegen den Fechter anzutreten. Jahrelang nährte ich diese Idee und tat nichts zu ihrer Umsetzung, dann schickte ich ihm eines Nachts, aus einem wahnsinnigen Impuls heraus, einen Brief. Er wählte für den Kampf Rapier und Dolch, meine starke Seite ... Oh ...« Zaunkönigs Rede füllte die Halle, und es kam ihm so vor, als ob seine Stimme ewig weitertönen wollte. »Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt«, flüsterte er und sah auf seine Handrücken. Er geriet ins Stottern und schwieg. Ihm ging auf, dass er in wenigen Minuten auf immer fünfundzwanzig sein und dass sich sein Erscheinungsbild nie mehr ändern würde. »Beantworte meine Fragen!«, sagte der Imperator. »Hast du je allein gegen Insekten gekämpft?« »Ja, Herr. Ich habe einmal Insekten im Amphitheater von Rachiswasser getötet und ein paar gejagt, die ich vor der Stadt herumschleichen sah.« »Hast du jemals Furcht verspürt?« Zaunkönig zögerte und überlegte, was wohl die beste Antwort wäre. Mir war dieser Zweifel gut vertraut; während meiner Einführung hatte ich dem ganzen Kreis sämtliche Arten von Verbrechen beichten müssen. Ich erkannte an der Panik, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, dass wir bedrohlicher wirkten und die Tür des Thronsaals sehr verlockend erschien. Fast glaubte ich, er würde die Beine in die Hand nehmen und hinrennen. »Ja ...«, erwiderte er schließlich. »Ich habe nie so viel Angst gehabt wie gerade jetzt. Aber ich bezwinge meine Furcht.« »Hast du eine Partnerin, die du in den Kreis mitbringen willst?«, fragte San. Zaunkönig schüttelte den Kopf. Er versuchte, seine Erschöpfung mit Zuversicht zu überspielen, aber man konnte sie nach wie vor wie die Form von Flügeln unter Samt erken40 nen. »Freundinnen habe ich in meinem Leben keinen Platz eingeräumt.« Wenn der Blick des Imperators auf einem liegt, ist eine Lüge so gut wie unmöglich; ebenso unmöglich ist es, etwas zu verbergen. Zaunkönig drehte und wand sich und starrte den Fußboden an. »Ich soll es Euch sagen? Ich habe stattdessen meine Nächte in den Hurenhäusern verbracht. Na ja, ist einfacher. Ich habe diese Herausforderung seit Jahren geplant; ich konnte mir die Zeit für eine Beziehung einfach nicht leisten.« Insgeheim erinnerten wir uns alle daran, wie schrecklich es ist, in jenem weiten Raum allein zu sprechen, und wir empfanden Mitleid. Ich hatte der Zeremonie zuvor dreimal als Eszai beigewohnt, zunächst bei Nachtigalls Beitritt anlässlich meiner Hochzeit, und erst vor kurzem, als Ata Dei zum Raa ernannt worden war. Ich warf Raa einen Blick zu; sie wirkte nervös. Wahrscheinlich erinnerte sie sich daran, wie sie während ihrer Einführung versucht hatte zu lügen, sich jedoch stattdessen bei der Beichte ertappt hatte, dass sie ihren Gatten ermordet hatte, um seinen Platz im Kreis einzunehmen. »Du schwörst, mir zu dienen«, stellte San fest, »und in meinen Diensten Vierlanden, im Namen Gottes, so lange ich dir das Leben verleihe.« »Ich schwöre es«, sagte Zaunkönig energisch. Der Imperator hob die rechte Hand mit den knochigen Fingern und den hervorstehenden Gelenken. »Tritt vor!« Zaunkönig stieg die Stufen zum Podest hinauf und dachte daran, wie groß die Veränderung wäre, die nun stattfände. Ich hörte ihn praktisch denken: Das ist es! Er wappnete sich für die Unsterblichkeit, als würde sie brennend durch ihn hindurchfahren. So ist es ganz und gar nicht. Sie tut nicht weh. Als sie mir widerfuhr, spürte ich praktisch gar nichts. Der Imperator streckte Zaunkönig die Hand entgegen, der 41 sie ergriff und sich eine Sekunde lang an die Lippen drückte. Der Kreis vereinnahmte ihn. Schließlich schaute Zaunkönig dem Imperator in die Augen. »Jetzt bist du der Fechter!«, verkündete San. »Dein Name ist Serein.« Langsam breitete sich auf Sereins Gesicht ein Lächeln aus. Schweigend fiel er zu Sans Füßen auf die Knie.
Dann, als ob er eine solche Nähe zum Imperator nicht ertrüge und er begriffen hätte, dass das Ritual vorüber war, wich Serein lautlos vor dem Podest zurück, drehte sich um und schritt an den Bankreihen vorüber. Wir alle erhoben uns. Blitz und Rehgen warfen einander einen Blick zu; sie hatten die Wellenbewegung im Kreis gespürt, als San den Tausch vollzogen hatte: einer hinaus, einer hinein. Nach dem Übergang würden sie Zaunkönigs Gegenwart spüren, die sich leicht von der Gios unterschiede. Es war, als hätte eine neue Person einen bevölkerten Raum betreten. Serein schritt das Schiff hinab, wobei er zu schrumpfen schien, und verließ den Thronsaal allein. Draußen würde Blitz zu ihm treten; er betrachtete sich dafür verantwortlich, die neuen Unsterblichen zu begrüßen und ihnen einige sehr wohl benötigte Ratschläge zu erteilen. Einer nach dem anderen verneigten wir uns vor dem Imperator, der stets als Letzter den Hof verließ, und folgten Serein. Als ich durch die Tür ging, holte ich zwei Hände voller Konfetti und Glitzerkram aus den Taschen und warf sie uns über die Köpfe Das Gemurmel von einhundert Gesprächen stand in der Luft der großen Halle. Ich wollte zu meinem Dachbalken hinauf, wo ich gewöhnlich sitze, die Beine baumeln lasse und die Party beobachte. Aber das konnte ich nicht, solange ich den Arm um Nachtigall liegen hatte. Ich führte sie durch ein Dutzend Gespräche. 42 »Ist er schon hier? Ich möchte den Jungen sehen. Ich möchte ihm Fragen stellen ...« »Er ist fünfundzwanzig, meine Güte! Wie selten ist man als so junger Mensch schon so geschickt!« »Probier mal das geräucherte Wildbret, es ist ausgezeichnet.« »Eleonora? Damit beschäftigt, ihr Königreich wieder auf Trab zu bringen. Sie ist gut, bei Gott. Ich höre nur Lob.« »Aber bei Hofe jagt ein Skandal den nächsten. Was sie mit den Kammerzofen tut...« »Tür einen Eszai ist alles einfache Ha! Wie können sie das glauben?« »Sieh mal! Da ist Komet! Er ist zurück! Hais-gelet, Jant?« Der Imperator saß an der erhöhten Tafel auf einem Podium und rührte den Festschmaus vor sich nicht an. Nachtigall ließ ihren Rock ein wenig zur Musik schwingen - ein junger Bursche klimperte auf dem Piano, flinke Frauen in Jaspisrot spielten Reels auf der Fiddle. Konfetti auf dem Teppich, den Kandelabern; Leute lehnten auf den Eichenpaneelen, küssten sich unter den Bögen. Frost errichtete eine freitragende Brücke aus Gabeln und Salzstreuern. Rehgen und Hahgel spielten Schach mit Marzipanteilchen auf einem gewaltigen rosafarbenen und gelben Kuchen von der Form eines Schachbretts. Was gab es nicht alles an Platten, Gedecken und Schüsseln! Gezuckerte Mandeln, Zuckersterne, Würzweine, Eisweine, Quellwasser, Weizenbier und Sahnelikör. Flambierter Schwertfisch, der Länge nach auf silbernen Tabletts aufgeschnitten. Auf dem Tisch lagen Packungen mit Zigarillos aus Kobalt. Wildschweinpastete - eine Spezialität aus Kathee, geröstete Pilze, Gemüsezwiebeln, Safranreis aus Litanei, Steak, dass ei43 nem der Mund wässrig wurde. Gepfefferter Spargel und Grünkohl von den Feldern aus Schwingelgras; Kürbis, Tomaten, Bratkartoffeln platzten und weinten Butter. Käse aus Shivel, die aussahen wie zerbröckelnde Trommeln mit dicken blauen Adern. Obst: glasiert, kandiert, vergraben unter Sahne. Warme Brotlaibe, innen drin ganz weich und von betörendem Duft, Scheren von Hummern, eingelegt an der Küste von Wanderfalke, pochierter Hecht aus dem Fluss. Exotische Köstlichkeiten aus dem Norden wie gebeizte Felskaninchen aus Karniss, Aale aus Brandoch, Lachs aus Awendin und allerlei Meeresfrüchte. Weiter östlich in Awia waren die Gewürze wilder - Bockshornklee und Kurkuma-Dhal, feuchter Kuchen mit Muskatnuss und Zimtsultanat. Der beste Kaffee aus Glimmerwasser, erstklassige dicke, saftige Weintrauben, Oliven wie glitschige Juwelen, in Mehl gewälzte Chorizos im Netz, Artischocken, bei denen man Awianer sein musste, um sie voll würdigen zu können, Pizza, Prosciutto, Ciabatta und noch mehr Oliven. Knusprige Ente aus Tangare, alle Arten kleiner Vögel, Lerchen in Blätterteig, Alsterpastete, Weidenlaubstummer und Stare, auf Leimruten gefangen und am Spieß zubereitet, weil Awianer Falknerei für eine Beleidigung halten. Pfauen lagen mit erhobenem Kopf da. In ihrer falschen Haut und ihren falschen Schwänzen strahlten sie Arroganz aus. Knusprig gebratene Mastschweine mit aufgepropften Flügeln und amüsiertem Gesichtsausdruck. Trappen, gestopft mit Truthahn, gestopft mit Fasan, gestopft mit Rebhuhn, gestopft mit Wachteln, gestopft mit Kastanie - bei einem Schnitt hinein entdeckte man Schichten von Fleisch wie Baumringe, und es war mehr, als ich verkraften konnte. Ein Schwan, überzogen mit metallisch-silbrigem Zuckerguss, glitt die erhöhte Speisetafel entlang. Der Imperator ließ ihn völlig unbeachtet. Essen, essen, essen. Unsterblichkeit in der Gefräßigkeit. 44 pass auf, dass du nicht auf der Marzipantorte schachmatt gesetzt wirst! Blitz sah uns und bemerkte etwas zu Serein, der gerade Bratenscheiben und Soße mit Früchten aus einer Holzschüssel aß. Er hatte eine breite Brust und sehr ausgeprägte Armmuskeln und war ziemlich angespannt, weil er in der Woge merkwürdiger Dinge und ausdrucksvoller Menschen nicht untergehen wollte. Sereins Übungskalender hatte ihn nicht auf die Folgen des Duells vorbereitet - er war Zentrum der Aufmerksamkeit, fühlte sich jedoch nach wie vor allein. Mochte er sich jetzt zurück nach Sommertag sehnen, so wäre ihm noch viel schlimmer zu Mute, wenn er einmal verantwortlicher Befehlshaber auf dem Schlachtfeld wäre.
Abgesehen von seinen Fähigkeiten im Bogenschießen hatte Blitz viele gesellschaftliche Talente kultiviert. Es hieß, dass eine Frau, wenn er sich in einem Gebäude aufhielte, niemals selbst eine Tür zu öffnen hätte. Er war elegant gekleidet mit seiner schwarzen Krawatte und einem bestickten blassgrünen Seidenhemd mit Schlitzen, aus dessen Rücken die Flügel ragten. Einige Leute behaupten, dass Flügel über die Jahrtausende hinweg kleiner geworden seien, weil sie nutzlos seien und weil Awianer, insbesondere Nicht-Aristokraten, sich mit Menschen vermischten. Wie dem auch sein mochte, so waren Blitz' Flügel eindeutig größer als die von Zaunkönig. »Serein Zaunkönig«, sagte Blitz, »darf ich dich unserem Kurier und Madame Nachtigall vorstellen? Komet kann fliegen; ich glaube, er nimmt deswegen die Dinge zu leicht. Er wird unsere Briefe überall nach Vierlanden bringen und dir helfen, wenn du Übersetzungen benötigst, also zögere nicht, ihn darum zu bitten.« Der Junge von der Grenze verneigte sich, schob seinen Schwertgurt mit der linken Hand zurück und starrte mich an. 45 Die üblichen argwöhnischen Blicke ließ ich mir gefallen. Die Menschen bemerken die Feinheiten nicht auf Anhieb, aber sie halten meine Proportionen für nicht so recht stimmig, sie finden die langen Beine unpassend. Ich schüttelte ihm die Hand. »Ich bin beeindruckt - so zu kämpfen, das kann einen niemand lehren.« »Komet Jant Shira. Madame Nachtigall. Es ist eine Ehre, Euch kennen zu lernen«, sagte er und erweckte den Eindruck, als würde er jedes Wort auch so meinen, wie er es sagte. Er hatte die Augen so weit aufgerissen, dass ich das Weiße um die Iris erkennen konnte. Er war völlig angespannt. Seine Angst und Besorgnis bestanden darin, keinen Fuß in die enge Sphäre der Etikette setzen zu können, ohne etwas Entsetzliches zu sagen oder zu tun und somit seinen hart errungenen Platz im Kreis wieder zu verlieren und nie den Grund hierfür zu erfahren. Natürlich war seine Angst unbegründet, weil ihn nur ein anderer Herausforderer ersetzen könnte, aber er wirkte unter seinem selbst auferlegten Verhalten fast wie erstarrt. Ein Diener kam mit einem Tablett voller Champagnergläser vorüber. Ich nahm es ihm ab und hielt es auf einer Hand Serein hin. »Hier, trink etwas!« Unbehaglich lehnte er ab. »Nimm schon!«, ermutigte ihn Nachtigall. »Ich trinke nicht«, entgegnete er errötend. »Nein, wirklich nicht? Gerade in dieser Nacht!« Ich schob ihm das Tablett entgegen. »Ein Glas Champagner zum Feiern?« »Tut mir leid, nein, Shira - ich bin nicht daran gewöhnt. Wenn ich jetzt ein Glas trinke, könnte ich nicht um sechs zum Üben aufstehen.« Wer täte das denn auch, nach so einem Duell? »Schlafe bis zum Mittag«, forderte ich ihn auf. »Dein erster Tag als Eszai. 46 Das habe ich getan: Ich habe überall Champagner verschüttet; ich mag es, bis auf die Haut davon durchnässt zu sein.« Blitz genoss die Szene. »Der Schwertkämpfer trinkt keinen Alkohol, also lass ihn in Ruhe!« »Shira, wenn ich einen Fehler begehe und meinen Vorsprung verliere, wird mich ein Herausforderer besiegen.« Jedes Mal, wenn er das Wort »Shira« aussprach, biss ich die Zähne zusammen, und allmählich taten sie weh. »Nenn mich Jant!«, sagte ich zu ihm. »Der Name Shira besagt, dass ich in Wahrheit der niederen Kaste der Rhydanner angehöre. Er bedeutet >unehelich geboren< - besser kann ich es nicht übersetzen.« Na ja, eigentlich kann ich's schon, weil er nämlich »Bastard« bedeutet, aber ich will ihn nicht auf dumme Gedanken bringen. Da hatte Zaunkönig bereits einen Fauxpas begangen! Entsetzen und Verlegenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben; er war sich einer jeden Regung mehr als bewusst. »Entschuldigt, bitte.« »Schon gut.« Ich wedelte mit der Hand. Ich befleißige mich einer ausdrucksvollen Körpersprache, um die Schwierigkeiten zu kompensieren, die die meisten Menschen dabei haben, den Ausdruck meiner Katzenaugen zu lesen. Zaunkönig scharrte mit den Füßen, als würden sie zu viel Platz auf dem Teppich beanspruchen. Ich wollte ihm sagen, dass ich verstünde, wie beängstigend das alles sei. Er solle jedoch guten Mutes sein, er würde sich am folgenden Tag nicht auf der Straße wieder finden. Er wäre immer noch hier, unsterblich, und würde wie ein Narr seine Handrücken anstarren. Verzweifelt suchte er nach etwas, das er sagen könnte. Jedes Wort tönte laut und bedeutungsschwer in seinen Ohren; er wählte sie sorgfältig, da er wusste, dass sie sich auf immer und ewig in seinem Gedächtnis einprägen würden. Ich erinnere 47 mich, wie es war, als ich in seiner Position gewesen war, an meine eigene Wahrnehmung, von Eszai umgeben zu sein -von jedem Einzelnen hatte ich schon gehört, entweder aus Erzählungen oder durch Denkmäler für ihr Werk. Alle waren hier, an einem Ort versammelt, und sie sprachen miteinander! Ich war für sie etwas völlig Neues gewesen. Ich hatte den Versuch unternommen, sie alle in einer Nacht kennen zu lernen, aber der Eszai, mit dem ich am dringendsten hatte sprechen wollen, war der Komet gewesen, den ich verdrängt hatte. Ich hatte Rehgen praktisch an einer Säule festgenagelt und aufgeregt über Chemie und die letzten Forschungsergebnisse über das Verhalten der Insekten geplappert. Ich hatte ihr viel zu viel über meine Vergangenheit erzählt, ohne zu
begreifen, dass sie begriffen hatte und dass ich sie durch die Beschreibung der Slums von Hacilith allzu sehr an ihre eigenen Slums erinnerte. Ich konnte Zaunkönig einen Rat anbieten, und er würde dem Schloss vielleicht etwas Neues und Interessantes liefern. Mir ging allmählich auf, weshalb Blitz Neuankömmlinge so rasch unter seine Fittiche nahm. »Serein«, sagte ich, »ist dein Künstlername; du wirst dankbar darum sein. Du kannst Serein zu jeder beliebigen Person machen, während Zaunkönig, dein wahres Selbst, in Sicherheit ist.« Serein warf einen Blick zur Halle hinüber, und plötzlich stand ihm angesichts einer Schar schnatternder Schönheiten der Mund offen. Sie sahen, dass er sie beobachtete, und winkten mit ihren Fächern, stellten sich zur Schau. Es waren Sterbliche - Zaskai -, nur flüchtige Namen; sie standen lächelnd am Rand und wollten unbedingt mitten hineingezogen werden. Nachtigall beäugte sie mit eisigem Blick. »Das ist erst der Anfang. Beim nächsten Mal, wenn es sich richtig herumgesprochen hat, werden sie m Scharen kommen.« »Sieh mal«, meinte Blitz drängend. »Hüte dich vor diesen Damen! Du musst lernen, sie abblitzen zu lassen.« 48 »Amüsiere dich«, meinte ich unbestimmt. Er konnte sich jede Nacht eine andere Mitgiftjägerin aussuchen; Huren hatte er nicht nötig. Nachtigall schnaubte. »Verführung ist ihr Beruf, Zaunkönig«, warnte sie. »Sie haben sie studiert. Wenn du ihnen die Gelegenheit dazu bietest, werden sie dich bei lebendigem Leib auffressen. Sie werden alles versuchen, in den Kreis einzuheiraten.« »Sie wollen bloß Unsterblichkeit«, fügte Blitz hinzu. »Heirate nicht die Erstbeste, der du über den Weg läufst, weil sie Interesse an dir zeigt. Du solltest auf die warten, die dich um deiner selbst willen liebt.« Die älteste der jungen Frauen war etwa zwanzig, und sie hatte ein verruchtes Aussehen, das kein Make-up übertünchen konnte. Versessen wartete sie auf die Gelegenheit, sich von ihren Rivalinnen zu lösen und sich allein auf Zaunkönig zu stürzen; eine soziale Aufsteigerin, die danach gierte, Flecken auf seinem Charakter zu finden und als Angriffspunkte zu nutzen. Eine erfahrene Verführerin, gut genug für eine Eszai, wenn es einen Platz im Kreis für Verführerinnen gegeben hätte. Sie hatte früh angefangen und war schon als Jugendliche zur Expertin geworden. Na ja, eine solche Hingabe war notwendig, um den ultimativen Preis zu erringen. Nachtigall drohte dem Schwertkämpfer mit dem Zeigefinger. »Um Gottes willen, erzähle ihnen nichts! Du wirst es in den kommenden sechs Monaten in sämtlichen Klatschkolumnen lesen können.« Sie lächelte, und ich zog sie näher zu mir. Instinktiv wusste sie mit jedem zu flirten. Hat man eine Ehefrau als Trophäe errungen, so besteht das Problem darin, die Trophäe immer wieder zu erringen. »Da ist Tornado«, meinte Blitz. »Zaunkönig, ich möchte dich gern dem Kraftmenschen des Kreises vorstellen!« Zaunkönig entdeckte, dass er geschickt zwischen den Tänzern hin49 durchgetrieben wurde, die sich umdrehten und jeden seiner Schritte mit dem Blick verfolgten, so dass er stets das Zentrum eines Kreises aus Menschen war, die nur aus Lächeln bestanden und zumeist ein wenig größer als er waren. »Dieser Goldjunge wird entdecken, dass man ihm die Suppe versalzen hat, wenn er nicht aufpasst«, brummte ich. Nachtigall kicherte und knickste. »Darf ich um diesen Tanz bitten?« Wir tanzten. Sie hatte ihre Hand auf das Kammgarn an meinem Oberarm gelegt. Meine Hand lag unterhalb ihres Schulterblatts auf der seidenen Corsage, die ihren Oberkörper wie ein Lampenschirm umhüllte. Die Spitzenaufschläge meines Hemds verbargen meine fingerlosen Handschuhe. Sie folgte mir im Gleichschritt wie ein forsches Spiegelbild. Wir hatten das geübt; wir fühlten uns gut. Ich fühlte mich großartig, denn nur Nachtigall kann mit mir Schritt halten, wenn ich so schnell dahingleite. Und unter ihren ganzen Kleidern ist sie nackt. Sie war bereits völlig benommen, weil sich der Raum so rasch um uns drehte. All diese Gesichter. Unsere Leiber, eng beieinander, Schultern auf Abstand; meine Hüften rieben knapp über ihrer Taille. »Ich führe, du kannst dich drehen!« »Einfach!« Ihr Rock wirbelte herum; sie lachte. Die Musik hörte auf; Nachtigall beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie, so dass die Gefahr bestand, dass etwas aus dem Ausschnitt rutschte. »Oh, Jant«, sagte sie atemlos mit ihrer sinnlichen Stimme. Ich rieb meine Wange an ihrer und küsste sie auf die Augenlider, küsste ihre Lippen ... Wir knutschten immer noch, als Raa Ata auftauchte und kurz und knapp nickte. Sie trug eine Kerze in einem Halter, und ihre Stirn war voller Sorge gefurcht. »Jant, komm mit!« »Später, Raa«, murmelte ich. 50 »Das kann nicht mehr warten.« Ich löste mich von Nachtigall und legte ihr einen Finger auf die Nase. »Bald!«, versprach ich. »Bald«, wiederholte sie wie aus weiter Ferne. Ich folgte der Seefahrerin. »Du warst so tapfer, San um einen Urlaub zu bitten«, sagte sie. »Vergiss nicht, dass du Ferien allerdings nötig hattest.« »Ich habe meine Flugfähigkeit verbessert. Und abgesehen davon geht sonst niemand in die Dunkelberge, also bringe ich Neuigkeiten für den Imperator.«
»Ja, schon gut. Was für ein Glück! Ich hatte seit fünfhundert Jahren keinen Urlaub mehr.« Am stillen Ende der Halle erwartete uns Blitz mit verschränkten Armen an der Tür zur Camera obscura. Raa bat uns hinein. »Oh, du hast also ein Versteck gefunden, um Zaunkönigs Fragen zu entgehen?«, fragte ich. »Jant«, gab Raa zurück, »du kennst nicht mal den Typ des Grunds, weshalb du hier bist.« Die Camera obscura war ein winziger, schwarz gestrichener Raum mit einem ebenfalls winzigen Loch in der Tür, das ein kreisrundes Abbild der Halle auf die gegenüberliegende Wand warf. Die ganze Party stand dort köpf- kleine, detailgetreue Gestalten huschten über den hellen Schirm. Ich sah ihn mir genau an. Es zeigten sich lediglich das winzige Klavier und die kopfstehenden Musiker. Zwergenhafte Menschen tanzten einen Walzer an einem Abschnitt des langen, aufgebockten Tischs entlang. Ein verschwommener Diener trottete mit einem Blackjack, einem ledernen Trinkkrug, hinter ihnen her. Ich kniff die Augen zusammen und sah den Imperator unter dem Sonnenbanner in der Mitte sitzen. Dann entdeckte ich Nachtigall; sie unterhielt sich lebhaft mit jemandem, dessen Abbild auf den Bildschirm trat. Ich verrenk51 te mir fast den Hals, um die Person richtig zu erkennen. Es war Tornado, ein nicht zu übersehender Riese von Mann. Nachtigall legte ihm die Hände auf die Brust. Er beugte sich zu ihr hinab, sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. Seine Hände legten sich um ihre Hüften, er zog sie zu sich, für meinen Geschmack viel zu nah, und gemeinsam tanzten sie am Rand der Projektion davon. Oh nein! Ich wollte schnurstracks zu Nachtigall laufen, aber Raa versperrte den Eingang und stellte ihre Kerze auf den Boden. Ihr Schatten verbarg den Schirm. »Können wir das hier rasch hinter uns bringen?«, fragte ich gereizt. Ich reckte den Hals und sah die Gestalten jetzt auf Raas Bluse und Gesicht. Meine Frau tanzte da draußen mit einem Mann, der in einem Bizeps genügend Muskeln für drei Krieger hatte. »Zumindest ein gemütlicheres Versteck für deine Verschwörungen aufsuchen«, bemerkte Blitz. »Jant«, sagte Raa, »was würdest du sagen, wenn es ein Land weit draußen im Ozean gäbe, von dem der Imperator nichts weiß?« »Ich würde sagen, wenn du eine philosophische Debatte in einem stickigen Schrank führen möchtest, kannst du einen anderen Eszai fragen. Es ist nicht mein Ding, mir eine Party entgehen zu lassen. Insbesondere keine wichtige Party.« Raa wühlte in ihrer Schultertasche und förderte ein dickes Buch, dessen Seiten zerknittert waren, zutage. Ihre Hände waren vom Leben als Milchmädchen und Zuträgerin für den Fleischer auf der Grasinsel ganz rau geworden. Damals hatte sie ihr Schiffchen jeden Tag hinübergerudert, um den Insulanern Fleischscheiben zu liefern, und den Seeleuten, die hinter ihr herpfiffen, schnippische Antworten gegeben. Sie reichte mir das Buch. »Das ist das Logbuch der Sturmschwalbe. Nach einer Fahrt von drei Monaten auf südöstli52 chem Kurs vom Hafen von Awendin habe ich eine Insel mit Namen Tris entdeckt.« »Wo?«, fragte ich. »Drei Monate? Nein, das ist unmöglich; nichts ist so weit weg.« Ich warf Blitz einen Blick zu. »Du bist sehr still gewesen.« »Ich werde nicht mit dir fahren, Ata«, sagte er. »Fahren? Wohin?«, rief ich aus. »Der Imperator verlangt«, erwiderte Raa, »dass du mit Blitz und mir zu der Insel Tris fährst.« »Nein! ... Jetzt mach mal ein bisschen halblang, das ist viel zu verdauen. San weiß von dieser Insel?« »Ja. Ich bin letzten Monat unauffällig von meiner Fahrt zurückgekehrt, obwohl ich lieber im Triumph in den Hafen gesegelt wäre. Ich habe San alles berichtet, und er hat eine zweite Expedition angeordnet, an der ihr beide teilnehmen müsst.« »Aber ... ich glaube dir nicht. Meine Pflichten liegen hier; ich habe in Waffenschmiede viel, viel Arbeit zu erledigen. Du wirst auf einer Karavelle keinen Kurier brauchen; ja, ich könnte dir mehr von Nutzen sein, wenn ich hier tätig wäre. Ich ...« »Du verabscheust Schiffe. Das wissen wir. Gründlich.« »Schiffe sind in Ordnung, solange ich nicht an Bord sein muss.« Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick auf eine Projektion: Zahllose Eszai stellten am langen Tisch Zaunkönig Fragen, aber Nachtigall konnte ich nicht entdecken. Ich war mir sicher, dass ich Zielscheibe eines Streichs werden sollte, und versuchte, den Eindruck zu erwecken, dass ich mich amüsierte. Ich wollte jedoch herausfinden, welche Blüten Raas Einfallsreichtum noch treiben könnte. »Und wie ist es so auf dieser Insel?« Raa reichte mir das Notizbuch. Es begann mit den Koordinaten der Küste von Awendin am Rand der Karte, von wo 53 aus sie in See gestochen war. Die Inschrift rund um eine skizzenhafte Karte war in ihrer runden, weiblichen Handschrift verfasst: »Die Insel, die von ihren Bewohnern Tris genannt wird«, las ich, und: »Die Stadt, vom Hafen aus gezeichnet. Die Einheimischen sagen >Kapharnaum<, das muss der Name der Stadt sein? Eine weitere Siedlung weiter südlich, Name unbekannt. Triangulierte Höhe des Bergs etwa 3000 Meter.«
»Einheimische?«, fragte ich. »Du meinst, die Insel ist bewohnt?« »Ju.« »Von wem? Prärieländern?« »Einige sind Menschen, einige sind geflügelte Menschen, die zusammen in der Stadt wohnen. So weit ich es erkennen konnte, ist sie nicht von Insekten heimgesucht.« Die Insel hatte grob die Form eines Insektenkopfs; rund, mit kurzen, schmalen Halbinseln. Raa hatte die Meeresarme und Landzungen in üblicher Präzision wiedergegeben. Zunächst ergoss sich ein Fluss von beträchtlicher Größe aus sanft ansteigendem Land, das sich dann zu einem gewaltigen Berggipfel hob. Es waren keine Einzelheiten notiert, und die Ostküste war lediglich eine gepunktete Linie. »So weit bin ich nicht gesegelt, das ist bloß eine Schätzung«, erklärte sie. »Ich war an den Einheimischen interessiert. Ihre Sprache habe ich nicht verstanden, und deswegen brauche ich dich, Jant. Ich habe ein paar Worte aufgeschrieben, siehst du?« »Kann ich mir die mal genauer ansehen?«, fragte ich begeistert. Bald würde ich erfahren, ob es ein Streich war oder nicht. »Genau das sollst du tun! Wenn dich das Wissen allein nicht zufrieden stellt, gibt's mehr als genügend Rum, um es damit hinunterzuspülen. Ihr Akzent hat mir einen ziemlichen Schock versetzt. Ich glaube, die Korsaren, die das Morendelta unsicher gemacht haben, als ich ein kleines Mädchen war, haben einige dieser Worte benutzt.« 54 Ich blätterte durch das Logbuch. Raas Einträge für jeden Tag waren kurz und knapp: »5. Juni. Zurückgelegte Entfernung: 240 Kilometer. 29° südl. Br., 129° öst. L. Frische Brise und wolkig, gute Sicht. Tiefe: 100 m, schwarzer Sand mit kleinen Muscheln. Eine Anzahl fliegender Fische verspeist.« »Fliegende Fische?« »Ja. Und ich habe eine Stelle gesehen, wo Muscheln auf Zweigen von Bäumen wachsen.« Ich zuckte die Achseln. Na ja, warum nicht? »Du hattest die Sturmschwalbe im Pirol stecken lassen.« »Ju. Frosts Gesellschaft hat sie gehoben. Ich habe das ganze letzte Jahr damit verbracht, sie wieder seetüchtig zu machen.« Blitz ergriff das Wort. »Es hat früher schon Forschungsexpeditionen gegeben. Sie haben nichts gefunden.« »Habicht, der Ozean ist gewaltig groß.« »Es ist unmöglich«, sagte ich schließlich. »Ich glaub's nicht.« »Wo zum Teufel soll ich dann in den vergangenen sechs Monaten gewesen sein?« »Hast dich bedeckt gehalten und bist darauf bedacht gewesen, nicht in eine peinliche Situation zu geraten.« Raa warf mir einen freimütigen Blick zu, ein sicheres Anzeichen dafür, dass ich ihr nicht trauen durfte. »Ich bin erst vor kurzem wieder Mitglied des Kreises geworden, und dieses Abenteuer wird denjenigen meinen Wert beweisen, die mich herausfordern oder gegen mich meutern wollen. Das ist nicht bloß ein weiteres Projekt der Grasinsel zum Auffinden von Sturmtauchers Schatz. Ich meine es ernst! Hier auf dem Festland ist für mich nichts weiter zu holen, nicht wahr, seitdem ich Wanderfalke verloren habe?« Blitz sah sie milde an, ohne etwas zu erwidern. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, da wir allmählich zu ersticken drohten, und gedämpfte Musik von der Party draußen sickerte 55 herein. Ich senkte meine Stimme. »Woher hast du gewusst, in welche Richtung du segeln musstest?« »Zufall«, entgegnete Raa. »Ja. Na ja, es gibt vielleicht viele ...« »Nein, gibt es nicht!« Blitz zeigte eine lautlose Wut. »Gott hat das Schloss zum Schutz der Welt gegründet. Wie können wir dann unseren Zweck erfüllen, wenn das Schloss nichts von dieser Insel weiß? Insekten könnten sie in großer Zahl überrennen, und wir wären um nichts schlauer.« »Es passt vielleicht nicht in deine Ideologie, aber an ihrem Vorhandensein lässt sich nicht rütteln.« Ich dachte, dass Vierlanden vielleicht nicht das einzige Land ist und dass wir vielleicht nicht die einzigen Wächter sind, die Gott zurückgelassen hat. Ich betrachtete mir den Maßstab. Sie war groß - vierhundert Kilometer im Umfang. »Sie ist überhaupt keine Insel wie die Grasinsel, eher ein großer Brocken von Dunkelbergen draußen im Ozean. Sag uns, was es in der Stadt zu sehen gibt!« »Weiß ich nicht. Ich habe die Sturmschwalbe nicht verlassen.« »Praktisch.« »Mehr als alles wollte ich an Land! Wir hatten Stürme mit zehn Meter hohen Wellen überstanden. Die Sturmvogel hatte die Hälfte ihrer Kalfaterung und Umkleidung verloren, weil die Schiffsbauer von Awendin so schlampig arbeiten. Du würdest nicht glauben, welchen Arger ich mit den Zünften hatte. Ihre Segel waren zerrissen, das Ruder war gesplittert. Die meisten meiner Männer waren krank, einige litten an Skorbut, und wir brauchten dringendst frisches Wasser. Ich nahm Vorräte von den Kanus der Einheimischen an Bord, aber ich ging nicht an Land, weil die Gouverneure der Stadt es mir nicht gestatteten. Sie haben viele Gouverneure.« »Was?« 56 »Es stimmt, sage ich dir! Die Leute kamen in großen Kanus heran und umringten uns. Ich habe sie gezeichnet, da.« Neben der Sturmschwalbe sahen die Kanus wie Spielzeugschiffe aus, wie Gänseküken neben ihrer Alten, und keines der Fahrzeuge zeigte irgendwelche Einzelheiten. Raa war eine lausige Künstlerin. Ich kauerte mich in dem engen Raum auf den Parkettboden zu Raas Füßen. Das Meer war nicht mein Element;
Schiffe verursachen mir eine Phobie, die ich nie so ganz loswerden kann. Meine Angst war durchaus begründet, denn sollte ich je zu schwimmen versuchen, würde das Gewicht meiner vollgesogenen Federn mich in die Tiefe ziehen. Zudem hatte ich den heimlichen Verdacht, dass alle sich einbringen wollten und dass unterschwelligen Lügen bereitwillig Glauben geschenkt wurde. »Ich werde nicht mitgehen. Ich bin vielleicht der einzige Eszai, der diese Sprache radebrechen kann, aber du kannst dir Sterbliche von der Universität holen, die vielleicht ebenso gut sind.« »Versteh mich nicht falsch; es ist kaum mein Wunsch, dich dabeizuhaben, Jant. Das Letzte, was ich benötige, ist totes Gewicht und geflügelten Ballast auf meinem Schiff. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Sache auf eigene Faust angehen! Aber San hat euch beide aus dem Kreis zu meiner Begleitung ausgewählt, und wir sind zum Gehorsam verpflichtet. Hier ist der schriftliche Befehl.« Sie reichte Blitz und mir kleine Umschläge mit den vertrauten karminroten Insignien. »Wenn du dagegen Einspruch einlegen willst, nur zu!«, ergänzte sie. »Ich werd's tun«, meinte Blitz grimmig. »Liebend gern würde ich sehen, was bei meinen Investitionen und deiner Vorgehensweise herauskommt. Liebend gern würde ich als Erster aus Vierlanden mit Tris Handel treiben, aber ich repariere gerade Glimmerwasser, und ich sollte vor Ort sein.« »Du hast es gewusst? Verdammt«, stöhnte ich. Allmählich 57 keimte in mir das Gefühl, dass die Verschwörung gegen mich gerichtet war. »Ja, obwohl es mir anders lieber gewesen wäre. Die Melowne, das Versorgungsschiff auf der Fahrt, gehört mir. Ich habe die Erlaubnis der Königin, es mitzuschicken, so dass die Mannschaft der Sturmschwalbe nicht wieder Hunger leiden wird. Und als Gegenleistung erhalte ich ein Viertel Anteil dessen, was wir an Handelsgütern zurückbringen. Was allerdings nicht bedeutet, dass ich die Expedition begleiten muss, Raa. Ich werde Fahrgast auf deinem Schiff sein, wenn der Imperator es so will. Nicht mehr, nicht weniger.« Blitz baute Glimmerwasser so auf, dass es genauso aussah wie vor fünf Jahren, bevor die Insekten es beschädigt hatten. Er war besessen davon, jedes Detail bei der Restaurierung seines Palastes draußen vor der Stadt wieder herzurichten, weil er es für eine unverletzliche Pflicht seiner Familie gegenüber hielt. Er wollte das Vertrauen rechtfertigen, das sie im Hinblick auf die Erhaltung des Palastes in ihn gelegt hatten: Er sorgte für exakt gleiches Mauerwerk, er benutzte die ursprünglichen Seidenwaren, er hielt beide Flügel so symmetrisch wie am Tag der ersten Vollendung des Palasts. Die Tatsache, dass er daran herumbastelte und nicht Tornado und Königin Eleonora dabei half, das restliche Papierland zu säubern, das die Insekten im nördlichen Awia errichtet hatten, zeigte wohl, dass er Zeit im Überfluss hatte. Raa wandte sich an ihn. »Du kannst nicht für eine ganze Generation eingeschnappt sein. Soll deine Weltsicht so obsolet und exzentrisch werden wie die Porträts, die in deinem Haus hängen? Jant, hör zu: Blitz' Familienporträts sind viele, viele Male neu gemalt worden, etwa alle zwei Jahrhunderte, wenn sie anfangen zu verblassen. Die Künstler setzten alles daran, ganz genau zu sein, aber es kriechen kaum wahrnehmbare Veränderungen hinein, modische Zugeständnisse an das 58 Ideal des Zeitalters. Beim nächsten Mal werden diese Veränderungen zusammen mit dem Rest kopiert. Habicht, woher weißt du, was echt ist und was nicht, wenn du dich auf die Vergangenheit beziehst? Wie lange wirst du als Eszai überdauern, wenn du nichts von neuen Entdeckungen wissen willst? Nimm einmal an, diese Insel hat bessere Bögen als Awia? Eine bessere Holzsorte?« »Ohne Insekten, die sie dazu inspirieren, möchte ich das bezweifeln. Sollen sie doch mit ihren Herausforderern kommen!« In der Camera obscura wurde es noch stickiger, und ich schnappte jetzt nach Luft. Ich stieß die Tür weit auf und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Serein Zaunkönigs Blick fiel auf uns, und er kam locker herübergeschlendert. Ich fragte mich, was er bei unserem Anblick dachte: drei Eszai in einer Nische. Wenn alles andere bei seiner Party so perfekt ablief, ragten wir als große Anomalität heraus. »Worüber sprecht ihr gerade?« »Entschuldige bitte«, erwiderte Blitz. »Das ist ein Privatgespräch.« Zaunkönig verneigte sich und wollte uns schon verlassen, aber Raa sah ihn abschätzend an. »Nein, warte ... Wie spät ist es? Wir müssen eine Stunde lang die Wahrheit sagen.« Ich hörte praktisch die Rädchen in ihrem Gehirn surren. Sie erfasste sein Hemd, das links ganz aufgeknöpft war und seinen starken Leib äußerst vorteilhaft zur Geltung brachte, seinen kleinen runden Stehkragen und das streng gescheitelte Haar, die abgewetzten kirschroten Lederstiefel, deren Schäfte über dem Knie umgelegt waren. Erneut kam ihr von der Reise abgenutztes Notizbuch heraus. »Du musst Erfahrungen sammeln. Das hier wird dich interessieren«, sagte sie und hetzte ihre Pläne auf ihn wie Wölfe. 59 Die anderen versperrten mir die Sicht auf die Party, also wandte ich mich wieder dem Abbild zu. Der Strahl, der durch die halb geöffnete Tür abgelenkt wurde, erhellte die Wand gleich neben mir und erzeugte ein verschwommenes Bild ohne große Kontraste. Konturlose Gestalten bewegten sich über die gewellte Oberfläche. So klein waren sie, dass ihre Handlungen seltsam aussahen, jedoch nichtsdestoweniger beunruhigend. Ich betrachtete sie prüfend, eine nach der anderen: Gayle, die ein paar Worte mit dem Imperator wechselte, Frost, die in einem Ballkleid steckte und Stiefel mit Stahlkappen trug. Nirgendwo entdeckte ich Nachtigall. Wo war sie? Warum wollte mich Raa nicht hinauslassen? Ich versuchte, mich aus der erstickenden Ecke
hinauszuschieben, aber Raa hielt fest die Stellung, sprach mir hitzig ins Gesicht und hielt ihre Zehen gegen die meinen gedrückt, nur das Logbuch zwischen mir und ihrem üppigen Busen. Nachtigalls Gestalt musste in meinem Schatten liegen, aber obwohl ich mich Zentimeterweise vorschob, konnte ich sie einfach nicht auf der Wand tanzen sehen. Der Duft von Raas langen weißen Haaren kitzelte mich in der Nase; hinzu kam der Fleischgestank von Zaunkönigs Atem. Er hatte seine Schulter gegen die meine gedrückt, und die Abenteuerlust, die ihm hell aus den Augen strahlte, hätte den gesamten Heerbann beflügelt. Der Gedanke, mit ihm zusammen auf dem Schiff zu sein, war sogar noch viel schlimmer. »... also muss das Reich Tris erforschen«, schloss Raa. Blitz sah sie funkelnd an; zu Recht glaubte er, dass wir uns unnötig Probleme bereiteten. »Machst du dir Sorgen?«, fragte sie Zaunkönig. »Nichts macht mir Sorgen«, erwiderte er. »Nichts!«, meinte ich. »Armer Junge, da draußen gibt's 'ne ganze Menge davon.« Er starrte mich an. »Ich hab nicht mal meinen Rucksack ausgepackt. Ich bin startbereit.« 60 »Ju, hab's mir gedacht. Meine Herren, wenn ihr bitte diskret bleiben und diese Sache geheim halten wollt! Ihr müsst in diese Party mit einem Wissen hinausgehen, das sonst niemand auf der Welt hat. Lächelt, auch wenn's euch schwer fällt. Ich treffe euch Ende der Woche in Awendin; die Sturmschwalbe ist abfahrbereit.« Blitz winkte einen Butler heran und befahl ihm: »Geh in die Keller hinab und hole mir eine Flasche Wein aus Glimmerwasser! Den ältesten, den du finden kannst!« Rings um mich her tänzelte und blitzte die Party. Ich schritt hindurch, war leblos im Herzen und hatte kaum einen Blick für Nachtigall übrig, die täppisch einen Two-Step mit dem Kraftmenschen tanzte. Ich rannte hinaus zum Balkon, sprang auf die Balustrade und warf mich hinaus. Heftig die Flügel schlagend und vor Wut kreischend erreichte ich zwischen zwei Türmchen volle achtzig Stundenkilometer, wobei ich den Stein so gerade eben mit meinen Flügelspitzen streifte. Im Zickzack schoss ich zwischen engen Mauern hindurch und verfehlte sie bei jeder vertrauten Wendung lediglich um einen Zentimeter. Ich explodierte aus dem Nebel heraus und stieg weiter in den klaren, Sternenübersäten Himmel. Die höchsten Türme stachen wie schwarze Essen aus der Baumwolldecke heraus, die der Dunst über das Schloss geworfen hatte; tief unten flackerten Lichter. Ich erreichte den Gipfel meiner Flugbahn und hing eine Sekunde lang einfach dort. Vollführte einen Salto. Fiel kopfüber hinab, das Mauerwerk sauste vorüber, die Oberfläche des Dunstes kräuselte sich. Lautlos durchbrach ich sie. Ich zog Kreise um das Schloss, bis ich langsamer wurde und mein Ärger allmählich abflaute und sich in Hoffnungslosigkeit verwandelte. Ich landete auf dem Fensterbrett des Nordwestturms, hüpfte hinab in mein Zimmer, sprang auf 61 das Himmelbett und riss die Vorhänge zu. In dieser dämmrigen, efeuumrankten Brokathöhle saß ich und überlegte. Drogen, dachte ich, genau das brauche ich. Drogen. KAPITEL 3 Am nächsten Morgen war ich felsenfest entschlossen, beim Imperator um eine Audienz zu ersuchen und gegen die schrecklichen Befehle, die er mir erteilt hatte, Einspruch einzulegen. Ich ließ Nachtigall im Himmelbett schlafend zurück; als sie spät in der Nacht hereingekommen war, hatte ich mich schlafend gestellt. Ich zog mich an, frühstückte und schloss die Tür, als die Uhr gerade zehn schlug. Ich rannte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Wendeltreppe mit den Fresken hinab. So schnell war ich, dass es vielleicht eines Tages mein Tod wäre. Ich benutzte nicht die dicken Seile, die als Geländer dienten, sondern hielt das Gleichgewicht vielmehr mit den Flügeln, die ich so weit öffnete, wie es in dem strahlend hellen Treppenhaus möglich war. Ich schoss um die letzte Ecke und prallte mit Blitz zusammen, der gerade hochkam. »Hä? Aus dem Weg, Glimmerwasser!« »Jant, ich muss mit dir reden! Der Imperator hat mich gerade darum gebeten, Gio aus dem Schloss zu befördern.« »Wen?« »Gio Ami. Den Fechter für vierhundert Jahre, bis gestern Abend .« Gio stammte aus Güte, einer Stadt an der Spitze eines unwirtlichen Kaps. Seinen Wohlstand und seinen Scharfsinn hatte er ausschließlich sich selbst zu verdanken. Bei den Prärieländern an der Küste waren Vornamen mit drei Buchstaben häufig, eine Tradition, die bis zur Geburt des Imperators zurückreichte. Wie awianische Namen sind sie nicht ge62 schlechtsspezifisch. Meines Wissens nach kam Gio eigentlich aus dem Jahr sechzehnhundertneununddreißig. Was würde er, zum Teufel, jetzt dort draußen tun, im einundzwanzigsten Jahrhundert? Wir gingen zur Simurgh-Passage an der äußersten östlichen Seite des Palasts. Dabei kamen wir an Blitz' Räumlichkeiten vorüber, in denen verblasste Aquarelle dicht an dicht und Rahmen an Rahmen die Wände bedeckten. »Gio weigert sich zu gehen«, meinte der Bogenschütze. »So etwas habe ich bei geschlagenen Eszai hin und wieder erlebt. Er hat eine lange Zeit im Schloss gewohnt; vielleicht fürchtet er die Welt draußen, obwohl er es nie zugeben würde. Sie hat sich verändert, seitdem er sterblich gewesen ist.« Ich dachte an Gios Arroganz und sagte: »Wahrscheinlicher ist, er kann nicht hinnehmen, dass ihn jemand
schlagen konnte.« »Ja, gut möglich.« »Na schön, hoffentlich ist er nicht bewaffnet!« »Oh, natürlich ist er bewaffnet. Deswegen brauche ich ja deine Hilfe dabei, ihn an die Luft zu setzen.« Wir stiegen eine Treppenflucht zur Mansarde und den Quartieren am Ende des Korridors hinauf, die traditionell dem Serein zugewiesen waren. An den Wänden draußen vor seiner Tür prangten Rundschilde sowie verstaubte Capote und Übungs-Dusacks aus Holz und Leder. Breitschwerter und Krummschwerter waren zu Kreisen und Fächern arrangiert, gleich daneben hingen Hirschfänger und Katanas aus Waffenschmiede, gefertigt aus blankem blauen Stahl, darüber hinaus zeremonielle Beidhänder mit Quillion-Dolchen und Flamberge mit Inlets aus Golddraht sowie mehrere Porträts von Gio. Diener trugen Schachteln und Koffer nach unten ins Erdgeschoss. Einer hatte einen Sallet auf, und die anderen hatten sich Hemden um die Köpfe geschlungen. 63 Blitz und ich warfen einen Blick in den unzweckmäßig geformten Raum mit seiner schrägen Decke, der wie die Höhle eines sportbesessenen Jugendlichen wirkte. Es roch nach Schuhen mit Gummisohlen und schweißgetränktem Stoff; die Holzgriffe von Stangenwaffen waren vom ständigen Gebrauch glatt und abgenutzt. An den Wänden hingen Zwillingsschwerter in ihren Scheiden und Übungsfloretts in Reisetaschen unter einem schäbigen Dartboard, in dessen Mitte eine Handvoll Pfeile steckten. Ein wunderschönes Schiavona, eine Hiebwaffe mit Korb und Griff aus Haifischleder, hing an exponierter Stelle an der gegenüberliegenden Wand. In einem großen Aquarium am anderen Ende des Raums schwammen gewaltige gelbe Koi, deren spiegelnde Schuppen wie die Platten einer Rüstung schimmerten. Zwei Diener stopften die Sachen ohne Unterschied in Schachteln, die sie nach draußen brachten. Gio Ami saß, an die Wand gelehnt, voller Verzweiflung auf dem Diwan. Ein Florett mit rundem Korb lag quer über seinen Knien. Sein langes Haar, von einer Farbe wie Altgold, hing ihm in Kringeln über die Schultern. In einem Ohr steckte ein einzelner Ring. Sein Gesicht war ein wenig von Linien durchzogen und wirkte erschöpft. Hohle Wangen hoben sich von einem breiten Kinn ab, das jetzt Stoppeln zierten. Unter seinem offenen Gehrock zeigten sich seine nackte Brust und der straffe Bauch. Der Gehrock stammte aus Awia, weil er im Rücken breite Schlitze aufwies, die leer waren und ohne Flügel merkwürdig aussahen. Dazu trug er eine passende blassblaue Kniebundhose, und von seinen offenen Stiefeln hingen die Schnürsenkel herab. Etliche weggeworfene Diw-Harbour-Ginflaschen lagen auf dem Boden. Gio zeigte nach wie vor die Eigenschaft derjenigen, die großartig in ihrer Tätigkeit sind, eine intensive, den meisten Menschen unbekannte Konzentration. Die reiche Bestickung 64 seines Mantels war Zeugnis für seinen Wohlstand, den er sich durch die Leitung seiner Fechtschule seit der Wende des siebzehnten Jahrhunderts erworben hatte. Filialen der Schule aus Güte waren in Hacilith und der Mehrzahl der Güter in Prärieland eröffnet worden. Gio hatte das Pflaster von der Wunde an seiner Kehle abgenommen. Der Schnitt klaffte jetzt ein wenig, war aber rosig und sauber. Er versuchte wohl, ihn vernarben zu lassen. Er bemerkte uns, wie wir da im Eingang standen. »Was haben wir denn da? Einen einsamen Aristokraten und einen Bandenkiller.« Er sah von Blitz zu mir. »Weder ein autoritärer Blick von oben herab noch schlaue Worte werden mich zum Gehen bewegen.« Blitz seufzte. »Gio, wenn du jetzt nicht gehst, werden Jant und ich dich richtiggehend hinauswerfen.« Gio drehte toi Griff des Floretts, so dass die Klinge seinen Oberschenkel hinauf und hinab rollte. Ich beobachtete sie genau, da ich mir wohl bewusst war, dass er nach wie vor der zweitbeste Fechter der Welt war. Seine Stimme klang leicht verwaschen. »Nenn mich nicht Gio! Ich bin immer noch Se-rein.« »Du bist überflügelt worden.« »Ich habe mich gerade von der Seefahrerin, dem Koch und dem Pferdemeister verabschiedet. Alle meine früheren Freunde lassen mich im Stich.« Er winkte zu den Dienern hin. »Und der neue Serein wird meine Zimmer in Beschlag nehmen wie meinen Titel und meine Unsterblichkeit.« »Wir lassen dich nicht im Stich«, meinte ich. »Sämtliche Unsterblichkeit gehört dem Imperator«, sagte Blitz. Gio warf ihm einen boshaften Blick zu. »Ja, ihr Edelmänner seid großartig darin zu wissen, wem was gehört. Keiner von euch wird mir jetzt noch beistehen, wo er mir nicht mehr 65 gnädig ist. Warum sollte ich hinausgeworfen werden? Es war kein fairer Kampf!« Der älteste Diener packte Gios »Anweisungen zum Zweikampf« ein. »Verpiss dich!«, fuhr Gio ihn an und warf ihm das Lehrbuch der Verteidigung an den Kopf. »Die Flutlichter im Amphitheater sind nutzlos. Ich verlange eine Wiederholung.« Ich überlegte eine Weile lang. »Du kannst ihn in einem Jahr herausfordern. Das ist Regel des Schlosses.« »Ihn als Sterblicher herausfordern? Versuchen, meinen Titel von ihm zurückzubekommen? Verdammt! Ich verstehe nach wie vor nicht den Zug, den er gemacht hat. Er hat mich mit einem unorthodoxen Kniff ausgetrickst.« Gio spuckte verächtlich aus. »Niemand wird jetzt in meiner Methode unterwiesen werden wollen, in den Techniken, mit deren Aufzeichnung ich mein Leben verbracht habe. Meine Schule wird sich leeren wie der Hof von Rachiswasser, und was werde ich dann zur Sicherung meines Lebensunterhalts tun?«
»Im Kreis gewesen zu sein wird dir Ruhm genug einbringen«, sagte ich beschwichtigend. »Ruhm als Ehemaliger!« Gio richtete das Florett auf mich und kam mühsam auf die Beine. »Warum wollte ich jemals einer so korrupten kleinen Welt angehören? Zaunkönig hat mich in diesem Duell getötet! Na gut - ich sterbe vielleicht in vierzig Jahren an Altersschwäche, aber er hat mich getötet. Vernichtet von einem Kämpfer, der nicht der Zunft angehörte, von einem Opportunisten, von jemandem, der nie studiert hat! Ein gemeiner Rekrut aus einer Grenzstadt, der nicht einmal auf der Liste der fünfhundert besten Fechter stand! Er hat nie an den jährlichen Wettkämpfen teilgenommen. Bevor er aufgetaucht ist, hatte ich nicht mal von diesem wahnsinnigen Jungen gehört!« Gio begriff nicht, wie borniert er über die vier Jahrhunderte hinweg geworden war. Er hatte die Kunst des Fechtens sys66 tematisiert und sich dermaßen auf seine perfekten Kenntnisse verlassen, dass Zaunkönigs vermeintlich irrationaler Zug ihn völlig aus der Fassung gebracht hatte. Unsterbliche, die Angst davor haben, ihr Leben zu riskieren, sind gegen die Insekten ebenso nutzlos wie jene, die träge oder überzuversichtlich werden, einzelgängerisch oder ausschweifend. Sans Regeln für den Kreis sind weise; frisches Blut wird uns ersetzen, wenn das lange Leben uns dazu bringt, unseren Vorteil zu verspielen. »Du hast ein Jahr gewonnen und kannst dann einen erneuten Versuch unternehmen.« »Ein Jahr wozu? Ein Jahr zum Üben?« Er winkte zu einer Karte an der Wand hinüber, auf der Fußabdrücke die Positionen für Rapierübungen bezeichneten. »Sich in Form zu bringen, an Gewicht zu verlieren, Kondition zu verbessern?« Er beugte einen sehnigen Arm, bis die langen Muskeln hervortraten. Ich begriff, was Gio sagen wollte: dass er eindeutig in absolut bester Form gewesen und trotzdem geschlagen worden war, dass aber von uns keiner sagen konnte, was das kommende Jahr der Berühmtheit sowie eine sechsmonatige Seereise mit Zaunkönigs Kondition anstellen würde. Dem Schloss war jetzt das gesamte Wissen Gios abhanden gekommen. Es hatte ihn durch jemanden ersetzt, der Experte war, jedoch unerfahren. Schlagartig kam mir der Gedanke, was das eigentlich für eine Verschwendung war; ich wünschte, sie könnten alle gerettet werden. Ich überlegte, weswegen der Imperator sich weigerte, den Kreis zu erweitern und mehr Kämpfer aufzunehmen; wir würden für San niemals eine Bedrohung darstellen, weil wir niemals genügend Erfahrung sammeln könnten, um ebenso weise wie er zu werden. »Gio«, sagte ich, »das Reich braucht dich auch. Wir möchten dich nicht verlieren.« 67 »Das Schloss hat mich bereits verstoßen. Obwohl ich ihm mein ganzes Leben gewidmet habe ... ich habe Hacilith gegen den letzten Schwärm verteidigt.« Seiner Stimme mangelte es völlig an seiner üblichen Energie. Er würde Tage brauchen, um sich von einem so intensiven Zweikampf zu erholen. »Ich habe gespürt, wie der Kreis mich fallengelassen hat. Ich kniete nieder und konnte mich nicht mehr erheben. Ihr Schweine! Jetzt jedoch fühle ich mich noch nicht sehr anders, vermutlich, weil ich erst zwölf Stunden gealtert bin. Ich glaube, die Sterblichen fühlen sich ihr ganzes Leben lang wie einundzwanzig, obwohl ihr Leib langsamer wird und sie dann sterben. Ich werde jedoch ein paar Duelle provozieren, bevor ich sterbe. Ich werde einige von ihnen mir vorausschicken.« Gio hob das Buch seines Vorgängers auf, Traktat über die Kunst des Fechtens, und wog es nachdenklich in der Hand. »Was ist mit dem Serein vor mir passiert? Nachdem ich ihn aus dem Kreis verdrängt habe, ist er wahnsinnig geworden und hat sich erhängt.« Ein Zucken seiner Lippen zeigte, was er von einem Fechter hielt, der Selbstmord beging. Er schleuderte das Buch davon und fluchte, als ein Diener sich duckte und es ihn fast gestreift hätte. »Wir sind noch weit entfernt davon, Awia wiederhergestellt zu haben«, bemerkte Blitz, »und die Menschen nörgeln bereits über die wirtschaftlichen Einschränkungen. Wir brauchen deine Fantasie, ganz zu schweigen von deiner Führungskraft.« »Habicht Glimmerwasser, was zum Teufel kümmert mich denn jetzt noch Awia, verdammt?« Serein Zaunkönig, im Kampfdrillich seines Heerbanns, kam den Korridor herabgeeilt. Er machte schon Anstalten, den Raum zu betreten, aber Blitz breitete seine blonden Flügel über den Eingang aus. Verwirrt blinzelnd sah ihn der Jüngere an. Beim Anblick Zaunkönigs sprang Gio auf die Füße, das 68 Florett locker in der rechten Hand. Zaunkönig riss sein Rapier aus der Scheide. Prächtig. Jetzt war ich zwischen dem besten und zweitbesten Fechter der Welt gefangen. »Nein!«, sagte Blitz. »Ihr werdet nicht kämpfen.« Ich holte das Messer aus meinem Stiefel und drückte auf den Knopf, um die Klinge aufspringen zu lassen. Gio beäugte mich. »Hübsch. Ein Rhydanner mit einem Springmesser.« »Steck es weg, Jant!«, wies mich Blitz an. »Wenn ihr glaubt, ich würde mich vor einem weiteren Duell fürchten, liegt ihr falsch!«, rief Zaunkönig. »Jedes neue Jahr, bis einer von uns tot daliegt«, fauchte Gio. »Du hast dich mit dieser Schleife zu weit geöffnet. Du hast es verdient, verdammt!« »Ihr könnt euch noch mal in zwölf Monaten treffen«, wiederholte Blitz. »Jetzt dürft ihr nicht kämpfen.«
»Aus dem Weg, Bogenschütze!« Blitz starrte Gio an, die Arme verschränkt und die Flügel gespreizt. Zaunkönig streckte sich einladend zu einer Verteidigungsposition, eine Bewegung, die zu sagen schien: Komm schon, stich mir in die Brust! Gio zitterte vor Wut. »Bogenschütze, du gehst mir aus dem Weg! Oder ich schwöre, dass ich dir jede einzelne Sehne in deinem Bogenarm zerschneide! Ich werde meinen Titel innerhalb der nächsten Stunde zurückhaben!« »Ehre verlangt einen Aufschub.« »Ich bin sterblich. Ich werde sowieso sterben! Worin liegt da die Ehre? Ich habe nichts zu verlieren!« Zaunkönig beobachtete ihn vorsichtig durch den Spalt zwischen Blitz und mir selbst. Er war ruhig, völlig beherrscht, ebenso wie ich mir eines jeden Zentimeters meines Körpers bewusst bin, wenn ich mich aufs Fliegen vorbereite. 69 Gio zeigte das Florett. »Ich sterbe als Berühmtheit, indem ich euch beide durchbohre!« »Jant«, sagte Blitz schließlich, »wie es aussieht, brauchen wir Tornados Hilfe, um diese Situation zu einem Ende zu bringen. Geh auf sein Zimmer und hole ihn. Rasch, bitte!« Ich zögerte. »Ich kann euch alle auf einer Klinge aufspießen!« Ich nickte, duckte mich an ihm vorbei und schoss davon. Gio sah zu, bis ich die Treppe erreicht hatte, und dann warf er sein Florett beiseite. Den Kopf erhoben und mit arrogantem Blick drückte er sich an Blitz und Zaunkönig vorüber. Ich wich ihm aus; er stieg die Treppe hinab und ging, die Arme schwingend, hinaus über das nasse Gras des Innenhofs zum Haseltor und zu den Ställen des Schlosses hinüber. Die Luft ausstoßend rieb sich Blitz die Stirn. »Mein Gott«, sagte er. »Welch ein würdiger Gegner!« Memo An: Nachtigall Von: Jant. Du weißt schon, deinem Gatten. Groß, Wangenknochen, schwarze Flügel... Ja, genau der. Nachtigall, Liebling, wo bist du? Ich wollte dir Auf Wiedersehen sagen. Die Sturmschwalbe segelt am Freitag ab - Raa hat uns direkt nach Awendin befohlen, und ich zweifle an meiner Rückkehr. Sie wird sinken, das steht fest, und ich werde ertrinken. Oder verloren gehen, in eine Flaute geraten und verhungern. Außerdem nährt die See Ungeheuer, die weitaus schlimmer als Insekten sind. Wenn du den Kreis brechen spürst, denke an mich und öffne den Brief, den ich bei Rehgen hinterlegt habe. 70 P. S.: Ich habe eintausend Pfund vom Restaurierungsfonds für Waffenschmiede geborgt. Hoffentlich macht es dir nichts aus! Wenn wir in sechs Monaten zurückkehren, werde ich genügend Geld haben und es mit den Raritäten von »Atas Insel« zurückzahlen. Liebe dich. Auf Wiedersehen! Jant. KAPITEL 4 Bei Tagesanbruch fiel ein Graupelschauer, und auf dem Hof vor den Ställen lag klumpiges, matschiges Eis. Flache Pfützen in den Abflussrinnen sahen so grau aus wie Waschlauge. Dunklere Wolken waren am trüben Himmel über dem großen Vorplatz verschmiert. Die Spatzen, die Traufen und Ställe bevölkerten, lärmten in einem morgendlichen Chor. Warme Luft stieg dampfend aus den Nüstern der drei Paar Vollblüter, die vor eine glänzende Kutsche gespannt waren. Sie gehörte Blitz und wartete darauf, ihn und Zaunkönig nach Awendin zu tragen. Sie würden drei Tage bis zur Küste benötigen, also wollten sie die erste Nacht in Haus Eske verbringen und sich der Gastfreundschaft von Seriema Eske erfreuen. Auf einem Bogen über dem Haupttor befand sich ein Uhrturm. Ich landete vor dem pfauenblauen Zifferblatt, das acht Uhr morgens anzeigte, und beobachtete Zaunkönig und Blitz, die vor dem Regen im nächsten Stall Schutz suchten, während ihre Habseligkeiten auf die Kutsche geladen wurden. Raa hatte gesagt, wir könnten jeder nur eine einzige Truhe voller Sachen mitbringen, aber mein Rucksack und Zaunkönigs kleiner Tornister waren so dünn - da ich mit leichtem 71 Gepäck reiste und Zaunkönig arm war -, dass sich Blitz etwas mehr Gepäck gönnte. Der Kutscher beugte sich vor, um das Gebiss in den Mäulern der grau gescheckten Stuten zu überprüfen und die Zügel durch die Messingringe der Mittelstange zu führen. Mit seinem Halstuch sowie dem dicken, zugeknöpften Mantel wirkte er stämmig. Er hielt die Kutschentür auf; Zaunkönig sprang hoch und kletterte mühsam hinein. Offenbar wusste er nichts von den Stufen, die Blitz dann unter dem polierten Schutzbrett hervortrat. Zaunkönig machte es sich im Sitz bequem und nahm seine wollene Liripipe-Mütze ab. Er war offensichtlich verlegen; ich bezweifelte, dass er je zuvor in einer Kutsche gesessen hatte. Er hatte sich auch umgezogen - die Kleider, die er während der Zeremonie getragen hatte, hatte er abgelegt, um zu zeigen, dass für ihn nun ein neues Leben begann. Der Kutscher warf die Tür zu, zog das Fenster an einem Lederriemen herab, lehnte sich hinein, wechselte ein paar Worte mit Blitz, stieg dann auf seinen Bock hinauf, nahm die Peitsche in die linke Hand und ruckte an den Zügeln. »Ho!« Das ganze schwere Fuhrwerk setzte sich unter dem Geklapper von Hufen und dem Zischen, mit dem das Wasser
unter den Rädern hervorspritzte, in Bewegung. Die Stuten mit den geflochtenen Mähnen schüttelten die Köpfe und versuchten, um ihre Scheuklappen herum etwas zu sehen. Sie stapften zu den Toren; ich sah ihre sechs breiten Rücken, dann die dunkelrote glänzende Lackierung des Kutschdachs, beladen mit hölzernen Truhen, unter mir den Bogen passieren. Die Räder saugten den Schlamm vom Grund an, dass er hoch aufspritzte, und hinterließen zwei Spuren sauberes Pflaster. Zaunkönig drehte sich um und starrte mich durch das Rückfenster an, einen Ellbogen auf das gegerbte Leder gestützt. 72 Ich wünschte mir, ihre Gespräche auf der Fahrt mithören zu können. Blitz schenkte Zaunkönig mehr Beachtung als mir damals, erteilte ihm dieselben, im Lauf der Zeit kultivierten Ratschläge. Aber ich wollte Awendin vor der Kutsche erreichen und sprang vom Uhrturm herab. Die Bizepse an beiden Flügeln, die dick sind wie Oberschenkel, zogen sich zusammen, so dass sich die Mitte meines Rückens furchte, und trennten sich dann, als ich meine Flügel herabzog, um einen gleichmäßigen Schlag zu erreichen, was sehr anstrengend war. Meine langen Schwingen laufen spitz zu und sind ziemlich schmal, daher gut zum Gleiten geeignet, aber das Abheben fällt ebenso schwer wie das schnelle Fliegen. Normalerweise kann ich in einen Rhythmus verfallen, der weniger Energie benötigt, aber es ist immer noch so wie bei einem Marathonlauf. Ich liebe Reisen über große Distanz; ich kann mich im Flug rekeln. Entspannt lehnte ich mich in den ersten der langen Kilometer. Der Sechsspänner polterte hohl über die breite Zugbrücke an den Ställen, die über den zweiten Graben hinweg und aus dem Schlosskomplex hinausführte. Er rollte an den Koppeln mit den dampfenden Misthaufen und aufgeweichten, gepflügten Feldern vorüber, bog in die Eske-Straße ab und fuhr in den Eichenwald ein, der den größten Teil jenes Guts umfasste. Ich zog meine Flügel ein und rollte einmal, zweimal um die eigene Achse und riskierte sogar ein drittes Mal, obwohl ich jedes Mal fünfzig Meter absackte. Die Schwingen gegen die vorbeiströmende Luft wieder zu öffnen, fiel sehr schwer. Hoch über der Kutsche vollführte ich eine weitere Rolle und sah den geraden Horizont um volle dreihundertundsechzig Grad rotieren. Dann machte ich mich zur Küste auf. In dem schräg einfallenden Sonnenlicht erschienen helle Flecken auf den leh73 migen Feldern der Ebene rund um den Moren. Beim Fliegen von Haus zu Haus finde ich es normalerweise nützlich, einer der schnurgeraden Militärstraßen zu folgen, die auf Befehl des Schlosses zur raschen Truppenbewegung zwischen den Städten angelegt worden waren. Wenn ich jedoch quer übers Land flog, suchte ich mir einen Punkt am Horizont, einen Einschnitt oder Hügel, und hielt direkt darauf zu. Die Einschnitte werden dann zu Tälern, die Hügel verwandeln sich in Abhänge. Wenn ich ermüde, fliege ich eine eher spiralförmige Route aufwärts, suche mir eine Thermik und ruhe mich darauf aus. Aus zweihundert Metern Höhe erkenne ich keine einzelnen Baumwipfel mehr, lediglich eine Masse aus Zweigen und Tannennadeln. Die Schieferdächer der Städte sind schuppige Muster, flache Bereiche zwischen dem grünbraunen Schaum der Wälder. Die Häuser bestehen aus dem gerade vorhandenen Stein und sind dadurch in der Landschaft getarnt, und ich strich über Jagdhütten hinweg, ohne sie zu erkennen. Aus der Luft sahen alle Städte gleich aus; ich konnte kaum zwischen ihnen unterscheiden. Meine Reisen haben mich gelehrt, dass die Menschen eigentlich überall gleich sind: mir als Komet wohlgesonnen. Was nicht für Tris zutreffen würde. Im Flug ließ ich die Ereignisse der letzten beiden Tage an mir Vorüberlaufen. Niemand konnte vorhersagen, wie die Trisianer uns sehen würden; ich würde mich hoffentlich mit ihnen verständigen können. Ich spürte Angst und Schrecken vor dem verhassten, unbekannten Ozean. Die Dinger, die dort herumschwammen und sich mit ihren Saugnäpfen an den Schiffsseiten festklammerten, ließen sich mit Worten nicht beschreiben - gigantische Schlangen und bewusste Riesen, zusammengefügt aus den verwesenden Leichnamen ertrunkener Seeleute. Ich überlegte, was ich im Hinblick auf Nachtigall unter74 nehmen sollte. Genau in diesem Augenblick streichelte sie vielleicht Tornado den flügellosen Rücken, die kräftigen Muskeln, den geschorenen Kopf, und ich musste mich auf einem gottverdammten Schiff einfinden! Ich stellte mir vor, wie sie auf seiner Handfläche saß und er sie hochhob, um ihr einen Kuss zu geben. Draußen auf See war ich völlig machtlos, außerstande, diesem letzten Ausbruch ihrer Untreue Einhalt zu gebieten; vielleicht würde sie sich noch vertiefen, und was fände ich dann bei der Rückkehr vor? Nachtigall, in den Kreis eingeheiratet durch Tornado, ich selbst wäre geschieden und hätte bis in alle Ewigkeit Tür an Tür mit meiner wunderschönen Ex-Frau zu leben? Ich kannte jeden Geländepunkt - die weißen Zäune an den Rennbahnen im »Rennpferd-Tal«, für die Eske so berühmt ist, und die Ställe, wo Streitrösser gezüchtet werden. Eine Reihe hoher Pappeln entlang des Haseis; weiter im Waldes-innern kräuselte sich träge der Rauch vom Meiler eines Köhlers. Ich konzentrierte mich darauf, den Horizont waagerecht vor mir zu halten, damit ich auch geradeaus flog, aber am Abend musste ich in einem schweren Hagelsturm landen und, ärgerlicherweise, die Nacht im Gasthaus »Zum Kiebitz« an der Flugfederstraße verbringen. Wäre dies eine Routinereise, würde ich im Wald schlafen, weil die Temperaturen
weit unter den Gefrierpunkt fallen müssten, bevor mir als Rhydanner allmählich kalt würde. Am folgenden Nachmittag erkannte ich schwach in der Ferne die lila-grauen Niederungen von Awendin, gesprenkelt von den Hopfenfeldern des Hauses Kobalt und den Darren; ein schüsselförmiger Pass löste sich zur Küstenstraße auf. Schließlich überwand ich den letzten Hügel - und da lag das Meer. Der graue Streifen Ozean sah aus, als erhöbe er sich über dem Land und wollte jede Minute darauf herabstürzen. 75 In der untergehenden Sonne erschien jedes Fenster in Awendin-am-Gestade wie aus Messing gemacht. Die Dächer der Stadt waren wie verrückt krumm und schief. Das Herrenhaus stand auf einer Grasbewachsenen, weit ins Meer hinausragenden Landzunge aus Fels und Sand. Es hatte winzige, dicht beieinander stehende Fenster und hohe, schmale, achteckige Kamine aus diagonalem und in Kreuzlage schraffiertem roten Ziegel. Ich glitt durch einen weiteren Graupelschauer, der so heftig war, dass ich die Augen schließen musste, hinab und landete auf dem Dach einer Imbissbude. Ich wartete ab, bis die Windböen keinen weißen Schnee mehr ausspuckten, stieg herab und ging dann in die Stadt, wobei ich den seichten Strom, der voller Steine war, auf einer moosbedeckten buckligen Brücke überquerte. Daneben verlief der Hacilith-Awendin-Kanal weiter in ein gewaltiges System aus Schleusen und Becken, voll gepackt mit Barken. Zusammen mit einem Duft nach Zedernholzspänen und abgestandenem Cider hing eine kreative, kosmopolitische Atmosphäre über Awendin. Sie war die einzige Stadt von Prärieland, die nach dem letzten Insektenschwarm wieder aufgeblüht war, denn sie profitierte von den Handelsbarken, die Maut an den Schleusen zu bezahlen hatten, und den Karracken mit ihren vollen Truhen, die im Hafen ankerten. Dank ihrer guten Lage konnte Awendin sämtliche der Rohmaterialien nutzen. Schwalbe, die musikalische Gouverneurin, hatte eine Gesellschaft von Bohemiens zum Herkommen ermuntert; Künstler und Kunsthandwerker waren in den winzigen, verfallenden Häusern und efeubeschatteten Galerien willkommen. Die bedächtigen, einladenden Werkstätten von Kunsthandwerkern hingen über den plumpen Gassen; Glasbläser- und Holzeinlegearbeiten, Cloisonne und Keramik, Lederarbeiten, Drechsler- und Steinschneidearbeiten, Musikinstrumente und elegantes Mobiliar wurden dort gefertigt. 76 Wie ein Goldgräber, der bestimmten Regeln folgte, um Goldlager zu finden, war ich auf der Suche nach Drogen. Scolopendrium ist überall außer in Prärieland illegal - in Awia sind die Gesetze seit fünfzig Jahren sehr strikt und eine Übertretung führt zur Anklage; in den entlegenen Straßen von Hacilith ist das Problem äußerstenfalls ernst; und in den Gräben von Unterland wird gegen seinen Gebrauch heftig angegangen. Aber der Hirschzungenfarn kommt wild in Mitohnanmut vor, den spärlich bevölkerten Vorgebirgen der südlichen Dunkelberge. Der Gouverneur von Hacilith wollte einmal die Dörfer von Mitohnanmut dafür bezahlen, dass sie die Hügel der Moorlande abbrannten und die Pflanze vernichteten, aber sie haben das Angebot zum Glück stets ausgeschlagen. Scolopendrium, gewonnen aus den Farnwedeln, ergießt sich zusammen mit weiteren wohlbekannten Drogen in einem steten Strom aus Mitohnanmut, und das Geld der Abhängigen wird entlang derselben Routen zurückgesaugt. Es ist nahezu unmöglich, das Verbot auch durchzusetzen. Um Scolopendrium in einer Stadt zu finden, hält man am besten Ausschau nach den Grenzen, zum Beispiel der Grenze zwischen den reichen und armen Vierteln oder zwischen Straßen verschiedener Gewerbe - wo Häuser am Rand des Markts beginnen oder wo des Nachts Menschen aus den Cafes in die Clubs wechseln. Der Sucher sollte an Plätzen forschen, wo sich neu eingetroffene Reisende herumtreiben. Hafenarbeiter mit Fracht aus Hacilith sind die Vielversprechendsten, weil eine Hand voll Kat, versteckt in einer Kabine, doppelt so viel wert ist wie ein reich bestückter Frachtraum. In meiner Zeit als Dealer war ich Zeuge, wie sogar die skrupulösesten Kaufleute ihrer Gier nachgaben. Ich entschied, nicht von den Händlern auf der Dockseite zu kaufen. Sie wären lediglich ein paar Kettenglieder von einem der mächtigeren, mir bekannten Drogenhändler entfernt. 77 Gebäude geben Hinweise: schmutzige Fenster und abblätternde Farbe in einem Reichenviertel, oder ein sauberes Haus inmitten eines Slums. Das sind nämlich die Häuser, in denen die Geschäfte abgeschlossen werden. Wenn ich auf Entzug bin, lese ich die Signale unbewusst; ein sechster Sinn führt mich zu einem Schuss. Ich ging an den dicht beieinander stehenden, halb aus warmem roten Ziegelstein im Fischgrätmuster gemauerten Häusern vorüber. Fette Henne wuchs aus den Mauern, deren Dächer mit dreieckigen himmelblauen Ziegeln gedeckt waren und an denen Barte aus langem grauen Liehen herabhingen. Die Stadt sah aus wie ein gestrandeter Sonnenuntergang. Die Befolgung meiner Regeln führte mich zum Kai. Der Hafen von Awendin war eine Ansammlung von Schiffen. Bei Niedrigwasser lagen sie alle aneinandergelehnt auf dem Schlamm, und die Fischer gingen über ihre hölzernen Decks zur Hafenmauer und weiter zur sandigen Landzunge. Bei Hochwasser segelten sie alle zusammen hinaus, eine Flottille aus Flaschengrün und Weiß, und Awendins Delfinsymbol hüpfte und sprang auf Bug und Mastspitze. Zum Einbruch der Nacht sah ich beim Entladen zu. Die Fischer reichten meterweise loses Netz in menschlichen Ketten zur Mole weiter, wo Jungen hölzerne Karren auf Eisenrädern hin und her schoben, um sie auf den Geleisen in Bewegung zu halten. Den Jungen wurde ein Penny für den halben Tag gezahlt, damit sie die schweren Wagen zur Lagerhalle schoben, wo Fischerfrauen den Fang in Kisten mit Salz und Sägespänen einluden. Nach Einbruch der Dunkelheit rieselte Graupel vom Himmel. Die Straße war mit einer dünnen Schicht aus
nassem braunen Schlamm gepflastert. Ich ging am Ufer entlang und kam an der hohen Teredomühle vorbei, einer Apfelmost78 Presse, von deren Fensterrahmen die rosa Farbe abblätterte. Die ockerfarbenen Wände zierten rautenförmige Löcher für Taubenschläge. Als Dach dienten weiße Rechtecke, die man aus Insektenpapier zurechtgeschnitten hatte. Die Äpfel des vergangenen Herbstes waren gepresst worden, so dass den intensiven süßlichen Duft, der im Herbst rund um die Mühle hing, ein berauschender Geruch nach Gärung ersetzte. Eine Gruppe junger Brauereilehrlinge suchte Schutz in dem Gang, der unter dem gepflasterten Abflusskanal der Wassermühle entlanglief. Das Rad war aus dem Wasserlauf herausgehoben worden, und sauberes Wasser floss hindurch. Sie rauchten Zigaretten nach der Arbeit des Tages. Eine der Laternen auf der Promenade warf meinen langen Schatten über die Straße. Die Brauer betrachteten mich neugierig. Der Jüngste hatte purpurrot gefärbtes Haar, trug bauschige Hosen mit Schachbrettmuster und einen schwarzen, bodenlangen Mantel. Ich musterte ihn auf Anzeichen für einen Süchtigen, zog jedoch eine Niete. Na ja, noch bin ich nicht auf Gold gestoßen, bin jedoch sehr nahe dran. Wir musterten einander schweigend, bis er seinen Freund in die Seite stieß und sich verneigte. Er überquerte die Straße und fragte: »Komet?« »Ja?« »Seid Ihr ... Seid Ihr es?« Er sah zu seinen Freunden zurück, die ihm alle ermunternde Zeichen zum Weitermachen gaben. Ihre Anwesenheit sollte nicht jene Charaktere verscheuchen, die ich in Wirklichkeit suchte. Ich wollte ihm schon zu verstehen geben, er solle sich vom Acker machen, aber etwas von meinem Hacilith-Selbst spiegelte sich in ihm wider. Er wusste nicht, was er sagen sollte - in seinen Augen schimmerte die Ehrfurcht wie eine Träne. Seine Mitarbeiter drängten sich mit einem Ausdruck der Gier zusammen. Für echte Aufrührer waren sie ein wenig zu gut betucht. »Also habt ihr den 79 Botschafter des Imperators getroffen«, meinte ich. »Was kann ich für euch tun?« »Habt Ihr das Duell zwischen Gio und Zaunkönig gesehen?« »Wie ist der neue Serein so?« »Erzählt uns, welche Taktik er benutzt hat!« »Erzählt uns, ob er verheiratet ist!«, sagte ein Mädchen. Ihr schlanker Leib zeigte eine flüchtige Ähnlichkeit mit einer Rhydannerin, weswegen ich mich einen Augenblick lang sehr zusammennehmen musste. »Ich bin gerade erst hereingeflogen ...«, setzte ich an. »Stimmt es, dass es nie einen Fechter gab, der so gut wie Zaunkönig war?« Ich versuchte es erneut. »Ich bin gerade erst von den Dunkelbergen zurückgekehrt und will euch sagen ...« »Ich glaube nicht, dass sich Zaunkönig das selbst beigebracht hat. Er muss ein Genie sein!« »Ich heiße Dunnock«, sagte der Junge mit dem Purpurhaar. »Ich studiere Musik- im Künstlerzirkel der Gouverneurin, aber sie verlangt ziemlich viel von ihrem Kreis.« Klasse, dachte ich; andere Eszai ziehen die Besten aus Vierlanden an sich, um sie im Eliteheerbann auszubilden; ich bloß Banden unzufriedener Jugendlicher. Ich versuchte es mit einem simplen Anfang: »Eigentlich hat mich die Gouverneurin ausgeschickt, um einen Mann namens Cinna Bawtere zu suchen. Ich habe den Befehl, ihn festzunehmen. Habt ihr von ihm gehört?« »Und wenn?« »Warum wollt Ihr ihn festnehmen?« Ich drehte mich zu Dunnock um. »Zeig mir, wo er dieser Tage sein Versteck hat!« Die Brauer, stumm geworden, geleiteten mich durch die Unterführung. Die Ledersohlen meiner Stiefel quietschten 80 auf dem Pflaster; dann wandten wir uns nach links auf die Siederstraße, weg vom Meer, und nun ging's am Puppenmachergeschäft vorbei ins Künstlerviertel hinein. Über den Eingängen der Geschäfte prangten Schilder: ARMBRUSTSPANNER GMBH und REKRUTIERUNGSBÜRO UNTERLAND, HAUS DES SIEGES, APFELSCHNAPS UND FEINER TOLEDOCALVA-DOS. Hin und wieder zierten trostlose Graffiti die Mauern dazwischen: »VERBIETET BALLISTAS!« und »FEDERRÜCKEN, VERPISST EUCH!« Der hiesige Unmut über die Flüchtlinge aus Awia war schlimmer, als ich geglaubt hätte. Er machte mich wütend -es war kaum ihre Schuld, dass die Insektenschwärme sie heimatlos gemacht hatten! Eigentlich, dachte ich schuldbewusst, war der Schwärm größtenteils sogar mir zu verdanken gewesen. Ich wusste, dass Nachtigall die Waffenproduzenten von Waffenschmiede zur Rückkehr bewegen wollte, damit sie ihre lebendige Tradition auf ihrem Gut fortsetzen sollten. Wo immer man sie gezwungen hatte, sich niederzulassen, mussten ihre Schmiede äußerst hart arbeiten. Die Swindlestock-Bar lag genau im Zentrum des Künstlerviertels. Sie war in die Öffnung eines gigantischen Insektentunnels eingebaut, der das Aussehen einer grauen Kapuze aus rauem, tief beschattetem Pappmache hatte. Der Tunnel war aus Papierland herausgeschnitten und als Baumaterial nach Süden gebracht worden; die zweigeschossige Front des Nachtclubs aus grün lasierten Ziegeln und schwarzen Balken ragte aus seiner
Öffnung hervor, und Papier schwang bis zum Boden hinab. Es sah aus wie die abgestoßene Haut eines riesigen Wurms, in die Fenster eingeschnitten waren. Vor der Tür hing an einem Eisengalgen die Hülle eines getöteten Insekts, dessen sechs stachelige Beine nach außen zeigten. Sein Leib war knorrig und von einem durchscheinenden Braun 81 und drehte sich langsam; ein totes Gewicht in einer Meeresbrise. Ich kenne einige Clubs in Awendin, die man gut und gern als Fleischmärkte beschreiben könnte. Der hier war mehr ein Delikatessengeschäft. Grünes Licht von solcher Blässe, dass es fast grau war, spiegelte sich auf dem Wasser, das sich zu Pfützen zwischen den Pflastersteinen gesammelt hatte. Die vage und unheimliche Beleuchtung kam aus Glaszylindern neben der offenen Tür zum Club - Larvenlampen -, Laternen voller Glühwurmlarven. Der Türsteher hob eine hoch und schüttelte sie, damit sie heller würde. Die Brauer nickten ihm zu und traten schnurstracks ein. Der Boden drinnen bestand aus malachitfarbenen Fliesen, das Dekor aus mattiertem Elfenbein. In einem tiefen Kamin brannte Treibholz, das kupfergrüne Funken sprühte. Ein einsamer Musiker oben auf der Bühne sabberte in ein Saxophon. Er spielte außerordentlich gut; er musste einer von Schwalbes Schülern sein. Die Larvenlampen betonten die Blässe seines Gesichts, während er sich über ihr ständig wechselndes Licht beugte. Er hielt inne, weil er mich erkannte, und seine Brauen sprangen bis zum Haaransatz empor, dann blies er ein weiteres leises, langsames, sexy Stück, wobei er sein Allerbestes gab, gerade so, als ob ich ein Talentsucher wäre. Die Brauer verschwanden in den dicht an dicht stehenden Leibern rund um die Bühne. Dunnock wandte sich zu mir um und zeigte zur Decke. »Seht mal oben nach! Sie verlangen Einstichstellen«, fügte er aufgeregt hinzu. »Ihr tragt kein Schwert.« Ich hob eine Hand zu seiner Beruhigung. »Ich brauche kein Schwert, um so jemanden wie Bawtere festzunehmen.« »Boah! Das werden sie uns bei den Fässern nie abnehmen.« »Behalt's für dich!«, meinte ich. Ich drückte mich mit den Ellbogen durch die langsamen Jazztänzer zur Treppe durch. 82 Die Stufen quietschten, als ich hinaufstieg. Oben angekommen, schwang eine Blendlaterne vor meinem Gesicht, was mich erschreckte, und eine Stimme krächzte: »Aar da? Jemand für Cinna?« »Ja«, erwiderte ich. »Aar denn?« »Sein Boss.« Ich sah absichtlich genau in die Laterne, weil ich wusste, dass meine rhydannischen Augen Licht reflektieren. Cinnas Laufbursche musste sie als zwei flache, goldene, leuchtende Scheiben gesehen haben. Sein Gekicher brach jäh ab. »Na gut, Komet«, flüsterte er. »Du willst zu Cinna?« »Natürlich«, gab ich zur Antwort. »Also ... warte bitte 'ne Minute ... Scheiße, ein verdammter Unsterblicher ... Er ist ein verdammter Unsterblicher ...« Die Stimme verlor sich und kehrte dann zurück. »Komm durch, Komet!« Er bat mich den schmuddeligen Flur entlang und winkte mich dann durch eine wunderschöne Tür mit Opaleinsätzen in einen großen schwarz-weißen Raum. In der Mitte der quadratischen Kammer stand ein gewaltiger Tisch, verziert mit Holzschnitzereien. Sein geradliniges Muster fand seinen Widerhall auf bedruckten Papierbildchen aus sechs wie eine Ziehharmonika gefalteten Paneelen, die sich an den schwach erleuchteten Wänden entlangzogen. Cinna Bawtere hatte keine Freunde, bloß Mitarbeiter. Er war fett, jedoch verbindlich, mit zurückweichendem Haaransatz und schlaffen, knallroten Lippen, was aussah wie zwei Dorsche auf dem Boden eines Fischerboots. Am Mund zeigte er eine Duellnarbe wie ein Grübchen, Hinweis darauf, dass seine Haut vor langer, langer Zeit nicht so käsig gewesen war, sein Bauch nicht so vorgewölbt und sein Kinn nicht doppelt. Aber dieser Tage konnte Cinna allein vom Dominospielen 83 außer Atem kommen. Die Leute arbeiteten jetzt für ihn, und seine großen Hände hatten sämtliche Schnitte und Schwielen verloren, die sie gezeigt hatten, als er noch zur See gefahren war. Er war ein taktloses, kraftloses, erbarmungsloses Individuum mit einem Ego von der Größe Awias und einem Gewissen von der Größe eines Bonbons. Cinnas Sonderausstattung umfasste ein messerscharfes Verständnis von Chemie, wie man es bei Rauschgiften benötigte, sowie vom Gesetz und wie man es brechen musste. Seine Flügel waren getüpfelt; jede fünfte Feder war gebleicht worden. Er trug neue Blue Jeans und einen seidenen Morgenmantel mit Kirschmuster. Wie so viele hässliche Männer legte er sehr viel Wert auf gute Kleidung. Ich saß in einem Sessel mit Schnitzereien und hakte meine Flügel über die niedrige Rückenlehne. »Wie groß sind die Ohren, die die Wände haben?« »Ist schon gut. Wir sind völlig unter uns.« Cinna sah mich von der anderen Seite des Tischs durchdringend an. Schließlich meinte er: »Dein letzter Besuch liegt schon eine gute Weile zurück, Komet.« »Für mich sind vier Jahre keine lange Zeit.« Er sackte in seinem Sessel zusammen. »Mein Gott, und du siehst genauso aus wie damals, als ich dich zum
ersten Mal gesehen habe, vor zwanzig Jahren.« Er lächelte ein wenig. »Ich habe geglaubt, du hättest mich vergessen, weil ich seit der Schlacht von Awendin nichts mehr von dir gehört habe.« »Wie läuft also das Geschäft?« Cinna hob die Hände und zeigte auf den schattigen Raum. »So gut wie du hier siehst.« »Cinna, ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich bei deiner Dealerei kein Auge mehr zudrücken werde.« Seine rundlichen Schultern sackten zusammen. Er nahm eine Packung Zigaretten vom Tisch, schüttelte eine heraus 84 und zündete sie ah. »Das habe ich erwartet. Also ist Schluss? Das Spiel ist aus?« »Wenn du weitermachst und erwischt wirst, kannst du dich nicht mehr auf mich berufen; ich werde dir nicht helfen. Wenn du weiterhin Schmuggelware an Raas Seeleute verkaufst und sie sich bei mir beschwert, wird der nächste Eszai, den du zu Gesicht bekommst, mit einer Wache vom Heerbann kommen, um dich festzunehmen.« »Also, Jant, welche Enttäuschung nach all dieser Zeit!« Ich zuckte die Achseln. »Du sollst zum legalen Handel zurückkehren. Warum auch nicht?« Cinna legte beide Hände flach auf die polierte Tischplatte. »Weil das nicht so einfach ist! Diese letzte >Papiersteuer< des Schlosses hat in Hacilith mächtig für Aufruhr gesorgt. Du solltest mal das Grummeln der Kaufleute hören! Alles Geld fließt nach Awia.« »Du weißt, dass das die Sache wert ist. Wir müssen das Papierland der Insekten abbrechen.« »Na, und warum kann sich dieses Königreich nicht um sich selbst kümmern?« »Um Gottes willen, sie tun alles, was sie können! Awia wird seine Schulden vollständig zurückzahlen; ihr Sterblichen könnt das nur nicht auf lange Sicht erkennen.« »Oh, verstehe schon«, meinte Cinna. »Aber die Eszai begreifen hoffentlich, wie schnell Prärieland die Insekten vergisst, sobald keine unmittelbare Bedrohung mehr besteht.« »Sieh mal, du musst mit dem Dealen aufhören. In Hacilith ist gegenwärtig die Strafe für das Dealen mit Kat der Tod. Ich habe Dealer gesehen, die aufs Rad geflochten wurden. In Awia sperrt man sie einfach nur lebenslänglich ein.« Er nickte. »Nun gut, heutzutage wollen die Kids lediglich Mutterkorn-Pillen. Sie haben keinen Geschmack.« Ächzend wälzte er sich zu einem Beistelltisch hinüber, auf dem ein De85 kanter mit Portwein sowie einige Kristallgläser standen. Er schenkte mir eines ein. »Auf den Imperator!«, sagte ich und trank. Er goss mein Glas wieder voll. »Und noch einen Toast. Auf alle Kids, die jemals Protestsongs gegen die Einberufung durch den alten König gesungen haben.« Ich setzte das Glas nieder. »Es ist der Krieg des Reichs«, sagte ich gleichmütig. »Sprechen wir vom Geschäft und schwelgen wir nicht in Nostalgie. Ich weiß, was du von der Vergangenheit hältst, aber ich muss dem Befehl des Imperators gehorchen.« »Du hast mich ausgesucht und mich gerettet, weil ich ein unabhängiger, freier Arzneimittelhändler war«, sagte er. Was der Wahrheit entsprach; ich wollte einen Dealer, und ich fand Cinna vertrauenswürdig. Er schuldete mir sein Leben und sein Auskommen. Sobald ich meine Finger einmal um Kanten seines Egos herumbekommen hatte, war er als Geschäftspartner treuer als ein Hauptmann des Heerbanns geworden. »Weißt du, es ist fast auf den Tag genau zwanzig Jahre her, dass du mit einer Hand voll Einberufungsbefehlen aufgetaucht bist«, fuhr er fort. Auf seiner Stirn kamen und gingen die Sorgenfalten. »Angenagelt an das Tor des Schuppens für das Seenotrettungsboot - Listen von Familien, die ihren Beitrag zu Tornados Division leisten sollten. Meine Mutter wollte uns verstecken, aber ich wusste, wie gnadenlos du warst. Sie zeigte uns die Falltür zum Kohlenkeller, aber bei Gott, der uns verlassen hat, was nutzt das bei jemandem, der sämtliche Kniffe und Tricks kennt, wie sie im Buche stehen?« Ich ließ das feine Häutchen auf dem Wein im Glas kreisen, an seiner Stelle peinlich berührt, dass er sich lieber verstecken als kämpfen wollte. »Du hast meinen Bruder mitgenommen. Er ist bei Unterland gefallen. Alles, was sie zum Begraben von ihm noch hat86 ten finden können, war eine Hand voll Federn gewesen; die Insekten hatten den Rest in ihre Mauer einzementiert.« »Viele Menschen haben vor Unterland ihr Leben gelassen.« Cinna schnitt eine Grimasse und zupfte an einem der Flecken um seinen Mund. »Jant, ich erinnere mich, dass wir uns im Hof in Reih und Glied aufstellen mussten - du hast dort Namen von einer Liste abgelesen. Du hast jünger als ich ausgesehen, und ich habe dich gehasst, so, wie Schuljungen Streber hassen. Du hast so ruhig wie ein Kaufmann gewirkt, der Getreidesäcke überprüft, ein Käufer auf einem Viehmarkt ...« »Wie ich es tausende von Malen zuvor getan habe.« »Ju. Ich hätte dich dafür erwürgen können, und du hast so zerbrechlich gewirkt, dass ich mir sicher war, ich könnte es. Mein Bruder kannte meine Gedanken; er stieß mir den Ellbogen in die Rippen und sagte: >Komet ist zweihundert Jahre alt!< Mit diesem Wissen wollte ich das Risiko nicht eingehen. Dann stieg er zusammen mit den übrigen Schauermännern auf die Bänke des Karrens, und das war das Letzte, was ich je von ihm gesehen habe. Mitgenommen zum gemeinen Heerbann. Jeder
einzelne der fünfhundert Männer in seinem Zug ist abgeschlachtet worden. Nun, da ich jetzt Zeuge geworden bin, wie Insekten Awendfn dem Erdboden gleichgemacht haben, verstehe ich, weshalb wir die Front halten müssen - aber damals hatte ich nie eines zu Gesicht bekommen, und ich habe fünfzehn Jahre gebraucht, um mich zu erholen. Dein erstarrtes Alter ist so irreführend, da unterschätzen wir Sterblichen dich gern. Du rennst schneller als ein Hirsch, siehst jedoch aus wie ein verdammter Schuljunge. Wir kennen den Effekt, den Scolopendrium auf Menschen hat, die damit handeln, ganz zu schweigen von den Usern. Ich habe weder Freunde noch Geliebte gesucht - nur Geld —, weil 87 ich daran dachte, dass der Heerbann des Gouverneurs mich jeden Augenblick festnehmen könnte.« Ich sah von dem mittelmäßigen Portwein auf. Cinna war nicht gerade als Mann von großartiger Vorstellungskraft bekannt. »Was hast du für Pläne?«, fragte ich. Ich wusste, dass es ihm schwer fiele, auf seine wunderschöne Suite zu verzichten. Er war zu sehr ein Genussmensch geworden. Er war zu fett, um zu seinem Leben als Seemann zurückzukehren, ehrlich oder sonst wie. »Hast du gerade was?« »Ich habe ein Viertelkilo Galtweiß zu verkaufen, und das wäre der letzte Deal. Vielleicht.« »Ich nehme es dir ab.« »Oho!« Er streckte einen Finger über sein Weinglas aus. »Ich dachte, es gäbe einen anderen Grund für diesen Besuch! Einmal süchtig, immer süchtig!« »Das stimmt nicht, Cinna. Abgesehen davon ist es nicht für mich.« »Na ja, mir ist sonst niemand bekannt, der in Viertelkilomengen einkauft. Nicht mal Madame Lanare, wenn sie ihre ganze Familie vergiftet.« »Verkaufst du oder nicht?« Cinna gluckste. »Es wird das letzte Mal sein, dass ich je Kat einkaufe.« Cinna gluckste noch einmal in bösartigem Vergnügen. Er öffnete ein Paneel in der Wand und holte einen großen weißen Papierumschlag heraus. Diesen rüttelte er, damit sich der Inhalt setzte, und stieß ihn mir dann über den Tisch zu. Ich rieb mit dem Finger darüber und spürte das feine Pulver darin. »Du zuerst«, sagte ich. Er hielt die Hände hoch, die Handflächen nach außen gekehrt. »Du weißt, das tu ich nicht. Ich ertrage die Halluzinationen nicht.« »Diesmal schon.« 88 Er tippte mit dem Finger hinein. »Verdammter Eszai!« Ich wusste, dass meine Toleranz abgenommen hatte, also nahm ich bloß den Rand eines Fingernagels voll und leckte ihn ab. Es breitete sich auf meiner Zunge aus, hinterließ ein taubes Gefühl, schmeckte leicht grasartig mit dem Hauch eines Metallsalzkristalls. Das Zeug war schockkristallisiert und so was von verdammt gut! Beschämt schloss ich die Augen, als ich begriff, was ich getan hatte. Es war fünf lange Jahre her, seitdem ich zuletzt Scolopendrium gekostet hatte. »Du siehst aus wie der Bogenschütze bei einer Weinprobe. Es ist rein wie Schnee aus den Dunkelbergen«, versicherte er mir, die Arme weit ausgebreitet wie ein Schmierenschauspieler. »Wir stellen es mit deiner Technik her. Eine derartige Qualität kann sonst keiner bieten.« »Ja, das wird helfen. Zumindest, bis wir die Insel erreichen«, bemerkte ich. Cinna warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Rasch erklärte ich: »Nein, nicht die Grasinsel. Ich meine Tris. Raa erzählte uns vor drei Monaten eine seltsame Geschichte über eine neue Insel östlich von Awendin. Sie berichtete von einer faszinierenden Kultur sowie von Obst, bei dem einem das Wasser im Mund zusammenläuft, Früchte wie, wie Äpfel, die aussehen wie Tannenzapfen. Sechs Monate Urlaub vom Schloss! Außer wenn es etwas ist, das sich Seeleute eingebildet haben, die ihre eigene Pisse getrunken haben. Überleg mal, was das bedeutet, und nicht bloß für gelangweilte Eszai. Für alle! ... Aber wie ich Ata kenne, schaffen wir es nicht aus der Bucht, bevor nicht irgendwas Schreckliches geschieht.« Ich stieß laut den Atem aus und erhob mich. Das Gewicht des Umschlags schien korrekt. Ich hatte ein Gefühl dafür, wie ein langjähriger Kartenspieler, der bei der Berührung weiß, wie viele Karten in einem Stapel sind. Ich ließ ihn in meine Tasche fallen, ließ Cinnas Zigarettenpackung zu mir herüber89 rutschen und steckte sie ebenfalls ein. »Danke sehr! Darf ich jetzt vielleicht eine Laterne haben? Man braucht mich im Herrenhaus.« »Ah ... ha. Das sind eintausend Pfund, bitte, Komet. Und Schecks, ausgestellt auf die Bank von Waffenschmiede, sind bei Bawtere Im- und Export GmbH unglücklicherweise nicht willkommen.« Ich handelte diesen empörend hohen Preis, der nur für Unterland angemessen gewesen wäre, auf etwas vernünftigere achthundertundachtzig Pfund herunter. Dann zählte ich neunhundert aus meiner Brieftasche ab, und Cinna ließ das Geld verschwinden. Mir fiel auf, dass von den Pfundmünzen, die er mir als Wechselgeld gab, der größte Teil awianisch war, mit dem aufgeprägten Schwan Tangares. Von den anderen drei Münzstätten aus Vierlanden gab es bloß je eine mit der Muschel von Sommertag und der Faust von Hacilith sowie ein paar der Narzissen aus Eske. Münzgeld sollte in
ganz Vierlanden im gleichen Ausmaß hergestellt werden. So hatte es das Schloss angewiesen. Ich hoffte, dass Awia nicht durch die Prägung weiteren Gelds auf seine Notlage geantwortet hatte. Es wäre eine typische Denkweise nach Art der Zaskai, eine kurzfristige Lösung, die Awia nur weiter in Bedrängnis bringen würde. Cinnas stoppelbärtiger Laufbursche kehrte mit der Blendlaterne zurück und brummelte: »Dachte, Rhydanner könnten im Dunkeln sehen.« Cinna ist einer der wenigen Dealer, die ich kenne, die letztlich nicht an der Nadel geendet haben. Sie gewöhnen sich dran, weil Drogendealen so falsch ist, und sie finden, dass Scolopendrium eine sehr verlockende, mächtige Lösung für alle Missetaten und offenen emotionalen Wunden ist. Cinna war jedoch stets im Stadium der Geldanbetung verblieben, ein wenig wie ich selbst, als ich in Hacilith gelebt hatte. Er 90 stammte aus einem der morenzianischen Dörfer und hatte schwer gearbeitet, um zu entkommen. Ich nahm es ihm nicht übel; die Industrie Morenzias, die Gerichte und Märkte lagen allesamt in der Stadt. Die Intellektuellen des Landes wurden sämtlich von der Universität Hacilith angezogen, und das Große Theater von Moren monopolisierte den Ruhm, so dass die umgebenden Orte bloß Öde und Langeweile verbreiteten. Cinna weiß, dass er alles, was er ist oder besitzt, auf einer fragwürdigen Basis errichtet hat. Er wartet immerzu auf den kleinen Schubser seitens eines Eszai oder Gouverneurs, der das ganze Kartenhaus in sich zusammenfallen ließe, so dass er wieder im Dreck läge. »Der Gebrauch von Kat ist Verschwendung der allzu kostbaren Zeit«, sagte er. Er hielt mir die Tür auf und fügte hinzu: »Aber ich habe mir überlegt, was Unsterblichkeit wirklich bedeutet, Jant. Ich würde ebenfalls Drogen nehmen.« Ich verließ den Nachtclub, überquerte die Siederstraße und ging ein paar schlüpfrige Stufen zum hart gebackenen Strand hinab. Hier fegte der Wind heftiger, und er war kälter als in der geschützten Stadt. Auf dem welligen feuchten Sand hinterließ ich keine Abdrücke. Ich würde nicht wieder abhängig werden, redete ich mir ein; das ist bloß ein gelegentlicher Gebrauch. Der leere Ozean war ein leerer Raum, der einen in sich einsaugte; da draußen gab es keine Lichter. Ich schwang meine Laterne, aber sie beleuchtete lediglich das schwappende Wasser. Weit draußen an der Hafenmündung verschmolz ein dunkles Etwas mit der Nacht, eine reglose gewaltige Masse, wie eine böse Vorahnung. Es musste die Sturmschwalbe sein. Mein Gott, war das ein riesiges Schiff! Ich kam am Kai vorüber, dem einzigen Teil der Stadt, den die Gouverneurin wirklich richtig instand halten ließ. Über 91 die Hafenmündung waren kleinere Fahrzeuge vertäut. An jedem hing eine hin und her schwingende Laterne, deren gelber Schein sich in den sanften kleinen Wellen widerspiegelte; eine lautlose Blockade. Etliche Boote ruderten vom Kai hinaus zur Sturmschwalbe. Die Männer an den Skulls waren schwach zu erkennen. Auf jedem Boot stapelten sich Fässer -die letzten Vorräte an Süßwasser wurden eingeladen. Raas nächtliche Arbeiter am Pier rollten kleine Fässchen heran und unterhielten sich dabei im unterdrückten Tonfall von Schmugglern. Das erste Ruderboot verschmolz mit der Dunkelheit, aber ich vernahm nach wie vor voller Angst das rhythmische, vom Wind verzerrte Klatschen seiner Skulls. Der Ruderer stieß einen Ruf aus; auf seine vertraute Stimme hin öffnete sich ein Durchgang in der Blockade. Raa hatte das Gerücht streuen lassen, diese Entdeckungsreise würde sich nicht von den anderen unterscheiden, die sie bereits unternommen hatte, aber wenn man den gegenwärtigen Stand der Geheimhaltung mit dem der vorherigen Expeditionen vergliche, käme man zu einem völlig anderen Ergebnis. KAPITEL 5 Am folgenden Tag war die Subkultur von Awendin im strahlenden winterlichen Sonnenschein unsichtbar. Die schwarze und bernsteingelbe Dwarssaling sowie die Krähennester von Fischerkähnen, die im Hafen vor Anker lagen, ragten über die Häuser, was den Eindruck erweckte, als ob die Dächer Masten hätten. Das Büro des Hafenmeisters trug skulpturierte, voll aufgetakelte Karavellen in schimmernder Bronze auf seinen Turmspitzen. Ich traf Blitz und Serein Zaunkönig am Kai. Sie beobach92 teten die Prozession von Booten, die nach wie vor zu einem tiefen Kanal mit dem Namen Karackenrinne hinausruderten, wo die großen Schiffe ankerten. Die Luft war kalt, aber vom Himmel strahlte eine prächtige Sonne herab und glättete die Wogen zu durchscheinenden kleinen Wellen, die an der Hafenmauer leckten und die schweren Garben aus Tang kaum bewegten. Zaunkönig und der Bogenschütze stiegen zu einem Ruderboot hinab, auf dem unsere Habseligkeiten verstaut waren. Zaunkönig saß aufrecht auf der Holzbank. Das Rapier steckte in der Scheide, und den Schwertgurt hielt er zwischen den Knien fest. Blitz lehnte am Dollbord und ließ die Finger durch das Wasser laufen, und ein entrücktes Lächeln lag auf seinem kantigen Gesicht. Er trug einen Bogen und einen Köcher mit erstklassigen Pfeilen, und der Reif in seinem kurzen Haar glitzerte auf eine höchst empörende Art und Weise. Ich jagte den Pier entlang und hielt die Flügel halb geöffnet, um Eigengeschwindigkeit zu entwickeln. Dennoch rannte ich immer rascher und rascher auf den Leuchtturm am Ende zu. Ich ließ ihn hinter mir, erreichte Höchstgeschwindigkeit; der Pier hörte auf, ich sprang ab in die Luft. Meine Flügel trafen sich unter mir, ich schwang sie nach oben, bis die Spitzen der Primärfedern einander berührten. Teilnahmslos überflog ich den Strand, auf dem sich mehrere hundert Menschen tummelten. Einige duckten sich fluchend. Sie hatten kurz meine Stiefelsohlen und die Eisaxt, die ich umgelegt hatte, in den Blick bekommen. Ich
vernahm das neidische Gemurmel, das in Wellen ihre Reihen durchlief. Meine Flügel hielt ich zu einem »V« hoch, um ganz enge Kreise ziehen zu können, und stieg auf einer schwachen Thermik über das Chaos der Dächer auf. Ich erreichte die Höhe der braunen Sandsteinklippen und sah die grasbewachsenen Spitzen, als ich darüberschwebte. Dann wandte ich 93 mich nach draußen, den Schiffen zu; die Meeresoberfläche jagte unter mir dahin. Ich würde Awendins Gemütlichkeit vermissen. Beim Frühstück hatte ich eine Prise Scolopendrium genommen und als Ergebnis dessen fürchtete ich mich etwas weniger vor dem Ozean. Im Rausch verändert sich das Gleichgewicht zwischen sämtlichen Facetten der Persönlichkeit, so dass sich ein völlig neuer Charakter ergibt. Ich wollte unbedingt nach Tris. Einige Personen gingen den rauen steinernen Pier entlang. Von hoch droben sah ich größtenteils nur ihre Köpfe. Die Frau mit einem Spazierstock hatte langes rotes Haar über einem grünen Tuch, das sie fest zusammenhielt: Gouverneurin Schwalbe, umgeben von ihrer Dienerschaft. Sie blieben am Fuß des Leuchtturms stehen und sahen hinaus aufs Meer. Schwalbe ließ ein Lied ertönen, eine Totenklage. Der Gesang schwoll an, als sie ihre ganze Kraft in ihre Opernstimme legte. Der Wind fegte die Melodie zu mir herauf; klar und hoch glitt das Lied in einem unheimlichen Moll dahin, das mir eine Gänsehaut verursachte. Die melancholische Klage stieg über den bevölkerten Kai, wehte vorüber an den Ruderbooten auf ihrem Weg zu den Karavellen. Die Ruderer vernahmen sie. Blitz vernahm sie und schaute sich um. Der Wind blies sie nach Tris. Ich wusste nicht, weshalb sie einen Klagegesang angestimmt hatte, aber es erschien irgendwie richtig. Draußen vor dem Hafen schwankten die Boote heftig hin und her. Wenigstens musste ich nicht in einem dieser kleinen Pötte hocken. Farbenprächtige Karavellen lagen in einiger Entfernung voneinander vor Anker. Während ich an Höhe gewann und sich mein Blickwinkel weitete, sah ich etwa dreißig - wie leuchtend bemalte Modelle, einige mit Windmühlen an Deck zum Betreiben von Winschen, einige trist und mit Seepocken an der Hülle, einige mit Männern in dem 94 komplizierten Fadenspiel der Takelage, und alle waren an Bojen mit Flaggen obenauf vertäut und wurden vom ablaufenden Wasser in die gleiche Richtung gezogen. Die Flotte war eine nüchterne Erinnerung an Raa Atas Talent. Ihre Geduld und Willenskraft konnte die Welt erobern. Im fünfzehnten Jahrhundert waren Karavellen aus den unbeholfenen Handelskaracken entwickelt worden, obwohl sie seither etliche Verbesserungen erfahren hatten. San erkannte ihren Nutzen für den Transport von Vorräten und Truppen an die Insektenfront, also schuf er einen Platz im Kreis für einen Seefahrer und hielt einen Wettbewerb ab, den Atas Vorgänger gewonnen hatte. Der erste Seefahrer versuchte sogleich, mögliche Herausforderer dadurch abzuschrecken, dass er jedem Unternehmen der Zaskai den Bau von Karavellen untersagte. Es war ein Plan, den der Imperator gewiss nicht guthieß. Ata wusste das und missachtete das Verbot. Für ihre erste Herausforderung im Jahr vierzehnfünfzehn ließ Ata Karavellen in Einzelteilen anfertigen, und zwar in Hacilith, wo der Seefahrer sie nicht bemerken konnte, und über Land auf einer Straße, deren Bau sie selbst in Auftrag gegeben hatte, zu einem geheimen Ort an der Küste bringen, der eigens für den Zusammenbau vorbereitet worden war. Großspurig segelte sie mit ihren Schiffen um die Grasinsel - ihr jähes Erscheinen erschreckte ihren Vorgänger. Das ist die Entschlossenheit, die Ata besitzt, und der Beitritt zum Kreis hat ihren bewundernswerten Ehrgeiz nicht berührt. Sie hatte ausgedehnte Wälder aus Ulmen und Eichen für ihre zukünftigen Schiffe gepflanzt. Die Sturmschwalbe war die bei weitem größte Karavelle, sechzig Meter lang. Kein Teil der Oberfläche war unverziert geblieben; der hohe Heckaufbau war rot gestrichen, mit goldenen, spiralförmigen Schnörkeln. Das Vorschiff war ein wenig kleiner, und dazwischen lag ein niedriges Deck mit dem 95 größten ihrer vier Masten. Die schwarze Hülle war stark gerundet, ihre Seiten führten steil nach unten, so dass sie, von hinten betrachtet, die Form einer Träne hatte. Die Galionsfigur der Sturmschwalbe war ein muskulöser junger Mann mit faltigem Lendenschurz. Darüber ragte ein quadratischer Bug hinaus, der üppig mit scharlachroten Zickzacklinien und der Sonne des Schlosses verziert war. Eine lackierte Spiere stach davon ab wie ein Stoßzahn, und an der Wasserlinie fünf Meter unterhalb des Bugs lief ein fest gespanntes Ankertau aus einer Luke. Der vorderste Teil des Decks war so etwas wie eine Landzunge mit kreuzförmig verlaufenden Planken, zwischen denen ich die Wellen erkennen konnte. Die Seefahrerin musste die Insulaner ernstlich mit der Genialität und den Reichtümern des Imperators beeindrucken wollen. Die Sturmschwalbe weckte auch in mir Zuversicht: Raa war pragmatisch. Wenn sie Geld für Verzierung ausgegeben hatte, dann musste das übrige Schiff zuverlässig und eindrucksvoll sein. Es wäre ebenso vertrauenswürdig, wie es die beste Seefahrerin der Welt nur hinbekäme. Zu beiden Seiten verlief ein schmaler Laufgang drei Meter über der Wasserlinie. Barocke Holzschnitzereien, rot und gelb bemalt in den Farben des Schlosses, häuften sich am Heck. Die Laternen dort waren ebenso wie das gesamte Oberteil des Heckaufbaus nach hinten angeschrägt, so dass die Sturmschwalbe aussah, als ob sie dahinjagen würde, selbst wenn sie still im Wasser lag. Die Rautenfenster im Heck waren mit rubinroten gläsernen Eruptionen verziert. Darunter bildete die prächtige Sonne ein gewaltiges Kernstück, bedeckt mit blendender Goldfolie, die in einem Sonnenlicht funkelte, das die Wellen reflektierten.
Wimpel am Mastkopf drehten sich an ihren Befestigungsschnüren wie Kinderdrachen. Raas schlichter weißer Stander war der längste. Ich erkannte auch den silbernen Schwan von 96 Königin Tangare sowie Zyan Wanderfalkes schlafenden Falken. Zu sehen waren auch das schwarze Pflugzeichen des Guts Eske, Shivels Silberstern und das Wappen von Gut Schwingelgras, die drei Würste am Spieß. Auch Gut Karniss musste einen finanziellen Beitrag geleistet haben, weil seine Flagge dort war, ein schwarzer Sichelmond, durchbohrt von einem Pfeil. Vor einhundert Jahren habe ich einem rhydannischen Mädchen namens Shira Dellin erzählt, dass sie ebenso viele Chancen hätte, die awianischen Siedler von den unteren Hängen der Dunkelberge zu vertreiben, wie den Mond mit einem Pfeil zu treffen. Die Siedler gründeten das Gut Karniss und übernahmen sogleich dieses Bild als ihr Zeichen, was es noch schmerzlicher machte, da sie bewiesen, dass ich Recht gehabt hatte. Zwischen dem ersten Mast und dem Hauptmast unternahm ich einen kontrollierten Abstieg und fiel mit einem hohlen Plumps aufs Deck. Ich faltete meine Flügel zusammen. Cinnas Scolopendrium war so gut, dass ich überhaupt keine Schmerzen darin spürte. Blitz und Zaunkönig kletterten an Bord und traten zu Raa ans Steuerrad. Zaunkönig grinste unbeherrscht. Er floss über vor Aufregung. Matrosen machten sich daran, die Flaggen zu verstauen. Raa rief: »Segel hissen! Halbdeckmänner nach unten an die Ankerwinde! Vorsegel brassen! Schickt bitte Order an Meister Fulmer auf der Melowne; wir sind unterwegs ... Willkommen auf dem Ozean, Serein!«, fügte sie hinzu. Mit der Melowne im Schlepptau glitten wir an den Schiffen in der Karackenrinne vorüber, links von uns die schwarzen Tonnen. Eine awianische Rennjacht rief die Schneller Segler herbei, sie solle uns eskortieren; sie läutete die Glocke zum Gruß. »Sie wünschen uns Glück!« Ich winkte. Ich war völlig aus dem Häuschen darüber, dass ich keine Angst hatte. Ata stützte sich aufs Steuerrad. »Geht's dir gut, Jant?« 97 »Ju. Hm.« Ich starrte die geschnitzte Quadratraute am Bug unseres Schwesterschiffs an. Die Melowne war in den Farben von Glimmerwasser bemalt, mit dunkelblauen und weißen Quadratrauten; sie war so üppig ausgestattet, als ob man sie mit dem Mobiliar eines pleite gegangenen Bordells dekoriert hätte. »Sag mir doch, welchen Tag wir heute haben!«, forderte Ata mich auf. »Mmmm.« »Lass mal deine Augen sehen!« Ich nahm meine Sonnenbrille ab und sah sie an. »Gut, in Ordnung«, meinte sie schließlich, aber mit einem leisen Zweifel. Die Melowne setzte sämtliche vorhandenen Segel, um mit uns Schritt zu halten und rechts hinter uns zu bleiben. Blitz grüßte mich nicht, da er tief in ein Gespräch mit dem Fechter verstrickt war. Er zeigte zu der prächtigen blauen Hochzeitstorte hinüber, seiner Karavelle. »Sie ist nach meiner Schwester benannt. Kleine Melowne ...« »Ju«, sagte ich. Ich beugte mich über die Reling und bemerkte, dass keine zwei Wellenspitzen je dieselbe Form hatten. »Sie war die Jüngste in meiner Familie«, setzte Blitz an. »Die Jüngste von neun. Sie ist schon mit sechs Jahren gestorben.« »Das ist sehr, sehr schade«, bemerkte Zaunkönig. »Oh, schon gut. Ich bin seit der ersten Jahrtausendwende drüber weg«, sagte Blitz eisern. Wie ich gehört hatte, war es ihm im Jahr eintausend auf Grund des heftigen ökonomischen Drucks schließlich gelungen, die Dynastie der Avernwasser zu Grunde zu richten und ihr Herrenhaus wieder in eine Parklandschaft zu verwandeln. »Es war vor langer, langer Zeit, verstehst du«, sagte er ruhig. »Melowne war die Jüngste in meiner Familie; sie war voller Leben, die ganze Zeit über glücklich. Mein Zweitältester Bruder Gyr war besonders stolz auf sie. Er neigte zur Verdrossenheit, und sie hat ihn mit Leben erfüllt. Eines Morgens im Mittsommer spielten sie zusammen, während wir die Feier zum Tag des Gottesverlusts vorbereiteten. Eine Blumenparade, angeführt von der Julikönigin, kam die Gasse herab auf uns zu, und die junge Maid, welche die Königin darstellte, wollte gerade am Palast vorüberziehen. Menschen säumten die Straße und jubelten ihr zu. Wir im Palast wollten eine gute Sicht auf sie haben, also sind wir Kinder allesamt ins oberste Stockwerk gerannt. Ich fand ein Dachfenster. Melowne und Gyr waren genau unter mir, draußen auf der Fensterbrüstung. Melowne hatte einen Kranz aus Gänseblümchen um den Kopf und in den Schnallen ihrer Schuhe. Sie beugte sich weit über das Geländer, als die Prozession unten vorüberzog, und er hielt sie am Rückenteil ihres Kleids fest. Sie lachte vor Entzücken, zeigte auf die Kutschen und strampelte mit den Beinen. Versehentlich traf sie Gyr unter das Kinn, und er ließ sie erschrocken fallen. Ich sah sie gerade noch verschwinden.« Blitz zeigte über die Reling nach unten. »Schrecklich.« Er nickte langsam. »Der Tod meiner kleinen Schwester verursachte einen Aufruhr. Anschließend war nichts mehr wie zuvor. Meine Brüder hassten Gyr ... und ich auch. Er wurde wütend und schweigsam; schließlich verließ er uns, um ein neues Haus in Avern zu gründen. Ich habe ihm wohl nie dafür vergeben.« In der Hoffnung auf ein etwas weniger sentimentales Gespräch schritt ich zu Raa hinüber. Sie beobachtete das Versorgungsschiff sorgfältig, bevor sie das Rad ihrem Stellvertreter
98 99 überließ. Ich glaube, sie hatte sämtliche Offizierspositionen mit ihren Söhnen und Töchtern besetzt. »Meine Herren«, sagte sie, »ich möchte euch eure Kabinen zeigen.« Raa erklärte, dass die Sturmschwalbe fünf Ebenen hatte, mitgezählt die offenen Decks und den Mastkorb. Der Frachtraum beanspruchte das größte Deck. Dort wurden zerlegte Pinassen zur Erkundung mitgeführt, und im Heck stand ein Stall voller rötlicher Hühner. Wir stiegen die Luke zum Wohndeck hinab, das oberhalb der Wasserlinie lag und vom Bug bis zum Heck kleine, mit Sonnenbannern bemalte Läden aufwies. Jedem Matrosen standen lediglich vierzig Zentimeter mal zwei Meter zum Anbringen seiner Hängematte zur Verfügung. Ich staunte, dass sich Awianer in einen derart klaustrophisch engen Raum zwängen konnten. Statt in ihren schattigen Städtchen auf dem Lande und bei ihren kleinen Familien in geräumigen Häusern zu bleiben, wurden Männer mit Federrücken ohne ausreichend Platz zusammengepfercht, um die Flügel spreizen zu können. Raas Kabine schob sich am Heck in ihre Quartiere hinein und erstreckte sich bis aufs Deck darüber; ich konnte fast aufrecht darin stehen. Sie hatte ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer, das zugleich als Speiseraum diente und in dem ein Tisch aus poliertem Mahagoni stand, der so gar nicht zum übrigen Schiff passen wollte. Anscheinend hatte sie die Absicht, die Sturmschwalbe zu ihrem Herrenhaus zu machen. Wieder zurück an Deck sagte sie: »Jant, du hast die Kabine unter dem Achterdeck.« Sie öffnete eine Tür in einen leeren Raum mit abfallendem Boden, der einen Meter breit, zwei Meter lang und einen Meter hoch war. Über einem Haken für eine Hängematte war ein Regal an die Wand oben zurückgeklappt. Sollte ich etwa dort hineinpassen? »Das ist 'n verdammtes Klo«, meinte ich. »Ich schwöre, das ist die luxuriöseste Passagierkabine, die 100 wir zu bieten haben! Na ja, wenn du draußen schlafen willst, bitte ... Komm schon, Blitz, ich zeige dir das Vorschiff.« Zumindest war meine Kabine am weitesten von den Wellen entfernt. Ich konnte mich aus dem Bullauge hinauslehnen und den Wasserstand an den Planken der Hülle abschätzen, um zu entscheiden, wie rasch wir sanken. Sie hatte die beste Aussicht, frische Luft, und ich konnte vom Deck oben abheben. Die Bewegung der Wellen ließ meine Kabine am stärksten schaukeln, aber das machte mir nichts. Ich war einfach nur froh, Raas lächelndes Gesicht los zu sein, also faltete ich mich in dieser winzigen Holzkiste zusammen. Was tat ich hier eigentlich, verdammt? Sobald ich sie einmal wahrgenommen hatte, war die Bewegung des Schiffs gnadenlos. Noch konnte ich heimfliegen, aber dann müsste ich dem Imperator gegenübertreten. Ich war zwischen zwei schrecklichen Möglichkeiten gestrandet. Im Schneidersitz saß ich da, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen vergraben und die Finger in meinem schwarzen Haar, das wie ein Wasserfall an mir herabfloss. Schritte dröhnten die Leitern zwischen den Decks auf und ab und donnerten auch über meinem Kopf. Bohlen quietschten. Bei genauerem Nachdenken erschien die Sturmschwalbe doch äußerst zerbrechlich. Die Matrosen stellten etwas ein, der Boden wurde gerade, und das Schiff nahm allmählich Fahrt auf. Ich schlurfte weiter in die Kabine hinein, verriegelte die Tür und öffnete meine Rasierklinge. Dann teilte ich mein Viertelkilo Kat, kippte das Pulver auf einen Buchdeckel, schnitt es und schüttete es in Papiertüten, jeweils etwa ein Gramm. Warum kaufte ich so viel Scolopendrium? Damit es Cinna seinen Opfern nicht verkaufen konnte? Nein, weil ich genügend brauchte, um während der ganzen Fahrt high zu bleiben. Mit dem Erfindungsreichtum des Ex-Junkies verbarg ich die Pa101 piertütchen in jeder möglichen Nische, wo immer sie nicht zu sehen waren. Ich verkeilte sie in den Deckenträgern und zwischen den Dielenbrettern. Ich klebte sie an die Unterseite des Klappbetts, stopfte sie in die Laterne und den quadratischen Kerzenständer. Ich verbarg Tütchen zwischen den Buchseiten, in der Tasche für den Schleifstein an der Scheide meines Messers. Ich nähte sie sogar in den Saum meines Mantels ein. Eine Stunde später hatte ich immer noch zweihundert Gramm im Umschlag übrig, was ausgereicht hätte, um die gesamte Mannschaft beider Karavellen zu vergiften. Ich kippte einen Fingernagel voll Kat in einen Becher Weißwein. Kaum hatte es die Oberfläche berührt, da löste es sich auch schon auf wie schmelzender Schnee. Ich legte eine Linie auf dem Buchumschlag aus und zog sie hoch. Meine Kinnlade prickelte. Eilig drückte ich das Bullauge auf und übergab mich heftigst über die Seite der Sturmschwalbe. Dann kehrte ich, benommen von der Helligkeit, aufs Achterdeck zurück. Die frische Brise ließ mich schaudern. Das Festland war lächerlich klein und konturlos - ich sah die gesamte Kobaltküste als blassgrüne Linie am Horizont, die sich allmählich blau verfärbte. Die Felsen von Awendin waren ein blasser Klecks von weniger als einem halben Zentimeter Höhe. In allen anderen Richtungen breitete sich der gleichförmige Ozean aus. Ich wollte nicht hinsehen. »Es ist, als würden wir die ganze Ostküste sehen können«, meinte ich zu Raa. Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Verabschiede dich von ihr, Jant.« Selbst jetzt könnte ich noch zurückfliegen. Ich beugte mich über das Heck und streckte die Flügel, um den Wind darunter zu spüren. »So was hast du noch nie zuvor gesehen?«, fragte der Bogenschütze ruhig.
»Es ist entsetzlich.« Zischend stieß ich die Luft aus. »Eine 102 Karikatur.« Ich muss stets für sie arbeiten, in ihrer Welt. Blitz hat die Berge auf Abenteuerexpeditionen besucht, dazu einmal, als ich Hilfe benötigte; aber ich glaube nicht, dass einer von beiden über das Hochplateau käme. Ich überquere Grenzen, die Schwindel erregender, und Welten, die weitaus gefährlicher sind als die hier, redete ich mir ein, was mich allerdings ganz und gar nicht beruhigen konnte. »Sind wir in Gewässern, die tief genug sind, dass uns Seeungeheuer angreifen können?« Raa machte »t-t«. »Jant, so etwas wie ein Seeungeheuer gibt es nicht. Ich habe Vierlanden umsegelt. Ich bin sechshundert Jahre lang über diesen Längengrad hinausgesegelt, also kannst du absolut mein Wort dafür nehmen. Ungeheuer gibt's bloß in den Geschichten betrunkener, prahlerischer Harpuniere. Du siehst vielleicht einen Wal in der Ferne blasen, aber das war's dann auch schon wieder.« Ich nippte an meinem gepantschten Wein und beobachtete das grüne Kielwasser der Sturmschwalbe, das sich hinter uns abspulte wie von der Spindel eines Webstuhls. Der Horizont wich zurück; ich erwartete einen Donnerschlag oder etwas dergleichen, als er sich mit dem Dunst mischte und verschwand. Noch lange danach starrte ich in jene Richtung und prägte sie mir im Gedächtnis ein. Noch eine weitere Stunde, und die Sturmschwalbe hätte mich zu weit weggetragen, als dass ich hätte heimfliegen können. Ich wandte mich von der Reling ab. So lange hatte ich aufs Meer hinausgesehen, dass mich die Größe und die Geschäftigkeit des Schiffs überraschte. Meine Hände waren so schwach, mein Glas war leer. Ich tat einen Schritt, und das Deck kippte unter mir weg. Scheiße, wenn mich die anderen in diesem Zustand sähen, würden sie es ganz bestimmt wissen. Ich muss meine Kabine erreichen, die Tür verschließen, es ausschlafen. Also drückte ich mich an der Reling entlang 103 zur Leiter und tastete mit einem Fuß nach den Sprossen. Ich kann hinabsteigen, so weit ist es nicht. Ich fiel schwer auf das Halbdeck und schüttelte Flügel und Arme aus, um ihre Position zu bestimmen. Ja, natürlich neigt sich der Boden, verdammt, sagte ich mir; wir sind auf einem verfluchten Schiff. Ich riss die Kabinentür auf, warf meinen Mantel zu Boden, aber er rutschte zur Tür. Ich habe zu viel genommen. Aber es fühlt sich so gut an, o Gott, fühlt es sich gut an! Das Summen und die Orientierungslosigkeit überkommen mich nur langsam, wenn ich Kat trinke. Daher vergesse ich jegliche Vorsicht, und ich trinke immer zu viel, verdammt. Es wird hoffentlich bald seinen Höhepunkt erreicht haben. Schlau von mir, zur Kabine zurückzukehren, solange ich es noch konnte ... Jetzt ist keine Küste mehr da, nur Meer, kein Land zum Landen, nur Meer ... Wir müssen unserem Gedächtnis trauen, dass das Reich immer noch existiert. Ich habe zu viel genommen. Zusammengerollt liege ich auf meiner Decke, halte die Augen geschlossen - kann die Welt draußen nicht mehr beobachten, zu viel geht da draußen vor sich. Gedanken rasen durch meinen Kopf, und Kat zerbricht sie allmählich in ihre konstituierenden Zyklen. Bewusstsein ist kreisend. Gedanken kommen in Zyklen. Es sind große, langsame, unregelmäßige Zyklen, und rasche Kreise wiederholen sich in ihnen. Worte bilden sich, wenn Geräuschzyklen in der richtigen Kombination klicken. Bewusstsein ist kreisend; Gedanken kommen in Zyklen. Es gibt große - es passiert mir! Ich glaube, ich sterbe. Keine Sorge, ich werde nicht sterben; das ist früher mal geschehen. Ich hasse es, wenn das geschieht. Wechsele vielleicht nach Andernort. Und ich bin seit Jahren nicht mehr in Epsilon gewesen. Wechsele vielleicht nach Andernort. Beim letzten Mal bin ich fast umgekommen. Rehgen hat gesagt, ich hätte im Sterben gelegen. Keine Sorge, ich werde nicht sterben. Dies ist früher schon ge104 schehen. Ich hasse es, wenn das geschieht, es geschieht mir; es geschieht mir. Ich wechsele nach Andernort. Und ich bin seit Jahren nicht mehr in Epsilon gewesen. Bewusstsein ist kreisend; Gedanken kommen in Zyklen. Habe ich das nicht gerade gedacht? Worte bilden sich, wenn Geräuschzyklen in der richtigen Kombination klicken mir, es geschieht mir, es geschieht — Was ist das? Das Gefühl des Sterbens. Keine Sorge, ich werde nicht sterben, dies ist früher schon geschehen. Worte bilden sich, wenn Geräuschzyklen. Gott, ich hasse es, wenn das geschieht. Ich wechsele vielleicht nach Andernort. Und ich bin seit Jahren nicht mehr in Epsilon gewesen - mir, es geschieht mir, es gesch- Ich glaube, das habe ich gerade schon gedacht -ieht mir, es geschieht mir, es geschieht - iiiieee mir ges es ges geschieht iiiieee ssseiii miiiir Worte bilden sich wenn Worte sich bilden Worrrr ttt urt ort lort wort Worte bil bil viel dddii Worte billl Worte bill hick dug dur wer wur Worte bbbill bilden geh neh neiii bbbil Worte bilden ar orr bill orrr ... or ... r ... Von allen Seiten drangen Rufe an mein Ohr, und vor mir reihte sich ein Marktstand an den anderen bis dorthin, wo sich der Horizont mit dem orangefarbenen Himmel traf. Unablässig hetzten Käufer, ewige Käufer herum, ein kleiner Junge, der Postkarten von Epsilon verkaufte, schoss durch die Menge. Ich erkannte den Basar des Quantrummplatzes wieder. Ich ließ mich im Schneidersitz auf dem Bürgersteig nieder und konzentrierte mich, veränderte mein Erscheinungsbild von einer bloßen Bleistiftskizze Jants zu etwas Soliderem, das wie ich selbst mit ein paar Verbesserungen aussah. Nachdem ich mich aufgepeppt hatte, kam ich etwas wackelig auf die Beine. Ich hatte geschworen, niemals mehr hierher zurückzukehren, und jetzt hatte ich meinen Schwur erneut gebrochen. Eine kleine graue Wolke erschien über meinem Kopf und regnete auf mich herab. »Na gut«, sagte ich
105 zu ihr und wedelte mit der Hand. »Na gut! So deprimiert bin ich nicht.« Die Wolke schüttete einige weitere vereinzelte Tropfen auf mich herab und löste sich auf. Es gab Marktstände mit modrigen Büchern, Kleidern und Raffiabast, Kuchen und Bier. Pferdegeschirr aus Messing, Porzellan, tausende von Edelsteinen auf Samt. Platte grüne Trauerkröten sangen traurige Weisen in Glaskrügen. Stände verkauften uralte Schuppen von Seeschlangen, Barometz-Wurzeln - sehen aus wie Schaf, schmecken jedoch wie weiße Rüben -, abgerichtete Falken, offenbar »die besten Jäger in der Purpursteppe«, und wild durcheinanderliegende Bambuskäfige voller Finken, die darin zwitschernd umherflatterten. Es gab Bonsai-Ents - kleine knorrige Bäume, die auf Wurzelbeinen auf einem polierten Tablett umherstolperten. Ein Sumpfgibbon tollte auf dem Dach eines Stands. Er hatte blassgrünes seidiges Fell und runde, intelligente Augen; seine Hinterbeine endeten in Entenfüßen. Ich musste einfach über ihn lachen. Der Affe zog die Oberlippe zu einer Grimasse in Kaugummirosa hoch. Da ich jetzt für eine ungewisse Zeitspanne hier festsaß, wollte ich mich ein wenig vergnügen. Ich machte mich auf die Suche nach den goldenen Scheren, dem Zeichen für die Bar »Zu den Ochseneiern«. Es war keine leichte Aufgabe, da Epsilon sich unentwegt verändert. Eine Gruppe Nasnas mit Führern wand sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch. Nasnas sind Männer mit nur einem Arm und einem Bein. Die beiden mir am nächsten waren untersetzte Fleischsäulen, die einander stützten und als Paar durch die Gegend hüpften. Bei jedem Mann ragte der Arm aus der Mitte der Brust heraus und wedelte umher wie ein Rüssel. Ich musterte ihre Gesichter, und mir blieb die Luft weg. Jeder hatte ein großes, einzelnes Auge direkt über der Nase, und alle sonstigen Gesichtszüge in einer senkrech106 ten Linie darunter, ein breiter Mund in einer groben Haut. Im Vorbeigehen richteten die Männer ihre großen runden Augen auf mich. Ihre Führer verkündeten: »Hier ist die Grenze des Zinken-Viertels. Seien Sie bitte auf der Straße besonders vorsichtig ... Und wenn Sie einen Zinken sehen, laufen Sie. Na ja, hüpfen Sie rasch davon!« Hinter dem nächsten Stand saß ein großes, bärengleiches Tier. Sein Fell bestand aus rein schwarzen und weißen Klecksen. Nach hinten weisende Stacheln wuchsen ihm um den Hals und den Rücken hinab. Das Vieh schüttelte sich, dass seine Stacheln rasselten. Den Kopf hielt es gesenkt; es wirkte so geknickt und erbarmungswürdig, dass ich stehen blieb, um es zu kaufen und freizulassen. Der Inhaber des Stands war ein schmieriger Typ mit Glasauge. Auf seiner Schulter kauerte ein Papagei mit farbenfrohem, zerzaustem Gefieder. Er rollte mit den Augen und ahmte jede Geste seines Besitzers nach. Der Standbesitzer sah, dass ich ein Tourist war, und rüttelte entzückt an der Kette des Bären. »Ein Stachelpanda, mein Herr! Eine höchst kostbare Delikatesse. Keine fünfhundert Pfund, auch keine vierhundert Pfund. Dreihundert Pfund, nur für Sie, mein Herr!« Ich konzentrierte mich und stellte mir die richtige Geldsumme in der Tasche meiner Anzugjacke vor, bezahlte den Standbesitzer und befreite den Stachelpanda. Als ich ihm den Kopf tätschelte, leckte er mir die Hand und schoss davon. Ich ging weiter zur zentralen Fontäne, errichtet in der Technologie der Terschiede aus verfestigtem Wasser. Zwischen den transparenten Blöcken schimmerte weißer Zement hindurch. Das Ganze ergab eine wunderbare dreidimensionale Matrix, durch die Sonnenstrahlen tanzten, geworfen von dem flüssigen Wasser, das innerhalb des Baus sprudelte. Zwei nasse Beutelwölfe spielten bellend in den prächtigen Fontänen, die wie Diamanten herabstürzten. 107 Ein Bukett aus Chloryllkurtisanen lümmelte neben dem Teich. Die Chloryll beteiligten sich an der Kultivierung dieses Stadtviertels. Ihre außergewöhnliche Schönheit erinnerte mich an Nachtigall, so schmächtig waren sie und köstlich; ihre Haut war schwarz wie Ebenholz. Einer wuchsen winzige Früchte aus dem schimmernden Haar, das auf ihrem Kopf aufgetürmt war. Ihr bodenlanges Kleid raschelte, es war aus lebendigem Blattwerk gemacht; zwischen den Blättern sprossen hier und da winzige rote Rosen. Um ihre Arme schlang sich Efeu wie lange Netzhandschuhe. Hinter sich zog sie eine Schleppe aus eingerollten Ranken, Farnwedeln und bunt gestalteten Farnen nach. Mit diesen Fruchtkörpern ließ sich gut schlafen, aber ich wollte mich nach einer so langen Abwesenheit lieber noch weiter in Epsilon umsehen. Der Markt setzte sich im Zinkenviertel fort, wo eine breite, mit achtzehnkarätigem Gold gepflasterte Straße die eine Seite des Marktplatzes bildete. Ein schimmernder Bau mit glatten Säulen beherbergte vier rechteckige, leise vibrierende Maschinen. Der salzig-kupfrige, wassrig-faulige Geruch der roten Flüssigkeit der Zinken lag schwer in der Luft. Auf einem Schild über den Maschinen war zu lesen: ZINKEN-AUTOMOBILE, DAS HERZ DER MOTORISIERUNG Bei der Fahrt durch die Arterien von Epsilon gibt es nichts Besseres als die Karotid-Cafes. Für jeden Geschmack ist etwas vorhanden: Blut, Bier, Kaffee. Bis zum nächsten Cafe: zehn Meilen. Unter dem Schild saß ein Mädchen in einer niedrigen Kutsche aus Gold, die also das Werk der Zinken sein musste. Sie hatte weibliche Kurven und Vorgestülpte Paneele über ihren 108 kleinen Speichenrädern, Türen in einer dachlosen Karosserie, jedoch ein aufrechtes Glasfenster an der Front.
Was fehlte, war eine Deichsel für Pferde. Das Mädchen im Innern kam mir irgendwie bekannt vor. Es winkte mir zu. »He, mein Flügeljunge! Jant! Erinnerst du dich an mich? Bei Hofe? Ich war der Haifisch!« »Estragon!« »Komm her! Mach dir keine Sorgen wegen des Zinken.« Ein Zinke kümmerte sich gerade um ihren Wagen. Er war ein Fleischfresser, wie alle seiner Art, drei Meter groß, und er strotzte vor Muskeln. Von einem Lendentuch abgesehen war er nackt, die himmelblaue Haut vernarbt und tätowiert. Seine blicklosen Augen waren pupillenlos und von einem durchgehenden Blau, seine Brauen zwei gepiercte Reihen von Stahlringen: die Hochmuts-Sekte. Er konnte wohl eine Woche lang von dem Fleisch leben, das ihm zwischen den Segelnadelzähnen steckte. In den Klauenhänden hielt er einen schwarzen Gummischlauch, der sich zum Boden hinabschlängelte und dort verschwand. Er pumpte die rote Flüssigkeit in Estragons goldenes Automobil. Der ganze Boden summte. Ich ging vorsichtigen Schritts und war bereit, jederzeit die Beine in die Hand zu nehmen. Ich hielt Estragon zwischen mir und dem knurrigen Tankwart, aber Estragon war ein Haifisch, oder vielmehr die Andernort-Projektion eines Haifischs, und sie war ebenso gefährlich. Ihr Grinsen zeigte ihre scharfen Zähne. Flossen ragten ihr aus dem Rücken und den Körperseiten. Mit einem konzentrierten Ausdruck bemeisterte sie ihre Gestalttransformation, so dass die Flossen sich zurückzogen und ihre Haut sich glättete. Kurzfristig wirkte sie eher wie eine wunderschöne Frau und nicht wie ein Hai. »Gefällt dir meine Gestalt?«, fragte sie. »Ich finde Luftatmer netter und hübschen jungen Mädchen gegenüber gefälli109 ger.« Da sie nun wieder in Gedanken verloren war, machten sich die Veränderungen nach und nach rückgängig, so dass ich mich der Schwierigkeit gegenübersah, mich mit einem Blondgelockten Teenager in einem trägerlosen Kleid zu unterhalten, der drei Reihen dreieckiger Zähne zeigte. An ihrem Hals tauchten parallele Schlitze auf; tiefe Kiemenöffnungen, wie schwarze Gummibänder. Sie wurden breiter, inhalierten und verschwanden. Sie konzentrierte sich darauf, das glänzende karminrote Kleid zu verbessern, das sie am Leibe trug. Eine Stola aus Phlogistafell lag ihr um die Schultern. Phlogistas sind selten und teuer; sie sind lang, wie Nerz, jedoch dunkelrot gefärbt und haben ein tiefes, prächtiges Fell. Sie haben kleine Löwenköpfe, jedoch ist ihr Gesicht statt von einer Mähne von einem Ring aus fleischigen Blütenblättern umgeben. Dieses katzenhafte Blumengesicht bildete die Schnalle ihrer Stola, und die gelben Glasaugen glitzerten. Phlogistas sind feuerresistent; zum Säubern des Pelzes hält man ihn in die Flammen. Ich bot Estragon die Hand, aber sie sah sie an wie ihr Lieblingssandwich. »Du kannst den Wagen berühren, weißt du«, meinte sie. Ich ließ den Blick über den Wagen laufen. »Er ist nicht lebendig?« »Nein, Jant. Er ist nicht lebendig ... Teile von ihm sind lebendig.« Er war aus einem dünnen Blatt reinen Goldes gemacht, und die komplizierte Ausstattung im Innern bestand gleichfalls aus Gold: ein Lenkrad, auf dem Estragons zierliche Hände lagen, sowie eine Skala, die wie ein Zifferblatt aussah, jedoch keines war. »Der Wagen wird dir nicht wehtun«, sagte sie achtsam. »Aber halte dich von den Zinken fern! Sie haben diese Sportwagen für ihre Jagd und für religiöse Opfer erfunden. Sie ver110 letzen damit die Opfer auf interessante Art und Weise zum Zweck ihrer Anbetung. Sie sind scharf auf schnelle, schnelle Wagen, je schneller, desto besser, wie dieser Bolide hier; der Beste, den man für Fleisch kaufen kann. Zum Bau schneller Wagen brauchen sie gute Sportler. Du bist ein Sportler, nicht wahr?« Ich nickte. »Zinken werden alles tun, um einen so ausgezeichneten Läufer wie dich in die Hand zu bekommen. Wenn sie etwas von Rhydannern wüssten, wärest du bereits tot. Sie brauchen Sportler, denn die treiben diese Babys hier an«, meinte sie und tippte liebevoll mit einer Flosse ans Lenkrad. »Guck mal!« Sie drückte einen Knopf, und eine Falltür öffnete sich vorn im Fahrzeug. Ich schlenderte herum und spähte hinein. Unter der Motorhaube lag zitternd und bebend eine Masse aus grün-purpurfarbenen Innereien. In durchsichtigen Gummischläuchen lief eine Flüssigkeit um sie herum. Sie stanken nach reifem Fleisch. Diagonal über die Mitte waren in einer Reihe sechs große Herzen angebracht, jeweils zwei übereinander. Feste rot-braune Muskeln pumpten im Takt. Ich bekam einen Eindruck von der gewaltigen Kraft, die sie erzeugten, um die Speichenräder anzutreiben. Obenauf füllten und leerten sich von selbst zwei blassrosa Lungen wie ein Blasebalg. Sie waren über eine Luftröhre, die von Knorpel umgeben war, mit den Tiefen der Maschine verbunden. Dunkle, zähe Klumpen lagen darum. Gleich neben mir befand sich ein blutverschmierter Glasbehälter mit Wasser; schimmernde Adern traten zur Kühlung der Herzen dort heraus. Etwa zwanzig rötlich-braune Nieren waren über ein Netzwerk aus Ligamenten an einer porösen Goldröhre angebracht, die zum Heck des Wagens verlief. Heiße gelbe Flüssigkeit spritzte aus der Röhre auf den Vorplatz und bildete eine dampfende Pfütze; der Wagen erleichterte sich selbst. 111
»Bä!« Ich zuckte zurück. »Meine Güte, ist das widerlich!« »Ich hab ihn gekauft, weil er mir bei der Suche helfen soll«, meinte Estragon. »Ich suche nach einer Möglichkeit zur Rettung der Seeschlangen. Deswegen bin ich hier in Epsilon, statt daheim zu studieren, mich zu aalen und Tunfisch zu essen.« Seeschlangen waren die größten Tiere, von denen ich je gehört hatte, aber ich hatte geglaubt, sie seien alle vor Jahrhunderten bei dem schlimmsten Unheil ausgestorben, das die Insekten je angerichtet haben. »Das verstehe ich nicht. Warum machst du dir Sorgen um Seeschlangen? Und, übrigens, bist du nicht ein wenig spät dran? Ihr Ozean ist vor langer Zeit ausgetrocknet - und wir sind sie zum Glück los.« »Ja, aber ich habe Möglichkeiten, mit ihnen zu reden. Seeschlangen sind Tiere von einer eigenen scharfen Intelligenz und äußerst kenntnisreich. Ich halte es für sehr schade, dass sie ausgestorben sind. Ihre ganze Erfahrung war für die Katz, Jant; ist dir das gleich? Ich habe doch gerade gesehen, wie du den Stachelpanda freigelassen hast.« »Es besteht ein Unterschied zwischen einem Stachelpanda und einer kilometerlangen Seeschlange! Andernort ist besser dran ohne faulige, schleimige Seekreaturen!« »So spricht der Rhydanner. Pass mal auf, dass du nicht selbst vom Aussterben bedroht wirst! Die Zinken möchten Sportcoupes aus dir machen. Warte ab! Nicht davonlaufen! Sei ein netter Rhydanner und kümmere dich eine Weile um meinen Wagen, während ich zahle.« Estragon hob ein saftiges Steak auf, das auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, sprang vom Trittbrett herab und verwandelte ihr Haifischgewatschel in einen sehr sexy Gang, als sie in den Verkaufsraum schritt. Ich lehnte mich an die geschwungene Seite des Wagens und sah mich nach Zinken um. Wenn Estragon Recht hatte, würden sie also gern Hackebeilchen schwingen und wären 112 ganz wild auf mein Dahinscheiden. Sie hatte dieses Fahrzeug einen Sportwagen genannt, aber ich habe nie gesehen, dass ein Wagen Sport trieb, und wenn man mich fragt, so ist es ziemlich unsportlich, in einem Wagen zu sitzen, wo man eigentlich laufen sollte. Estragon kam zurück und packte einen Klumpen des an einem flachen Stiel angefrorenen roten Wassers der Zinken aus. Sie leckte heftig daran und bot es dann mir an. »Ohne mich!« »Wie du willst. Seltsamer Luftatmer. Du solltest Epsilon nicht besuchen, Jant; du gehörst nicht hierher. Zu sehen, wie du dich vergiftest, macht mich so traurig. Ich hatte gehofft, du hättest die Drogen aufgegeben.« »Naja, ich hatte so was wie einen kleinen Rückfall.« Ich erklärte die Sache mit der Insel, meiner Angst vor dem Meer und meiner gegenwärtigen misslichen Lage an Bord der Sturmschwalbe. Flecken grauer Haut, wie Schmirgelpapier, tauchten auf ihrem Leib auf und verblassten wieder. »Eine Entdeckungsreise!«, sagte sie begeistert. »Na, in diesem Fall werde ich helfen. Ich würde liebend gern einen Blick auf eure Schiffe werfen. Ich bin ihnen eine Weile lang in der Tiefe gefolgt, also musst du vom Meer nichts befürchten. Wenn eurem Schiff etwas zustoßen sollte, während ich in der Nachbarschaft bin, sollte euch selbst eigentlich nichts weiter passieren.« »Vielen Dank. Vielen Dank, Estragon. Was kann ich als Gegenleistung für dich tun?« »Lernen motiviert uns Haifische. Eine erbauliche Erfahrung ist Belohnung genug. Und obwohl ich im Augenblick durch ferne Wasser kreuze, sollte ich nicht lange brauchen, zu euch zu schwimmen ...« Ich runzelte die Stirn. »Alle Meere sind miteinander verbunden. Eigentlich sind 113 alle Ozeane in sämtlichen Welten ein Ozean. Das Meer findet seine eigenen Ebenen über die Welten hinweg; du kannst überall hinkommen, wenn du nur weit genug schwimmst. Was zählt es, welches Meer wir atmen, solange das Wasser nur nach unserem Geschmack ist?« Und sie fuhr fort: »Ich wünschte, ich könnte den Ozean von draußen sehen - eine gewaltige Kugel aus Wasser, die im Vakuum hängt, wie mir meine Schule erzählt hat. Das ist ein Wechsel, den ich nicht vollziehen kann.« Das ließ ich mir eine Weile lang durch den Kopf gehen. Ebenjenes Meer, das in den Hafen von Kapharnaum strömt, schwappt auch an den Strand von Awendin, drängt den funkelnden Glimmerfluss bei Flut zurück - fließt brackig auf den Markt von Epsilon, glitzerte vor zweitausend Jahren in Vista Marchan und wird in den nächsten Minuten von Estragons Flossen in den Abgründen der Tiefsee durchschnitten. Das Land wechselt seine Gestalt, aber der Ozean ist nach wie vor ein Teich, ein Teich wie eine Kugel, die im Universum hängt. Ich kam zu dem Schluss, dass Estragon sich über mich lustig machte, und kicherte daher, was mir einen geringschätzigen Blick ihrerseits einbrachte. »Es ist die Wahrheit! Du glaubst nicht, dass Seeteufel und Mantarochen ihren Ursprung in deiner Welt haben?« Ich zuckte die Achseln, da ich die Tiere nicht kannte, die sie meinte. Die Haifischfrau seufzte. »Jant, du nennst dich einen Gelehrten? Kein richtiger Student würde so wie du mit seinem Bewusstsein Harakiri spielen! Warum zerstörst du dich? Soll man dich als Leichnam auffinden, einen steifen Körper mit einer Nadel im Arm? Was ist so cool daran? Ich bin durch das Lernen hergekommen, und du bist hier übers Vergnügen. Ich rieche es immer noch an dir. Vergnügen ist dort, wo ich herkomme, etwas Schlechtes.«
114 »Was ist gut dort, wo du herkommst?« »Kleine Fischhäppchen.« »Tut mir leid, Estragon. Ich habe durch Zufall gewechselt. Ich bin bloß hier, weil mir der Ozean den letzten Nerv raubt und ich eine Überdosis genommen habe.« »Es gibt andere Methoden, um sich genügend zu lösen und nach Andernort zu wechseln.« Sie lächelte dreieckig. »Durch Schmerz oder so, wie wir Haifische es tun - durch Gedankenkraft. Versprich, dass du keine Drogen mehr nimmst, und ich werde es dich lehren! Du bist vielleicht am Ende in der Lage, willentlich nach Andernort zu wechseln, ebenso wie ich - aber vielleicht auch nicht, weil Luftatmer nicht sehr intelligent sind. Du zum Beispiel wärest nie imstande, bis zu meiner Welt zu wechseln. Der Grad an Verschiebung würde dich bestimmt umbringen. Du musst dem Tod sehr nahe kommen, um so weit zu gelangen.« »Willentlich wechseln? Wie?« »Du kannst dich willentlich dazu bringen, aus einem Albtraum zu erwachen, nicht wahr? Das hier ist genauso. Dein Leib ist nicht hier; du bist ein Tourist, eine Projektion, ebenso wie ich. Wenn du nach Epsilon reisen musst, tu es über Meditation - du benötigst einen entspannten Geisteszustand, um dich selbst zu projizieren. Natürlich ist es einfacher, Andernort zu verlassen, als hier einzutreffen, also kannst du entweder meditieren oder dich gewaltsam zurück nach Hause bringen. Ich erwache bloß aus meiner Trance und kehre in mein Meer zurück.« Mir war nie der Gedanke gekommen, einen anderen Weg nach Andernort finden zu können. Ich war davon ausgegangen, dass die Reise in die Stadt Epsilon ein Nebeneffekt des Scolopendriums war und dass ich nur erwachen konnte, wenn die Wirkung der Droge nachließ. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.« 115 »Oh, doch. Du kannst das entlangfahren, was, seien wir doch ehrlich, ein ausgetretener Pfad ist. Es braucht lediglich Geduld - und Konzentration. Ich zeig's dir!« Sie beugte sich über die niedrige Tür des Wagens, packte mich vorn am Gürtel und am Hemd und zog mich hinein. Ihre Kraft war unglaublich. Ich stürzte kopfüber auf den Beifahrersitz und in den Fußraum. Meine langen Beine wedelten in der Luft, während ich um mich schlug, um eine Stütze zu finden, von der ich abspringen konnte. Estragon hielt mich mühelos mit einer kleinen Hand auf der Brust unten. Sie drückte ein Pedal bis zum Boden durch und löste einen Hebel. Der Wagen vollführte mit solcher Gewalt einen Satz nach vorn, dass ich gegen den Sitz zurückgeworfen wurde. »Lass mich raus! Lass mich raus! Hilfe!« Ich kämpfte. »Estragon, du Luder!« »Ich erteile dir eine Lektion nach Art der Haifische!« Ihre Brüste hoben sich keck unter ihrem Gelächter. Sie stieß ein wortloses menschliches Gekreisch durch die Larynxhupe des Wagens aus. Er war schneller als ein Rennpferd und jagte mit meiner Fluchtgeschwindigkeit dahin. Estragon sprach laut beim Lenken: »Ich erkläre dir die sichere Methode zu wechseln -du solltest still daliegen und dein Bewusstsein leeren, dich entspannen und deinen Weg hierher denken. Man braucht vielleicht einige Jahre zur Perfektionierung, aber ihr Unsterblichen habt ja Zeit zum Üben. Versuch's jetzt - denke dich nach Vierlanden zurück.« Ich weigerte mich. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, in einen Drogenschlaf zurückzukehren. Mein Bewusstsein musste aus einem bestimmten Grund nach Andernort geschleudert worden sein; vielleicht, damit ihm das Scolopendrium, das ich unermüdlich in mich hineinpumpte, keinen Schaden zufügen konnte. Was, wenn ich in einen Körper zu116 rückkehrte, der im Koma lag? Ich würde aus dem Kreis ausgestoßen, könnte altern und sterben, ohne je wieder zu erwachen. Estragon sah mich erschauern und rief aus: »Du kannst es tun! Lass es dir von mir zeigen!« Sie wirbelte das Lenkrad herum, wendete den Wagen und fuhr immer schneller die Zöliakiestraße hinab ins Zinkenviertel. Der Himmel war dunkel, und die Lampen zu beiden Seiten der Aureumstraße verströmten einen goldenen Schein; ein kühler Dunst erzeugte einen diffusen Halo. Haut verehrende Zinken arbeiteten am Straßenrand. Ihre Arme waren bis zum Ellbogen enthäutet. Tätowierungen bedeckten die übrige Haut, und die Schilde auf ihrem Rücken waren mit Spiralen bemalt. In die muskulösen blauen Hinterbacken waren Buchstaben eingraviert, wie Inschriften in alten Baumstämmen. Sie hatten die gebrochenen Nasen von Schwergewichtsboxern und die dicken Arme von Fischern. Sie trugen andere Körperteile von Opfern, die ich nicht identifizieren konnte. Ein gewaltiges Speichenrad von vier Metern Durchmesser drehte sich träge, und eine Nadel hob und senkte sich. Zinken schoben Haut mit der Fettgrundlage darunter; sie hing über die Kante der gezackten Goldunterlage der Nähmaschine herab. »Ist das Zinkenhaut?«, fragte ich. »Oh, sie besticken sie bloß. Später setzen sie die Haut wieder ein.« Sie knurrten, als wir vorüberfuhren. »Nicht hinsehen«, meinte Estragon. »Von hier an wird's nur noch schlimmer.« Aber sie wusste, dass ich hinsähe, weil Neugier nicht bloß Haie, sondern auch mich motiviert. Unsere Räder mahlten in Glasscherben. Ich wandte den Kopf mit einem Gefühl von Losgelöstheit. Wir kamen an ausgebrannten, zerbeulten und umgekippten Fahrzeugen am Straßenrand vorüber, zwischen denen geschwärzte Leichna117
me von Zinken lagen, die dort anscheinend Experimente mit Motoren angestellt hatten. Lange Reihen von Automobilen hatten sich so heftig ineinander verknäult, dass sie alle aneinanderklebten. Zerknülltes Metall bog sich in sich selbst zurück. Zinken hatten sich darum versammelt, die zum Teil Schläuche dabeihatten und zum Teil Äxte schwangen. Das Wasser bespritzte sie; in einem gelben Blitzlicht schienen die Tropfen langsam zu fallen. Wasser und Blut sammelten sich auf der Straße in albtraumhafter Zeitlupe. Vorhänge aus blutiger Haut hingen aus Fenstern mit zerbrochenen Scheiben. Ein Achsschenkel aus Muskelgewebe pochte vor Schmerz. Wir kamen an einer prächtigen Frau vorüber, die die Zinken mit ihrem Wagen verschweißt hatten. Ihr Leib war so glatt in den Sitz gesetzt worden wie ein Juwel in seine Fassung. Nur die Vorderseite war zu erkennen; Gesicht und Hals, Brüste und Bauch. Kränze aus goldenen Röhren liefen vom Sitz in ihre Körperseiten und verdeckten völlig ihre Rippen und die Seiten ihrer schlanken Oberschenkel. Ihre Hände waren verschwunden; Wülste an den Enden ihrer Arme gingen nahtlos ins Lenkrad über. Ihr langes Haar formte eine stilisierte, starre goldene Kurve, die zur Kopfstütze wurde. Ihre Füße verschmolzen mit dem Boden; dessen pures Gold schien ihre schlanken Beine hinaufzulecken. Sie war Teil des Wagens. »Wenn uns die Zinken erwischen, werden sie das mit uns machen«, meinte Estragon. »Werden diesen Wagen durch uns hindurchwachsen lassen. Wärst du gern auf immer und ewig ein Passagier?« »Ich will weg!« »Denke dich heim!« Etwas Schreckliches geschah dort unten. Etwas Ausgedehntes im Herzen von Aureum pumpte zähe Flüssigkeit um die Abflüsse und Deiche, die mit Verbindungsgewebe überbrückt waren. »Ich will weg!«, rief ich. »Ich will raus!« »Denke dich heim! Ich hindere dich nicht daran.« »Aber ich weiß nicht, wie!« »Wenn du herumposaunst, dass du ein Sportler bist, Rhydanner, wirst du den Rest deines Lebens als Wagen verbringen. Na ja, zumindest deine Eingeweide. Alles Übrige wird eine gute Verkehrsleiche abgeben. Sieh mal, da ist eine!« Die Verkehrsleiche flüsterte: »Ich habe Aureum betreten, seht mich an, rettet euch, geht heim, rettet euch, Estragon, wohin gehst du, Estragon?« Ihre ineinander verschlungenen Beine waren in den Seitenstreifen gepflanzt, und ein Verkehrszeichen wuchs wie eine Membran zwischen ihren ausgestreckten Armen. In dem Dunst war sie nichts weiter als die spindeldürre Silhouette eines Mannes, der murmelte: »Oh, Estragon, was hast du uns gebracht?« Im Vorüberfahren erkannte ich die klebrige, dunkelrosa Färbung. Bis auf Eiter und Muskel war alles entfernt worden, und das Gesicht war zu einem breiten, höhnischen Grinsen erstarrt. »Estragon, wer ist das? Wohin gehst du?« »Wir fahren tiefer hinein«, sagte sie zu mir. »Rechts von dir ist die Milz. Links siehst du ...« »Bin ich ein Opfer? Lass mich raus!« Glatte runde goldene Bauten ragten in die Höhe, einander überlappend wie innere Organe. Sie waren entsetzlich organisch, voll gestopft mit leeren ulzerösen Portalen — Zwischenwirbellöcher und Fisteln. Die Rippen waren Strebebögen, die nirgendwohin führten. Wir umrundeten die Labyrinthe des Krummdarms, und der Kult der ödemischen Vorhaut hatte in der Ferne einen hohen, goldenen, verrunzelten Zwiebelturm errichtet. Wir fuhren eine Gummistraße hinab, die sich dehnte und einsackte. Wir kamen unter tropfenden roten Stalaktiten heraus und fuhren durch einen runzligen Schließmuskel an das Ufer eines... eines Sees. Gegen den schwarzen 118 119 Himmel konnte ich so gerade eben die dunkelrote Flüssigkeit darin erkennen und das Schwappen hören, wenn seltene Wellen über seine stinkende Oberfläche liefen. Goldene Kanäle verschiedenen Durchmessers, hohle Oberschenkelknochen sowie eine Anzahl Röhrchen saugten Flüssigkeit heraus und leiteten sie unterirdisch weiter. Glomeruli, die aussahen wie fleischige Tassen, brachen hin und wieder wie Fontänen aus der Oberfläche, so dass die Räder des Automobils in einen Grund einsanken, den Verdauungssäfte völlig porös gemacht hatten. Auf der anderen Seite strichen Scheinwerfer über die auf Hochglanz polierte Goldmuschel der westlichen Niere. Die ganze Zeit über versuchte ich, mich zurück nach Vierlanden zu wünschen. »Zinken sind äußerst religiöse und ehrbare Leute ...«, meinte Estragon. Zinken bevölkerten das Ufer. Es musste ein Festtag sein, weil sie sich zu Hunderten versammelt hatten. Die meisten gehörten der Sekte des Zwölffingerdarms an; ihre Eingeweide waren aus einem gesäumten Loch in ihren Bäuchen herausgezogen und um ihre Taille gelegt worden, und ich sah die Wogen der Peristaltik, die um sie herumgingen. Einer war ein Novize der Lehre der Beugung, deren Anhänger sich sämtliche Gelenke brechen und in die Entgegengesetzte Richtung biegen. Seine bloßen Füße gingen vor ihm in die Höhe, weil seine Knie nach hinten durchgedrückt waren wie die eines Vogels. Seine blassblauen Handflächen waren auf den Handrücken, seine Finger nach außen gedreht. »Du musst ihre Hingabe bewundern.« Ein goldenes Paddelboot, das mit gestreiften Muskelfasern und Katechismen betrieben wurde, diente als Fähre zwischen den Langerhans'schen Inseln in der Ferne. »Wir fahren tiefer hinein«, sagte Estragon. »Bald erreichen wir Herz und Lungen, und wir fahren die gesamte Wirbelsäule hinab. Das Herz! Ich möchte dir das Herz von Aureum zeigen.«
120 »Nein!« »Dann denke dich heim.« »Kann ich nicht!« »Oder das Gehirn, tief unter dem Wald der Missetäter. Im Gehirn steht ein Tempel, wo jegliche Kreatur, die an die Wand gezeichnet wird, zum Leben erwacht. Zeichne keine Strichmännchen, davon haben sie genug. Es ist ekelerregend, sie zu sehen, wenn sie auf dich zuhumpeln und quietschend ihre missgestalteten Gliedmaßen hinter sich herschleifen.« Ich spürte den Zug nicht. Es wäre noch mindestens eine Stunde, bevor meine Überdosis aufgebraucht wäre und ich erwachte. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, stellte mir meine Kabine auf der Sturmschwalbe vor und mich selbst dort zurück. »Guter Junge!«, rief Estragon aus. »Ich weiß, du kannst's!« Sie grinste mich an wie ein Haifisch, aber ich erwiderte das Grinsen nicht. Wir fuhren am Seeufer entlang, und ich kreischte, als ich begriff, was unter unseren Rädern hervorschoss und klappernd gegen das Chassis sauste: ein Kiesstrand aus Nierensteinen. Estragon rief einer ganzen Versammlung von Zinken zu, die am Ufer kniete: »He, seht ihr meinen Beifahrer? Er läuft Marathonläufe! Er kann so schnell wie ein Wagen rennen!« Die Zinken hielten inne und starrten herüber. Sie winkten einander, heulten und rannten direkt auf uns zu. »Beeil dich!«, kreischte ich. »Mach schnell!« Estragon hielt den Wagen an. »Bring dich mit dem Willen heim.« Durch die aufsteigende Panik zwang ich mich dazu, ruhig zu bleiben, und sehnte, zwang, verlangte mich zurück in meinen Körper. Estragon tippte sich mit einem Finger an die Stirn und wiederholte das Diktum: »Wechseln durch Meditation. Nicht durch Gefühle!« Die Zinken hatten uns fast erreicht. 121 Das dunkle Ufer zuckte, wurde scharf, wurde unscharf, dann rollte eine Woge der Verzerrung hindurch. Estragons Gesicht und das goldene Fahrzeug nahmen verstörende Formen an. Sie lösten sich zu einem Grau auf. Zu einem Schwarz. Mir knotete sich vor Angst der Magen zusammen; ich schloss die Augen. Und als ich sie wieder öffnete, langsam und klebrig, war ich zurück in meiner Kabine und lag auf dem Boden. KAPITEL 6 Ich erwachte mit dem grünen Geschmack von Erbrochenem im Mund und so eng zusammengerollt, dass es schmerzte. Scheiße, beinahe wäre ich ausgeweidet worden. Ich ballte die Fäuste. Estragon hätte mich fast umgebracht. Ich wälzte mich auf den Rücken und sann über die viel zu niedrige Decke nach. Ein sanftes Seufzen musste der Wind am Hauptsegel sein, und dieses beständige Schlagen und Zischen war der Bug, der kleine Wellen durchschnitt. Dass ich diese Schlussfolgerungen ziehen konnte, machte mich ziemlich stolz, aber ich spürte, dass die Kabine ein wenig schmaler geworden war. Sie hatte die Form verändert - sie war länger geworden. Es war nicht genügend Platz, um auch nur die Spitzen meiner Flügel zu öffnen. Was, verdammt, war hier los? Ich zündete eine Kerze an und hielt sie hoch. Die Wände waren blau gestrichen, nicht schwarz, die Bullaugen quadratisch und weiß gesäumt. Es war eine andere Kabine. Konnte ich zum falschen Ort zurückgewechselt sein? In Panik ließ ich die Fingernägel zwischen den Planken entlanglaufen, streifte mit den Händen über die Regale: nichts. Wo waren meine 122 Tütchen? Wo waren meine ganzen verdammten Tütchen? Ich sah meinen Rucksack, schnappte ihn mir und durchwühlte ihn. Der fette Umschlag mit dem Scolopendrium war verschwunden. »Verdammte Ata!«, rief ich. »Verdammt, verdammt, verdammt!« An der Kabinentür ertönte ein Klopfen. »Verschwinde!«, kreischte ich. Ich rieb über den Saum meines Mantels und spürte neun harte Papierquadrate, die nach wie vor dort eingenäht waren. Gott sei Dank, einige waren ihnen entgangen! Kalte Luft strömte in die Kabine, als eine stämmige Gestalt die Tür mit der Schulter aufdrückte. Ich erkannte Sereins Silhouette, einen rundlichen Kopf mit stacheligem Haar. Hinter ihm türmten sich fahle, tintenblaue Abendwolken am weiten Himmel. Er ließ sich auf der Schwelle nieder, die Beine draußen auf dem Halbdeck, und zog seinen Mantel enger um sich. »Komet«, sagte er. »Dir war nicht gut.« »Ist diese Untertreibung eine neue Art von Sarkasmus, den du ausprobierst?« »Um Gottes willen, Komet! Du siehst aus, als hätte man dich von einem Schlachtfeld weggeschleift. Pass auf, ich bin seekrank gewesen. Die Matrosen haben Wetten abgeschlossen, wie häufig ich über die Heckreling kotzen würde. Raa hat mir gesagt, du würdest nicht seekrank werden. Sie hat mir die Sache mit dem Scolopendrium erklärt.« »Ah ja.« Ich nahm einen Schluck Wasser aus meiner Lederflasche. »Vermutlich bin ich auf der Melowne}« Der Fechter nickte. »Wir haben dich von der Sturmschwalbe herübergerudert. Du warst völlig weggetreten.« »Was? In einem Ruderboot? So nahe bei den Wellen? Was, wenn es gekentert wäre?« Bewusstlos zu ertrinken, das war zu schrecklich, um weiter darüber nachzudenken.
»Ata hat gesagt, du könntest diese Kajüte haben, weil du 123 die andere mit Drogen voll gestopft hast. Drogen sind keine Antwort, Jant. Warum tust du so was, wo du doch ein Eszai bist?« »Was ist mit meinen Tütchen und dem Umschlag passiert?«, fragte ich drohend. »Wir haben sie über Bord geworfen.« »Kacke.« Der Fechter schien sowohl angewidert als auch überrascht, dass ein Eszai wissentlich Kat benutzte. »Wie viel hast du genommen?« »So viel, wie ich konnte.« Ich wand mich aus der beengenden Kabine und zog mich hoch, die Flasche in der Hand, strich ein Zündholz an, zündete damit eine der Zigaretten an, die ich Cinna gestohlen hatte, und inhalierte. Ich blies den Rauch aus den Nasenlöchern und hustete. Als Raucher wäre ich nicht sonderlich gut. Rauchen passt nicht zu Rhydannern, da sie an dünne Luft gewöhnt sind. Ich ru's bloß selten, wenn ich unter extremem Stress stehe, denn würde ich süchtig, könnte ich meine Flugfähigkeit in den Wind schreiben. Zaunkönig stellte sich so zu mir an die Reling, dass er den Rauch nicht ins Gesicht bekam. »Bist du in Ordnung? Abgesehen von finster drauf und launisch, meine ich.« »Ich hasse diese verdammte Kiste von schwimmendem Sarg!«, gab ich zur Antwort. »Es ist ein Schiff.« »Sie ist ein Schiff. Offensichtlich ist es weiblich. Hoffentlich bricht sie sich nicht die ganzen Masten ab, wenn sie es mit den Untiefen treibt.« Der Fechter verstummte und sah hinaus auf das mitternachtsblaue Wasser. Die Wellen schwappten hoch, liefen spitz zu, legten sich übereinander und fielen zur Seite. Ihre Kämme sahen aus wie Kare in den Dunkelbergen. Abgesehen von einem Matrosen am Steuerrad und einem Ausguck am 124 Bug war alles ruhig. Nur schurkische Matrosen, ausschweifende Fechter und drogenabhängige Rhydanner treiben sich zu dieser Zeit draußen herum. »Die Sturmschwalbe ist ganz nah«, sagte er und zeigte nach vorn auf zwei schwache Lichter, ein rotes, ein weißes, die sanft auf und nieder gingen. Die Abendwolken verblassten nach und nach, aber Segel und Hülle der Sturmschwalbe waren eine verschwommene, dahintreibende graublaue Form. Die Schiffe quietschten beständig, und wenn sie mal nicht quietschten, ächzten und schlugen und seufzten sie. Wie Tiere, die miteinander sprachen. »Hm. Es überrascht mich, dass Blitz und Raa es auf demselben Schiff miteinander aushalten.« »Kannst du erkennen, wer am Heck steht?« Ich warf ihm einen Blick zu. »Rhydanner können im Dunkeln nicht sehen, Zaunkönig; das ist bloß so eine Geschichte. In Wahrheit ist meine Nachtsicht sogar ziemlich schlecht. Die Augen der Rhydanner sind reflektierend, um das grelle Licht des Schnees auszuschalten, also werde ich nicht geblendet. Auf Meereshöhe ist das nicht gerade ein Vorteil...« »Wirklich?« »Ju. Wenn ich schon dabei bin, Mythen über Rhydanner zu Grabe zu tragen, solltest du auch wissen, dass sie sich an ihrem Geburtstag nicht in Luchse verwandeln. Und sie sind keine Kannibalen, gleich, was Karniss sagen mag.« Ich zündete eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an. »Was diese Kiste von wegen Scheißen in kleinen Bällchen wie Ziegen betrifft, so enthalte ich mich vorläufig jeglichen Kommentars.« »Ich wollte nicht neugierig sein. Entschuldige, bitte.« »Du solltest es sein. Denk nur, meine Haut bleibt glatt. Es würde Wochen brauchen, so viele Stoppeln wachsen zu lassen wie du.« 125 Zaunkönig rieb sich das Kinn. Ich wandte mich wieder der Kabine zu und überlegte, dass ich mehr Zeit zur Erholung brauchte. Zaunkönig hinter mir bemerkte: »Wie ist das so da oben? In den Dunkelbergen, meine ich. Stimmt es, dass Rhydanner überhaupt nicht miteinander reden?« So sehr ich auch ein paar Stunden für mich allein haben wollte, so sehr brachte mich diese Bemerkung doch zum Lächeln. Langsam entgegnete ich: »Oh, sie bereden alles miteinander, was nötig ist. Das ist, verglichen mit Flachländern, allerdings nicht viel. Selbst der Ort Grat wurde rein zufällig errichtet - Ausgangspunkt war ein Steinhaufen. Traditionell legt jeder Reisende einen Stein auf den Haufen, wenn er vorbeikommt. Also ist er sehr, sehr langsam - zu einem Pueblo mit Zimmern und einer Kneipe angewachsen. Jeden Winter kommen Rhydanner ins Dorf, wenn jede beliebige Person jedes beliebige Zimmer in Beschlag nehmen kann. Sie lassen sich einschneien und trinken bis zum Umfallen. Im Sommer bleiben die Räume leer. Auf Grund der Umweltbedingungen werden Rhydanner sehr selbstbezogen; sie können nicht in großen Gruppen handeln. Als eine Lawine meine Hütte zerstörte, fand ich niemanden, der mir half... Die Wechten hingen über mir und warteten auf die leiseste Erschütterung. Eilean wurde von dem Steinhagel zerquetscht, und das ganze Tal veränderte seine Gestalt.« Ich hing an den umgekehrten Wurzeln einer Eberesche, als sich die Bergwand verflüssigte und tafelförmiges Eis herabdonnerte. Der folgende Tag sah mich in einer Luft voller weißem Pulverschnee beim Versuch, an dem Granitschutt herumzukratzen und sie auszugraben, bis meine Fingernägel zerbrachen.
Ich grinste höhnisch. »Sie ist immer noch oben unter Tonnen von Felsen begraben, platt wie ein Pfannkuchen.« »Das ist schrecklich. Es tut mir so leid!« Schnaubend klopfte ich die Asche von der Zigarette ab. 126 »Ich habe sie gehasst. Ich bin zu langsam für einen Rhydanner aufgewachsen, und am Ende hatte ich für ihre Lebensweise absolut gar nichts mehr übrig. Als ich jedoch nach Hacilith ging und dem Rad in die Finger fiel, verblassten die Dunkelberge zur Bedeutungslosigkeit. Das Rad hatte seinen Namen nach seiner Angewohnheit erhalten, Feinde an die Wasserräder der Stadt zu nageln. Das Unheimliche war, dass ich glücklich als Lehrling in einer Apotheke war und den Schutz einer Bande nicht nötig hatte, bevor ich ihr beitrat. Je länger man lebt, desto mehr Narben sammelt man an, siehst du?« Ich ließ eine Fingerspitze über die tiefe Narbe auf meiner rechten Schulter laufen, ein Kreis mit sechs Speichen, das Initiationsritual der Bande. »Scheiße, Jant. Das ist furchtbar ...« Felicita zog Griff und Wildlederscheide eines Jagdmessers auseinander, bis der lange Stahl sich zeigte. Es war unglaublich scharf; Felicita ließ sich viel, viel Zeit. Seine Hände zitterten, und er fummelte herum, als er die Linien mit einem Lippenstift vorzeichnete. Mein verwaschenes Gefühl, in der Schwebe zu hängen, kippte in Qual um. Ich schwöre, der erste Schnitt ging durch bis auf den Knochen. Meine Hände waren hinter mir an den Eisenstuhl eines Biergartens gefesselt. Ich kämpfte, und als ich anfing zu kreischen, knebelten sie mich. Stolpernd kehrte ich nach Hause zurück, eine Blutspur nachziehend. Die Ratten witterten sie, und sie kamen aus dem Müll herausgehuscht, der sich an den Straßenecken türmte. Ich versorgte die Wunde eigenhändig, obwohl meine Finger in das aufgerissene Fleisch rutschten. »Hat allerdings nicht so wehgetan wie Kalkkreuz anno 25«, meinte ich und schob mein T-Shirt hoch, damit er die Überreste eines Insektenbisses sehen konnte, eine sechzig Stiche lange Narbe, die sich bis zur linken Seite meines Bauchs hinabschwang und in einer runzligen Stelle endete, wo der Kie127 ferknochen auf meine unterste Rippe getroffen war. »Ich habe meine Eingeweide mit einem Arm dringehalten. Ich bin einen Meter gekrochen, zusammengebrochen und war dabei, im Schlamm zu ertrinken.« »Mein Gott! Die Schlacht vom Kalkkreuz. Ich habe Geschichten gehört ...« »Na ja, ich hatte die gesamte Kavallerie übernommen, aber keiner hatte ein Reittier. Jeden einzelnen Mann hat es in Stücke zerschnitten. Deswegen haben wir damit angefangen, den Boden mit Stöcken zu prüfen, ob darunter Insektentunnel lagen, bevor wir das Lager aufschlugen. Die Ärztin wusste, dass ich noch am Leben war, obwohl allein Gott weiß, wie sie mich gefunden hat. Sie sagte nämlich, ich sei beinahe begraben gewesen. Sie schob meine sämtlichen Innereien zurück und verfrachtete meine Trage auf den Wagen. Weil der Kreis uns hält, können wir selbst mit lebensbedrohlichen Verwundungen das Bewusstsein zurückgewinnen, ohne das Verlangen, sie auch sehen zu müssen. Das hat mich wieder auf Scolopendrium zurückgebracht, mir aber auch Nachtigalls Aufmerksamkeit errungen. Ein Jahr lang lag ich im Krankenhaus; immer wieder habe ich den Tropf aufgedreht und bin bewusstlos geworden, bis Rehgen mir androhte, die Schmerzmittel abzusetzen. Während ich mich erholte, überfiel mich die panische Angst, dass ich meine Flugfähigkeit verloren hätte. Ich versuchte, aus dem Krankenhausfenster zu gleiten, und riss sämtliche Nähte wieder auf... Zaskai gaben sich die Klinke in die Hand, um mich herauszufordern, aber getreu den Regeln hielt San sie zurück, bis ich wieder der Alte war. Du hast Glück, Zaunkönig; du kannst dich auf Insektenkämpfe freuen.« »Schon kapiert. Du trägst Narben, weil du ein abenteuerliches Leben hinter dir hast. So was wird mir auch passieren ... Du bist tapfer, Jant.« Wirklich? »Na ja, nicht so tapfer, dass ich mich mit Gio du128 elliert hätte«, meinte ich, und eine Weile lang standen wir in einem unbehaglichen Schweigen beieinander. Ich fand solche Gespräche beruhigend - hatte Aureum fast vergessen. Ich zündete eine dritte Zigarette an, hielt sie jedoch einfach nur fest und überlegte, wie lange ich benötigen würde, den gesamten Himmel mit Rauch zu füllen. Wenn Unsterbliche über so etwas nachdenken, sind sie nicht völlig wunderlich. »Hast du nicht schlafen können?«, fragte ich. Mir war völlig klar, dass Zaunkönig hier zurückgelassen worden war, um ein Auge auf mich zu haben. »Nein. Mir will diese Insel nicht aus dem Kopf. Dann werde ich zu aufgeregt und muss hier heraufkommen, um mich abzukühlen. Ich kann's einfach nicht erwarten, Tris zu sehen.« »Meine persönliche Meinung ist, dass Raa plant, alle ihre Feinde auf ein Schiff zu holen und es anzubohren. Ich warne dich, sie ist sehr gefährlich.« »Aber prächtig.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Also hat Ata dich bereits am Haken? Gewiss ist sie wunderschön; umso mehr Grund, auf der Hut zu sein. Selbst Blitz ist ihrer Arglist verfallen, ihrem gefühllosen menschlichen Erfindungsreichtum und ihrer Schönheit. Vielleicht hat sie dich hier auf die Melowne gesetzt, damit er dir keine Ratschläge erteilen kann, oder um ihre geheimnisvolle Aura zu wahren. Sie plant Jahrhunderte im Voraus; du lebst noch nicht lange genug, um auf unserer Zeitskala zu denken.« In einem Wirbel aus Funken drückte ich die Zigarette auf der Reling aus und schnippte sie ins Meer. »Möchtest du das Schiff erkunden?«
»Oh, ja!« Ich hob die Gräting und trabte, mich umschauend, die offenen Holzstufen hinab. Zaunkönig folgte mit seiner Laterne. 129 Die hundert Matrosen der Melowne schliefen. Murmelnd regten sie sich in ihren Hängematten aus weißem Segeltuch, die in Dreierreihen links und rechts vom Deck herabhingen und einen Gang die Mitte hinab frei ließen. Einige der Prärieländer schnarchten. Awianer schliefen auf dem Bauch oder auf der Seite, also schnarchten sie kaum einmal. Das Deck stank nach Schweiß, feuchtem Leinen sowie billigem Rum, nach braunem Zucker; die Lorbeerblätter in einer Schüssel, die eigentlich zur Luftverbesserung gedacht waren, fügten ihren eigenen Geruch dem allgemeinen Gestank hinzu. Die Läden vor den fünf Bullaugen in den Wänden waren fest verschlossen. »Stör sie nicht!«, flüsterte ich. »Gehen wir eine weitere Ebene runter!« Ich wollte losgehen, konnte es jedoch nicht. Zaunkönig stand auf meinen Federn, so dass die Schwanzfedern sich über die Stufenkanten bogen. »Oh, Entschuldigung!« Er trat zurück. Ich legte einen Finger auf die Lippen und stieg durch die zweite Luke hinab. Auf dieser Ebene war es stockfinster, aber die Luft roch besser. Sie war schwer von Kampferholz, Kiefernsaft, Eichen-Sägespänen und Qualitätsleder. Ich untersuchte einige Krüge mit der Gravur »Grasinsel«, und Zaunkönig lehnte sich an einen Haufen Säcke mit getrockneten Bohnen und Reis und ließ den Strahl seiner Laterne umherlaufen. Das Deck war vom Boden bis zur Decke voll gestopft mit Säcken und Ölkrügen, so weit das Licht reichte. »Wir sind hier unter der Wasserlinie«, meinte er. »Nicht!« Mich schauderte beim Gedanken, dass der Wasserdruck vielleicht die Hülle eindrücken und das Schiff wie eine Eierschale zerquetschen könnte. »Raa sagt, dies sei das Orlopdeck für Vorräte und Garnierholz. Der Lagerraum ist unter uns; das ist die tiefste Ebene.« »Was ist Garnierholz, verdammt?« 130 Zaunkönig zuckte die Achseln. Ich hob einen Holzdeckel vom nächsten Fass. »Wein! Zaunkönig, sieh mal diesen ganzen Wein! Blitz muss seinen halben Keller hier haben.« Er hob einen Laib Käse auf, der in Wachspapier eingeschlagen war. »Frühstück!« »Hier drin ist Rum.« Ich tauchte einen Becher in ein weiteres Fass. »Ich habe Pökelfleisch, Orangen, ein Fass mit Sauerkraut gefunden. Was ist transportable Suppe« Wir schoben uns zwischen den Gestellen durch. Ich erstieg die großen Fässer und ging gebückt darauf weiter, wobei ich die Decke streifte, aber das Deck war so gerammelt voll, dass wir nur wenige Meter vorankamen. Zaunkönig setzte sich auf die Leiter, ich lehnte mich an das hölzerne Wasserrohr gleich daneben, und wir knabberten einige Hände voll unserer Beute - ich hatte Schokolade und Rum; Zaunkönig Dörrobst, Brot und Wasser. »Da ist noch eine Gräting«, sagte ich. »Gehen wir runter!« »Ist verschlossen, siehst du?« Zaunkönig hockte sich hin und drehte ein Vorhängeschloss herum. »Das sollte ich knacken können«, meinte ich, weil ich den Fechter beeindrucken wollte, obwohl ich nicht so genau wusste, weshalb eigentlich. Ich legte mir eine Hand ins Kreuz, wählte eine der kleinsten Sekundärfedern, packte sie und zog. Flugfedern stecken sehr fest, so dass ich ziemlich kräftig ziehen musste, um sie herauszubekommen; zudem musste ich die Zähne fest zusammenbeißen, denn es tat verflucht weh. Es zog an der Haut, als würde man eine Hand voll Haar herausholen. Die Feder hinterließ eine hohle Röhre, aus der in einigen Monaten eine weitere Feder nachwachsen würde. Die Schwanzfeder war alt und blutete nicht. Ich drückte ihre durchsichtige Spitze glatt und fummelte damit im Schloss herum, drehte sie im Uhrzeigersinn und drückte fest, 131 um die Sperre herumzustoßen. »Die Menschen«, bemerkte ich, »sagen, ich hätte eine vergeudete Jugend gehabt, aber kein anderer Kurier hat so viele nützliche Talente, die er in den Dienst des Imperators stellen kann.« Ich spürte, dass der Mechanismus im Schloss nachgab; es öffnete sich klickend, und wir hoben die Abdeckung der Luke an. Zaunkönig stieg mit seiner flackernden Laterne als Erster hinunter. »Pass auf, sie folgt der Form der Hülle.« Die Wand der Hülle wölbte sich zu beiden Seiten nach oben, wie in einer hölzernen Schüssel. Die Puppen des Schiffs waren deutlich zu erkennen. Die Decke war zwei Meter hoch, und ich konnte zum ersten Mal aufrecht stehen. Das Rollen der Melowne war hier unten nicht so stark zu spüren; wir standen unmittelbar über dem Kiel, und das Schiff fühlte sich stabil an. Zwischen den Spanten waren sorgfältig weitere Ausrüstungsgegenstände verstaut und zusätzlich an den Knieträgern befestigt, die das Deck oben drüber stützten. Das Spantenwerk der Pinassen war wie bei einem Kinderdrachen mit Anweisungen bedruckt. Gewaltige Mengen an zusammengefaltetem Segeltuch sowie alles mögliche sonstige Zeugs lagen hier herum, zum Beispiel Metalleimer voller festem Teer, wie warmes schwarzes Eis, Ketten, Schnüre auf Spulen, Kupfernägel und aufgerollte Hanfseile von vielfacher Schiffslänge. »Das ist Ersatztakelage«, meinte Zaunkönig, als er gegen den Schaft eines Ankers trat, der doppelt so groß war wie ich und so dick wie mein Oberschenkel. Er öffnete den Verschluss eines langen Korbs mit Ölhautumrandung
und ließ den Deckel gleich wieder fallen. »O mein Gott!« »Was ist?« »Pfeile. Sieh mal!« Etwa einhundert Pfeile mit sehr scharfen Broadheadspitzen füllten die Schachtel, dazwischen lederne Abstandhalter, damit sich die Federn nicht berührten. 132 Zaunkönig wühlte mit den Fingern darin herum, so dass sie klapperten. Ich sah auf und merkte, dass ich eine Wand aus gleichartigen Schachteln anstarrte. Wortlos zählten wir nach und stellten eine rasche Berechnung an. »Zehntausend Pfeile?« »Mindestens.« »Wenn es Schäfte gibt, dann muss es auch ...« »Bögen geben«, beendete ich und brach das Siegel auf einem größeren Koffer auf. Er war voller schwerer Langbögen, alle mit frischen Sehnen und dem Zeichen des Bogners auf Zweidrittellänge eingestempelt, etwa dort, wo der Pfeil aufgelegt werden sollte. »Mehrere hundert Bögen, einen für jeden Mann auf dem Schiff.« »Sieh mal, da sind Hellebarden!«, sagte Zaunkönig. »Und Schilde!« Sie waren entlang der Hülle gestapelt und mit Segeltuch bedeckt. In fröhlicher Ausgelassenheit löste er die Riemen einer riesigen Seemannskiste. »Ob das wohl Schwerter sind? Oh, ja, sieh mal!« Die Truhe war voller Schwerter von der Art, wie sie der Heerbann trug, mit doppelt geschliffener Klinge und braunen Lederscheiden - Massenprodukte. Ihre ungebrauchten Griffe blitzten im Licht der Laterne, als er sie darübergleiten ließ. »Ich möchte gern eines ausprobieren. Also los ...« »Leg es zurück! Zaunkönig, die Gräting war nicht umsonst abgeschlossen! Raa will nicht, dass wir wissen, was hier unten herumliegt!« Aber Zaunkönig, der von Raas grausamer Veranlagung nichts wusste, hatte keine Angst vor ihr. Er wählte eine Klinge von fünfundsiebzig Zentimetern Länge und steckte sie sich in den Gürtel. »Mein Gott, was erwartet Raa denn, das wir in Tris tun sollen?«, fragte ich. »Vielleicht sind die Insulaner hitzköpfig.« 133 »Sei doch nicht blöd! Raa hat gesagt, Tris hat keine Insekten; sie haben keinen Grund, weshalb sie gewalttätig sein müssten.« Wir suchten weiter und sahen mehr desgleichen; der Frachtraum der Melowne war der Kramladen des Schiffs, außerdem ein gut ausgestattetes Waffenarsenal. Ich zögerte. »Riechst du was?« »Was?« Ein scharfer metallischer Gestank wie vergossenes Blut oder abgeschnittene Blätter lag sehr schwach unter dem heißen öligen Eisengeruch von Zaunkönigs Laterne. »Nichts. Schon gut.« Am Bug hing eine riesige schwarze Plane von der Decke bis zum Boden herab, wie ein Vorhang. Dahinter ertönte ein Geräusch wie von etwas Metallenem, das nicht befestigt worden war. Zaunkönig nahm eine Hand voll Stoff und schob ihn beiseite. Ein gewaltiges Insekt warf sich auf uns. Ich duckte mich. Zaunkönig kreischte. Das Insekt krachte in die Stangen seines Käfigs und zog sich auf sechs Beinen zurück. Seine Fühler peitschten rasend schnell im Kreis umher. Die schwarzen Beine rutschten auf dem stählernen Boden aus und hinterließen helle Kratzer. Seine Kieferknochen öffneten sich, ein kleineres Set zeigte sich darin, und es sprang erneut vor in die Stangen. Ein gewaltiges, messerscharfes Vorderbein stach nach uns. Es klickte und schnappte; die Stangen dröhnten, als es sich dagegenwarf. Zaunkönig griff nach seinem Schwert und ließ die Laterne fallen. Plötzlich befanden wir uns in völliger Dunkelheit, und nur rote Flecken, hervorgerufen durch die erlöschende Laterne, tanzten vor unseren Augen. Zaunkönig und ich dachten dasselbe zur selben Zeit. Wir 134 beugten uns hinab und tasteten verzweifelt auf dem Boden nach der Laterne herum, spürten jedoch bloß die Hände des anderen. »Wo ist die ... Aua! Verdammt!« Ich verbrannte mir die Finger an dem heißen Ol, das herausleckte. Vor Enttäuschung kochend richtete ich mich wieder auf, als Zaunkönig sie hochhob. »Ist sie zerbrochen?« »Ich glaube nicht.« »Bestimmt nicht? Da oben ist dieser verdammte Rum!« »Das ist ein verdammtes Scheiß-Insekt hier!« Zaunkönig strich ein Streichholz an, und die Laterne klapperte in seiner zitternden Hand, als er sie anzündete. »Verdammt noch mal!«, schrie ich. »Gib sie mir, du blödes verdammtes Leichtgewicht!« Er riss sein neues Schwert aus der Scheide; mit der Klinge in der Hand gewann er seine Fassung zurück. Das Insekt zerrte mit den Vorderklauen an den Stäben. Es benagte sie, wobei die Kieferknochen klickten wie Scheren. Strähnen von Speichel hingen herab und legten sich um seine Füße; klebrige Blasen bildeten sich auf dem Boden. Das Insekt rieb das hintere Beinpaar aneinander; es drehte sich wütend in seinem Viermeterkäftig um. Sein Körper hing wie der einer Spinne an langen Beinen herab, die es über sich zusammengelegt hatte. Es war eines der größten Insekten, das ich je gesehen hatte; es hatte Größe und Kraft eines Streitrosses; im
verzweifelten Bemühen, uns zu erreichen, hämmerte es auf die Stäbe ein. Es neigte den Kopf und versuchte, sich hindurchzuquetschen, aber die Vorgestülpten Messingaugen wollten nicht passen. Es drückte gegen die Stäbe, bis sein getüpfelter Rumpf quietschte, es streckte seine mahlenden Mandibel vor. Die gefleckten braunen Kieferknochen knallten in einem Überbiss aufeinander; sie hatten Länge und Form von Si135 cheln, waren chitinhart und so kräftig, dass sie einen Körper in zwei Hälften zerbeißen konnten. Eine Vorderklaue fuhr durch die Luft. Zaunkönig und ich wichen zurück. »Was tut das denn hier?«, fragte er mich. »Ich weiß es nicht. Aber ich habe die Absicht, es herauszufinden.« Die Schiebetür des Käfigs war durch ein weiteres großes Vorhängeschloss gesichert. Sein Dach bestand aus verbeultem Blech. Zaunkönig wies auf einige Knochen hin, die das Insekt in seiner Gier sauber gekratzt hatte. Einige hatte es in eine klebrige weiße Paste umgewandelt und in den Raum zwischen Käfig und Schiffshülle fallen lassen. »Mit Knochenmark machen sie kurzen Prozess!« Ich schnitt eine Grimasse. »Ich habe geglaubt, ich könnte das prächtige Biest riechen.« Ich stieß Zaunkönig die Laterne zu, schoss heckwärts zur Leiter und zog mich viel rascher hoch, als er steigen konnte. Er mühte sich hinter mir ab, und vielleicht ging ihm zum ersten Mal auf, zu was ich imstande bin. Ich schwang meine Knie zwischen die Sprossen und ließ mich, daran hängend, herabbaumeln, so dass ich umgekehrt vor Zaunkönig hing und ihm ins Gesicht sah. Ich stieß ihm den Finger auf die Brust. »Raa wird ihren letzten Streich noch bereuen.« Ich spannte mich, richtete mich wieder auf und kletterte zum Orlopdeck hinauf, dann weiter zum Niedergang, und kam auf dem Hauptdeck aus der Luke. Alle Matrosen frühstückten gerade und rollten ihre Hängematten ein. Münder voller Haferbrei standen vor Erstaunen offen, als ich an ihnen vorüberjagte. »Komet!«, rief Zaunkönig. »Alle Eszai sind gleich! Bleib stehen und ...« »Fick dich!«, sagte ich. Ich sprang ab und flog hinüber zur Sturmschwalbe. 136 Raa ist natürlich eine Frühaufsteherin; sie war bereits in ihrem Büro und aß Ingwerplätzchen von einem Toastständer und führte zwei Messingkompasse über eine ausgedehnte Karte auf dem Tisch. Ich landete draußen gleich neben der roten Sturmlaterne, polterte in ihre Kabine, ging direkt auf sie los, warf sie zu Boden und setzte ihr meine Knie auf den Bauch. Die Plätzchen und eine Cafetiere flogen davon. Raa war die Beherrschung in Person; sie sah meinen Gesichtsausdruck und schrie: »Habicht!« »Kein Lug und Trug mehr!«, fauchte ich. »Jant«, sagte sie. »Aufputschmittel machen dich ganz manisch. Warum beruhigst du dich nicht etwas, bevor ich dich im Schiffsgefängnis einsperren lasse?« Ihr langes weißes Haar, feiner als Seide, breitete sich unter ihr aus. Ihre rechte Hand schob sich hinter das Tischbein und suchte nach einem Brieföffner. Ich schnappte ihn mir und schleuderte ihn gegen das Schott. »Ein Insekt!«, sagte ich. »Diese ganzen Kisten mit Hellebarden! Warum ist ein lebendiges Insekt auf der Melowne}« Raas helle Haut wurde noch bleicher, und ihre amethystfarbenen Augen öffneten sich weit. »Ein Insekt?« »In einem verdammten Käfig!« Es hatte ihr den Atem verschlagen. »Bitte, geh von mir runter.« Sie sollte keinen Finger rühren können. Ich sah nur eine mögliche Vorgehensweise. »Wir müssen nach Awendin zurück. Fulmer wird diese viel zu aufgetakelte Kiste wenden und uns heimbringen. Im Namen des Imperators, mit Gottes Willen und unter dem Schutz des Kreises kannst du dich als unter Arrest stehend betrachten. Ich werde dich vor San bringen, mit einer Messerspitze im Rücken, wenn es sein muss!« »Komet...«, sagte sie ruhig. »Das einzig Gute daran, auf See zu sein, ist, dass wir nicht 137 von Insekten gefressen werden. Und du führst eins mit! Ein riesiges! Ich werd's über Bord schmeißen ...« Sie sah ein, dass es keinen Zweck hatte, so zu tun als ob. »Ju, ich habe mir schon gedacht, dass du deine Nase in alles hineinstecken würdest, wie eine hungrige Ratte. Lass mich aufstehen, und ich werd's dir erklären.« Als ich uns beide aus den Falten ihres Mantels löste, betrat ein finster dreinblickender Blitz die Kabine. Die Seebrise bauschte seinen fellgesäumten Mantel. Er packte mich und stieß mich von Raa weg. Ich knallte heftig gegen die Wand und sackte atemlos neben dem Balken in mich zusammen. »Verdammt, versuchst du etwa, mir die Flügel zu brechen?« »Was ist hier los?« Raa hielt sich den Oberarm, als ob ich ihr wehgetan hätte. Sie beschwor einen Ausdruck der Dankbarkeit für den Bogenschützen herauf und schluchzte ansatzweise, was ihn jedoch gänzlich unbeeindruckt ließ. »Jant ist ein solcher Junkie.« Sie zuckte die Achseln. »Er ist so fix und fertig, dass ich versucht bin, ihn selbst herauszufordern.« »Nein! Das hat nichts mit Kat zu tun!« Ich kann meinen einen Fehler einfach nicht loswerden; meine unsterblichen Genossen kleben das Etikett »süchtig« auf alles, was ich tue, selbst wenn ich clean bin. Da ich stets dieselben Freunde habe, kann ich nicht weiterziehen und von vorn anfangen. Meine Fehler bleiben an mir hängen. Ich knallte die Faust gegen den Balken, um meiner Enttäuschung die Spitze zu nehmen. »Sage mir nicht, es sei alles eine Halluzination! Serein hat es nämlich ebenfalls gesehen! Da ist ein Insekt, da sind hunderte von
Hieb- und Stichwaffen, einhundert Kästen mit Pfeilen.« Blitz hörte genau zu, und bei den letzten Worten hielt er die Hand hoch. »Ich habe Kenntnis davon. Natürlich, Jant, überleg doch mal! Hör auf, herumzuzappeln und bleib still 138 sitzen! Würdest du ohne Waffen in ein unbekanntes Land reisen? Unsere Schiffe sind das einzige Mittel für die Heimkehr, also sind sie jetzt mehr wert als das Reich. Wir müssen sie schützen.« »Raa hat gesagt, die Insel sei friedlich«, meinte ich verdrossen. »Andererseits hört es sich äußerst bedrohlich an, Insekten durch die Gegend zu schippern. Wozu das?« Raa trat ihren Klappstuhl auseinander und betrachtete ihre Karte, die sich allmählich mit dem verschütteten Kaffee voll saugte. »Ich habe die Erlaubnis. Nein, nicht die übliche Erlaubnis, das Vieh auszustellen. Eine Vollmacht, die ihr respektieren werdet.« Sie schloss einen Schildpattbehälter auf und holte ein Papier mit dem Siegel des Imperators hervor, reichte es mir, und ich las laut vor: »Jeder Frachtgegenstand, den Raa auf ihrer Reise mitnimmt, ist in meinem Namen angefordert und zugelassen worden. Er wird Vierlanden in der Gegenwart und in der Zukunft von Nutzen sein. San, Gottes Hüter von Awia, Morenzia, von Prärieland und der Dunkelberge. 19. Januar 2020.<« »Mehr steht hier nicht. Es ist die Unterschrift des Imperators, na gut. Aber weiß er, dass wir eine lebendige Fracht dabeihaben?« »Komet, du überraschst mich mit deiner Andeutung, ich könnte Informationen vor dem Imperator verborgen halten«, erwiderte Ata milde. »Ju, hört zu, meine Herren! Tris hat keine Insekten. Stellt euch ihre Überraschung, ihr Interesse und ihre Faszination vor, wenn ich eines ausstelle. Ich werde ihnen Folgendes sagen: Der Kreis beschützt die Welt vor diesen Menschenfressern - seht, wie wohlwollend wir sind! Allein die Tatsache, dass ich es lebendig über eine solche Entfernung mitgebracht habe, wird sie beeindrucken. Die Gouverneure von Tris können das Insekt für einen Zoo oder Zirkus haben oder Suppe daraus kochen, wie es ihnen beliebt. Ich schenke 139 es ihnen zusammen mit unserem ganzen Silber aus den Dunkelbergen und dem Wein aus Donaise.« »Blödsinn«, meinte ich und funkelte sie an, wie es nur ein Rhydanner vermag. Blitz hingegen sagte: »Ich glaube, Raa sagt die Wahrheit.« »Ich werde sie am Dingsbums-Mast am Dingsbums aufhängen, bis sie gesteht und Fulmer uns zum Hafen zurückbringen kann.« »Wir können Raa das Kommando über die Flotte nicht entreißen«, sagte Blitz. »Abgesehen davon ist Fulmer nicht bloß Kapitän auf der Melowne, sondern Awias Repräsentant für Tris. Mit anderen Worten, Königin Eleonoras Spion. Wenn wir umkehren, wird er einen grässlichen Bericht abliefern.« Der Wind wechselte die Richtung, das Schiff hob sich, wir gerieten ins Taumeln, und Blitz veränderte ausdruckslos seine Position. Ata schüttelte lächelnd den Kopf. Sie fasste ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, so dass ihr starkknochiges Gesicht noch martialischerwirkte. Dann glättete sie ihre Weste mit dem Schnürverschluss und den Messingknöpfen und sagte: »Keine Bange. Wir wollen doch nicht Eleonaras Wut anstacheln. Mein Gott, Blitz; ich versuche, dir mehr von der Welt zu zeigen, aber du bringst bloß deine eigene Welt mit.« Mich überfiel ein Gedanke: Wenn ich ebenso ernsthaft und unsicher wie Zaunkönig wäre oder ein Matrose, der Zeuge meines raschen Abflugs von der Melowne gewesen war, würde ich herüberrudern und versuchen, dieses Gespräch zu belauschen. Ich horchte auf irgendwelche Geräusche draußen vor der Kabine und rief: »Ich höre dich; du brauchst dich nicht zu verstecken, verdammt!« Zaunkönig stieß die verglaste Tür auf und erschien beschämt auf der Bildfläche. Seine Hemdsärmel waren nass von 140 der Gischt; bei jedem Schritt drückte sich Wasser aus den Nähten seiner klatschnassen Stiefel. »Na großartig«, sagte ich. »Warum laden wir nicht den Rest des Kreises hierher ein und feiern dann eine Party?« »Du hast mich wirklich gehört?« »Ganz und gar nicht, aber ich hielt es für das Beste, nachzusehen.« »Oh. Schlau«, meinte er niedergeschlagen. Er sah sich um, erfasste die bleiverglasten Fenster, die einen Ausblick über das Heck boten, Raas Koje mit dem bestickten Himmel, den Ständer mit zusammengerollten Karten, die Navigationsinstrumente auf ihrem Logbuch sowie die Ingwerkekse, die über den ganzen Fußboden verstreut waren. Mit der Anmut des Fechters passte er sich gut an die Dimensionen des Schiffs an, und er war klein genug, dass er stehen konnte, ohne den Kopf einziehen zu müssen, wohingegen Blitz den Kopf auf der Hand ruhen ließ, die gegen den Balken drückte. Zaunkönig wusste sehr genau Bescheid über Blitz' kurze Affäre mit Ata. Es gehörte zum Allgemeinwissen, dass Blitz sie eines Nachts ein wenig zu dienstbeflissen getröstet hatte und sie jetzt eine gemeinsame Tochter hatten. Ergeben legte Zaunkönig seine Flügel zusammen. Ihre Ellbogen lagen an seinem Hinterteil, und die Handgelenke, die sich an die Schultern klammerten, waren von vorn so gerade eben zu erkennen. Er suchte sich seinen Weg sehr vorsichtig. »Herr. Oh. Blitz. Ich respektiere deine Erfahrung, aber dies ist mein erster Auftrag als Eszai. Du weißt, dass das wichtig ist. Ich möchte nicht nur wenige Tage nach der Abfahrt mit leeren Händen zurückkehren. Ich bin von Raas Erfolg abhängig, und du willst doch bestimmt nicht, dass ich versage. Außerdem
sind wir mit so viel Pomp losgefahren, dass sich sämtliche Matrosen in Awendin vor Lachen in die Hose pissen werden, wenn wir mit eingezogenem Schwanz zurückkehren.« 141 Er ließ seine Finger in den Korb seines Rapiers gleiten und packte den Griff, der sich im Lauf der Zeit völlig der Form seiner Hand angepasst hatte. »Als ich noch einfacher Soldat war, sind Blitz' Ansichten von Ehre gewissermaßen zu uns herabgesickert. Niemand von uns ist je desertiert. Na ja, ich halte eine Umkehr für ehrenrührig.« Ich machte ein finsteres Gesicht. Zaunkönig biss sich auf die Lippe, fuhr jedoch fort: »Ich glaube auch, dass Botschafter keine Waffen tragen sollten. Niedergedrückt von Eisen, niedergedrückt von Furcht<, so lautet das Sprichwort. Wenn Raa beabsichtigt, das Insekt gegen die Insulaner zu benutzen, werde ich es eigenhändig töten. Aber sie hat sich mit Leib und Seele der Erforschung von Tris verschrieben. Jant, wenn du sie bedrohst, wirst du die Klinge mit mir kreuzen müssen. Ein Schwert hält das andere in der Scheide, also wird vielleicht Frieden herrschen, wenn ich Raa unterstütze. Du solltest dich schämen, eine Dame in Angst versetzt zu haben!« »Sie ist wohl kaum eine Dame«, meinte ich. Blitz beäugte uns nachdenklich. Er strich sich mit dem Finger über die Narbe in seiner rechten Handfläche und sagte schließlich: »Na schön; wir fahren weiter.« »Aber ...« »Genug!« Ata entspannte sich. »Jant, du Spaßvogel. Mache noch mal so einen Aufstand, und ich lasse dich in einem Fass hinter dem Schiff herziehen!« »Ich brauche frische Luft«, sagte ich, spazierte hinaus aufs Hauptdeck und knallte die Kabinentür mit meinem schlaffen Flügel zu. Ich kletterte die Taue, welche es auch immer sein mochten, bis zur Spitze des Hauptmastes hinauf und setzte mich für einige Stunden dort auf die Spiere, welche es auch immer sein mochte, hielt das Gesicht dem Wind zugekehrt, und ließ meinen Ärger von der Seeluft anfachen. 142 KAPITEL 7 Zaunkönigs Tagebuch 29. Februar 2020 Komet hat vorgeschlagen, ich solle ein Tagebuch über meine Heldentaten auf dieser Fahrt führen. Heute Morgen wachte ich um sechs Uhr früh auf, Schlag achtzehn, und habe an Deck zwei Stunden lang mit Rapier und Dolch exerziert. Dabei habe ich meine Zeit in der »Eber-Sequenz« um eine Sekunde verbessert. Ich muss beim Exerzieren gnadenlos mit mir sein, weil mich kein Herausforderer schonen würde. Anschließend bin ich den Binnenkiel im Frachtraum auf und ab gerannt, bis Fulmer mich bat, damit aufzuhören. Ich würde gerne sparren, aber hier ist niemand auch nur halb so gut, wie er sein müsste, um mich richtig auf die Probe zu stellen. Blitz ist der beste Fechter unter ihnen. Ich werde ihn um einen Zweikampf bitten, und im Gegenzug lehrt er mich vielleicht ein wenig das Bogenschießen. Er legt Zielscheiben auf das Vordeck und schießt vom Halbdeck aus danach. Seine Pfeile fliegen über die ganze Sturmschwalbe hinweg. Es ist großartig zuzusehen, wenn wir neben ihr segeln, aber Raa lässt ihm bloß eine Viertelstunde pro Tag statt der vier Stunden, die er braucht. Es ist erstaunlich, Glimmerwasser in Person zu begegnen - und er behandelt mich wie einen Gleichgestellten! Ich habe immer so sein wollen wie er. Ich wünsche mir, Papa könnte mich jetzt sehen. Obwohl bereits einen Monat an Bord, sind wir körperlich doch so gut in Form, wie wir uns nur erhoffen können. Komet ist entweder in seine Bücher vertieft, oder er fliegt umher. Jeden Morgen schlingt er sich eine Wasserflasche um die Schulter, hebt ab und fliegt mit mächtigen Schlägen hinauf in 143 den Himmel, bis er nur noch ein kleiner Fleck ist und ich Sorge habe, dass Blitz ihn für eine Möwe hält und abschießt. Ich kann mich immer noch nicht recht an einen fliegenden Mann gewöhnen. Er muss sich so frei fühlen. Es muss merkwürdig sein, Menschen von oben zu betrachten. Er kann stets sagen, wer sie sind. Vermutlich hat er sich daran gewöhnt. Ich wünschte, ich könnte fliegen - allein schon wegen der Fechtfiguren, die ich ausführen könnte! Ich kann es nicht erwarten, gegen Insekten zu kämpfen. Sobald ich von Tris zurück bin, gehe ich an die Front. Ich habe ganze Berge an Ideen, wie man Unterland völlig von Insekten befreien könnte - wie zum Beispiel, den Fluss mit Salz füllen, so dass sie das Wasser nicht trinken können. Aber Blitz sagt mir, das hätten sie schon 1170 versucht. Nach unserer Rückkehr werden mich sexy Mädchen umschwärmen, und, bei Gott, das brauche ich auch! Wer weiß, vielleicht wird Blitz zum ersten Mal seit fünfzehnhundert Jahren vom Sockel des begehrtesten Junggesellen heruntergestoßen! Es ist eine Schande, dass Raa mich von meinem Augenblick des Triumphs weggeholt hat. Ich wünschte, ich könnte wieder bei all diesen Mädchen sein, die mich unbedingt haben wollten. Aber Raa sagte, durch meine Abwesenheit würden sie bloß noch schärfer werden. Sie ist dankbar, dass der beste Fechter von Vierlanden ihr zur Seite steht. Jederzeit. März 2020 Das Wetter ist wunderbar, sehr heiter, und ein lebhafter Wind lässt uns dahinjagen. Komet weigert sich, seine Kabine zu verlassen. Ich glaube, er schämt sich. Er trinkt jetzt jeden Tag gedopten Wein. Ich habe es Raa berichtet, aber sie sagt, soll er doch, die Reste seines Vorrats, die der Konfiszierung entkom-
144 men sind, werden nicht mehr allzu lange reichen. Warum bestraft sie ihn nicht dafür, dass er Scolopendrium mit an Bord gebracht hat? Im Heerbann ist es das größte Verbrechen, mit Drogen ertappt zu werden, insbesondere, wenn man sie an andere Soldaten weiterverkauft. Scolopendrium ist ein ziemlich geheimnisvoller und altmodischer Stoff. Ich weiß nichts davon, aber, mein Gott, ich kann nicht hinnehmen, dass ein Eszai es benutzt. Vermutlich hält Komet seinen Erfolg für garantiert, da er, zumindest bei gutem Wetter, fliegen kann. Raa sagt, Leute wie Komet seien die nützlichsten, ebenso wie krummes Holz dem Schiffsbauer nützlich ist, weil seltsame Formen zu Teilen gemacht werden können, die den Rest zusammenhalten. Das verstehe ich nicht, wirklich. Ich glaubte, der Kreis hätte nur einen Zweck. Regenschauer lassen die Planken schlüpfrig werden. Die Teerjacken sagen, wenn sie zum Scheißen zu den Latrinen am Bug gehen, würden sie jedes Mal ihr Leben aufs Spiel setzen. Große Brecher ergießen sich über den Schiffsschnabel, also könnten sie durchaus weggespült werden oder ausrutschen und wie ein Scheißhaufen fünf Meter tief ins Meer fallen, wo das Schiff über sie hinwegsegeln würde. Für uns wertvolle Passagiere ist unsere Latrine ein winziger Verschlag mit einem Loch im Sitz auf einem abgeschiedenen Balkon am Heck. Wenn man im richtigen Winkel pisst, trifft man das Ruder. Die ganze Galerie riecht nach Kapitän Fulmers PoseurAftershave. Fulmer hat einen Blick auf Blitz' Gehrock geworfen und gesagt: »Du meine Güte! Wir sind doch nicht im achtzehnten Jahrhundert!« Ich bin in Komets Kabine gegangen und habe ihn bei der Arbeit gestört. Während wir uns unterhielten, habe ich Geld beim Kartenspielen verloren. Diese flachbrüstigen Bergmädels sind so wild, dass ihre Liebesbisse genäht werden müssen, sagt er. Wir haben uns über Rapiere und die neuen Springdol145 che unterhalten, deren Klingen nach dem Aufspringen drei Spitzen zeigen, um Schwerter abzufangen. Komet hat sich von ihnen beeindruckt gezeigt, aber ich habe ihm gesagt, sie seien bloß was fürs Auge und in einem richtigen Duell eine echte Gefahr. Ich habe gesagt, wenn ein Mann so was gegen dich einsetzt, dann weißt du, dass er ein Angeber ist. Ich legte Zaunkönigs Tagebuch wieder unter seine Koje und kehrte in meine Kabine zurück. Tagsüber arbeitete ich dort an meinen Notizbüchern. Anfangs machte es so viel Spaß, das saubere Papier mit einem Füllfederhalter zu bekritzeln. Im Gegensatz zu dem, was Zaunkönig glaubt, ist weder Fliegen noch Sprachverständnis etwas Instinktives. Ich habe gelernt, welche Formen die Luft annehmen kann; wenn ich in der Luft bin, muss ich genau überlegen, wie ich mich bewege, und ich begehe manchmal Fehler. Und wenn ich bei einer Übersetzung einen Fauxpas begehe, ist das ebenso gefährlich wie eine verkorkste Landung. Raa hatte auf ihrer ersten Expedition trisianische Worte notiert, allerdings ohne Lautschrift oder gar Kontext. Die meisten der unbekannten Worte leitete ich aus ihren Wurzeln ab, indem ich mich von den modernen Entsprechungen her zurückarbeitete. Ein paar blieben quälend unverständlich. Die Trisianer sprachen anscheinend eine Form des Alt-Morenzianisch aus der Zeit vor der ersten Jahrtausendwende. Von dieser Sprache hat nichts in aufgezeichneter Form überlebt, von verstaubten gelehrten Schriften in einem merkwürdigen Alphabet aus dreißig Buchstaben einmal abgesehen. Das waren zehn Buchstaben mehr, als ich gewohnt war. Es datierte aus der Zeit vor dem ersten Kreis, als das frikative Nieder-Awianisch Umgangssprache in Vierlanden wurde. Etwa um diese Zeit herum, und um bei der Standardisierung einen Ausgleich zu schaffen, ordnete San an, dass die Wäh146 rung von Vierlanden auf dem morenzianischen System beruhen sollte, das weitaus einfacher war als das awianische. Die Trisianer erwarteten uns mit Sicherheit. Die Kanufahrer und Gouverneure, mit denen es Raa zu tun gehabt hatte, hatten die Nachricht höchstwahrscheinlich über die ganze Insel verbreitet. Sie würden wissen, dass es in der Natur des Menschen liegt, zu einer großen Entdeckung zurückzukehren und jede Einzelheit in Erfahrung bringen zu wollen. Wenn unsere Segel an ihrem Horizont auftauchten, würden alle Pläne, die sie geschmiedet haben mochten, auch in die Tat umgesetzt werden. Die Trisianer würden von allen Seiten zu unserem Empfang herbeiströmen, aber ich konnte nicht voraussagen, welcher Art dieser Empfang sein würde. Ich werde schlicht und einfach weiterarbeiten, und wenn ich zu viel Kat nehme und zusammenbreche, würden die anderen vielleicht begreifen, wie quälend für mich die ständigen Gedanken an Nachtigall wären. Ich bezweifle, dass sie ihrerseits so viele Gedanken an mich verschwendet, in dem Schloss da mit ihrem Liebhaber. »Verdammt!«, sagte ich laut. »Haltet die Wellen doch bloß mal für 'ne Stunde an und lasst mich überlegen!« Ich wünschte mich in die Dunkelberge zurück, wo ich nach wie vor glücklich im »Spinnennetz« einen heben würde, wenn Atas Botschafter nicht durchgekommen wäre. Ich dachte wieder in Gratisch, eine gute Sprache, um misanthropisch zu sein, da sie keine Worte für mehrere Leute kannte und keine Pluralform von Verben. Das Beste von allem war, dass ihr ein Wort für Ozean fehlte. Das rhydannische Wort für Steigen ist dasselbe wie für Rennen, und es gibt eine Vielzahl von Worten, um die verschiedenen Typen des Betrunken-Seins zu beschreiben. Die einzige Kneipe in den Dunkelbergen liegt inmitten des Pueblos von Grat, wo sich die Gebäude aus blankem Fels 147
formlos zu beiden Seiten des Bergpfads erheben. Das Pueblo hat ein flaches, alles umspannendes Dach. Jeder Raum hat seine eigene Luke, damit der winterliche Schnee die Leute nicht völlig von der Außenwelt abschnitt. Im Spinnennetz ging es lebhaft zu, da der Höhepunkt der Wintersaison erreicht war. Die Hirten, die ihre Ziegen von den hoch liegenden Weiden herabgebracht hatten, waren eingetroffen. Ein paar Jäger kamen vorbei, um sich auszuruhen; Nomaden, die mit sich selbst zufrieden zu sein schienen. Viele waren Nachmittagstrunkene, denn das Trinken schmeckt nach mehr, und man schreibt den Tag ab. Ich saß auf einer der Bänke an der unteren Bar und aß Brot mit ranziger Butter und gesalzenem Lamakäse. Eine Reihe gefriergetrockneter Kaninchen hing an den Ohren hinter der Bar - Lascanne fängt sie mit der Hand. Wieder schob ich meinen Becher über die Theke; er füllte mit einer übertriebenen Geste weiteren Whisky ein. »Es herrscht Schneetreiben«, sagte er, als wäre das etwas Neues. »Möchtest du ein Gipfelkaninchen?« »Nein danke.« Lascanne war alleinbetrunken (alles erscheint irgendwie amüsant). Ich war vermutlich tagesbetrunken (wie viel man auch trinkt, es zeigt offensichtlich überhaupt keine Wirkung). Die Mauern und der größte Teil des Schieferbodens waren mit flach gewebten Kelims in warmen roten und indigofarbenen geometrischen Mustern bedeckt. Rechts stand ein großer Herd, der sich seinen Kamin mit der Destillerie teilte. Eine Jägerin lag auf den Fellen daneben, die ab und zu etwas vor sich hin murmelte. Sie war betrunken (völlig betrunken); ihr scharf geschnittenes Gesicht ruhte auf ihren zusammengefalteten Händen. Neben ihr lag eine vierköpfige Familie und schlief. Drei oder vier Howffs waren an der Wand gestapelt. Howffs sind Zelte aus dünnem Leder an einem Rucksackgestell. Sie 148 konnten ausgerollt und mit den Stangen aufgestellt werden und bildeten dann dreieckige Schutzräume. Drüben führte die Leiter zur unmöblierten zweiten Etage des Spinnennetzes hinauf, wo viele Leute bis zum Eintritt des Tauwetters logierten. Quadratische, dunkle Öffnungen bildeten die Türen zu kleinen Gängen, die zu anderen Teilen des Pueblos führten, wiederum, um bei schwerem Schneefall einen Weg nach draußen zu finden. Die Kneipe roch nach Torfrauch und Eintopf. Krachend öffnete sich die Tür, und zwei Jäger schleppten ein schweres Bündel zwischen sich herein. Zunächst glaubte ich, es handelte sich um einen zusammengerollten Teppich. Die Jäger, Leanne und Ciabhar, ließen das Bündel vor dem Herd fallen und drehten es um. Es war ein bewusstloser Mensch. Leanne Shira sah mich. Sie hielt inne, einen Fuß in der Luft, bevor sie ihn langsam niedersetzte. »Jant! Sieh mal, was Ciabhar gefunden hat... Wir hätten ihn liegen gelassen, haben aber gedacht, du wärst vielleicht interessiert.« Sie schoss herüber und biss mich anstelle eines Kusses sanft in die Schulter. Ich glaube, sie war arbeitstrunken (bloß ein leichter Schleier über deinem Leben, der sich tagelang nicht hebt). Ihr Gesicht war kalt bei der Berührung. Ich sah ihren schlanken, schmalen Leib, harte Muskeln erblühten einen jeden Augenblick unter bleicher Haut. Rasche Bewegungen, ein Verschmelzen von Potenzial. Sie war anmutig, jedoch stark. Ihre zähe Taille, die Taille einer Sprinterin, zeigte sich zwischen ihrem knappen Oberteil und dem kurzen schwarzen Rock. An ihren Gürtel hatte sie zwei Paar Schneeschuhe gebunden, eines an jeder Hüfte: für sich selbst sowie für ihren Geliebten. »Bring was Whisky!«, schlug Ciabhar vor. »Keinen Alkohol!«, rief ich. »Idiot! Man soll ihnen heißes Wasser geben«, meinte Leanne. 149 »Was ist mit Whisky und Wasser?« Neugierig hatten sich etliche Gäste um uns geschart und machten hilfreiche Vorschläge. »Nehmt ihm den Mantel ab!« »Legt ihn in ein heißes Bad!« »Oder unter den Schnee!« »Er sieht merkwürdig aus; ich mag ihn nicht. Ich bin raus.« Da sie ihn jetzt erfolgreich hereingeschleppt hatten, zerfiel ihre Bemühung wieder in die typische rhydannische Organisationseinheit - eine. Ciabhar Dara wich zurück und starrte nur hin. Er war so groß und hager, dass ich die Muskelfasern durch seine straff gespannte Haut erkennen konnte, dazu die Höhlungen, wo sie mit den Knochen verbunden waren. Das schwarze Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Nägel an seinen langen Fingern liefen in harte Spitzen aus. Seine Hose war aus abgetragenem Wildleder; breite, zickzackförmige Bänder hielten die Ärmel seines gewebten Hemds zusammen. Um die Taille hatte er eine Steinschleuder mit drei Steinen gebunden - eine Steinschleuder ist die beste Waffe unter den Bedingungen in den Bergen, und Ciabhar war ein sehr geschickter und geduldiger Jäger. Er blinzelte mit seinen Katzenaugen. »Diesem Mann geht es wirklich schlecht«, meinte er scharfsinnig. Ich schob mich durch die Menge. »Lasst sehen!« Die Haut des gut aussehenden Fremden war so wächsern, dass er wie eine aus einer Talgkerze geschnittene Statue wirkte. Lippen und Nagelbetten waren blau angelaufen; sein Atem ging rasselnd. »O mein Gott«, sagte ich und spürte schneefeuchte Hände und eine eiskalte Stirn. Er war ernstlich unterkühlt, aber die Rhydanner würden das nicht wissen. Leanne sprang an meine Seite und versuchte, ihm heißes Wasser in den offenen Mund
mit den Frostblasen zu gießen. »Ich habe ihn eine halbe Ewigkeit lang beobachtet«, meinte Ciabhar. »Auf dem Torfmoorpfad. Er ging und ging immer 150 weiter, ohne Steigeisen. Er war kein Federrücken, also habe ich ihn in Ruhe gelassen. Er suchte herum, hat mich jedoch nie entdeckt. Oben am Bealachpass hat sich sein Pony hingelegt und ist verendet.« Leanne warf ihm einen Blick zu, der besagte: »Frühstück ist fertig!« Sie schoss hinaus und ließ die Tür offen stehen. Ohne innezuhalten rannte sie über die Brücke, die über die Gratschlucht führte und lediglich aus einem einzigen, fest gespannten Seil mit zwei Seilen zum Festhalten bestand. Dann wurden ihre Schritte länger, und sie verschwand rutschend den sandigen Pfad hinab. Sie rannte über die erodierten kristallenen Bereiche zwischen dem nackten Fels. Ferne Bergspitzen sahen aus, als wäre Eis von ihren Spitzen herabgeregnet. Sporadisch zeigten sich scharfe Felsbrocken auf ihren Hängen. »Ich kann hier nichts für ihn tun«, sagte ich. »Dummköpfe! Ihr hättet absteigen sollen. Nach unten - nach Karniss!« Ciabhar zuckte die Achseln. »Es ist die Höhe, die ihn umbringt. Ihr habt es bloß schlimmer gemacht.« Mit dem Daumen zog ich ein Augenlid hoch, dann das andere. Die Iris beider Augen war braun, die Pupillen erweitert, die Lider dunkel und geschwollen. Vorsichtig tastete ich nach seinem Puls, der nur langsam schlug. Er stellte das Zittern ein, da es zu anstrengend war und es sowieso keine Wärme gab, die durch das Zittern zu gewinnen gewesen wäre. Seine Atemfrequenz fiel auf Normalmaß zurück - zu erschöpft war er, um einen beschleunigten Takt aufrechtzuerhalten. Er hustete einmal, ein trockenes Husten, und ein Brodeln setzte beim Atmen in seinen Lungen ein. »Wir sind hier in achttausend Metern Höhe. Wann habt ihr zuletzt einen Flachländer im Spinnennetz gesehen?« »Sie kommen nicht zum Plateau«, überlegte Ciabhar laut. 151 »Das ist so, weil sie hier nicht atmen können! Dünne Luft reicht für sie nicht aus; selbst ich brauche Tage, um mich zu akklimatisieren. Und sie frieren leicht. Ciabhar, du hast keine Ahnung. Hilf mir, ihn hinab nach Tolastadh zu tragen!« Ich schlug weitere Teppiche um die Jacke des Mannes, und da fiel mir die kleine, tintenblaue Tätowierung von Haus Kobalt, der fischende Bär, an seinem Handgelenk auf. »Ein Matrose?« »Was?« »Er hat einen langen Weg hinter sich.« Als wir ihn anhoben, zuckte sein Leib einmal, Schaum lief ihm aus den Mundwinkeln, und er starb. Ciabhar ließ ihn fallen, stellte die Zusammenarbeit ein und schlurfte davon. Einige weitere (fröhlichtrunkene, lustigtrunkene und sturztrunkene) Jäger tauchten auf und machten sich eifrig daran, dem Leichnam die Kleider auszuziehen, aber ich verjagte sie. Ich durchsuchte seine Taschen und fand einen feuchten Papierbeutel, darin Zuckerkuchen, eine nasse Streichholzschachtel und einen sehr feuchten und zerbrechlichen weißen Umschlag, der erschlaffte und sich in meinen Händen aufzulösen begann. Ich drehte ihn um und sah ein karminrotes Siegel. Hinter mir zog Lascanne den Leichnam hinaus, um ihn über den Rand der Gratschlucht zu werfen. Draußen in den Bergen lässt man die Toten dort, wo sie hinfallen. Kein Rhydanner kümmert sich in den Dunkelbergen um die Toten, wo die Lebenden schließlich mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ich kehrte an die Bar zurück und warf den Brief auf die steinerne Theke. Gamsfettkerzen prasselten in ihren hörnernen Haltern. In dem Brief stand: »Abzuliefern zu Händen von Komet Jant Shira. Von Raa, Seefahrerin und Kapitänin der Flotte. Abgeschickt nach Spinnennetz, Grat. Achtung, bitte - dieser Umschlag enthält KEIN Geld!!!« 152 »Oh, Scheißdreck!« Nur ein paar Grad kälter, oder eine weitere halbe Stunde draußen im Schneetreiben, und Raas Kurier hätte mich nicht erreicht, und ich säße nicht hier in einer heißen, hoch- und niedergehenden Karavelle. Ich kauerte auf der Leiter zwischen Achterdeck und Halbdeck und beobachtete einen stark sommersprossigen Serein, der unterhalb des Hauptbereichs Dehnübungen vollführte. Um Raa zu beeindrucken, hatte er Namen und Funktion jedes einzelnen Schiffsteils auswendig gelernt. Er stieß sein Rapier durch imaginäre Gegner, die offensichtlich nicht den Hauch einer Chance hatten. Er legte eine Pause ein und kam, das Rapier schwingend, herübergetrabt. »Hallo, Jant. Du wirkst ein wenig abwesend. Wovon träumst du?« »Von den Dunkelbergen«, erwiderte ich. »Und von Nachtigall.« »Kann ich dir nicht übel nehmen. Ich würde sie auch vermissen.« »Oh, ja?« »Ju. Du hast sehr viel Glück. Einer meiner Genossen im Heerbann hatte ihr Bild tatsächlich als Pin-up. Natürlich bloß eine grobe Skizze an der Barackenwand. Im wirklichen Leben ist Nachtigall sehr, sehr viel schöner. Sie ist überwältigend. Ich wünschte, mein Genosse wüsste, dass ich ihr begegnet bin ... Jant, bist du in Ordnung?«
»Wird schon, wenn du nur nie wieder mit mir sprichst.« 153 KAPITEL 8 »Na gut«, sagte Blitz zu Zaunkönig. »Ich werde mit dir Sparren. Aber ich liege mit dem Rapier in der Weltrangliste nur auf Platz sechs, also würde ein Duell nicht lange dauern. Gib mir ein paar Stunden, um diese Männer zu organisieren ...« Er zeigte zum Hauptdeck hinüber, wo die Matrosen der Sturmschwalbe schwer an der Arbeit waren. »... damit der Kampf für dich viel interessanter wird. Schließlich sind Insekten nicht sonderlich fair.« »Einverstanden«, meinte Zaunkönig. Er zog sein Schwert und stach die Spitze eifrig in die Dichtung zwischen den Planken, die aus Insektenpapier bestand. Raa sah von ihrem Logbuch auf. »Gut, Blitz. Das ist besser, als wenn ihr, du und Jant, eine weitere Nacht in meinem Büro verbringt und euch mit Glimmerwasser-Portwein zulaufen lasst.« »Daran ist Zaunkönig schuld, weil er nichts trinkt ... Wir mussten die offenen Flaschen leeren.« »Ha! Ich muss euch Jungs jede Mitternacht verlassen, um die Navigationswerte mit den Sternen abzugleichen; bei meiner Rückkehr zecht ihr nach wie vor und schwelgt in Erinnerungen. Na schön, sorgt auf alle Fälle dafür, dass sich meine Matrosen gut amüsieren! Sie brauchen so was, aber dass ihr mir ja keinen verletzt!« Blitz lehnte sich an die Reling und nickte. Er fand Gefallen am Ungewöhnlichen. »Dann also hier die Kampfregeln: Ich werde alles tun, um dich zu treffen. Wir benutzen nur Rapiere mit Spitzenschutz sowie die flache Seite der Klinge. Jeder Matrose, den du berührst, wird sich tot stellen. Raa wird die Schiedsrichterin geben. Die ganze Sturmschwalbe ist Arena.« 154 »Und die Melowne«, sagte Raa. »Ich hole sie längsseits und vertäue sie an der Sturmschwalbe, um einen gegenseitigen Besuch zu ermöglichen. Dann kann ich bis zu einhundert Matrosen erübrigen. Wie viele willst du?« »Natürlich alle.« An jenem Nachmittag kreiste ich über den miteinander vertäuten Karavellen. Sämtliche Segel waren eingeholt, bis auf die an den hinteren Masten, die, Raas Worten zufolge, Besanmaste mit Lateinsegeln waren und den Bug der Schiffe in den Wellen halten sollten. Ich musste es ihr glauben. Mein Schatten glitt flackernd über die Matrosen der Melowne, die sich an der Reling versammelten und in die Takelage kletterten, um einen guten Blick auf das Hauptdeck der Sturmschwalbe zu bekommen. Zaunkönig und Blitz standen einander an der breitesten Stelle am Fuß des Hauptmastes gegenüber. Sie hoben ihre Waffen zum Gruß und wandten sich respektvoll an das Publikum und Raa. Dann umkreisten sie einander wachsam, beobachteten einander bedächtig. Zaunkönig setzte seine Schritte vorsichtig, schlug jedoch nicht zu. »Keine Bange, du Zwerg«, neckte ihn Blitz. »Übrigens, nennst du das einen Haarschnitt? Gestatte mir doch, ihn zu verbessern.« Zaunkönig prüfte Blitz mit einem Ausfall; Blitz lenkte ihn ab. Zaunkönig begriff, dass Blitz gut war, sehr gut. Er lief in einem diagonalen Angriff direkt auf ihn zu, Blitz parierte und ließ Zaunkönig an sich vorbeirennen, drehte sich um - stieß zu - fehlte. Wieder umkreisten sie einander. Blitz stach nach Zaunkönigs Brust, ein tödlicher Hieb, hätte er getroffen. Zaunkönig übernahm wieder die Initiative und führte einen längeren Angriff durch. Habicht parierte die Hiebe jedoch energisch. 155 Blitz stieß einen Ruf aus. Auf dieses Signal hin rannten Matrosen vom Rand des Decks und aus den offenen Luken von allen Seiten direkt auf Zaunkönig zu. Alle hatten die neuen Breitschwerter in der Hand. Einige hielten sie beidhändig. Zaunkönig stöhnte auf- und lief los, um sich an der Schiffsseite Rückendeckung vor den herandrängenden Männern zu verschaffen, deren glänzende Schwerter in einwandfreiem Zustand waren. Zaunkönigs Rapier tanzte jedoch flink um sie herum. Er parierte jeden Einzelnen mit dem stärkeren Teil, um seine leichtere Klinge zu schützen. Um besser sehen zu können, glitt ich auf die Dwarssaling herab, krallte meine bloßen Zehen um das dicke Rundholz, setzte mich dann darauf und ließ die Beine baumeln. Zehn Meter unmittelbar unter mir rannten Awianer und Prärieländer umher und drückten Zaunkönig gegen das Dollbord. Er sprang auf die Reling, griff sich mit der freien Hand ein Tau, schwang sein Rapier und schlug sämtliche gehobenen Stöcke und Klingen weg. Dann berührte er das gepolsterte Knie der Bundhose einer Frau. Diese wich zum Vorschiff zurück, wo sie sich hinsetzte. Das gespannte Publikum auf der Melowne jubelte: »Du hast Sanderling erwischt! Los, hol dir Blitz! Mach schon!« An einer Seite wichen die Matrosen zurück, als Blitz sich aufrichtete, um sich seinem Gegner auf der Reling zu stellen. Die Seeleute schnitten Zaunkönig den Rückweg ab. Er hielt sein Rapier über der stämmigen Schulter und kletterte mit Hilfe der freien Hand die Takelage zu mir herauf. Blitz setzte versuchsweise den Fuß auf das unterste straff gespannte Tau, richtete sich auf und hieb mit der Spitze, aber Zaunkönig streckte sein Rapier hinab und ließ es im Kreis darum wirbeln. Zaunkönig hievte sich auf die Dwarssaling. Um ihm Platz zu verschaffen, glitt ich in die Luft und schwebte über dem
156 Schiff, während er leichtfüßig über die Spiere lief und die Wanten auf der anderen Seite wieder hinabkletterte. Er schwang sich auf das Halbdeck hinunter und ließ die Matrosen zurück, aber Blitz schoss zum Heck, stieg die Leiter hinab und griff Zaunkönig sogleich mit einem Hieb nach dessen linker Schulter an. Der wich jedoch hinter das Ruder zurück, um wieder zu Atem zu kommen. Dort stand Raa, die jedoch nicht zurückzuckte und auch keinen Finger rührte. Hinter ihrem Rücken vollführte Blitz einen Satz, Zaunkönig wich noch weiter zurück und stieß gegen ein Gestell mit Löscheimern. Blitz hieb heftig nach Zaunkönigs Kopf; bei jeder Parade war Zaunkönigs Waffe ein einziger verschwommener Fleck. Das wütende Klirren schallte weit über den Ozean. Zaunkönig fing sich einen Hieb auf seine Rapierspitze ein, nahe des runden Lederknaufs. Er drehte sich und hätte Blitz fast entwaffnet. Blitz stampfte mit dem Fuß auf, um ihn abzulenken, und vollführte einen raschen Sturzangriff auf Zaunkönigs Solarplexus, aber der Serein duckte sich weg. Matrosen kamen die Leiter vom Hauptdeck herauf. Zaunkönig traf den ersten ganz oben; der Mann sprang hinab. Der Fechter »tötete« die nächsten beiden, und der dritte wusste nicht mehr so genau, wie er nun angreifen sollte. Zu beiden Seiten des Hauptdecks fächerten sich drei Männer auf, um Zaunkönig den Fluchtweg abzuschneiden. Sie bereiteten sich vor, indem sie sich an den Segeltauen über ihren Köpfen festhielten. Blitz rief: »He!« Fünf Männer sprangen vom Mastkorb herab, zwei stürmten aus meiner ursprünglichen Kabine unten herauf. Zaunkönig duckte sich hinter das Ruder. Sie griffen ihn an; er hatte sie in sieben Sekunden »erledigt«. Seine Klinge bewegte sich zu rasch, um ihr folgen zu können. Zaunkönig fuhr herum, den Rapierarm voll ausgestreckt, und fing Blitz' Klinge mitten im Hieb ab. 157 Raa verzweifelte immer mehr. Schließlich wimmelten zehn Männer um sie und das Ruder herum. Sie schrie dem Schwesterschiff zu: »Fulmer! Nach Steuerbord!« Fulmer am Ruder der Melowne sprang auf und wirbelte sein Rad gleichzeitig mit Raa herum. Die Segel an den Besanmasten schwenkten herum, nachdem sie sämtlichen Wind verloren hatten. Die Sturmschwalbe und die Melowne kamen ins Schlingern, bremsten ab und kippten nach links. Zaunkönig und Blitz verloren den Halt und rutschten auf der Kehrseite über das Deck in das Dollbord hinein. Zaunkönig kam als Erster auf die Beine, floh die Leiter hinab und blieb in Fechtstellung am Hauptmast stehen. Blitz warf Raa einen wütenden Blick zu und jagte ihm dann nach. Sie fochten einen wilden Kampf. Die Matrosen, die ihr Gleichgewicht rasch wieder gefunden hatten, scharten sich um sie. Ihre Genossen krochen aus den nassen Rinnen und Speigatts hervor und versuchten zusammen mit den anderen zu verhindern, dass Zaunkönig vor Blitz' Angriff zurückwich. Der Fechter drückte gegen sie; er lenkte jeden Hieb ab und hielt mit kluger Beinarbeit sein Gleichgewicht. Blitz ließ nicht nach, aber Zaunkönig fand immer noch eine Möglichkeit, zehn der Matrosen in nächster Nähe zu »töten«, indem er abwechselnd nach ihnen schlug und Blitz parierte. Krachend richteten sich die Karavellen wieder auf. Da sie jedoch miteinander vertäut waren, dümpelten sie mit erschlafften Segeln im Wasser. Sie trieben seitwärts auf den Wellen, die die Sturmschwalbe auf der rechten Seite trafen, so dass Gischt aufs Hauptdeck sprühte. Ich flog näher heran und verlor die Duellanten aus dem Blick, während ich auf dem Achterdeck landete, was ein wenig schwierig war, weil sich die Schiffe langsam im Kreis drehten. Aller Augen lagen auf dem Fechter. Zaunkönig hätte Blitz fast berührt. Der fiel zurück und 158 ließ seine Mannschaft aus Matrosen vorstürmen. Er zog sich ein Seidentaschentuch aus dem Hemd und wischte sich damit das Gesicht. Auch seinem Gegner rann der Schweiß in Strömen herab. Er berührte zwei weitere Matrosen; sie fielen ihm zu Füßen nieder. Er wich einem riesigen Awianer aus, der eine Gangspill hochgehoben hatte, jagte unter ihr durch und stieß ihn in den Bauch. Der stämmige Seemann weigerte sich zu sterben. Er versuchte, Zaunkönig mit der Spill an der Reling festzunageln, und sprang wie ein Boxer umher. Die Seeleute auf der Melowne buhten und schrien: »Du bist tot, Zwergsäger! Du alter Mistkerl, auf den Boden! Sei kein schlechter Verlierer! Erledige ihn endgültig, Serein!« Zaunkönig sprang rattenschnell auf die Abdeckung des Wasserfasses und versetzte Zwergsäger einen hallenden Klaps auf dessen kahlen Schädel. Der große Mann musste sich seines Publikums sehr wohl bewusst sein, denn er starb äußerst theatralisch. Zaunkönig vollführte einen Satz vom Fass herab und berührte zwei weitere Matrosen. Nach rechts, in die Mitte, nach links: drei weitere fielen. Sein Rapier war überall. Ich wollte unbedingt mitmischen und hob ein Breitschwert auf. Zaunkönig hatte offenbar nicht alle Tassen im Schrank; das wildeste Mannschaftsmitglied ließ ihn ungerührt. Ich wollte ihn ein wenig zurechtstutzen. Blitz warf mir einen Blick zu und vollführte eine verdeckte, spiralförmige Geste mit einer Hand. Ich erkannte sie wieder - die Strategie, die wir vor langer Zeit für die Gelegenheiten ausbaldowert hatten, wenn wir im Amphitheater gegen Insekten kämpften. Blitz verstrickte Zaunkönig in einen Zweikampf, während ich lautlos zum Hauptdeck hinabrannte und hinter ihm hinaufkroch. Ich hätte lediglich seinen Rücken zu berühren. 159 Zaunkönig erkannte entweder an der Körpersprache seines Gegners, dass ich dort war, oder er hatte auch im
Rücken Augen, wie Insekten. Er vollführte einen jähen Schritt rückwärts, um uns beide im Blick zu behalten, und hieb an Blitz vorbei nach mir. Sogleich zog ich mein Schwert von der Kehle bis zum Rumpf herab, nutzte meine große Reichweite nach Kräften aus. Zaunkönig sprang zurück, als ob er fliegen könnte, landete und rutschte auf dem nassen Deck aus. Er wahrte das Gleichgewicht, indem er die Stummelflügel spreizte, und suchte den Blickkontakt. Ich stach direkt auf seine Brustwarze ein; er lenkte meine Klinge weit zur Seite ab und ripostierte aus der Sixt heraus zum Oberkörper, kam jedoch nicht mal in seine Nähe - meine schnelle Konterriposte schlug sie beiseite. Überraschung flackerte in Zaunkönigs Augen. Keine Zeit, es in Worten zu denken, aber ich spürte Befriedigung. Unterschätz mich nicht! Zaunkönig hieb meine Klinge nach rechts weg, parierte Blitz und schlug dann über meine Klingenspitze hinweg nach meiner Schulter. Als er das Rapier hob, duckte ich mich und vollführte einen Hieb über seinem Magen. Er drehte seine Klinge nach unten und hielt ihn auf. Mit der flachen Seite der Klinge schlug er erneut Blitz' Hieb beiseite und erwiderte den meinen. Da Blitz und ich als Paar arbeiteten, hatten die Matrosen keinen Platz für einen Angriff. Wir bewegten uns im Takt, aber ich konnte an Zaunkönig nicht herankommen, weil er nach wie vor links von mir auf Blitz einschlug. Meine Schnelligkeit bereitete dem Fechter Sorgen. Er drehte sich nach links, band und blockte Blitz' Klinge. Er stieß einen Ruf aus und befreite sein Schwert mit einer Bewegung, die Blitz verwirrt zur Kenntnis nahm, trat weg und 160 konzentrierte sich auf mich. Er blockte meine Hiebe mit einer kurzen, ökonomischen Bewegung ab, parierte schräg nach unten und stach unter meiner Glocke hindurch. Meine Bewegungen erfolgten reflexartig, fast automatisch. Er schlug nach meinem Gesicht. Ich fegte ihn mit einem schwachen Hieb aus dem Handgelenk beiseite. Es war eine Finte. Zaunkönig veränderte die Richtung seines Hiebs und stieß unter meiner Glocke hindurch. Ich spürte einen jähen Schmerz in den Fingerknöcheln. Der Griff glitt mir aus der Hand, und mein Breitschwert fiel, sich überschlagend, über die Reling des Schiffs hinweg ins Wasser. Zaunkönig atmete durch den offenen Mund; sein Blick glitt beiseite, als er sich wieder voll auf Blitz konzentrierte. Da ich entwaffnet und somit aus dem Rennen war, zog ich mich zur Treppe zurück und sah der Fortsetzung des Kampfs zu. Zaunkönig ermüdete allmählich, aber achtzig von hundert Männern lagen am Boden. Erneut rief Blitz auffordernd: »He!« Die letzten Mannschaftsmitglieder kamen aus Atas Kabine gerannt. Zaunkönig tat so, als würde er blitzartig zurückweichen, lief stattdessen jedoch zum Dollbord, wo er einen Salto über die Seite der Sturmschwalbe vollführte und auf dem Hauptdeck der Melowne landete. Das Publikum dort wich mit überraschten Aufschreien zurück. Zaunkönig jagte an ihnen vorüber und die Leiter zum Vorschiff hinauf. Die Mannschaft der Sturmschwalbe folgte, kletterte oder sprang über den gefährlich schmalen Spalt und die Fender zwischen den Schiffen. Zaunkönig verteidigte die hochragende Leiter so gut, dass er zehn weitere tötete, bevor sie sich gewaltsam einen Weg auf seine Ebene bahnen konnten. Ein Matrose sprang so weit, dass er das Übergewicht bekam. Blitz rannte herbei und wollte dies ausnutzen, aber 161 Zaunkönig parierte ganz kühl. »Tote« Kämpfer setzten sich auf das kleine dreieckige Deck. Blitz unternahm gemeinsam mit zwei Matrosen einen Vorstoß, aber Zaunkönig, den Rücken am Vormast, war unsichtbar. Die letzten beiden Mannschaftsmitglieder links und rechts fielen ebenfalls, so dass nur noch er verblieb. Blitz fintete einmal, zweimal, hieb nach Zaunkönigs Schwertarm. Serein hatte das erwartet und wehrte Blitz ab. Kratzend trafen die Klingen aufeinander, ein Geräusch, als würde ein Messer auf einem Stahl geschliffen. Zaunkönig winkelte seine Klinge an und stieß nach unten; seine Rapierspitze prallte von Blitz' Oberschenkel ab. Blitz ging in die Knie, doch bevor er aufs Deck traf, hatte er den runden Knauf des Spitzenschutzes unter dem Kinn. Er breitete weit die Arme aus, das Schwert locker in der rechten Hand. Zaunkönig erstarrte. Sein blaues Hemd mit der Aufschrift »FC Sommertag« war schwarz vor Schweiß, sein Gesicht puterrot. Er sah Blitz direkt an und flüsterte: »Du bist tot.« Auf beiden Schiffen hockten überall Leiber in weißen Hemden. Eine Böe traf die Sturmschwalbe und die Melowne; Wasser schwappte unter dem Bug. Es herrschte Totenstille. Blitz schlug die Hände zu einem Applaus zusammen. Zaunkönig grüßte ihn mit seinem Rapier, auf dem hell frische Kratzer und Scharten glänzten. Alle brachen in Jubel aus. Die geschlagenen Matrosen standen auf, strichen mit den Händen an ihrer Kleidung herab, grinsten einander an und sahen neidisch und respektvoll in Zaunkönigs Richtung. Der Fechter war darauf konzentriert, den Rücken und die robusten Gliedmaßen in seiner gewohnten Abfolge zu strecken. Sein Rapier steckte aufrecht zwischen den Planken. Ich sprang mit einem Salto auf die Melowne hinüber, stieg 162 die Treppe zum Vorschiff hinauf und schüttelte ihm die Hand. »Du bist erstaunlich.«
Zaunkönig verneigte sich vor mir und dem Publikum; Schweißtropfen fielen aus seinem Haar aufs Deck. Blitz spannte seinen Schwertarm und schüttelte ihn aus. Auf Grund der Anstrengung und der Erschütterungen durch die Hiebe musste er bleischwer sein. Raa schlug heftig in die Hände; ihre hohe Stimme trug weit über die Schiffe. »Auf die Beine, Leute, und auf eure Positionen! Doppelte Rationen an Rum und Bier heute Abend, wenn ihr auf die Gesundheit und das Genie von Serein Zaunkönig trinkt!« An Blitz gewandt, sagte Zaunkönig voller Überschwang: »Vielen Dank! Das war eine großartige Idee! Vielen Dank dafür, dass ich den Zaskai meine Begabung zeigen konnte.« »Allerdings. Ich gebe zu, nie zuvor auf einem Schiff gekämpft zu haben, aber vor eintausend Jahren habe ich den damaligen Fechter gesehen, wie er es im Speisesaal des Schlosses mit dreihundert Mann aufgenommen hatte. Und auch nicht bloß Matrosen; sechs Lamai-Abteilungen eines Eliteheerbanns.« Zaunkönigs Lächeln erlosch auf der Stelle, sein Stolz war in sich zusammengefallen. Ich jedoch sah ein neckisches Funkeln in Blitz' Auge; ich glaube, das hatte er erfunden. Ab dem zweiten Monat wachte jeder Matrose und jeder Passagier auf der Sturmschwalbe und der Melowne sehr argwöhnisch über seine Habe. Ich kannte jede kleinste Einzelheit meiner wenigen Besitztümer, die ich mit an Bord gebracht hatte; eifersüchtig hegte und pflegte ich sie. Ich hielt die Schneide meiner Axt messerscharf. Ich polierte meinen Spiegel auf Hochglanz. Ich säuberte und ölte meine Flügel, so dass sie sich im Bestzustand befanden. Der Ozean hatte 163 nichts weiter zu bieten, also nahm die Sauberkeit meiner Kabine und der Erhalt von Materialien eine große Bedeutung an. Ich hielt meinen Privatbereich sorgfältigst geschützt; wir alle waren sehr territorial veranlagt. Blitz benahm sich, als hätte er seinen gesamten Palast zu einer Schiffskoje kondensiert. Er verbrachte zu viel Zeit im Gespräch mit Zaunkönig und hatte anscheinend nicht bemerkt, dass ich wieder Kat nahm. Als Passagier fühlte ich mich machtlos und eingesperrt. Es gab nur wenig Möglichkeiten, sich nützlich zu erweisen, aber Raa hielt mich damit beschäftigt, Nachrichten zwischen den Schiffen hin und her zu bringen. Jeden Morgen unternahm ich den Versuch, ihr Alt-Morenzianisch beizubringen, aber für richtigen Unterricht hatte sie einfach nichts übrig. Etwas an den präzisen Zahlen in Raas Logbuch, an ihren ziemlich komplizierten Kompassen und dem vergoldeten Astrolabium faszinierte mich fast ebenso sehr wie die Glasgeräte und Kräuter in der Apotheke, in der ich einmal gearbeitet hatte. Sie besaß einen Quadranten aus geschnitztem Elfenbein, einen glänzenden Messingsextanten und eine sehr genaue Uhr in einem gepolsterten Korb. Trotz allen Expertums konnte sie jedoch nicht aus der Luft sehen wie ich, also überprüfte ich jeden Nachmittag die Küstenlinien ihrer Portolankarten. Die schiere Entfernung, die wir segelten, erschreckte mich, aber ich konnte sie einfach nicht dazu bringen zuzugeben, in welcher Gefahr wir schwebten. Jeden Tag zur Abenddämmerung ging ich unter Deck zu dem Insekt. Kaum hatte es mich erblickt, da griff es auch schon an, knallte krachend gegen die Stangen seines Käfigs. Ich stand geduckt da, hielt die Axt vor mich, beobachtete es und genoss den Adrenalinstoß, bis es sich erschöpft hatte. Jedermann weiß, dass man Insekten nicht dressieren kann; wenn es ein anderes wildes Tier gewesen wäre, hätte ich die 164 Reise damit verbracht, es unter Kontrolle zu bringen. Es verstand meine Signale nicht. Es spürte mich bloß als Nahrungsquelle. Es wütete, tobte und hungerte. Eines Abends gelang es mir, einen Lederriemen um das Vorderbein des Insekts zu schlingen, aber es riss ihn ab und fraß ihn. Es benagte Knochen und schichtete sie auf die stinkende, harte weiße Paste um seinen Käfig. Über die Tage und Wochen hinweg wurde das Sekret immer dicker. Als es etwa sechs Zentimeter hoch geworden war, begriff ich, dass das Insekt eine Mauer errichtete. Es wollte wohl andere Insekten finden, schließlich sind es gesellige Tiere. Da es entdeckt hatte, dass es aus unerklärlichen Gründen allein und gefangen war, mauerte es sich selbst in eine Zelle ein, in der es sich vermutlich mehr zu Hause fühlte. Ich hoffte, dass die Insekten nicht die Fähigkeit besaßen, andere von einem anderen Ort herbeizurufen, an dem sie sich gerade aufhalten mochten. Ich stellte mir vor, wie plötzlich tausende von Insekten im Frachtraum auftauchten und das Schiff nach und nach mit ihrem Gewicht ins Wasser drückten. Oder dass unser Insekt einen Pfad finden würde, über den es nach Andernort verschwinden könnte und einen leeren Käfig zurückließe. Das ergäbe dann einige Fragen. Jede Nacht blieb ich in meiner Kabine und verriegelte die Tür. Ich versuchte, zu meditieren und auf diese Weise nach Andernort zu gelangen, aber ich blieb jedes Mal erfolglos und frustriert. Ich versuchte, mich zu entspannen und meinen Kopf ganz leer zu machen, aber ich konnte mich nicht länger als einige Minuten konzentrieren, bevor ich auf einen anderen Gedankengang geriet, der mich zum Beispiel zu Nachtigalls Untreue führte. Nach einer Woche gab ich es auf. Ich schlang mir rote und gelbe Tücher ins Haar und flocht fette Jadeperlen in meine Rastalocken. Ich pichelte Rum. Ich masturbierte mich wund. Ich lebte wochenlang immerzu in 165 ein Gefühl vergraben, bis das Scolopendrium in meinen Papiertütchen ausging. Ich versuchte, es zu rationieren, aber das machte das Verlangen bloß noch schlimmer. Da ich in der Vergangenheit süchtig gewesen war,
erkannte mein Körper das Kat wieder und wusste, wie er es anwenden musste. Mir war klar, dass ich rasch wieder süchtig werden würde und vorsichtig sein müsste, aber es war das Einzige, was den Gedanken an Nachtigall einen Riegel vorschob. Ich glitt über die Schneckenverzierung aufs Orlopdeck hinab und durchsuchte die Vorräte. Die Heftigkeit des Verlangens lässt sich schwer beschreiben, insbesondere jemandem, der noch nie süchtig gewesen ist. Es ist wie ein durchdringender Hunger, eben jenes tiefe, entsetzliche Gefühl, das ein verhungernder Mann empfindet, der nach Nahrung giert. Es nagt die ganze Zeit über an einem, vom Augenblick des Erwachens an bis zum Abend, ein winziges Flüstern oder ein kalter Windstoß, der einen zum allermerkwürdigsten Verhalten treibt. Es ließ mich tief hinab zu den Zwischendeckkammern am Heck kriechen. Der größte Teil meiner Willenskraft war darangesetzt, mit der beständigen Furcht zurande zu kommen, mitten auf dem Ozean zu treiben; ich hatte nicht mehr die Kraft, mich gegen mein Verlangen nach Kat zu stemmen. Die Arzneimittelvorräte des Schiffs befanden sich in einer hölzernen Truhe. Außerstande, das Schloss zu knacken, legte ich die Axt daran. Ich durchwühlte sämtliche Utensilien wie Dampfgereinigte Skalpelle, zusammengefaltete Verbände und Salbentöpfchen, und stieß schließlich auf eine Pappschachtel mit verkorkten Glasampullen, die durch Streben getrennt waren. Ich ließ meine Hand darüber laufen, wobei sie klapperten, und versuchte, eine herauszuziehen. Ich sah aufs Etikett. Das kleine Logo zeigte eine Lerche; Scolopendri166 um 3 % wässrige Lösung. Nicht die vorgeschriebene Dosis überschreiten. Export verboten. Lerchen. Ich zählte eine Reihe und eine Spalte ab; es gab fünfzig Röhrchen, bei weitem zu viel für dieses Schiff. Ich war überzeugt, dass die Seefahrerin auf Tris eine Schlacht erwartete. Es gab ebenfalls eine Anzahl schlanker Glasspritzen in sauberer Papierverpackung. Ich riss eine am Ende auf und schüttelte die Spritze heraus. Das ist besserer Stoff, als ich bisher gehabt hatte. Nein! Mein Gott, ehrlich, Jant, du hast keine Selbstbeherrschung. Ich legte sie hin und hatte das Gefühl, als steckte ich nicht in mir drin. Es war eine derart mächtige Selbstverleugnung, dass ich mich fragte, ob ich eigentlich überhaupt hier war. Ich habe eine Wahl. Ich werde es bloß einmal benutzen und dann sämtliche Ampullen über Bord werfen. Ich gab nach -ja, ich tu's -, und ein Gefühl der Entspannung breitete sich in mir aus, ein warmes Gefühl der Erleichterung, als ob ich den Schuss bereits gesetzt hätte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie nah ich dem Zusammenbruch gewesen war, wie heftig ich mich zusammengerissen hatte. Eilig lief ich in meine Kabine zurück, drückte mich in die tiefste Ecke, meinen sehnigen Arm um die Knie geschlungen, und suchte die Ellbogenbeuge ab. Ich war großartig in Form und musste den Arm nicht abbinden. Meine Venen waren fest wie Stricke unter der Haut. Plötzlich fühlte ich mich schuldig, rebellierte dann dagegen. Warum dieses Bedauern? Wenn es ein anderer Mensch an Bord wüsste, wären die Lerchen schon längst auf und davon. Auf den Straßen in Hacilith benutzten wir Kinder geschickt die Schuldgefühle dazu, einander zurückzuhalten. Wie kleine Eszai griffen wir mit allem, was wir hatten, nach jeder sich uns bietenden Gelegenheit. Aber jene wenigen, die erfolgreich waren, wurden von den Schuldgefühlen verzehrt, 167 weil sie wussten, dass ihre Freunde nach wie vor in der Gosse lebten. Ich tue es, weil ich es tun kann. Wer würde sich einem derart intensiven Vergnügen verweigern? Die Planken quietschten, und ich vollführte einen Satz. Jedes Mal, wenn eine Welle unter uns gurgelte, war ich mir sicher, dass die Hülle zerbrechen und uns alle in das tosende Wasser speien würde. Raa hatte mir gesagt, dass die Bretter leicht nachgeben sollten, damit das Schiff flexibel bliebe. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie sich die Planken wölbten und Gischt durch die Ritzen hereinsprühte. Schäumendes Wasser rast von den Bilgen in den Frachtraum, bricht durch die Luken hervor; das Schiff kippt und sinkt träumerisch und intakt hinab auf den Meeresgrund. Mein Mund war trocken vor Erwartung, und ich konzentrierte mich so heftig auf das Abmessen der Dosis, dass sonst nichts mehr existierte - kein Schiff, keine anderen Unsterblichen, keiner der Matrosen in der Takelage, der die Brise durch die geöffneten Flügel streichen spürte. Ich weiß, dass das, was ich tue, falsch ist. Aber bloß einmal, um es hinter mich zu bringen, und das wird die letzte Injektion sein, die ich mir je setze. Wenn ich im Netz zappele, was ich nicht tue, versuche ich, die ganze Zeit über ein klein wenig Scolopendrium im Körper zu belassen. Es trinken ist gut, um den Level konstant zu halten, aber wenn es zur Neige geht und ich unter die Grundmenge sinke, dann tendiere ich eher dazu, in Panik zu geraten und tue ... dies: Ich stoße die glänzende Nadelspitze in meine Haut, die sich teilt, wenn die Spitze köstlich einsinkt; tiefer. Dunkelrotes Blut schießt hinauf in den Kolben und verteilt sich. Das möchte ich zurück, dachte ich und drückte den Kolben so rasch nieder, wie ich mich traute. Ich legte mich zurück, die Nadel im Arm. Meine Hände zuckten. Wellenhaft verrenkte sich mein Körper - die Ekstase war fast unerträglich. 168 Wir reisten weiter. Die Tage wurden ununterscheidbar. Die Tage verschmierten ineinander. Und die Sonne stieg immer und immer wieder herauf. KAPITEL 9 Ich erwachte voller Entsetzen darüber, mich immer noch auf dem Schiff vorzufinden und einen weiteren Tag vor mir zu haben, der ebenso beschissen wäre wie der vorangegangene. Hastig griff ich unter das Kopfkissen nach
einer weiteren Phiole, und mit Hilfe von Scolopendrium brachte ich es fertig, den unausweichlichen Überfall des Tages auf mich um ein paar weitere Stunden hinauszuzögern. April. Nadeleinstiche bildeten einen Kalender auf meinem Arm. Ich ließ mein langärmeliges T-Shirt an, um sie zu verbergen. Gelegentlich erfrischte uns ein Schauer und füllte die Fässer, insgesamt gesehen war die Hitze jedoch niederdrückend, und sämtliche Matrosen arbeiteten barfuss und nackt bis zur Taille. Unsere Kleidung war von der Sonne verblasst, und meine war gefleckt. Mir lagen ein paar mehr Schatten um die Augen, aber nicht so viele, dass es jemandem aufgefallen wäre. So oder so passte es zu mir, und Kat sorgte dafür, dass ich nicht zunahm. Das Erste, was Drogenmissbrauch einem wegnimmt, ist der Teil des Gehirns, der sich um die eigene Gesundheit sorgt. Und Abhängigkeit hat auch einen Vorteil -Kat war ein Schutz. Meine ganze Sorge war auf ein Problem konzentriert, also betrachtete ich den Rest der Welt sehr sorglos. Ich ging los, um mich auf dem Vordeck zu lümmeln, und sah einen Ozean, der sich wie eh und je in alle Richtungen von uns weg erstreckte. Zaunkönig und ich beobachteten die Sturmschwalbe, die so nah am Wind segelte wie möglich. Sie 169 hatte sämtliche Segel gesetzt und lag etwa dreihundert Meter rechts vor uns schräg im Wasser. Blitz stieg auf den Heckaufbau und winkte uns von der Reling aus zu. Er war sonnengebräunt, und das Sonnenlicht hatte sein helles Haar gebleicht. Er spannte einen golden bebänderten Compoundbogen und schoss einen Pfeil ab, der hoch in die Luft flog. Zaunkönig duckte sich und rief: »Pass auf!« Der Pfeil fiel direkt auf mich herab und fuhr keine zehn Zentimeter von meiner linken Hand entfernt in die Decksplanke. Ich sprang auf. »Habicht! Was tust du da eigentlich?« Klar, er konnte mich nicht verstehen. Er winkte nur fröhlich und zeigte auf uns, dann auf den Horizont. »Worauf will dieser Blödmann hinaus?« An dem Pfeil war ein Brief befestigt. Ich riss den Faden ab und rollte das Papier auseinander, das Blitz fest um seinen Schaft gewickelt hatte. Komet, Raas Berechnungen zufolge solltest du jetzt in der Lage sein, die Insel Tris zu sehen, wenn du viermal so hoch wie der Hauptmast fliegst und dich nahe bei den Schiffen hältst. Halte genau nach Osten Ausschau! Sage uns Bescheid, ob du etwas siehst. BHG Während ich das Schreiben las, setzte Blitz, der sich jetzt Zaunkönigs voller Aufmerksamkeit erfreute, seine Vorstellung fort. Er schoss einen Pfeil zum Himmel, und Zaunkönig sah ihn eine hohe Parabel beschreiben, während Blitz ganz rasch einen weiteren Pfeil in einer flachen Flugbahn dem ersten hinterherschickte. Als sich sein erster Pfeil herabsenkte, traf ihn der zweite, so dass er Spitze über Federn davonwirbelte. Eine Sekunde später vernahmen wir das schwache Knack, 170 das sie beim Zusammenstoß hervorgerufen hatten. Blitz wiederholte seine Nummer als Beweis dafür, dass das erste Mal kein Zufallstreffer gewesen war. »Er kann einen Pfeil in der Luft treffen!«, sagte Zaunkönig. »Ju.« Blitz hatte die letzten paar Wochen auf der Dwarssaling verbracht und auf Albatrosse geschossen. Er halbierte ihre Federn und fertigte weitere Pfeile daraus. Nur die schwindende Anzahl Seevögel ließ seinen Eifer etwas erlahmen. »Du solltest mal seine Nummer mit dem Pfeil in einem Korken und einer Weinflasche sehen.« Ich reichte Zaunkönig den Brief, breitete die Flügel aus und stieg vom Heck auf. Steil ging es in die Höhe, als ich meine achtundfünfzig Kilo Gewicht in die Luft schraubte. Ich spürte jede Welle in der Brise, die die Melowne mit ihren gewaltigen cremefarbenen Segeln verwirbelte. Die Schiffe verschwanden rasch. Ich erschrak heftig, als ich sie in einer solchen Weite aus den Augen verlor. Ich versuchte, über dem Hauptmast der Schwalbe zu bleiben, obwohl es dort keinerlei Aufwärtsströmung gab. Ich könnte sie leicht hinter mir lassen, aber dann müsste ich über dem immer gleichen Bereich des Ozeans hin und her kreuzen - in einem vergeblichen Versuch, sie wieder zu finden. Schließlich würde ich vor Erschöpfung vom Himmel fallen und ertrinken. Ich suchte voraus und sah nichts als weiteres Wasser, also stieg ich noch höher auf, bis die schmucke Schwalbe so lang wie mein Zeigefinger war und Regenbögen in ihrer Bugwelle hinter sich herzog. Das Kielwasser des einen Schiffs lag ebenso wie beim anderen wie ein V um den Bug, und weiße Schleier erstreckten sich hunderte von Metern hinter ihnen. Ich glitt zum Ausruhen in einer flachen Spirale dahin. Entweder waren Raas Berechnungen falsch, oder die Insel existierte gar nicht. Dann zog ich noch höher und hielt Ausschau nach Osten. 171 Am Horizont schien auf einem Dunstschleier ein dunkelgrüner Flecken zu treiben. Ein Berg! Ein Berg im Meer! Ich stieg noch weiter und war mir bewusst, dass ich der zweite Unsterbliche war, der je das Auge auf Tris richtete. Die Insel tauchte mit dem Gipfel zuerst auf. Ich spürte eine feste Verbundenheit mit ihr, als ob sie insbesondere wegen mir dorthin gesetzt worden wäre. Weiße Federwölkchen hingen darüber, und ich konnte so
gerade eben die Schatten erkennen, die sie auf die glatte Bergwand warfen. Aus der Entfernung war der Gipfel von einem blassen Grau. An der Küste gab es einige Felsenspitzen. Vielleicht waren es Klippen, aber ich konnte es nicht sagen. Ich starrte hin, bis mir die Augen tränten. Der Dunst löste sich allmählich auf, jäh sah ich alles in der richtigen Perspektive, und ich begriff, dass ich eine Stadt vor mir hatte. Die weißen Gebäude erinnerten an einen Hang in Grat. Sie stürzten vom Berghang hinab zur Küste und kauerten auf etwas, das niedrigere vorspringende Teile des Gipfels sein mussten. Es war unglaublich schön, so wunderbar, dass ich mich beim Lachen ertappte. Ich juchzte, schlug Purzelbäume in der Luft und tauchte zur Sturmschwalbe hinab. »O mein Gott. Raa, du hast ja so Recht! Du bist ein Genie, Raa. Ich nehme alles zurück, was ich jemals gesagt habe, und behaupte das Gegenteil. Sie ist da, wo du gesagt hast, und sie ist prächtig. Prächtig! Ich meine, sogar Awia hatte niemals so was wie das gehabt...« »Kannst du sie erkennen?«, fragte Blitz. »Er kann sie erkennen«, sagte Raa, ans Ruder geklammert. Ich richtete mich neben der Reling in der Windströmung aus. »So etwas wie sie habe ich noch nie gesehen! Sie ist so schön, dass es einfach nicht wahr sein kann. Wie ...« Wie ein Teil von Andernort in Vierlanden. Ich hielt inne und beschrieb sie etwas ruhiger. Ein Kundschafter ist so lange nutz172 los, wie er keine vernünftigen Berichte abliefert. Auf Höhe des Meeresspiegels war die Hitze stärker; sie verlangsamte auf ärgerliche Weise mein Denken. »Ich kann die Stadt erkennen, obwohl sie im Augenblick bloß ein Fleck ist. Ich kann die gesamte Westseite der Insel erkennen - eigentlich ist Tris ein gewaltiger Berg, der dem Meer entsteigt!« Sorgfältig notierte Raa mit einem Bleistiftstummel eine Kompassanzeige in ihrem Logbuch und schnappte sich ihr Teleskop aus seinem Etui. Das war absolut fantastisch - ein neuer Teil des Reichs, den wir ... Plötzlich schickte mich ein Windstoß fast in die Wellen. Ich verlor zu viel Höhe. Ich winkte Blitz zu. »Schmeiß mir das ... und das zu!«, sagte ich und zeigte auf eine Wasserflasche und einen Kanten Brot. Er warf mir die beiden Sachen nacheinander von der Achterreling aus zu. Ich tauchte hinab und fing sie auf. »Ich kann's nicht erwarten, den Gipfel auszumessen. Ich sehe mir die Sache mal näher an.« »Nein!« Versuch doch, mich daran zu hindern! »Keine Sorge«, sagte ich. »Ich bin zurück, bevor du auch nur Luft geholt hast.« Ich faltete meine Flügel halb zusammen, um Kraft zu gewinnen, und zog sie gegen den Luftwiderstand nach unten. Raa hatte gesagt, die Stadt hieße Kapharnaum. Ich wiederholte dieses Wort laut, während ich dahinflog das einzige vollständige trisianische Wort, das ich kannte. Ich konnte es nicht erwarten, mich mit den Insulanern in ihrer uralten Sprache zu unterhalten. Sollte heißen, wenn sie bei meinem Anblick nicht Reißaus nahmen. Ich war an Flachländer gewöhnt, die mich anstarrten, oder an ihre unverblümte Feindseligkeit. Einst in Hacilith hatte der Kellner eine Schüssel Milch und ein Fischgerippe für mich auf den Boden gesetzt, als ich ein Bier und ein Sandwich bestellt hatte. In der folgen173 den Nacht war meine Gang zurückgekehrt und hatte das Cafe bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Heutzutage gebe ich den Zaskai etwas, das sie anstarren können; ich bin in die Rolle geschlüpft. Aber bestimmt hätte kein Trisianer zuvor von einem Rhydanner gehört. Ich war sehr versucht, ihnen absichtlich Angst einzujagen. Ich hätte ein begieriges Publikum gehabt, daran bestand kein Zweifel! Sie werden mich einfach so zu nehmen haben, wie ich bin, entschied ich. Schließlich sind sie Teil des Reichs, und ich bin auch ihr Kurier. Nach mehr als einer Stunde wurde die Insel größer, und Einzelheiten tauchten auf. Dunkelgrüne Büsche am Berghang wurden zu verdrehten Bäumen - ein Olivenhain. Ein ausgefranstes Etwas im Stadtzentrum wurde zu einem Felsauswuchs, aus dessen Kuppe, fünfzig Meter über den Dächern der Stadt, sich ein strahlend weißer Komplex zu einer Reihe von eleganten, luftigen Gebäuden mit schmalen Säulen löste, die viel größer waren, als ich erwartet hätte. Es konnte das Herrenhaus sein. Der Auswuchs schien sich rascher durch mein Blickfeld zu bewegen als der Berghang dahinter, also handelte es sich um eine isolierte Spitze. Schwarze Flecken auf dem Meer wurden zu großen Kanus mit jeweils fünf bis zehn Mann Besatzung, die mit großer Geschicklichkeit über die Brandung ritten. Sie zogen dafür sogar ihre Paddel ein und flogen dann die Wellentunnel hinab. Ein weißer Streifen, der die Stadt unterstrich, entpuppte sich als große Hafenmauer von bewundernswert guter Ausführung, fast dreimal so lang wie der Kai des Leuchtturms in Awendi'n. Die Wellen der Brandung brachen sich daran und bröckelten davon ab. Überall sonst an der Küste erstreckten sich Zypressen bis hinab zur Hochwassermarke, wo die Felsbrocken gelb von Flechten und schwarz befleckt vom Meer 174 waren. Die Bäume waren klein und knorrig; die Trisianer hätten keine Chance, jemals eine Karavelle zu bauen. Brecher brachen sich dröhnend am Kiesstrand, Sturzwellen donnerten eine neben der anderen herab. Außerhalb ihrer Reichweite waren die Felsbrocken mit bernsteinfarbenen Bändern aus Seegras sowie weißen Bändern aus Schalentieren gestreift. Kapharnaum war wie ein Modell. Aus größerer Nähe wurde das Modell jetzt lebendig, Männer und Frauen wimmelten in den Straßen. Ein geflügelter Bursche mit Strohhut warf eine Angelrute aus und schenkte meinem
Schatten, der über ihn hinwegstrich, keinerlei Beachtung. Ich stieg in die Höhe und staunte. Eine warme, köstliche Brise wehte beständig vom Meer herein wie der Aufwind aus dem Hypokaustum eines awianischen Badehauses. Es ist gewiss schwierig, auf dem Festland einen so guten Aufwind zu finden. Ich flog automatisch, so beschäftigt mit Umherschauen, dass mir gar nicht klar geworden war, wie wenig Mühe ich ins Fliegen hineinsteckte. Ich ritt auf ebenjener Strömung wie die paar Möwen, die mir mit einer Haltung zuschauten, die besagte: Das kannst du nicht ernst meinen. Wir wirbelten umeinander herum, aber sie waren die besseren Gleiter und gewannen an Höhe. Ich schälte mich aus der Thermik, um einen Blick auf die Stadt zu werfen. Ich glitt so langsam dahin, wie ich konnte, ohne durchzusacken, und vollführte beständig winzige Justierungen mit den Beinen, die als Gabelschwanz dienten; eine Gegenbewegung zu den Luftströmungen, die jetzt aus allen Richtungen herankamen. Selbst so flog ich zu schnell, um sehr viele Einzelheiten zu erkennen, und ich konnte bloß auf die Dächer hinabschauen. Zwei Hauptstraßen kreuzten sich im Zentrum von Ka175 pharnaum. Umgeben waren sie von kleineren Straßen, die wie ein Gitternetz in einem sauberen Zickzackmuster verliefen. Die Häuser standen sehr regelmäßig; bizarr sah das aus, völlig anders als das ungehemmt sich ausbreitende Hacilith und anders als die anmutigen Schwünge, in denen Awianer bauten. Zypressen flankierten leere Alleen, die nach Norden und Süden aufs Land führten. In regelmäßigen Abständen von grob gerechnet fünf Kilometern standen hohe schwarz-weiße Pfosten an der Straße, an die kurze Bretter in einem rechten Winkel angenagelt waren, so dass sie aussahen wie Galgen. Wahrscheinlich eine Art Flaggenmast. Am Stadtrand verlor das Straßengitternetz seine Gleichförmigkeit, und die Häuser standen nach Belieben. Bäume schoben sich zwischen sie. Sämtliche Villen, von exakt derselben Größe, waren viereckig, verputzt, von einem flimmernden Weiß und wie geleckt. Die Terrakottaziegel auf ihren Flachdächern wirkten wie einander überlappende Federn. Die viereckigen Fenster hatten Alabasterschirme anstelle von Glas; ihre Läden standen weit offen. Säulengänge umgaben quadratische Rasenflächen oder dunkelgrüne Gärten. In einigen standen Statuen, die dem Meer zugewandt waren. Es war ruhig, anders als in Hacilith; es war still. Ich sah kein Armenviertel in der Stadt, keine Slums, keine Kinder, die an Straßenecken herumlungerten. Keine Stadt in Vierlanden war ihr ähnlich, allein Glimmerwasser mochte bei seiner Gründung so ausgesehen haben. Wenn ich noch etwas niedriger fliegen würde, könnte man mich vielleicht sehen. Mit einem dringlichen Gefühl von Unwirklichkeit kreiste ich über der Stadt. Es war ein Traum, versicherte ich mir selbst. Es ist alles ein verdammter Traum. Hier roch der warme Wind nach Salbei und Thymian, nach wild wachsenden Kräutern. Im Gebüsch zwischen den Felsbrocken leuchteten gelbe Blumen. Fern im äußersten 176 Norden und Süden der Insel, auf den sanften Hängen, bevor die Bergwand in einen steilen Buschwald überging, lagen zwei weitere Städte, kleiner als Kapharnaum. Beide waren anscheinend mit dem Meer verbunden, jedoch stiegen über ihnen terrassenförmig blassgrüne Hügel in die Höhe. Endlich dünne Luft, dachte ich. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf den Berggipfel - mein Gott, ist das Schnee dort oben? Mehr als alles andere wollte ich nachsehen, was der weiße Schimmer dort oben zu bedeuten hatte und ob es Schneeflecken waren. Und ich wollte mich darin wälzen, wenn es wirklich welche waren, aber Raa würde meinen Bericht nicht gerade freundlich aufnehmen, wenn ich mich auf die Bedingungen auf dem Gipfel konzentrierte und nicht auf die Städte. Der Berggipfel war kein schierer Grat wie in den Dunkelbergen - er bildete keine Spitze aus, sondern war ein glatter, karger Kamm, der sich zu einem großen, schüsselförmigen Loch hinabbeugte, das aus Meereshöhe nicht zu erkennen war. Es war von Stromschnellen aus kleinen grauen Steinen verschleiert. Wolken bildeten sich am Rand der Schüssel und trieben nach Osten. Diese Seite der Insel wirkte unbewohnt, obwohl sie zu weit entfernt war, um Einzelheiten erkennen zu können. Spalten mit bröckeligen Säumen durchzogen die schieren Meeresklippen, ein Sturz von mindestens dreihundert Metern, der von weißen Vögeln umschwärmt war. Die schwarzen, gezackten Riffe darunter wirkten wie der halb eingesunkene Kieferknochen eines Wolfs; brodelndes Wasser warf sich über die schmalen scharfkantigen Backenzähne und zugespitzten Reißzähne. Ich entschloss mich, Raa zu warnen. Aber weit draußen im östlichen Ozean, ruhig und abgelegen, tauchten, hintereinander liegend, zwei weitere Spitzen von kleineren Inselchen auf. 177 Tris war frisch, ruhig und anscheinend zufrieden. Meine Pflicht, der Insel die Nachricht vom Reich zu überbringen, wird vielleicht die bedeutendste Aufgabe sein, die ich je als Kurier zu erfüllen hatte. Ich flog zu den Schiffen zurück, die nach wie vor stoisch auf Tris zuhielten. Der schwache Wind übte keinerlei Einfluss auf die gewaltigen Brecher aus, auf denen sie ritten. Das Deck der Sturmschwalbe hob sich meinen Füßen entgegen, als ich gleich neben Raa landete. »Tris ist ein Archipel«, sagte ich. »Ich bin direkt drüber weggeflogen; auf der anderen Seite liegen in einiger Entfernung weitere Inseln.« »Hat dich jemand gesehen?«, wollte sie wissen. »Nein. Ich sah Damen in Schürzen, die in den Vorbauten von Stadthäusern Lebensmittel verkauften, sowie Jungen, die grüne Fischernetze auf der Hafenmauer trockneten, aber keiner der Kapharnai hat mich gesehen«,
erwiderte ich würdevoll, ein neues awianisches Wort prägend. »Bei unserer Ankunft darfst du nicht fliegen. Sie sollen es nicht wissen; ich meine, du würdest sie bloß erschrecken. Hast du andere Fahrzeuge außer Kanus gesehen?« »Glaube nicht...« »Was ist mit Anzeichen für Insekten? Irgendwelche Mauern? Papierlande?« »Nein.« »Festungen?«, fragte Blitz. »Bastionen? Schlösser?« »Sie ist zu groß«, entgegnete ich verteidigend. »Du musst selbst nachsehen. Es gibt Plantagen, Weinbau und Ziegen auf den Berghängen.« »Typisch Jant, hat nur Sex im Kopf.« Raa schaute lächelnd in die Ferne. Ein Seitenwind zauste ihr das feine Haar. Die Wellen wurden an den Schiffsseiten als hin und her huschende Lichtmuster reflektiert. 178 Ich kehrte gerade rechtzeitig auf die Melowne zurück, um Fulmers Klage mitzuhören. Die Böen warfen die Karavelle in jede Richtung, nur nicht vorwärts. Sie lief Bug voran eine steile Welle hinab und prallte dann gegen den nächsten hoch aufsteigenden Brecher. Gischtwolken sprühten an ihrem Kiel auf und klatschten zurück. Wir gingen auf und nieder, auf und nieder, in einem unregelmäßigen Zickzack auf und nieder. Zaunkönig und ich zogen uns aufs Achterdeck zurück. Fulmer stemmte sich gegen die Ausschläge des Rads. Es war ganz schön schwierig für ihn zu steuern. Die Melowne ruckte jedes Mal zur Seite, wenn sie auf eine Welle traf, und rang ihm das Rad aus den Händen. Das breite Schiff hatte einen gewaltigen Zug; er konnte es nicht daran hindern, schräg in die Wellentäler zu rutschen. »Verdammt!«, schnaufte er. »Raa wird uns zuliebe das Tempo etwas drosseln müssen, ja? Scheiße, bei ihr sieht es so mühelos aus. Holt die fliegenden Segel ein! Treibanker dahinten, und dann sehen wir mal, ob ich ihren Bug halbwegs so gerade halten kann wie die Schwalbe.« Vom Achterdeck aus sahen wir Fulmers Hinterkopf. Kein einziges der braunen Haare, das nicht in Reih und Glied lag. Wie üblich, und allen Umständen zum Trotz, wirkte er makellos, nach wie vor ein Höfling, dreitausendachthundert Kilometer entfernt von Königin Eleonoras Hofstaat. Fulmers vornehme Art beeindruckte mich, bis mir einfiel, dass er von dem Insekt gewusst hatte, noch bevor wir die Segel gehisst hatten, und dass er es gewesen war, der es während dieser Zeit mit Knochen gefüttert hatte. Zaunkönig musterte kritisch den Horizont. »Ich sehe sie! Ich sehe eine winzige Insel!« »In den nächsten paar Stunden wirst du entdecken, dass sie riesig ist.« Weinfässer wurden an Deck geschafft und Silberbarren zu Vierecken gestapelt. Ein Wald aus farbenfrohen Wimpeln 179 entfaltete sich. Als Tris vor unseren Augen wuchs, die immergrüne und die Bimsstein-Küste an uns vorüberjagte, entstand unter den Mannschaften eine ungezügelte Aufregung. Raa und Fulmer merkten, dass es schwierig wurde, die Matrosen bei der Stange zu halten; Männer starrten hinaus übers Meer und zeigten auf Häuser, Weingärten, den Palast auf dem Hügel. Sie winkten gebräunten Fischern aus Kapharnaum in den ersten Kanus zu. Raa brachte die Schiffe herein. Sie schrie ihrer Mannschaft Befehle zu und hielt sie in Bewegung. Ich hörte sie von der Melowne aus, drei Schiffslängen dahinter; die Anspannung in ihrer Stimme machte mich nervös. Im Gegensatz zu ihr erteilte Fulmer den Matrosen seine Befehle auf ruhige, zuversichtliche und höfliche Weise. Sie ahmten jede Bewegung der Männer auf der Schwalbe nach, holten die Segel in absolut gleichzeitig verlaufenden Manövern ein. Fulmers Schiff segelte wie ein kompliziertes Uhrwerk im Kielwasser der Sturmschwalbe dahin. Die Kaimauern liefen links und rechts wie die Backen einer Zange aufeinander zu und bildeten so eine Straße von etwa fünfhundert Metern Breite. Die genaue Mitte des Kanals war ein flacher Felsen mit einem Leuchtturm darauf, der sich einhundert Meter in die Höhe erhob und auf einer quadratischen Basis von der halben Länge der Schwalbe errichtet war. Während wir daran vorüberglitten, wurden die Matrosen sogar noch aufgeregter. Zunächst vermutete ich, dass die gewaltige Höhe des Leuchtturms sie schockierte, die in Anbetracht dessen, dass die Trisianer bloß Kanus besaßen, gewiss überraschend war. Dann begriff ich, dass sie auf den Lichtreflektor zeigten; er bestand aus poliertem Gold. Die Halterungen des Leuchtfeuers bestanden allesamt aus purem Gold. »Jant, siehst du das?«, rief Fulmer. 180 »Ja, allerdings.« »Das ist das Prächtigste, was mir je zu Gesicht gekommen ist.« Ich murmelte Zaunkönig zu: »Was mir nicht gefällt, ist die Tatsache, dass Raa zuvor kein Wort darüber verloren hat.« Ich trug mein purpurrotes Tuch als Schärpe um die Taille gewunden, darunter schwarz-weiß gestreifte enge Leggins unter abgeschnittenen Denimshorts. Ein schwarzes Tuch hielt meine Locken und die Albatrosfedern zurück. Wegen der Dünung war Zaunkönig ganz grün im Gesicht, aber er war entschlossen, sich den Tumult vom Hauptdeck aus anzusehen. Er klammerte sich an ein Netzwerk aus Tauen. »Ist schon in Ordnung, sich auf den Jungfernblock zu stützen. Die Matrosen vor dem Mast werden jetzt das Hauptsegel einholen, sieh mal!«
»Faszinierend ...« »Und es herablassen auf...« »Oh, halt doch den Mund!« Er starrte nach vorn zum Bug, der wie eine Pike auf die Stadt zeigte. »Meinst du, in Kapharnaum gibt es Damen?«, fragte er. Ich warf ihm einen Blick zu. »Naja, offenbar.« »Nein. Huren, meine ich.« »Oh. Diese Art von Damen. Sie sind menschlich, nun ja, zumindest sehen sie für mich so aus.« Ich musterte meine Fingernägel wie die Schreibkraft in einem Büro. »Also gibt's dort wohl Wein, Weib und Gesang.« KAPITEL 10 Beim Einlaufen in den Hafen gerieten unsere Schiffe in den Windschatten des Bergs. Die Wasseroberfläche der Lagune war völlig glatt; die Schwalbe und die Melowne spiegelten sich 181 darin von der Wasserlinie bis zur Mastspitze. Sämtliche Segel erschlafften, und die beiden Fahrzeuge trieben nur noch sehr langsam im restlichen eigenen Schwung dahin. Fulmer befahl, die letzten Segel zu reffen, und ich sah zum ersten Mal seit drei Monaten einen klaren blauen Himmel zwischen den Masten über mir. Trisianische Männer, Frauen und Kinder strömten aus der Stadt heran und stellten sich an der Kaimauer und entlang der Küstenstraße auf. Die Kleidung der Männer war sehr einfach - weiße oder beigefarbene Leinen- oder Seidenumhänge mit farbigen Säumen sowie eine lockere Hose darunter. Einige der Mädchen trugen pastellfarbene Stolen über ihren zweilagigen Kleidern, aber keines ihrer Gewänder wirkte überladen oder reich. Männer schoben dunkle Holzkanus ins Wasser, sprangen hinein und paddelten auf uns zu. Die Kanus hatten Ausleger; auf ihren Bug waren blaue und weiße Augen gemalt. Sehr rasch hatten sie sich um unsere Schiffe versammelt. Die Trisianer riefen etwas, zeigten auf uns und hielten alle möglichen Nahrungsmittel und Sachen hoch. Dutzende Hände streckten sich den Bullaugen entgegen, winkten mit Stachelobst, gewaltigen Samen, verkorkten Krügen, totem Fisch auf Spießen, silbernen Taschenflaschen. Unsere Matrosen beugten sich weit über die Reling und boten alles an, was auf Deck gerade zur Hand war. Sie reichten oder warfen Belegnägel hinab, Beile und Gürtelschnallen, die Leine des Senkbleis vom Bug. Fulmer verlor die Fassung. »Kein Handel!«, schrie er. »Hört auf damit, ihr Dummköpfe, bevor ihr ihnen noch eure Westen und Hosen gebt! Kein Handel, bis Raa die Erlaubnis dazu erteilt! Von jetzt an gelten Gesetze und Strafen von Hacilith!« Er warf mir einen Blick zu. »Diese unvorsichtigen Mistker182 le werden alles für Kuriosa einhandeln. Sie würden Nägel aus den Auflangern herausziehen und sogar unsere Instrumente verschachern, wenn ich nicht ein Auge auf sie hielte. Wir müssen auf Diebe Acht geben, ja/nein? Selbst ein Fischhaken aus Tris ist etwas Neues, mit dem man jetzt in Vierlanden Geld machen kann. Wenigstens sind die Kapharnai freundlich.« Vor uns glitt die Schwalbe durch die Spiegelungen der ersten Häuser Kapharnaums an der Hafenmauer entlang und machte fest. Der salzbespritzte Bug unseres Schiffs blieb knapp einen Meter hinter den verzierten Fenstern am Heck der Schwalbe stehen. Dann schoben sich zwei Fallreeps vor und trafen gleichzeitig unten auf. Sogleich rannte Zaunkönig hinab auf den Kai und lächelte und winkte. Der Erste unserer Gesellschaft, der den Fuß auf Tris setzte. Einheimische Männer und Frauen kamen auf ihn zu und stellten Fragen, die er natürlich nicht verstand, also nickte er bloß unentwegt in fröhlichem Einverständnis. Am Kai gab es keine Festmacherösen, also befahl Raa ihrer Mannschaft, den Heck- und Buganker von beiden Schiffen auf das Pflaster zu legen und die Leinen festzuziehen. Raa und Fulmer stiegen das Fallreep ihres jeweiligen Schiffs hinab und trafen sich auf dem Kai. Vor den erstaunten Stadtbewohnern schüttelten sie einander höflich die Hand. »Wir haben's geschafft!«, sagte sie. »Ich habe Euch voll und ganz vertraut, Eszai«, meinte Fulmer. Mit einer makellos sauberen Hand glättete er einige unsichtbare Falten auf seinem Anzugärmel. In der Brise öffnete sich sein Jackett und zeigte einen Dolch, der an seinem Gürtel schwang. Zur gleichen Zeit, als Blitz von Bord der Schwalbe ging, betrat auch ich das Festland. Er hielt seinen gespannten Langbogen über der Schulter, gefiederte Pfeile ragten aus dem Kö183 eher an seiner Hüfte, und ließ den Blick über sämtliche Fenster der Villen am Kai schweifen. Zaunkönig blieb stehen und keuchte: »Ist dir aufgefallen, dass keiner der Kapharnai Waffen trägt? Einige Fischer haben Messer in ihren Schärpen, aber die sehen ein wenig seltsam aus.« »Stimmt«, meinte Blitz. »Jant, siehst du das?« »Ich glaube, die Klingen sind aus Bronze«, sagte ich. »Offensichtlich«, bemerkte Blitz, »haben die Kapharnai keine Schwerter nötig. Vierlanden hatte vor der Ankunft der Insekten auch keine Schwerter.« » Und dann wurden sie sehr rasch erfunden!« Ich grinste. Mir gefiel die Aufmerksamkeit, die wir erregten. Raa sah mich erwartungsvoll an. »Halte deine Ansprache, Jant.« Ich breitete die Arme aus und richtete mich mit einer Rede an die Stadtbewohner, die ich sorgfältig vorbereitet
hatte: »Gouverneure, meine Damen und Herren, seid bedankt, dass ihr uns aus Vierlanden empfangen habt. Als Zeichen des guten Willens haben wir einige Geschenke mitgebracht: Körbe mit Wein und Silberbarren ...« Die große Menschenmenge kicherte, als ob ich verrückt wäre. Raa und ich wechselten einen Blick. »Mach weiter!«, forderte sie mich auf. »Wir würden gerne die Gouverneure von Kapharnaum begrüßen, um ihnen vom Im ...« Die Menge teilte sich und ließ einen Mann durch, der herantrat, bis er allein vor uns stand. Vermutlich war er der Repräsentant Kapharnaums. Er war ein hoch gewachsener alter Mann, und sein ganzes Verhalten zeugte in jeder Hinsicht von Rechtschaffenheit und Effizienz. Seine Augen waren vom selben dunklen Braun wie das Glas von Bierflaschen, das Haar zeigte sämtliche Grauschattierungen und war so strup184 pig, dass es nie am Kopf anliegen würde. Er wirkte ausgetrocknet wie ein Schiffsspant und hatte ein verkniffenes Gesicht; sein Mund unter den Wangenknochen war ein schmaler Strich. Es sah aus, als würde er die ganze Zeit über ein sarkastisches Lächeln zeigen, ein bösartiges Grinsen, das mich verlockte, mich ihm anzuschließen wie ein Kollaborateur. Über einer Tunika mit einem breiten Saum trug er einen kurzen Mantel. Seine Schnürschuhe mit den offenen Spitzen waren so ungewöhnlich, dass insbesondere Fulmer sie einfach anstarren musste. Zweifelsohne überlegte er, ob er in Vierlanden zehenfreie Schuhe in Mode bringen könnte. Der Trisianer sprach langsam, so dass mir Zeit zum Übersetzen blieb. Die Ausdrücke, die ich nicht verstand, ließ ich so, wie er sie gebrauchte. »Mein Name ist Felchen. Ich war Fischer und bin jetzt in den Senat gewählt. Man hat mich hergeschickt, um euch für euer Kommen zu danken. Seid ihr dieselben wie in dem Schiff, das vor neun Monaten hier aufgetaucht ist?« »Ja, aus Vierlanden. Nennt mich Jant. Ich spreche Trisianisch, aber redet bitte langsam; ich kenne nicht viele Worte. Meine Freunde sprechen es überhaupt nicht; ich werde für sie übersetzen.« »Was sagt er?«, fragte Raa, die allmählich sehr frustriert wurde. »Er heißt uns willkommen«, erwiderte ich auf Awianisch. »Sag ihm, dass ich das Kommando habe, und bitte ihn um sein Wort, dass meine Schiffe heute Nacht hier unbehelligt bleiben!«, ordnete sie an. Das teilte ich Felchen mit und fügte hinzu: »Wir sind in Frieden hier.« »Wir haben eure Segel heute Morgen gesehen«, meinte Felchen. »Der Senat hat eine Notfallsitzung einberufen, um unsere Vorgehensweise zu besprechen. Der Senat tagt noch 185 immer, und er hat mich gebeten, euch zum Rathaus zu bringen. Unsere Verfassung warnt vor einem Kontakt mit einem anderen Land; unsere Verfassung ist uns wichtig.« Raa zupfte mich am Ärmel. »Was sagt er?« »Ich habe keine Ahnung. Er spricht anscheinend von ihrem körperlichen Zustand.« Ich hielt einen Augenblick inne, damit meine rasenden Gedanken zur Ruhe kommen konnten. »Er hat uns angeboten, uns zum Haus des Gouverneurs zu bringen.« »Na ja«, meinte Raa, »dann ersuche wenigstens um eine Garantie für unsere Unversehrtheit an Land. Ich sehe, dass einige Lebensmittel hergebracht wurden. Danke ihm dafür, dass er mir die Gelegenheit verschafft, Proviant zu erwerben, und biete an, mit den Silberbarren zu bezahlen.« Holprig übersetzte ich für Felchen. Die Trisianer, die uns umstanden, lachten erneut auf. Selbst der Fischer konnte seine starre Miene nicht beibehalten - er grinste höhnisch. »Warum grinsen sie so höhnisch?«, wollte Blitz wissen. »Sagst du wirklich, was ich dir sage?«, fragte Raa. Ich wünschte, sie würden aufhören, mich zu schikanieren -schließlich hatte ich keine Gelegenheit zum Üben gehabt. Ich kniff mir in die Nasenwurzel. »Naja, ich glaube schon! Vielleicht habe ich ihn aber auch nur gebeten, uns einen warmen Hund zu servieren.« »Sie lachen, wenn du sprichst«, meinte Blitz. »Worüber?« »Über den Wein und das Silber«, entgegnete ich. »Hmm«, machte Blitz. »Ich könnte mir denken, dass sie selbst Wein haben. Und mehr als genügend Gold, wenn du an die kostbaren Spiegel des Leuchtturms denkst.« Ich nahm die Menge genauer in Augenschein. »Weißt du, keiner der Kapharnai trägt Schmuck. Aber Gold ist hier erhältlich; eigentlich sogar im Überfluss. Meinst du, es könnte sein, dass es den Kapharnai völlig gleichgültig ist?« 186 Blitz zeigte auf ein kleines Mädchen, das am Daumen lutschte. Ein goldenes Band hielt ihr dunkles Haar zurück. »Das hebt uns auf die gleiche Ebene mit ihren Kindern. Und ich gehe jede Wette ein, dass ihre Krone aus reinem, raffiniertem Gold ist.« Er entfernte den Reif aus seinem Haar. Raa rieb sich die Augen. »Aber ... Nun ja, wenn Edelmetalle hier wertlos sind, haben wir nichts Wertvolles zum Handeln. Dieser Insel fehlt es anscheinend an nichts; was könnten sie dann vielleicht von uns haben wollen?« »Stahl«, antwortete Zaunkönig. »Du bist ja ein ganz, ganz Schlauer!«, sagte Fulmer. »Ja, wir können ihnen Nägel, Stifte und Kettenglieder
geben. Messerklingen und Lukendeckel sind auch gefragt; ich habe gesehen, wie die Kanufahrer sie bewundert haben. Wie wär's mit Hellebarden von der Melowne Die Trisianer müssen Gebrauch von Äxten machen, also werden sie Hellebarden erkennen, die Bronze überlegen sind. Sie sollten doch wohl etwas annehmen, das besser ist, nicht wahr?« »Möglich«, meinte Raa zurückhaltend. Felchen blieb die Ruhe selbst, suchte jedoch immer wieder meinen Blick. Er zeigte uns eine steinerne Zisterne auf dem Kai, und Raa organisierte zwei Schwadronen Matrosen, um die Fässer mit Frischwasser zu füllen, und schickte weitere Trupps aus. Sie sollten Obst, Fleisch und Gemüse von den Kaufleuten Kapharnaums erwerben, die bereits aus der Stadt zu uns kamen, untersagte ihnen jedoch, Dinge für den eigenen Gebrauch zu erwerben. Dann wandte sie sich an ihre Stellvertreterin. »Viridian, richte dem Bootsmann der Melowne aus, sie sollen meinen Befehlen gehorchen, und folge ihnen selbst, wenn du mich und deinen Platz in meiner Flotte liebst. Verlasse das Schiff nicht ohne Deckung. Bewege es nur, wenn du angegriffen wirst... Und wenn wir heute Abend nicht zurückkehren, weißt du, was du zu tun hast.« 187 »Natürlich, Raa«, erwiderte sie. »Und viel Glück, Mutter.« Raa war unzufrieden mit Felchens Erscheinungsbild. »Der Kreis braucht keinen Fischer«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass wir die Autorität haben, jemanden für den Kreis zu rekrutieren«, bemerkte Blitz. Raa warf ihm einen giftigen Blick zu. Vermutlich hatte sie Recht; es wäre ein absoluter Glücksfall, wenn ein Anführer in Tris eine Tätigkeit ausübte, mit der er dem Kreis beitreten könnte. Ruhig erwiderte sie: »Dieser Mann ist alt genug, um sehr dankbar für Unsterblichkeit zu sein.« »Weisheit kommt mit dem Alter«, bemerkte Zaunkönig unbestimmt. »Vielleicht hier«, kommentierte Blitz. »Ju, aber gleich, was für ein beträchtliches Alter er auch erreicht haben mag, verglichen mit uns ist er nach wie vor ein Baby.« Felchen hatte ihrem Wortwechsel zugehört, ohne ein Wort zu verstehen. Lächelnd zeigte er in eine Richtung durch die Menge; wir folgten ihm. Die Hitze war wie eine Barriere, und jede der seltenen mittäglichen Windböen blies uns lediglich heiße Luft entgegen, die in unsere Haut eindrang und uns keinerlei Erleichterung verschaffte. Anscheinend kamen diese Böen in Wellen, und jede neue war noch erstickender und widerlicher als die vorherige. Ich löste meine Hemdsärmel und steckte sie in den Gürtel. Wegen der Hitze gingen wir fünf nur langsam, mit glatten, trägen Bewegungen. »Ich könnte hier ganz gut leben«, meinte Fulmer. »Seht ihr die Promenade da, die ist prächtig, nicht?« »Ju«, erwiderte Zaunkönig. »So sexy Mädchen habe ich noch nie gesehen. Sieh dir mal dieses Schätzchen da mit dem kurzen Rock an!« 188 Fulmer nahm eine Zigarette aus einem Wal-Elfenbeinetui und steckte sie in eine Spitze. Er rieb sich den kurzen Bart. »Ich habe die Absicht, zurückzukehren und nie mehr wegzugehen, nie mehr. Mich bindet nichts, und unsere Jäger-Königin wird mir gern meinen Abschied geben. Hier ist es viel besser als in Awia, wo man das Schloss nachahmt. Wir machen aus allem einen verdammten Wettstreit, angefangen von Mathematik bis hin zur Töpferei, und erschöpfen uns damit. Hier ist niemand der Beste, und allen ist das egal. Seht ihr, wie glücklich sie sind?« Wir wurden vom Hafen weg auf einen langen, geraden, von weißen Marmorsäulen gesäumten Boulevard geführt. In regelmäßigen Abständen standen Stelen, darauf Statuen von Männern und Frauen in weißer Kleidung. Beim Durchzählen fiel mir auf, dass alle zehn Statuen ein Bogen die Straße überspannte. Schmalere Gassen führten zwischen den zweigeschossigen Bauten in das Straßennetz zu beiden Seiten. Kleine Geschäfte mit gestreiften Markisen öffneten sich zum Bürgersteig hin: eine Konditorei, in der es Pasteten und Feingebäck gab; bei einem Metzger hingen Würstchen über Rauchfleisch und der unförmigen Masse eines Oktopus; ein Barbier fegte seinen Laden. Alle zeigten auf etwas und stellten unentwegt Fragen, bei weitem zu viele, als dass ich sie übersetzen konnte. »Seht mal die Ranken!«, sagte Raa verzückt. Am Gitterwerk des letzten Hauses am Kai rankte Wein, schwer beladen mit schwarzen Trauben. Er reichte sogar noch weiter hinauf bis zum Terrakottakamin. Wiederholt warf ich im Vorübergehen einen Blick über die grünen Blumenkästen hinweg. Das Mobiliar im unteren Zimmer war leicht und elegant. Ein kleiner Hund hatte sich auf einem Sofakissen zusammengerollt. Die kühlen Wände waren mit einem Fries bemalt, das stilisierte Perlentaucher in 189 einem Unterwassergarten zeigte. Trisianische Kunst bedeckte Alltagsgegenstände anscheinend, statt eingerahmt zu werden. »Die Messer«, sagte Zaunkönig. »Frage ihn nach den Bronzedolchen!« »Das werde ich ganz sicher nicht!« Fulmer deutete auf eine Werkstatt, wo gerade ein Kanu geschnitzt wurde. »Wir fahren hunderte von Kilometern um Tris und die unbewohnten Inseln herum«, erklärte Felchen. »Hunderte?«, fragte ich.
Felchen nickte voller Begeisterung für seinen Beruf. »Ist leicht. An den Kunterbunten Inseln vorüber aufs offene Meer! Warum fragt Ihr das? Ich werde langsamer sprechen, wenn Ihr wollt.« Als Nächstes sahen wir einen großen gepflasterten Platz, umstanden von Säulenreihen. »Das muss ein Marktplatz sein«, meinte Raa. »Ist er nicht niedlich?« Ein Freiluftrestaurant nahm die untere Etage des nächsten Wohnblocks in Anspruch. Etwa zwanzig Kapharnai kamen herausgestolpert und stellten sich zu denen, die bereits die Straße säumten und uns anstarrten. Ein stämmiger Cafebesitzer in einer lockeren Tunika aus einem einzigen Stück Stoff, die von einer Schärpe um die Taille zusammengehalten wurde, bat uns, einzutreten: »Herein, nur herein!« Felchen hob bedauernd die braunen Hände. »Entschuldige mich, Derbio, ich muss unsere Besucher zum Amarot bringen.« Der rundliche Mann kicherte. »Natürlich, aber sie sind eingeladen, hinterher mit uns einen Tee zu trinken.« Ich war aufgeregt, weil ich ein Gespräch zwischen zwei Einheimischen verstehen konnte; mein Ohr für die Sprache verbesserte sich. »Das wäre uns ein Vergnügen«, sagte ich. »Was ist Tee?« 190 Er wirkte verblüfft. »Bei Alyss, den solltet ihr allerdings mal probieren!« Ich horchte auf das Gespräch meiner Freunde. »Die Geschäfte sind so sauber!«, schwärmte Raa gerade. »Kein Rauch, kein Schmier ...« »Kein Abfall«, fügte Fulmer anerkennend hinzu. »Das bekommt man in Hacilith nicht zu sehen.« »Ich hab mir doch gleich gedacht«, stimmte ich zu, »dass da etwas nicht stimmt. Niemand steht an Straßenecken oder in Säulenhallen herum. Als ich in Hacilith lebte, machte ich immer einen großen Bogen um die bedrohlichen Gruppen von Jugendlichen.« Ich übersetzte das für Felchen, der sagte: »Die Jugendlichen wollen nicht herumlungern. Sie sind damit beschäftigt, das Gewerbe ihrer Wahl zu erlernen.« »Gewiss nicht die ganze Zeit über.« »Am Abend diskutieren sie in den Teestuben«, sagte Felchen. »Toll! Tee muss ein machtvolles Zeug sein. Gibt es in Kapharnaum überhaupt kein Verbrechen?« Aus Felchens Stimme tönte eine Spur Blasiertheit. »Natürlich gibt es hin und wieder ein Verbrechen. Aber warum sollten die Menschen ein Gesetz brechen, wo sie doch alle über das Gesetz entscheiden?« »Dieser Kellner hat ein Tischtuch getragen«, flüsterte Zaunkönig. »Was ist daran so merkwürdig?«, erwiderte Blitz lakonisch. »Es ist weitaus praktischer als die Kleider, die wir jetzt haben; du kannst deine Flügel durch den Rücken stecken.« »Woher weißt du das?« »Meine Jahre als Sterblicher sind noch nicht so lange her, als dass ich mich nicht daran erinnern könnte, Serein.« Auf unserem Gang durch die Stadt fiel mir auf, dass die 191 Häuser einander wirklich sehr ähnlich waren; von oberflächlichen Varianten im Anstrich und beim Stuck glich ihre Möblierung sich aufs Haar. »Niemand ist arm«, überlegte ich laut. Für Felchen führte ich diese Bemerkung genauer aus, da er mich nicht verstand. »Unsere Währung basiert auf Arbeit«, erklärte er. »Jedes Gewerbe wird gleich bezahlt, in Tagen und Stunden. Ihr könnt mehr bekommen, wenn Ihr länger arbeitet, aber die Leute arbeiten eher immer die gleiche Anzahl von Stunden. Die Zeit ist das Kostbarste, was es gibt, das stimmt doch, oder?« Er entfaltete einige Geldscheine aus seiner Tasche und zeigte sie uns. »Der hier gilt fünf Stunden. Der hier ist der kleinste - dreißig Minuten. Was habt Ihr?« »Münzen. Scheine sind bei uns Kleingeld. Seht Ihr hier? Wo wir herkommen, ist es ähnlich, weil jeder im Schloss das gleiche jährliche Gehalt bekommt - bloß ein Almosen. Wir können nur für bestimmte Projekte um mehr Geld bitten.« Wenn wir den Kapharnai Stahl geben, überlegte ich, wäre er in ihrer Währung hunderte und aberhunderte von Stunden Wert, ebenso kostbar wie Monate einer Lebenszeit. Raa bedrängte mich, weitere Fragen zu übersetzen. Ich wedelte mit den Händen, warf einen Blick zum Himmel und versuchte, rasch die richtigen Worte zu finden, aber Felchen hinderte mich daran. »Bitte, spart Euch Eure Fragen für den Senat auf! Dann können wir alle sie hören, und Ihr werdet Euch nicht wiederholen müssen.« Im Zentrum der Stadt durchquerten wir eine Rotunde. Die Oberflächen ihrer Säulen waren mit grellbunten Mosaiken, Goldvierecken, blauen Saphiren und tiefroten Granaten bedeckt; illustrierte Paneele verzierten die Kanten des konischen Dachs. Wir näherten uns der Kuppe, und die Straße führte jetzt einen Hang hinauf. Mit einer Reihe von Treppen wurde der 192 Anstieg immer steiler. Unser Ziel waren die Säulenhallen hoch oben. Ich zeigte hinauf. »Blitz, sind diese Bauten nicht wunderschön? Deine Bude sieht denen ein bisschen ähnlich.« Er musterte sie eifrig. »Die tealeanische Nordfront meines Hauses emuliert den Stil. Ein modisches Wiederaufleben in der letzten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts.« »Ein Wiederaufleben^ Wie alt kann das hier dann sein?« »Irgendwann in den frühen vierhunderter Jahren haben die Insekten den Leuten, die ursprünglich so wie hier gebaut haben, ein Ende bereitet. Das war vor meiner Zeit, aber ich kann mir meine Geschichtsstunden bestimmt
wieder ins Gedächtnis rufen.« Raa warf uns einen Blick zu. »Ja, aber jetzt brauchen wir keine! Wir schreiben Geschichte, meine Herren. Würdet ihr bitte Acht geben?« Felchen führte uns den prächtigen Boulevard entlang und zwischen den Wohnhäusern mit den Fensterläden hindurch. Plötzlich traten wir aus der Stadt heraus, und da lag unter uns das Gewirr der roten Dächer. Das Panorama erstreckte sich bis zum Ozean jenseits der massiven Hafenmauern, welche die Lagune einschlössen und zu beiden Seiten des Leuchtfeuerinselchens immer schmaler wurden. Die trisianischen Kanus suchten darin Schutz vor den anbrandenden Wellen. Hier und da blitzte zwischen den scharfen Kanten der Gebäude das saubere Wasser eines schmalen Flusses hervor, der knapp südlich des Hafens in den Ozean mündete. »Die Architektin müsste das sehen«, meinte ich. Raa kämmte sich ihr perlenbesetztes Haar mit den Fingern aus, zupfte an der Vorderseite ihres Träger-T-Shirts und starrte auf den unglaublichen Ausblick. »Hier oben könnten wir leicht in eine Falle geraten«, sagte sie. Ich war ein unbewaffneter Kurier, aber Blitz und Serein trugen ihre üblichen Waffen, Bogen und Breitschwert, als jeweiliges Zeichen ihres Status. 193 Raa ging zwischen ihnen, wohlwissend, dass sie mit Blitz' tödlicher Treffgenauigkeit auf die Distanz sowie Zaunkönigs Unbesiegbarkeit in der Nähe so sicher wie in einer Festung war. Ich machte fast schlapp; für Temperaturen von vierzig Grad war ich einfach nicht geboren. Die Kleidung klebte mir an den Kniekehlen, den Armbeugen, der Brust. Mir war sogar noch elender zu Mute als Fulmer in seinen Designer-Klamotten; verzweifelt wollte ich die Flügel spreizen. Raa hatte entschieden, dass ihre Stärke die Trisianer zu sehr ins Grübeln bringen würde. Ich hatte sie unter dem bauschigen Hemd zusammengelegt, und deswegen lief mir ein unattraktiver Buckel den ganzen Rücken hinab. Die Ellbogen der Flügel streiften mich an den Oberschenkeln, und die Handgelenke hingen auf Höhe meiner Schultern. Die Führungskanten waren feucht; vom Handgelenk bis hinab zum Kreuz klebte das fedrige Patagiumgewebe vor Schweiß. Die Flugfedern ragten unter meinem Hemd hervor. »Nicht spreizen!«, brummte Raa. »Du weißt nicht, wie das ist. Ich koche!« »Komm schon, es ist nicht heißer als in einem Sommer in Glimmerwasser«, sagte Blitz fröhlich. Den Trisianern schien die Sonne völlig gleichgültig. Sie hielten in respektvoller Distanz Schritt mit unserer Gesellschaft und plauderten untereinander, manchmal fragend, manchmal neugierig und leutselig. Kinder liefen unter ihnen umher und lugten zwischen den Beinen ihrer Eltern hervor. Ein Schwärm weißer Tauben flog mit surrenden Flügeln von einem Dach auf. Ich mühte mich verzweifelt, aus der leisesten Brise etwas Erfrischung zu ziehen, und war neidisch auf sie. Sie mussten ihre Flugfähigkeit nicht verbergen. Die Straße führte jetzt in Serpentinen aufwärts, die Stufen standen immer enger beieinander; und je steiler der Anstieg wurde, desto enger wurden die Haarnadelkurven an den En194 den. Die Treppe war makellos sauber. Zu beiden Seiten ragten niedrige Mauern auf, dahinter lag offener Grund, durchsetzt mit Felsbrocken unter Ausbissen, auf denen Gebüsch wucherte. Schmetterlinge flatterten zwischen den Lavendelstängeln, waberten honigtrunken über Hibiskus, Zitronenbäumen und Bougainvilleen. Dann erreichten wir die flache Hügelkuppe und betraten den offenen Hof zwischen zwei blendend weißen Granitbauten. Am anderen Ende stand das gewaltige Säulenbewehrte quadratische Gebäude, das wir vom Kai aus gesehen hatten und das Kante an Kante auf die nackte Seite des steilen Felsens gesetzt war. Eine zweite, längere Halle von gleicher zweigeschossiger Höhe schloss sich links daran an. Auf die Mauer waren Pilaster mit Voluten gesetzt, dazu hatte es ein Dach aus roten Hohlpfannen. Die lebhafte Energie der Bauten verblüffte mich; sie hatten bloß die Größe des Thronsaals, wirkten jedoch aus irgendwelchen Gründen ebenso beeindruckend wie das gesamte Schloss. Die Menge kam hinter uns hereingetrabt, und als wir stehen blieben, umringte sie uns und sah zu, wie Fulmer Rauch ausstieß und seine Zigarette in dem Bernsteinbehälter ausdrückte. »Dies ist der Amarot!«, verkündete Felchen. »Von hier aus kümmert sich der Senat um Tris. Bitte folgt mir ...« »Es ist die Halle der Gouverneure«, erklärte ich auf Awianisch. »Kommt weiter!« Wir überquerten den Innenhof, der einhundert Meter im Durchmesser hatte und mit Mosaiken aus Kupfer, blauem Glas und schwarzer Keramik gepflastert war. Geometrische Muster verliefen um die Kante, und seine vier Wappenfelder waren Bilder: Galeeren, eine Waage, ein Delfin und Insekten. Insekten? Das Mosaik zeigte eine junge Frau mit braunem, fließen195 dem Haar, die inmitten eines Schwarms aus Insektenköpfen und riesigen, ameisengleichen Leibern stand. Sie hielt einen weinfarbenen Wimpel in der Hand, der hinter ihr her flatterte, und die Falten ihres Kleides legten sich eng um Brüste und Schenkel. Sie hatte Blumen im Haar und zeigte einen Ausdruck, der eher schmerzvoll als edel wirkte. Blitz erkannte sie sofort; er bekam große Augen. »Ich hatte Recht«, sagte er. »Es ist Alyss von Pentadrika.« »Das muss Zufall sein. Woher im ganzen Reich können sie die Geschichte kennen?« »Ich weiß es nicht, Jant. Ich weiß es wirklich nicht.«
Felchen führte uns durch eine offene Tür in das lange Gebäude. Die Luft war kühl und ruhig, und wir alle standen eine Sekunde lang da und blinzelten, bis sich unsere Augen angepasst hatten. »Wenn das eine Kirche ist«, sagte Zaunkönig, »dann dank Gottes Kaffeepause.« »Dieses Gebäude hier«, erklärte Felchen, »führt weiter zum Haus des Senats. Ich werde euch den Weg zeigen. Es ist die Bibliothek von Tris. Eine Viertelmillion Bücher sind hier gesammelt worden. Danio ist das Senatsmitglied, das sich besonders um sie kümmert.« »Es ist eine Bibliothek«, übersetzte ich. »Dann sei den Bibliothekaren gedankt!« Fulmer zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich damit die Stirn. Eine Bibliothek! Ich ließ die Finger im Vorübergehen an den Zedernregalen entlanglaufen, und mir schlug das Herz rascher als vor dem Doppelmarathon von Moren. Eine Viertelmillion Bücher! Sie war vielleicht nicht so umfassend wie die königliche Sammlung in Rachiswasser oder die Archive der Universität Hacilith, aber die meisten Bände dort war ich inzwischen durch. 196 Felchen erkannte meinen verzückten Ausdruck und kicherte. Jedes einzelne Buch war dem Reich unbekannt und randvoll mit neuer Information. Ich konnte das nächste Jahrhundert damit verbringen, die Teile zusammenzusetzen. Einige der größeren Bände waren mit Messingketten an ihren Regalen befestigt. Sie waren in Leder gebunden, und ihre Seiten bestanden aus Papier oder Pergament. Es gab Kisten voller alter Handschriften und Körbe, voll gestopft mit Papieren. Die unteren Regalreihen waren in Fächer eingeteilt; dort wurden Bronzezylinder für Schriftrollen aufbewahrt. Einige waren bereits völlig grün und andere vom ständigen Gebrauch auf Hochglanz poliert. Es gab Leisten mit losen Blättern; schmale kartonierte Bände, versteift mit violettem oder dunkelrotem Buckram. Von jeder Stadt der Insel existierten zusammengefaltete Karten und Pläne. Einige wenige Bücher lagen offen auf einem Tisch, wo ein Leser sie zurückgelassen hatte. Eines davon war tatsächlich von Hand kopiert und wunderschön mit farbiger Tinte illustriert. Die übrigen waren von einem Holzstock gedruckt, ein erneuter Beweis dafür, wie weit zurück in der Zeit Tris war. Wir kamen an einer Abteilung nach der anderen vorüber; an jedem Regal listeten gelbe Zettel auf, was darauf zu finden war, aber Felchen führte uns zu rasch weiter, als dass ich sie hätte übersetzen können. Nichtsdestoweniger war ich außer mir vor Freude; ich hatte meinen Schatz gefunden. Während wir durch den langen Raum geführt wurden, erfasste ich allmählich die gewaltige Ausdehnung des Aufbewahrungsorts - er war vom Boden bis unter die Decke voll gestopft mit aufgezeichnetem Wissen. Einzelne Gelehrte nahmen die Stühle und Tische in den Nischen in Anspruch. Sanfte Musik trieb von draußen herein, ein Streichinstrument, aber die Fenster waren zu hoch, und ich konnte daher nicht hinaussehen und erkennen, wer da spielte. 197 Ich versuchte, Worte auf den Buchdeckeln zu entziffern, bis ich hinter der Gruppe zurückblieb. Zaunkönig und Fulmer schenkten den Büchern nicht die geringste Beachtung. Fulmer schwang seinen Spazierstock, als würde er einen Verdauungsspaziergang im großen Palast von Rachiswasser unternehmen. Zaunkönigs erstaunter Blick lief über alles hinweg, ohne es wahrzunehmen. Raa versuchte, sich mit Felchen zu verständigen, und nahm keinerlei Notiz von den Büchern. Blitz jedoch zeigte den Schimmer der Faszination im Auge. »Wundervoll, nicht wahr?«, fragte ich. Er nickte mit der Begeisterung eines Kenners. »Was für eine ausgezeichnete Entdeckung! Ich muss Kopien anfertigen und sie zu meiner Bibliothek verschiffen lassen. Natürlich wird das nicht den Profit bringen, den Awia so dringend benötigt, aber das Wissen könnte uns vielleicht helfen. Ich glaube, ich kann mir den Frachtraum für ein oder zwei Regale leisten.« Ich fragte mich, ob Blitz irgendein Werk der Schönheit anschauen konnte, ohne es gleich besitzen zu wollen. Bildhauer und Maler in Vierlanden wetteiferten um seine Gunst, da sie wussten, dass er ihre Schöpfungen bewahren und ihnen die Mittel zum Leben bereitstellen würde. »Wir müssen dies hier für das Reich betreuen«, fuhr er fort. »Anscheinend haben die Trisianer da bereits gute Arbeit geleistet.« »Jant!«, rief Raa über die Schulter zurück. »Trödele nicht herum! Stehst du unter Einfluss? Sollen wir dich hier aussetzen und in ein paar hundert Jahren wieder abholen?« Die Bücher auf dem nächsten Regal waren anscheinend Werke der Philosophie und Naturwissenschaft: Die Keimtheorie der Medizin, Manifest der Gleichheit, Optik und das Verhalten von Licht, Die atomistische Natur der Materie und andere Theorien von Pompano von Gallimaufry, Zander von Pasticcios »Die Deutung der Träume«, Untersuchungen zum Gebrauch von 198 Salper, Welten hinter Welten: transformiertes Bewusstsein, Einige Beschreibungen des Nachlebens, Tris Istorio Eine Geschichte von Tris. Vorzüglich. Ich schnappte mir Tris Istorio vom Regal und verbarg es hinter meinem Rücken, schob den kleinen Band unter den Flügeln hindurch in meinen Gürtel und zog das Hemd darüber. Niemand hatte mich gesehen. Felchen sprach nach wie vor mit Raa. Wir gingen an einem offenen Korridor vorüber, der die Bibliothek mit dem größeren quadratischen Gebäude
verband. Über den Eingang schwang sich ein Alabasterbogen mit einer darauf eingravierten Inschrift. Raa streckte sich und ließ die Finger über die Worte laufen. »Was steht da?« Ich betrachtete sie. »Du liest in falscher Richtung. Sie schreiben von links nach rechts. Oh ... da steht: »Alle Menschen sind gleich.<« »Das wüsste ich aber«, meinte Raa. Wir fanden uns in einem halbkreisförmigen offenen Bereich wieder, wie auf einer ebenerdigen Bühne. Vor uns stiegen stufenartig Reihen von Sitzen an, auf denen etwa fünfzehn Männer und Frauen saßen und uns beobachteten. Einige waren jung, einige älter. Links öffneten sich die Säulenreihen ins Freie, auf die nackte Seite der Felsenklippe hinaus. Die Halle schien sich in den Raum hinein zu erstrecken. Wir standen im Proszenium und spürten das Gewicht des forschenden Blicks eines Publikums auf uns liegen. »Was hat dieses Arrangement zu bedeuten?«, fragte Blitz stirnrunzelnd. Ich fragte Felchen, der erwiderte: »Das ist der Senat. Demokratisch gewählt...« Ich wedelte mit der Hand, damit er nicht so schnell wurde. »Ich kenne das Wort nicht.« 199 Felchen hielt inne und starrte mich an. »Was hat er gesagt?«, fragte Raa. Ich gab mein Bestes. »Es gibt nichts Entsprechendes auf Awianisch. Es ist - es ist wie die Abstimmung in Diw und Vertigo in Morenzia um den Posten des Bürgermeisters oder um den Gouverneur in Hacilith. Aber nicht bloß die einflussreichen Familien wählen, sondern alle. Oh ... Herrschaft des Volkes ... Das hat Felchen gesagt.« Blitz nahm seinen Bogen herunter und entspannte ihn. Er verneigte sich und flüsterte mir zu: »Das bringt nichts ein außer Streit und wird unser Urteil beeinflussen. Wir hängen davon ab, dass du die Worte so rasch abschießt wie Pfeile. Wer hat hier bei Hof das Sagen?« »Ich glaube, sie alle«, erwiderte ich. Blitz konzentrierte sich auf Felchen. Aller Würde des alten Mannes zum Trotz schien ihn Blitz' grauer, unerschütterlicher Blick doch aus der Fassung zu bringen. Mittlerweile war meine Kehle so trocken, dass sie schmerzte. »Kann ich etwas zu trinken haben?«, fragte ich Felchen. Nach einer Weile wurde mir ein grünes Glas mit kühlem und so reinem Wasser gereicht, dass es nach nichts schmeckte. Ein Junge mit einem Tablett versorgte uns alle mit Gläsern, während Felchen dem Senat weiterhin von unseren Schiffen berichtete. Ich hörte zu, bekam jedoch untergründig mit, dass sich Zaunkönig hinter mir hinausschlich, dorthin zurück, von wo wir gekommen waren, zur Bibliothek. Ich wusste nicht, wohin er wollte; ich konzentrierte mich zu sehr, um mir wegen ihm Sorgen zu machen. Unsere gloriose Ankunft nahm nicht den Verlauf, den ich mir erhofft hatte. »Wir besprechen«, erklärte Felchen, »ob wir euch bleiben lassen und ob wir einem Kontakt mit Vierlanden unsere Zustimmung erteilen sollen oder nicht. Unsere Verfassung rät davon ab, weil eure Kultur der unseren, auf die wir sehr stolz 200 sind, keinen Schaden zufügen soll. Wir sind eine perfekte Gesellschaft, die auf Vernunft basiert. Es gibt Mythen, die von anderen Gesellschaften berichten; im Vergleich zur unsrigen sind sie sehr wenig erstrebenswert. Der Senat ist dazu verpflichtet, jedes Thema vor der Abstimmung drei Tage lang zu besprechen. Also werden die Angelegenheiten gründlich durchdacht und auch nie verfälschende Gefühle geweckt. Wir werden euch unsere Entscheidung in zwei Tagen bekannt geben.« Ich übersetzte Wort für Wort. Fulmer hätte fast aufgelacht. »Also wirklich, drei Tage, diese Faulpelze!«, fauchte er. »Stellt euch mal vor, wenn man auf dem Schlachtfeld so lange warten müsste!« »Hört sich ineffizient an«, stimmte Blitz zu. »Wenn wir einer solchen Tradition gefolgt wären, hätten uns die Insekten bis hinab nach Kap Brustwehr überrannt, bevor wir uns zum Kampf entschlossen hätten.« Ich grinste. »Hört mal, ihr beiden, seid ruhig!« Gemurmel war unter den Senatoren entstanden. Sie waren wohl neugierig, was wir redeten. Raa brachte uns zum Schweigen. Sie war verärgert, weil sie so völlig von mir abhängig war. Unter Aufbietung meiner sämtlichen kärglichen Kenntnisse des Trisianischen stellte ich unsere Gesellschaft vor, als Letzten mich selbst. »Komet Jant Shira, Kurier des Imperators, und ihr könnt mich Jant nennen. Wir sind gekommen, euch die glückliche Nachricht zu künden: Ihr alle habt die Möglichkeit, dem Kreis beizutreten und ewiges Leben zu erringen wie wir. Die Zeit lässt uns nicht altern ... Obwohl ich es nicht wirklich beweisen kann, solange wir nicht zehn Jahre lang hier säßen ... wie dem auch sei, wir möchten Tris an seinen Platz im Reich erinnern; wir sind auf Geheiß des Imperators San gekommen, auf dass eure Insel und das Festland nicht mehr länger sich selbst überlassen bleiben, 201 sondern feste Verbündete ...« Ich hielt inne, denn als ich San erwähnte, wandten sich die Senatoren einander zu, und es entstand ein lebhafter Wortwechsel. Felchen drehte sich zu den fünfzehn Männern und Frauen um; sie benutzten bei ihrer Besprechung komplizierte Wendungen und sprachen in normaler Geschwindigkeit; viel zu rasch also, als dass ich hätte folgen können. Endlich kamen sie zu einem Konsens und informierten Felchen darüber, der mir bedeutete, Fortzufahren. »San macht uns, und macht die Besten von euch, unsterblich. Wir kämpfen gegen die Insekten, aber ...« Ein weiteres Stimmengewirr erhob sich unter ihnen, und da wusste ich, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Insekten, ja, wie das Bild in eurem Innenhof.« Eine junge Dame erhob sich aus der Mitte der Zuhörerschaft. Sie trug ein kurzes Kleid und hatte eine gemusterte Stola um ihren Leib geschlungen. Die Riemen ihrer Sandalen zogen sich im Zickzack ihre schlanken Beine hinauf bis zum Knie. Ihre Züge waren hell, ihr Haar kurz geschnitten. Anders als Felchen hatte sie Flügel; sie waren klein, brünett und sehr kess. »Danio, Bibliophylax«, verkündete Felchen. Die Hüterin der Bibliothek, wenn ich ihn recht verstand. »Insekten«, sagte Danio, »sind bloß eine Geschichte; es gibt keinerlei Beweis für ihr Vorhandensein. Und wie können Menschen ewig sein? Ihr habt alte Geschichten hervorgeholt und erwartet von uns, dass wir sie glauben sollen? Die Bedrohung durch den Tod definiert Menschlichkeit; nichts ist so unnatürlich wie ein Unsterblicher.« Ich übersetzte und sagte: »Raa, sie glauben nicht an die Insekten. Jetzt bist du wohl dran.« Raa sprach durch mich mit Felchen, aber alle im Senat gingen davon aus, dass ihre Worte ebenfalls an sie gerichtet waren. »Herr, wir haben ein Insekt mitgebracht, das wir euch Ka202 pharnai - ich meine, euch Trisianern zeigen wollen. Es ist auf unserem eigenen Schiff eingekerkert. Wenn ihr also zum Hafen kommen wollt, führe ich euch durch unsere Karavellen.« »Was meinst du, Professor?«, fragte Felchen. Danio zögerte widerstrebend und gab dann glatt zur Antwort: »Die gewaltigen Boote unserer Besucher sind für sich schon ein Hinweis darauf, dass dies kein Schwindel ist. Ja, dies ist gewiss eine historische Gelegenheit. Wenn sie wirklich ein Insekt haben und wenn die Mythen, mit deren Diskreditierung ich mein gesamtes Leben verbracht habe, wahr sind, möchte ich es sehen.« Über einige der Steinbänke stieg sie herab zur Bühne, trat nahe an mich heran und sah mir ins Gesicht. Ein abgekauter Fingernagel strich mir fragend über die Rad-Narbe und dann über den Rest meiner Federn. Wir sahen einander an. Sie beugte sich vor; Humor tanzte in ihren überraschend intelligenten haselnussbraunen Augen. »Jant«, verkündete Raa, »sage ihnen, dass jeder, der es wünscht, mit uns zum Schloss zurückkehren kann. Ich werde ihnen den Ruhm Vierlandens zeigen; ihnen einen großen Empfang bereiten und ihnen die Behandlung eines Botschafters angedeihen lassen.« Danio stand auf und wandte sich von mir ab. Verdammt. Ich übersetzte Raas Angebot ganz genau, aber keiner vom Senat schien beeindruckt. Viel vom Abenteurergeist der Insel musste verloren gehen, weil die wenigen Individuen, die ihn überreichlich besitzen, nicht auf ewig im besten Alter eingefroren werden konnten. Also setzte ich meine Ansprache fort: »Ihr versteht nicht. Das Reich ist hunderte von Malen größer als Tris. Unsere Stadt Hacilith könnte Kapharnaum zehnmal in sich aufnehmen. Unser Heerbann besteht aus einer halben Million Männer, unsere Flotte aus Karavellen wie den beiden im Hafen ist...« Felchen schnitt mir das Wort ab. »Wir sind nicht interes203 siert. Der Senat muss volle drei Tage lang das Für und Wider abwägen, und ihr könnt unsere Debatte nicht beeinflussen, weil ihr keine Bewohner von Tris seid.« Verzweifelt strich ich mir mit der Hand übers Haar. Aus dem Augenwinkel sah ich Zaunkönig unter dem Bogengang hervorhuschen. Mit beiden Händen hielt er ein schimmerndes Ding. In wildem Lauf kam er zu mir herübergerannt und tippte mir auf den Flügel. »Jant!« Ich hielt es nicht mehr aus. »Für dich immer noch Komet! Kannst du nicht den Mund halten? Dies ist ein kritischer Augenblick, unser erstes Zusammentreffen mit dem Senat, und du unterbrichst mich! Was tust du da eigentlich ...? Oh, was hast du denn da?« Eine Sekunde lang hielt ich es für ein Artefakt der Zinken, und mein Sinn für Wirklichkeit entglitt mir; ich war benommen und fühlte mich völlig losgelöst. Zaunkönig hielt einen Nachttopf in Händen. Er sah genauso aus wie jeder andere Nachttopf in Vierlanden, nur dass er aus einem glänzenden Metall bestand: Gold. Er musste sehr schwer sein. Zaunkönig hielt ihn mir hin. »Sämtliche Armaturen in ihren Toiletten sind aus Gold!« »Bring ihn her!«, forderte ich ihn auf. Aber das verblüffte Schweigen des Senats löste sich zu einem verlegenen oder fragenden Gekicher auf. Zaunkönig musterte sie und zeigte mit dem Finger darauf. »Habt ihr eine Vorstellung davon, was das Ding wert ist?«, fragte er laut und langsam auf Awianisch. Der Senat musste Sorge gehabt haben, dass wir gefährlich seien oder dass wir erwartet hätten, mit Ehrerbietung behandelt zu werden. Stattdessen sahen sie, dass wir erstaunt waren über einen simplen Nachttopf, den jemand aus irgendeinem Grund aus ihrem Bad angeschleppt hatte. In ihren Augen waren wir einfach nur lächerlich. Sämtliche Senatoren brachen in schallendes Gelächter aus, und die Anspannung, die in der 204 Luft gelegen hatte, verflüchtigte sich völlig. Die Damen in Baumwollschürzen oder Gewändern legten ihre Papierfächer beiseite. Die Herren knöpften sich die Mäntel auf und reckten den Hals, um uns zu betrachten. Herzliche Fröhlichkeit tönte durch das geräumige Auditorium. Zaunkönig warf mir den Nachttopf zu. »Ich kann's nicht fassen! Kannst du es fassen? Er ist eine Karavelle wert, und das ausgerechnet ein Pisspott!« »Stell ihn hin!«, sagte ich. »Einen Toilettengegenstand in die Halle des Gouverneurs mitbringen! Da sehen wir
wirklich echt bescheuert aus!« »Warum seid ihr daran interessiert?«, fragte Danio. Kühl gab ich zur Antwort: »Oh, nichts weiter. Ich habe schon zuvor Töpfe gesehen. In unserer Kultur haben wir sie auch. Wir sind zivilisiert, nicht einfältig ... O mein Gott.« Ich klopfte dagegen und untertrieb in weiser Voraussicht: »Aber uns gefällt dieses Material; es kann uns von Nutzen sein. Wir würden gern mehr davon erwerben.« »Na ja«, meinte Danio. »Jant, sage deiner Delegation: Wenn euch dieses ... Ding so sehr gefällt, wenn ihr dieses Basismaterial haben wollt, nehmt es bitte! Er kann als Geschenk von Tris gelten, als unser erstes Zeichen des guten Willens.« Applaus erhob sich unter den Senatoren auf den Stufenbänken; zustimmende Rufe unterstützten ihre Worte. Lachend bot Danio Zaunkönig den Nachttopf dar. »Sie überreichen ihn dir zum Geschenk«, erklärte ich. Zaunkönig nahm ihn dankbar entgegen und fragte ehrfürchtig: »Sollte ich keine Gegenleistung erbringen? Oh, natürlich!« Er löste Schwert und Scheide vom Gürtel und hielt beides Danio flach auf der Hand hin. »Vielen Dank!«, sagte sie. Sie nahm das Schwert und zog es ein wenig aus der Scheide. Ein Stück der Klinge wurde sichtbar, die sie genau untersuchte. 205 »Seid bitte vorsichtig!«, ermahnte ich sie. »Sie ist äußerst scharf.« Sie musterte mich erneut gründlich und stellte dann die unausweichliche Frage: »Was bist du eigentlich?« Ich holte einen Flügel aus meinem Hemd und zeigte ihr die Innenseite. Flaschen, verpisst euch! war in Rot auf die Federn gepinselt, aber Danio konnte es trotz ihrer Klugheit nicht transkribieren. »Ich bin geflügelt, seht Ihr, ebenso wie Ihr, fast jedenfalls.« Ich zeigte auf mein Gesicht und nahm eine Strähne des dicken Haars in die andere Hand. »Meine Mutter war eine Rhydannerin; ein Bergvolk, das so aussieht. Ich weiß, dass das neu und seltsam ist, aber macht Euch bitte keine Sorgen - ich bin nicht gefährlich. Meine langen Gliedmaßen sind ebenfalls meiner rhydannischen Seite zu verdanken. Mein gutes Aussehen habe ich von beiden Seiten.« Überraschend unzeremoniell begleiteten uns sämtliche fünfzehn Senatoren zum Hafen. Sie hatten kein Gefolge dabei und plauderten einfach miteinander, winkten den Stadtbewohnern mit einer Vertraulichkeit zu, die bei den Gouverneuren in Vierlanden undenkbar gewesen wäre. Die Senatoren waren ebenso einfach gekleidet wie das Volk auf dem Platz und in den Teestuben; sie waren anscheinend nicht so weit entfernt von ihnen. Die Seefahrerin führte die Senatoren auf die Melowne. Ich hielt die Luke offen und half den Damen beim Abstieg in den Laderaum. Ihren Gesichtsausdruck sah ich nicht, hörte aber ihr Gekreisch, und von Danio lernte ich einen ganzen Roman an trisianischen Worten, die ich in keinem Fremdenführer auflisten würde. Wir versuchten, den Zustand der Besatzungen vor den Senatoren zu verbergen. Die Matrosen hatten Raas Befehlen eindeutig zuwider gehandelt, und die Disziplin an Bord der 206 Schwalbe und der Melowne bröckelte allmählich. Sie hatten geschachert und jede trisianische Ware, derer sie habhaft werden konnten, gehortet, insbesondere Achatstatuetten und die Goldkränze, -ketten und -reife der Kinder. Nur wenige Hellebarden waren noch nicht verscherbelt, und die Männer hatten die Truhen mit den Breitschwertern aufgebrochen und angefangen, sie zu verhandeln. Jeder einzelne Mann war betrunken, einige sogar so sehr, dass ihnen der Saft exotischer Früchte aus dem Mund tropfte, während sie Wein in Becher schütteten oder zerkochte Sardinen kauten. Der Zimmermann kotzte und furzte, als ihn Raas Söhne, die Bootsmänner, herbeischleiften, um ihn einzubunkern. Dabei plapperte er vor sich hin: »Die Kapharnai wollen uns vielleicht nicht -aber ihre Kinder haben mich reich gemacht!« Eine Flasche rollte im Speigatt herum und stieß mir gegen den Fuß. Ich hob sie auf und schnüffelte daran. »Brandy oder etwas Ähnliches. Die Händler verkaufen unseren Männern geistige Getränke!« »Das ist gefährlich«, sagte Fulmer vertraulich. »Ich muss die Disziplin wahren. Blitz und Raa werden ein Vermögen auf der Melowne verstauen, und das unter den Blicken aller unserer Matrosen. Ich bezweifle, dass ich ohne Meuterei die Heimat erreiche.« Während des zweiten Tages beschäftigten mich Raa und Blitz damit, ihre Verhandlungen mit den Kaufleuten zu übersetzen, die in langen Reihen warteten. Kapharnai hatten Bücher in ihren Taschen und lasen entweder oder standen in Gruppen beieinander und debattierten exklusive philosophische Ideen. Ich sehnte mich danach, den Rest unseres Landausflugs in der Bibliothek zu verbringen, aber die Seefahrerin und der Bogenschütze ließen mich um des schnöden Mammons willen unentwegt schwer arbeiten. Meine Sprachgeläu207 figkeit besserte sich, und ich schloss Freundschaft mit Danio, die mir viele weitere neue Ausdrücke beibrachte, bevor sie zum Senat gerufen wurde. Sie debattierten ohne Unterlass den ganzen Tag lang über uns. Als Gegenleistung für die Breitschwerter füllten die Karphanai die Melowne mit Ballen von Gewürzen, Teeblättern, Säcken mit Pfefferkörnern; wir erwarben einen Korb mit grauer Ambra und einen mit Weihrauch. Unser Schwesterschiff wurde zum Gewürzschiff- ich roch es auf der anderen Seite der Stadt. »Gold für Stahl, Unze um Unze«, sagte Raa glatt, während sie den matten metallenen Nachttopf untersuchte. »Aber dieser letzte Silberschmied - Hersteller von Spielwaren - hielt den Ort der Minen geheim.« »Egal«, meinte Blitz. »Ich habe siebenhundert Prozent auf die ursprüngliche Investition zurückerhalten. Dieser Tee ist für meinen Geschmack zu wässrig, aber da er schließlich und unausweichlich nach Vierlanden kommen
wird, kann er ebenso gut mit mir zusammen kommen. Und ich habe ebenfalls einen ausgezeichneten Brandy entdeckt.« Zaunkönig benutzte mich dazu, jeden einzelnen Insulaner, den er traf, über das Fechten zu befragen, und obwohl ich ihm immerzu sagte, dass es in Tris keine Tradition hatte, erstaunte es ihn, dass niemand etwas von der Kunst verstand. »Anscheinend kämpfen sie mit Worten«, meinte ich. Zaunkönig rümpfte die Nase. »Ju. Aber wenn Kapharnaum ein Gut wird, wird das Schloss seinen Anteil am Heerbann einfordern, und ich werde hunderte von Leuten zur Ausbildung erhalten, die allerblutigste Anfänger sind, und mich beschleicht das Gefühl, dass es ihnen nicht gefallen wird.« Er verschwand mit einer Gesellschaft von Midshipmen, die auf der Suche nach einer Weinstube waren. Der Senat gestattete unseren Männern das Verlassen des Hafens nur in kleinen 208 Gruppen unter der Leitung eines Eszai. Der Boulevard sollte nicht von pöbelnden und rauflustigen Seeleuten überquellen. Gegen Abend war ich die Übersetzerei schlicht leid; Worte schwirrten mir im Kopf herum, bis sie ihre Bedeutung verloren hatten. Ich war erschöpft, aber alles in allem war es ein fantastischer Tag gewesen. Als die Sonne am Horizont hinabsank, dort, wo Vierlanden lag, paddelten trisianische Kanus die Wasserstraße herein. Nach Einbruch der Dunkelheit gingen die Unternehmer von Kapharnaum auseinander, und das Abendessen wurde an Bord serviert. Der Senat zog sich zurück, und Danio kam aufs Schiff, um sich Notizen zu machen und Skizzen des Insekts anzufertigen. Sie war wie hypnotisiert von ihm, lungerte im Frachtraum herum und zuckte jedes Mal zurück, wenn es sich gegen die Stäbe warf. Als Raa sie um zehn Uhr schließlich ersuchte zu gehen, stand sie drüben am Kai und starrte wie eine Verrückte die Außenhülle des Schiffs an. Ich teilte Raa mit, dass ich die Absicht hätte, auf dem Berg zu schlafen. Ich ging zu Fuß so weit weg, dass mich die reizende Danio nicht mehr sehen konnte, die offenbar ihre Nachtwache bis zum Morgen eisern durchhalten wollte, wenn Raa ihr den Zutritt an Bord wieder gestatten würde. Ich startete, und dann ging es im Tiefstflug durch die pechschwarze Nacht. In nur wenigen Metern Höhe folgte ich der Kontur des Berges. Auf den unteren Hängen standen Olivenhaine, dann erstreckte sich streifiger Felsengrund unter mir. Ich fand eine niedrige Felsenklippe mit Überhang und suchte darunter auf dem nackten Stein Schutz. Die Mannschaft der Sturmschwalbe ließ im Lampenschein ein Ersatz-Hauptsegel herab und vertäute die Kanten an zwei Pfählen, die aus den Ladeluken herausragten. Das Segel sank herab, warmes Wasser füllte es, die Männer sprangen von der 209 Reling aus hinein und schwammen darin herum. Ich war zu weit weg, um das Klatschen zu hören, aber ich sah die Gischt in dem flackernden Schein der gelben Laternen hochspritzen, während die Schwalbe sich in ihrer Verankerung wiegte. Alles war herrlich - und ich für mich allein. Selten war ich so glücklich gewesen. Die Luft kam mir kühler vor als auf Meereshöhe; der Felsen leitete die Wärme aus meiner Haut ab. Es war nahe an Mitternacht und so heiß und feucht, dass einem die Eier an den Innenseiten der Schenkel festklebten. Eine leichte Brise strich durch den Kokon aus Hitze, der sich um mich gelegt hatte. Sie blies die Gerüche von Salz und Pfefferminz in den Schutzraum unter dem Felsen und trug die gelegentlichen Geräusche aus der Stadt herüber. Lampen wurden in den Fenstern der bizarren Häuser von Kapharnaum entzündet. Ich liebte diese duftende Insel. Lächelnd schmiegte ich mich an den Stein. Zum ersten Mal seit Wochen konnte ich klar denken. Ich machte mir keine Sorgen mehr über die Karavellen oder Raa, die einen Einfluss auf Tris erringen wollte, den sie nie haben durfte. Ich kannte jede Straße und Luftströmung von Vierlanden; jetzt war es an mir, Tris zu erforschen. Ich könnte lernen, wieder wie ein Sterblicher zu entdecken und nicht wie ein übersättigter Eszai. Mein Sinn für das Wunderbare war ebenso stark wie beim ersten Mal, als ich die Stadt Hacilith erblickt hatte, als ich ein Findling aus den Dunkelbergen mit schmerzenden Flügeln gewesen war. Im ersten Jahrzehnt meines Lebens hatte ich alles in allem bloß zehn Leute gesehen, und das waren alles Rhydanner gewesen. Die Stadt ließ Menschen in einem Pulsschlag durch ihre Straßen strömen, der mich entsetzte. Ich konnte nicht mehr weiterfliegen, also versteckte ich mich ein ganzes Jahr lang voller Erstaunen inmitten des Gewirrs. Plötzlich ging mir auf, dass ich gar nicht an Scolopendrium gedacht hatte. Wenn ich an Bord des Schiffs gewesen wäre, 210 hätte mein Körper inzwischen danach geschrien. Ich lachte vor Überraschung und Erleichterung auf. Wenn ich einige weitere Nächte allein auf dem Berg verbringen könnte, in dem ruhigen Schutz des Felsens, könnte ich den Entzug schaffen. Wenn ich ein paar weitere Tage an diesem heiteren und sicheren Ort verbringen könnte, grübelte ich, würde mein Geist sich nie mehr dem Scolopendrium zuwenden. Nie mehr die Schlucht der Überdosis hinabrutschen. Nie mehr Kat. Kein Verlangen nach Kaffee, Ephedrinen oder Myristica. Oder Whisky, Papaver, Harmin, Veronal oder Datura. Thujon, Digitalis oder Psilocybin; nein, nie mehr. Ich atmete die Insel tief in mich hinein. Ich wollte sie vereinnahmen, inhalieren, trinken, die ganze Insel, bis sie Teil meines Selbst würde. Ich fühlte mich organisiert und beherrscht. Allein auf dem Berg verlor ich jegliches
Gefühl eines Selbst, und die Probleme, die mich zum Gebrauch des Kat trieben, waren ebenfalls wie weggeblasen. Das Schloss war einen Ozean entfernt. Wie großartig, dass ich nach wie vor unsterblich war, ohne ein einziges damit verbundenes Risiko! Ich wollte auf ewig allein auf dem Berg bleiben, bis ich schließlich ohne Selbst und Gedanken mit der Landschaft verschmelzen könnte. In meinem Hafen bestand keine Notwendigkeit für Sprache oder Verständigung. Für ein paar wenige Stunden war ich frei von der krankhaften Notwendigkeit, jedes einzelne Ding mit Worten zu identifizieren, zu klassifizieren und zu benennen. KAPITEL 11 Sehr früh am folgenden Morgen kehrte ich zur Melowne zurück und wusch mich mit einem Schwamm und Wasser aus einem Krug. Anschließend wollte ich mich wieder schlafen 211 legen, bis Blitz oder Raa mich rufen und für einen weiteren Tag voller hektischer Geschäfte mit Gewürzhändlern und Juwelieren sowie einer Schar von Fischern beanspruchen würden, die ihr Herz als Verkäufer entdeckt hatten und entschlossen schienen, ihren gesamten Besitz gegen unseren Damaststahl oder eine Hand voll Pfeile zu verschachern. Laute Schreie und ein Hämmern an der Kabinentür weckten mich. »Komet! Zu Hilfe! Rasch!« Etwas Furchtbares musste geschehen sein, sonst hätte Fulmer nicht mit so überschnappender Stimme geschrien. »Was ist? Bei einer Meuterei bin ich auf deiner Seite!« Ich wand mir ein Laken um die Hüfte, wie einen Sarong; dann öffnete ich die Tür. Fulmer stand auf dem Halbdeck, lediglich mit seiner Hose bekleidet. Über seine Schulter hinweg sah ich den wolkenlosen Himmel, die Fassade der weißen Villen von Kapharnaum, grüne Fensterläden und Balkone, die Kaufleute, die in ehrfürchtigem Schweigen auf dem Kai warteten, das Unterdeck. Es schien mit Pech beschmiert zu sein. Fulmer zeigte mit dem Finger. Oben am Fallreep stand reglos das Insekt. Zwischen ihm und dem Kai wartete Zaunkönig. Das Insekt bäumte sich auf und schlug zu, wobei seine Fühler umherwirbelten. Zaunkönig hob sein Rapier und seinen Dolch. Ich schoss in meine Kabine zurück und nahm meinen Eispickel an mich. Dann drückte ich mich an Fulmer vorbei zu dem Gestell mit den Utensilien neben meiner Tür, schnappte mir einen langen Bootshaken und schrie gleichzeitig: »Lauft den anderen Gang runter! Rüber zur Schwalbe Weckt Blitz auf und sagt ihm, er soll es erschießen! Ihr müsst sehr laut klopfen. Rasch!« Fulmer glitt die Leiter hinab und schlüpfte über das Hauptdeck. Ich entdeckte Leiber, die in unnatürlichen Win212 kein verdreht auf dem Boden lagen, und packte meinen Bootshaken fester, als ich begriff, dass der dicke, matt glänzende Schleim geronnenes Blut war. Kaltblütig spreizte ich die Flügel, wickelte meinen Eispickel in das gefaltete Oberteil meines improvisierten Sarongs und fand die rechten Worte, die ich den dreißig oder vierzig Kapharnai zurufen musste: »Lauft weg! Geht heim! Es wird euch beißen!« Ich hielt den Schaft des Bootshakens wie ein Gewichtheber vor meinen Leib, setzte über die Reling, fiel gerade nach unten, vorbei an den blauen Bullaugenabdeckungen, erreichte Fluggeschwindigkeit und jagte einmal rund um die Schiffshülle, um an Schwung zu gewinnen. Ich streifte die Galionsfigur und schoss über das Vordeck hinaus direkt auf das Insekt zu. Geschickt wich ich dem Vormast aus, indem ich den rechten Flügel einzog und nach rechts herumwirbelte. Ich sauste über das Insekt hinweg, ließ den Bootshaken hinab und schwang ihn mit aller Kraft. Um den Kopf des Insekts zogen sich gold-braune Facettenaugen; oben am Rand waren sie mit Stacheln gesäumt. Da es deshalb in alle Richtungen sehen konnte, entdeckte es mich, wie ich über es hinwegglitt, zog die sechs Knie ein und drückte seinen Leib flach gegen das Fallreep, wobei seine perlenschnurartigen, wabernden Fühler über das Holz peitschten. Ich verfehlte es und hob eilig den Haken an, der auf Zaunkönigs Kopf zusegelte. »Scheiße!«, knurrte ich, drehte ab, den Wind im Rücken, und verlor an Höhe, wobei ich den Pfahl seitlich ausgestreckt hielt, nicht nach oben, damit er sich nicht in meinen Federn verhedderte. Ich flog so tief über die Köpfe der Händler hinweg, dass mein Fallstrom ihnen das Haar zauste. Ein paar rasche Flügelschläge, und ich steuerte um das Heck der Schwalbe herum. Ich hatte die Absicht, die beiden Schiffe zu umkreisen und für einen weiteren Hieb 213 über die Melowne wieder hereinzukommen. In dem gewaltigen Durcheinander an Deck der Schwalbe war keinerlei Spur von Blitz zu erkennen. Zaunkönig war barfuss und bis auf seine kurze Hose, von der das Zugband herabhing, auch nackt. Das Insekt stand höher auf dem Fallreep und klammerte sich fest mit den Klauen an die Kanten. Zaunkönig versperrte ihm den Weg an Land, zu seiner Nahrung. Es schlug nach ihm. Er blockte den Kieferknochen mit dem Rapier ab und lenkte seinen Kopf zur Seite. Es legte seine Fühler in ihre Rinnen zurück, verlagerte das Gewicht auf die hinteren Gliedmaßen und hieb mit den Vorderbeinen nach Serein. Mit den Hakenklauen stach es auf Zaunkönig ein, und er schlug sie beiseite, woraufhin sie sich um die Rapierklinge schlössen und anschließend daran herabrutschten. Zaunkönig parierte und tänzelte so rasch umher, dass nur eine verschwommene Bewegung zu erkennen war. Er hatte nichts von seinem Können verloren — er
war zu konzentriert, um Furcht zu verspüren. Aber er konnte die Handlungen des Insekts nicht voraussagen. Er folgte gleichzeitig den Bewegungen seiner vier Klauen sowie der Mandibel und blockte jeden Hieb des Insekts ab. Aber sein völlig unzureichendes Rapier glitt bloß klickend über die Kutikula - es war nicht schwer genug, in die Hülle einzuschneiden. Heftig stach er die Klinge durch die Basis eines der Fühler und schnitt ihn durch, als er sie gleich darauf wieder zurückzog. Der Fühler fiel zwischen die Füße des Insekts. Ein Tropfen gelber Flüssigkeit, wie Eiter, trat aus der Höhlung, die das Rapier zurückgelassen hatte, fiel dem Insekt ins Auge und rann weiter über die gewölbte Oberfläche. Es wich zurück. Zaunkönig fintete, woraufhin es die Klinge mit der linken Klaue einfangen wollte, aber da griff er wild an und traf es di214 rekt in den Unterleib, unterhalb der Mandibel, und die Rapierspitze durchbohrte das Chitin. Das Insekt tat einen Schritt auf ihn zu, und die Klinge fuhr ihm in den Leib. Flüssigkeit von der Farbe und Konsistenz von Sahne quoll hervor und tröpfelte die Hülle hinab, doch das Insekt reagierte überhaupt nicht darauf. Es kroch weiter auf Zaunkönig zu, wobei es sich selbst weiter auf dem Rapier aufspießte. Schließlich trat die Rapierspitze aus seinem Rücken wieder aus; es zeigte sich ein Stück Stahl, das von der Flüssigkeit gestreift war. Das Insekt schob sich gewaltsam weiter die Klinge hinab, bis der Knauf direkt an seinem Unterleib haftete, und beugte sich vor, um Zaunkönig den Arm abzubeißen. Er schüttelte seine Hand aus der Glocke los, sprang zurück und ließ seine dünne Waffe in dem Insekt stecken. Ich kam rasch über das Vordeck hereingeflogen. Auf Zaunkönigs Gesicht erschien ein Ausdruck des Grimms. Er zog seinen Dolch von links nach rechts über das Auge des Insekts, aber die Klinge drang nicht ein, sondern kratzte nur eine dünne Spur über eine der sechseckigen Linsen. Es schlug zu; er rammte ihm den Dolch in seinen Unterkiefer. Die Klinge zerbrach so heftig von der Spitze bis zum Ricasso, dass zwei lange glitzernde Stahlsplitter in verschiedene Richtungen davonwirbelten und Zaunkönig bloß noch den Griff in der Hand hielt. Der Schatten meiner Flügel lag über seinem Kopf. »Hier!« Ich ließ den Haken am äußersten Ende hinabbaumeln. Er hatte Verstand genug, den Griff fallen zu lassen, hochzuspringen und nach dem Messinghaken zu greifen, der auf ihn zujagte. Ich ließ los. Unser Kontakt hatte einen so großen Luftwiderstand zur Folge, dass ich viel zu langsam wurde und mich linksherum um die eigene Achse drehte. Rasend schnell kam der Kai auf 215 mich zu; ich sah die Ritzen in der Pflasterung. Zu breit, zu nahe! Ich würde abstürzen! Ich beugte mich nach rechts und schlug die Flügel nach unten - die Spitzen krachten in eine Kiste mit Apfelsinen. Die Erschütterung beim Aufprall durchlief meine Federschäfte, dass mir die Finger schmerzten. Ich zog von meinem Tiefflug hoch; der obere Rand der Kiste zerkratzte mir Knie und Füße. Ich flatterte mit den Flügeln, verkürzte sie. Ächzend vor Anstrengung ging ich steil in die Kurve. Meine Federn schnarrten in der Luft. Ich warf einen Blick auf Zaunkönig hinab. Er schwankte und streckte den Haken aus, um das Gleichgewicht zu wahren. Dann stand er wieder fest auf beiden Beinen und richtete ihn auf das Insekt. Es duckte sich zum Sprung, senkte den Kopf, warf sich auf ihn und drückte ihn gewaltsam zur Seite. Er schwang den Haken, als das Insekt an ihm vorbeijagte, brachte jedoch nur einen schwachen Hieb an. Die Stacheln, die das Insektenbein säumten, schnitten ihm die Haut auf. Im Vorüberrennen brachte es Zaunkönig mit seiner Körpermasse aus dem Gleichgewicht. Der Bootshaken wirbelte durch die Luft; Serein kippte kopfüber vom Fallreep herab. Seine Fußsohlen verschwanden unterhalb der Hafenmauer, und er fiel in den Streifen tiefblauen Wassers. Eine Sekunde später hörte ich das Klatschen. Ich warf einen Blick auf die Menge; auf den Gesichtern dort waren Gleichgültigkeit, Zweifel und Unglauben zu lesen. Das Insekt war echt; dies war kein Drama, inszeniert zur Unterhaltung. Es kam das Fallreep herab. Etwa ein halbes Dutzend nach wie vor glotzäugiger Leute wich erst zurück, machte dann kehrt und gab schließlich Fersengeld. Die Übrigen schienen wie erstarrt. Wer nicht das Insekt mit offenem Mund anstarrte, glotzte mich an. »Verschwindet!«, schrie ich. Einige weitere Leute reagierten auf das Drängen in meiner Stimme. 216 Das Insekt landete auf allen sechs Beinen auf dem Pflaster des Kais. Zunächst waren seine Bewegungen eckig, steif; es hüpfte und hoppelte, gewöhnte sich jedoch rasch an seine Freiheit, und das Blut der Matrosen, das es aufgeleckt hatte, half dabei, dass die Hydraulik in seinem Bein wieder richtig funktionierte. Es rannte jetzt so geschmeidig, wie es das in Papierland getan hatte, und die Menschen spritzten auseinander, flohen kreischend und ließen eine einzelne Frau zurück. Ich erkannte sogleich Danio; sie saß am Wasser, nahe der Hülle der Melowne, genau dort, wo ich sie in der Nacht zuvor zurückgelassen hatte. Ihre bloßen Beine baumelten über die Hafenmauer. Sie war wie erstarrt, wusste nicht, was sie tun sollte, und blieb eine Sekunde zu lang dort sitzen. Dann erst erhob sie sich auf die Knie und sprang hoch, wobei sie das Insekt die ganze Zeit über in einer Mischung aus Faszination und Furcht im Blick behielt. Die Arme ausgestreckt, rannte sie sehr leichtfüßig los. Aber sie war nicht schnell genug. Das Insekt jagte ihr nach, hakte ihr die Klauen ins Kreuz und riss sie um. Mit dem Gesicht nach unten fiel sie aufs Pflaster und bemühte sich schrill kreischend und unter Aufbietung aller Kräfte, sich umzudrehen und es
Wegzuschlagen. Das Insekt beugte sich zu Danio hinab, schnitt ihr Bein am Knie ab und hob es mit dem mittleren Armpaar hoch. Mit den äußeren Mundteilen streifte es den Wadenmuskel von dem abgetrennten Glied und hielt den triefenden Muskel mit zwei Palpen fest, die wie schwarze, klebrige Finger herabhingen. Wie eine Guillotine sausten die Oberkiefer hinter den Kinnbacken herab, mahlten von links nach rechts und verarbeiteten den Muskel zu einem Brei. Danio kreischte unentwegt weiter, bis das Insekt sie um die Hüften zu fassen bekam. Seine Mandibeln sanken tief in sie hinein und schleuderten sie in die Luft. Sie schlug in voller Länge aufs Pflaster, wo217 raufhin das Insekt auf ihren Körper sprang und sie mit einem kraftvollen Biss enthauptete. Auf der verzweifelten Suche nach einem Platz zum Landen flog ich über die beiden hinweg. Auf meine Bewegung aufmerksam geworden, hielt das Insekt inne und wedelte mit dem einzelnen, abgeknickten Fühler; der Stummel des anderen war von einer gelblichen Kruste überzogen. Jetzt hatten alle Kapharnai das Hafengebiet verlassen, nur ein Kaufmann in einer Tunika nicht, der in einiger Entfernung stehen geblieben war, um einen Blick zurück auf die verlassenen Waren zuwerfen. Sein rundliches Gesicht war bleich, und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Danio!, dachte ich. Es tötet Danio; was haben wir getan? Ich fand eine freie Stelle zwischen den Körben und Kisten, aber ich flog so rasch, dass ich Gefahr lief, mir die Beine zu brechen. Also zog ich die Flügel voll nach hinten und verringerte so ein wenig die Geschwindigkeit. Der Zug auf meine Bauchmuskeln war sehr heftig; stöhnend schwang ich die Beine nach vorn, machte mich ganz steif und prallte mit gebeugten Knien auf den Boden. Ich setzte die Hände auf und schlug einen Purzelbaum nach dem anderen, bis ich in eine Kiste mit Zimtborke krachte. Völlig außer Atem krabbelte ich mit erhobenem Eispickel auf die Füße. Das Insekt hatte die Mündung des Boulevard erreicht. Es hatte den korpulenten Mann abgeschlachtet und stand mit Vorder- und Mittelbeinen auf dem Leichnam, den Kopf gesenkt, den lamellenartig segmentierten Unterleib hoch in die Luft gehoben. Klickend schloss es die Kieferknochen über dem Bauch des fetten Mannes, wich zurück, rutschte mit den Klauen auf dem Blut aus, zerrte ein Stück blau-grüner Innererei hervor und schlang es dann in sich hinein, bis es tief in die Körperhöhle vorgedrungen war. Die blicklosen, starren Augen und der blasse Mund des Mannes 218 waren weit geöffnet; man konnte die Innenseite seiner Rippen sehen. Ich dachte, ich muss es ablenken, bis Blitz es erschießt. Schmerzhaft atmend raste ich hinüber, wobei ich einen Bogen um die weggeworfenen Mäntel und Warenhaufen schlug und mich in einer Kurve von hinten annäherte, da ich davon ausging, dass das Insekt eine Sekunde zum Umdrehen benötigen würde und ich auf sein Hinterteil einhacken könnte. Aber das Insekt wartete den Angriff nicht ab. Ich weiß nicht, ob es mich wieder erkannte oder ob es verstand, dass ich bewaffnet war, aber es krabbelte rasch vom Kadaver des fetten Mannes herunter und sprang zum Boulevard hinüber. Ich stellte mich zwischen das Insekt und die Stadt und lenkte es ab. Jagte es. Mit dem Instinkt des Rhydanners verlängerte ich meinen Schritt, als ob ich einen Hirsch vor mir hätte. Ich holte auf, zielte auf die hinteren Beinglieder und brachte einen Hieb an, der es zu einem Richtungswechsel veranlasste. Das Insekt wurde langsamer, als es einige Matrosen spürte, die auf der Veranda einer Villa in der Falle saßen und sich darauf vorbereiteten, ihre Paddel als Keulen einzusetzen. Ich brachte es dazu, zu den Schiffen hinüberzurennen, wo Blitz sein sollte, aber es hieb nach dem letzten Mann, einem mageren Jüngling, der stürzte und sich den Oberschenkel hielt. Zaunkönigs Waffe steckte nach wie vor im Rumpf des Insekts; der Griff war wie ein silbernes Abzeichen. Die Blutung hatte aufgehört. Wiederholt schwangen die Beine von vorn nach hinten über seinen Leib. Ich zielte dazwischen nach einer Nahtstelle, die wie das Scharnier einer Rüstung über seinen Rücken lief, beugte mich vor und schlug zu, aber der Hieb riss mir fast den Schaft aus der Hand und unterbrach meinen Laufrhythmus. Ich trat fest auf, um beschleunigen und die Richtung wechseln zu können; um das Insekt unter Kontrolle zu bringen. 219 Meine lautstarken plumpen Hiebe hatten größeren Effekt als Zaunkönigs deutlich ausgefeiltere Technik. Das Insekt humpelte, lief jedoch nach wie vor rasend schnell auf den stacheligen schwarzen Polstern unter den leicht gehobenen Klauen dahin. Ich zielte auf die drei kleinen runden Augen, die ein Dreieck zwischen seinen Facettenaugen bildeten. Aber aus diesem Winkel war seine Stirnplatte zu dick und nicht zu knacken. Die Pflastersteine waren kühl unter meinen bloßen Füßen; mir schmerzten die Knöchel vom ständigen Aufprall. Ich zog keuchend die Luft ein. Das Insekt unternahm einen Fluchtversuch und erreichte dabei die Schnelligkeit eines Rennpferds, doch ich hielt Schritt mit ihm, obwohl meine Beinmuskeln brannten. Ich war erschöpft und dennoch aufgedreht von meiner eigenen Energie. So schnell ich konnte, rannte ich weiter. Verzweifelt suchte ich nach einerweiteren Gelegenheit zum Zuschlagen - wenn ich meinen Eispickel in den kupferfarben gestreiften Unterleib verhaken kann, kriege ich's! Während wir durch das gesamte Hafengebiet von Kapharnaum jagten, zwang ich das Insekt, näher am glitzernden Meer vorüberzurennen. Das letzte Gebäude hatte eine nackte Steinmauer, an deren Basis die halbkreisförmige, mit Steinblöcken gesäumte Öffnung eines Abwasserkanals lag, aus dem sich ein seichter Strom Schmutzwasser ergoss, in einen weiteren Kanal hineinplätscherte und von dort über den Rand der Kaimauer fiel. Sie war dunkelgrün gefleckt und bräunlich grau von ausgeflockten Algen. Das Insekt wich nach
dorthin aus, rannte den schrägen Zulauf empor und jagte direkt in den schwarzen Gang, dass es nur so platschte. Sogleich verlor ich es in der Dunkelheit aus den Augen. Mühsam kam ich zum Stehen, wobei ich mir die Fersen an der Kante zerkratzte. Das Insekt war verschwunden; keinesfalls würde ich ihm in diesen Abwasserkanal folgen. In dem beengten Raum würde 220 es mir die Kehle herausreißen, bevor ich es auch nur zu sehen bekäme, also wartete ich ab, hielt mich bereit und spürte das Pochen meines Pulses bis in den Hals hinauf. Ich hustete schaumigen Speichel in das graue Wasser und sah zu, wie er zum Meer hinabtrieb. Insekten sind unter der Erde beheimatet und in der Dunkelheit nicht benachteiligt. Wenn wir sie in den Papierlanden ausmerzen, besteht die letzte vereinte Anstrengung darin, Flusswasser in ihre Tunnel zu leiten, damit die tiefen, wabenförmigen Bauten in sich zusammenstürzen. Auch werden Feuer draußen auf den Plattformen vor den Tunnelmündungen entzündet, um den Insekten die Luft zu entziehen und sie zu ersticken, und trotzdem schießen Insekten, einige mannsgroß, andere groß wie Kutschpferde, hervor und greifen an. Ich hasste natürliche Höhlen, ganz zu schweigen von Insektengräben und schleimigen Abwasserkanälen. Wenn ich dort hineinginge, käme ich nie wieder heraus. Ich sprang zur Sturmschwalbe zurück, vorbei an dem aufgeblähten, halb aufgefressenen Kadaver des Kaufmanns mit der aufgerissenen Schürze, und an Danio, die kopflos in einer allmählich gerinnenden roten Gischt lag, wobei sich in meinen Gedanken schreckliche Bilder abspulten. Vom höchsten Deck der Schwalbe, von den Decksbauten achtern, sah Blitz herab, einen Pfeil auf dem Bogen und lediglich mit der Hose bekleidet. Neben ihm umklammerte Fulmer das Seil der Reling. Raas Gesicht lugte aus einem offenen Fenster in dem Bereich genau zu seinen Füßen heraus. Die überlebenden Matrosen der Melowne klebten förmlich in ihrer Takelage. Zaunkönig war eine winzige Gestalt unten am Wasser, die stetig eine Leiter mit Metallsprossen an der abgerundeten Hülle emporstieg. Sein kurzes Haar lag flach an seinem Kopf an; Wasser tropfte ihm aus den zerzausten Flügeln. Seine Federn waren völlig zerrissen, zersplittert und 221 bis auf den Schaft zurückgepellt. Seine Arschspalte und die Beinhaare zeigten sich unter seiner klatschnassen kurzen weißen Hose. »Was war los?«, rief mir Blitz zu. Er beugte sich so weit vornüber, dass ich glaubte, die Pfeile würden ihm aus dem Köcher auf seinem Rücken rutschen. »War das unser Insekt? Wo ist Serein? Verdammt soll er sein, verdammt sollst du sein! Was habt ihr da gemacht, es perforiert?« »Hat es bloß diese drei Trisianer erwischt?«, schrie Raa. »Wie viele von meinen?« »Serein hat mich aufgeweckt«, plapperte Fulmer. »Ich habe gesehen, wie es die Matrosen auf dem Orlopdeck abgeschlachtet hat. Meister Seefahrerin, tut mir leid! Serein hat gesagt, er würde es in Schach halten, und benutzte sein Rapier, aber gegen die Insektenhülle ist das sinnlos.« Raa wandte sich abrupt ab und verschwand. Einen Augenblick später kam sie auf das Hauptdeck geschritten und sah sich die Verwüstung auf dem Kai an. Der verwundete Jüngling kroch nicht mehr umher; ich hoffte, er war bloß bewusstlos und nicht tot. Die Waren des Händlers lagen verlassen da. Auf dem Kai war keine Menschenseele zu sehen, aber hinter jedem offenen Fenster oder Bronzepfahl der Häuser an der Wasserfront zeigten sich drei oder vier Gesichter, die uns schockiert, mit blankem Entsetzen beobachteten. »Du hast es nicht getötet!«, tobte Blitz. Ich befestigte meine Schärpe wieder. »Ich hätte es erwischt, aber es ist in einen Abwasserkanal gesprungen. Ich habe es verwundet, ebenso wie Serein mit seinem Rapier. Blöde Stadt-Schwerter! Verdammte Soldatensäbel. Der Idiot hatte nicht die richtige Ausrüstung. Es hat sein Rapier mitgenommen! Du - Wir müssen so bald wie möglich Bogenschützen am Tunnel aufstellen. Ich muss wissen, ob es in der Falle sitzt, damit du es abschießen kannst.« 222 »Und wenn es in die Stadt entkommen ist?«, flüsterte Fulmer. »Kapitän!«, rief Raa. »Auf dein Schiff! Warum waren sämtliche Gatter offen? Ich will es wissen! Wir können das nicht in aller Öffentlichkeit diskutieren.« Für mich fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu: »Jant, sprich mit den Kapharnai! Sie sollen ihre Toten nicht ohne Erklärung wegschaffen. Komm so bald wie möglich zu uns in den Frachtraum der Melowne« Typisch - ich hatte die schwierigste Aufgabe. Während ich die aufgebrachten Insulaner an der Küstenstraße erwartete, verschwanden die anderen Eszai im Frachtraum, und ihren Rufen nach zu schließen war der ebenfalls ein einziges Schlachtfeld. Ich war mir sehr wohl bewusst, wie fremdartig ich aussah mit meinem Leinentuch und den unbedeckten Flügeln. Über das Hauptdeck waren die Reste von sechs oder sieben zerstückelten Männern verstreut. Die Glieder waren an den Gelenken abgeschnitten und die Körper ausgeweidet. Der Leichnam des Quartiermeisters hing über der Luke. Auf Raas Befehle hin trugen die Matrosen sie an Land und reihten sie neben dem Anker für das Begräbnis auf, weil es in wenigen Stunden entsetzlich heiß sein würde. Schritt um Schritt näherten sich mir einige Kaufleute aus Kapharnaum, deren Mut sich aus ihrer Anzahl speiste.
Ich breitete meine Hände zur Friedensgeste aus, und sie verstanden das anscheinend. Der Erste öffnete, einen Ausdruck der Ehrfurcht und des Widerwillens auf dem Gesicht, Arme wie Flügel. Ich erklärte, warum ich der einzige Mann war, der je fliegen konnte, und sagte ihnen, dass daran nichts für Aberglauben sei. Wiederholt bat ich, so gut ich konnte, um Entschuldigung und wies sie an, in ihren Häusern abzuwarten und die Kinder drinnen zu behalten. Über das Zischen hin223 weg, mit dem sie die Luft einzogen, erklärte ich weiter, dass sie alle die Nachricht des Senats vom Tod des Insekts abwarten sollten. Ich bat sie, eine oder zwei Ziegen herbeizuschaffen, die ich draußen vor dem Eingang des Abwasserkanals festbinden würde, um das Insekt herauszulocken, aber ich hatte den Verdacht, es wäre zu vollgefressen, als dass dieser Trick funktionieren würde. Ich ertappte mich dabei, dass ich über das Jammern und die Vorwürfe der Familien hinweg redete, die den trisianischen Kaufmann, den ohnmächtigen Jüngling und Danio mitnehmen wollten. Ich wiederholte, dass es ein Unfall war, und ich faltete die Hände, ging auf die Knie und bat sie innigst darum, uns freundlich zu behandeln. Als sie sahen, dass ich ihnen nicht in die Augen sehen konnte, verstanden sie meine Aufrichtigkeit, blieben aber weiterhin vorsichtig. Die Neuigkeit breitete sich in der Stadt aus - und verursachte einige Aufregung sowie einiges Gehämmer an Türen -, bis es den Amarot erreichte, von wo ein abwägendes Schweigen herabstieg. Erschrocken zog ich mich zum Frachtraum der Melowne zurück. »Ich hab mein Bestes gegeben«, sagte ich. »Wir glauben dir«, meinte Blitz. »Dieser Katastrophe fühlen wir alle uns nicht gewachsen; das ist so weit von unserer gewohnten Arbeit entfernt. Kümmere du dich bitte um Se-rein, und wir werden überlegen, was zu tun ist.« Auf halbem Weg das Schiff hinab hatte Blitz einen jungen trisianischen Mann gefunden, dem der untere Gesichtsteil abgerissen worden war. Er machte sich wieder an die Untersuchung des Opfers. Die ausgebeulte Tür des leeren Insektenkäfigs hinter uns quietschte, als Raa sie immer wieder öffnete und schloss. Zaunkönig saß auf einem Koffer, der jetzt keine Pfeile 224 mehr enthielt, sondern Kardamomsamen. Ich säuberte seine Schrammen, legte etwas Schwarzwurzöl auf und befestigte einen Verband um seine Schulter. Seine gekerbten Flügel öffneten sich wie feuchte Fächer; sein Adrenalinspiegel sank. Die kurze Hose klebte ihm an den stämmigen Oberschenkeln, und Blut war auf seinem Bizeps eingetrocknet; er schälte es in winzigen Flocken ab. Grimmige Entschlossenheit stand ihm lebhaft ins Gesicht geschrieben. »Ist das meins?«, fragte er benommen. »Schon gut. Ist wohl nicht meins.« »Ja, es ist deins«, erwiderte ich. »Aber deine Kratzer sind oberflächlich. Halte sie sauber und lasse es ein paar Tage lang gemächlich laufen. Wir können einer Infektion und einer ernsthaften Krankheit ebenso erliegen wie Sterbliche. Tatsächlich kann ich dir einige Beispiele von Eszai anführen, die an verschmutzten Verletzungen gestorben sind.« »Nein danke.« »Unglücklicherweise wird die Heilung nicht schneller verlaufen, aber der Kreis wird dich auffangen und dafür sorgen, dass du nicht gleich an kleineren Verletzungen und Quetschungen stirbst.« »Hallo - was für ein Vorteil beim Fechten!« Ich sah ihn streng an. »Die einzigen Eszai, die die Jahrhunderte überleben, sind diejenigen, die wissen, dass sie nicht unzerstörbar sind. Zaskai müssen sich darauf verlassen können, dass du keinen Unsinn treibst.« Zaunkönig senkte den Blick. »Ich weiß; ich habe es bloß in Schach gehalten.« »Niemand kann Insekten mit einem Rapier töten«, ermahnte ich ihn. »Wie viele Jahre hat das Schloss mit dem Versuch verbracht, die perfekte Waffe zu entwickeln, und jetzt versuchst du es mit einem Duelldegen}« Zaunkönig zuckte zusammen. »Mir ist es einmal in einem Amphitheater gelungen. Mein Rapier war alles, was ich zur 225 Hand hatte - Raas Matrosen hatten jedes einzelne Breitschwert an Bord verkauft, und ich habe Danio meines geschenkt. Aber du bist mit deinem Eispickel auch nicht besser gewesen. Aua! Jant, pass doch auf! Ich weiß, ich brauche Erfahrung. Es war das größte und zäheste verdammte Insekt, dem ich je gegenübergestanden habe. Und ich habe versagt; es tut mir leid.« »Mir tut es leid, dass ich es nicht erwischt habe«, sagte ich. Raa schlug die Käfigtür zu. »Jant, du hast der ganzen Stadt vorgeführt, dass du fliegen kannst. Wir waren einer Meinung gewesen, das geheim zu halten.« »Hast du von mir erwartet, dass ich Serein von ihm auffressen lasse?« »Ich kann mich selbst verteidigen«, sagte Zaunkönig mürrisch. Blitz hob einen trisianischen Bronzedreizack auf, der neben dem Leichnam des jungen Mannes lag, daneben eine Geldbörse aus weichem Leder. Würdevoll kam er auf uns zu. »Anscheinend haben unsere Midshipmen Bestechungsgelder von neugierigen Kapharnai angenommen, die einen Blick auf das Insekt werfen wollten. Seht ihr?« Er kippte die Börse um, und ein Haufen feiner Goldketten glitt ihm in die Hand. »Es muss aus eigener Kraft ausgebrochen sein«, schloss Raa. »Als Reaktion auf ihre Sticheleien. Hätte ich doch nur einen festeren Käfig bestellt!« Blitz und ich sahen sie an. Sie wusste genau, dass wir ihr kein einziges Wort mehr glaubten. Blitz zeigte zum
Käfig hinüber. »Für die Kapharnai war das eine Monstrositätenschau.« »So sehen sie uns alle«, meinte ich. »Warum warst du eigentlich um fünf Uhr in der Frühe auf?«, fauchte Raa Zaunkönig argwöhnisch an. Er sah sich um und gestand: »Ich war gerade erst zurück226 gekommen. Ich habe die Nacht mit einem hiesigen Mädel in der Stadt verbracht.« »Oh, wirklich?« »Ich glaube, sie hieß Pollan. Wie dem auch sei, sie hat immerzu >Pollan< gesagt. Sie hatte erstklassige Titten; man konnte sich drin verlieren. Legt man die Vorstellung von letzter Nacht als Maßstab an, könnte man sie in die Nationalmannschaft berufen, aber wenn sie noch ein bisschen sentimentaler wird, stufe ich sie in die Reserve zurück...« Raa versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. »Aua!« Zaunkönig ließ eine Hand über seine Federn laufen und verwob ihre Fahnen ineinander. Das fehlende Gefieder verdarb seine Zickzackfrisur. Er war ziemlich übersät mit Federn; ein paar wuchsen ihm auf dem Rücken zwischen den Flügeln, da er seit Monaten keinen Friseur auch nur aus der Nähe gesehen hatte. Die Stoppelfedern steckten immer noch in ihrer durchsichtigen Hülle, so dass sie aussahen wie Pinselchen. Wo sich die Hülle abschälte und zerbröckelte, trat die braune Federspitze hervor. »Fulmer?«, rief Raa. Das schockierte Gesicht des Dandys tauchte in der Luke über unseren Köpfen auf. »Ja, Meister Seefahrerin?« »Hilf Blitz dabei, diesen Leichnam hinauf zum Kai zu tragen! Wir müssen ihn seinen Verwandten übergeben und eine Möglichkeit suchen, diesen Unfall wiedergutzumachen. Komet, unternimm einen Abstecher zum Amarot und fordere die Anwesenheit von Felchen. Mit Begleitung, wenn er will. Der Senat hat vielleicht seine dreitägige Debatte über uns beendet, und wir müssen das Ergebnis erfahren. Flieg dorthin und richte Felchen aus, dass wir uns alle in meiner Kabine treffen können, wenn es ihm passt.« Sie sah Blitz an, der von der Taille aufwärts nackt und dessen Haar völlig zerzaust war; ich trug ein Baumwollhemd und 227 war zerkratzt; und Zaunkönig mit einer halb durchsichtigen kurzen Hose, auf dessen Haut der Eiter klebte. »Aber nicht in eurem gegenwärtigen Zustand.« Langsam flog ich zum Amarot hinüber. Ich fand keinen Gefallen daran, dass die Einwohner zu mir heraufstarrten. Ich trauerte um Danio; klar, ich hatte sie nur zwei Tage gekannt, aber sie war die Trisianerin, mit der ich am meisten gesprochen hatte, und in ihrer unermesslichen Tiefe des Verstandes und der Humanität hatte sie das größte Interesse an Vierlanden gezeigt. Ich stand allein vor dem Senat und erklärte alles. Ich bot unsere Dienste dabei an, das Insekt zu fangen, aber sie unterbrachen mich mit Ausrufen der Entrüstung. Anscheinend gingen sie davon aus, dass das Insekt ein Vorwand unsererseits war, um länger in Kapharnaum zu bleiben. Der Senat erklärte sich einverstanden, dass Felchen mich zur Sturmschwalbe begleiten solle, um ihre Entscheidung uns allen zugleich mitzuteilen. Ich wartete ab, bis er auf dem Mosaik eine Eskorte von Einwohnern versammelt hatte, aber als wir den Boulevard hinabschritten, schlössen sich, fast spontan, weitere Männer aus den Häusern an und folgten uns wortlos dicht auf den Fersen. Sie waren mit Harpunen bewaffnet und hatten Messer im Gürtel stecken; einer oder zwei trugen eine der Hellebarden, die wir ihnen verkauft hatten. Sie waren still und ließen mir Raum, aber ich war mir nach wie vor bewusst, dass sie jede Regung meinerseits beobachteten. Es war nervenzerfetzend. Ich verhielt mich so liebenswürdig wie möglich und versuchte, die Atmosphäre zu entspannen. Als wir den Platz überquerten, sah ich den Mann mit der Tunika in seinem Restaurant werken. Ich lächelte ihn offen an, aber er warf mir einen kalten Blick zu und zog die Läden herab. Erleichtert erreichte ich die Schwalbe, wo Raa nach einigem 228 Hin und Her sämtliche Unterstützer Felchens einlud, mit an Bord zu kommen. Die Größe der Karavelle schüchterte sie zwar ein, aber etwa zwanzig kamen doch aufs Hauptdeck herauf, wo Raa und ich Senator Felchen davon überzeugten, sie dort zurückzulassen und allein in ihr Büro zu kommen. Der lange Schatten des Berges war über den Hafen gefallen, und in Raas Kabine war es so dunkel, dass sie Kerzen anzünden musste. Der Geruch nach Talg im Verein mit Messingpolitur, Pech und schwarzem Kaffee verunsicherte Felchen sogar noch mehr. Er ließ den Blick über das düstere Büro der Seefahrerin schweifen: über das gewachste Paneel zwischen den groben, rauen, von einer Dechsel bearbeiteten Planken, über die Tür mit den langen, wellenförmigen Beschlägen bis zu dem Cassone, in dem Ata ihre Kleidung aufbewahrte. Auf dem Tisch standen eine Cafetiere und ein Teller mit Brotscheiben vom Vortag; seine gedrechselten Beine waren am Fußboden verschraubt. In der Ecke stand ein Korb voller trisianischer Nippessachen und Weinkelche. Dieser üppig verzierte Raum war ein völliger Widerspruch zum übrigen Schiff und zu den Matrosen, die voller Unbehagen blutige Fußabdrücke vom Vordeck abschrubbten. Felchen setzte sich erst, als ich ihn darum bat, und dann auch nur widerstrebend. Raa schob ihm ein Glas Kaffee mit Deckel hinüber, dem er jedoch nicht einmal einen Blick erübrigte. Er beobachtete seine Gefährten, die auf dem Hauptdeck warteten, durch die kleinen Scheiben rund um die Tür. »Der Senat«, verkündete er, »hat abgestimmt. Tris wird sämtlichen Kontakt zu Vierlanden zurückweisen. Wir sind dem Rat der Verfassung von
Kapharnaum gefolgt. Alle waren dafür, dass ihr uns verlassen müsst, mit Ausnahme der geliebten Professorin Danio, die mehr erfahren wollte. Wir sind am heutigen Morgen zu dieser Übereinkunft gekommen, noch bevor euer Bote uns von der Tragödie in Kenntnis gesetzt hat. 229 Wir möchten euch nicht hier haben. Das Gemetzel unter den Einwohnern Kapharnaums, dem auch sie zum Opfer fiel, hat die Senatsmitglieder in ihrer Entscheidung nur bestärkt. Wir wissen, dass eure Schiffe wieder mit Vorräten beladen sind. Fahrt auf der Stelle heim und kehrt nie mehr zurück!« Ich übersetzte für die anderen, gegen die Wand an der Kabinenrückseite gelehnt, ein Knie angezogen und die Schuhsohle gegen das Holz gedrückt, den Kopf gesenkt, lauschend. Ich ließ sie direkt miteinander sprechen, vereinfachte ihr Gespräch, ohne einzugreifen, gleich, was gesagt wurde. Ich stellte mich auf keine Seite, sondern ließ meine Übersetzung einfach aus dem Schatten fließen, gab ihre Worte und ihre Erwiderungen in den jeweils korrekten Sprachen wieder: Awianisch zu Trisianisch, Trisianisch zu Nieder-Awianisch. »Aber Tris ist auch Teil des Reichs!«, meinte Zaunkönig. »Nein, sind wir nicht. Ein Mann sollte nicht über fünf Länder herrschen. Es war ein Schock für den Senat zu entdecken, dass ein Mann solche Macht besitzt. Ihr habt Kapharnaum bereits beschmutzt.« »Senator«, setzte Raa an, »lasst uns ...« Felchen richtete den Finger auf sie. »Anlässlich Eurer Ankunft im vergangenen Jahr debattierte der Senat die Wahrscheinlichkeit weiterer Besuche seitens Eurer Insel. Wir waren misstrauisch, haben den Zweifel jedoch zu Euren Gunsten zurückgestellt. Jetzt gestehen wir uns ein, dass wir uns geirrt haben und die Geschichten den Tatsachen entsprachen. Obwohl ich persönlich keine Ahnung habe, was wir mit dem Insekt anstellen sollen, schmiedet der Senat bereits Pläne.« Der schwarze wurmförmige Fühler lag auf Raas Schreibtisch neben ihrer Cafetiere. Felchen schob ihn beim Sprechen mit dem Finger herum. »Ihr sagt, es gibt tausende von Insekten?« 230 »Hunderte von tausenden«, erwiderte ich, »verseuchen den Norden unseres Kontinents. Es tut uns leid, dass wir dieses hier verloren haben. Der Tunnel war leer, als ich mit Bogenschützen und - äh - Harpunieren dorthin zurückkehrte.« »Jant«, sagte Felchen, »Ihr könnt tatsächlich fliegen, und Ihr könnt rennen ... Die Kaufleute berichteten, mit welcher Geschwindigkeit Ihr geflogen seid!« »Ich bin der Schnellste der Welt«, entgegnete ich. »Das ist der einzige Beweis für die Behauptung, dass wir unsterblich sind.« Felchen seufzte. »Einige vom Senat glauben Euch, aber das bedeutet keinen Unterschied für uns. Tris sollte von Sterblichen wie von Unsterblichen gleichermaßen in Frieden gelassen werden. Wenn Ihr mich fragt, so ist die Fähigkeit zu fliegen schon allein für sich ein wunderbares Vergnügen, ohne dass auch noch gleichzeitig Anerkennung und Unsterblichkeit hinzukommen müssten.« Er spielte mit dem Fühler und fragte schlicht: »Warum habt Ihr ein Insekt auf uns angesetzt?« »Haben wir nicht«, erwiderte Raa. »Es war ein Unfall, und es tut uns aufrichtig leid. Bitte akzeptiert unsere Entschuldigung; Unglücksfälle wie diese werden nie wieder geschehen. Das Insekt ist entkommen; wir hätten besser aufpassen müssen.« »Wir werden es jagen und töten«, meinte Blitz fest. Sein Gesicht zeigte einen leidenschaftslosen, freudlosen Ausdruck. Er stand neben der Tür und warf hin und wieder einen prüfenden Blick auf Felchens Begleitung. »Darin sind wir gut; das ist unsere Aufgabe. Ich werde mit jedem Entschädigungsvorschlag einverstanden sein. Gestattet uns zumindest, Euch einen Rat zu geben und Wiedergutmachung für Eure Leute zu leisten.« »Ich werde mich darum kümmern«, bot Zaunkönig an. 231 »Ja, das wissen wir; sei ruhig!«, sagte ich. »Die Bibliothekare sehen in den Karten nach«, meinte Felchen. »Sie haben mir gesagt, dass der Abwasserkanal den öffentlichen Platz trockenlegt und sich sechshundert Meter weit durch ganz Kapharnaum verzweigt. Also habt ihr einen legendären Menschenfresser als Objekt der Bewunderung mitgebracht und ihn im System unter unserer Stadt verloren. Ich bin verblüfft.« »Das kann ich nicht so rasch übersetzen«, beklagte ich mich. »Sollte Tris doch nur einmal wieder mit dem Schloss in Verbindung treten«, bat Raa den Senator, »benötigen wir einen Sprecher; einen Gouverneur, seht Ihr. Sagt mir, was Ihr wollt!« »Der Senat will, dass ihr geht.« »Nein. Sagt mir, was Ihr wollt.« Felchen wurde blass. Er unterdrückte seinen Ärger, breitete die trockenen Hände aus wie eine Vogelscheuche, die Akkordeon spielt, und sagte: »Ich habe einige Worte auf Awianisch gelernt: Verschwindet!« Er schob seinen Stuhl zurück und wandte sich zum Gehen. »Nein, wartet!«, forderte ihn Raa auf. Sie berührte den Stuhl, bat den Mann, sich wieder zu setzen, obwohl ihm augenscheinlich nicht wohl zu Mute war. Seufzend füllte sie ihm das Kaffeeglas nach. Ohne mich anzusehen sagte sie: »Komet, zeig doch mal, was für ein schlaues Kerlchen du bist!«
»Ich meine, wir sollten aufhören, sie zu beleidigen. Wir sollten San Bericht erstatten und seinen Anweisungen folgen. Ich weiß nichts von dieser Stadt, aber wir sind Sans Diener. Ich meine, er sollte den gesamten Senat zum Gouverneur machen; sie treffen anscheinend Entscheidungen mit einer Stimme.« »Interpretiere das nicht«, sagte Raa. »Vergiss den starrköpfigen, tyrannischen Senat. Der gemeine Mann von Kapharnaum wird etwas wollen. Ich verstehe das Verlangen nicht, das 232 ihn antreibt.« Sie schritt zu den Achterdeckfenstern und sah hinaus. »Alle Menschen, denen ich begegnet bin, wollen mehr, als sie unbedingt brauchen. Eigentlich giert jede einzelne Person nach weit mehr, als sie braucht.« »Rhydanner nicht«, meinte ich. »Ju, sie sind der eindeutige Beweis meiner These. Rhydanner sind niemals genügend betrunken.« Sie gab mir im Vorübergehen einen Stoß und nickte wiederholt zum Fenster hin. Dort draußen sah ich eine Menge, zumeist aus Männern, die sich auf dem Kai versammelte. Dreizacke glitzerten in ihren Händen ebenso wie die Netze und Schwerter, die wir ihnen verkauft hatten. Sie standen in einem passiven Schweigen da, das ich unglaublich erschreckend fand. »Blitz, komm her und sieh dir das an!« Blitz murmelte: »Sie halten das Reich für eine weitere kleine Insel.« »Felchen«, sagte Raa, »Unsterblichkeit ist das bedeutendste Angebot, das wir Eurem Volk unterbreiten können. Allein die Möglichkeit wird Euch müßige Zaskai antreiben! Tris stagniert derart, dass ich daran fast ersticke. Allerdings hat es sich während mehreren hundert Jahren nicht verändert. Ihr werdet das Reich nicht zurückstoßen, sobald Ihr seine Schätze gesehen habt - die himmelstürmenden Türmchen von Awia, die Mühlen von Hacilith! Jeder möchte ein Eszai sein! Warum den Vorschlag zurückweisen? Wollt Ihr Euch nicht hervortun? Wollt Ihr nicht wissen, wie die Welt in fünfhundert Jahren aussehen wird?« Eine Zeit lang blieb Felchen stumm, dann murmelte er etwas, das den Rhythmus eines Zitats hatte und durch und durch resignativ klang. Er schoss mir einen neidischen Blick zu. »Vielleicht erringen wir keine Unsterblichkeit und werden nie imstande sein zufliegen, aber wir alle wollen gleich bleiben. Wir bewahren Frieden und unseren eigenen Rhythmus. 233 Allein euer Kommen droht bereits, dieses Gleichgewicht zu zerstören.« »Gebt uns ein paar weitere Tage!«, versuchte es Raa nochmals. »Wir können einen weiteren Käfig aus Gold kaufen. Se-rein wird das Insekt finden.« »Die Entscheidung des Senats lässt sich ohne siebentägige Debatte weder aufheben noch verändern. Ihr müsst heute noch abfahren.« »Ich muss genügend Wasser für die Reise bunkern«, gab Raa zurück. »Wir fahren morgen.« »Ja, das werdet ihr.« Felchen zog sich den kurzen Mantel enger um den Leib, stand auf und verließ die Kabine. Blitz trat beiseite, um ihn durchzulassen. Raa stieß einen unterdrückten Schrei aus und ballte die Fäuste. »Ah! Verdammt, Jant, ich habe noch eine Chance«, sagte sie auf Prärieländisch. »Folge ihm!« »Was hast du gesagt?«, wollte Blitz wissen. »Schließe Zaunkönig nicht aus!« »Das ist privat!«, fauchte sie. Oben an Deck wurde Felchen von seinen Freunden umringt. Er wirkte zuversichtlicher, als sie ihm auf den Rücken klopften, und sie marschierten einer hinter dem anderen das Fallreep hinab, wobei sie ihn vor sich hertrieben. Raa erwischte den Zipfel seines grün gesäumten Mantels. Der Ex-Fischer entwand ihn ihr und funkelte sie an. »Jant«, sagte sie, »sage ihm dies: Ich kann ihm ewiges Leben schenken. Es spielt keine Rolle, ob wir Zuneigung zueinander verspüren oder nicht.« Sie raubte mir den letzten Nerv. Wir steckten gewiss ziemlich tief in der Tinte, wenn Raa bereit war, ihre letzte Karte auszuspielen. »Meinst du etwa ...?«, fragte ich zweifelnd. Ihre Stimme war bar jeder Unbestimmtheit. »Ju! Ich mei234 ne Ehe! Eine Verbindung durch mich zum Kreis. Zeit ist ihre Währung, also ist Unsterblichkeit mein kostbarstes Angebot an einen einzelnen Mann.« »Ich halte das nicht für eine gute Idee.« »Sag's ihm, verdammt - wir haben keine drei Tage, um darüber nachzudenken!« Ich wiederholte ihre Worte für Senator Felchen. Er musterte sie wortlos einen langen Augenblick. Angewidert verzog er den Mund. »Nein. Wie könnt Ihr es wagen, mich bestechen zu wollen, damit ich dem Entschluss des Senats zuwiderhandele? Ihn betrügen! Verschwindet! Und kehrt nie, nie wieder zurück!« Er schritt das Fallreep hinab, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Während der folgenden Stunde schmolzen die Karphanai weg wie Schnee in der Sonne und ließen einen Hauch Feindseligkeit zurück. Ich durchsuchte die Straßen mit Raas Teleskop nach dem Insekt, während auf den Schiffen ein geschäftiges Treiben herrschte - Vorbereitung auf die Heimreise. »Naja«, sagte ich verlegen. »Das hast du aber völlig in den Teich gesetzt, Ata Dei.«
»Morgen«, brummelte sie, »kehren wir dieser verdammten Inselstadt Rücken und Ruder zu.« Niemand sah zu, wie wir in See stachen. Als sich unsere Segel mit Wind füllten und unsere Galionsfiguren aufs offene Meer hinauszeigten, spürte ich meine Angst Bergeshöhen erklimmen. Ich wollte nicht so bald wieder dort hinaus. Ich überlegte, dass die Trisianer niemals mehr den Blick zu jemandem heben würden wie Raa oder dass sie niemals mehr in einen Zweikampf mit einem Herausforderer von einem so unstillbaren Ehrgeiz gezwungen würden wie Raa. Wen hier kümmerten die selbst auferlegten Ausscheidungswettkämpfe des Schlosses? Eine halbe Minute Unterschied im Laufen bei 235 einer Herausforderung könnte buchstäblich meinen Sturz bedeuten. Ein Millimeter Abstand auf einer Zielscheibe bedeutet Leben oder Tod für Blitz. Die Trisianer werden nie etwas von unserer Genauigkeit oder unserem körperlichen Zustand erfahren, dann wiederum werden sie sich niemals um einer Sache willen erschöpfen. Mein Gott, wie sehr ich sie mochte! Ich saß am Heck, spielte eine rhydannische Variante eines Fadenspiels und sah zu, wie Tris in der Ferne schrumpfte. Der Wind trieb die Wolken zu einer dicken Bank um seine Skyline zusammen. Unsere Karavellen zogen eine Spur zum Hafen von Kapharnaum zurück, aber dann verzerrten und bedeckten die Wellen sie, als wäre das Meer entschlossen, den Pfad zu verwischen, den wir hineingebrannt hatten. Ich hoffte, dass Raas spektakulärer diplomatischer Fehlschlag in Vergessenheit geraten würde, und wünschte, dass Tris schließlich ein Gebiet wie die Dunkelberge werden würde, das Teil des Reichs ist, von dem jedoch niemand erwartet, dass es sich beteiligt; unglücklicherweise hatten die Insel Tris und ihre Bewohner mehr zu bieten als die Dunkelberge. In jener Nacht sah ich die Lichter von Kapharnaum, jedoch nicht das Land, was mich davon überzeugte, dass die Stadt auf dem Ozean trieb. Am folgenden Morgen war Tris am Horizont so winzig geworden, dass ich meinen Daumen darüber legen konnte. Zum Mittagessen war es ein kleiner Flecken; am folgenden Tag war es verschwunden. KAPITEL 12 Nachdem wir am Abend des 10. Mai die Insel aus den Augen verloren hatten, blieb mir nur noch, das Meer als müßiger Passagier zu überqueren. Die Melowne und die Sturmschwal236 be segelten über die Längengrade hinweg - zwei Schiffe, die stolz aus dem Ozean ragten. Ich machte es mir in meinem Schlafsack auf dem Kabinenboden gemütlich, neben mir einen Becher Kaffee, Kat sowie etwas Süßholz zum Kauen. Dann füllte ich meinen silbernen Federhalter, stützte das Buch sorgsam auf meine aufgestellten Knie und begab mich ans Lesen. Ich transkribierte das erste Kapitel des kleinen Bandes, den ich aus der Bibliothek gestohlen hatte, Eine Geschichte von Tris, von Sillago aus Kapharnaum. Im Jahre 416 - ein Datum, das jedes Schulkind kennt - trafen Galeeren vom Festland auf unserer damals unbewohnten Insel ein und ankerten in der Mündung des Olio. Am darauffolgenden Tag wurde die Siedlung Kapharnaum auf dem Nordufer gegründet, und die mächtigen Galeeren wurden den Fluss hinaufgezogen und in Brand gesetzt, ein bemerkenswert symbolischer Akt, der die Morgendämmerung unserer gegenwärtigen Gesellschaft markierte. Warum verließ diese kleine Flotte von Galeeren das Festland und setzte ihre Hoffnung in die Erschaffung eines neuen Landes? In diesem Buch möchte ich die These aufstellen, dass der Grund hierfür das Einsickern eines Insektenschwarms ins Festland war. Das einzige Manuskript, das aus Pentadrika überlebte, nämlich Kapelins Bericht über die zweite Dekade des fünften Jahrhunderts, ist für mich Grund zu behaupten, dass Insekten in Wahrheit existierten und keine symbolischen Kreaturen waren, wie es uns kürzlich in Mode gekommene Theorien glauben lassen wollen. Mein geschätzter Kollege Vadigo von Salmagundi hat mich bei zahlreichen Gelegenheiten wegen meines Glaubens an die Insekten kritisiert. Meine Forschung basiert jedoch hauptsächlich auf dem kostbaren Kapelinmanuskript, das in der Bibliothek 237 des Amarot aufbewahrt wird und mit dem sich mein Kollege nicht weiter beschäftigt, mag sein, weil es so weit entfernt von Salmagundi liegt. Die Königin von Pentadrika, Alyss, unternahm mit ihrem Gefolge - einem rudimentären Senat - von ihrem liberalen und aufgeklärten Land, das als Juwel von Fünflanden bekannt war, eine Reise, um ihre Neugierde über Berichte von angeblich gesichteten Insekten zu befriedigen. Kapelin, ein Schreiber am Hof von Pentadrika, berichtet, dass im Tal des nordöstlichen Awia plötzlich fünf Insekten aufgetaucht und Objekt vielfacher Neugier geworden seien. Offensichtlich beschränkten sich die Insekten freiwillig auf ein kleines Gebiet hinter einer Mauer. Die Awianer in der Nähe beobachteten den umgrenzten Bereich und warfen Scheite hinein, und da tauchten so jäh hunderte weiterer Insekten auf, dass die Awianer um ihr Leben laufen mussten. Kurz bevor Alyss die Grenze erreichte, brachen die Kreaturen hervor und verschlangen die Königin und ihr ganzes Gefolge. Insekten verwüsteten die Felder, fraßen das Getreide und bauten ebenso energisch wie unsere eigenen Ameisen. Kapelin berichtete, dass mehr Insekten hervorkamen, als in das kleine Gebiet gepasst hätten, aber dies mag eine verständliche Übertreibung oder poetische Ausschmückung sein. Ein Gesandter brachte die Nachricht von Alyss' Tod zu ihrem Palast und zum König von Morenzia in Litanei. Verschiedene morenzianische Adelige machten sofort ihren Anspruch auf die Regentschaft von Pentadrika geltend - soll heißen, ihren Anspruch auf den Thron.
Die rauen südlichen Pferdemenschen, die Prärieländer, begriffen, dass sie ebenfalls Land erringen konnten. Unseligerweise wissen wir nicht, wie ein Pferdemensch aussah. Die menschlichen Morenzianer kämpften mit den Pferdemenschen um Pentadrika, und viele morenzianische Adelige ka238 men ums Leben. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass diejenigen Pentadrikaner, die ihre Städte und Weiler verteidigten, wenig gegen die Beutezüge der Barbaren jenseits ihrer südlichen Grenzen ausrichten konnten. Kapelins quälende Beschreibung von der Zerstörung der Ortschaft Linchit bildet den Anhang dieses Buchs. Das Königreich Awia unternahm den Versuch, den Widerstand gegen die Insekten zu organisieren - vermutlich, indem es junge Männer sammelte und deren Jagdgesellschaften jetzt darum ersuchte, die Menschenfresser einzufangen. Wir wissen mit Sicherheit, dass tausende Awianer nach Süden umgesiedelt wurden und sich nördlich von Pentadrika niederlassen sollten. Historiker, die Vadigo folgen, haben festgestellt, dass die Geschichte von diesem Zeitpunkt an glaubwürdig klingt, haben jedoch keine Kriterien für ihre Methode angegeben, wie sie zwischen Wirklichkeit und Allegorie unterschieden. Sowohl Awianer als auch Pentadrikaner wandten sich an San um Hilfe. Dieser mythologischen Gestalt sollte Gott, bevor er die Welt verließ, ewiges Leben verliehen haben; um die Welt in Gottes Sinne zu unterweisen. San scheint ein fahrender Gelehrter gewesen zu sein, der sämtlichen Höfen der betroffenen fünf Länder als objektiver Ratgeber diente und von ihnen respektiert wurde. Kapelin geht davon aus, dass seinen Lesern Sans Identität bekannt ist, und liefert keinen Beweis zur Stützung der These seiner Unsterblichkeit. Vielleicht handelte es sich um ein Gerücht, das um einen extrem geschickten und möglicherweise alten weisen Mann kursierte, da man der Vorstellung unmöglich Glauben schenken kann, dass er vierhundert Jahre vor Auftauchen der Insekten die Welt durchwanderte. Einige Theoretiker postulieren, dass San ein Gott in einer anderen Verkleidung war; einige meinen, dass das Auftauchen von Insekten ein Zeichen für die Rückkehr Gottes sei 239 oder dass Gott die Absicht habe, die Insekten über die Menschen triumphieren zu lassen und die nächste Phase der Schöpfung einzuleiten. Die Frage, ob es überhaupt einen Gott gibt, ist nicht Gegenstand der Debatte in diesem Buch. San verstand ganz offensichtlich, dass die Insekten die größte Bedrohung darstellten, da er versuchte, Truppen zu organisieren, die sie jagen sollten. Wenn Insekten eine Art Metapher für Dekadenz und niemals buchstäblich als Tiere zu verstehen waren, welche Erklärung sollten wir dann für Sans Entscheidung anführen, wie sie in Kapelins Dokumenten aufgezeichnet ist? Dies ist der beste Beweis dafür, dass Insekten, was sie auch sein mochten, etwas Greifbares waren. San gab dem Adel von Morenzia die Schuld an dem Bürgerkrieg, und obwohl einige ihn nach Awia begleiteten, gingen die Kämpfe in Pentadrika weiter. Völlig zusammen brach das Land im Jahre 415. Dass die Kämpfe so heftig gewesen sein sollen, erscheint für unsere Sichtweise weit hergeholt, aber man darf keinesfalls vergessen, dass im fünften und um das fünfte Jahrhundert herum alles Land im Besitz von Individuen war, deren Überleben davon abhing. Die Zeiten vor dem Senat waren in der Tat schwierig. Ein weiterer Grund, weswegen die Siedler einen Senat gründeten, war das schlichte Entsetzen vor der Tatsache, dass dieses ganze Durcheinander seine Ursache allein im Tod dieser einen Frau hatte, der wunderschönen Alyss. Um Frieden zu stiften, teilte San Pentadrika, das einstige Zentrum von Fünflanden, zwischen Awia, dem Prärieland und der neuen Republik Morenzia auf. Jene drei expandierenden Länder wurden vereinigt, und die Feindseligkeiten ebbten ab. San schlug vor, Freiwillige aus diesen Ländern gegen die Insekten zu führen. Umgekehrt trafen sich mehrere Führer in 240 Alyss' leerem Palast und erklärten ihr Einverständnis, das Gebäude San zu überlassen und ihn zum Imperator zu erheben. Jetzt kommen wir zum aufregendsten Teil von Kapelins Bericht. Aus allen Ländern kamen Scharen von Menschen zusammen, die der Gedanke an einen Mann entsetzte, der, wie weise er auch sein mochte, über die Welt sein Szepter schwingen sollte. Sie trafen sich an der Küste, und ihre Zahl war etwa eintausend. Awianische Flüchtlinge arbeiteten bereitwillig mit Männern und Frauen zusammen, die loyal gegenüber Pentadrika waren und nicht unter der Herrschaft von wilden Pferdemenschen und habsüchtigen Adeligen stehen wollten, die vor so kurzer Zeit erst ihr Land dermaßen ausgeplündert hatten. Sie kamen zur Übereinkunft, zu einer Insel zu fahren, die den Bewohnern Pentadrikas wohlbekannt war. Unter der Deckung der Sommernacht entflohen sie mit einer kleinen Flotte von Galeeren dem Festland. Wenn man heutzutage am sandigen Ufer des Olio entlangspaziert, benötigt es keine große Vorstellungskraft, um die von der Fahrt zernarbten Galeeren vor sich zu sehen, die den Fluss hinaufrudern und deren einzelnes quadratisches Segel schmutzig und zerfetzt von den Widrigkeiten der Überfahrt herabhängt. Allerdings ist der Ort der Landung numinos und sakrosankt, als wären die Geister der ermatteten, jedoch eifrigen Flüchtlinge nach der langen Reise immer noch am Ufer lebendig. Die Gründung des Senats sowie der Kolonie von Kapharnaum, ihr herausragendstes Werk, brachte uns dorthin, wo wir heutzutage stehen. Unter der weisen Regierung des Senats wuchs und gedieh die Kolonie. Kapharnaum
vergrößerte sich rasend schnell, und im folgenden Jahrhundert zeigte es seine gegenwärtige strahlende Schönheit, die zusammen mit den Einzelheiten der Geburt der Gemeinschaft von Farrago Thema meines nächsten Kapitels sein wird. 241 Ich wendete die Seite um und hätte vor Erstaunen fast das Buch fallen lassen. Dawar ein Porträt des Imperators San. Ich erkannte ihn sofort auf der ganzseitigen Illustration, obwohl er nicht im Thronsaal auf seinem Podest vor dem Sonnenbanner aus Elektron saß, sondern auf einem Felsen, und Kniehosen trug. Ein schwarz-weißer Umhang um seine Schultern wurde von ringförmigen Broschen gehalten. Er hatte einen Eberspeer über die Knie gelegt, den er in seinen drahtigen, gefurchten Händen festhielt. Im Hintergrund war ein grünes Feld zu sehen, und die Tupfer darauf waren Städte, winzige Ansammlungen von wunderschönen Kuppeln und Stufengiebelhäusern in weiter Ferne. Sie erinnerten mich an die zerbrochenen Kuppeln des alten Awia, die aus Papierland hervorragen; Awia hat seit fast zweitausend Jahren keine Kuppeln mehr erbaut. Als die Insekten ihr Land gewaltsam nach Süden ausgedehnt hatten, hatte Awia bewusst den Stil seiner Architektur geändert. Dadurch wollte es einen neuen Anfang symbolisieren und seinen Trotz ausdrücken. San wirkte nicht ernst und bedrohlich, sondern freundlich. Er lächelte und sah aus wie der Hauptmann eines Heerbanns; wie einer von uns. Die Bildunterschrift lautete: San, aus der Stadt Haclyth, zum Imperator erhoben Im Jahre 415, bei der Auflösung von Pentadrika. So hat, dachte ich, San ausgesehen, als er der einzige Unsterbliche war; der Ratgeber wurde zum Krieger, als in einer anderen Welt Insekteneier ausgebrütet wurden, Insekten in Scharen herauskamen und der Schwärm sich über das friedliche Awia ergoss. Man würde große Weisheit anhäufen, wenn man solche Zeiten durchlebte, Zeuge unglaublicher Ereignisse wurde - Räuberbanden aus Litanei füllten den leeren Raum, den Alyss hinterlassen hatte, und stürmten zu Pferde durch stehendes Getreide und den Rauch brennender Hütten aufeinander zu. Vielleicht wurden die nomadischen Prärie242 länder etwas sesshafter, sobald sie das Ackerland von Pentadrika errungen hatten, so dass Prärieland etwa sechzehn Jahrhunderte später doppelt so groß ist, Kaufmannsfamilien in Morenzia herrschen und sich in Sans Geburtsstadt Wasserräder in Fabriken drehen. Einiges von Sillagos Geschichte entsprach dem, was ich bereits wusste. Ich war begierig darauf, Blitz meine Übersetzung zu zeigen, weil er mir gesagt hatte, dass sein Gut aus dem Land geschaffen worden war, das ursprünglich zu Pentadrika gehört hatte. Dort waren sie aus den Weingärten in den Hügeln von Donaise erblüht. Im Jahr 549 hatte der Reichtum, den seine Familie während des Goldrauschs erworben hatte, sie auf den Thron gebracht. Die Dynastie der Murrelet fand ihr Ende, und Esmerillion Glimmerwasser machte ihre Stadt zur Hauptstadt von Awia. San hat seine Stellung als Imperator über sechzehn Jahrhunderte hinweg behalten, dachte ich. Der gegenwärtige Kreis ist bloß sein neuestes System. Wenn er den Kreis nicht gegründet hätte, wäre er vielleicht nicht mehr Imperator. Im Jahre 619 musste er der Absetzung sehr nahe gekommen sein, als der erste Kreis geschlagen worden war. Unsere Unsterblichkeit erscheint im Vergleich zu Sans langem Leben gefährlich vergänglich und instabil. Was würde wohl geschehen, wenn er ein besseres System fände und uns nicht mehr benötigte? Ich hörte auf zu transkribieren und las einfach weiter, bis mir die Augen schmerzten. Kerzenschein beschattete die Struktur des Papiers. Sillagos Prosa stellte mein Verständnis des alten Morenzianisch auf eine harte Probe, aber ich blieb völlig in Tas versunken, was in der Bibliothek des Amarot bloß ein fleckiges Buch war, für Vierlanden jedoch ein kostbares Artefakt. 243 Als ich aus meiner Höhe herabkam, empfand ich zum ersten Mal das Wiegen der Wellen eher einschläfernd und nicht bedrohlich. Draußen rief die Pfeife zur Drei-Uhr-Wache. Mit dem warmen Gefühl, etwas erreicht zu haben, nickte ich ein, beschützend über dem Buch zusammengesunken, die Seiten mit einer liebevollen Hand aufgehalten. Ich erwachte davon, rasch Atem geholt zu haben. Horchend lag ich da, voller Furcht, mich umzuschauen. Ich hatte den Eindruck, dass etwas über mir stand. Schließlich war ich an den weiten Himmel gewöhnt und die endlose Größe des Schlosses - die Melowne war eine klaustrophobisch enge, dahintreibende hölzerne Kiste. Ich zwang mich dazu, die Kabinentür aufzudrücken und in die leere Nacht hinauszusehen. Und ich dachte: Mist, jemand hat den halben Mond gestohlen. Aber es waren nur Wolken, glaube ich. Ich muss mehr darauf achten, was ich trinke. Dünne, purpurfarbene Zirruswolken jagten unter den Sternen dahin. Niemand war da. Nur ein schlechter Traum, redete ich mir ein. Geh was raus an die frische Luft! Ich stieg zur Galerie hinab und sah aufs Wasser hinaus. Der offene Ozean war eine Wildnis. Vom einen Rand der ungeheuren Schwärze bis zum anderen gab es kein sichtbares Leben. Aber das endlose Geräusch und die endlose Bewegung ließen den Ozean selbst wie ein Tier erscheinen. Die ganze fiebrige See war in einer Weise entsetzlich lebendig, wie es die starren Berge niemals sein konnten. Wiederum überschwemmte mich ein eiskaltes Gefühl. Etwas stimmte nicht. Was war das? Neben der Melowne, etwa zehn Meter von der Hülle entfernt, verlief ein Loch in dem tintenschwarzen Wasser, in dem sich etwas im Schein der Lichter von der Melowne silbrig widerspiegelte. Ist das Loch wirklich? Es muss wirklich sein, ein Spiel des Lichts würde nicht so lange fortwähren.
244 Mittlerweile glaubte ich, sämtliche Phänome des Meeres zu kennen. Ich wich zurück; war etwas Bewusstes dort? Ich warf einen Blick zum Ausguck im Krähennest hinauf, aber er starrte direkt geradeaus. Entweder hatte er es nicht bemerkt, oder er hielt es für nichts Besonderes. Der Wind kam unmittelbar von achtern. Die Einkerbung im Wasser war vorn zugespitzt und abgerundet im Innern. Ich sah die gegenüberliegende innere Wassermauer in etwa zwei Metern Tiefe. Die Wellen brachen sich daran, fielen jedoch nicht ins Loch hinein. Es war, als würde etwas das Salzwasser hinabschieben, als würde es von der Hülle eines nicht existenten Schiffs eingedrückt. Die Einkerbung überholte uns und schwenkte ab, wobei sie sich auflöste, je weiter sie sich entfernte. Das Loch füllte sich und hinterließ eine glatte Oberfläche. Mehrere Minuten starrte ich das Meer an. Hatte ich es mir eingebildet? Dann durchbrach eine Flosse die Oberfläche. Ich focht einen Kampf mit der Perspektive aus, während das schwarze Dreieck immer weiter in die Höhe stieg. Seine nasse Spitze erreichte die Höhe der Galerie der Melowne und stieg dann noch weiter bis zur Höhe des Decks. Ich hätte sie berühren können. Sie war volle fünf Meter hoch. An ihrer Basis tauchte der raue Rücken eines Hais auf, eine dünnere, etwas gestrecktere Form als das Schiff. Weit hinter unserem Heck ragten die Spitzen der Schwanzflossen empor wie eine zweite Rückenflosse und bewegten sich im Wasser hin und her. Ich erstarrte. Der Hai war ebenso lang wie die Melowne. Fünfzig Meter lang. Es gab Ungeheuer hier draußen. Ein Zucken seines Schwanzes, und wir wären nur noch treibende Splitter. Der Hai schwamm neben uns her. Plötzlich fragte ich mich, warum der Ausguck ihn nicht gesehen hatte. Ich beugte mich über die Galerie. »Estragon?«, rief ich. »Estragon? Estragon!« Die Rückenflosse wälzte sich vom Schiff weg, so dass die Brustflosse an die Oberfläche kam. Das silbrige 245 Fischauge des Hais, groß wie ein Rundschild, starrte eine Sekunde lang direkt zu mir auf. Wasser floss durch offene Kiemenschlitze, die wie lose, meterlange Wunden aussahen. Er wälzte sich zurück. Wasser stieg um die Rückenflosse auf, als der Leib auf Höhe unseres Kiels zurücksank. »Estragon ...?« Der Hai wand sich einmal, langsam, von links nach rechts über die gesamte Länge hinweg. Seine gewaltige Kraft ließ die Flosse an mir vorüberjagen, schließlich den langen, gebogenen Rücken, die vertikalen Schwanzflossen. Dann war er verschwunden, tief unter dem Schiff. Mir wurde die Panik auf dem Hauptdeck über mir bewusst. Blasse, erschrockene Gesichter erschienen an der Reling. Rufe in drei Sprachen hörten abrupt auf, als Fulmers Stimme etwas brüllte. Estragon hatte gesagt, sie wolle über uns wachen. War sie es dort unten? Ich hatte sie für einen niedlichen Fisch gehalten; ich hatte erwartet, dass sie von der Größe einer jungen Frau sei. Ich hatte nicht gewusst, dass sie ein Leviathan von hundert Tonnen war. Fulmer glitt die Leiter hinab und stellte sich mit eindringlichem Blick vor mich. »Bist du wach, Jant? Da draußen ist nichts.« »Was es auch war«, flüsterte ich, »es ist weg.« Um meines Sinnes für die Wirklichkeit willen war ich erleichtert darüber, nicht sehen zu können, wohin Estragon verschwunden war oder was sie mit ihren kalten Membranaugen unter Wasser sehen konnte. Zaunkönigs Tagebuch Juni 2020 Heute hatten Raa und Fulmer einen heftigen Streit, und einer der Matrosen ist mit dem Tode bestraft worden. Man hat246 te ihn dabei erwischt, wie er einen goldenen Stiefelkratzer aus einer Truhe im Vorschiff der Melowne gestohlen hatte. Er hatte zu den Matrosen gehört, die nicht an Land gegangen waren, weil wir abgefahren waren, bevor die Reihe an ihn gekommen wäre. Die Männer, die keine Gelegenheit gehabt hatten, Kapharnaum zu sehen, sind sehr unruhig. Fulmer beharrte auf der Wahrung der Disziplin, und die Strafe für den Diebstahl eines Frachtstücks auf der Fahrt ist der Tod. Alle Fahrzeuge, die das Meer befahren, unterliegen dem morenzianischen Gesetz. Es ist härter als Awias Justiz; ich glaube, weil Awia in größerer Gefahr steht, von den Insekten weggewischt zu werden, wissen wir es besser, als unserem eigenen Volk zu schaden. Aber Fulmer sagt, dass er auf See keine Gnade walten lassen dürfe, um Meutereien zu unterbinden. Dieses Schiff unter dem Kommando Fulmers ist das Vermögen einer Dynastie wert. Es ist so voll gestopft, dass ich im Sitzen zwischen Säcken von Nelkenpfeffer schlafen muss. Fulmer sagte, falls die Matrosen nach Lust und Laune stehlen dürften, bliebe nichts mehr übrig, wenn er schließlich Tangare erreichte. »Ich verbiete es dir!«, schrie Raa Ata. »Nach den ganzen Verlusten, die wir durch das Insekt erlitten haben, werde ich keinen weiteren Matrosen mehr verlieren! Steck ihn einfach ins Loch und schiebe den Riegel vor! Nimm dein >Ich muss ein Exempel statuieren< und stopf s dir sonst wohin!« »Ich bin die ständige Einmischung der Eszai leid!«, schrie Fulmer zurück. »Ihr seid nicht besser als alle anderen, nur weil ihr eine Ruderpinne oder ein Schwert bedienen könnt!« Ich lernte, dass auf See ein Kapitän wie ein Gouverneur ist; in einer Gesetzessache können ihm Eszai lediglich raten, ihn jedoch nicht überstimmen. Fulmer blieb eisern, und er hatte das Gesetz auf seiner Seite. Raa hisste ein zusätzliches Segel auf der Schwalbe und 247 rauschte davon, als wolle sie uns im Stich lassen. »Vertraue niemals einer Frau, die etwas beweisen muss«,
meinte Fulmer. »Ja? Alle Mann als Zeugen der Bestrafung!« Jant verweigerte die Teilnahme; er sagte, es sei dumm und brutal. Er sagte, dass bloß Zaskai die Macht so grausam und streng ausübten; dann hingegen müssen es auch nur Zaskai so tun. Er verhält sich noch sonderbarer als üblich; immer wieder bringt er zur Sprache, wie verwundbar unsere zusammengezimmerten hohlen Schiffe seien, sollte tatsächlich ein Meeresungeheuer existieren. Der Dieb wurde an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Die ganze Zeit über bettelte er und wehrte sich. Er war dünn wie eine Zaunlatte, ein Wettergegerbter Mann von der Insel Addald vor dem Kap Güte. Es tat mir leid, dass sein Leben auf diese Weise sein Ende finden würde, wo er so viel gesehen, im Sturm das Kap Brustwehr auf der Südspitze von Morenzia umschifft hatte, die Klöppel- und Teroninsel draußen vor Awia, das Riff der Grasinsel und die wilden Meere rund um die leere Küste der Bucht von Mitohn. Er war sogar so tapfer gewesen und hatte in den wirbelnden Strudeln des Corriwreckan vor Awendin den Anker geworfen. Zwei von Fulmers Matrosen warfen das Ende eines Taus über den Bug und gaben so lange nach, bis die Schlinge hinter uns im Wasser nachschleppte. Sie hielten es auf Hüfthöhe und brachten es hinab aufs Hauptdeck des Schiffs. Ein Ende wurde zu einer Schlinge geformt, und die Fußknöchel des Mannes wurden hindurch gesteckt. Er trat mit beiden zusammengebundenen Beinen um sich und schrie so Grauen erregend um Gnade, dass es sämtliche Männer auf der Melowne bis ins Mark fröstelte. Sie hoben ihn hoch und warfen ihn wie ein Paket über die Seite. Zusammengerollt wie ein Fötus klatschte er ins Wasser; das lockere Tau schlängelte sich im Wasser um ihn herum. Er 248 tauchte wieder auf, sein Kopf ging wild hin und her, und er keuchte und kreischte. Fulmer erteilte einen Befehl, und einige Männer zogen am anderen Ende des Taus, das unter der Hülle entlanglief. Die Rufe des Prärieländers hörten abrupt auf, als sich das Tau straffte und er untersank. Sein Körper wurde, nach wie vor um sich schlagend und Luftblasen ausstoßend, eine große Strecke weit gezogen. Dann verschwand er. Ich vernahm ein Klopfen, als sein Körper über die raue, von Muscheln besetzte Hülle schleifte. Blut wirbelte hoch; es wirkte schwarz. Ich hoffte, dass er die Luft aus den Lungen ausgestoßen und Salzwasser eingeatmet hatte, bevor das Schleifgeräusch eingesetzt hatte. Das nasse Tau rollte sich an Deck auf, Wasser rann von den Händen der Männer, die es einholten. Dahinter rollten andere Männer das trockene Tau ab. Auf halber Strecke ließ Fulmer die beiden Mannschaften innehalten und bot jedem Mann einen Schluck Rum an, so dass der Körper unter dem Schiff blieb, während sie auf Königin Eleonoras Gesundheit tranken. Aber das Tau riss anscheinend und erschlaffte. »Burschen«, sagte Fulmer, »holt ihn ein, ja?« Rasch zogen die Männer das Tau Hand über Hand ein und holten eine blassrosa verfärbte und zerfetzte Masse an die Oberfläche. Das Tau war nicht zerrissen, sondern der Körper. Seine Arme waren abgeschabt, nichts war von ihnen geblieben. Fußknöchel und Füße hatten die Nase geschützt, aber die Beine waren blank bis auf die Knochen. Winzige, von Wasser voll gesogene Muskelfasern trieben davon, hinab in die Tiefen. Fischfutter. Sein Gesicht war verschwunden, geblieben waren bloß noch Augäpfel in einer fleischigen Schädeldecke, an der nach wie vor graue Haarbüschel klebten. Seine Backenzähne zeigten sich im Zahnfleisch. Sein Rücken war gehäutet. 249 Dieser nasse Schädel auf einer Wirbelsäule fiel aufs Deck. Fulmer sorgte dafür, dass es auch jeder Einzelne seiner Mannschaft zu sehen bekam, bevor sie ihn über Deck spülten. Raa ist nach wie vor fuchsteufelswild, und das zu Recht. Ich hoffe, bis zu Gottes Rückkehr zu leben, aber wenn ich sterbe, so schwöre ich, dass es durch Stahl oder Chitin geschieht und nicht durch das Gesetz Morenzias. Ich war in meiner Kabine und legte gerade letzte Hand an die Geschichte von Tris, als auf der Schwalbe eine Reihe Flaggen hochging. Raa bat Serein und mich, zu einem Treffen hinüberzukommen. Ich fand Zaunkönig in einem unangenehmen Gespräch mit Fulmer vor. Wir alle drei dachten an den Schlamassel, den ihre Diplomatie in Tris angerichtet hatte, obwohl nur ich Zeuge des schlimmsten Teils davon gewesen war. »Sie trifft Vorbereitungen für die Landung. Wir wollen Piratenschiffen aus dem Weg gehen, wenn wir die Handelsrouten überqueren, nicht wahr?«, fragte Fulmer, erhielt aber keine Antwort. Da ich flog, erreichte ich die Schwalbe, lange bevor Zaunkönigs Boot über das sanft gekräuselte Wasser gerudert war. »Es ist der zehnte Juli«, sagte Raa. »Ich bin zuversichtlich, dass wir irgendwann heute Vierlanden sichten werden. Behaltet die Küste im Auge! Es ist herzerwärmend, ihr Auftauchen zu verfolgen. Es fühlt sich an wie das erste Mal, wenn einem ein Neugeborenes in den Arm gelegt wird.« Ich nahm einen Schluck Wasser, das schwach brackig schmeckte, was auf die Gewohnheit zurückzuführen war, Meerwasser-Ballasttanks mit Trinkwasser aufzufüllen. Raa sah zu, wie der große, kardanisch aufgehängte Kompass im Gehäuse sich neigte, als ob er mit einer Wünschelrute nach Land suchen wollte. Der Morgenhimmel war von einem leicht pulvrigen blassen Blau, was bedeutete, dass es ein heißer Tag 250 werden würde. Gegen Vormittag war der Dunstschleier weggebrannt und die Temperatur so unerträglich geworden, dass ich in die Takelage hinaufkletterte und mich dort festhielt, ein schwarz gekleideter Seestern in
einem gigantischen Netz, und die Flügel spreizte, um etwas Schatten zu bekommen. Als ich die Augen öffnete, war die strahlende Welt blau gefärbt. Dickes weißes Salz trocknete auf den Heckschnitzereien, verkrustete sie wie die Salzklumpen, die der Heerbann in Teichfallen wirft, um Insekten manövrierunfähig zu machen. Es roch so schmutzig wie Strandgut; ich hörte praktisch, wie es kristallisierte. Walflossen standen wie die Zeiger von Sonnenuhren über dem Ozean. Seemöwen vollführten am Himmel Trapezkunststücke. Wir kamen langsam herein. Der Ausguck im Krähennest der Sturmschwalbe benutzte seine eigene Feder als Plektron beim Gitarrespielen. Zweimal meldete er irrtümlich »Land!«, und Raa knurrte, wenn er es noch einmal täte, würde sie ihm die Zunge herausschneiden und als Wimpel flattern lassen. Auf ihren Schultern zeigten sich winzige, glänzende Flecken eines ernsthaften Sonnenbrands. Ein Schweißfilm bedeckte die goldbraune Haut oberhalb ihrer Brüste, ein überraschender Kontrast zu ihrer cremefarbenen Kleidung. Sie hatte sich das platinblonde Haar kurz geschnitten und hochgekämmt wie die Blüten eines Gänseblümchens. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zur glänzenden Sonne hinüber, und als sie sich entspannte, erschienen die Falten an den Rändern ihrer Augen weiß. Der Abend brach an, und unter der Mannschaft wurde trockener, poröser Schiffszwieback ausgegeben. Die Hitze strahlte von meiner sonnenverbrannten Haut ab und erfüllte die kühle Luft. Am Horizont stieg eine schmale Linie auf und wurde zu einem Teil des Nachthimmels, an dem keine Sterne standen, aber niemand wagte es, etwas zu sagen, bevor Zaun251 könig herübergeschlendert kam und fragte: »Vielleicht habe ich einen Hitzschlag, oder ist das Land?« »Ju, das ist Land«, gab Raa ermüdet zu. Sie hob die Stimme. »Land, ho! Wir sind zu Hause, Jungs! Schickt ein Signal an Meister Fulmer!« Die Matrosen der Melowne lasen die Reihe von Flaggen. Sie nahmen den Ruf auf, und Jubelgeschrei brach auf dem ganzen Schiff aus, in der Bram und unter der Galerie. Vom Halbdeck der Schwalbe ließ man Raa hochleben. Wir waren so weit entfernt von überall gewesen, dass die Sichtung der Kobaltküste wie der Anblick eines alten Freundes war. Wir beobachteten sie mit ungehemmter Freude, jedoch, weil wir sechs Monate lang auf uns selbst gestellt gewesen waren, auch mit leichter Beklommenheit. »Drinks für alle!«, sagte ich. »Aufräumen!«, fauchte Raa. »Wir kehren zurück, wie wir losgefahren sind. Bringt die Decks picobello und nach Art von Sute in Ordnung. Wartet, bis ihr den Fuß an Land gesetzt habt, bevor ihr mit euren Hundezungen losheult, oder ich werde sie euch gleich und jetzt abschneiden, das schwöre ich!« Besessen versuchte ich, die Entfernung zur Küste abzuschätzen - den Augenblick herauszufinden, zu dem ich sicher zurückfliegen könnte. Ich wollte endlich aus eigener Kraft reisen! Noch wichtiger, ich musste sechs Monate an Neuigkeiten aufholen. Ich wollte unbedingt die letzten Nachrichten in Erfahrung bringen und war noch begieriger darauf - und als Kurier sollte ich das auch sein -, San meinen Bericht von Tris abzuliefern. Ich war ebenfalls entschlossen, Nachtigall zur Rede zu stellen und aus ihr die Wahrheit über Tornado herauszuholen. Raa beobachtete mich, wie ich am Bug von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Mit einem Klick steckte sie ihr Teleskop in seinen Behälter zurück. »Du möchtest fliegen?«, fragte sie. 252 »Ich muss alles Neue erfahren.« »Verlass uns bitte nicht! Ich brauche dich, um meinen Bericht von Tris an San abzuliefern. Ich habe ihn gerade erst fertig gestellt.« »Ich beabsichtige, meinen eigenen abzuliefern; das ist Komets Pflicht.« Raa kratzte sich den zerzausten Kopf. »Seit wann warst du objektiv, Shira? Du und dein blöder Lidschatten!« »Es ist kein Lidschatten, es ist spät in der Nacht. Sieh mal, Ata, ich komme gleich zurück. Ich möchte nur eine Zeitung kaufen.« Sie musterte mich gründlich. »Wenn du an Land gehst, versprich, kein Wort von dem verlauten zu lassen, was auf Tris geschehen ist. Ju, Gott weiß, ich kann dich nicht aufhalten, aber ich versuche, diese Entdeckung zurückzuhalten, und du siehst, wie wichtig es ist, nicht zu plaudern.« »Ich bringe dir bloß die letzten Neuigkeiten, das verspreche ich.« »Dann ab durch die Mitte mit dir! Und besorge mir auch ein paar Riegel Schokolade.« Ich landete auf dem dunklen Strand, sprintete vom harten nassen Sand zum trockenen Sand hinauf und stieg daraufhin ein paar Stufen zur Promenade empor. Ich schaute mich um und lachte, weil meine Fußabdrücke an der Stelle, wo ich gelandet war, wie aus dem Nichts auftauchten. Die Tage wurden bereits kürzer; irgendwie kam ich mir verraten und verkauft vor. Es war zehn Uhr abends, und das Künstlerquartier, das seinem Ruf zufolge nie schläft, war gerade dabei zu erwachen. Ein zum Meer hin gerichteter Kiosk hatte geöffnet, wo ein grauer, nach Ziegenbock stinkender Alter bei meinem Anblick gluckste. Auf meine Frage hin, warum, zeigte er auf die Schlagzeilen. »Oh, verdammt!«, sagte ich, kaufte ein Exemplar jeder Zei253 tung, die er dahatte, und stopfte sie in meinen Ranzen. Ich gab dem Mann eine Hand voll Pfundmünzen und für meine fünfzig Pence Wechselgeld schnitt er die letzte mit einer Schere an der vorgestanzten Linie entlang in
zwei Hälften und reichte mir eine. Wie befohlen besorgte ich auch etwas Schokolade, aber als ich die Sturmschwalbe wieder erreichte, hatte ich den größten Teil davon aufgegessen. Ich rief Raa, Blitz und Serein in Raas Büro und breitete die Zeitung auf ihrem Tisch aus: Rebellen wollen Schloss angreifen! Von Gio Ami ausgehobene Truppen rücken gegen das Schloss vor. Madame Gouverneurin Eske hat ihm für seine Sache freiwillig die ersten vier Divisionen der allgemeinen Infanterie sowie mehr als dreißig Mann vom Eliteheerbann zur Verfügung gestellt. Gio Ami hat ebenfalls Insektenmauern brechende Maschinen aus Eske beordert. Darunter sind zwei Rammböcke und sieben Katapulte, möglicherweise mittelgroße Trebuchets, obwohl sich der genaue Typ nur schwer feststellen lässt. Bei Drucklegung dieser Zeitung sind die Maschinen auf dem Weg über die Eske-Straße. Gio Amis Freiwillige und ihre zivilen Unterstützer haben einen äußerst vielfältigen Hintergrund und unterschiedlichste Ansichten. Ihr starker Zusammenhalt ergibt sich jedoch aus ihrer Unzufriedenheit mit der Rolle des Schlosses bei der langsamen Erholung des Reichs vom Schaden, den die Insekten angerichtet haben. Gio Ami wird sich beim zweiten Treffen, das am Donnerstag um Mitternacht in der Fechtakademie von Güte in Eske stattfindet, an sie wenden. In Erwiderung hierauf wurden dem Schloss über viertausend gemeine Soldaten und eintausend Elitesoldaten 254 aus dem Heerbann von Schwingelgras und Shivel zur Verfügung gestellt, die unter dem Befehl von Tornado und Hahgel stehen. Die innere Wache des Schlosses, die königliche Eliteschar, befindet sich in Alarmbereitschaft. Auf der Dogvane-Straße von Güte herab gab es heute sporadisch Zusammenstöße zwischen entlassenen Soldaten, die dem Schloss gegenüber loyal waren, und Rebellen, die versuchten, sich Gio anzuschließen. Turmfalke Altergate 10. 07. 20 »Wie kann Gio es wagen?«, fragte Zaunkönig. »Das geht alles auf seine Kappe! Wir sind ihre Hüter!« »In letzter Zeit ist Vieles geschehen, was zuvor nie geschehen ist«, meinte Blitz ruhig, wie geistesabwesend. »Auf Schiffen liegt ein Embargo«, las ich. Raa presste sich die Hand auf den Bauch und knurrte: »Wie dumm kann man eigentlich sein? Wo steht das?« »Sieh mal, hier! Hier steht, dass Gios Männer Awendin besetzt haben, und nichts kann den Hafen betreten oder verlassen, auch deine Karavellen nicht.« »Oh, um Gottes willen! Wenn ich hier gewesen wäre, hätten sich die Dinge nie so weit entwickelt.« - Ich übersetzte die Artikel in Prärieländisch laut, damit es einfacher für Blitz war, und hob dann das Blatt auf, das er gerade gelesen hatte. Er wies auf einen Kommentar am Ende der Seite hin. »Die große Fahrt dauert einfach ein wenig länger«, meinte er. Die Jagd auf die Insel der Freude ist eröffnet. Während Gio Amis Aufruhr Prärieland durcheinander wirbelt, machen Nachrichten von der Insel Tris die Runde. 255 Sie hat für Aufregung im Seenland Awia gesorgt. Unser Korrespondent bei Hofe schreibt, dass Königin Eleonora Tangare gestern einen der Seeleute der Expedition von 2019 zu sich berufen habe. Der Hof unterhielt sich bestens bei den bizarren Geschichten des Reisenden aus erster Hand, die zurzeit die Groschenhefte füllen. Der Standard von Waffenschmiede bleibt skeptisch in Bezug auf die Einzelheiten, gibt jedoch zu, dass wohl eine Insel entdeckt wurde, da das Flaggschiff Sturmschwalbe kaum einen Monat nach seiner Rückkehr von der ersten Reise zu einer weiteren aufgebrochen ist. Raas Feststellung, sie sei mit leeren Händen zurückgekehrt, betrachtet man inzwischen als bestenfalls die halbe Wahrheit. Das Schloss muss ihren Vorstoß geplant haben, weil die Sturmschwalbe innerhalb eines Monats ausgebessert und mit Vorräten bestückt wurde; das Schloss ist aufgefordert, Behauptungen zurückzuweisen, es sei mit der Wahrheit sehr sparsam umgegangen. Kein Ort ist perfekt, aber Tris kommt nahe heran. Die Insulaner sind Menschen sowohl mit als auch ohne Flügel. Das Klima ist gut, und der Boden an den Hängen des zentralen Berges ist so fruchtbar wie die Weizenfelder auf Pflugschars schwarzer Erde. Der Matrose erzählte, ihre Nahrung habe aus saftigen Früchten bestanden, die er nie zuvor gesehen habe, sowie Fischen mit süßem, reichem Fleisch. Die Kultur erscheint komplex, aber Geschichten von Seefahrern darf man nicht völlig vertrauen. Sie erzählen auch, sie hätten Männer mit Paddeln anstelle von Händen sowie Berge gesehen, die Rauch wie Kamine ausstoßen. Die Insel befindet sich zum großen Teil in einem wilden und natürlichen Zustand. Im Inneren gibt es keine Siedlungen; die Insulaner reisen mit dem Kanu um ihre Felsenküste. Königin Eleonora hat Interesse bekundet, ihre eigene Expedition auszurüsten, ebenso wie Gouverneur Brandoch. Tris 256 bietet Gelegenheit zum Handel sowie einen Platz zur Besiedlung, den man unseren Mitbewohnern anbieten kann, die das traurige Schicksal von Flüchtlingen erleiden. Das Wettrennen darum ist im Gange, Fahrzeuge zu bauen oder zu mieten, die für diese lange Seereise geeignet sind. Ich wurde von einem Aufschrei Zaunkönigs unterbrochen, der auf einen Absatz auf den Sportseiten zeigte: Gio Amis bewundernswertes Lebenswerk wurde durch einen glücklichen Zug Zaunkönigs vernichtet. Darin sind sich alle Reporter einig, die bei jenem unsterblichen Duell anwesend waren. Zaunkönig bewies, dass es keine
universellen Gesetze in der Kunst gibt; der Meister der Güteschen Schule scheint jetzt charakteristischerweise dazu entschlossen, seine Unvorhersagbarkeit bis zum Äußersten zu treiben. Seine Rebellion war für jene von uns unvorhersehbar, die seinen abgeklärten Fechtstil kannten. Sein aggressives Vorgehen im Gefecht war normalerweise sehr kontrolliert, er behielt stets einige Asse im Ärmel. Jetzt gewinnt er Gefolgsleute wie Insektenschwärme, die entschlossen sind, dem Kreis einen tödlichen Schlag zu versetzen. Wie Gio Ami uns gesagt hat: »Serein Zaunkönig ist weg, vielleicht auf See verschollen. Wenn Eszai nicht hundert Prozent für das Reich geben können, sollten sie überhaupt keine Eszai sein.« D. Tir., Herausgeber, »Der Überlegene Fechter« »Also«, meinte Raa, »weiß Gio Ami nicht, wann er abzutreten hat.« Wir alle schwiegen angesichts der Erbitterung dieses Mannes. »Da muss ein Irrtum walten«, sagte Blitz. »Das ist unglaublich! Was gedenkt er denn damit zu erreichen?« 257 Zaunkönig zerriss die Zeitung und warf die Schnipsel auf den Boden. »Ich fordere ihn für euch heraus.« Funkelnd sah er sich unter uns um. »Ich bringe ihn ins Amphitheater zurück und steche ihn ab.« »Ich mache mir Sorgen um seine Gefolgsleute«, meinte Blitz. »Sie werden nicht bei ihm bleiben«, mutmaßte ich. Raa schlug mit der Hand auf den Tisch. »Meine Herren, ich erwarte einen Vorschlag für unseren weiteren Kurs! Schließlich wissen wir nicht, was uns bevorsteht.« »Wir sollten so schnell wie möglich zum Schloss zurück«, sagte Blitz einfach. »Ju, aber ich laufe nicht in Awendin ein und riskiere einen Zusammenstoß mit irgendeinem von Gios Gefolgsleuten.« »Für Schwalbe Awendin lege ich meine Hand ins Feuer«, sagte Blitz. »Nein, nein, nicht so unklug! Wir können keinem Zaskai trauen. Insbesondere nicht Schwalbe, der San den Beitritt zum Kreis nicht gestatten will. Ich werde die Sicherheit meiner Schiffe nicht aufs Spiel setzen. Ich verstecke die Sturmschwalbe und lasse eine bewaffnete Wache darauf zurück. Wie ihr wisst, waren in der Vergangenheit die prekärsten Zeiten für das Schloss jene, als wir die Insekten zurückschlagen konnten.« Blitz nickte und sagte: »Na schön. Serein möchte eine Gelegenheit erhalten, sich zu beweisen.« Am folgenden Tag war das Festland näher gerückt. Anfangs war es eine blassgraue Silhouette, und dann erkannte ich aus zehn Kilometern Entfernung den genauen Punkt, an dem es grün wurde. Je näher wir heransegelten, desto mehr traten die einzelnen Farben an der Küstenlinie hervor. Das Wasser hatte einen blendend hellen Spiegelglanz; das waren die Wellen, 258 die das Sonnenlicht reflektierten. Es war so ruhig, dass es den Eindruck von Festigkeit erweckte, fast so, als könnte ich darauf gehen. Bei fünf Kilometern ging es auf See sehr geschäftig zu; verschiedene Schiffe kamen und gingen, kleine Segel in der Ferne. Sie wichen einander auf Sicht nach links aus, gaben einander den Weg frei; sie riefen einander an, wenn sie sich zur Einfahrt in den Hafen sammelten. Wir waren auf Höhe und Position der Nord-Süd-Hauptroute entlang der Küste, von den Seeleuten die Karrackenstraße genannt, und warfen Anker, und sämtliche Kisten mit der kostbaren Fracht wurden von der Schwalbe auf die Melowne hinübergeschafft. Die Melowne lag tiefer im Wasser und stellte somit ein Ziel für Korsaren dar, also ordnete Raa an, dass nach und nach die ganzen Wimpel des Schlosses eingeholt wurden, bis sie nur noch unter Tangares Zeichen fuhr. Daraufhin trennte sich die Melowne von uns, und Fulmer steuerte sie nordwärts zum Hafen von Tangare, wo, wie er und Raa entschieden hatten, die kostbare Ladung am ungefährdetsten wäre. Springende und blasende graue Delfine säumten unsere Bugwelle; ihre zähen Leiber glitten geschmeidig durchs Wasser. Sie wälzten sich herum, durchbrachen die Oberfläche und vollführten halbe Saltos, als ob sie auf einem Rad herumwirbeln würden. Ich überlegte, was sie wohl für Estragon wären - wahrscheinlich kleine Appetithäppchen. »Wir gehen in einer geschützten Bucht vor Anker, die ich gut kenne«, sagte Raa. Aber wir nahmen Ziel auf einen nackten Kalkfelsen ohne die üblichen Spalten, in denen Häfen liegen. Mir gefiel das nicht sonderlich, also stieg ich auf die Heckreling, spreizte die Flügel und ließ das Schiff unter mir Weggleiten. Ich segelte auf einer Strömung in die Höhe, und der weiße Kalkstein jagte unter mir ebenso wie die Linien aus schwarzem Feuerstein davon, bis ich mich oberhalb der Klip259 pe befand. Ich sah auf das Grasland hinab und begriff, dass das, was ich für eine glatte Wand gehalten hatte, in Wahrheit eine gewaltige flache zerklüftete Felssäule war, hinter der sich die enge Mündung einer Bucht verbarg. Ich schwebte an der Kante entlang, hängte mich in den Wind, der vom Meer hereingeweht kam, und wurde lotrecht die Felsen hinauf getrieben. Die Sturmschwalbe wendete einmal und kam dem Felsen so nahe, dass die Galerie in der Mitte über den Stein kratzte. Raa und ihr Bootsmann wirbelten das Rad zwischen sich herum, und die Schwalbe glitt durch die Passage hinter der Felssäule mit nur wenigen Metern Platz auf jeder Seite. Ich drehte mich wieder in den Wind und flog an der Klippe entlang auf die schmale Bucht zu. Das Schiff sicherte sich am Bug und Heck mit einem Anker. Es lag versteckt, jedoch nur von See her. Jeder auf
dem Gras oben konnte es sehen, wie es zweihundert Meter weiter unten in dem dunklen, stillen Wasser, über das kleine Wellen liefen, ruhig auf und nieder ging. Jede kleine Welle ließ sie tanzen; in ihrem Frachtraum waren schließlich nur Ballast und Bilgewasser. Die Wände um das tiefe kreisrunde Gewässerwaren völlig glatt, aber man hatte aus Fässern eine treibende Landungsbrücke errichtet. Eine Reihe ungleichmäßiger Stufen, die man in den Kalkstein gehackt hatte, führten zu einem Höhleneingang oberhalb der Hochwasserlinie - ein Schmugglerversteck. Da Raa jedoch von ihrem Vorhandensein wusste, wäre ihre Konterbande wohl längst verschwunden. Die Schwalbe ließ ihre Landungsboote hinab und spuckte eine Bande zerlumpter Matrosen aus, die im Gänsemarsch die Stufen zur Höhle hinaufstiegen. Dort verschwanden sie, und weitere Männer folgten ihnen in eine Grotte, die eine solche Anzahl bestimmt nicht fassen konnte. Es war wie ein 260 Zaubertrick. Eine halbe Stunde später tauchte der erste Mann durch ein Loch, das mir zuvor nicht aufgefallen war, oben auf der Klippe wieder auf. Weitere Kopf-Rumpf-Beine folgten, bis sämtliche Matrosen auf dem Gras hockten und Kalkschlamm von ihren Stiefeln kratzten. Blitz und Zaunkönig stiegen als Letzte heraus, vertieft in ein intensives Gespräch. Ich verstand allerdings nicht, worüber sie sprachen, denn ich war allzu sehr damit beschäftigt, mich gegen die herumflatternden kleinen Singvögel zu wehren. Meine große, kreuzförmige Silhouette, die auf ihren reglosen Schwingen am Himmel wie angenagelt erschien, erinnerte sie an einen Adler. Sie flogen wesentlich besser als ich; sie umkreisten meinen Kopf und stießen herab. Ich versuchte, sie um mich schlagend zu vertreiben, aber ihre winzigen Schnäbel waren sehr scharf. Raa zahlte ihre Mannschaft aus und sagte ihnen, wann sie sich im Gasthaus »Zum Puff« in Awendmam-Gestade einfinden sollte, um einen Anteil vom Gewinn des Gewürzschiffs zu erhalten. Sie schärfte ihnen ein, den Mund über Tris zu halten, versprach ihnen in diesem Fall, sie in Zukunft wieder anzuheuern, und entließ sie. Ich flog nach Awendin, wo ich bemerkte, dass die Atmosphäre eine andere geworden war; die Menschen sahen argwöhnisch zu mir auf. Ich suchte die Büros der »Schwarzen Kutsche« auf. Das war ein System aus Postkutschen, das Ställe und Wirtshäuser von Kutschenstationen benutzte. Meine Vorgänger, die auf Pferde angewiesen waren, hatten es aufgebaut. Sein Postnetzwerk stand mir als Komet nominell zur Verfügung, und trotz seiner fast greifbaren Sorge schien der Awendin-Zweig ebenso gut zurechtzukommen wie bei meinem letzten Besuch vor sechzig Jahren. Ich beschaffte mir Pferde aus ihren Ställen für Raa, Blitz und den Fechter und 261 musste einen dreifachen Durchschlag unterschreiben, um einen Zweispänner für unser Gepäck zu bekommen. Dann traf ich mich mit den anderen an der Hauptstraße und führte sie zur Flügelfederstraße in Richtung Gut Eske und Schloss. Das Gefühl der Wellenbewegung vom Schiff währte fort. Ich kam mir vor, als würde ich steigen und fallen, obwohl ich mit beiden Füßen auf festem Boden stand. Es war ein angenehmes Gefühl, das meine Sinne zugleich einschläferte und verwirrte; zusammen mit der Wärme des Scolopendriums versetzte es mich in einen wohligen Zustand. KAPITEL 13 Die Flugfederstraße war eine der Hauptverbindungen, die das Schloss für Truppenbewegungen zur und von der Front angelegt hatte. Sie war so breit, dass zwei Wagen nebeneinander fahren konnten, und ebendiese Wagen hatten tiefe Spurrillen im Kalk des Tieflands westlich von Awendin hinterlassen, wo die Straße ungepflastert war. Blitz, Raa und Serein führten den Zweispänner landeinwärts über eine Heide mit Ginster unter einem Himmel von ebenjenem lebhaften Blau, das auf der awianischen Flagge zu sehen ist. Sie kamen an einer Eichenplantage entlang, die Raa gehörte, dann an einer Obstplantage. Das Sonnenlicht blitzte auf den gestriegelten Flanken der Pferde. Die Metalleinlagen meiner Stiefel spiegelten das Licht und warfen helle leuchtende Flecken auf den Weg. Fliegen ist der egoistischste Zeitvertreib auf der Welt. Es ist alles, was ich je tun wollte. Fliegen ist wie allein sein, jedoch nicht einsam, wie auf dem Auspuff der Welt in die Höhe gefegt zu werden; meine Flügel und der Boden sind zwei Magneten, die einander abstoßen. Der Himmel ist sanfter als die Berührung jeder Gehebten, und an einem heißen Tag da262 hinzugleiten erfordert ebenso wenig Mühe wie schlafen. Gestützt von weicher Luft strecke ich meine Flügel aus und ändere die Richtung mit einer winzigen Bewegung. Ich reise in einer Höhe, die zu groß ist, um von dem Flickenteppich des Ackerlands und den Spielzeughütten aus gesehen zu werden. Ich ließ mich noch höher treiben und versuchte, noch mehr winzige Gutshöfe mit Gräben drum herum und schrumpfende Bäume in mein Blickfeld zu zwängen. Ich sang: »Oh, wir trafen uns im >Erfrorenen Hund<, im Hotel an der Straße des Torfmoors.« Blitz und Raa stritten sich anscheinend. Ich ließ mich hinabfallen und kreiste über ihnen. Meine Pfeilflügel schlugen rasch; das Handgelenk war dabei anmutig gebogen wie bei einem Falken. Ich ging das Risiko ein, die Pferde scheu zu machen, aber ich wollte hören, was der Bogenschütze zu sagen hatte. »Das ist viel schlimmer als damals im Jahr 1509«, wies er Raa wütend zurecht. »Gio Ami ist weitaus verzweifelter als Eske.« »Naja«, meinte Raa, »das finde ich auch, aber das Schloss wird eine weitere solche Revolution schon überstehen, insbesondere, wenn du und ich verhandeln können.«
»Schicken wir Komet voraus!« »Nein. Ich möchte dabei sein, wenn er seinen Bericht abliefert.« »Was war übrigens im Jahr 1509?«, fragte Zaunkönig. »Oh, bring Blitz nicht in Fahrt, sonst wird er vor Anbruch der Nacht den Mund nicht mehr halten.« »Charmant wie eh und je. Zaunkönig, ich werd's dir erzählen. Vor fünfhundert Jahren haben wir die Insekten und ihre Mauer weiter aus Unterland zurückgedrängt als seit Jahrhunderten zuvor. Sie stellten eine geringere Bedrohung dar, also 263 befanden die Güter im Süden, sie seien in Sicherheit. Sie glaubten, das Schloss nicht mehr länger nötig zu haben, also weigerten sie sich, ihre Abgaben zu zahlen. Der Gouverneur von Gut Eske ging voran, und sämtliche Prärieländer folgten innerhalb eines Jahres.« Raa kicherte. »Als die Steuern ausblieben, glaubten viele Eszai, ihre Macht sei dahin, und gerieten in Panik; das hat den Kreis gespalten. Der Seefahrer - mein Vorgänger — führte diejenigen an, die gewaltsam vorgehen wollten, und San hätte ihn fast aus dem Schloss geworfen. Aber Blitz' Diplomatie hat den Sieg errungen, wie sie es jetzt auch wieder tun wird.« »Oh, ja«, sagte Zaunkönig bewundernd. Er rückte näher an Raa heran. »Die Weisheit unseres Imperators«, fuhr Blitz fort, »hat die Situation gemeistert. Wir sind nur seine Diener, was Ata auch sagen mag. Siehst du, San bot Eskes einzigem Sohn einen Platz im Kreis an. Er war ein verdammt guter Reiter und verdiente es, Hahgel zu sein. Gouverneur Eske ist fünfzehn Jahre später an Altersschwäche gestorben, mit nach wie vor unbezahlten Steuern. Sein unsterblicher Sohn erbte das Haus, und der Aufstand brach einfach in sich zusammen.« Sie erreichten den Rand des Steilabbruchs und schauten hinab; das Land senkte sich wie das Innere einer Schüssel zum flachen - oder äußerstenfalls sanft gewellten - Prärieland. Vom geschwungenen, grasbewachsenen Rand, Awendms Grenze, war die gezackte Linie des Eske-Walds am Horizont zu erkennen. Die quadratischen Felder auf dem Hügel waren von der Kalkerde weiß gefärbt; sie sahen aus wie verschneit. Gelbe Flecken aus Gerste mit wuchernden orangeroten Mohnblumen dazwischen bildeten einen heftigen Kontrast zum Himmel und dem halluzinatorisch grünen Gras der Hügelländer. Awendin war ein wunderschönes Gut. 264 Eske und Awendin waren die einzigen beiden Güter von Prärieland im Besitz von Familien, deren Ursprung vor Jahrhunderten in Awia gelegen hatte. Die Güter von Prärieland mochten schwach und altmodisch erscheinen und ewig in Grenzstreitigkeiten verwickelt sein, aber weil das Land keinen zentralen Punkt hatte, waren seine Kulturen stabil, tolerant und ebenso verschieden wie die Landschaften von Prärieland - Menschen des Waldes, der Heide, des Sumpflands von Brandoch und der Pampas von Güte. Am Fuß des Hügels durchwateten Reiter, die Kutschen dabei hatten, das klare Wasser eines Forellenstroms. Staubwolken und Spreu wehten von einer Zehntscheuer über die Straße herüber, wo Schulkinder, die zur Erntezeit Ferien hatten, den gekachelten Fußboden sauber fegten, um ihn für die Getreidevorräte des kommenden Monats vorzubereiten. Sie spähten unter dem Rand des Reetdaches hervor, und die Älteren neigten den Kopf beim Anblick unseres Sonnenzeichens, während die jungen Mädchen sich einander zuwandten und leidenschaftlich kreischten. Ich stieg ab und sagte zu Blitz: »Hier sind weniger Bauern als üblich. Wenn sie sich Gio angeschlossen haben, sind mehr Leute in die Sache verstrickt, als ich dachte.« »Großartig! Das Letzte, was wir neben einem Mangel an Arbeitern und Nahrungsmitteln benötigen, sind Bauern, die sich einer Rebellion anschließen.« Die Luft, die mir die Wölbung der Flügel und die blasseren seidigen Federn darunter streichelte, war so erotisch, dass meine Gedanken wieder zu Nachtigall wanderten. Wie sie kicherte, wenn ich mein kaltes Gesicht in die Schnüre ihres Mieders drückte. Wie sanft ihre Berührung war, so dass ich aufkreischte, sie mich jedoch weiterhin nur streichelte. Ich erinnerte mich an eine Nachtigall, die langsam im Schnee da265 hinschritt, über der Schulter einen Sonnenschirm. Meine Schritte knirschen im Schnee, als ich um die Ecke des schwarzen Herrenhauses husche. Mein Leib stößt mit ihrem zusammen. »Erwischt!« In den Armen des anderen fallen wir in den Schnee, wir lachen und küssen einander. Sie würde meine Flugfedern zurückbiegen, um mir ein Gefühl von Geschwindigkeit zu verleihen, und ich würde ihren ganzen Leib darin vereinnahmen. Mit verwundertem Gesicht sah sie in mein Lächeln auf. Und die ganze Zeit über hatte sie insgeheim eine Affäre gehabt. Knurrend spuckte ich auf ein Maisfeld hinunter. Ich hatte die Pferde vor etwas über zehn Stunden ausgeliehen. Es war eine Stunde her, seitdem wir von der awendinschen Heide herabgekommen waren und das Ackerland erreicht hatten. Es sollte weitere dreißig Stunden benötigen, bis wir im Schloss wären. In fünf Stunden würde die Sonne untergehen. Eine Stunde danach werden wir im Gasthaus »Zum Jungen Schwan« im dichtesten Teil des Waldes eintreffen. In acht Stunden würde ich einen weiteren Schuss benötigen. Es war vier Uhr nachmittags, als wir den Wald betraten. Die Straße führte schnurgerade hindurch; die Räume waren offen, und strahlender Sonnenschein drang durch die Bäume und warf hin und her huschende helle
Flecken auf den Boden. Farnkraut und Angelika spross zwischen den Ausgebleichten Holzstapeln. In den grasreichen Lichtungen stand üppiger roter Fingerhut. Er sah aus wie Gestelle mit Spitzenwäsche. Ich erkannte die Straße deutlich aus der Luft - zwei Spuren von den Wagenrädern, mit Grasstreifen dazwischen. Die Luft über der Straße flimmerte; sie wirkte feucht und glasig. In jedem Loch der Sandspur lag ein silbriger Spiegel, der sich beim Herannahen abschälte und weiter vorn auf der Straße in der aufsteigenden heißen Luft wieder niederließ. 266 Wir kamen an einem gesäuberten Bereich neben der Straße vorüber, der einer Division des Heerbanns als Sammelpunkt diente. Etwa alle vierzig Kilometer passierten wir eine Gaststätte. Diese Kneipen und Ställe waren halb befestigt und von hohen Mauern umgeben. Reisende, Jäger und Arbeiter der umliegenden Höfe konnten dort Schutz suchen, falls Insekten über sie herfielen. Zum Glück hatte es so weit südlich seit zwölf Monaten keine Angriffe mehr gegeben. Ich erachtete den Wald als frei von Insekten; wir hatten die letzten fünf Jahre mit der Jagd auf sie verbracht. Zaunkönig döste auf dem Rücken seines Zelters. Der Fechter hatte das Reiten nie gelernt und saß wie ein Sack Kartoffeln da, das Kinn auf der Brust. Er sackte nach vorn und erwachte ruckartig wieder, so dass ich befürchtete, er würde unter die Hufe von Atas Stute geraten. Ata mit ihrer Denimmütze war in Gedanken. Weil sie die Beine gespreizt und die Füße in den Steigbügeln stecken hatte, spannte ihre Lederhose straff über ihren deutlich ausgeprägten Muskeln. Den Blick hielt sie starr auf die Kehrseite von Blitz' Hengst gerichtet. Blitz kannte den Wald gut, und er liebte ihn. Er ließ seinen Bogen waagrecht auf dem Knie ruhen, einen Pfeil angelegt. Mit einer Waffe in der Hand nimmt man die Umgebung anders wahr. Allein die Tatsache, einen Bogen zu halten, steigert die eigene Aufmerksamkeit für ein mögliches Scharmützel. Blitz horchte auf jedes Rascheln im Unterholz oder jeden brechenden Zweig in den Baumkronen. Er registrierte das »Kock-kock« von Fasanen, das Zirpen der Grashüpfer, das die Hitze angeregt hatte. Er bemerkte den untergründigen Duft von Hirschen und unterschied ihn von dem Gestank der Pferde, vom wilden Knoblauch und vom Tümpelwasser. Seine Sinne waren geschärft - auf dem Land werden Geruchssinn und Gehör nach einer Stunde ebenso wichtig wie der Ge267 sichtssinn. Ein weniger erfahrener Jäger würde bei jedem Spiel der Schatten aufspringen und nach seinen Pfeilen greifen, aber Blitz verströmte Zuversicht. Er wusste, dass man immer mehr Zeit zum Spannen des Bogens und Abschießen des Pfeils hat, als man glaubt. Weiter vorn an der Straße bemerkte ich eine Unruhe. Der Weg erklomm einen flachen Hügel; nahe der Kuppe war er völlig von Leuten versperrt. Auf diese Entfernung erkannte ich lediglich Farbflecken, braune oder schwarze Kleidung, einige Piken oder Fahnenstangen, die sich in der Luft bewegten, sowie gelegentlich ein helles Aufblitzen im Zentrum der aufgeregten Menge - entweder ein Spiegel oder polierter Stahl. Ich kniff die Augen zusammen. Das könnte Gios Werk sein. Ich kreiste über meinen Mitstreitern und rief: »Blitz?« »Ja?« »Da vorn ist was merkwürdig. Ich möchte herausfinden, was es ist.« »Vielleicht ein Versteck für dich zum Schlafen.« Ungeduldig schlug ich die Flügel zusammen. »Sieht ungewöhnlich aus ... Nur weil ich süchtig bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht funktioniere«, fügte ich grummelnd hinzu. Ich drückte die Luft nach unten und stieg. Ich befand mich bloß zwischen Stufe eins und zwei auf der Skala »Wie schnell wirbelt der Raum um mich her?«. Man sollte mich genauso behandeln, als ob ich clean wäre, insbesondere, wenn ich einen guten Vorrat habe; man muss sehr genau hinsehen, um den Unterschied zu erkennen. Eine Kompanie von etwa hundert Männern marschierte langsam den Hügel hinter einem doppelten Ochsengespann einher. Dieses zog ... Zunächst sah es wie ein gewaltiger Lastschlitten aus, jedoch mit einem mächtigen Holzbalken quer darüber. Vorn an dem quadratisch eingeschnittenen Bal268 ken war waagerecht eine Winde angebracht, deren große Handgriffe wie ein unvollendetes Wagenrad herausragten. An einer Trosse, gefertigt aus verdrehten Fasern, hing eine Lederschlinge von etwa einem halben Meter Durchmesser. Es war ein Trebuchet, ein Ding von schrecklichem Potenzial. Die Scheitel von Köpfen wurden zu kleinen rosafarbenen Pünktchen, als die Männer das Gesicht zu mir nach oben drehten. Der Treiber schlug den Ochsen über das Maul, und als das Trebuchet-Gespann zum Stehen kam, steckte er Holzkeile unter die speichenlosen Räder. Auf der Hügelkuppe befand sich eine weitere kreisförmige, von Gras überwucherte Lichtung, die für das Lager eines Heerbanns unterhalten wurde. Zelte standen dicht an dicht auf der Erde, einige kleine dreieckige Schutzplanen waren um ein geräumiges cremefarbenes Segeltuchzelt verstreut. Die meisten waren fadenscheinig, verschmiert mit Lehm, Schmutz und Wein, einige jedoch stammten aus brandneuen Vorräten. Es gab Planen und Schuppen, aber ich hatte keine Zeit, alles zu erfassen, weil die Menschen am Boden mich entdeckt hatten und Rufe ausstießen. Aus dem ganzen Lager eilten Männer zur Mitte, wo ein riesiges Feuer loderte. Sie beschickten es, schürten es und warfen frische Scheite und grüne Zweige hinein. Eine dicke Säule grauen Rauchs stieg auf. Ich sah sie kommen, und eine Sekunde später hüllte sie mich völlig ein. Rauch brannte mir in Augen und Nase. Ich atmete eine Lunge voll ein und hustete sogleich heftig los.
Ätzender Rauch verbrannte mir die Kehle. Meine Nebenhöhlen waren voll davon; aus meinen entzündeten Augen strömten die Tränen nur so herab. Schwarze Rauchteilchen und Funken wirbelten an mir vorüber. Brennende Blätter und Flechten klebten an meinem Hemd. Ich schlug mir auf den Magen. Taumelnd verließ ich 269 die wallende Rauchwolke, geblendet und orientierungslos. Ich fiel. Luft peitschte an mir vorüber. Baumkronen schössen von dort heran, wo eigentlich der Himmel sein sollte. Der Himmel war unter mir. Ich rieb mir heftig das Gesicht, riss mich aus meinem wirbelnden Flug. Und fand mich über der Straße wieder, sehr tief. Die hartgesichtigen Männer neben dem Ochsengespann hoben ihre Langbögen und schössen ungeordnet. Einhundert Pfeile flogen geradewegs in die Höhe; ich kippte hart ab. Lange Schäfte sausten rechts von mir durch die Luft. Pfeilfedern zischten, als sie ihren Zenit erreichten, sich umdrehten und zurückfielen. Ich spürte den Fahrtwind desjenigen, der am dichtesten an mir vorüberflog. Schäfte glitten zwischen meinen Aufgespreizten Federn hindurch. Ich suchte das Weite und verschwand, wild mit den Flügeln schlagend, über dem Wald. Das konnte kein Fall von Verwechslung sein. Voller Panik jaulte ich hitzig: »Aufhören, in Sans Namen!« Pfeile ergossen sich rings um mich her wie feste Regentropfen. »Im Namen von ... San Imperator, um Gottes willen ...« Ich hustete jedoch zu heftig. Ich war jetzt außer Reichweite, aber sie schössen fünf Sekunden lang weiter, um ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen. Die breiten Pfeilköpfe fuhren knisternd hinter mir in die obersten Zweige. Fuchsteufelswild flog ich zur Kutsche zurück. Wie ist es, getroffen zu werden? Einen festen Holzpfahl im Leib stecken zu haben - wäre ich in der Lage, ihn in meinem Innern zu spüren? Ich landete gleich neben Blitz und Raa. »Habt ihr das gesehen?« »Ja«, erwiderte Blitz. »Sie haben direkt auf mich gezielt. Auf mich! Auf den Ku270 rier des Imperators!« Meine Kleidung stank nach Rauch. Ich putzte mir die Nase und schnippte Schleim von den Fingern. »Scheißkerle! Scheißkerle! Ein Wunder, dass sie nicht getroffen haben. Wenn ich nicht so beweglich gewesen wäre ... Sie wollten nicht mal für >den Willen Gottes und den Schutz des Kreises< aufhören!« »Ju«, meinte Raa. »Du hättest nicht vorausfliegen sollen. Jetzt wissen sie, dass wir hier sind, und sie werden's bald Gio weitersagen.« »Mich! Einen Eszai!« Ich war schlau genug zu wissen, dass man mich nicht überall liebte, aber ich hätte nie gedacht, dass man mich hasste. »In diesem Lager muss etwas sein«, meinte Raa, »das wir nicht sehen sollen.« »Vielleicht ein weiterer verdammter großer Trebuchet wie der, den sie den Hügel hinaufziehen! Ich habe seine Seriennummer nicht erkannt.« Ich beschrieb das Ochsengespann, und Raa hörte mit einem schwachen Lächeln zu. Entweder bewundernd, wegen Gios Einfallsreichtum, oder leidenschaftlich, wegen der Aussicht auf eine gute Jagd. »Warum ist der Trebuchet auf dieser Seite von Eske«, fragte sie, »wenn er ihn zum Schloss bringen will? Hat er ihn von Schwalbe bekommen? Oder hat er ihn gestohlen? Da, siehst du, Blitz: Awendin ist ebenso verräterisch wie die anderen Güter von Prärieland.« Zaunkönig hatte ungläubig die Augen weit aufgerissen. »Bleiben wir hier und warten ab, ob sie zu uns runterkommen«, wagte er vorzuschlagen. »In Reichweite eines Trebuchet? Warum sich nicht gleich zu ihrer Zielscheibe machen? Wir könnten ausländisches Gold als Preise aussetzen!« Blitz hatte eine klarere Vorstellung von Gios Charakter. »Sie müssen sehr zuversichtlich sein«, meinte Raa. 271 »Sie haben auf mich geschossen!«, bemerkte ich. »Jant, hör auf, die Hände zu verdrehen, sondern erzähle uns - du kennst diese Straßen -, wie wir das Schloss erreichen, ohne an ihnen vorbei zu müssen!« »Wir sind auf halbem Weg nach Eske«, gab ich zur Antwort. »Dies ist die einzige Route, die Kutschen nehmen können, es sei denn, wir kehren nach Awendin zurück und nehmen die Shivelstraße. Es wird ein paar Tage mehr brauchen, weil sie uns zu einem Umweg von zweihundert Kilometern zwingt. Und sie ist vielleicht mit Mangonels vollgestopft.« Raa setzte die Mütze ab und zauste sich das Haar, das nass vor Schweiß war. Ihr Gesicht strafte den Stress, unter dem sie stand, Lügen. Es war rund um ihre beunruhigend indigoblauen Augen etwas aufgeschwemmt. »Dann ab in den Wald und sie seitlich umgehen. Ich habe wichtige Informationen dabei, die sie nicht in die Hand bekommen sollen.« Zaunkönig fand das schändlich. »Wir können kämpfen, falls nötig.« »Zu allem Unglück, Serein, werden sie vermutlich auch auf dich schießen.« Ich befahl meinem Kutscher, die Kutsche zum letzten Gasthof zurückzufahren, dem Gasthof »Zur Taube«, und dort auf Anweisungen zu warten. Wenn er nach drei Tagen keine erhielte, sagte ich ihm, solle er nach Awendin zurückkehren. Ich wollte meine Besitztümer nicht verlieren. Blitz, Raa und Serein stiegen ab und führten ihre Pferde von der Straße weg ins Unterholz des Waldes. Zunächst fiel das Weiterkommen sehr schwer; Sträucher
hakten sich in meiner Hose fest und zerrissen sie. Der stechende Geruch von Farn lag uns in der Nase. Weiter entfernt vom Pfad drang weniger Licht durch die Baumwipfel, und weniger Pflanzen wuchsen zwischen den Stämmen. Der Waldboden war von pulvertrockenem Eichen- und Buchenlaub bedeckt, das unter unseren 272 Füßen und den Pferdehufen zerkrümelte. »Hoffentlich legen Gios Rebellen kein Feuer«, bemerkte ich. »Gott, jetzt fällt ihm das ein!«, sagte Raa. »Geh auf Kundschaft und sage uns, wie weit wir laufen müssen, bevor wir wieder auf die Straße treffen.« Ich ließ meine Wasserflasche, die bei jedem Schritt gluckerte, von den Schultern gleiten und hängte sie an Zaunkönigs Sattel. Dann schoss ich davon. Ein geräuschloses Vorankommen war im Wald unmöglich; Geschichten von meinen Vorgängern, die das angeblich getan hatten, sind schlicht schmeichelhafte Lügen. Aber ich bin reaktionsschnell, und ich kann so rasch durch das Gewirr rennen, dass niemand das Geräusch als von Menschen verursacht erkennt. Ich duckte mich unter Ästen durch, übersprang herabgefallenes Gestrüpp und jagte mit langen Schritten dahin. Ich schoss den Hügel hinauf und marschierte im Schnellschritt zurück zur Straße. Jenseits des Lagers schien sie frei zu sein. Ich verbarg mich hinter einem Baum, spähte hinüber und zog mich augenblicklich zurück. Eine weitere Schar von Männern schritt mit ihren Piken auf der Schulter vorüber. Ich rannte weiter, genoss das Laufen, aber alle Kilometer entdeckte ich weitere Gruppen, so dass ich flink durch den freien Raum im Unterholz zu meinen Freunden zurückkehrte. Heißer Speichel ergoss sich mir in den Mund; endlich kam ich mir wieder wirklich vor. »Das ist nicht gut - sie sind überall an der Straße! Wir ...« Ich senkte die Stimme. »Wir können den ganzen Weg bis Eske durch den Wald gehen, aber das sind einhundertzwanzig Kilometer, also würden wir Tage brauchen. Ich bin dafür, dass wir uns bis zum Anbruch der Nacht hier durchschlagen und dann weiter vorn wieder die Straße nehmen, wenn die Rebellen gelagert haben oder sich in Häusern aufhalten. Ich mache den Kundschafter!« »Dann führe uns«, sagte Raa, »du verrauchtes Wesen!« 273 »Irgendwo hier in der Gegend ist der Ratskeller vom >Schwan<. Waldarbeiter trinken dort einen, also sollten wir schließlich eine Spur aufnehmen können.« »Verdammt, du bist so schnell, dass ich nicht mal erkennen kann, wohin du trittst«, grummelte Zaunkönig. »Hier ist kein Weg.« »Dann machen wir halt einen.« Wir setzten uns in Marsch, führten für die nächsten Stunden die Pferde über kupferfarbenen Boden unter dem getüpfelten grünen Dach entlang. Stets hielten wir uns etwas von der Straße entfernt, damit man uns nicht hörte. Allmählich schwand das Licht, und es wurde immer dunkler. Der Boden war nicht mehr deutlich zu erkennen; Baumstämme trieben scheinbar abstandslos auf uns zu. Ich hatte das Gefühl, als würde uns etwas Weises und Schweigsames beobachten. Ich wusste nicht so recht, ob es groß und unüberwindlich oder klein und instinktiv war. Die anderen waren mit ihren Reittieren schon auf der Straße nicht gerade rasch vorangekommen, aber jetzt, da sie sich mit Bäumen und Brombeersträuchern herumschlagen mussten, wurden sie noch langsamer, bis sie schließlich überhaupt nicht mehr von der Stelle zu kommen schienen. In mir brannte die Enttäuschung. Immer wieder drängelte ich, bis Raa mich anfauchte: »Ich beeile mich, so gut ich kann! Ich sehe kaum die Hand vor den Augen. Immer wieder stolpere ich über irgendwas, und im Reich schwärmen auf einmal alle möglichen Leute herum, die uns verachten.« Blitz ging dazwischen. »Sieh mal, Jant, legen wir doch hier eine Rast ein, schlafen wir ein paar Stunden und schauen dann mal nach, ob's auf der Straße sicher ist. Die Zeitungen haben gesagt, dass es in Eske Unruhen gibt, und ich möchte nicht erschöpft sein, wenn ich durch die Stadt ziehe.« »Ihr seid alle so unglaublich lahm«, meinte ich, warf mich 274 jedoch sofort zu Boden und machte es mir auf den herabgefallenen Blättern gemütlich. Die anderen, die im Biwakieren nicht so geübt oder nicht so sorglos waren wie Rhydanner, sahen sich nach einem Flecken Gras oder einer anderen Stelle um, wo sie das Lager aufschlagen konnten. Zaunkönig warf seinen Packen zu Boden und setzte sich auf einen Stumpf, der so verfault war, dass er abbrach und in Einzelteile zerfiel. Er strich sich Moos vom Hintern und schnürte sich die Stiefel auf. Blitz ging hin und her. »Ich glaube, dass die Stadt sicher ist, wenn Gio nicht die Zaskai gegen uns aufbringt. Diese Undankbaren verstehen ja gar nicht, wie schwer wir die ganze Zeit über für sie gearbeitet haben ...« Er stolperte über eine Baumwurzel und trat wütend danach. »In der Dunkelheit herumkriechen wie Straßenräuber!« Die Postkutsche brachte die Nachricht von Herrenhaus zu Herrenhaus. Ich sah es förmlich vor mir, wie jedem Gouverneur ein Licht aufging, dass das Schloss nur durch Tradition und ihren eigenen Glauben geschützt wird. Ich hörte sie fast denken: Was könnte da für uns drin sein? »Halb Prärieland hat Gio seit sechs Monaten unterstützt. Wir wissen nicht, was da auf uns zukommt.« »Ich weiß nur«, bemerkte Raa, »dass wir San möglichst schnell erreichen sollten.« Sie zündete ein kleines Feuer an, entrollte ihre Decke und teilte etwas trisianisches Pan Forte sowie eine Flasche Rotwein aus. »Ich glaube, Gio möchte uns so viel Schmerzen wie möglich zufügen, bevor wir ihn letztlich doch erwischen. Allerdings hat er nur wenig Hoffnung, wenn er so verzweifelte Methoden anwendet...« Sie geriet ins Träumen und verstummte
erst einmal. Von dort, wo die Straße uns am nächsten war, hörten wir Leute vorüberkommen. Ich war es zufrieden, dass ich im Verborgenen daliegen und sie beobachten konnte und sie nicht wussten, dass ich lauschte. 275 Blitz holte eines seiner Bücher hervor. Er schrieb seinen dreihundertsten Liebesroman, der vermutlich den übrigen zweihundertneunundneunzig aufs Haar gliche, dieses Mal jedoch vielleicht ein nautisches Thema hätte. Ihre Popularität war ein beständiger Quell des Erstaunens für mich. Normalerweise bezahlt er mich dafür, sein einfallsloses, jedoch leidenschaftliches Geschreibsel zu übersetzen, aber er lässt meine Übersetzung immer gegenlesen. Blitz wirkte versonnen, ein mächtiges Gefühl, das er über die Jahrhunderte hinweg eingeübt hat und in das er inzwischen ganz leicht hineinfallen konnte. Er zeigte es, wenn es wünschenswert war, obwohl es nicht zu ihm passte. »Schwalbe ist nie hier, wenn ich sie liebe«, meinte er. »Ich wünschte, ich könnte mit ihr reden. In schwierigen Zeiten findet sie eine innere Kraft. Vielleicht, weil sie unter Schmerzen lebt und sich dagegen abgehärtet hat.« Er seufzte und machte sich mit dem praktischen Sinn eines Liebenden, der über fünfzehnhundert Jahre hinweg in verschiedenen Frauen immer wieder denselben Charakter gesucht hat, wieder ans Schreiben. Während der letzten Stunde hatte ich nur noch an Scolopendrium gedacht. Mir wurde langsam der Mund wässrig vor Verlangen danach, und meine Gelenke schmerzten. Das ist bloß eine Schwäche meines Körpers, dachte ich; das bin nicht wirklich ich. Ich öffnete eine Tabaksdose mit aufgemaltem Knüpfwerk, die meinen geheimen Vorrat und eine Spritze enthielt. Ich tat es beiläufig, um mich vor den anderen zu schützen, doch unter der Oberfläche kochte ich vor Aufregung und Schuldgefühl. »Was dagegen, wenn ich mir einen Schuss setze?« »Oh, mach schon!« Raa schüttelte angewidert den Kopf, obwohl sie sehr wohl zuschaute. »Danke sehr. Du weißt nicht, wie sehr ich ...« »Allmählich ahne ich was«, meinte Zaunkönig. 276 »Also wird es mich eines Tages umbringen. Möchtest du was?« »Natürlich nicht!«, erwiderte er verächtlich. Er ging zum Rand der Lichtung und stellte sich zum Pissen mit dem Rücken zu uns hin. Dann kehrte er zurück und legte sich auf seinen Umhang, das Rapier bei der Hand. Er tat so, als würde er schlafen, beobachtete mich jedoch insgeheim. Ich beugte mich vor und legte die Flügel um einen Kerzenstummel. Ich leckte meine Nadel mehr oder weniger sauber, ließ sie durch die Flamme laufen und füllte sie aus einem Fläschchen. Ich zog eine Aderpresse um meinen Oberarm fest und gab mir die Injektion. Ich spülte die Spritze mit meinem eigenen Blut aus und zog die Spitze aus dem Arm. Dann wälzte ich mich auf die Blätter herum. Eine schmerzende Übelkeit füllte meinen leeren Magen und verflog, als mich der Euphorieschub überkam. Nach und nach gab ich dankbar das Denken als solches auf. Die Spitzen der Eichen wurden von einem Wind bewegt, der uns hier unten nicht berührte. Jeder Windstoß rüttelte heftig an den obersten, weit entfernten Zweigen und schüttelte dann im Vorbeistreichen die Äste direkt über uns. Tief im Wald ertönte ein Knacken. Blitz sah von seinem Buch auf und erhob sich lautlos. Er stützte seinen Langbogen gegen seinen Stiefel und spannte ihn, trat das Feuer aus, zog mich dann am Kragen hoch und versetzte gleichzeitig Zaunkönig einen heftigen Tritt in den Hintern. Der Fechter erwachte ruckartig, und Blitz hob einen Finger an die Lippen. »Schritte«, flüsterte er. »Insekten?« Zaunkönig bekam große Augen. Blitz schüttelte den Kopf. Nach den ersten paar Bäumen war es stockfinster. Ich horchte. Die Schrittgeräusche reichten von links nach rechts tief in den Wald hinein. Beim Näher kommen war klar, dass sie von Männern stammten. Min277 destens fünf waren direkt vor uns, aber das Geräusch schien sich zu beiden Seiten weit in die Ferne zu erstrecken. »Wie viele?« Ata formte die Frage mit dem Mund. Blitz hielt die freie Hand mit ausgestreckten Fingern hoch, ballte die Faust, öffnete und spreizte die Finger erneut. Zaunkönig sprang auf die Beine, verschränkte die Arme über der Hüfte und zog gleichzeitig Rapier und Dolch. Raa tastete unbehaglich nach dem Schwert aus Waffenschmiede von 1851, das sie auf ihrem Rucksack verschnürt mit sich führte. Die Schritte trennten sich; die Leute, die sie verursachten, gingen etwa drei Meter voneinander entfernt. Ich spähte in das knorrige Dunkel, erkannte jedoch niemanden. Mittlerweile sollten wir sie eigentlich sehen können. Ich roch heißes Öl. Das Knacken ging weiter; sie hatten uns fast erreicht. Sie blieben stehen. Schweigen. Zaunkönig ging in Stellung. Ein gelber Schein machte unser Lager so hell wie der Tag. Abrupt wurden aus Schwarz Farben, so dass wir völlig die Orientierung verloren. Sie hatten Blendlaternen dabeigehabt und die Blenden auf Kommando gleichzeitig geöffnet. Ich wurde weniger geblendet als die anderen, deshalb wandte ich mich sogleich um, als ein Mann aus dem Wald hinter uns heransprang. Mit dem Dolch in der Hand rannte er an Blitz vorbei und zerschnitt die Bogensehne mit einem sauberen Schnitt. Blitz' mächtiger Langbogen sprang in seine ursprüngliche gerade Form zurück. Es folgte ein Übelkeit erregendes rasches trockenes Knacken. Das Holz riss über die ganze Länge des Bogens
hinweg auf, von der Spitze bis zum Griff. Seine achtzig Kilo Zuggewicht übertrugen sich ruckartig in Blitz' Arme. Er zuckte zurück, damit ihm die Sehne nicht das Gesicht aufriss. Das zersplitterte Holz quietschte. Blitz ließ Bogen und Pfeil fallen 278 und fasste sich an den linken Arm. »Verdammt, Gio Ami! Verräter und Heimtücker!« Mit einer effizienten Geste zog er sein Schwert, aber sein verdrehter Arm schien nicht richtig funktionieren zu wollen. Die Pferde wieherten und bäumten sich erschrocken auf. Sie zogen die Pfähle, an denen sie angebunden waren, aus dem Boden und zerstreuten sich in alle Winde. Ich kann nicht abheben. Die Zweige sind zu dicht, ich kann mich nicht zwischen ihnen hindurchschieben. Ich würde mir alles zerkratzen und könnte dennoch nicht ins Freie gelangen. Verflucht, es gibt nicht genügend Platz zwischen den Bäumen, um meine Flügel zu öffnen, ganz zu schweigen davon, mit gespreizten Flügeln loszurennen. Gio schlenderte auf Zaunkönig zu, den Blick fest auf ihn gerichtet. »Rache ist die Sache nicht wert«, sagte ich ruhig. »Komet, bist du nicht schnell?«, höhnte Gio. »Ist der Ruhm die Sache wert? Ich bin durch Zaunkönigs Party spaziert, und niemand hat mit mir gesprochen. Als ich die Halle betreten habe, sind sämtliche Eszai verstummt und haben mir den Rücken zugekehrt. Du hast mich nicht mal bemerkt]«. Er richtete sein Rapier auf Zaunkönig. Gio trug immer noch den blauen Gehrock, der ihm offen stand, so dass sich die nackte Brust darunter zeigte. Seine staubige Hose war von der gleichen Farbe. Sie steckte in abgenutzten Stiefeln mit Sporen. Vielleicht war er wochenlang zwischen den Gutshäusern hin und her geritten, um seinen Aufstand zu organisieren. Sein helles Haar war schmutzig; einzelne Strähnen waren aus dem Band gerutscht, mit dem er es zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte, und hingen ihm ums Gesicht. Die Oberlippe hatte er vor Abscheu hochgezogen, Hass verzerrte seine Züge; brannte ihm in den Augen, als er Blitz anstarrte. Ich dachte: Das ist nicht der Gio, den ich einmal 279 gekannt habe. Ich muss vorsichtig sein, bis ich weiß, was aus ihm geworden ist. »Was willst du wirklich?«, fragte ich. »Ich möchte gegen den Novizen kämpfen!« Zaunkönigs ganze Körperhaltung drückte Großspurigkeit aus. Er wirbelte seinen Dolch wie einen Trommelstab umher. »Ich bin Serein. Ich werde bis zur Rückkehr Gottes leben. Wie ist es so, älter zu sein, Gio?« Gio hielt sein Rapier nach wie vor auf Zaunkönig gerichtet. Er vollführte eine Bewegung mit seinem Dolch, und die etwa zwanzig Männer hinter ihm setzten ihre Laternen auf die Erde und rückten heran. Blitz stellte sich vor Raa. Seine Galanterie verärgerte Gio so sehr, dass er sich von Zaunkönig abwandte und tief unter Blitz' Schwert zustieß. Blitz wich gekonnt aus. Gios Rapier war mit Stiefelpolitur geschwärzt; die Spitze war schwer zu erkennen. Erneut stach er zu. Seine andere Hand fuhr hoch, um einen Überkopfhieb Zaunkönigs abzuwehren. »Oh, Scheiße!«, sagte Raa. Sie ließ ihr Waffenschmiede-Schwert aus der Scheide gleiten. »Klaren Kopf behalten!«, rief ich ihr zu. »Es sind bloß Insekten - verteidige dich!« Meine alte Wut aus dem Land der Banden tränkte meinen Rauschzustand. Wenn mich diese Burschen angreifen, ist das ihr Begräbnis! Ein großer und sehr breiter Mann pflanzte sich vor mir auf. Alles war dunkel und verschwommen, aber ich erhaschte einen Blick auf das purpurfarbene Band der Fechtschule von Güte um seinen gezogenen Griff. Scheißdreck. Gegen einen von Gios Fechtlehrern komme ich unmöglich an. Der Mann lächelte. Seine Zähne waren strahlend weiß in seinem schattigen Gesicht. Er beobachtete mich wie die Katze eine Maus. Großspurig fragte er: »Komet?« Ein Fechtmeister würde sich nicht so aufblasen, nur ein Lehrling, der so tat als ob. Zur Steigerung ihrer eigenen 280 Wertschätzung müssen Stadtjungen daran glauben, dass sie kämpfen können. Hitze stieg mir in den Kopf. Ich schrie: »Was?« Ich duckte mich unter seiner Klinge weg, richtete mich in einiger Entfernung wieder auf, bohrte ihm die Knie in die Eier und versenkte, als er stürzte, meinen Eispickel in seiner Kehle. Die Spitze drang aus dem Nacken wieder hervor, schimmernd, blutbefleckt. Gios nächsten Zug bekam ich nicht mit, weil ich mit beiden Füßen auf den Brustkasten des Toten sprang, um meinen Eispickel herauszuziehen. Ich wälzte mich herum und rammte ihn mit solcher Gewalt durch den nächsten Fuß, dass ich ihn am Boden festnagelte. Der Fuß gehörte dem Mann, gegen den Raa kämpfte. Er heulte auf, riss an seinem Bein und stolperte über den Griff, was ihm den Eispickel aus dem Schuh zog. Er tänzelte davon. Anscheinend war es jetzt Gio, der bereit war, im Kampf für die Unsterblichkeit zu sterben. Zaunkönig stampfte auf und stieß nach Gio, der auf halber Strecke abblockte. Sein Rapier und sein Dolch bewegten sich so rasch wie die Fühler eines Insekts und hielten Zaunkönig in Schach. Zaunkönigs Hieb ging fehl, und Gio stieß rechts nach Blitz. Keiner der Zaskai war darauf vorbereitet, Gio bei seiner Attacke gegen Blitz oder Serein zu unterstützen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf mich, kamen vorsichtig heran, versuchten, ihren Angriff gemeinsam
vorzutragen. Ich wich gegen einen Baum zurück und winkte Raa, dasselbe zu tun. Unaufhörlich fluchend hob sie ihr Katana mit beiden Händen. Die glitzernden, perfekten Kanten schüchterten die Rebellen ein. Gio umkreiste Blitz' Kurzschwert mit seiner Rapierklinge und schlug dann hart unterhalb des Griffs zu. Fließend und anmutig ging die Bewegung weiter. Er schleuderte den Hieb 281 beiseite, den ihm Zaunkönig auf die Brust versetzte, trat ihn gegen die Hüfte und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Zaunkönig wich zurück und spreizte die Flügel. Der Mann, der gegen mich kämpfte, machte kehrt und floh. Ich sah zu Raa hinüber; sie zitterte, mit den weißen Händen hielt sie den Griff umklammert, auf ihrem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck des Unglaubens. Blut rann von der rasiermesserscharfen Schneide. Ihr Gegner lag, in zwei Hälften zerteilt, vor ihr auf dem Boden. Einen Herzschlag lang strömte klebriges Blut aus seinen Eingeweiden. Er bewegte die Lippen, dann erstarrten sie. »Scheiße«, meinte ich. »Es ist glatt durch ihn durch!« Ich hatte zuvor noch nicht gesehen, was eine Klinge, die zum Spalten von Insekten gedacht war, bei einem Menschen anrichten konnte. Raa sagte nichts, sondern versuchte auf ihre Weise, mit dem Entsetzen umzugehen. Gio fuhr auf dem Absatz herum und machte einen Ausfall auf Blitz. Dessen Parade misslang, aber er wandte sich instinktiv von der Klingenspitze ab. Sie fuhr ihm dann durch die linke Seite seines Hemds in Höhe der Hüfte und weiter in seinen Rücken. Gio riss die schwarze Klinge wieder heraus. Sie war dreißig Zentimeter weit mit Blut bedeckt. Blitz fiel schwer auf die Knie. Gio wandte sich Zaunkönig entgegen. Die Zaskai hielten inne und sahen Blitz an. Er lag zusammengekrümmt auf der Seite, die Knie angezogen und die verwundete Seite vom Boden abgewandt. Die Augen hielt er vor Qual geschlossen; er holte tief Luft durch den geöffneten Mund. Die Mörderbande wich zurück, die Breitschwerter locker in den Händen. Gios Charisma war dahin, und sie waren wie282 der sie selbst, jeder Einzelne bis ins Mark erschrocken. »Seht ihr, was ihr getan habt?«, rief ich. »Ihr habt den Bogenschützen umgebracht!« Ich gab mir keine Mühe, die Panik aus meiner Stimme herauszuhalten. »Den Herrn von Glimmerwasser! Den ältesten Mann der Welt nach dem Imperator! Legt eure Waffen nieder« Ihre Klingen fielen zu Boden. Sie kniffen den Schwanz ein und spritzten, allein oder zu zweit, in sämtliche Richtungen des Waldes auseinander. Ich kreischte ihnen nach: »San wird euch Gerechtigkeit widerfahren lassen! Ich werde euch alle hängen sehen!« Fünfzig Meter entfernt standen sich Gio und Zaunkönig immer noch in einem tödlichen Duell gegenüber. Gio drückte Zaunkönig gewaltsam gegen einen breiten Eichenstamm zurück; er war in Gefahr, über die Wurzeln zu stolpern. Da rannte der Letzte von Gios Verbündeten vorüber. Ein Blick ging zwischen den beiden hin und her der entsetzte Mann forderte Gio dringend auf davonzulaufen. Gio sah sich um, begriff, dass seine Freunde in alle Winde zerstreut waren und er keine Chance mehr hatte. Er vollführte einen Satz, der ihn aus Zaunkönigs Reichweite brachte, und schrie etwas, das ich nicht verstand. Dann verschwand er zwischen den Bäumen. »Was hat er gesagt?«, fragte Zaunkönig. »Jant, hinter ihm her!« »Nichts da - sieh dir mal Blitz an!« »Rasch!«, fauchte Raa. »Helft mir mit Habicht! Habicht, du kommst wieder auf die Beine!« Blitz' vierschrötiges Gesicht war blass wie der Tod; der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Leib war völlig starr. »Lasst mich in Ruhe«, sagte er schwach. Er wehrte sich gegen mich und wollte ins Sitzen kommen, also stützten ihn Zaunkönig und ich, ich links, Zaunkönig rechts, und lehnten ihn aufrecht an einen Baumstamm. Ich riss ihm das Hemd auf, 283 um mir anzusehen, welchen Schaden die Klinge angerichtet hatte. Das Rapier war durch den Unterarm seines linken Flügels gefahren, zwischen die beiden langen Knochen hindurch; durch Elle und Speiche, dann wieder ausgetreten und hatte den Bizeps des Flügels durchstoßen, bevor es tief in die Seite eingedrungen war, so dass seine zusammengelegten Flügel zweimal durchstoßen worden waren. So waren zwei Eintrittsund zwei Austrittslöcher entstanden, aber dadurch hatte sein Körper auch nicht die gesamte Länge der Klinge abbekommen. Blitz versuchte, die Flügel zu spreizen, was ihm jedoch nicht gelang. »Ist nur ein Kratzer«, sagte er vage und unrichtig. Ich fasste sein Handgelenk, hielt die drei längeren Finger zusammen und zog sie auf, dass es tief innerhalb des ausgefransten Knorpels lautstark knirschte. Bei jedem Pulsschlag strömte das Blut in heftigen Stößen heraus und tränkte die obere Gliedmaße. Normalerweise wirkte sie durch die gespreizten Federn breit, wie bei einem Falken, jetzt jedoch war sie erbärmlich dünn, da die feuchten goldenen Federn auf der Haut klebten. »Wasser. Heißes Wasser«, fuhr ich Zaunkönig an. »Du kriegst das hin, oder?« Zaunkönig holte eine Feldflasche aus dem Feuer, das Ata entfacht hatte, und schüttete Wasser durch Blitz' Flügel. »Er kann ohne Flügelspitze leben«, flüsterte ich. »Der Stich in seiner Seite ist schwerwiegender. Hier, schneide das Hemd weg.« Blitz versuchte, mir seinen Flügel aus der Hand zu winden. Lieber wollte er am Blutverlust sterben, als in einer
so peinlichen Lage zu sein. »Tut mir leid, Habicht«, sagte ich laut. »Wir müssen dich behandeln.« Wir wischten das Blut auf seinem Rücken ab und hinterlie284 ßen eine rotbraune Karte der winzigen Poren und Linien seiner Haut. Rund um die Einstichlöcher war sie schwammig und entzündet. Blitz wurde allmählich zu verwirrt, um sich gegen unseren Beistand zu wehren. »Mehr Glück beim nächsten Mal«, meinte er zu Zaunkönig und ließ dann den Kopf auf den Knien ruhen. »Ah ... verdammt ... das schmerzt... höllisch« Ich legte ihm eine Minute lang meine Aderpresse um die Flügel, während ich sein Hemd in Streifen schnitt, um einen improvisierten Verband herzustellen. Unmöglich zu sagen, wie tief die Wunde war. Dass es mehr als vier Zentimeter waren, konnte ich erkennen, aber man hatte mich gelehrt, in so etwas nicht herumzustochern. Gegen innere Blutungen war ich machtlos. Ich konnte keine Infektion verhindern; ich hatte kein Nähmaterial, nicht mal etwas so Grundlegendes wie ein Heftpflaster oder einen sauberen Verband dabei. Blitz wirkte so schwach, dass ich nur Scham empfand. So hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen, und ich hätte es auch nie tun sollen. Es war nicht richtig so: Wie damals am Schlangenkreuz, so hätte auch diesmal ich der Verwundete und Blitz der Helfer sein sollen. Er ist der Zweitälteste Eszai, der reichste Unsterbliche, das Zentrum von Awia; er lehrte mich die Sprache, die Etikette, die Kampfsportarten. An seinem finanziellen Tropf hängt Waffenschmiede. Was wird ohne ihn geschehen? »Mein Gott, was tun wir jetzt?« »Die Arbeit erledigen«, sagte Raa. »Wie kann ich helfen?«, fragte Zaunkönig bescheiden. »Sorge dafür, dass du selbst eine heile Haut behältst!«, schrie ich ihn an. »Gio hatte ein System zum Kampf gegen zwei Männer gleichzeitig entwickelt, von dem du keine Ahnung hattest!« »Shira!«, fauchte Raa. »Bleib bei der Sache! Zaunkönig, geh los und hol die Pferde!« 285 Zaunkönig verschwand im Wald, fiel hin, zerbrach Aste und machte einen schrecklichen Lärm. Bei seiner Rückkehr hielt er unsere drei Reittiere am Zügel. Raa nahm ihm zwei ab und überließ ihm den Zelter. »Reite zum >Schwan< zurück, suche unsere Kutsche und rufe den Kutscher herbei! Ich werde das Feuer entsprechend anfachen, damit du sehen kannst, wo wir sind.« Der Fechter führte sein Pferd zur Straße, und wir hörten seine Hufschläge laut durch die Nacht hallen, dann nach und nach immer leiser werden. »Ich wünschte«, sagte Raa, »du wärst nicht so schwer abhängig.« »Ha! Ich hab dich gerettet!« Sie wirkte überrascht. »Naja, eine Sekunde später habe ich dich gerettet! Dieser Mann, den ich in zwei Hälften zerschnitten habe, er ... oh, schon gut...« Ein schneller Schuss würde mich beruhigen und mir beim klaren Denken helfen. Oder ich könnte meinen ganzen Vorrat nehmen; Bewusstlosigkeit war eine sehr verlockende Aussicht. Ich schob den unpassenden Gedanken beiseite und sagte: »Er ist außerstande, das Schloss zu erreichen. Eigentlich sollte er nicht mal bis Eske in einer Kutsche liegen.« Blitz zwang sich, ein wenig ins Bewusstsein zurückzukehren. Ruhig, jedoch benommen sagte er: »San braucht uns. Ich werde da sein. Gio hat meinen Bogen zerbrochen ... Reich mir den Bogen. Ich will ihn haben.« Er blendete den Schmerz aus, was ich bewundernswert fand, weil ich das mehr als einmal vergebens versucht hatte. »Ich hasse Rapiere. Das Schwert eines Mörders. Das ist schlimmer als ...« »Meiner Erinnerung nach bist du noch nie verwundet worden«, sagte Raa. »Vor langer Zeit«, seufzte Blitz. »Ich kann dir was geben«, bot ich ihm an und winkte Raa, den zersplitterten Langbogen und meinen Packen zu holen. 286 »Eine Weile lang wird alles etwas seltsam aussehen, aber du wirst zu sehr entspannt sein, als dass es dir was ausmacht. Mach dir keine Sorgen und lass dich ...« Blitz ergriff meine Hand und drückte sie so fest, dass ich zusammenzuckte. »Keine Drogen. Versprich es!« Er sprach mit solcher Bestimmtheit, dass ich nickte. »Ich verspreche es.« Er atmete in mächtigen Stößen, und seine Brust hob und senkte sich wie die Seiten eines Zelts im Sturm. Dann legte er sich vorsichtig hin und war nach einigen keuchenden Atemzügen bewusstlos. Raa zog seinen opulenten goldenen und blassgelben Umhang herüber, dessen graue Fellsäume Bucheckern und zerbrochene Zweige mitnahmen, und wir legten ihn dem Bewusstlosen über. Dann setzte ich mich neben ihn auf einen Baumstumpf. Ich achtete nicht auf das Blut, das meine Hose durchnässte, sondern versuchte, den Kreis zu erspüren. Die Ärztin hatte mir einmal gesagt, wie man das machte, aber sie hatte mehr Übung als ich. Sie hatte sich selbst beigebracht zu bemerken, wann alle Fasern unserer Rettungsleinen bis zum Zerreißen gespannt sind. Sie spürt, ob jemand dem Tode nahe ist, weil der Betreffende am Kreis zerrt und dieser versucht, ihn zu halten. Wie eine Spinne, die ihre Finger auf unsichtbaren Fädchen liegen hat, weiß sie möglicherweise bereits, dass Blitz verwundet ist. Der Imperator würde es spüren; schließlich stellt er die Verbindungen her, teilt unsere Zeit und bewahrt uns vor dem Tod. Ich beobachtete das Steigen und Fallen von Blitz' flacher Schockatmung. Wenn sie aufhörte, wollte ich auf das schreckliche Gefühl vorbereitet sein, auf den genauen Augenblick, wenn er den Kreis durchbricht. Nein, das darf
ich nicht denken! Raa stolzierte zum Feuer hinüber und wandte sich mit aschgrauem Gesicht mir zu. »Zaskai sollten Eszai nicht er287 morden können). Unsterbliche dürfen nicht auf diese Weise niedergemacht werden! Habicht kann nicht sterben. Er wird aufwachen. Ich werde Gio Ami umbringen. Ich werde ... der Schweinehund ... wie kann er es wagen?« »Ata ...« Ihr weißes Haar war völlig zerzaust, und sie schlug sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel. »Gio Ami. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird nicht genug übrig sein, dass sich ein Hund darin wälzen kann!« »Sieh mal«, sagte ich laut. »Der Degen hat seinen Flügel getroffen und ist ihm nicht tief in den Rücken gefahren. Wenn er keine Infektion bekommt, ist die Verletzung vielleicht nicht tödlich. Aber wenn wir hier bleiben, würde ich keinen Pfifferling darauf geben. Kehren wir nach Awendin zurück, und seine so genannte Geliebte kann ihn pflegen.« In Raas Augen glitzerte es; das Leuchten darin war schon halber Wahnsinn. »Nein - weiter zum Schloss.« »Du hast uns hierher gebracht. Plane wenigstens einmal etwas anderes als für dich selbst.« »Ich kann's nicht glauben, dass ein Rhydanner den Mumm hat, mir das ins Gesicht zu sagen!« »Nur ein halb ...« »Wenn wir uns zurückziehen«, unterbrach sie mich, »ist Gio im Vorteil.« »Als ob wir jetzt im Vorteil wären!« Ich funkelte sie an. »Zaunkönigs illegaler Rachefeldzug gegen Gio ist schon schlimm genug, ohne dass du dich auch noch daran beteiligst. Er wird sich mit sämtlichen Gefolgsleuten Gios auf einmal duellieren, oder sie sich nacheinander vornehmen. Jetzt versuchst du rauszufinden, ob Hass deine Kragenweite hat!« »Du hast Recht«, sagte sie leise. »Eszai sollen zusammenarbeiten; verdienen wir uns unsere Unsterblichkeit! Verdammt, Raa, Gott wird mit einem Kaf288 feebecher in der Hand auf der Bildfläche erscheinen, bevor du Jir die Mühe gibst zu kooperieren. Kehre nach Awendin zurück! Ich werde dir Sans Anweisungen dorthin bringen, wie ich es gleich von vornherein hätte tun sollen.« Stunden vergingen, und Zaunkönig kehrte nicht zurück. Ich wachte über den Bogenschützen und mühte mich, bei dem fahlen Mondlicht etwas zu erkennen. Raa sprach wenig, sah jedoch immer finsterer drein, bis es irgendwann in den frühen Morgenstunden aus ihr herausbrach: »Ich hätte stattdessen gehen sollen!« »Serein ist ein schlechter Reiter, jedoch der beste Fechter«, meinte ich kurz und bündig. »Nun, wohin ist er? Ist er gefangen genommen worden?« »Hoffentlich nicht. Blitz' Zustand verschlechtert sich, zum Glück jedoch nur langsam, weil er stark ist. Wir müssen ihn dringendst aus dieser Wildnis herausbekommen.« Raa stapfte in der Lichtung umher, zerbrach Zweige unter den Füßen und trat trockene Blätter ins Feuer. »Bleib ruhig!«, zischte ich. »Und horche; Gio könnte zurückkehren. Ihr Insulaner begreift nicht, wie weit euer Lärm zu hören ist.« Blitz erwachte, blieb jedoch bloß ein paar Minuten bei Bewusstsein, ohne sich zu regen. Ich versuchte alles außer Scolopendrium, aber ich konnte ihn nicht zurückholen. Ich seufzte. »Gio hat seine Chance endgültig vertan, dem Kreis wieder beizutreten, so viel steht fest. Er hätte es tun können — einer meiner Vorgänger wurde hinausgeworfen und ist dann wieder beigetreten.« Ata schüttelte den Kopf. »Der Wechsel der Kuriere erfolgte so rasch, dass sie eine gute Haltung zu ihrem Posten eingenommen hatten; sie betrachteten ihn als vorübergehenden Gewinn von ein paar weiteren Lebensjahren. Ich erinnere mich an einen Mann, etwa drei oder vier Kuriere zurück, der, 289 als er seine Herausforderung verloren hatte, dem Heerbann des Reichs beitrat. Wir sahen ihn alt werden. Aber die meisten Leute, die den Kreis verlassen, sind zu sehr vernichtet für einen neuen Versuch.« Wenn mich San als Kurier aus dem Schloss entließe, würde ich versuchen, ihn davon zu überzeugen, einen neuen Platz im Kreis zu schaffen - einen Eszai zur Erkundung. Eines Tages mochte jemand schneller als ich rennen, aber einen Blick aus der Vogelschau brächte niemand je zustande. Theoretisch ist es möglich, dass jemand zwei Titel im Kreis innehält, aber es ist nie vorgekommen, weil es so schwierig ist, auch nur einen Titel zu halten. Wie dem auch sei, da jeder Eszai nach seinen eigenen Vorgaben geschlagen werden muss, würde ich die Erfordernisse für meine Herausforderung so ändern, dass ich mit meinen Fähigkeiten auf jeden Fall im Vorteil wäre, gegen wen ich auch anzutreten hätte. Alles, was ich wirklich fürchte, ist das Auftauchen eines weiteren Mischlings, der sich, wie ich, selbst das Fliegen beigebracht hat und aus heiterem Himmel eine Herausforderung ausspricht. Soweit ich weiß, bin ich einzigartig, und ich achte darauf, keine Kinder zu zeugen. Im Gedächtnis der Sterblichen sind Beziehungen zwischen den Ländern der Dunkelberge und Awia zu etwas Entsetzlichem geworden; Rhydanner und Awianer sind eifrige Feinde, zumindest im Gebiet von Karniss. Ich weiß nur von einer einzigen Heirat zwischen ihnen, alsjay »Dara«, ein Hauptmann des Heerbanns aus Rachiswasser und Mann mit seltsamem Geschmack, nach Grat aufstieg, um sich dort eine Frau zu suchen.
Jay war mein bester Soldat gewesen, und im Anschluss an die Schlacht von Pasquin's Turm vor fast dreißig Jahren, als der Gouverneur von Unterland sein Leben ließ, habe ich Jay und seine Frau Genja als Gouverneure der Festung Unterland eingesetzt. Ich wusste, dass ich sie dort im Auge behalten 290 konnte, insbesondere im Hinblick auf ihre Nachkommen, die vielleicht sowohl die Schnelligkeit eines Läufers als auch lange Flügel ererbt haben könnten. Zum Unglück für Jay ist jedoch die Herrschaft über die Festung Unterland eine gefährliche Aufgabe, und einundzwanzig Jahre später starb er kinderlos, nachdem ihn Insekten an der Mauer in einen Hinterhalt gelockt hatten. Allmählich verblasste der Himmel; die Dunkelheit über dem Wald verzog sich in die langen Schatten der Bäume. Der Morgenchor setzte ein; Vögel erhoben sich von ihren Schlafplätzen und sangen in den Zweigen über uns. Raa lauschte ihrem Gesang äußerst argwöhnisch, während sie das letzte Stück Pan Forte aß. Sie hielt inne und horchte auf das Klappern von Hufen und das schwere Surren von eisenbeschlagenen Kutschrädern von der Straße. Ein Licht glühte zwischen den Bäumen, verblasste. Der Lärm ebbte ab. Zaunkönigs Stimme rief: »Komet? He!« Ich hob meine Stimme. »He, Serein! Hier drüben!« »Guten Morgen. Tut mir leid, dass ich so ewig gebraucht habe. Es war ein langer Weg, und überall waren Rebellen.« Die Stimme des jungen Mannes tönte zu uns herüber, verwischt von dem Lärm, der entstand, als er sich seinen Weg durch taufeuchtes Dornengestrüpp hackte. Er tauchte aus einem Gebüsch auf, grinste und zeigte mit seinem Rapier auf die Straße. »Aber sie sind inzwischen alle vorbei.« Ich winkte Zaunkönig, er solle mir helfen, den Bogenschützen hochzuheben. Er meinte: »Ich habe das Gefühl, als sollte ich Blitz nicht anfassen.« »Verstehe schon. Du hast Geschichten seiner Heldentaten als Junge gehört, stimmt's? Nun, fass ihn an den Beinen, ich nehme seine Arme.« 291 Wir hatten alle Mühe, Blitz über den unebenen Grund aus dem Wald hinauszubringen. Schlaffund leblos schien er sogar noch größer zu sein, und er war eine schwere Bürde, trotz seiner hohlen Knochen. Zaunkönig stieg in die Kutsche, packte ihn von dort aus unter den Armen und zog ihn hoch. »Die Kutsche ist nicht so elegant, wie er es vielleicht gern gehabt hätte«, bemerkte Raa trocken, jedoch mit offensichtlicher Erleichterung. Ich legte Blitz auf die Seite, und zwar am Boden, weil die Sitze mit unseren Reisekoffern belegt waren. Die Wunde auf seinem Rücken fing wieder an zu bluten, dunkles, geronnenes Blut. Raa stillte den trägen Fluss mit dem letzten Stück Stoff. »Was soll ich tun?«, fauchte sie. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie man mit Verwundungen umzugehen hat. Jant, komm mit uns nach Awendin! Tris ist dreitausend Kilometer weit weg, und im Augenblick ist dein Bericht für San kaum von dringender Priorität!« »Aber ich muss San helfen, einen Heerbann gegen Gio aufzustellen.« »Du kannst Gio nicht aufhalten«, sagte Zaunkönig. »Du bist bloß ein Kurier ... Scheiße, tut mir leid, Jant.« »Wage nicht, dich an die Verfolgung Gios zu machen!«, meinte ich. Mit dem nervösen Gehorsam eines Hauptmanns, der direkte Befehle erhalten hat, hüpfte Zaunkönig auf die Bank. Ich nutzte die Gelegenheit und flüsterte ihm zu: »Ich begleite dich nach Awendin, und wir werden unterwegs nicht anhalten. Aber wenn ich dich verlasse, vertraue Raa nicht! Sie ist nicht sonderlich von dir angetan, Zaunkönig; das ist alles Bluff. Achte nicht auf ihre verführerischen Worte und tief ausgeschnittenen Tops, wenn du weißt, was für dich am besten ist. Ohne Blitz sind wir vor ihren Plänen nur wenig geschützt. Und - ich hätte nie gedacht, so etwas mal zu sagen, aber - hüte dich vor den Zaskai! Zu viele sind Gio ergeben.« 292 »Jant, du bist übervorsichtig.« »Nein. Tu, was ich sage! Wenn ich mit Sans Befehlen zurückkehre, möchte ich dich am Leben finden.« Ich bestieg die Kutsche und pochte an die Decke. Der Kutscher ließ die Zügel knallen, und wir nahmen auf der geraden Straße an Geschwindigkeit zu. Der Wald zu beiden Seiten bildete einen festen Block, eine Palisade aus Bäumen. Die Flugfederstraße war so still, dass es mir schwerfiel zu glauben, unser verzweifelter Kampf habe tatsächlich stattgefunden. Wir erreichten das Herrenhaus nach fünf Stunden, und ich durchsuchte es sogleich nach Arzneien. Ich erklärte Schwalbe Awendin die ganze Sache, und sie sorgte dafür, dass dem Bogenschützen ein sauberes Bett hergerichtet wurde. Der Hausquacksalber war ein vernünftiger Mann, schien jedoch restlos überfordert. Ich schrieb einen Brief, der per Eilboten an die Ärztin der Hacilith-Universität abzuliefern war, und übergab ihn Schwalbes Kurier. Darin stand: »Zu Händen von Ella Rehgen. Persönlich. Folge dem Überbringer zum Gut Awendin, wo Blitz liegt. Ein Rapier hat ihm eine ernste Verletzung zugefügt. Ein einzelner Stoß hat seinen Flügel zweimal durchbohrt und eine punktförmige Verletzung im Rücken, nahe der Nieren, verursacht, aus der bei der leisesten Erregung Blut fließt. Rascher Puls und Dyspnoe; die Rapierklinge war schmutzig. K. J. S.« Und endlich bekam ich ein paar Stunden Schlaf, aber es war spät am Montagabend, volle vierundzwanzig Stunden nach dem Hinterhalt, als ich mich in der Lage sah, Blitz zu verlassen und mich auf den Weg zum Schloss zu machen. Ich flog unter einem überraschend klaren Himmel dahin. Ein voller Mond hob sich wie ein Felsbrocken aus dem
Wald. Über mir erstreckte sich ein Meer aus Sternen; die vertrauten 293 Konstellationen waren inmitten der Unzahl schwacher Lichtpunkte kaum zu erkennen. Das Gewaltige dessen, was gerade geschah, legte sich wie eine schwere Last auf mich. »Habicht«, sagte ich laut. Blitz war verwundet. Aber warum gerade jetzt? Er hatte so lange überlebt. Ich hatte ihn nie von Insekten verwundet erlebt; er konnte nur von Menschen verwundet werden, und zwar jetzt, da sich das Reich mit sich selbst beschäftigte. Ich flog dahin, und mir war kalt bei der extremen Einsamkeit. Nachtigall hat mich verlassen, und jetzt war Blitz fort. Ich muss ein wenig mehr Scolopendrium nehmen, dachte ich, und verspürte plötzlich ein Entsetzen davor, dass ich es tatsächlich täte. Jetzt, da ich allein war, fürchtete ich mich weitaus mehr vor dem Scolopendrium. Seltsam. Ich schlug mit den Flügeln, fand ihre Stärke beruhigend. Ich kann mich auf niemanden verlassen. Was ich auch tue, es liegt jetzt an mir, und ich muss wachsam bleiben. Wir müssen dem Imperator vertrauen. Meine Flügelspitzen streiften die Baumwipfel, als ich in niedriger Höhe durch die Nacht zum Schloss flog. KAPITEL 14 Ich folgte der Eskestraße, die sich als eine graue Linie durch die Wälder zog. Wenn ich mich auf meinen Kompass hätte verlassen müssen, wäre ich vom Seitenwind, so sanft er ja auch wehen mochte, kilometerweit nach Norden abgetrieben worden. Bei Einbruch der Dämmerung war das Schloss ein dunkler Klecks am Horizont. Selbst aus dieser Entfernung spürte ich die Anspannung: Da stimmte etwas nicht. Dutzende winziger Feuer brannten am Saum des Waldes auf der offenen Wiese des Kronguts rund um das Schloss. 294 Hunderte winziger Pünktchen kamen unter den Bäumen hervorgerannt und fächerten sich auf- Männer, die zielstrebig auf bestimmte Stellen zuliefen und eine Arbeit in Angriff nahmen. Näher heran beobachtete ich, dass Bäume gefällt wurden und der zusammenströmende Mob sich in Reihen aufstellte. Sie ließen Karren zurück, die das letzte Stückchen Straße verstopften, und am Waldrand kurbelten sie die riesigen hölzernen Arme von Trebuchets hoch. Ich zählte sechs Maschinen der größten Klasse. Männer mit Schaufeln füllten rasch die Kästen für das Gegengewicht mit Erde, während eine weitere Abteilung systematisch den letzten Wachturm an der Eskestraße abbrach, die Steinblöcke auf Karren lud, zurückfuhr und neben jedem Katapult einen großen Haufen stapelte. Knapp vor den Trebuchets formierten sich Gios Rebellen zu einem großen Halbkreis vor der östlichen Mauer des Schlosses; Zentrum war das Haseltor. Ihnen gegenüber, den Rücken dem Schloss und dem äußeren Burggraben zugekehrt, stand eine wesentlich kleinere Formation, die Verteidigung des Schlosses. Sie waren vom nordöstlichen und südöstlichen Turm eingerahmt: ein Elitetrupp aus Schwingelgras, ein Elitetrupp aus Shivel vor dem allgemeinen Trupp aus Schwingelgras, dem allgemeinen Trupp aus Shivel - der volle Heerbann zweier Güter von Prärieland, aber eben bloß zwei. Entweder hatte die Rebellion weit um sich gegriffen, oder die Häuser konnten die Männer nicht rechtzeitig bereitstellen. Ihre Fahnen knatterten im Wind, ein Geräusch, bei dem stets Furcht in mir aufsteigt. Zentrum war ein fester Block aus schwer gepanzerten Hastai - Infanterieveteranen der Elitetruppe - sowie einer Gestalt, die so riesig war, dass ich in ihr, als ich mich über ihnen auf die Seite legte, sogleich Tornado erkannte. Zu beiden Seiten bildeten Pikeniere einen dichten Wald aus Piken. An den Flanken scharrten die Pferde der Kavallerie un295 ruhig mit den Hufen, Hahgels weißes Pferd vor der größeren Gruppe. Der loyale Heerbann war insgesamt ungewöhnlich gut ausgerüstet. Die Rüstungen glänzten - im absichtlichen Gegensatz zu den zerlumpten Rebellen. Sie hoben die Köpfe, um mir beim Vorüberfliegen zuzusehen, und hunderte von Helmen glitzerten. Ich winkte mit den Armen. Schaut nicht zu mir auf, signalisierte ich ihnen; achtet auf die Rebellen! Ich strich über die Curtainwall, beruhigt durch ihre gewaltige Masse. Zwischen den Zinnen der östlichen Mauer waren Langbogenschützen des Reichsheerbannes aufgestellt - auf einmal wurde mir klar, dass die gezackten Spitzen der Türme nicht bloß zur Zierde dienten; die Verteidiger auf der Brustwehr konnten hinter jeder Mauerzacke vor Geschossen in Deckung gehen. Aber das Schloss war die einzige Festung mit Zinnen - die Insektenfestungen, wie die Feste Unterland, besaßen sie nicht, allerdings brauchten sie auch keine. Das Schloss war eine Festung zum Schutz sowohl gegen Menschen als auch gegen Insekten. »Scheiße«, sagte ich, vor Erstaunen laut. »Seit wann hat San das hier schon erwartet?« Die beiden Streitkräfte standen einander gegenüber und horchten auf das Klacken, als sechs Trebuchetarme immer fester gespannt wurden. Jede Seite wartete darauf, dass die andere sich zuerst rührte. Ich kippte ab und umflog den südöstlichen Turm, wobei ich mir überlegte, dass ich Kauz alles mitteilen könnte, was er vom Boden aus nicht sehen konnte, also stieg ich, immer auf der Hut vor weiteren Pfeilen, kreisend einige hundert Meter in die dämmrige Luft hinauf. Bogenschützen lösten sich aus der Hauptangriffslinie der Rebellen und traten langsam vor. Ihre Linie war wie eine lockere Abschirmung. Tornados Infanterie reagierte, indem sie ihre quadratischen Schilde zu einer ungebrochenen Wand aneinanderhakte. Eine Sekunde später hoben die Reihen ihre Schilde über die Köpfe und bildeten so ein improvisiertes 296
Dach gegen die Pfeile. Eine so seltsame Formation hatte ich zuvor noch nie gesehen, aber ich bewunderte den Einfallsreichtum von Kauz. Dann fuhren die Gegengewichte krachend herab, und die Arme sämtlicher sechs Trebuchets schössen in die Höhe. Ich schwebte weit über ihnen und sah von oben sechs Steine im Bogen heranfliegen. Einer schlug nur knapp vor der Maschine auf- der Stein war zu leicht gewesen; die mittleren beiden flogen zu kurz und rissen lediglich den Grasboden auf; ein vierter sauste knirschend durch das Blätterdach der entferntesten Platane auf der Koppel und fiel in den Graben, so dass weiße Gischt aufspritzte. Zwei Felsbrocken schienen, als sie unter mir heranflogen, immer größer zu werden, beim Herabfallen wieder zusammenzuschrumpfen, und trafen schließlich die Zinnen. Bogenschützen duckten sich, als Splitter von den Steinen der Außenmauer umhersausten. Aus den Wäldern brach ein fernes Jubelgeschrei hervor, gefärbt von der Furcht über die eigene Kühnheit. Männer zogen an den Winden, um die Arme der Trebuchets wieder herabzuholen; dann wälzten andere erneut einen Stein in die jeweilige Schlinge. Entsetzt fragte ich mich, wann Kauz endlich irgendetwas unternehmen würde? Menschen beschädigten das Schloss selbst! Zaskai greifen tatsächlich uns an. Was haben wir getan, um einen solchen Hass in ihnen hervorzurufen, dass sie uns tot sehen wollen? Wollen sie dem Imperator schaden und den Kreis vernichten? Wenn Gio ins Innere gelangt, weiß er den Weg zum Thronsaal. Meine Gedanken wirbelten umher, und ich überlegte, was geschähe, wenn sämtliche Eszai sich gleichzeitig im Zustand der Sterblichkeit wieder fänden. In weniger als einer Minute waren die Trebuchets wieder schussbereit - offensichtlich bemannt vom ausgebildeten Heerbann Eskes. Ihre Zielgenauigkeit wurde größer: Nur ein 297 Block flog zu kurz vor das Yetttor in der südöstlichen Mauer. Einer ging zu weit, prallte auf den Zaun der Koppel und schlug ihn in Stücke; die übrigen vier donnerten in die Curtainwall. Das Schloss blutete weiteren Schutt in seinen inneren Graben. Ich bemerkte, dass die hölzerne Brücke zum Haseltor entfernt worden war. Jetzt schössen die Bogenschützen der Rebellen Pfeilsalven auf den loyalen Heerbann ab. Die Pfeile blieben in den Schilden stecken, welche die Infanterie schützten, fanden ihre Ziele jedoch im Fleisch der Pferde und riefen Unordnung und Aufregung in der gesamten Kavallerie hervor. Da reichte es Hahgel Rosinante. Er winkte seine Reiter voran, und sie wurden schneller, fächerten sich zu einer schmalen Linie auf und hoben ihre Lanzen. Sogleich machten die Bogenschützen kehrt und rannten zu ihren eigenen Speerwerfern zurück in Sicherheit. Von meinem Aussichtspunkt aus erkannte ich, dass sie es nicht schaffen würden. Schnell wie Insekten ritten Hahgels Männer sie nieder. Gezackte Lanzenspitzen, die eigentlich Insektenhüllen durchbrechen sollten, stießen glatt durch die weichen Leiber von Awianern und Menschen. Die Hälfte der Reiter ließ die Lanzen in den aufgespießten Opfern zurück, zog die Schwerter und setzte den Angriff auf die Reihen der Rebellen fort. Ich war ... Niemals hatte ich erwartet, Sterbliche gegen Unsterbliche kämpfen zu sehen, und das ausgerechnet auch noch hier! Vor dem Schloss! Und Eszai führten Truppen gegen Zaskai, die wir eigentlich, so hatten wir geschworen, beschützen sollten! Mir war schlecht vor Ekel. Ich wirbelte herum und raste zum Thronsaal. Als die Brise mich seitlich wegtrieb, stieß ich mich von den Zinnen ab, und Bleidächer tauchten unter meinen Füßen auf. Ein weiteres entsetzliches Krachen ertönte vom Haseltor her. 298 Der Turm des Thronsaals sprang wie eine erstarrte Fontäne dreihundert Meter hoch in die Luft und warf seinen Schatten über eine gewaltige Sonnenuhr auf der Böschung. Er war auf dem Pentadrika-Palast errichtet worden, wobei dieser, um ihn aufzunehmen, neunzig Zentimeter tief in den Boden eingesackt war. Der Druck ließ die Balken splittern und verursachte Risse im Putz. Seine Basis bestand aus einem härteren Stein, damit das Gewicht des Turms die Blöcke nicht zerquetschte. Das Ende des Thronsaals war durchbrochen von Buntglasfenstern. Ein Rosettenfenster von zwanzig Metern im Durchmesser krönte ihn, und eine seiner vielblättrigen Scheiben stand offen. Dort passte ich wohl hindurch. Ich zog die Flügel an den Leib, faltete sie und spürte die Federn den Mittelpfosten des Fensters streifen. Das bogenförmige Fensterbrett sauste unter mir vorbei; ich schlüpfte hinein. Die dämmrige, stille Halle war fünfhundert Meter lang, die Decke mit dem Kreuzgewölbe dreißig Meter hoch. Am anderen Ende stand der schwarze Schirm; weit unter mir lag er Fliesenboden mit dem scharlachroten Teppich. Leute, die kaum größer als ein Zentimeter erschienen, sahen auf, als ich vor dem Rosettenfenster erschien. Meine ausgestreckten Flügel zeigten sich als Silhouette vor dem roten und blauen Licht. Ich flog in Höhe der transparenten Galerie, die mit verschiedenfarbigem Marmor verziert war. Über mir befanden sich kleinere Spitzbogenfenster, deren große Öffnungen durch spitze Gewölbebögen unterteilt waren. Aus jedem Fenster hatte man einen fragmentarischen Blick auf einen anderen Teil des Schlosses. Mein Körper stieg und fiel mit den Flügelschlägen. Bei jedem Schlag kam ich an einem Bogen vorüber — mit Säulen wie Bündel aus dünnen Rohren. Sie stützten Rippen, die sich mit der Decke verschränkten. Mein Flug den Thronsaal hi299 nab harmonisierte perfekt mit dem Marsch der Bögen, die sich am Fluchtpunkt vereinigten, dort, wo der Imperator sitzt. Die Bossen der Schlusssteine waren überlebensgroß - eine Axt mit Doppelschneide, Eichenblätter, Schildkröten, überquellende Füllhörner, Blumen, kompliziert wie Chrysanthemen. Die Wände erstrahlten im frühen
Tageslicht. Die Sonne schien auf die Ostseite und warf den Schatten der spitzen Fenster bis zum westlichen Gewölbe hinüber. Einen jeden Tag sah San diese Schatten kippen, kürzer werden und auf dem östlichen Gewölbe wieder erscheinen. Über ihm verschwindet die Decke in dem achteckigen Turm; hinter ihm erstrahlt das Sonnenbanner. Der Duft nach Weihrauch wurde schwerer. Die Scharfschützen auf dem Balkon wirkten bedrückt; dann erfüllte der geschwungene, ebenholzschwarze Schirm mein Blickfeld. Ich schwang die Beine nach unten, landete sanft auf dem Teppich davor und trabte durch das Portal, zog meine Flügel ein und faltete sie zusammen. In einer fließenden Bewegung kniete ich vor der Empore nieder. »Mein Herr Imperator, ich bin aus Tris zurückgekehrt und erwarte Eure Befehle.« Ein Krachen, kaum gedämpft von den durchbrochenen Mauern, tönte durch die Halle. Ich zuckte zusammen. »Was geschieht dort draußen? Wie kann ich helfen?« »Die Wächter werden mich über die Lage draußen informieren«, erwiderte San. »Habe ich Recht, dass du ein wenig Neues von der Rebellion berichten kannst?« »Blitz ist verwundet. Ich habe ihn im Haus Awendin zurückgelassen.« Ich berichtete kurz vom Hinterhalt, vom Kräuterschiff und von der in einer Felsspalte versteckten Sturmschwalbe. Bei jedem Krachen oder Ausbruch von Geschrei hielt ich inne und fragte mich, ob sie näher rückten. Ich 300 hörte bloß die lautesten Rufe, chaotisch und unzusammenhängend. Ich ärgerte mich - warum schickte mich San nicht zum Beobachten hinaus? Die Felsbrocken krachten gegen die Außenmauer und zerstörten die Gebäude in der Spalte. Können sie bis zum Palast kommen? Wenn Tornado sie nicht außer Reichweite hält, wird Gio auf den Turm zielen. Der Imperator hörte ausdruckslos zu und sagte schließlich: »Beruhige dich, Komet! Die Verletzungen des Bogenschützen sind bedauerlich, ja, aber er ist nicht der ganze Kreis. Es gibt andere Möglichkeiten, Gio zu schlagen. Berichte mir von Tris - alles, was die Insel betrifft!« »Ich habe Raas niedergeschriebenen Bericht.« Ich holte den abgenutzten Papierstapel aus meinem Ranzen, stieg die vier Stufen zur Plattform hinauf und reichte ihn San. Sein verkniffenes Wolfsgesicht beobachtete mich scharf. Die Ärmel unter seinem elfenbeinfarbenen Umhang fielen locker bis zum Ellbogen. Sein feines weißes Haar hing ihm bis auf die schmalen Schultern herab, wo es sich wellte. Ein atemloser Wächter rannte an der Abschirmung vorbei und warf sich auf den Boden. Sein Sinn für Etikette kämpfte mit dem Drang zur Eile. »Herr«, keuchte er, »Hahgels Kavallerie ist von den Pikenieren der Rebellen abgewehrt worden, aber es gibt nur wenig Verluste. Tornado lässt ausrichten, er müsse die Linien der Rebellen in offener Feldschlacht durchbrechen, will er dem Beschuss durch die Trebuchets Einhalt gebieten.« San nickte. »Sage Tornado, dass ich seiner Urteilskraft völlig vertraue. Erinnere ihn jedoch daran, dass es keine Verfolgung geben darf, sobald er den Widerstand gebrochen hat.« Mühsam kam der Wächter wieder hoch, verneigte sich und ging»Herr«, sagte ich, »vielleicht sollte ich ebenfalls gehen und dem starken Mann helfen. Wir sind schwer in der Unterzahl.« 301 Der Imperator lächelte grimmig. »Diese Situation ist durchaus vorhergesehen. Letzten Monat hat Königin Eleonora angeboten, ihren halben Heerbann zur Bewachung der Mauern zu schicken. Ich habe abgelehnt, da die Verstrickung von Awia in jedwede derartige Aktion die Zwietracht noch fördern würde. Stattdessen haben die Güter von Prärieland ihre Loyalität und die Schwäche von Gios Unterstützung gezeigt.« Zwei weitere Einschläge, nur eine Sekunde auseinander; herabstürzende Dachziegel, dann Stille. Zögernd sah ich zu San, außerstande, meine Zweifel zu verbergen. »Komet, vergiss nicht, dass der Kreis aus den Unbesiegten zusammengesetzt ist. Die stärksten Krieger und besten Reiter der Welt verteidigen uns. Diese Mauern wurden nach und nach von den herausragendsten Architekten der Welt errichtet. Gio Ami mag der zweitbeste Fechter sein, aber er kann nicht überall sein. Seine Gefolgsleute sind von Natur aus untreu, sonst hätten sie sich ihm nicht angeschlossen, und sobald sich das Schlachtenglück gegen sie wendet, wird er sie nicht mehr lange halten können.« »Herr!« »Berichte mir jetzt von Tris!« Ich beschrieb alles, was auf unserer Reise geschehen war, chronologisch. Mir machte es Spaß, meine Arbeit gut zu erledigen. San hörte mir beim Reden und bei meinem Tun zu, da ich auf dem Teppich vor dem Thron in einem roten Lichtflecken hin und her schritt, der durch die Buntglasfenster fiel. Ein weiteres Krachen, gefolgt vom Geräusch zerbrechenden Glases - die Teleskope und Sonnenuhren im Observatorium. Der Imperator runzelte die Stirn und schickte einen Wächter los, der den entstandenen Schaden überprüfen sollte. Das Observatorium war voller Messinstrumente, die exakt die Zeit für ganz Vierlanden festlegten. Tatsächlich verläuft 302 der Nullmeridian von Vierlanden hindurch; die Nordachse, die sich bei null Grad im Thron des Imperators mit der Ostachse kreuzt. Ein weiterer Soldat kam hereingelaufen. Ich trat beiseite, während er sich vor dem Thron auf die Knie warf und
die letzten Neuigkeiten heraussprudelte, die er von seinem Beobachtungspunkt auf dem Strangtorturm gesehen hatte. »Der Eliteheerbann bindet das Zentrum der Rebellen. Die Kavallerie formiert sich neu an den Flanken.« »Sehr schön. Kehre auf deinen Posten zurück!« Ich dachte an das Bild Sans in Tris Istorio. Erneut handelte er wie der Kommandant eines Heerbanns. Ich nahm den Faden meines Berichts wieder auf, wurde jedoch alle paar Minuten von Neuigkeiten über die Schlacht unterbrochen. Jetzt erfolgten die Einschläge von den Trebuchets in größeren Abständen, und die Rufe kamen aus größerer Entfernung. Tornado und Hahgel treiben die Rebellen zurück, dachte ich erleichtert. Ich redete so lange, dass wir die Audienz unterbrechen mussten, damit ich eine Mahlzeit einnehmen konnte. Die vierhundert Kilometer, die ich gerade zurückgelegt hatte, forderten ihren Tribut. Als ich mein Mahl beendet hatte, war es Abend geworden, und das Bombardement hatte vor einiger Zeit aufgehört. Nervöse Diener traten ein, um die Fackeln anzuzünden und die Lampen herabzukurbeln, die an Ketten von der Decke hingen, und sie zu füllen. Der Schlafmangel erschöpfte mich, und ich war praktisch völlig leer infolge von Sans Fragen. Ich starrte die vier Edelsteinsäulen in der Nische hinter dem Thron an: blauer Azurit für Awia, purpurfarbener Porphyr für Morenzia, grüne Jade für Prärieland, silbergrauer Hämatit für die Dunkelberge. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die vier Säulen, obwohl alle gleich weit voneinander ent303 fernt, nicht symmetrisch in der Apsis standen. Ganz rechts außen war Platz für eine weitere Säule, genau dort, wo einige kleine Stufen zu einer eisenbeschlagenen Tür mit Bogen darüber emporstiegen, die zu den Privatgemächern des Imperators führte. Wo einmal eine Säule gestanden hatte, klaffte eine Lücke - für Pentadrika. Ein Wächter des herrschaftlichen Heerbanns trat ein, verneigte sich und lieferte seine letzte Botschaft ab, ohne dem Imperator in die Augen zu sehen. »Tornado berichtet, dass die Rebellen in die Flucht geschlagen sind. Gio Ami wagte nicht, sich ihm im Zweikampf zu stellen, und sein Leichnam befindet sich nicht unter den Gefallenen.« »Sehr schön. Pachte Tornado und Hahgel aus, sie sollen ihren Bericht so rasch wie möglich abliefern.« Der Wächter verschwand, und San richtete seinen Blick wieder auf mich. »Also habt ihr sogar das Insekt freigelassen?« Ich zupfte an dem sich auflösenden Saum eines fingerlosen Handschuhs herum. In ebendieser Minute tat sich das Insekt vielleicht an den Kapharnai gütlich. »Ja, Herr. Wir haben die Wünsche der Trisianer respektiert. Es wird schon schwer genug sein, zukünftig mit ihnen umzugehen. Felchen konnte Raas Angebot leicht zurückweisen, weil Unsterblichkeit für den Senat bloß eine nebulose Vorstellung ist. Die Hälfte von ihnen glaubt nicht mal daran.« »Verstehe. Du hast sie nicht überzeugen können. Im Grunde hast du ihnen sogar weiteren Grund gegeben, uns zu misstrauen. Die Situation muss bereinigt werden, und zwar rasch. Komet, bislang hast du hart gearbeitet. Kannst du das noch besser?« Ich verneigte mich. Während meines Mahls in dem leeren Wachsaal hatte San ein Sendschreiben verfasst, das jetzt auf der Marmorlehne seines Throns lag, sauber versiegelt mit dem karminroten Sonnenbanner. Er betrachtete mich sorg304 fältig, als ob er mir sämtliche geheimen Gedanken vom Gesicht ablesen könnte, und fuhr fort: »Gios Gefolgsleute halten unsere Kutschen an jedem Punkt zwischen hier und Kobalt auf. Gio selbst ist anscheinend nicht leicht zu finden, außer wenn er es möchte. Dieser Brief...« er hob den kleinen Umschlag hoch »... muss dringend an Raa überbracht werden. Hast du jemanden, den du damit betrauen kannst?« Das wäre vielleicht ein armseliger Präzedenzfall: einen Sterblichen darum bitten, meine Arbeit zu erledigen! »Botschaften«, sagte ich, »sind nur dann sicher, wenn ich sie eigenhändig abliefere.« Sans bleiche Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben. »Daran zweifle ich nicht, Komet. Aber für dich habe ich andere Arbeit. Im Anschluss an seine Niederlage wird Gio Ami versuchen, sich wieder zu sammeln. Ich weiß, dass er in zwei Tagen in Eske eine Versammlung abhalten wird, in einem Saal seiner Fechtschule.« »Ja«, meinte ich. »Da bin ich oft gewesen.« »Du sollst dorthin gehen und horchen, was er zu sagen hat, und dann sollst du zurückkehren und mir berichten.« »Wie Ihr wünscht.« Offensichtlich könnte ich nicht einfach so hineinmarschieren, aber mir würde es Spaß machen, einen Weg zu finden, Gio auszuspionieren. Er hatte mir einmal Fechtunterricht erteilt, und ich wusste, dass er ein ausgezeichneter Lehrer war; vor einem Publikum war er der geborene Schauspieler. »Ich schicke den Brief mit einem schnellen, zuverlässigen Reiter«, sagte ich, »der in der Lage sein sollte, an Gio vorbeizuschlüpfen. Raa sollte ihn spät am Mittwochabend erhalten.« »Sehr schön. Wenn Tornado unterdessen deine Hilfe als Kundschafter oder Gesandter benötigt, folgst du seiner Bitte.« Dem Mann helfen, der mein wunderschönes Eheweib 305 fickt? Aber San ließ mir keine Zeit für Introspektion: »Komet, was hältst du von Tris?« Sogleich kam mir Danio in den Sinn; ich scheute vor der Erinnerung an ihre trommelnden Füße zurück und rief mir die Bibliothek des Amarot ins Gedächtnis. »Die Insulaner lieben Debatten und Haarspaltereien, was ich, im
Vergleich zu unserer pragmatischen Art, für einen Irrweg halte. Es ist großartig, dass Tris jetzt von Vierlanden weiß. Wenn wir sie zu Verbündeten machen können, wenn sie willens sind, mit uns in Verbindung zu treten, werden ihre Theorien, fügen wir sie denen des Reichs hinzu, unsere Fantasie hundertfach beflügeln.« »Was hältst du von den Reichtümern von Tris?« »Herr, ich halte sie für sehr gefährlich. Sie werden Habgier entfachen, ganz zu schweigen von Inflation.« »Und die Menschen?« Ich seufzte. »Auf Tris funktioniert alles, aber nur, weil es eine winzige Insel ist. Ich glaube, sie haben ihre Probleme gelöst - vielleicht vor sehr langer Zeit - und sich seither nicht verändert. Auf Tris kann ein Dieb ein ehrsamer Gouverneur werden ...« In unserem Fall ist es normalerweise andersherum. »Aber ich finde es merkwürdig, dass die Einwohner von Kapharnaum nicht mit dem Reich zusammenarbeiten wollen, wie die Rhydanner, und sie halten sich bedeckt, wo ihnen doch eindeutig etwas an der Welt liegt und sie sie verbessern wollen, wie die Awianer ... Es würde Tris vielleicht gut tun, wenn es von der richtigen Welt erfährt. Vielleicht stehen sie unter Schock. Hoffentlich wird das ganze Reich davon profitieren, wenn sie Verständnis für uns entwickeln.« San, der hoch aufgerichtet reglos auf seinem Thron saß, beobachtete mich genau. Er war es zufrieden, dass ich die Wahrheit sagte. »Sorge dafür, dass der Brief rasch und mit höchster Sicherheitsstufe an Raa geschickt wird!«, sagte er. 306 »Ja, Herr.« »Jetzt geh und ruh dich aus, aber kehre am Freitag zurück und berichte mir genau, was Gio in Eske sagt!« San reichte mir den höchst geheimen Brief. Ich erwies dem Imperator meine Ehrerbietung und trat ein paar Schritte rückwärts, bevor ich mich umdrehte und an der Abschirmung vorbeiging. Beim Verlassen des Thronsaals rief ich: »Unsterbliche und Soldaten des Heerbanns, bringt jedweden Brief nach Eske vor Mitternacht zu mir aufs Zimmer. Stellt jede Frage über Tris zurück!« Während ich den Korridor hinab ging, bekam ich flüchtig etwas in den Blick, das sich an der gegenüberliegenden Wand bewegte, und ich kehrte um, nachsehen. Es war mein Abbild in einem hohen Spiegel voller Flecken. Ein Ausdruck des Entsetzens überlief sein Gesicht - selbst in dem Halbdämmer sehe ich nicht so gut aus wie letztes Jahr um diese Zeit. Natürlich nach wie vor dasselbe Alter, aber um meine Augen lagen Ringe und tiefe Schatten; mein abgeschnittenes T-Shirt zeigte das Grau von Stoffen, die schon hunderte von Malen gewaschen worden waren. Ich schaute bei den Ställen vorbei und sah meinen Kurier mit Sans Brief davonjagen. Gewaltige Platanen wuchsen draußen in der ramponierten Koppel. Ich kam an dem Baum vorüber, unter dem ich vor zwei Jahrhunderten Schutz gesucht hatte. Plötzlich stand mir lebhaft das Bild meines abgerissenen Selbst von damals vor Augen, das an dem Baumstamm lehnte. Hätte ich gewusst, dass jeder Herausforderer jederzeit das Schloss betreten durfte, hätte ich nicht drei Tage sitzend unter ebenjenem Baum verbracht und mir überlegt, wie ich mich präsentieren könnte. Auf unserem Weg von Hacilith herauf hatten Straßenräuber meine Freundin umgebracht und mir das Geld gestohlen, das ich mit der Erpres307 sung des Gouverneurs der Stadt verdient hatte. Ich besaß lediglich noch meine Armbrust und ein Klappmesser. Am dritten Tag unter der Platane spürte ich jemandes Blick auf mir liegen - ein Mann, dessen sämtliche Farben gedämpft waren und dessen Umriss unscharf war, als würde ich ihn durch einen Schleier betrachten. Mich überlief ein Frösteln, und ich wagte nicht, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Ich starrte ihn an, und er erwiderte den Blick so seltsam, so voller Zuversicht und so voller Sorgen, die größer und erschreckender waren, als ich begreifen konnte. Eine Welt der Erwachsenen, gesehen von einem jungen Mann, den einen Augenblick lang die Ahnung erschreckte, dass er ihr beitreten würde und alle Tage schwere Verantwortung übernehmen müsste. Achtzehnhundertachtzehn wusste ich nicht, dass ich durch die dünnen Schichten der Zeit mich selbst ansah. Jetzt jedoch begriff ich, dass ich der Geist gewesen war, den mein jüngeres Selbst gesehen hatte. Ich wollte ihm sagen, alles würde sich zum Guten wenden, er würde seine Herausforderung gewinnen und wäre zweihundert Jahre später immer noch dreiundzwanzig. Ich konnte ihn nicht ansprechen, aber ich lächelte — und ich erinnere mich an das warme Mitgefühl, das ich erhielt, weil ich mich zwar, als ich mit dem Rücken gegen die Borke des Baums gelehnt saß, über die Manifestation wunderte, mich jedoch ermutigt und unbefangener fühlte. Als Nächstes geschah vor zweihundert Jahren, dass bei Anbruch der Nacht einige Unsterbliche von der Front zurückkehrten. Ich eilte hin, um die Zügel eines Pferds zu halten, das einen gut gebauten Mann trug, der grauweiß gestreiftes Haar hatte und dessen großer runder Schild das Sonnenbanner des Schlosses zeigte. Der Widerrist seines Pferds war mit gelbem Blut beschmiert. Ich weiß nicht, warum ich erwartet hatte, dass Eszai anders 308 aussahen. Dass das Funkeln des Kreises um ihn lag, war schlicht meiner erregten Einbildungskraft zu verdanken. »Du bist kein Stallbursche«, sagte er. »Ich möchte Eszai sein.« Er muss sich gefragt haben, worin ich mich, um des Reiches willen, möglicherweise auszeichnen könnte. »Dann
komm mit, Streuner.« Er trat dem Pferd in die Rippen, und es galoppierte langsam los. Sein Hufschlag dröhnte auf der Holzbrücke und hallte zwischen den gewichtigen Türmen des gewaltigen Vorwerks wider. Gierig schnappte ich mir noch einige Steaksandwiches; ich verbrauche so viel Energie beim Fliegen, dass ich gewaltige Mengen zu mir nehmen muss. Von den Küchen nahm ich den Weg über den ebenerdigen Flur von Stutenrennbahn, am inneren Westflügel und an Hahgels Gemächern vorbei. Ich passierte den Südwestturm, wo Kauz' hell erleuchtetes Zimmer lag, das voll gestopft war mit wahllos ausgesuchten Trophäen: Insektenbeine, Bärenpelze und Helme von Turnierkämpfern. Dann erstieg ich die dreihundertunddreißig Stufen meines Turms, wobei ich mich die ganze Zeit über an der Wand abstützte. Ich kam an den myrtengrünen Vorratsräumen und dem Badezimmer des ersten Stockwerks vorüber, das so muffig wie ein Söldner roch. Eine Weile lang könnte ich mich aufs Bett legen, an Nachtigall denken und meiner Fantasie freien Lauf lassen - obwohl ich eher in der Stimmung für eine Rhydannerin bin. Oder ich könnte mich, und ich werde es gewiss tun, von der offensichtlichen Alternative ablenken lassen. Vom Wind herangeschleuderter Regen schabte an den Fensterläden. Nachtigall war seit Monaten nicht mehr hier drin gewesen; mein Zimmer war dunkel, und die Regale flössen über von Stapeln gebündelter Briefe. Meine wertvolle 309 Pendeluhr war stehen geblieben; ich zog sie auf und stellte sie auf die richtige Zeit und das richtige Datum ein. Masken für Kostümfeste rahmten einen Spiegel ein. Daneben hing eine Wasserpfeife, die ebenso groß war wie ich und deren verschwommen orangefarbene Röhre sich um die Messingröhre wand wie eine Python. Ich drehte den ovalen Spiegel zur Wand. Verblasste Poster an der runden Decke kündigten Musikfestivals an, Marathonläufe und Herausforderungen, bei denen ich die Sterblichen, die gegen mich antreten wollten, zur Schnecke gemacht hatte. Normalerweise fordert man mich im Winter heraus, wenn die Flugbedingungen die schlechtesten sind, und ich stelle die gleichen Bedingungen, die mir die Unsterblichkeit errungen haben - ein Wettrennen vom Thronsaal des Imperators zum Thronsaal von Rachiswasser und zurück. Eine Vase mit getrockneten Blumen stand da - die einzigen Pflanzen, die Nachtigalls ewige Vergesslichkeit aushalten. Ein paar vergessene alte Projekte gab es auch noch: meine Gitarre, Tennisschläger und eine Armbrust, das eine wie das andere zerbrochen. Mein Rad war dort, das mir viel Aufmerksamkeit verschafft, darum das rote Seil, an dem ich es zum Fenster hinablasse. An der Wand darüber hing eine Reihe verbissen konzentrierter kleiner Federzeichnungen von Turnieren, verfertigt von Frost. Auf dem Kaminsims lagen haufenweise Wachssiegel in ihren Schutzkapseln; dazu ein Souvenir aus Hacilith - ein Spinnennetz, konserviert zwischen zwei Glasscheiben; und ein Klumpen verfestigtes Insektenpapier mit einer eingedrückten Münze. Am Fenster stand »Schmetterling«, meine Insektentrophäe in Seemannskleidung, und meine Rüstung klebte fest an der Wand, darauf jahrzehntealte Ablagerungen von Rost. Eine Sammlung von Kesseln, Toastgabeln und schmutzigen Tellern füllte die Feu310 erstelle. Auf dem staubigen Tisch neben den Retorten und Vorlagen meiner Destillationsapparatur lag eine Notiz in Nachtigalls spinnengleicher Handschrift. Ich zerknüllte sie und warf sie in den kalten Kamin. Anscheinend ist die Verlockung durch Tornado größer, als dass die hübsche Dame ihr widerstehen könnte, dachte ich, während ich in meinem Ranzen nach der Spritze fischte. Sobald ich einmal das Verlangen spüre, geht es sehr rasch bergab mit mir, und das Zimmer erschien plötzlich sehr warm. Ich ertappte mich beim Gedanken, ich müsse mir einen Schuss setzen. Nein, ich brauche ihn nicht. Oh, ja, ich brauche ihn dringendst; ich will nicht, dass mir übel wird. Wenn Nachtigall sieht, wie schlimm mich ihr Ehebruch berührt, kehrt sie vielleicht zurück. Das Problem nach einer so langen Zeit der Trennung ist, dass wir, wenn wir uns schließlich wieder treffen, nach wie vor so selbstgenügsam sind, und das ist ein Hindernis dabei, einander wirklich nahe zu kommen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, griff hinter mich, um einen Flügel herabzuziehen, entfaltete ihn vor mir und hielt ihn zwischen den Knien fest. Ich putzte mir die Federn mit den Fingern, als würde ich Harfe spielen, ich hörte sie rascheln und spürte die dünne Haut, die meine Federn säumte. Hier sind Venen, die ich nicht benutzt habe, und sie sehen verlockend aus. Aber wenn ich ausrutsche und etwas schief geht, oder wenn ich sie beschädigt habe und gelähmt wäre, wäre das mein Ende. Ich habe mir zuvor nur ein einziges Mal einen Schuss in einen Flügel gegeben, und da war ich völlig verzweifelt. Sie waren heilig. Seufzend, jedoch erfreut darüber, noch immer zumindest ein wenig Willensstärke gezeigt zu haben, löste ich den Bindfaden mit dem Anhänger um meinen Hals, schlang ihn mir um den rechten Arm und klemmte mir die Enden zwischen die Zähne. Ich spannte meine Finger und versuchte ungeduldig, eine Vene herauszu311 kitzeln. Vergifte dich nicht selbst, Jant. Finde deinen Weg nach Epsilon mittels Meditation. Ja, ja. Warum glaubte Estragon, ich wolle nach Epsilon gehen? Andernort war ein ungewollter Nebeneffekt, wo ich die Droge doch nur benötigte, um meinen Schmerz zu vergessen. Warum Welten durchwandern, wenn man in jeder ein Immigrant ist? Ich saß da, die Nadel in der Schwebe, und spürte einen letzten Hauch schuldbewussten Trotzes. Dann schob ich sie geschmeidig hinein. In der Zeitspanne eines Herzschlags schlug sie wie ein Vierspänner zu. Ich fühlte mich
wie ein Gott, wenn auch wie ein ziemlich unfähiger, als ich die Chaiselongue unter meinen Karten ausfindig machte und mich hinlegte. Es war wie der Flug gegen eine Mauer. Meine Gedanken spielten draußen im Freien über mir, wurden jedoch grob zurückgepfiffen, weil jemand die Türklinke niederdrückte. Eine anmutige und schicke Gestalt trat ein und schien über mich hinwegzufließen. Nachtigall betrachtete mich genau. Sie war eine Schönheit; ihr Leib schien zu tanzen. Ihre Wirbelsäule war eine Schlange, ihre Stimme das Sahnehäubchen auf der Torte ... »Oh, typisch«, sagte sie verärgert. Sie zog sich die Lippen in einem Spiegel über meinem Kopf nach. »Wo bist du gewesen?«, fragte ich misstrauisch. Nachtigall sah herab und musste mir vom Gesicht abgelesen haben, dass Ausflüchte sinnlos waren. »In Kauz' Wohnung ... Ich habe mich gut vergnügt.« »Was, die ganze Zeit über?« »Tornado hat Gio mit einer Hand davon abgehalten, unser Haus anzugreifen. Er sagte, falls Gio näher käme, sollte ich zum Thronsaal laufen. Ich habe ihm Mut zugesprochen ... Ist es in Ordnung, wenn du dich amüsierst, ich aber nicht? Wie ich gehört habe, ist Tris ein vollkommenes Land. Du bist da312 vongesegelt und hast mich hier zurückgelassen.« Nachtigall schlüpfte aus ihrem Kleid und suchte, lediglich in BH und Unterrock, nach ihrem seidenen Morgenmantel. Ich fand es schwer, mir um etwas Sorgen zu machen; alles wäre mir egal, selbst wenn der stärkste Mann der Welt hereinkäme und sie vor meinen Augen flachlegte. Ich sah sie mit waidwundem Blick an: Bitte nimm mich mit nach Hause und steck mich in dein Bett! »Lass das!«, sagte sie. »Willst du die ganze Nacht so daliegen, mit herabbaumelnder Hand? Wir hatten eine Abmachung, Jant. Du solltest nicht empfindlich, sondern nur gelassen sein.« Ja, wir hatten eine Abmachung getroffen, nachdem die Spanne eines sterblichen Lebens vorüber war. Wir hatten einander versprochen, dass es akzeptabel sei, Affären zu haben, weil wir einander nach wie vor am meisten lieben und immer wieder zueinander zurückkehren würden. Eigentlich sollte das Schlafen in fremden Betten erfrischend sein, weil wir den est der Ewigkeit miteinander zu verbringen hätten, ohne ns dabei zu langweilen. Ich schob mich auf die Samtkissen hoch. »Nachtigall, waum Tornado}Amre, er ist dumm; demre, als Gesprächspartner 'st er eine Null; shanre, er ist kahl; larore, er ist hässlich; keen, er 'st arm! Ist das wirklich die Art von Mann, die du magst, so Jass du mich nicht mehr liebst? Befand sich dein Stolz unter en Besitztümern, die du in dem Feuer verloren hast? Keemam, st er im Bett besser als ich oder, keemdem, machst du dir so viel Sorgen, ich könnte bei einer Herausforderung geschlagen "erden, dass du dich durch den ganzen Kreis bumsen willst?« »Warum hast du mir mein Geld geklaut?«, fragte Nachtiall. »Kann ich es bitte zurückhaben, oder hast du alles in rogen umgesetzt?« Ich überhörte diesen durchsichtigen Versuch, das Thema 313 zu wechseln, sondern bettelte weiter: »Erinnerst du dich, dass ich dir, als ich um deine Hand angehalten habe, das Spinnennetz geschenkt habe? Wir könnten in die Halle hinabgehen und ohne Musik tanzen, so wie wir es damals, anno '95, getan haben. Komm schon! Steck deine Brosche an - es könnten unsere siebten Flitterwochen sein!« »Zehn Minuten, und du wirst schlicht zusammenklappen.« »Dann komm ins Bett!« »Das ist nicht das Thema! Shira, du bist nie selbst hier!« »Ich bin der Kurier! Sinn meiner Existenz ist, mich auf die Socken zu machen und Neuigkeiten zurückzubringen! Das ist meine Arbeit!« Nachtigall zog den Vorhang über unserem Zimmer zu. Ich lag da und betrachtete genau die Samtfalten; sie sahen aus wie Buchstaben des Alphabets. Nachtigall wischte sich die Augen und sagte ruhig: »Sämtliche Ferien verbringst du in Grat. Der Kampf gegen die Insekten hat dich fast ausgebrannt - also verschwindest du in die Berge. Hast du dort irgendwelche Frauen? Selbst wenn du hier bist, bist du bewusstlos! Ich wusste, dass du wieder einen Rückfall bekommen würdest. Du kannst die Finger nicht vom Kat lassen - Du hältst es nicht aus, mehr als fünf Jahre lang clean zu bleiben. Du denkst nicht an uns; du denkst bloß an diese beschissene Droge!« Nachtigall verstand es, mir wehzutun. Sie hatte über das letzte Jahrhundert hinweg gut beobachtet, und ihre Untreue hatte mich zuvor schon in die Abhängigkeit gestoßen. Wäre sie keine Ehebrecherin, wäre ich kein Junkie. »Ich habe Kat genommen, weil ich eine Scheißangst vor den Schiffen hatte«, erwiderte ich. »Das wissen alle, aber Ata hat mich trotzdem zur Mitfahrt gezwungen. Viel lieber würde ich überhaupt kein Kat nehmen, statt dich damit zu belästigen. Ich hab's unter Kontrolle.« 314 »Hat nicht immer den Anschein.« Naja, stimmte ja auch nicht immer.
Nachtigall ließ nicht locker. »Oh, um Gottes willen! Wenn ich dich verunsichere, fällt es dir plötzlich auf - aber dir ist völlig egal, wie andere auf das reagieren, was du tust! Ich hätte nie einen Rhydanner heiraten sollen.« »Woher kommt das denn schon wieder?« Ich war erstaunt. »Ich meine nicht dein Erscheinungsbild! Es gibt so einiges, was du schlicht nicht kapierst, so sehr du dir auch Mühe gibst. Dir fällt überhaupt nicht ein, an jemand anderen zu denken, als ob du immer noch allein in einer Bruchbude in den Bergen leben würdest. Wenn du deine Aufgaben erledigst, denkst du dann jemals an mich?« »Ja. Ja, die ganze Zeit über! Dieses ganze Rhydanner-Gerede ist doch absoluter Blödsinn. Komm mir jetzt nur nicht damit!« »Die Vereinbarung ...« »Scheiß drauf! In der Theorie ist das gut und schön, aber in Wirklichkeit erträgt das keiner von uns beiden!« In einer Flaute zwischen den Wogen des chemischen Vergnügens sprang ich auf die Beine und stolzierte im Zimmer umher. Ich ließ die Hände die bossierten Rücken der Bücher auf den Regalen hinablaufen. Am Ende lehnte ich an dem steinernen Kaminsims und betrachtete veraltete Einladungen zum Tanz. Unsere Eheringe waren Rauchringe gewesen und hatten sich bald in Luft aufgelöst. »Ich bin nach wie vor Eszai«, sagte ich. »Shira ...«, setzte sie an und schwieg dann, als ihr einfiel, was mein Name bedeutete. Ich trat ein sauberes Loch unten in die Tür der Garderobe und ließ mich dann im Schneidersitz auf dem Bärenfellteppich nieder. »Ja! Sieh mal, wie wichtig die Treue für einen Rhydanner ist. Wenn du diese ganzen unfairen Vergleiche anstellst! Ich bin sowieso größtenteils Awianer.« 315 Darauf sagte Nachtigall nichts; seit Jahren hatte sie mich nicht mehr so wütend erlebt. Ich starrte zur Decke, zum einzigen Teil des Zimmers, der sich nicht um mich drehte. Ich hatte Verständnis für Affären; Nachtigall wollte jetzt die gleichen intensiven Gefühle, die sie in ihrer Jugend gehabt hatte. Wir mochten junge Körper haben, aber wir hatten so viele Erfahrungen gemacht, dass wir nicht mehr jung sein können. Nachtigall sollte dieser Tatsache ins Gesicht sehen: Sie ist einhunderteinundzwanzig. Sie wäre inzwischen tot, wenn ich nicht wäre, das undankbare Luder! »Lässt du deine Unterwäsche auch bei Tornado zu Boden fallen?« »Zumindest kotze ich nicht auf den Boden.« »Wo bin ich wohl gewesen, was meinst du? Tris und zurück! Dies ist meine erste Pause seit Monaten; ich diene dem gesamten Vierlanden, nicht nur Waffenschmiede! Du kannst nicht über deinen Tellerrand hinaussehen! Nachdem ich das alles durchgemacht habe - Ozean —, verdiene ich da nicht etwas Zuneigung von meinem Eheweib? Nun ja, ich kann einen Jargon sprechen, den Tornado verstehen wird. Ich werde ihn zu einem Duell herausfordern.« Nachtigall lachte. »Mach dich nicht lächerlich!« »Ich werfe ihm den Fehdehandschuh vor die Füße und kämpfe mit ihm. Wenn ich mich ein ganzes Jahr erholen kann, nachdem ich im Krankenhaus gelandet bin. Natürlich wird er mir die Flügel ausreißen, aber das ist die Sache wert.« »Du Wahnsinnsknabe!«, sagte Nachtigall mit einer Spur ihrer ursprünglichen Bewunderung. »Ja, wahnsinnig, das bin ich. Und vergiss nicht, das war keiner der Sterblichen. Nicht Marketender Laysan ...« »Ich habe nicht...« »Oder Aster ...« »Das ...« 316 »Oder Aver-Falko ...« »Nein!« Es war die Tatsache, dass sie ihre neueste Affäre mit einem Eszai hatte, nicht mit einem Sterblichen, die mich so aufbrachte. Sterbliche würde ich überleben, und mein Talent verlieh mir Zuversicht; ich wusste, dass Nachtigall stets zurückkehren würde. Jetzt hatte sie zum ersten Mal die Wahl. »Wirst du dich von mir scheiden lassen und den Kraftmenschen heiraten?« »Jant, stell doch nicht solche Fragen ... Ich gehe jetzt. Ich komme zurück, wenn du wieder alle Sinne beieinander hast. Und wenn du das Geld zurückgeben kannst, das du mir geklaut hast.« »Geld hat nichts damit zu tun!« »Oh, doch. Allerdings.« Ihre reine, Funken sprühende Stimme wurde augenblicklich eisig. Sie hob das kostbarste Becherglas vom Destillierapparat hoch, drehte es um und setzte es nachdenklich zurück. »Ich komme mit der Rückzahlung der Schulden für Waffenschmiede nicht mehr nach. Ich kann es mir nicht leisten, die Gießereien wieder aufzubauen. Ohne Arbeiter in den Kohlengruben oder Arsenalen ist mein Gut erledigt.« Aber das war doch alles kalter Kaffee; ich hatte stets versucht, Nachtigall zu helfen. Auf einmal wusste ich nicht so genau, was ich antworten sollte, weil ich mehr dem Tonfall ihrer Stimme als ihren Worten gelauscht hatte. »Was sagst du da?« »Waffenschmiede wird verpachtet werden müssen. Ich habe in Betracht gezogen, es zu verkaufen, aber ich möchte meinen Titel nicht verlieren, also ist es mir gelungen, einen Pächter zu finden. Einen Kohle fördernden, Kanäle bauenden, neureichen Geschäftsmann aus Hacilith. Ich habe keine Ahnung, was Blitz davon halten wird. Aber wen interes-
317 siert's? Selbst Glimmerwasser ist nicht mehr in der Lage, uns finanziell auszuhelfen.« »Aber das ist schrecklich! Wie werden wir leben?« »Solide. Die Pacht wird meine Schulden begleichen - zum Glück sind die Kreditbedingungen für Unsterbliche gut -, aber es wird nach wie vor nicht viel übrig bleiben, und ich werde Her leben müssen. Der Mann aus Hacilith und seine Familie werden mir beim Wiederaufbau des Herrenhauses helfen. Bis sich meine finanzielle Lage wieder bessert, wird er dort residieren und auch die Einkünfte aus den Waffenfabriken behalten. Er ist scharf auf eine Zusammenarbeit mit Eszai.« »Darauf gehe ich jede Wette ein. Tut mir leid. Ich liebe dich, Nachtigall.« Nachtigall kam heran und legte mir manikürte Hände auf die Wangen. »Du siehst schrecklich aus«, bemerkte sie und lachte mir Rotweindunst ins Gesicht. Sie küsste mich leicht auf die Wange, und ich roch ihre gepuderte Haut; der Duft drang direkt zu meinen Geschlechtsteilen durch. Ich schlug mir einen Flügel um den Leib, um eine Erektion zu verbergen, die so groß wurde, dass ich glaubte, sie wolle in meinen Bauchnabel hineinklettern. Schließlich bekäme ich heute Abend vielleicht doch noch Sex. »Was würdest du zu einem Quickie sagen?« »Strapaziere dein Glück nicht zu sehr, Quickie!« Und sie verließ mich mit Ziel Wohnung Kauz. Ich schrie ihr nach: »Komm ja nicht mehr zurück! So wichtig bist du mir sowieso nicht!« Ich hob meine Nadel vom Boden auf und warf sie auf den Ankleidetisch. »Mit Kat fühle ich mich besser als jemals mit dir!« Ich fühlte mich, als hätte ich ein Loch mitten in der Brust, und alles, was ich bin, und alles, was ich gewesen bin, würde dort herausfließen, bis nichts mehr übrig geblieben wäre. Ich 318 wurde ausgehöhlt, völlig entleert. Kein Lächeln, keine freundliche Tat, die ich je begehen werde, wird sich in mir selbst festsetzen; sie wird eher aus Pflichtgefühl als aus Liebe begangen. Die Konflikte in der Welt gehen weiter, ungeachtet meiner selbst, sonst wo und unwirklich; von jetzt an besteht keine Möglichkeit mehr, eine Verbindung mit ihnen einzugehen. Ich wurde bloß noch von diesem krankhaften Pflichtgefühl belebt, weil sämtliche Liebe weggespült worden war. Mit einem Gefühl der Verlassenheit und dem seltsamen Drang, wie ein Hund auf allen vieren zu laufen, stolperte ich die Stufen zum Himmelbett hinauf. Ich zog die Vorhänge vor; das dunkle Brokatbett wurde zu einem Schiff, das am Rand eines Strudels herumwirbelte. Seine Segel wollten sich nicht füllen. Kalte Fische schoben sich unter meinen Füßen hoch, fielen von den Polstern dieses Betts herab und auch von überall sonst, wo ich jemals schliefe. In dem winzigen Kolben brodelten Aale, bissen einander. Ich wollte aus der Welt hinaussinken. Ich klopfte eine Vene hoch, die über meinen Bizeps verlief, und ließ die Nadel mit geübter Hand tief hineingleiten. Dann kauerte ich mich gegen das efeuumrankte Kopfteil, seufzte, und Blasen stiegen rings um mich her auf. Scolopendrium durchpulste mich, so gut, bis hinein in Zehen und Fingerspitzen. Ein fester Schlag traf mein Herz, und ich quetschte eine Faust voll meines Hemds fest zusammen. Ich kann auf dem Euphorieschub reiten. Aber auf diesem Ritt gibt es nichts, um sich daran festzuhalten, weil der Ritt man selbst ist. Ich keuchte eisiges Wasser in meine Lungen, und dann war da nichts mehr. Heftig trat ich mich aus meinem Leib hinaus und hinein nach Andernort. Hinein nach Epsilon, den Ort, den man findet, wenn man die falsche Abzweigung benutzt und trotzdem weitergeht. Es gibt keinen leichten Weg hinein. 319 Ich ging die Straße hinab. Es ist eine Einbahnstraße; vom anderen Ende sieht sie wie ein Spiegel aus. Abfall flog in entgegengesetzter Richtung zur Brise vorüber. Einige der ewigen Käufer legten bereits ihre Waren aus, kauften einer vom anderen mit einer gedämpften morgendlichen Energie. Zinken errichteten ihre Stände aus glatten, lebenden Knochen. Mit den Händen formten sie ein körniges Knochengel, und es erstarrte zu hübschen Wirbeln. Sie stellten gerahmte Emotigraphien aus, Bilder, die vom Alter verblasst oder neu und pikant waren, die das Gefühl des Themas aufzeichneten und es wieder ausstrahlten, so dass es der Betrachter erfahren konnte. Ein Hochzeitsfoto sandte jedes Gefühl von Verzückung bis hin zu geheimer Eifersucht aus. Das Bild eines Herbstwalds weckte ein nagendes Gefühl der Wehmut: das Anzünden einer gestohlenen Zigarette, den Geruch nach herabgefallenen Blättern und den Schweiß einer ersten Liebesnacht. Händler an einem Stand mit Haustieren trieben einige Zwerg-Hausmammuts von Hundegröße in einem Pferch zusammen. Ein Archaeopteryx mit indigofarbenen Federn auf einer Stange klapperte mit seinem Schuppengefieder, drehte den Kopf herab und biss in seine Zehen. Die Erdbeeren in einem Obststand in der Nähe plauderten miteinander über das, worüber Erdbeeren halt miteinander plauderten. Ich ging am Ufer eines Flusses entlang, der labyrinthartig in rechten Winkeln und oft hügelaufwärts dahinströmte, zum Rand der Innenstadt. Der Markt drängte sich eng auf beiden Ufern zusammen und sickerte über den Stadtrand hinaus, die Flussmündung hinab auf die offene Ebene zu, ein üppiges Weideland, das mit winzigen, einzeln stehenden Kolibrurfshügeln durchsetzt war. Draußen auf der Savanne hing in der Ferne die skeletthafte Stadt Vista Marchan wie ein gewaltiger Mond bei Tage mitten in der Luft. Vögelschwärme durchflogen ihre sub320 stanzlosen Fata-Morgana-Türme. Einhöckrige Dromedare weideten in dem langen Gras. Sie wanderten klagend umher, ohne den geisterhaften Straßen rings umher auch nur einen Blick zu gönnen. Eine Insektenbrücke ragte
aus der grünen Ebene in die Höhe, wurde am Gipfelpunkt durchsichtig und stieg dann ins Zentrum von Vista Marchan hinab. Die Brücke war so alt, dass sich in ihrer silbergrauen Patina Risse zeigten, wie auf wettergegerbtem Teakholz. Vista Marchan ist eine Stadt, die im Zuge einer Insekteninvasion durchgekracht ist. Die gesamte Welt von Vista wurde von den Insekten unterminiert und brach nach Andernort ein, wo sie jetzt von Epsilon aus sichtbar ist. Ihr sandiges Ödland steigt scheinbar aus dem Boden und erstreckt sich in einer schiefen Ebene hoch hinauf zum Himmel. Die toten Türme ihrer Hauptstadt stehen in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Ebene von Epsilon geneigt und krängen derart, dass ihre Spitzen über der Insektenbrücke hängen. Ihre Fundamente sehen so aus, als seien sie im Boden eingebettet; in Wahrheit jedoch sind sie weder eingedrungen, noch haben sie sich darübergelegt, und sie flimmern leicht in einer Hitze, welche die Savanne nicht spürt. Nichts in Vista Marchan hatte die Insekten überlebt, aber da sie die Grenzen zwischen den Welten so völlig vernichtet hatten, konnten die Menschen jetzt über ihre Brücke dorthin gehen. Ein Insektentunnel hatte sich in den Abgrund der Tiefsee von Vista gebohrt und einen kilometerhohen Wasserfall in einer anderen Welt verursacht, durch den der gesamte Ozean versickert war. Daraus war nichts Gutes erwachsen, abgesehen von der Tatsache, dass es Gott weiß wie viele Millionen Insekten getötet hatte und in den Vorstädten von Somatopolis jetzt ein friedlicher Salzwassersee liegt. Ich überlegte, ob die Insekten schließlich aus eigenen Kräf321 ten Tris erreichen würden; irgendwann in ein paar tausend Jahren würden die Trisianer vielleicht wahrlich Eszai zu ihrer Verteidigung benötigen. Und ich fragte mich, ob die Insekten, wenn sie weitergraben und sämtliche Welten durchbohren würden, in der fernen Zukunft alle verseucht hätten — ob die letzten Welten die äußeren Schichten ihres wimmelnden Nestes bilden würden. Umgaben sie unmerklich Vierlanden auf allen Seiten? Befanden wir uns im Zentrum, nahe der längst überlaufenen Ursprungswelt der Insekten, oder waren wir an der äußeren Grenze, eine der letzten Welten, die fallen mussten? Estragon sagte, sie wolle die Kugel des Ozeans von außen sehen. Ich wollte die Welten abstreifen und einen Blick auf die komplexen Erweiterungen, Öffnungen und verzerrten zusammenhängenden Formen des Gebiets der Insekten werfen. Gedankenverloren durchwanderte ich das Marktgebiet, in dem neue Kleider feilgeboten wurden, sowie das Viertel mit Designerfood und erreichte den Rand, wo irgendwo zwischen den Ständen die schäbigen Buden der ewigen Käufer lagen. Die ärmsten Käufer mussten Stunden bis zum Quantrummplatz laufen, dem Herzen des Markts. Zwar sind alle Spezies vertreten, üblicherweise ist es jedoch ein Schlag für sich: Entweder sind es Wesen aus Epsilon oder Andernort-Touristen wie ich selbst, die von Epsilons Basar so überwältigt worden sind, dass sie ihm nie mehr entrinnen können. »Sie kaufen immerzu Sachen«, hatte Estragon gesagt. »Zwanghaft. Ich meine, das ist ihre einzige Beschäftigung. Sie handeln vom Morgen bis in die Nacht, und dann die ganze Nacht lang in den südlichen Souks. Geld auszugeben ist Mode. Einige von ihnen sind unheilbar süchtig, was ebenso furchtbar ist wie deine Angewohnheit.« 322 »Diese ewigen Käufer ... was tun sie, wenn ihnen die Mittel ausgehen?« »Sie errichten tragbare Stände auf der anderen Seite des Platzes und verkaufen alles, was sie gekauft haben. Dann machen sie sich mit dem eingenommenen Geld erneut ans Einkaufen.« Ich erforschte die Flussmündung. Der Markt hörte am Uferrand nicht auf; die Reihen der Stände führten ohne Unterbrechung direkt in die Mündung hinab und den Flussboden entlang. Hier draußen am Rand von Epsilon erstreckte sich der Markt auch in die Luft. Hohe Metallstreben trugen Stände auf Plattformen in dreißig Metern Höhe. Dort oben huschten Kreaturen umher und kreischten und tschilpten in ihrem Eifer, zu kaufen und zu verkaufen. Sumpfgibbons schwangen sich Hand über Hand an Seilen entlang, die zwischen Pfosten aufgespannt waren; Wirbelspinnen mit meterlangen Fängen spannen Netze darüber, um Flugmaschinen einzufangen. Ganz selten tauchten Wellen auf dem trägen See von Epsilon auf. Das Wasser war so klar wie Luft. Anfangs noch halb eingetaucht, setzte sich der Markt bis in große Tiefen fort, wo er in dem schwachen Licht dem Blick entschwand. Quallen hingen reglos darüber. Dinge mit langen, komplizierten, gepanzerten Beinen wateten zwischen den Ständen einher und griffen nach Sonderangeboten. Im Vergleich zu den Ständen an der Luft bewegte sich der Unterwassermarkt langsam und anmutig; Säulen aus Tang schwangen wie Bäume hin und her. Schwärme von Zitteraalen, die in einem unheimlichen Weiß glühten, schwammen ruhig durch die Gänge. Walrösser mit Stoßzähnen aus Elfenbein und schnauzbärtigen Gesichtern glitten mit trägen Flossenschlägen dahin. Saurianer kosteten präkambrischen Sushi, schmackhafte Bündel aus 323 Seegras und sich windenden Würmern. Sie schacherten um Edelsteine - grüne Glasperlen auf Silberringen. Anorcas scharten sich in komischer Aufregung um einen Muschelstand, und Klale - sehr kleine Wale - kreuzten umher und schnappten Krümel auf, ebenso, wie es Hunde, Ratten und Imnuer an Land taten. Es gab rote Oktopusse mit bleichen Unterseiten und acht Einkaufskörben. Rochen mit unheimlichen geklauten Waren unter ihren Umhängen mieden die Pikeniere, die in den Gängen patrouillierten.
Den Markt umgab eine große durchscheinende Halle, erbaut von den Terschieden aus erstarrtem Wasser. Ihre Baumaterialien waren Platten aus dem lichtlosen Abgrund sowie grau gesprenkelte Blöcke aus dem tiefen Treibsand, wo weiche Kadaver sich in ihre Elemente auflösen. Ihr Bauwerk war mit Ziegeln verziert, die vom Salzwasser aus Meereshöhlen blau gefärbt waren, sowie mit seltenen Aquamarinen vom Oberflächenwasser, das grün entflammt, wenn die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hindurchblitzen. Eine Fröhlichkeit weiblicher Terschiede sah vom Vorplatz ihrer Halle durch die Oberflächenspannung auf. Ich winkte ihnen; sie wandten sich einander zu, kicherten und legten die langen silbrigen Finger in einer mädchenhaften Geste über die lippenlosen Münder. Terschiede sind unbeschwerte Leute und leben in Gruppen zusammen, die man »Fröhlichkeiten« nennt. Sie sprechen durch Gelächter miteinander, das unter Wasser tausende von Kilometern weit trägt. Also können zwei Individuen über ein Netzwerk von Fröhlichkeiten überall im weiten Ozean miteinander plappern. Estragon zufolge plappern sie wirklich miteinander, nichts anderes; ihr spinniger idiotischer Unsinn durchdringt jeden Kubikmeter des Meeres. Terschieden-Fröhlichkeiten ziehen zweimal im Jahr fünfzehnhundert Ki324 lometer weit, tauchen zweitausend Meter in Abgründe hinab oder aalen sich auf den Stränden im Watt und atmen Luft. Kein Terschiede war jemals einzeln aufzufinden. Sie pflegten sogar noch mehr Kameradschaft als die Prärielander. Wenn man einen Fußball über die Straßen von Rachiswasser treibt, würde ein Awianer einem entweder sagen, man solle leiser sein, oder auf das Schild mit der Aufschrift »Betreten des Rasens verboten!« zeigen. Wenn man einen Fußball auf der falschen Seite von Hacilith herumtritt, wird man von jemandem erstochen, und der Ball würde gestohlen. In Eske fangen Prärielander Fußballspiele mit fünfzig Mitspielern auf jeder Seite an, die eine Woche lang dauern. Aber Terschiede hören niemals auf zu spielen. Wie sie es fertig bringen, so weite Entfernungen zu schwimmen und dabei so fröhlich zu bleiben, ist eines der großen Geheimnisse der Natur. Unter meinen Stiefeln knirschten die Kieselsteine. Ich kam an einem Stand mit Erfrischungsgetränken vorüber, unter dem zwei braune, schuppige Teedrachen kauerten. Ihre unschuldigen gelben Augen folgten mir. Teedrachen atmen Ströme von heißem schwarzem Tee aus. Sie werden als Teemaschinen gebraucht; ich trat vorsichtig heran, weil ich nicht damit besprüht werden wollte. Der Standinhaber war ein Polyp, der in jeder Tentakel eine Teetasse hielt und dessen nasse Haut in der Sonne glänzte. »Wie ist das so, ein Polyp zu sein?«, fragte ich. »Schrecklich. Ständig schnüren sich Teile von mir ab und werden Rechnungsprüfer.« Der Polyp verkaufte Tee an einen Schauerbaff, der einen ganzen Arm voller Geisterkekse kaufte. Ich sah den Schauerbaff nicht rechtzeitig und ging versehentlich direkt durch seinen mächtigen, aufgeblähten Wanst. »He!«, rief er. »Pass doch auf, wo du hintrittst, du Bohnenstange!« 325 »'tschuldigung, 'tschuldigung.« Mit erhobenen Händen wich ich zum Uferrand zurück. Sofort schoss ein Terschieden-Mädchen aus den kleinen Wellen und packte mich mit Fingern, die so knochig wie ein Vogelfuß waren, am Knöchel. Ich schüttelte mein Bein. »Verschwinde! Was tust du da?« »Hast du was Kleingeld, bitte?« Die Terschiede war jung, hatte kreisrunde silbrige Augen, so gut wie keine Nase und einen großzügigen Mund, der von einer Seite ihres runden glatten Kopfes zur anderen reichte. In den Winkeln zog er sich wie der eines Delfins nach oben, und er war voller kleiner spitzer Zähne. Ihre dünnen Arme gingen in lange knochige Klauen über, ihre Brust war flach und hatte keine Warzen, und ihr Leib endete in einem breiten Schwanz, wie der eines Aals - dick in der Mitte und am Rand Flossen, die zu einer Spitze ausliefen. Sie hustete ein wenig Wasser aus, erschauerte und atmete zitternd eine Lunge voll Luft ein, als ob ihr das überhaupt nicht gefiele. Wasser lief aus den Kiemenspalten oberhalb ihrer Rippen. Die glatte Haut der Terschiede war außergewöhnlich; jede vorstellbare Pastellfarbe flimmerte auf ihrer irisierenden metallischen Oberfläche: Ich erkannte das Fischgrätmuster, das ihre Muskeln in ihrem Schwanz bildeten. Ihre Rippen waren wie kleine Wellen in Platinsand; sie wirkte unterernährt. Seltsamerweise war sie allein, und sie hatte nicht einmal gelacht. Sie verhielt sich nicht im Geringsten wie eine Terschiede. Erschöpft wedelte sie mit ihrem Schwanz und sah mich bettelnd aus ihren lidlosen Augen an. »Bitte! Ich muss Dinge kaufen.« Ich hockte mich hin und schälte ihre zugespitzten nagellosen Finger von meinem Fußknöchel. »Hallo, kleine Krabbe«, sagte ich. »Ich bin keine Krabbe. Krabben kneifen.« 326 »Nein, sie sind überhaupt nicht feige. Ich war mal eine.« Die Terschiede schüttelte den Kopf, und ein Ausdruck der Verwirrung erschien in ihren Augen. »Worauf willst du eigentlich hinaus? Hast du was Kleingeld oder nicht?« Ich fragte mich, was eine fröhliche, kichernde, dumme Terschiede mit Geld wollte. »Warum bist du nicht bei deiner Fröhlichkeit?« »Dafür habe ich keine Zeit. Ich muss los und weitere Sachen kaufen. Sieh sie dir doch alle an!«, sagte sie
besorgt. Sie drehte das Gesicht von links nach rechts und nahm den weiten Markt in sich auf. Es verlangte sie verzweifelt, dort draußen zu sein und in den Ständen zu stöbern. »Hör mal. Am Hof von Epsilon ist eine Repräsentantin der Terschiede. Ich kann dich ihr vorstellen, wenn du dich verirrt hast. Sie heißt Weit-Entfernt. Ich werde ...« »So heiße ich nicht mehr. Mein Name ist Sommerschlussverkauf.« »Weit-Entfernt? Bist du das? Du bist sehr dünn geworden! Erinnerst du dich nicht mehr an mich?« Sie blubberte besorgt. »Alle Sachen in den Ständen sehen wirklich hübsch und exotisch aus, wenn sie so ausgestellt werden, aber wenn ich eine kaufe und wegnehme, ist das nicht mehr dasselbe. Anscheinend verwandeln sie sich in geschmacklosen Plunder. Ich möchte sie einfach nur alle haben. Ich gebe mein ganzes Geld für Kleider, Schleim und Schmuck aus, und jetzt habe ich kein Geld mehr. Bitte ... Mir fehlen die Musik und die Lichter, und die Standbesitzer reden so freundlich.« Weit-Entfernt war schließlich eine ewige Käuferin geworden. »Nein, mein Mädel. Ich werde dir nichts geben. Niemand, den du auf dem Markt triffst, wird so freundlich sein wie deine Fröhlichkeit. Ich glaube, du solltest zu ihnen zurückkehren.« 327 Die Terschiede begann zu jammern. Ich verstand den Grund dafür, weil ich die Qual der Sucht kannte, und die Effekte aller Süchte sind sich so ziemlich ähnlich. Weit-Entfernt müsste sich vom Einkaufen zurückziehen, und jene Welt, in die sie zurückkehren müsste, würde sehr kalt und unnachgiebig erscheinen. Ich streichelte ihr den Kopf, aber hunderte winziger kreisrunder und durchscheinender Schuppen rieben sich ab und klebten mir an der Hand. Ihre Makrelenhaut glänzte. Sie versuchte, mich am Fußknöchel zu rütteln. »Ich brauche Geld; ich bin so unglücklich.« »Es gibt vieles, worüber man glücklich sein kann. Wenn er Jahreszeiten hätte, würde der Ozean momentan wunderschön aussehen.« Sie suchte nach einem Weg, mir zu entkommen. »Ich bleibe lieber hungrig, statt dich weiter zu belästigen ...« »Nein! Komm zurück! Okay, ich geb dir was Kleingeld«, sagte ich beruhigend. »Du bist einfach ein wenig verloren. Warum rufst du nicht nach deiner Fröhlichkeit? Sie wird dir helfen.« »Das verstehst du nicht«, meinte sie bitter. »Alle Terschiede sind ein wenig verloren, und sie sind es immer schon gewesen. Wir alle! Wir gehören nicht hierher. Insekten zerstören weiterhin unsere Heimat.« »Du meinst, Epsilon ist gar nicht deine Heimat?« »Nein. Da oben.« Weit-Entfernt zog ihren Arm aus dem Wasser und zeigte vage vom Meer weg zum offenen Grasland. »Im Himmel?« »Nein, Dummkopf. Vista.« Vistas bleiches Ödland schien sich zu konzentrieren, als ich es anstarrte. Trotz seiner gewaltigen Größe wirkte es gewichtslos, wie ein Teil der Luft. »Ich weiß, dass die Insekten 328 so gründlich von Vista nach Epsilon gebohrt haben, dass Vista den Pfad hinabgerutscht ist, den sie geschlagen haben.« »Das ganze Meer ist nach Somatopolis gestürzt«, sagte Weit-Entfernt. »Und das Wasser hat auch uns hindurchgetragen. Ha! Nicht genau uns; unsere Vorfahren - es ist vor einer Million Gezeiten geschehen. Aber die Insekten fraßen Somatopolis auf, also sind wir wieder weitergeschwommen und hier gelandet. Wir haben sehr viel Glück gehabt, dass wir überlebt haben; die Seeschlangen und so weiter sind allesamt ausgestorben. Jeder, der zu groß war, um durch den Wasserstrudel zu passen, ist gestorben, ist hoch dort oben auf dem Trockenen gestrandet. Die schlimmen alten Schlangen drehten und wanden sich im Morast. Zu schwer waren sie, um das eigene Gewicht in der Luft zu tragen, und sie wurden zerquetscht. Diejenigen, die in Lachen gefangen waren, sind verhungert, als ihnen die Nahrung ausging. Wir Terschiede haben alle gejubelt. Die Seeschlangen haben uns aufgefressen, aber wir sind entkommen und sie nicht, haha. Doch genau deswegen sind die Terschiede so sehr verloren. Kein Wunder, dass ich mich einsam fühle und einkaufen gehen muss, um mich aufzumuntern ... Nun, kann ich jetzt was Kleingeld haben?« »Na gut, in Ordnung.« Ich grub in meinen Taschen nach Münzen. »Aber zunächst sag mir: Es ist doch bloß ein Mythos, nicht wahr, dass die Terschiede unter Wasser plappern können?« »Das können wir! Zweitausend Kilometer weit!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann's kaum glauben. Ich bin ein Kurier, und wenn es möglich wäre, so weit zu rufen, wäre ich überflüssig. Aber diese Geschichten lassen mich kalt; ich reiß, dass Wasser dicker als Luft ist und Geräusche vielleicht bloß dämpft.« »Es ist wahr!«, sagte sie empört. 329 Ich zuckte die Achseln. »Sieh her! Es ist wahr! Pass auf!« Sie tauchte unter und stieß ihr Signatur-Gelächter aus. Blasen stiegen aus ihrem weit offenen Mund und zerplatzten, setzten ihr wunderbares flektierendes Gekicher frei. »Ha ha ha ha!«, kicherten die Blasen. »Ha! Ha!« Eine Sekunde lang lauschte sie, dann kehrte sie an die Oberfläche zurück und blies Gischt davon. »Ich habe >Hi!< gerufen. Die Küstenfröhlichkeit gibt es weiter.« Aus allen Richtungen kamen Terschiede herbeigeschwommen. Alle sahen sie gleich aus, waren jedoch von
unterschiedlicher Größe. Nackt und grinsend wanden sie sich zwischen den Marktständen dahin oder glitten mühelos über sie hinweg. Ihre Kaulquappenschwänze wellten sich gleichförmig, ihre langen Arme zogen sie nach, die Köpfe hielten sie gehoben, und sie beobachteten die Oberflächenspannung. Ihr Schwimmen erinnerte mich an mein eigenes Fliegen; beider Anmut straft die Kraft Lügen, die beides erfordert. Ich weiß ihre Robustheit zu würdigen, aber ich neide ihnen nicht das kalte Wasser. Der erste Terschiede schlug an der Flussmündung an und schoss gischtsprühend an die Oberfläche. Sein Lächeln war so breit, dass ich glaubte, er würde den Ozean trinken. »Weit-Entfernt! Ich habe dich ja seit ewigen Gezeiten nicht mehr gesehen!« »Wandersmann!«, rief Weit-Entfernt. Er gab ihr einen Klaps mit seinem Schwanz. »Hast du dich von deiner letzten Einkaufstour erholt?« »Ich glaube schon«, erwiderte sie unsicher. »Hoho! Dann kehre zu uns zurück! Wir werden dich nicht wieder loslassen, Weit-Entfernt. Wir werden durch die warme Strömung über die Riffe gleiten, während sich vor uns Fischschwärme zerstreuen. Wir werden ein Echo für das so330 nare Gelächter sein, das von der benthalen Fröhlichkeit fünfhundert Faden tief heraufsteigt.« Ihre ganze Fröhlichkeit durchbrach gleichzeitig die Oberfläche; einhundert runde Rücken wälzten sich auf den Wogen. Das Meer glänzte silbrig von ihren Leibern; Gekicher und Keuchen benässte die Luft. Kichernd und schallend lachend umringten sie Weit-Entfernt. Ihre runden Köpfe gingen in die Höhe, einige sprangen aus dem Wasser und vollführten einen Purzelbaum zurück, wobei sie ihre glänzenden Schwänze zucken ließen. Die am nächsten legten sich auf die Steine, gestützt auf ihre spillerigen Arme. Sie zeigten auf mich in meinem »Club 18oo«-T-Shirt und den schwarzen Flügeln und brachen in hilflosem Gelächter zusammen. Weit-Entfernt sah zu mir auf. »Es ist meine Fröhlichkeit! Meine! Ich soll zurückkommen. Vielen Dank für deine Hilfe; ich werde sie nicht vergessen. Hm? Tschüs!« »Warte!«, rief ich. »Ich möchte etwas über die Seeschlangen erfahren. Wie kann Estragon sie retten, wenn sie doch ausgestorben sind?« »Estragon?«, schrie Wandersmann. »Wo? Ein Hai! Ein Hai!« Er tauchte unter und lachte einen Alarmruf durch das Wasser. »Ein Hai?« »Schlimmer noch - ein Megalodon! Schwimmt um euer Leben!« Die Köpfe verschwanden unter Wasser, die Schwänze fuhren in die Höhe. Blasen rieselten zwischen ihnen einher. Sie peitschten das Meer zu weißem Schaum auf, den die nächste Welle ans Land spülte. Die dicht gedrängte Menge aus Terschieden glitt ins tiefe Wasser hinab. »Weit-Entfernt!«, rief ich. »Kommt zurück, ihr leidigen Amphibien!« Aber ihre Fröhlichkeit war verschwunden und hatte bloß das gelegentliche Kichern zurückgelassen, das der Wind zu mir trug. 331 Ich spürte das ungewöhnliche wärmende Gefühl, etwas richtig getan zu haben. Ich lungerte weiter herum und beobachtete den wässrigen Handel auf dem Souk. Weit-Entfernt war eine Süchtige, und mir war es gelungen, ihr zu helfen; vielleicht bestand für mich doch etwas Hoffnung. Ich wusste nicht, ob sie nur vorübergehend kuriert war oder welcher Stress eine sorglose Terschiede zum 1-A-Einkauf trieb. Bei mir waren es meine Vergangenheit und zurzeit Nachtigalls Untreue, die mich bei lebendigem Leib auffraßen. Aber jeder Wechsel nach Andernort war der Beginn des Todes, und das ist der Trip. Ich wünschte, dass mich jemand in Vierlanden auf die Weise retten würde, wie ich Weit-Entfernt gerettet hatte. Ich brauchte jemanden, der stark und direkt wäre, sich einmischte und mich zum Aufhören zwänge. Die Anziehungskraft auf meinen Körper setzte ein. Ich konzentrierte mich und verdoppelte die Geschwindigkeit, mit welcher der lebhafte Markplatz zu einem Grau verblasste. Zu Schwarz. Zu Schwarz, zu schwarz zuschwarz uschwa wa wa was is wasp wa spri wa voll spri voll voll spritz voll spritze voller spritze voller Blut. Die Spritze war voller Blut. Blut tröpfelte oben aus dem Kolben. Laken und Matratze hatten sich rund um meinen Ellbogen damit voll gesaugt. Die Spritze sah aus wie eine rote Glasfeder, die meinem Arm entspross, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Scheiß drauf! Ich setzte mich auf und wischte eine warme Spur weg, die aus meiner Nase quer über meine Wange gelaufen war. Ich starrte meine Hand an - sie war rot verschmiert. Scheiße, dachte ich; wie spät ist es? Ich warf einen Blick auf die Uhr - sechs Uhr nachmittags! Und es ist Dienstag! Wie hatte ich zwei Tage lang schlafen können? Heilige Scheiße 332 Gios Versammlung! Ich komme zu spät! Ich zog mich aus dem Bett, fühlte mich schwach und krank, klebrig von Selbstvorwürfen und Groll. Shira, du blöder Hund; du kannst wirklich nicht die Finger davon lassen, du hast es nicht unter Kontrolle. Neunzig Jahre lang, rein ins Scolopendrium, wieder raus aus dem Scolopendrium; du solltest es inzwischen gelernt haben. »Du verdienst nicht im Geringsten, Eszai zu sein, verflucht!«, knurrte ich. Die Sturmwolken über dem Schloss machten jetzt alles unsichtbar. Die Versammlung beginnt in drei Stunden; mit Höchstgeschwindigkeit könnte ich es rechtzeitig schaffen. Sintflutartiger Regen war durch einen zerbrochenen Fensterladen hereingesickert, und mein Ranzen lag in einer seichten Lache. Ich ertrug den
Gedanken nicht, meine Hand in kaltes Wasser zu stecken, also trat ich ihn mit den Füßen zu einem weniger feuchten Teil des Fußbodens. Ich sah mich nach einem Anzeichen für Nachtigall um, aber sie hatte den Tag auswärts verbracht. Ich ertappte mich beim Zittern, und plötzlich durchflutete mich der Ärger. Nichts beherrscht mich; zu was war ich geworden, verflucht? Meine Spritze lag auf dem Boden unter dem Bett, und allein bei ihrem Anblick überwältigten mich Lustgefühle und Verzweiflung. Ich hob sie hoch, hielt sie wie einen Dolch fest und knallte sie auf die Platte unseres Ankleidetischs, bis meine Wut verraucht war und ich ziemlich zynisch das verbogene Ding betrachtete. In ein paar Tagen wirst du das echt bereuen, Shira. Kann den Rest wirklich nicht verschwenden, rechtfertigte ich mich. Ich stolzierte ins untere Zimmer, wo ich meine letzte Phiole mit Kat streckte und das Präparat in eine kleine Feldflasche goss, damit ich beim Fliegen Schlucke davon nehmen konnte. Eine Verwehung aus Briefen war vor meiner 333 Tür entstanden, und als ich sie öffnete, fielen sie ins Zimmer. Ich ließ sie unbeachtet und heftete eine verblasste Notiz an die Tür, auf der stand: »Ich bin nicht da, aber du hast das Training brauchen können.« Ich spreizte die Flügel, wand mich durch ein schmales Fenster und sprang. Auf ging's nach Eske. KAPITEL 15 Meine Flügel schwirrten durch die feuchte Luft. Ich flog rasch, aber der schwache Geruch von Nachtigalls Parfüm an meiner Kleidung lenkte mich immer wieder ab. Ich zog mir das T-Shirt über die Nase und sog ihren reichen, pfefferartigen Duft ein. Sie roch genauso wie bei unserer ersten Begegnung. Ich war Nachtigall begegnet, als mir Blitz bei einem Botengang ein Sendschreiben in die Hand gedrückt hatte, das ich bei seiner Nachbarin abliefern sollte, der Gouverneurin von Waffenschmiede. Der Brief war ein leeres Blatt Papier gewesen, und Blitz ist ein begnadeter Kuppler, aber das entdeckte ich erst Jahrzehnte später. Ich glaube, Blitz wusste als Kenner köstlicher Dinge Nachtigalls Schönheit zu schätzen und hoffte darauf, dass ich sie für immer im Kreis bewahren würde. Ich ersuchte um eine Audienz bei Nachtigall in ihrem Empfangszimmer. Sie war unberührbar, ebenso unnahbar wie eine Katze auf dem Sofakissen, klein und dunkelhaarig, unendlich kultivierter als ein Rhydanner. Ihr weißes Kleid reichte bis auf den Fußboden und lag ihr eng um den Leib. Ich bewunderte ihre Stimme vom Augenblick an, da sie das Wort ergriff; es war, als würde man in warmes Karamell getunkt. Ich wollte ihr Bücher anbieten, die sie laut vorlesen sollte. Im darauf folgenden Jahr, 1892, entschloss sich Nachtigall zur Heirat. Sie ließ verlauten, dass sie Bewerber um ihre Hand willkommen heißen würde, und richtete eine Reihe von Bäl334 len und Essen für ihre Freier aus, die sich in Scharen einfanden und Gold in die Gewölbe von Waffenschmiede schütteten. Der Wettstreit war wesentlich härter, als ich mir vorgestellt hatte; alle hatten sie Titel, und die meisten besaßen Herrenhäuser. Ich hatte nichts zu bieten außer meinem Kuss, der Unsterblichkeit gewährte, aber dass sie jemanden wie mich haben wollte, daran glaubte ich einfach nicht. Ich hatte meine Unschuld in Gutgeliebts Petite Maison mit drei Mädchen verloren - einem Bordell in Hacilith, das ich eine Nacht lang nur für mich gemietet hatte, und ich war ein Drogendealer, also konnte ich es mir leisten. Ich kam nicht dazu, mir eine magere Hure auszusuchen: Rosi Brosia, Lahme Tittenmaus und ein Mädchen namens Alles Zugleich warfen sich auf mich und brachten mir alles bei, was ich wissen musste. Bei meinem ersten Besuch in Awia war ich ebenso wild gewesen; wie ein Schwärm war ich durch das Land gefegt. In Wanderfalke und Tambourin feierte ich Partys bis vier Uhr früh. Ich besuchte jede Nacht das Theater in Glimmerwasser und wanderte von Straßencafes zu Bars, traf Künstler und Hobbynutten in den schmalen Straßen dieser unverdorbenen Stadt. In Rachiswasser nutzte ich die einheimischen Mädchen aus und unternahm lange Spaziergänge am Seeufer. In Brandente blieb ich länger, da ich die Seeluft belebend fand, und im Palast von Krickente deckten sie jede Nacht fünfzehn Tische zum Festschmaus für uns. Von dort aus fuhr ich mit der »Schwarzen Kutsche« nach Tangare und ließ Meringe und Absinth auf die Tagesdecken des Bordells »Zur Corogon-Schule« fallen. Umschlossen von Boudoirs und gegründet von Schülerinnen, herrschte auf seinen Dachgärten bei schönem Wetter allgemeine Zügellosigkeit. Es hing über den angrenzenden Dächern eines ganzen Straßenzugs und wurde durch die heiße, abgestandene Luft 335 der Geschäfte unten geheizt. Ich fickte die Mädchen und trank ihr Selbstgebrautes, während Schreie von den Insassen des Irrenhauses herübertrieben; die Mädchen kannten sie alle beim Namen. Ich habe nie an die Existenz der Liebe geglaubt. Ich wollte alles zu Scherben zerschmettern und mich selbst mit der schärfsten schneiden. Aber Shira Dellin hat mich verändert. Dann kam Nachtigall, die mich ein wenig mehr verwandelte. Ich liebte sie, die Farbe ihrer Haut, die wohlgeformten Beine und ihr Gefieder; ich wollte meine Sinne mit ihr füllen. Nachtigalls unerreichbares Auftreten war Aphrodisiakum und Schranke zugleich. Ich wollte nicht Mitglied ihrer Adelsklasse werden, aber ich hatte Angst, dass ihre Schokoladenstimme über mich lachen und mich zurückweisen würde. Ihre Freier spürten meine Unsicherheit und ließen bissige Bemerkungen vom Stapel, die mich davon überzeugen sollten, dass sie keine Missgeburt heiraten würde. Als ich Shira Dellin begegnet war, hatte mich die Entdeckung überrascht, dass ich Rhydannerinnen bezaubernd fand, aber sie hatte mir auf spektakuläre Weise einen Korb gegeben. Ich flog zu Blitz, der sofort die Ursache für mein abgezehrtes,
schlafloses Erscheinungsbild erkannte. Verzweifelt bat ich ihn um Rat. Schließlich war er der Experte und ich so verwirrt, dass ich jeder Anweisung folgen wollte. Er schlug vor: »Madame Waffenschmiede erhält liebend gern Geschenke.« Ich schenkte ihr einen lebenden Turmfalken, den ich in der Luft gefangen hatte. Die Flügel hatte ich ihm mit einem Geschenkband an den Leib gefesselt. »Komet«, fragte sie, »was soll ich denn damit anstellen?« Am folgenden Tag schmuggelte ich mich zu ihr hinein und bot ihr ein Edelweiß von einem Berg, den niemand besteigen konnte. »Verschwinde!«, sagte sie. »Ich werde dich erst beim Essen mit den anderen Freiern empfangen!« Ich wich zurück, 336 trat zu dem samtbezogenen Sessel am Fenster und entdeckte entsetzt, dass meine Stiefel nach wie vor voller Stalldreck waren. Sie zeigte eisern auf das Flügelfenster, durch das sie den Turmfalken fliegen gelassen hatte. »Du bist mit Davonfliegen an der Reihe!« Verzweifelt und ermattet suchte ich mein Heil bei Scolopendrium. Eines Nachts nahm ich eine Überdosis, weil ich nicht daran gewöhnt war, und entdeckte Andernort. Nach und nach ließ ich dort einen Palast errichten, Silberschlüssel, der mir das Selbstvertrauen schenken würde, Nachtigall den Hof zu machen, aber in meinem Heimatland besaß ich nichts, keinen Stammbaum, kaum einen Topf zum Hineinpissen. »Nein, nein!«, ermahnte mich Blitz erheitert. »Es ist wichtig, ihr wunderschöne Geschenke zu machen, Geschenke, die überdauern werden, die sie an dich erinnern, wenn du nicht da bist. Du musst ihr das Gefühl verleihen, begehrt zu sein, etwas Besonderes - vermutlich kannst du ihr immer irgendwelche Geschichten anbieten. Damen lieben Geschichten, und du hast offensichtlich einen unerschöpflichen Vorrat.« Nachdem ich meine Pflichten erledigt hatte, flog ich vom Schloss auf einen Besuch zu Nachtigall. Ich kauerte am Schlafzimmerfenster und erzählte ihr Geschichten. Sie war sehr begierig darauf, etwas vom Schloss zu erfahren; sie drängte mich dazu, die Dinge zu berichten, die ich für selbstverständlich hielt - was ist hinter der Abschirmung im Thronsaal? Wie sieht der Imperator aus? Wie spricht man mit ihm? Wenige meiner Erläuterungen hielten Nachtigall bei der Stange. Sie ließ sich leicht ablenken, aber sie ließ sich von mir gern eine in Trümmern liegende uralte awianische Zitadelle weit im Norden von Papierland beschreiben. Das unerreichbare Schloss auf dem sichelförmigen Gipfel des Bhachnadich hatte mich vom ersten Augenblick an faszi337 niert, da ich es gesehen hatte. Das Papierland umgab die nördlichen Dunkelberge wie ein Ozean, eine ungebrochene Oberfläche grauer Insektenbauten, die zu Spitzen aufragten und in flache Täler davonfielen. Unter perfekten Bedingungen konnte man am Horizont eine Ruine erkennen, die sich aus der Papierkruste erhob. Anscheinend handelte es sich dabei um ein massives quadratisches Bauwerk, gekrönt von einer steinernen Kuppel. Das Sonnenlicht blitzte auf den vergoldeten Blättern, wenn sie im Wind flatterten. Nachtigalls Interesse spornte mich zu der Idee an, dass ich, sollte ich den Flug zu den Ruinen wagen, vielleicht auf der Kuppel landen und lebendig wieder zurückkehren könnte. Also unternahm ich einen Fernflug ohne Zwischenlandung, erstieg daraufhin den Bhachnadich und warf mich von seiner tausend Meter hohen Felswand hinaus. Ich tauchte in den katabatischen Ressond-Wind ein und jagte über das Territorium der Insekten hinweg. Ein langes löwengoldenes Winterlicht lag über Papierland. Weit unten, zwischen den starren Zellen, sah ich Insekten umherhuschen, die ihrem Instinktleben nachgingen. Wenn ich abstürzte, würden tausende aus ihren Tunnels hervorgeschossen kommen und mich in Stücke reißen. Wenn ich nicht abstürzte, würde Nachtigall an dieser Geschichte Gefallen finden. Ich schwebte, um mich auszuruhen, und flog dann weiter. Nach Stunden, in denen ich abwechselnd im Gleitflug gesegelt war oder die Flügel geschlagen hatte, überkam mich allmählich die Erschöpfung. Flügel und Rücken wurden steif und brannten, was eine Ablenkung von Nachtigall war und eine Strafe für meine Dummheit, mich verliebt zu haben. Als ich es gar nicht mehr aushielt, nahm ich winzige Schlucke von dem wunderbaren Allheilmittel, dem Schmerzmittel, das ich mir besorgt hatte; die Qual verflüchtigte sich. 338 Als der Abend nahte, nahm der Ressond-Wind an Stärke ab. Mitten in der Luft schüttelte ich allen unnötigen Ballast ab; schnürte mir die Stiefel auf und warf sie weg, ebenso Teile meiner Kleidung, bis ich bloß noch Hemd und kurze Hose am Leib hatte. Nach Sonnenuntergang flog ich im Licht eines Vollmonds, und als ich mich dem verfallenen Bau näherte, begriff ich, wie wahrhaft gigantisch er war. Papierland brach um ihn herum auf. Hügelketten aus Papier klebten wie kleine Strebepfeiler daran, und dünnere Stränge griffen hinauf zur Basis der Kuppel. Die Zinnen der angrenzenden Mauern waren nach wie vor erkennbar, aufrechtgehalten von Insektenzellen, aber die Dächer waren eingestürzt. Insekten hatten die Holzbalken aufgefressen, und der gesamte Bau war instabil. Die eingestürzte, abgerundete Kuppel lag undeutlich unter mir, silbern überhaucht vom Mondlicht. Ich landete auf ihrer kalten steinernen Zinne und sah mich nach den zerrissenen Gipfeln der Dunkelberge um, während ich einige Honigbrote aß und den letzten Tropfen Wasser schluckte. Dann warf ich meinen Packen weg. Ich war völlig erschöpft, und meine Flügel schmerzten so sehr, dass ich sie nicht schließen konnte. Die Landschaft war tot; kein Vogelgesang ertönte. Das Schweigen legte sich drückend wie tiefes Wasser auf mich. Hunderte von Kilometern weit lebte nichts anderes mehr als Insekten. Ich war hier der Fremdling.
Ich döste, bis ich spürte, wie ein wenig meiner Energie zurückkehrte, aber die ganze Zeit über horchte ich auf Insekten. Ich lag auf der Kuppel und schaute durch das lichtlose Loch hinab. Da von unten nichts zu hören war, ließ ich mich hinabfallen und landete ungeschickt auf Schutthaufen aus Geröll und Dachsteinen, die auf einen mit Travertin gefliesten Boden herabgestürzt waren. Mir blieben nur Sekunden, bis die Insekten mich riechen würden - etwas frische Nahrung in Pa339 pierland, das sie völlig kahl gefressen hatten — und sich um das Gebäude zusammenrotten, die hallenden Stufen hinaufeilen würden. Das Mondlicht ließ die Kanten des herabgestürzten Mauerwerks blau-grau aufleuchten. Ich sah lediglich einen kleinen Teil des kreisförmigen Raums, der jedoch leer war. Insektenmandibeln hatten die Mauern von jeglichem Stoff gesäubert und Furchen zurückgelassen, die wie eingemeißelt aussahen. Vielleicht war es überhaupt eher ein öffentliches Gebäude und keine königliche Residenz. Ich krallte meine Zehen um den behauenen Block eines Simses und wagte nicht, den mondhellen Kreis unmittelbar unter dem Loch zu verlassen; der Raum selbst lag im Schatten. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich einen schwachen Schimmer inmitten der am weitesten entfernten Blöcke. Ich suchte mir meinen Weg dort hinüber und streckte die Hand danach aus. Es war die Bronzelaufrolle eines Tischbeins. Drei weitere lagen in der Nähe. Vermutlich hatten die Insekten sie zurückgelassen, als sie einen Holztisch gefressen hatten. Alles Anorganische auf dem Tisch wäre immer noch vergraben. Ich schob einige der kleineren Steine beiseite und grub das Versteck einer Spinne von der Größe meiner Hand aus. Eilig floh ich zur Spitze des Schuttkegels und sah zurück. Die Spinne rührte sich nicht. Ihr eiförmiger Unterleib glitzerte dunkel. Unter größter Vorsicht näherte ich mich ihr und tippte sie an; sie glitt klirrend über den Steinstaub. Ich hob sie vorsichtig hoch. Es war eine Brosche aus zwei makellosen Smaragden, auf eigenartig verschnörkeltem Silberdraht befestigt, eine netzförmige Ummantelung, die auf geniale Weise zu acht miteinander verbundenen Beinen gedreht war. Ich heftete die Spinne an mein Hemd und wollte schon zwischen den Blöcken weitergraben, weil ich hoffte, weitere Edelsteine zu entdecken. Da ertönte von draußen ein Geklapper. 340 Mein Pulsschlag jagte dermaßen in die Höhe, dass mir das Blut in den Ohren sauste. Fühler waberten auf der Schwelle, und ein Insekt jagte in den Raum. Ich krabbelte den Schutthaufen hinauf. Ich sprang hoch, packte die Kante des Dachs und zog mich auf die Kuppel. Klauen schössen aus dem Loch und schnappten nach der Luft. Der offene Grund rund um das Gebäude zischte und brodelte vor Insekten. Ich sah sie aus Tunnels hervorbrechen, wie rot-braune Tröpfchen auf einen kochenden See zujagen. Der Schmerz beim Rückflug und die Angst, um Nachtigalls Hand anzuhalten, sind jetzt, während ich zu Gios Versammlung in Eske jage, nur allzu leichte Erinnerungen. Ich erinnere mich auch, dass es mich volle vierzehn Tage kostete, um wieder zu Kräften zu kommen, meinen Mut zusammenzunehmen und mich schicklich auf Gut Waffenschmiede zu präsentieren. Ich ließ die Spinne, den kostbaren Schmuck aus dem alten Awia, in Nachtigalls schöne Hand gleiten, und ihre Schwarzdorn-Augen leuchteten bewundernd auf. »Ein talentierter Juwelier muss es vor der Invasion der Insekten geschaffen haben«, erklärte ich leise. »Es barg eine wunderbare Bedeutung für eine Dame im Altertum, vielleicht eine Eurer Vorfahren.« Ich senkte den Blick. »Ihr sollt die Spinne tragen, wenn Ihr dem Imperator die Hand küsst.« »Du Wahnsinnsknabe«, verkündete Nachtigall. »Du hättest zu Tode kommen können.« »Das Ziel ist, Euch ewiges Leben zu schenken.« Sie musterte die Smaragdspinne, die im Licht von zwanzig Kronleuchtern blitzte. »Du Wahnsinnsknabe, du gerissener!« Ich hatte mich abgewandt und fragte mich, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war. Sie hielt mir einen Finger unters Kinn und hob es hoch. Dann küsste sie mich; stundenlang küssten wir uns. 341 Nachtigall schickte ihre Freier aus dem Mezzanin fort, wo sie mit den Federhüten in Händen Schlange standen. Ein Windstoß fuhr durch die hohen Fenster und fegte weiße Gazevorhänge sowie die Überzüge auf dem Mobiliar in ihrem nahezu leeren Schlafzimmer hinaus. Draußen jagten Schneewolken an einem zunehmenden Mond vorüber. Waffenschmiedes gewundener Fluss stürzte brüllend in einem Schwall durch das spärliche schwarze Waldland. Jenseits der Schwelle posierten drei Katzen in der langen Halle, auf deren polierten Dielenbrettern sich die Schatten dürrer Bäume bewegten. Sie zog mich aus und ließ meine Kleidungsstücke eines nach dem anderen zu Boden fallen. Ihre kleinen Hände fummelten vorn an meiner Hose herum, schoben sie herab und hakten meine Unterhose von meinem harten Schwanz los. Mit den Fingerspitzen folgte sie den Grübchen an meinen Hüften, die zu ihm hinabführten; sie sah ihn sich genau an. Sie berührte die Spitze; sie schwoll unter ihren Fingern an. Ich stöhnte, und sie meinte: »Pscht! Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu beeindrucken, Eszai. Willst du mich etwa nicht?« Sie ging zu dem Himmelbett und setzte sich auf die Tages decke. Die Spinnenbrosche hockte auf dem Kissen. Langsam ging ich auf sie zu; sie war fünf Jahre älter als mein physisches Alter und selbstbewusst in ihrer außerordentlichen Schönheit. Ich verstand nichts von liebevollem Sex; ich hatte immer nur Huren und die Ehrgeizigen gefickt. Ich hatte das entsetzliche Gefühl, geprüft zu werden, aber ich konnte mich lediglich ergeben
und Nachtigalls Führung folgen. Sie streichelte meinen Flügel und ermutigte mich, unter die Decke zu schlüpfen. Sie entkleidete sich elegant und behielt ihre versteifte Korsage mit den weißen Strapsen an den Strümpfen an. Die Korsage bedeckte ihre Brüste bis zum Bauch; ihr Slip war irgend342 wie mit dem Kleid verschwunden. Sie lag auf der Seite, wie bei den awianischen Frauen üblich, aber anders als die anderen, mit denen ich bisher geschlafen hatte, wandte sie nicht den Blick ab. Sie war ohne jede Hemmung, zu stolz, dem Druck der Mode zu folgen. Ich lag hinter ihr auf der linken Seite, und mein Leib schmiegte sich an den ihren. Die glatte Höhlung zwischen ihren Schulterblättern passte genau an meine Brust, meine vernarbte Schulter stand hoch über ihr. Ihre warmen festen Flügel lagen zwischen uns, sie hatte sie in ihr Kreuz herabgezogen. Ihre Satinfedern raschelten und rieben mich, trieben mich vor Lust schier in den Wahnsinn. Sie klemmte sich meinen harten Schwanz zwischen die Oberschenkel. Ich bewegte die Hüften, zog ihn über ihre Seidenstrümpfe. Ich war mir unsicher, was zu tun war. Sie rührte keine Hand, um mir zu helfen, also machte ich weiter und spürte lediglich weiche Haut. Sie legte ihren ganzen Leib nach hinten und öffnete leicht die Beine. Vorsichtig stieß ich aufwärts und spürte, wie sich Fleisch teilte. Sie hüllte die Spitze meines Schwanzes ein. Sie öffnete die Augen und warf einen Blick zurück über die Schulter. »Oh, bitte ...« »Madame.« Ich stützte mich auf den linken Eilbogen und stieß rasch, jedoch nicht sehr tief zu. Ich konnte nicht weit eindringen, der Winkel stimmte nicht. Nur die Spitze meines Schwanzes rutschte glitschig heraus und hinein. Ich spürte ihre heiße und feuchte Muschi nachgiebig, werden. »Weitermachen«, befahl sie ruhig. »Härter. Besorg's mir härter!« Sie flüsterte schmutzige Worte. Es schockierte mich, sie murmelnd Kobolde und Leiber anrufen zu hören, die sich zu zweit, zu dritt überall im dunklen Zimmer ätherisch vergnügten. Sie war nicht feinsinnig; sie mühte sich unentwegt, meine Brust in den Blick zu bekommen. Sie hob ein Knie, um meinem Versuch entgegenzukommen, sie tiefer aufzuspie343 ßen. Ihre Oberschenkel wurden sehr nass. Ich wischte mit einer Hand über ihren Umriss, hielt inne in dem weichen Einschnitt zwischen Rippe und Hüfte. Ich schob meinen linken Arm unter ihre Taille, um sie höher anzuheben, während ich die ganze Zeit über hoffte, dass meine beste Vorstellung gut genug für sie wäre. »Du schaffst es«, sagte sie verwundert. »Du schaffst es ... du schaffst es, du schaffst es, du schaffst es. Nicht kratzen!« Fest schob sie meine Hand in die Schnüre ihrer Korsage und drückte sie gegen eine kleine Brust, ermutigte mich dazu, sie kreisförmig zu reiben. Kein anderes Mädchen, mit dem ich bisher geschlafen hatte, hatte je so etwas getan. Ihre braune Warze war hart unter meiner Handfläche. Ihre Locken wellten sich auf dem Kissen. Ein herabhängender Zopf aus meinem Haar strich ihr über den Hals. Ich stieß zu und kämpfte. Ich wechselte von kurzen und raschen zu langen und langsamen Stößen. Ich sah meinen Schwanz hinein- und herausgleiten. Erstaunt dachte ich: Es passiert tatsächlich. Das passiert mir tatsächlich. Ihre kleinen runden Hinterbacken schoben mich jedes Mal zurück, wenn sie sich gegen mich wälzte. Ich beugte den Arm, der unter ihr lag, und hob ihren Leib mit Leichtigkeit hoch. Ich rieb mit dem Bauch über ihre schwarzen schimmernden Flügel und spürte die Spitzen ihrer Flugfedern mein Geschlecht kitzeln. Dann schob ich meine Hand an ihrer Vorderseite hinab bis zu den drahtigen Schamhaaren. Ich fand ihre linke Hand, die bereits dort am Werk war; ihre Fingerspitzen zogen nasse Kreise. Sie atmete flach durch die geöffneten Lippen. Sie schob meine Hand weg. Tief unter der Haut ihres Rückens bewegten sich ihre Flügelgelenke, als ob sie die Schwingen ausbreiten wollte. »Offne sie um mich!« Sie spreizte sie zu beiden Seiten meiner Taille. Ihre schwar344 zen Flügel bebten bei jedem meiner Stöße und streiften mir über die Haut. Fast hilflos wollte ich in ihr kommen. Ich hielt inne, hielt mich ganz still. »Sieh mich an!«, forderte sie mich auf. Ich stand auf der Kippe. Noch ein weiterer Stoß, und ich würde kommen. Ich hielt inne, um die Kontrolle zu behalten; Nachtigall stöhnte missvergnügt. Sie rüttelte ihren Leib auf meinem Schwanz. »Ich kann nicht«, keuchte ich. »Ich muss warten.« Sie sah auf, mir in die Augen, und kam. Ihr Leib fuhr auf und nieder, hin und her. Ihre obersten Flügelfedern flatterten. Sie atmete tief ein und schrie hinaus: »Härter jetzt, härter!« Sie rutschte fast von mir herab, aber ich packte sie an der Hüfte und stieß so fest zu, wie ich konnte. Ich beugte mich vor, drückte ihre obere Hälfte nach unten, die Brüste auf das Laken, und meine Brust schob sich über ihren Rücken. Meine Hüften schlugen gegen ihren Hintern. Ich vergaß ihren Status. Ich stieß so fest und selbstsüchtig zu wie bei einer Hure. Ich spürte das Flattern in meinem Geschlecht. Ihre Möse pulsierte, drückte wie eine Faust zu und zog meinen Erguss in raschen heißen Stößen aus mir heraus. Ich wurde langsamer und hielt heftig keuchend inne. Ich hätte nicht sagen können, ob sie kicherte oder weinte. Sie zog meine Arme um sich. Erleichterung überkam mich; ich hatte es gut gemacht. »Bleib heute Nacht hier, Jant >Langnagel<«, sagte sie warm. »Mir zittern die Beine.« Wir kuschelten uns eng aneinander und horchten auf den Fluss. Ich überlegte, mit wie vielen Männern sie wohl
vor mir geschlafen hatte, und ich hasste jeden Einzelnen. Die steifen Laken knisterten unter der weißen Brokatdecke; ein Luftzug bewegte die Spitzenbehänge an dem schweren Himmelbett. Nach einer Weile murmelte Nachtigall: »Mmmm ... ich möchte Schokolade ...« Dann schlief sie ein. 345 Ich hielt sie Monate und Jahre und Jahrzehnte fest. Ich nahm sie wie ein Gift durch die Haut in mich auf. Ich kannte ihren Salzgeschmack, meerblaue Flecken, die ausgebreiteten Netze aus Sehnen an ihrem Hals und die Wogen der Rippen. Ich liebte ihren Körper, wenn sie sich wand wie ein Fisch an der Angel, zappelte wie eine Beute. Ich war ihr Hündchen: Ich legte ihr den geöffneten Mund über die Kehle. Ich dachte an die vielen Male, wenn ich geschlafen oder Drogen genommen hatte und ganz allmählich erwacht war, wie sie mich berührt hatte, mein Schwanz bereits hart unter ihrer Hand. Ich wollte Nachtigall. Es benötigte eine Prüfung, die so hart war wie eine Seereise, um die ersten Wogen der Einsamkeit zu spüren und zu begreifen, wie sehr ich sie brauchte. Es war falsch, sie zu vernachlässigen. Ich muss mich entschuldigen. Ich werde sie zurückgewinnen. KAPITEL 16 Nach Mitternacht versammelten sich die Leute in der Fechtschule von Eske. Ich landete, kauerte mich, gut versteckt hinter einem Schornstein, aufs Ziegeldach und beobachtete das Geschehen unten auf den nassen Straßen. Von den Strohdächern der letzten Häuser der Stadt triefte das Wasser, und darunter liefen dunkle Mäntel mit auf und nieder wippenden Schirmen entlang. Männer hatten Laternen an die Haken ihrer Schilde gehängt. Einige betrunkene Jugendliche, die auf müden Kleppern über die Hamulusstraße von Hacilith herab an ihnen vorüberkamen, zügelten ihre Pferde und entspannten sich dann wieder, als sie sich, entgegen dem magnetischen Zug der Stadt, in die andere Richtung davonmachten. Eine Kaltfront kam herein. Die Wolken jagten tief am Himmel dahin und verschmolzen im Osten zu einer einzigen 346 Masse. Blitze flackerten in den Ausläufern des kahlen Waldes. Der Regen fiel heftiger und zunehmend lauter. Das beständige Rauschen des Windes in den Bäumen unterschied sich kaum mehr vom Prasseln des Regens auf dem Dach. Tropfen trommelten auf die herabhängenden Blätter der Weiden entlang des Flusses ein. Der Hasel wand sich an der Südseite der Stadt dicht an Gios Halle vorbei. Ihn konnte ich immer noch erkennen, aber das umgebende Land war zu dunkel für Einzelheiten. Silberschlangen glitten über das Wasser. Ich beobachtete sie resigniert; Nachtigall hatte mich in eine melancholische Stimmung versetzt. Mir waren die Leute ausgegangen, die ich anschreien konnte, und ich bedauerte heftig, so voller Ekel über die Welt davongestürmt zu sein, weil es inzwischen offensichtlich war, dass die Welt keinerlei Anstalten zeigte, sich davonzumachen und mich in Ruhe zu lassen. Einige der Schlangen waren eigentlich Teil des Flusses. Faszinierend. Ich versuchte, die silbrigen Leiber der Schlangen und die Reflexionen auf dem aufgewühlten Wasser voneinander zu unterscheiden, bevor ich begriff, dass die ganze Sache schlicht eine Halluzination war. Brauche bloß noch ein paar Wochen, bis es vorbei ist. Sollte kein Problem sein. Theoretisch. Ich zuckte die Achseln und schickte durch diese Bewegung das ganze Wasser, das sich auf meinem breitkrempigen Hut angesammelt hatte, meinen Rücken hinab. Lautlos fluchend nahm ich den Hut ab und wrang den Regen heraus. Ich weiß nicht mal, ob es noch genauso sein wird wie früher, wenn ich sie ficke, nachdem Kauz seinen riesigen Schwanz in ihr drin gehabt hat. Ich zog den Flachmann aus meinem Schaftstiefel und nahm einen befriedigenden Schluck. Es schmeckte grün wie der Duft nach frisch gemähtem Gras. Jede Sekunde fühlte ich mich leichter und fester. 347 Die Flügel unter meinem Mantel waren warm. Um gegen die Windböen anzugehen, hatte ich sie am Ellbogen beständig öffnen und wieder schließen müssen, und jetzt schmerzten sie heftig. Das steile Dach der Fechtschule war eine glänzende Fläche aus Wasser, in dem sich die Laternen der eintreffenden Leute spiegelten. Regenwasser strömte in breiten Flüssen über die Ziegel und tropfte aus der Dachrinne. Gelber Lampenschein strahlte aus einem hohen quadratischen Fenster knapp unter mir. Am anderen Ende der verputzten Halle ließ Gios Wächter den Schein einer Laterne über die leere Straße laufen. Er sah, dass weiter niemand mehr kommen wollte, und knallte die eisenbeschlagene Tür zu. Ich schob meine Flügel durch die Schlitze in meinem Mantel und schnellte den Dachfirst entlang, wobei ein paar Ziegel nachgaben. Ich krabbelte wie verrückt, rutschte jedoch mit ihnen zusammen hinab und stieß mit den Hacken gegen die Rinne, so dass meine spitzen Zehen über den Rand hingen. Die Ziegel schössen an mir vorbei und zerbrachen zehn Meter weiter unten auf der Straße. Ich lag mit dem Rücken auf der Schräge und horchte. Aus der Halle erfolgte keinerlei Reaktion. Ich ergriff die bleierne Rinne, schwang mich hinüber und fiel in einem kontrollierten Sturz auf das Fensterbrett hinab. Gegen den Rahmen gedrückt, bemühte ich mich mit der konzentrierten akrobatischen Anmut eines Rhydanners, nur so viel Platz wie unbedingt nötig einzunehmen - als ob ich ihn geradezu stehlen wollte -, und spähte durch das Fenster. Gios Fechtakademie war gerammelt voll. Etwa achthundert Leute nahmen die Mäntel ab und ließen sich auf den Klappstühlen nieder. Einige saßen auf dem Boden; auf den Dielenbrettern zwischen ihnen waren weiße
Diagramme für Fechtübungen aufgezeichnet. 348 Eine kleine Bühne direkt unter mir zierten die Wappenschilde von Gios einstigen adeligen Schülern. An die Wände waren Karten und geometrische Figuren geheftet, die hintere Wand bedeckte ein Spiegel. An den Gestellen hingen wattierte Handschuhe und Kettenhemden zusammen mit Rapieren und ihren dazugehörigen sechseckigen Dolchen, runden ledernen Zielschilden und Schuhen mit Ledersohlen - die Gio zum Training der Leichtfüßigkeit benutzte. Eine Pendeluhr mit einem großen Zifferblatt aus Keramik war stehen geblieben und zeigte die falsche Uhrzeit. Daneben wurden in einem polierten Glaskasten stapelweise Preise ausgestellt gravierte Silberbecher und Schüsseln, winzige Figurinen von posierenden Fechtern auf schwarzen Sockeln sowie hunderte und aberhunderte von Satinschleifen. Gio stand neben der Bühne und hielt den Blick aufs Publikum gerichtet. Er wirkte entspannt und selbstsicher wie eh und je, jetzt vielleicht sogar noch mehr, da er auf Grund seiner Wut darüber, aus dem Kreis geworfen worden zu sein, den Leuten keinen Respekt mehr entgegenbrachte. < Hinten in der Halle hatten sich awianische Veteranen versammelt. Vielleicht kamen sie frisch vom Kampf gegen Tornado. Ihre Langbögen trugen sie in gewachsten Baumwolltaschen auf der Schulter, und die Pfeile steckten in Köchern mit Deckel. Die Säume ihrer dunkelblauen Umhänge waren eingeschnitten, damit sie wie Federn aussahen. An der Schulter wurden sie mit Emaille- oder Billonschnallen zusammengehalten. An den Beinschienen mit den Perlmuttkanten rann das Kondenswasser nur so herab, und auf ihrer abgeschabten, feuchten Panzerung fehlten etliche Chromschuppen. Ihr Ausdruck war ebenso grimmig wie das Wetter; sie sprachen nur unter sich. Vermutlich handelte es sich um Männer, die aus dem allgemeinen Heerbann entlassen worden waren und die, nachdem sie ihre Häuser und Äcker von den Insekten 349 vernichtet vorgefunden hatten, aus einem sehr vernünftigen Grund heraus Groll gegen das Schloss hegten. Was jedoch nicht auf die aufgedrehten, störrischen Jugendlichen aus Hacilith in ihren gepunzten Lederjacken, lockeren Jeans und Kettengürteln zutraf. Einige Matrosen in rötlichbraun gescheckten oder orangefarbenen, am Hals zugeschnürten Hemden verstauten ihr nasses Ölzeug unter den Stühlen. Unrasierte Straßenräuber strichen sich über die Ärmel ihrer Mäntel, die vom Regenwasser silbrig glänzten. Sie lösten die Sporen von ihren seitlich geschnürten Stiefeln und ließen sie lose herabhängen. Gio hatte keine einheitliche Streitmacht. Er hatte Deserteure, Wilderer, Gesetzlose, Schmuggler und Flüchtlinge um sich versammelt. An den Wänden lehnten zwanzig Fechtmeister, die angesichts der trotzigen Gesellschaft, die in der Halle Platz nahm, einen zynisch-amüsierten Ausdruck zeigten. Sie waren jetzt Gios Komplizen, keine möglichen Herausforderer mehr, und zeigten das großspurige Verhalten von Fechtern, die sich ihres großartigen Könnens sehr wohl bewusst waren. Das kalte, insektenflügelartige Fenster war von innen beschlagen, und Tröpfchen liefen daran herab, gelenkt von den schwarzen Adern. Aus diesem Winkel konnte mich niemand sehen, und das Stimmengewirr war so laut, dass ich hier oben ziemlich sicher war. So bezaubert war ich, dass mir die Kälte, die mir vom Stein in den Leib kroch, gar nicht zu Bewusstsein kam. Ich hatte mich festgesetzt, in die Fensternische gedrückt, die Beine lang auf dem Sims ausgestreckt. Ein geschmeidiger junger Mann, der ein wunderschönes Rapier trug, betrat auf Zehenspitzen die Bühne und hielt die Hände hoch, um die Menge zum Schweigen zu bringen, was nach und nach auch gelang. Gio pickte sich ein oder zwei Individuen im Hintergrund heraus und starrte sie an, bis in der Halle völliges Schweigen herrschte. Ich mühte mich, den jun350 gen Mann zu verstehen, der seinen Meister vorstellte: »Gio Ami, rechtmäßiger Serein.« Gio nickte, trat vor, und sogleich wetteiferten einhundert Stimmen darum, Fragen zu stellen. Eine tiefe Furche erschien zwischen seinen Brauen. Er trat unter mein Fenster, so dass ich seinen Ausdruck nicht mehr erkennen konnte. Nach wie vor trug er denselben Mantel, der offen stand und eine nackte Brust zeigte, aber er hatte auch das hellrote Wappenband aus Güte durch sein Knopfloch gezogen, wie das Wappen eines Herrenhauses. Sein glattes Haar war zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengefasst. Gio sah die Bühne an, als wäre es für ihn absolut unpassend, in einer erhöhten Position zu stehen. Lieber setzte er sich auf den Rand und ließ die Beine baumeln. Er sprach mit der Menge statt zu ihr. Und als Lehrer wusste er, wie man seine Stimme zum Tragen brachte. »Schon gut, schon gut«, sagte er laut und setzte dann hinzu: »Na schön, ich werde eine oder zwei Fragen beantworten. Was ist, Cinna?« Ein sehr fetter Mann in der ersten Reihe wälzte sich auf die Beine. Ich war erstaunt, Cinna Bawtere zu sehen. Seine Wangen schwabbelten, als er rief: »Du hast nie gesagt, wir würden das Schloss angreifen! Du hast gesagt, wir würden mit dem Imperator reden. Warum bekämpfen sich die Fechtmeister und das Schloss? Für San ist es ein Leichtes, Tornado loszuschicken und uns alle zu vernichten!« Gio holte tief Luft. »Ich habe keine Auseinandersetzung mit dem Imperator. Ich glaube, San weiß, dass ...« »Oder wir sind bereits hinter Schloss und Riegel!« Auf Cinnas scharfe Erwiderung folgte ein zustimmendes Gemurmel aus der Menge. Sie dachten wohl ähnlich - sie hatten darauf vertraut, dass Gio ihrem Groll gegen den Imperator Luft verschaffen würde, und er hatte sie stattdessen in eine
351 Auseinandersetzung mit den Eszai geführt, die stets ihre Beschützer gewesen waren. Einen Augenblick lang sah es für mich fast so aus, als wolle die Menge über ihn herfallen. »Das Problem ist nicht der Imperator San, sondern es sind seine Bevollmächtigten, die Eszai, die korrupt sind und ihn in die Irre führen. Wie ihr alle wisst, verlässt der Imperator sein Schloss nicht. Um die Welt zu verstehen und gerecht zu regieren, benötigt er seine Unsterblichen, aber in ihre Berichte mengen sie sehr wohl ihre eigenen Interessen hinein.« Die Menge schwieg; das war es, was sie hören wollten. Ein eisiger Wind drückte mir meine klatschnassen Kleider an die Haut; die Böe fuhr schrill jaulend durch die Traufen. Ich drückte das Ohr an die Scheibe, um Gios Worte zu verstehen. »Zeit ist das größte Geschenk. San schenkt den Unsterblichen Lebenszeit und erhält dafür ihre Dienste, aber nur wenige von ihnen verdienen ein so kostbares Geschenk. Wir haben Glück, in dieser Zeit zu leben. Die Zeiten sind hart für uns alle, das garantiere ich euch, aber die Gelegenheit ist besser als zu jeder anderen Epoche, die ich in den vergangenen vier Jahrhunderten durchlebt habe. Ich erinnere mich wirklich an die Vergangenheit, und ich weiß: gegen die Verzweiflung ist nur ein Kraut gewachsen, nämlich das Handeln. Seitdem ich den Kreis verließ, habe ich begriffen, wie wenig die unmoralischen Unsterblichen uns Zaskai verstehen. Sie sind allesamt zu langsam und zu verdorben vom Luxus, als dass sie den Vorteil erkennen könnten, den uns diese großartige Gelegenheit bietet: Tris. Es liegt an uns, das Beste daraus zu machen. Keiner von euch ehrenwerten Leuten wird dem Kreis beitreten können. Cinna, obwohl du ein guter Seemann bist; Mauwein, obwohl du ein ausgezeichneter Juwelier bist, ist der Kreis zu korrupt, als dass ihr beide ihm durch eine ehrenhafte Herausforderung beitreten könntet. Und ich, der größte 352 Fechter aller Zeiten, bin gezwungen, einem Neuankömmling Platz zu machen, weil ich zu viel von der Wahrheit ausspreche. Die Aussicht auf Unsterblichkeit, die sie hoch halten, ist bloß eine Illusion, um euch einzuschläfern. Der Kreis würde nie einen Mann akzeptieren, der wirklich die dringende Notwendigkeit einer Veränderung erkennt. Awia kann sich nicht selbst ernähren - sagen sie uns —, also bitten sie uns, unser Geld einem Land zu schicken, welches das reichste der Welt ist. Der Mangel an Arbeitskräften hat seine Ursache in schlechtem Management. Fünfhundert Männer sind allein damit beschäftigt, das Schloss zu säubern, den Efeu von seinen Mauern zu kratzen und seinen üppigen Schatz zu polieren, wo doch gleichzeitig die Prärielande bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht werden, um Awia zu ernähren. In ganz Vierlanden herrscht Nahrungsknappheit außer im Schloss, weil die Unsterblichen stark bleiben müssen. Ist das nicht so?« Er sah zu den geflügelten Soldaten im Hintergrund der Halle hinüber. »Ihr Awianer seid aufgebracht, weil ihr das Gefühl habt, die größten Anstrengungen bei der Abwehr gegen die Insekten zu unternehmen. Euer Königreich ist es, das jedes Mal, wenn sie vorrücken, unter Papierland verschwindet. Ihr fühlt euch bedroht. Ich verstehe, warum ihr glaubt, dass Morenzia euch keine Hilfe zuteil werden lässt. Ihr habt Recht, aber aus den falschen Gründen.« Gio warf Cinna und den Halbstarken aus der Stadt in den Stuhlreihen einen Blick zu. »Morenzianer und Prärielander, ihr seid aufgebracht, weil ihr überbesteuert seid und die Nase gestrichen voll davon habt, dass Hacilith finanziell ausgesaugt wird bis aufs Mark. Ihr habt Recht, wenn ihr unzufrieden seid, aber aus den falschen Gründen. Beim letzten Angriff der Insekten ist das Schloss bloß der schlicht und einfach feigen Politik des awianischen Königs gefolgt und hat ihn nicht wei353 ter im Zaum gehalten. Die Insekten haben sich so gut von der Fülle Awias genährt, dass sie fast die Ufer des Moren erreicht haben. Ich habe im Schloss gelebt und bin Teil des Kreises gewesen. Ich habe gespürt, wie San die Zeit für mich angehalten hat. Wäre ich noch ein Eszai, würde meine Stimme zumindest Gehör finden. Ich könnte versuchen, alles besser zu machen. San will uns unbedingt anhören - wenn uns Tornado in seinem Blutdurst nicht den Weg versperrt hätte, stünden wir jetzt im Thronsaal. San würde die Schatzkisten des Schlosses öffnen und uns unterstützen. Aber aus Respekt vor euren Ängsten habe ich meine Männer zum Rückzug aufgefordert. Jetzt bin ich wieder sterblich, wie ihr, ich kann geradeheraus sagen, wie sehr der Kreis ein Gespinst aus Lug und Trug ist. San würde einen großen Nutzen daraus ziehen, wäre er frei von den Lügen seiner Minister.« Die Menge spürte seine Überzeugung und vertraute seiner Verlogenheit. Mein Gott, dachte ich; er tut nicht nur so, er glaubt es auch! Gio stand auf und streckte sich, dann setzte er sich wieder und schwang die Beine, so dass die Stulpen seiner Stiefel über die Dielen schleiften. Er fuhr sich mit einer Hand übers Haar. Sein Pferdeschwanz hatte sich gelöst, so dass es ihm um die Schultern herabhing. Die Menge schaute zu, einige voller Unbehagen, obwohl ich mir vorstellen konnte, dass Cinna auf einen bevorstehenden Skandal lauerte. Gio unternahm in seiner Rede das, was ein Wechsel der Hand bei einem Fechtkampf bedeutet hätte: »Euer Leiden ist Schuld der doppelzüngigen Eszai. Raa Ata Dei ist eine der Schlimmsten. Fragt euch doch mal selbst, wie man ihr überhaupt gestatten konnte, unsterblich zu werden!«
Gio schritt über die Bühne und um die herabgelassenen schmiedeeisernen Kandelaber herum, und kehrte wieder zu354 rück, wobei seine Mantelschöße hinter ihm flogen. Er trug die Waffe von 1969, ein makelloses Rapier, eine Spezialanfertigung für ihn. Die Edelsteine auf der Scheide blitzten im Lampenschein, wie es nur Diamanten können, und warfen umherhuschende Spektren in allen Regenbogenfarben an die Wand. »Zaskai wissen nicht die Hälfte dessen, was dieses Ungeheuer getan hat, weil die Beichten neu aufgenommener Eszai gewohnheitsgemäß natürlich geheim gehalten werden. Ihr wisst bereits, dass Raa einstmals eure Häfen überfallen, die Küste geplündert und die Flotte versenkt hat - totale Piraterie, von der sich die Küste kaum erholt hat! Wären wir jetzt in einem solchen Zustand, wenn dieses Erzluder nicht ein solches Gemetzel angerichtet hätte? Wie viele Leben gingen verloren? Nun ja, wir wissen es nicht, weil Komet es uns niemals gesagt hat.« Bei der Erwähnung meines Namens spannte ich mich an. Woher sollte ich das denn wissen? Damals musste ich mich um dringlichere Angelegenheiten kümmern, wie zum Beispiel um Insekten, die Unterland belagerten. Aber die Sterblichen hingen an Gios Lippen. »Ata war eine Gattin, die ihren Gatten zu Fall brachte. Der Imperator verlieh ihrer Herausforderung Legitimität. Warum traf er die Entscheidung, sie zu einer so wichtigen Zeit wüten zu lassen? Hat Komet San richtig informiert? Was ging zwischen der Seefahrerin und dem Kurier vor sich, dass dieser blindwütige Aufreißer Ata so sehr unterstützte? Und während Komet den Imperator in die Irre führte - entweder absichtlich oder aus Trägheit -, warf sein Weib das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Jeder andere Gouverneur führt seinen Heerbann an. Wie viele Partys und Modenschauen hat Nachtigall veranstaltet, während Waffenschmiede immer noch ein rauchendes Trümmerfeld ist? 355 Und wenn wir die schlechte Regierung jener Eszai in Betracht ziehen, die so glücklich sind, Land ihr Eigen zu nennen, müsst ihr an die korruptesten des Kreises denken, die ihr vielleicht als die fähigsten erachtet habt, weil ihr an ihre Lügen so gewöhnt wart. Blitz Glimmerwasser ist der beste Bogenschütze aller Zeiten. Das kann niemand leugnen. Natürlich ist er es - seine Familie konnte sich in jener fernen Vergangenheit, als er noch ein Schüler war, die besten Lehrer leisten, und er sorgt dafür, dass die Kunst des Bogenschießens seit damals unverändert geblieben ist. Welch unglückliches Missgeschick, dass er zufällig das Herrenhaus am glitzernden Fluss erbte! Blitz verschönert seinen Palast, selbst wenn eure Höfe und Städte in Trümmern liegen. Übrigens, was ist denn mit den awianischen Kunsthandwerkern geschehen - mit jenen von euch, die nicht hier sind?« Ein Gekicher durchlief die Halle. »Sie reißen sich allesamt in anderen Ländern um Arbeit! Blitz, stets dem Romantischen und Archaischen zugetan, gibt sein Geld nicht rechtmäßig aus, sondern hat Affären mit verheirateten Frauen - wie ritterlich kann man sich geben? Er war an der Zerstörung der Häfen durch seine Geliebte Ata beteiligt, und als das gierige Blaublut Haus Wanderfalke aus den Überresten des Krieges klaubte, übergab er es seiner illegitimen Tochter! Die neuentdeckte Insel Tris ist jetzt, nach seiner Rückkehr, ebenfalls Teil von Blitz' Königreich, nachdem er mit seiner Piratenkönigin und ihrem besoffenen Lakaien den Forschungsreisenden gespielt hat.« Besoffener Lakai? Wer ist das?, fragte ich mich verwirrt. Oh, nein, er meint mich, nicht wahr? »Blitz ist nicht ehrwürdig, sondern veraltet. Er war jung im Geist, als die Welt jung war, aber die Zeit ist weitergeschritten. Er ist ein Relikt aus der Vergangenheit; er hält uns zu356 rück. Es ist Zeit, dass wir die Herrschaft übernehmen, und es ist ein aufregender Moment für Awianer, eigene Entscheidungen zu treffen und ohne ihn zu leben. Frost und ihre Gesellschaft zur Flusserhaltung profitieren vom Wiederaufbau. Hahgel und sein unsterblicher Gatte sind beides rücksichtslose Männer. Erst gestern griffen sie uns an, ohne provoziert worden zu sein, und Tornado schloss sich ihnen bald darauf mit einer Division eurer eigenen Brüder im Heerbann an. Ich glaube übrigens, dass zu viele Leute einberufen werden. Seitdem Tornado vor fünf Jahren seine Freundin verlor, lässt er seine Wut an den Insekten aus, und die Einberufungen dauern an, während die Felder unbeackert bleiben. Der Kreis sollte Leben schützen, aber der Botschafter fliegt nach Prärieland, um Familien auseinanderzureißen. Komet hängt an der Flasche. Diese Wahrheit ist nicht weithin bekannt, weil er sich richtig nur im Schloss gehen lässt - vor dem Auge der Öffentlichkeit verborgen. Ich habe ihn betrunken in der Großen Halle herumstolpern sehen. Oftmals lässt er sich tagelang nicht blicken — und man weiß, dass er während dieser Zeit sein Zimmer nicht verlässt. Warum behält ihn der Imperator, wenn ich gespürt habe, dass der Kreis jedes Mal zuckt, sobald er eine Sauftour unternimmt? Ich weiß nicht, ob der Alkohol seine Zuverlässigkeit beeinflusst - aber ist es denn ein Wunder, dass Gerüchte kursieren, seine Gattin würde mit einem anderen Mann schlafen?« Gio wedelte mit der Hand, um das aufgewühlte bösartige Gelächter der Menge zum Schweigen zu bringen. »Nein, nein«, sagte er. »Das nehme ich zurück. Es sei mir fern, jemanden zu verleumden. Nachtigall kommt gut und gern allein zurecht. Die Gerüchte sind haltlos - genau wie sie!« Wie konnte er es wagen, mich einen dreckigen Säufer zu nennen? Fast wäre ich hinab geflogen und hätte es ihm gesagt 357
Scolopendrium eignet sich viel besser zum Missbrauch. Und ich bin gut darin; ich habe es unter Kontrolle! Aber Alkohol ist wenigstens legal. Die Menge glaubte Gio, weil es ihrer karikaturhaften Vorstellung eines Rhydanners entsprach, und das schmerzte sogar noch mehr. Ich knirschte mit den Zähnen, und das Blut schoss mir heiß ins Gesicht. O Nachtigall, warum hast du mir das angetan? Eigentlich ist es schon schlimm genug, wenn ich keinen anderen Ruf habe, als tüchtig im Bett zu sein aber der launische und unwiderstehliche Kurier zu sein, dem vor aller Welt die Hörner aufgesetzt wurden, das ertrage ich wohl kaum! Gio schritt auf und ab, die Hand auf dem Schwertgriff. »Das Schlimmste an diesen korrupten Mitgliedern des Kreises ist«, sagte er überlegend, »dass sie nie sterben werden. Ich kann euch eine Möglichkeit anbieten, außerhalb ihres Herrschaftsbereichs zu leben. Noch besser, damit sind Reichtümer verbunden, eine Möglichkeit, eure Zukunft frei von Königen, Gouverneuren und auch Hauptleuten zu formen. Jeder, der mir folgt, wird fürs Leben versorgt sein. Ich kann euch Tris schenken.« In der Menge herrschte Schweigen. Gio sah dies und hielt nicht zu lange inne. »Ich habe mit einigen der Matrosen gesprochen, die Kapharnaum gesehen haben. Sie sagen, die Schindeln auf den Dächern der Häuser sind mit Türkis und Turmalin besetzt. Selbst trisianische Kinder tragen Kronen. Sie schätzen Gold wegen seiner Schönheit, nicht wegen seiner Seltenheit - sie schätzen es geringer ein als wir Zink oder Messing. Sie benutzten es für Haushaltsdinge: Mangeln, Stiefelbürsten und - das wird euch gefallen - Nachttöpfe.« Gio musterte die Reihen skeptischer Gesichter. »Ihr glaubt mir wohl nicht. Nun, seht her: Ich habe einen hier.« Bei diesen Worten trabte er nach hinten auf die Bühne, holte meh358 rere Dinge aus einer Segeltuchtasche hervor und hielt schließlich ebenjenen Nachttopf hoch, den Danio Zaunkönig geschenkt hatte. Er hatte ihn auf Hochglanz poliert. Sämtliche Leute in der Halle brachen in Gelächter aus, und Gio lächelte gleichfalls. Er war über den Tumult hinweg kaum zu vernehmen. »Mauvein ist ein so guter Juwelier, dass er praktisch ein Eszai sein könnte. Bestätige es für mich!« Er rutschte von der Bühne herab und reichte den Topfeinem stämmigen Mann, in dem ich einen von Atas Söhnen erkannte - obwohl er inzwischen wesentlich älter als seine Mutter war. Der schimmernde Nachttopf wurde unter seinen großen Fingern gedreht und gewendet, und dann nickte der Mann. »Das ist genügend Gold, dass sich ein Gut zwei Jahre lang von der Verpflichtung zum Aufstellen eines Heerbanns freikaufen könnte. Damit könnte ich bestimmt was Besseres anstellen, als hineinzupissen.« »Naja, du kannst ihn nicht haben ... noch nicht.« Gio hob ihn hoch und zeigte ihn. »Wie ihr seht, sind die Trisianer so wohlhabend, dass die geringsten Utensilien aus solidem Gold bestehen. Dennoch ist Raas Clique entschlossen, den Reichtum für sich zu behalten. Ich habe die Karavelle Pfau erworben. Genau in diesem Augenblick beladen meine Verbündeten in Awendfn sie und andere Schiffe. Es war leicht, zwei alteingesessene Gelehrte von der Universität Hacilith einzukaufen, die gut im alten Morenzianisch beschlagen sind. Sie sind optimistisch, dass sie die Grundlagen des Trisianischen für uns interpretieren können. Die Reise wird eine Herausforderung sein, das garantiere ich euch, aber nicht allzu schwierig, weil jetzt ein Weg gebahnt ist. Ein Konvoi ist eine sichere Sache - wenn ihr ein Bett in einer Kajüte in Beschlag nehmen wollt, wer sollte euch daran hindern? Ich habe mit der Schule in Güte genügend Mittel erworben, um die Mannschaften zu bezahlen und ein ideales Leben 359 in Kapharnaum zu schaffen, ohne ständig vom Kreis geprüft zu werden. Wer weiß, wenn wir uns in einigen Jahren konsolidiert haben und stärker geworden sind, kehren wir vielleicht sogar zurück.« Ein Fechter rief etwas, das ich nicht verstand. »Ah, Tirrick. Ich suche gerade den ganzen Boden nach diesen Perlen der Weisheit ab«, gab Gio sarkastisch zur Antwort. Er setzte den Nachttopf zu Boden, fischte in der Innentasche seines Mantels herum und hielt ein dickes Notizbuch hoch, das ich sofort wieder erkannte. »Dies ist auf Raas eigenem Mist gewachsen. Meine Agenten haben es zusammen mit dem Nachttopf gestohlen. Hier sind die Koordinaten der Insel sowie eine umfassende Beschreibung der Route. >Neunundzwanzig Grad südlich, einhundertundneunundzwanzig Grad östlich<«, las er respektvoll vor. »Fast genau nach Norden, von Awendin aus, hat man mir zu verstehen gegeben. Also, wie viele von euch wollen sich mir anschließen?« Sofort gingen zwei- oder dreihundert Hände in die Höhe; diese Männer hatten nichts zu verlieren. Gio stieß den kostbaren Nachttopf mit dem Zeh an. Die awianischen Soldaten beratschlagten untereinander und wägten die Risiken der Fahrt gegen die Belohnungen ab. Nachdem sie in Unterland gekämpft hatten, waren sie an Grenzen gewöhnt. Sie hoben die Hände. Beim Fechten ist es sehr wichtig, die Richtung des Stoßes in dem Augenblick verändern zu können, da man erkennt, dass er sein Ziel verfehlen wird. Gio wusste jetzt, dass er niemals stark genug wäre, das Schloss zu vernichten, also lenkte er seinen Stoß auf Tris. Er war bereit, zum Überleben ins Exil zu gehen. Mein vom Lampenschein erleuchtetes Fenster war die einzige Quelle von Licht und Geräusch in der ganzen pechschwarzen Landschaft. Alles, was existierte, befand sich in 360 der Halle - der Wald von Eske war ein Abgrund. Gio hob die Stimme über den Lärm, als der Regen erneut zu
einem Wolkenbruch anschwoll. Tropfen sprangen von der Krempe meines Lederhuts weg. Für einen Augenblick brachten verästelte Blitze ein wenig Farbe in den Wald. Gio hielt inne, als ein zehn Sekunden währender Donnerschlag in der Senke der kleinen Stadt umherrollte. Er hielt jedermann in der Halle in Bann. Gio stand da, den rechten Fuß voran. Die Scheide fest in der linken Hand, zückte er das 1969er Rapier mit der Rechten. Er schwang es beiläufig und spürte nach, wie gut es ausbalanciert war. »Morgen früh brechen wir nach Awendin auf. Am Sonntag werde ich im Haus des Hafenmeisters sein und mich dort mit euch Abenteurern treffen. Wir lichten kommende Woche den Anker.« Demonstrativ hielt er das Rapier über die Menge. »Die Eszai haben ihre Moralität überlebt. Ich werde mich nicht zurücklehnen und an Vierlanden denken, während uns das Schloss immer und immer wieder zum Narren hält. Kommt mit mir!«, rief er aus. »Auf die Suche nach dieser neuen Welt - nach Gold und Brandy!« Nachdem Gio geendet hatte, setzte der Applaus in der Menge ein. Die Leute standen auf, klatschten und jubelten ihm zu. Immer weiter ging die Ovation. Gio sah zu den Fenstern auf; ich wandte mein weißes Gesicht ab und drückte mich fester gegen den Fensterrahmen. Gio sprang von der Bühne, und seine Freunde schüttelten ihm den ganzen Weg die Halle hinab die Hand und klopften ihm auf den Rücken. Seine Augen zeigten einen hektischen Glanz, und seine Wangen waren gerötet. Die Türen wurden weit aufgerissen - Licht und Menschen quollen heraus. Hasserfüllt sah ich zu. Töte ihn, Gott, wenn ich nur meine Armbrust dabeihätte! Töte ihn. Ich springe ihm direkt auf den Kopf. Wenn er nur nicht von Fechtern umgeben wäre! 361 Gios Stimme war so leise, dass ich ihn nicht verstand, als ihn seine Bande von Gratulanten über den Pfad durch das Waldland aus der Stadt trieb. Einige Männer holten ihre Pferde, andere trödelten auf der Schwelle herum und fummelten an ihren Laternen. Der Herbst fuhr eisig kalt und heulend unter der Gewalt seiner Windböen herein, und das vermodernde braune Laub wurde nass und rischelte und raschelte nicht mehr. Gio zieht meine Manneskraft in Zweifel, und ich kann absolut nichts dagegen unternehmen. Ich schlug mir mit dem Handballen gegen die Stirn. Ruhig bleiben! Später wird es noch Zeit genug für Rache geben. In Hinblick auf später bin ich nicht sehr gut; ich wollte ihn jetzt leiden sehen. Mein Gott, war ich wütend! Ich würde meine Wut an jemandem auslassen, und da ich Gio keine Abreibung verpassen konnte, müsste Cinna Bawtere herhalten. Ich sprang vom Dach herab und flog in sehr turbulenter Luft knapp unterhalb der niedrigen Sturmwolken dahin, wobei ich das Risiko einging, von ihnen eingesogen zu werden. Eine Möwe, lebhaft weiß vor dem dunklen Eisengrau, kämpfte sich unter mir voran. Der Hurrikan fegte mir das Haar und den Mantel zurück. Meine Kleider waren leicht, obwohl klatschnass. Meine Flügel durchschnitten den Sturm und schüttelten das Regenwasser von ihrer öligen Oberfläche ab, aber die Federn darunter wurden feucht und schmal. Ich schlug heftiger, damit ich in der Luft blieb. Während ich Cinna aus Eske hinaus über den dunklen Waldweg folgte, musste ich mir alle Mühe geben, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Unter seinem schwarzen Regenschirm verborgen, stampfte er zu der nahegelegenen Dorfkneipe »Zur Schlachtenbrücke«. Luft strich geräuschvoll über meine Flügel, als ich hinabglitt. Mühsam bremste ich meine 362 Geschwindigkeit über Grund ab und manövrierte mich direkt über ihn. Ruckartig faltete ich meine Schwingen zusammen und stürzte mich auf ihn. Ich traf Cinna mit beiden Stiefelsohlen zwischen die Schulterblätter und stieß ihn Gesicht voran in eine Pfütze. Behende absorbierte ich den Aufprall und landete in der Hocke. Cinna kugelte sich atemlos, mit angezogenen Beinen, auf dem Rücken. Ich brach in schallendes Gelächter aus; Falken mussten ein solches Jubelgefühl verspüren, wenn sie ihre Beute schlugen. »Ich ziehe meinen Hut vor Euch, Herr Bawtere! Habe nicht gewusst, dass Ihr eine akrobatische Ader habt!« Er trat um sich wie ein niedergeschlagenes Kaninchen. Ein Dolch tauchte in seiner Hand auf. Er kroch aus der Pfütze mit dem Kalkwasser heraus und brach mitten auf dem Weg zusammen, ein milchweißes nasses Häufchen Elend. »Die Galgen in Eske warten; das ist ein bei weitem kürzerer Fall! Ich kann mir meinen Anteil an Verbrechen in Eurem Katalog an kriminellen Taten aussuchen. Ihr seid so gut wie tot!« Ich wollte ihn wirklich umbringen, wollte spüren, wie ihn das Leben unter meinen Händen floh. Er sah meinen grausamen Gesichtsausdruck - Ergebnis von Nachtigalls Zurückweisung, Gios Verleumdungen und sechs Stunden in einem Gewitter - und rollte sich schluchzend zusammen. Cinnas Vorhersagbarkeit war tröstlich - ich hatte schon geglaubt, ich hätte meine Fähigkeit verloren, Leute zu lesen. Sie wurden anscheinend immer unverständlicher. »Ah ...«, keuchte Cinna. »Bitte, tu mir nicht weh! Bitte ... Ich ...« »Woher hat Gio das Logbuch?« »Ich weiß es nicht! Ah ... Ich schwöre es! Er ist ein schlauer Mann; er hat viele Agenten. Ah ... ich respektiere dich, Komet. Du bist ein Eszai. Du bist eine Legende m Hacilith.« »Dann leg den Dolch hin!« 363 Keine Reaktion. Ich trat ihm den Dolch aus der Hand, so dass er in hohem Bogen davonflog. »Leg ihn hin!« Cinna kauerte sich unter die Überreste seines zerbrochenen Regenschirms.
»Woher wusste Gio von Tris?« »Ich habe ihn informiert. Tut mir leid! Du hast nie gesagt, es sei ein Geheimnis.« Plötzlich ging mir auf, dass ich Cinna vor sechs Monaten, unter dem Einfluss eines Fingernagels voller Scolopendrium, alles erzählt hatte. Mist! Mir dämmerte allmählich, dass diese entsetzliche Wendung der Ereignisse völlig auf meine Kappe gehen konnte - verursacht von meinem großen, dummen Maul. Ich spreizte die Schwingen, flatterte auf ihn zu und tat so, als wollte ich ihm aufs Kinn treten, und er duckte sich. »Segelst du mit Gio?« »Ja ... Ja, was soll's? Ich bin Herr meiner selbst.« Er zog schnaufend die Luft ein. »Ich werde Kapitän auf der Pfau werden. Ja, Komet. Ich war bei der Handelsmarine; hast du das vergessen? Jetzt kehre ich in dieses Gewerbe zurück. Es ist legal!« »Verstehe.« Ich zog mein Schwert unter dem Mantel hervor. »Glaubst du etwa den ganzen Schrott, den Gio da drin von sich gegeben hat?« Cinna richtete sich auf die Knie auf, mehrere Quadratmeter grässlich brauner Brokat, und tastete seine Hängebrust nach gebrochenen Rippen ab. Seine blonden, hochgesteckten Locken klebten ihm am Schädel, seine fetten Wangen waren gerötet. Er sah bemitleidenswert aus, wie er mich da überlegend durch den strömenden Regen betrachtete. »Nein, natürlich nicht ... Obwohl in allen seinen Worten ein Körnchen Wahrheit steckte ... Er hält dich für einen Alkoholiker.« Ein wissender, bestimmter Ausdruck erschien in seinen Augen. 364 »Übrigens habe ich eine zuverlässige Quelle für gutes Kat aufgetan.« »Jetzt also Bestechung, was? Noch ein Grund mehr, dich zu töten!«, knurrte ich, obwohl mir seine Worte den Mund wässrig machten. »Komm schon, Komet. Nur weil du illegitim bist, hast du noch nicht die Lizenz, dich wie ein Bastard zu benehmen. Ich habe Gio nichts von deiner Liebe zu Scolopendrium erzählt. Warum auch? Ich hätte keinen Nutzen davon, und ich bin ein schlauer Geschäftsmann ... Natürlich glaube ich nicht, dass die Insel bis zum Bersten gefüllt ist mit kostbaren Metallen und dass uns die Einheimischen damit beglücken wollen. Jedoch weiß ich bestimmt, dass Gio ebenso reich ist wie Rachiswasser. Er bezahlt mir den fünffachen Lohn eines Handelskapitäns. Er packt Münzen, Silberpfennige und Banknoten ein -er hat Truhen voll davon! Er möchte sich auf Tris etablieren. Ich habe gerade alles persönlich nach Awendin transportiert. Sieh mal, ich habe immer noch den Brief, den er mir mitgegeben hat. Ich zeig ihn dir, hier!« Cinna fischte in seinem Mantel nach einem zerknüllten Umschlag mit einem erbrochenen Siegel. Das Emblem von Haus Güte, der Wal. Ich nahm den Brief aus seinen angekauten Fingerspitzen und hob einen Flügel, um ihn vor dem Regen zu schützen, während ich las: An: Siteila Stärling, Erste Bank von Hacilith Hiermit weise ich Euch an, sogleich meine sämtlichen Kapitalanlagen aufzulösen, die sich zurzeit in Eurer Obhut befinden, und die Gelder zu meinen Händen im Büro des Hafenmeisters, Awendin, zu deponieren. Es handelt sich um: i) die Einnahmen bis zum heutigen Tag vom Verkauf meiner Akademien, ii) sämtliche gewöhnlichen Wertpapiere, angelegt an der Börse von Hacilith, iii) Gold- und Silberbarren im Safe der Bank. 365 Der Überbringer dieses Schreibens, Cinna Bawtere, besitzt mein vollstes Vertrauen in dieser Sache und darf daher mit der Bewachung des Geldes betraut werden. Gio Ami Geld, jede Menge Geld, überlegte ich, während ich den Brief wieder zusammenfaltete. Cinna lächelte und zeigte fleckige Zähne. »Komet, bist du neidisch? Du weißt, du wirst niemals so frei sein, selbst nach Tris zu entfliehen. Du hast in Vierlanden herumzufliegen, bis das Unausweichliche geschieht — ein gottverdammtes Insekt zerlegt dich in deine Einzelteile -, und ich meine nicht wie am Schlangenkreuz, ich meine endgültig. Du wirst von der Faust des Imperators weggeschleudert wie ein Falke, zum Spionieren, und er lockt dich zurück und bindet dich mit dem Versprechen ewigen Lebens.« Ich tat einen glucksenden Schritt auf ihn zu. »Aber, Bawtere, das bedeutet Gefängnis für dich! Beeil dich! Wir werden sehen, wie weit Gio ohne Kapitän segeln wird.« Ich winkte mit dem Schwert, und Cinna kam stolpernd, protestierend und bebend auf die Beine. »In die Stadt, Cariama Eskes Wachen werden sich um dich kümmern ... Sie werden dich in eine eiskalte Zelle werfen und dich in Handschellen schließen, und dann kannst du deine Mutter vögeln, mir ist das egal.« »Sie ist tot.« »Das sollte es dir dann einfacher machen. Beeilung! Ich habe heute Nacht noch viel zu erledigen. Ich bin beschäftigt, weil ich jemanden finden muss, der ein Auge auf Gio hält und mir genauestens von seinen Plänen berichtet, wenn ich, zum Beispiel, im Morgengrauen auf der Galerie der Pfau lande.« Cinna hatte begonnen zu schniefen. »Na gut«, sagte er erbärmlich, »ich tu's.« Ich sagte: »Oh, schon gut. Dann kann die Schlinge warten; erzähle mir ein bisschen mehr von Gio!« 366 Cinna sagte: Er weiß, dass die Trisianer dem Schloss misstrauen. Er ist ziemlich beredt, dieser Mann. Ich sagte: Er könnte quatschen wie ein Wasserfall - herausfordern könnte er mich nicht. Cinna sagte: Gio hat versagt, und er weiß das. Mit Rebellion wäre er vielleicht davongekommen, aber er versuchte, einen Eszai zu ermorden. O ja, ich habe es aus seinem eigenen Mund gehört, dass er Blitz fast
erstochen hat. Ich: Er ist auf der Flucht? Cinna: Ja. Er kann das Schloss nicht erstürmen und jeden Eszai aufspießen, wie er es gern wollte. Also hinterlässt er sein Zeichen - seinen Namen in der Geschichte zurückzulassen, ist eine Art von Unsterblichkeit, da er die richtige nicht erringen kann. Wenn er sich in Güte versteckt oder auf der Grasinsel, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor er verraten und gefangen genommen wird. Aber auf Tris ... Ich: Nie! Cinna: Er möchte die Trisianer besiegen. Und San müsste ihn dort lassen, als König von Tris, weil der Zweck des Schlosses darin besteht, gegen die Insekten zu kämpfen. San könnte nie gegen Leute kämpfen oder Inseln besetzen. Ich: Freut mich, dass du San vertraust. Cinna: Ja, aber mir steht's bis hier oben, im Dunkeln gehalten zu werden. Er hält alle und jeden unter der Haube wie Falken, seien es grüne Zaskai oder hagere alte Eszai. Du kennst Sans wahres Ziel nicht, obwohl du einer seiner Spione bist, und du wirst einfach zurückkehren und ihm jedes einzelne meiner Worte berichten. Ich: Öh ... Das hat Cinna gesagt, nicht ich. San: Ja. Ich übersprang einige Seiten meines Berichts und fasste zusammen: »Dann sagte ich zu Cinna: Wenn ich Gio nicht davon abhalten kann, die Segel zu setzen, werde ich dich wie367 der auf dem Schiff treffen.< Ich folgte ihm zu der Kneipe, stahl - ich meine, requirierte - ein schnelles Pferd und ritt direkt hierher, Herr. Ich habe einen Kurier ausgesandt, der jeden Stall in jeder Poststation zwischen Eske und Awendin schließen soll. Das wird den Hauptteil ihrer Streitkraft um einige Stunden langsamer machen, und da es ein fünftägiger Marsch nach Awendin ist, könnten diejenigen ohne Pferde die Pfau vielleicht verfehlen.« Regentropfen rannen die Schäfte der nassen Federn in meinem Haar herab und flössen die gedrehten Spitzen entlang auf den Teppich hinter mir. Widerwillig schüttelte ich den Kopf und schleuderte Wasser von den rückwärts gerichteten Federn. Ich war aus dem Sturm hinausgeritten, und meine Haut sang; ich war über und über von Matsch bedeckt, den die Hufe des Pferds hochgeschleudert hatten. Weißer, flüssiger Schlamm zierte meine grazilen Stiefel bis zum Oberschenkel hinauf. Ich roch nach Wolken und der dünnen Luft. Mir schlug heftig das Herz; Kat sorgte dafür, dass ich zu rasch und belebend fühlte und mich auf einem seltsamen Ausbruch von Energie erhob, für den ich, wie ich wusste, später würde zahlen müssen, den ich jedoch hier und jetzt brauchte. KAPITEL 17 »Gut«, sagte San. »Die Mehrzahl von Gios Gefolgsleuten hat ihn während der Schlacht im Stich gelassen. Die Einzigen, die mit ihm fliehen wollen, sind jene, denen keine andere Wahl mehr bleibt und die keine anderen Träume mehr haben als diejenigen, die er ausbrütet. Also besteht seine letzte Tat des Widerstands darin, den Beitritt Tris' zum Reich zu verhindern ...« 368 Ich kniete auf dem feuchten Teppich. »Herr, warum sollten sie auf ihn hören?« San fuhr fort, als hätte er mich nicht gehört. »Ob Gio seine eigene Feste errichten oder - wahrscheinlicher - den Senat übernehmen will, weiß ich nicht; aber wir dürfen ihn keineswegs die Herrschaft über Tris übernehmen lassen. Raa hat den Trisianern Schwerter verkauft, jetzt kann Gio sie in ihrem Gebrauch ausbilden. Er ist Lehrer, nicht wahr? Er kann mehrere Dinge unternehmen, um sich beim Senat lieb Kind zu machen: Er kann das Insekt jagen, das ihr so achtlos freigelassen habt! Vorausgesetzt, kein Trisianer hat es inzwischen erwischt. Und wenn es ein Mann erwischt hat, ist er eher der Unsterblichkeit wert als ihr alle!« »Herr.« Ich schloss eine Sekunde lang meine erhitzten und blutunterlaufenen Augen und ließ die Hände über die Reife an meinem linken Arm laufen - der in allen Regenbogenfarben glänzende Nagellack auf meinen spitzen Fingernägeln blätterte allmählich ab. Ich drückte Wasser aus einer Hand voll Haar und brachte die Frage heraus: »Was werdet Ihr unternehmen?« Brüsk setzte San an: »Bevor Gio der Fechter wurde, war jener Platz im Kreis für den Kampf mit dem Breitschwert gedacht, nicht fürs Rapierfechten. Aber mein gegenwärtiger Fechter demonstrierte eindeutig, was jedermann weiß. Rapiere sind gegen Insekten nutzlos, also sollten Unsterbliche sie nicht benutzen. Von jetzt an müssen Herausforderungen um die Position des Serein mit Breitschwertern oder Schwertern aus Waffenschmiede oder - unter Berücksichtigung zukünftiger Verbesserungen - der effektivsten Klinge zum Töten von Insekten ausgefochten werden, die es gibt. Sag Serein das!« »Ja, Herr.« Mit einem einzigen Erlass hatte der Imperator der güteischen Schule und ihren ganzen extravaganten 369 Scheinkämpfen ein Ende gesetzt. Nur wenige Leute würden den Zweikampf mit dem Rapier üben, wenn das kein Schlüssel für den Beitritt zum Kreis wäre und wenn es keinen erfolgreichen Eszai gäbe, der die Sterblichen dazu inspirierte, diese Kunst zu erlernen. Die morenzianische und prärieländische Mode, Rapiere zu tragen und sich damit zu duellieren, würde ihr Ende finden. »Jetzt zum Umgang mit Gio selbst«, bemerkte San. »Wenn er den Hafen verlässt, muss ihn die Seefahrerin
verfolgen. Sobald Gio in Kapharnaum eintrifft, wird er bei der Vorbereitung auf die Auseinandersetzung mit ihr schwere Verwüstungen anrichten.« »Ich werde es ihr sagen.« Ich erhob mich und steckte mir dabei ein paar nasse Haarsträhnen hinters Ohr. San musste wollen, dass Raa Gio auf See erwischte und sich außer Sicht des Landes mit ihm beschäftigte, wo es keine Zeugen gäbe, wo er keine Verstärkung erhielte und wo die See die Überreste zudecken würde. »Du wirst mit ihr fahren.« »Herr ...« Das Letzte, was ich wollte, war, in eine Seeschlacht verwickelt zu werden. »Das Schloss schützt Vierlanden vor Aggressoren, Komet. Gott sei Dank ist Tris frei von den meisten, aber Gio ist gewiss ein Aggressor, noch dazu aus unserer eigenen Küche; wir haben die Pflicht, ihn aufzuhalten. Wenn er Tris tatsächlich erreicht, wirst du Kapharnaum sowohl von ihm als auch von dem Insekt befreien. Hoffentlich wird der Senat dann eher zu einem Gespräch mit uns bereit sein. Du könntest ihnen ausrichten: >Unser Imperator hat uns ausgesandt, euch vor Gio Ami und seinen Verbrechern zu beschützen^ Und taktvoll mein Angebot neu unterbreiten, dem Reich beizutreten - allerdings nur, wenn die Situation passend ist.« San erkannte den Zweifel in meinen Augen und fügte hin370 zu: »Mit Raas und Blitz' Hilfe wirst du dazu in der Lage sein, da bin ich mir sicher.« »Herr, habt Ihr Neuigkeiten vernommen oder spürt Ihr ... Würdet Ihr mir sagen, wie es Blitz geht?« »Er lebt, Komet. Komm mit mir!« San erhob sich von seinem Thron, der sich über die Zeit hinweg der Form seines Körpers angepasst hatte, und schritt die Stufen vom Podest herab; sein steifer weißer Umhang schleppte nach. Erstaunt folgte ich ihm. Ich hielt mich ein wenig hinter ihm, als wir zwischen den hohen Spitzbögen in das westliche Gewölbe schritten, einige abgenutzte Stufen hinaufgingen und durch eine Seitentür traten, die zu einer langen Außenterrasse fünf Meter über den Rasenflächen führte. Unmittelbar neben uns zogen sich die Bogenfenster des Thronsaals die ganze Länge des Gebäudes entlang. Der Regen der vergangenen Nacht hatte aufgehört, und eine ziemlich heiße Sonne schickte das ganze reisemüde Wasser wieder zurück zum Himmel. Nie zuvor hatte ich San außerhalb des Thronsaals begleitet und ihn nie zuvor draußen auf der Terrasse gesehen. Ich war sehr verlegen. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ich niederknien sollte, aber als ich Anstalten dazu machte, seufzte San bloß und winkte mir, ich solle stehen bleiben. Also blieb ich neben ihm stehen und sah zum Haseltor hinüber, und ich kam mir wie der geehrteste Unsterbliche vor, bis ich dem Blick des Imperators folgte und zum ersten Mal bei Tageslicht die Verwüstung sah, die Gio angerichtet hatte. Das Haseltor war völlig zerstört. Sein zerschmetterter Turm stand dem Himmel offen. Löcher von einem halben Meter Durchmesser zogen sich links von uns über fünfzig Meter den oberen Rand der östlichen Curtainwall entlang, und herabgeschlagene Steinbrocken waren über die ganzen zerfurchten Rasenflächen verstreut. 371 Zum Norden hin, in dem Spalt zwischen dem Palast und den Außenmauern des Schlosses, hatten die Steine der Trebuchets die oberen Bögen des Reiherturms weggeschlagen; die aufrecht stehenden Überreste sahen aus wie zerbrochene Stalagmiten. Zwischen den Statuen auf dem Denkmalplatz darunter lagen zylinderförmige Marmorblöcke, und durch den skelettierten Turm hindurch erkannte ich, dass mehrere der Kreuzblumen herabgestürzt waren. Zwei Kleeblattbögen auf Stützpfeilern lagen in voller Länge auf dem Boden. Ich sah die Inschriften, die sie bedeckten, wie winzige Risse auf einer Eierschale. Gio hatte kein Recht, das Ehrenmal anzugreifen, die Statuen von Sterblichen herabzuholen oder die Namen der Eszai auszulöschen, die älter als er waren. Tornado tauchte unter dem Vorwerk des Haseltors auf und rannte schwerfällig über das Gras. Sogar ohne weitere Männer zum Vergleich wirkte er viel zu groß. Er warf sich auf die Knie und sah zu unserem Balkon hoch, wobei sich ein rundes, stoppelbärtiges Kinn und eine gewaltige Brustmuskulatur zeigten. Seine dicke Lederhose sowie die Stiefel mit den Stahlkappen waren lehmbeschmiert, und zufrieden bemerkte ich eine bandagierte Verletzung auf seiner riesigen linken Schulter unter der Weste; sie bestand aus Kettengliedern, die durch ineinander gedrehte Drahtstücke zusammengehalten wurde. In seinem Gürtel steckte eine Suppenkelle, weil Tornado, wann immer er nicht kämpfte, aß oder trank oder üppige Mahlzeiten zubereitete. Er lächelte so breit, dass seine Augen förmlich verschwanden, und brüllte: »Herr, das Aufräumen geht gut voran; wir nehmen gerade den letzten Trebuchet auseinander!« San nickte. »Gut. Tornado, Gio wird gewiss nicht zurückkehren. Unsere Seefahrerin wird sich um ihn kümmern.« »Ich kann den Heerbann nach Eske marschieren lassen«, 372 erklärte der Kraftmensch, »um nach Versprengten zu suchen, aber - nun ja — ich brauche Vorreiter, sonst könnten wir im Wald in einen Hinterhalt geraten.« Tornado war zehnmal schlauer, als ihm die meisten Leute zugestehen wollten. Er sah zu mir hin; meine Augen sprühten Blitze, und er wirkte leicht verwirrt. Er lebte unbeschwert und dachte vielleicht, dass Nachtigall keinen Kampf wert sei. Es ist eine Schande, eine so lange Freundschaft aufzukündigen, aber er war Ursache für den Bruch, nicht ich. Ich werde gegen ihn kämpfen. Ich senkte den Blick erst, als mir aufging, wie genau der Imperator uns beide musterte.
»Das ist nicht nötig«, sagte San. »Führe deinen Eliteheerbann an die Front, wo der Gouverneur von Unterland nach Hilfe schreit. Nimm die abgebauten Trebuchets bitte mit; du wirst sie vielleicht gut brauchen können.« Kauz ließ eine riesige Hand über seinen geschorenen Schädel und die dicken Furchen von Fett und Muskeln im Nacken laufen. Er stand auf, verneigte sich in aller Form, und kehrte zu den Ruinen zurück. »Niemand hat zuvor das Schloss angegriffen«, sagte der Imperator ruhig. »Mag dies für die Zukunft auch einen Präzedenzfall bedeuten - zurzeit sind die Gouverneure beschämt. Sie überbieten sich bereits dabei, ihre Loyalität dadurch zu demonstrieren, dass sie diesen Schaden reparieren. Sie schicken ihre besten Architekten, sie schicken Geld und Material. Ein besonders großer Anteil ist von Güte und Eske zu erwarten.« »Herr, ich kann einmal um Prärielande fliegen und ...« Sans Stimme war unerwartet warm und mitfühlend. »Ich weiß, dass du nicht nach Tris zurückkehren willst. Du fühlst dich im Stich gelassen; du hast kein Vertrauen in Nachtigall und willst bei ihr sein. Aber höre, dein Weib wird nicht bei Tornado bleiben.« 373 Daraufhin kehrte San in den Thronsaal zurück und war verschwunden und ließ mich allein auf dem Balkon zurück. Der Imperator war mir erneut ein Rätsel, diesmal wegen seiner Freundlichkeit. Die Wärme seiner Zusicherung sank mir bis tief in mein Inneres; ich war überwältigt von Dankbarkeit. Er berührte mich mit einem Wort und entflammte mich mit seiner Energie. Wiederum kam ich mir wie ein großartiger Eszai vor. Vor langer Zeit erzählte mir Blitz einmal, wie Tornado dem Kreis beigetreten war. Im Jahr 885 hatte er während einer Sitzung bei Hofe den Thronsaal betreten. Die Wächter am Tor hatten versucht, ihn aufzuhalten, aber er hatte sie einfach auf den Arm genommen und hereingetragen. Alle waren verstummt, als der riesige Fremdling zwei Wächter vor dem Thron abgesetzt, sich auf seine Axt gestützt und laut verkündet hatte: »Ich bin ein Söldner aus Unterland. Ich habe keine Ahnung, wen ich herausfordern muss, aber ich werde gegen jeden von euch kämpfen!« Der Imperator hatte erst auf das Scharren der Füße gehorcht, bevor er das Schweigen gebrochen hatte. »Sehr gut. Krieger, berichte mir von dir selbst!« Tornado stammte aus dem Gebiet, wo sich heutzutage die Stadt Frass befindet, ein verwüstetes Land, seither jedoch verstärkt durch eine Kette von Wehrtürmen, die Pasquin errichtet hatte, der vorherige Frost. Er führte eine Schar von Söldnern an, die von den Höfen nahe der Mauer bezahlt wurden, um sie vor den Insekten zu schützen. Damals betrug das Kopfgeld ein Pfund pro Insekt, und seine Truppe verdiente genügend Geld zum Überleben. Tornado liebte sein Wanderleben, bis seine Frau an Lebensmittelvergiftung starb - ein verdorbenes Stück Fleisch hatte sie umgebracht, wo es tausend Schlachten gegen Insekten nicht zustande gebracht hatten. 374 Am Tag nach seiner Ankunft im Schloss hatte man Tornado ins Amphitheater gebracht, und die Eszai hatten Insekten auf ihn losgelassen. Den ganzen Tag lang hatte er Insekten in Stücke gehackt, bis San, zufriedengestellt, einen neuen Platz im Kreis für den Kraftmenschen geschaffen hatte. Tornado ist seit elfhundertundfünfunddreißig Jahren der stärkste Mann der Welt. Er besitzt keine Ländereien, auch keine Häuser, nichts außer einem Regal mit Blitz' Romanen und sieben Achtel Anteil an der Brauerei von Schwingelgras - von der er seine Dividende in Form von Naturalien erhält. Meine Hochstimmung hielt den ganzen Tag über an, während ich einen vierzehnstündigen bequemen Südostflug nach Awendin unternahm. Es war kalt und ziemlich feucht, und bei Einbruch der Nacht zogen sich die Wolken zusammen und erschwerten mir die Navigation. Ich gewann an Höhe und flog über sie hinweg. Die flache Wolkendecke endete über dem letzten Landzipfel und folgte präzise der Küstenlinie. Als ich durch den klaren Himmel abstieg, kam ich mir vor, als würde ich in ein Unterwasser-Awendin tief unter mir hinabtauchen. Der Vollmond ergab eine weitaus bessere Beleuchtung als das herbstliche Abendlicht; die Straßen wirkten glatt wie Glas. Ich stellte mir vor, wie die Nachricht von Gios Verschwörung von Eske und Brandente herab diese Straßen entlangjagte. Die Landzunge am Ende des Strands war von einem Gras bedeckt, das die Färbung von Kaninchenfell hatte und wegen der Farnkrautflecken aussah wie gealterter Samt, der sein Haar verlor. Der Strand war eine friedliche Collage; flaschengrüne Wellen rauschten heran und zogen sich über den Sand zurück. Es konnte kaum ein größerer Unterschied zum gestrigen Hurrikan bestehen, der die Flügel der Windmühlen so rasch hatte kreisen lassen, dass auf den Ebenen immer noch dreihundert in Flammen standen. 375 Ich landete, rannte zu den geduckt dastehenden Gebäuden des Herrenhauses hinüber und fand sie dunkel und schweigend vor. Das taufeuchte Gras um den Anbau war kreuz und quer von verschmierten Fußabdrücken durchzogen. Manchmal konnte alles bloß einer meiner Fieberträume sein. Ein Glanz strahlte aus einem der Fenster zu ebener Erde. Zyan Wanderfalke saß auf majolica-orangefarbenen Kissen am Fenster hinter Vorhängen, die die Fensternische vom übrigen Zimmer abtrennten und eine gemütliche Höhle ergaben. Sie hielt den Kopf gesenkt; las konzentriert beim Licht einer Lampe in einem großen Buch. Ihr üppiges blondes Haar rutschte ihr aus den Bändern; die Puffärmel ihres Kleids sahen aus, als bestünden sie aus kleinen Sahnetorten. Ich tippte mit einer Pfundmünze ans Glas. Zyan sprang auf, schaute sich um und sah mich, wie ich sie anstrahlte. Sie grinste, entriegelte das Fenster und öffnete es weit. »Jant!« Ich umarmte sie fest, aber sie entzog sich meiner kalten Haut. »Tut mir leid, dich erschreckt zu haben, kleine
Schwester.« »Ich habe keine Angst. Bist du auf der Suche nach Papa?« »Ja. Wo ist Blitz? Wo sind sie alle?« »Sie sind zum Schiffraus. Zu Raas roter Karnevalle. Karavelle. Sie hat es in die Bucht gesegelt... Ich habe sie gesehen. Ich wollte auch drauf, aber Papa wollte das nicht zulassen. Er ist krank.« Mit weit geöffneten haselnussbraunen Augen setzte sie sich auf die Fersen. »Er ist wach? Wie geht es ihm?« »Diese alte Frau hat gesagt, er wird gesund werden. Ich habe ihren Namen vergessen.« »Rehgen?« »Ju.« Zyan streckte die Hand nach meinen Federn aus, und ich reichte ihr einen Flügel zum Streicheln. Sie bettelte mich oft an, sie mitzunehmen, obwohl sie mit ihren zwölf Jahren 376 bei weitem zu groß dafür war. »Gouverneurin Schwalbe hat mir von der Schlacht am Schloss erzählt, und es kommen Wagenladungen von Männern in die Stadt, die Eszai nicht mögen ...« Zyan gab sich alle Mühe, sich zu erinnern. Sie vergaß das Buch über Naturgeschichte, das offen auf ihren Knien lag, aber ihr Finger hielt nach wie vor eine Seite offen, auf der mit grauer Wasserfarbe gemalte Seehunde zu sehen waren, die sich auf einem Kiesstrand aalten. »Schwalbe sagte, sie ... Oh, sie >könne für ihre Sicherheit nicht garantieren^ also hat Raa sie an Bord genommen. Wirst du ihnen nachfliegen? Du wirst nicht bleiben?« Sie klang resigniert. »Wo ist Schwalbe?« Zyan seufzte. »Gouverneurin Fettpopo versucht, die Männer loszuwerden, die Eszai nicht mögen. Sie will sie aus awendin fort haben. Sie sagte, sie sind Unruhestifter. Ich wollte zu Bett gehen, aber ich wollte nicht, also habe ich mich versteckt.« »Fettpopo?« Ich kicherte. Zyans Augen glänzten bösartig. »Ich glaube immer, du bist genauso wie die anderen, aber das bist du nicht.« »Das kann ich nicht.« »Schwalbe«, beklagte sich Zyan, »versucht, mir das Cembello beizubringen. Die Pikkoloboe. Jede Menge Instrumen... Ich hasse die Dinger. Sie sagt: >Du hältst dich für gut, weil du Habichts Kind bist.< Ich habe immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich gehöre nicht hierher.« Genauso hatte ich mich in ihrem Alter auch angehört. »Du musst nicht tun, was Schwalbe dir sagt! Du wirst Gouverneurin sein, wenn du einundzwanzig bist.« »Wenn ich erwachsen bin. Ja, ja.« »So lange dauert das gar nicht. Glaub mir; ich bin dreiundzwanzig.« »Hmm. Das ist wiiirklich aaalt«, meinte sie nachdenklich. 377 »Nicht wahr?« Zyan hatte alles, was sie haben wollte, aber ihr Glück war bloß ein geräumiger goldener Käfig. So hatte es Blitz für ihr Leben geplant. Schwalbe, ihre Wächterin, kannte nichts außer Musik, und sie sah in dem Kind ein Hindernis für ihre Besessenheit. Schwalbe mochte niemals Erfolg dabei haben, dem Kreis beizutreten, aber sie war entschlossen, ihr ganzes Leben mit dem Versuch zu verbringen. Wenn sich allerdings einmal die Verbitterung in ihr breitmachte, hätte sie nie eine Chance. »Vergiss nicht, dass du alles tun kannst, was du möchtest.« »Mir sollen Flügel wachsen - das ist, wie vier Arme zu haben. Und wie du fliegen zu können.« »Innerhalb der Grenzen des Möglichen. Zyan, viele Leute, die in Awia leben, haben keine Flügel. Der Imperator übrigens auch nicht; es ist nicht wichtig, dass du nach deiner Mutter schlägst.« Sie dachte ernstlich über diese Idee nach. »Ich mag es, wenn Papa mich das Bogenschießen lehrt. Ich wünsche mir, er wäre häufiger hier, aber er ist sehr beschäftigt, und jetzt ist er verwundet. Alles ist wieder zusammengeplumpst. Ich möchte so gern mit ihm sprechen - er bringt mir Geschenke -, aber er sagt, ich solle tun, was Schwalbe sagt.« . Ich wedelte mitfühlend mit den Händen. »Du musst nicht allen glauben, wer sie auch sein mögen - nicht Herrn Papa und nicht Diva Fettpopo. Durchdenke die Dinge stattdessen selbst! Schwalbe lehrt dich nicht die richtigen Sachen, die eine zukünftige Gouverneurin wissen muss, also wirst du beobachten und Fragen stellen müssen. Vergiss nicht, Bruder Jant ist dir zu Diensten; alle Eszai sind es. Gouverneure begreifen anscheinend gar nicht, welche Macht sie haben, und wir brauchen dich, damit du uns über die Wirklichkeit der Zaskai auf dem Laufenden hältst. Das ist vor kurzem schief gegangen.« 378 Sie sah finster drein und ähnelte deswegen ein wenig Blitz. Ihre zerrissenen Socken waren ihr über die Knöchel herabgerutscht, und ihre abgeschabten Schuhe zeigten eine graugrünliche Färbung, wie man sie auf Baumstümpfen findet. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten; ihr Atem hing in der kalten Nachtluft. »Auf Wiedersehen, Zyan; pass auf dich auf!« »Wirst du fliegen? Warum kann ich nicht fliegen?« »Weil du normal bist.« »Warum kann ich diese Insel nicht sehen?« » Bald, meine Schwester, bald. Bald wird jedermann sie sehen.« Ich rannte auf das nasse Gras hinaus, hob ab und flog zum Hafen hinüber.
Viele Menschen sind neidisch auf Flügel. Vor einigen Jahren tötete ein Serienmörder nur Awianer, hackte ihnen die Flügel ab und trug sie. Aber es spielt keine Rolle, ob man Flügel hat oder nicht, wenn keiner vom Boden abheben kann. Zyan war schlauer; sie war neidisch aufs Fliegen. Ich machte mir Sorgen um sie, weil mir die karnissische Redensart einfiel: Wölfe jagen die Einsamen. Als ich in ihrem Alter war, 1807, war ich ebenfalls allein. Kein Kind möchte allein gelassen werden, aber rhydannische Kinder wachsen schnell heran. Fallen sie, weinen sie nicht. Werden sie verlassen, sind sie unabhängig. Meine Kindheit in den Dunkelbergen fand ihr jähes Ende in meinem fünfzehnten Lebensjahr. Eilean bestand darauf, dass wir jeden Winter in unserer dürftigen Sommerbehausung hoch in den Bergen blieben. Sie sagte, es sei zu meinem eigenen Schutz, dass wir nicht zusammen mit den anderen Hirten ins Pueblo nach Grat hinabgingen, obwohl sich im Kar eine jede Nacht tosende Winterstürme zusammenbrauten. 379 Eilean Dara, meine Großmutter, war vierzig Jahre alt. Sie war eine gute Läuferin; sie hatte sich nur ein einziges Mal von einem Mann einholen lassen, und der hatte sie geheiratet und sie freundlich behandelt, aber er war kurz nach der Geburt ihrer Tochter gestorben - meine Mutter hatte allerdings eine sehr große Schnelligkeit geerbt. Ich habe nie verstanden, wie der Vergewaltiger, mein Vater, sie erwischt haben konnte, und Eilean wollte darüber nicht sprechen. Mein Dasein zwang Eilean, sich von ihrer geliebten Lebensweise als Jägerin zu verabschieden und sich dem Viehhüten zuzuwenden. Sie erbaute unsere Hütte eigenhändig, obwohl sie so aussah, als wäre sie den erbarmungslosen Bergen entwachsen; ein gegabelter kleiner Hügel mit Moos auf dem Dach, das die Ziegen im Sommer fraßen, wenn das Eis taute. Die Hütte war eine kleine Kiste und bestand aus einem Raum mit Betten auf dem Fußboden. Jede Holzoberfläche war mit Brandmalerei bedeckt, Zeitvertreib meiner Großmutter in unserer verlassenen Welt. Sie brannte Brettspiele in die niedrige Tischplatte - ein Rechteck mit Schachbrettmuster für Solitaire und Jägerglück, braune Zacken für Backgammon sowie rechteckige Flecken für die Karten zum Weissagen. Kamen Jäger zu Besuch, so spielten sie Spiele, die im Vergleich zu jenen, die ich später im Schloss lernte, rasch und simpel waren. Die Regeln der Flugkunst entdeckte ich über Versuch und Irrtum; kein Kind war jemals so von Schnitten und Schrammen übersät gewesen. Eilean ließ mich auf unsere acht Ziegen aufpassen; ich war gut mit der Schlinge, aber man hatte mich nie den Gebrauch von Bolas gelehrt, so dass ich um Hilfe schreien musste, als Jäger die Ziegen klauen wollten. Ich ließ die Ziegen angeleint zurück, während ich meinen Gleitflug vervollkommnete und so weit hinaufschwebte, dass ich ihr Meckern und das Bimmeln der Glöckchen nicht mehr 380 hören konnte. Ein Rudel weißer Wölfe griff die Herde an. Die Ziegen gerieten in Panik, sprangen hoch und rissen an ihren Leinen, aber die Wölfe verschlangen sie ganz leicht. Bei meiner Landung Stunden später fand ich bloß noch einen Haufen Knochen, Stricke und Glöckchen vor. Tagelang hielt ich mich vor Eilean versteckt, bevor sie es aufgab, mir an die Kehle gehen zu wollen. Daraufhin kehrte sie zu ihrem früheren Leben zurück, jagte Steinböcke und kippte Whisky, um zu vergessen, welche Belastung meine Existenz für sie darstellte. Ich saß im Schneidersitz vor dem Herd und starrte in die Flammen. Nach einer Weile stießen zwei gewaltige zahme Wölfe die Tür mit der Nase auf und schlüpften gewichtig tapsend hindurch. Ich überließ ihnen meinen Platz auf der Matte; sie legten sich nieder und gähnten gleichzeitig. Zusammengedrückter Schnee auf ihren Pelzen schmolz, wurde durchsichtig und tröpfelte herab. Donner grollte durch das Tal der Dunkelberge; es lag ein großes Gefühl von Erwartung in der Luft. Eilean Dara trat die Tür an ihren Lederscharnien auf und kam hereingeschritten. Sie hängte ihre Bolas auf, lehnte sich an die Läufer, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und sah sich vage nach mir um. »Sieh dich mal an, Jant; warum bist du immer noch hier? Du hättest mittlerweile das Haus verlassen sollen. Hast du eigentlich überhaupt kein Schamgefühl? Ich glaube, du bist fest entschlossen, mich in meinem Lauf zu hemmen wie Pulverschnee. Als Erstes kann ich dich nicht mal verheiraten, denn wie finde ich jemanden, der einen deformierten Shira zum Gatten haben will? Dann erinnerst du mich an das, was jene bösartigen Awianer meiner geliebten Tochter angetan haben. Zum Dritten hast du sie dann auch noch mit deinem klobigen Leib und den Flügeln in ihrem Bauch umgebracht. Wir mussten dich mit einer Axt herausschneiden.« 381 Ich holte ihren Teller vom Herd, Gebäck mit Pinienkernen und Fleischeintopf, der schon so lange kochte, dass er zu einer zähen Masse geworden war. »Eine volle Sieben-Monats-Schwangerschaft«, fuhr Eilean fort. »Und du warst immer noch winzig. Ich habe dich mit Ziegenmilch gefüttert und dich trotz der Tatsache aufgezogen, dass deine Geburt natürlich nicht rechtzeitig erfolgte und du mitten in der eisigen Jahreszeit gekommen bist. Jetzt bist du also erwachsen, und du zeigst deine Dankbarkeit dadurch, dass du meine Vikunjans an die Wölfe verfütterst.« Sie griff nach mir, und ich zuckte zurück. »Hast du was gefangen?« Sie säbelte ein Stück von dem Fleisch herunter, steckte den Finger hinein und leckte sie ab. »Nichts«, spottete sie. »Keinen Faun, kein Federvieh, keinen Fick.« »Soll ich sie reinholen?« »Kein grüner Schlamm im Eingeweide eines toten Hirschs, keine erstarrte Milch in der Brust eines toten
Mädchens. Auf dieser Seite von Chir Serac gibt es kein Jagdwild mehr. Wir werden wohl alle verhungern.« Ich spähte in das grelle Weiß des Tals hinaus. Die Temperatur war ins Bodenlose gefallen und der Himmel fantastisch klar. Über den Dunkelbergen leuchten mehr Sterne als sonst wo in Vierlanden, weil sie die klare Luft mögen. Dort sammeln sie sich und fallen als Schnee herab. Zwei Waldhühner, deren vom Wind zerzauste Federn purpurfarben in dem falschen Licht wirkten, hingen an der Hüttenwand. Ein Lama von der Mhadaidh-Weide zeigte nach wie vor Bolawunden um die Beine, und eine leichte Schneedecke hatte sich auf das schwarze Geweih eines Gamsbocks gelegt. Seine lose heraushängende Zunge fror auf dem Boden fest; er sah mich mit gelben Zähnen an. Eileans Finger schoben die letzten Fleischbrocken in ihrer Schüssel umher. »Oh, du läufst mir immer vor den Füßen herum. Ich brauche Raum. Raus mit dir! Raus!« Sie schob einige dünne Späne in die Scheite und stieß Funken aufdampfendes Wolfsfell. Ich konnte nirgendwo hin außer zu dem leeren Ziegenstall hoch in den Felsen, der um den verdrehten Stamm einer Eberesche errichtet war, die den Felsabhang hinaufkletterte, als wollte sie von mir wegkriechen. Ich hatte Eileans höhnischen Bemerkungen geglaubt, dass die anderen Rhydanner, sollte ich hinab nach Grat laufen, mir die Flügel ausreißen würden. Ich zog mir eine Decke um die Schultern und kauerte mich in die Schutzhütte zwischen das Heidekraut. Dicke Wechten hingen über den weiten schwarzen zersplitterten Felswänden, standen dunkel drohend vor den Schneewolken. »Und lass dich heute Nacht bloß nicht mehr blicken!«, rief Eilean und warf die Tür zu, und der Feuerschein war wie abgeschnitten. Ich horchte und rührte mich nicht, als von weit droben, vom Mhor-Dunkelberg, der höchsten Erhebung in der Gegend, ein drohendes Knacken das Tal hinabschallte. Schneeschichten gerieten ins Rutschen. Mein Kopf war voll von dem weißen Dröhnen, als ich mit den Flügeln flatternd auf dem Deck der Sturmschwalbe landete. Ich schüttelte den Kopf, um das widerhallende Krachen des zersplitternden Felsens zum Schweigen zu bringen. Zwei Jahrhunderte lang hatte die Lawine in meinen Ohren getönt. Geduckt betrat ich Raas Kabine, und sie sprang sogleich auf, schoss zu mir herüber und drückte mir ein Stück Papier gegen die Brust. »Was hat das zu bedeuten?«, kreischte sie. »Was geht hier vor?« »Hm?« Ich wollte den Zettel an mich nehmen, aber sie drückte ihn fest mit der Handfläche gegen mein Hemd. 382 383 »Was hast du getan, Jant?«, wollte sie wissen und klopfte auf das Papier, um jedem einzelnen Wort Nachdruck zu verleihen. Ich erkannte in ihm den Brief des Imperators, den ich vor vier Tagen mit einem loyalen Reiter nach Awendin geschickt hatte. Meine Handschrift bedeckte den Rücken des Umschlags. »He, he ... Gib nicht dem Überbringer die Schuld! San hat ihn versiegelt, nicht ich. Ich habe ihn nicht gelesen.« Völlig verzweifelt warf Raa die Hände in die Höhe. »Dann lies ihn!« Nur für Raas Hand bestimmt! Gio Ami zeigt Interesse an Tris. Sei darüber informiert, dass seine Spione versuchen werden, die Koordinaten und Wege herauszufinden, wie man die Insel erreicht. Du wirst ihnen die Sache einfach machen. Lasse ganz diskret deine Karten oder Aufzeichnungen dort liegen, wo man leicht an sie herankommt. Komet wird dir meine weiteren Anweisungen übermitteln. San, Imperator von Vierlanden, 13. Juli 2020 Ich warf ein Kissen zu Boden und setzte mich darauf. Das Panorama draußen vor den Heckfenstern veränderte sich, als sich die Sturmschwalbe an ihrem Anker drehte. Die Lampen von Häusern und Kneipen am Meer, der Leuchtturm auf der Hafenmauer, die gekerbten Wipfel von Eiben auf dem Friedhof von Awendin, die über das dunkle Profil des Landes hinausragten. Das Schiff schwang zurück: Eiben, Leuchtturm, Meeresfront. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat«, meinte ich schwach. Serein Zaunkönig hatte die Beine auf dem Tisch übereinander geschlagen, schliff die Kante seines Rapiers mit einem 384 winzigen silbernen Wetzstein und sah zu, wie das Barometer fiel. »Wir haben gehofft«, sagte er, »du würdest uns das erklären.« Ich berichtete ihm von Sans Erlass, was das Rapierfechten betraf, und Raa hörte genau zu, als ich Gios Versammlung beschrieb. Dann faltete ich den Brief zusammen und hielt ihn in eine Kerzenflamme, wo er bis auf meine Fingernägel völlig verbrannte. Ich schloss mit den Worten: »Also, Zaunkönig, du musst rasch zur Breitschwert-Technik zurückkehren; und Raa, du hast Gios Spionen diesen Nachttopfund das Notizbuch zu überlassen.« Raa drohte mit dem Finger. »Niemals! Wie angeordnet, habe ich sie nicht im Safe eingeschlossen, und sie wurden von einem Bootsmann mit leicht in Unordnung geratener Untertanentreue gestohlen. Er glaubte, er habe einen gewitzten Diebstahl begangen ... Aber ich könnte schreien vor Enttäuschung; nach der ganzen Geheimnistuerei vom vergangenen Jahr!« »Gio hat um die Pfau eine sehr starke Streitmacht versammelt«, fügte Zaunkönig hinzu. »Und er hat drei weitere Karacken bekommen. Es wird nicht leicht sein, ihn an der Ausfahrt zu hindern.« »Verdammt! Das erklärt die Lichter, die ich am Kai gesehen habe.« Zaunkönig warf mir eine Packung
Ingwerkekse zu, und ich machte mich gleich ans Essen. Zu Raa sagte ich: »San teilte mir mit, du müsstest dich draußen auf See um die Rebellen kümmern. Können wir ihn verfolgen?« Raa warf mir einen ungläubigen Blick zu. »Du hast keine Ahnung, Rhydanner. Neunzig Prozent von Awendin unterstützen ihn. Er hat den größten Teil meiner alten Mannschaft rekrutiert, und er fegt die Geschäfte am Hafen leer. Gio ist raubgieriger als Insekten! Mögen die Hunde auf sein Grab scheißen! Ich musste Boten zur Grasinsel schicken, um loyale 385 Matrosen anzuheuern - einen kleinen Teil des Heerbanns von Awendin mobilisieren — alte Gefallen einfordern. Er wird längst auf und davon sein, bevor wir die Truppen ausheben können. Also muss ich Lebensmittel finden ... Hölle und Teufel! Das heißt ohne neu kalfatern, ausräuchern, reparieren! Es wird mindestens vierzehn Tage brauchen! San weiß das! Richte ihm aus, ich werde Gio selbstverständlich verfolgen - die Schwalbe ist schneller als diese PrärielandKähne. Wir haben Beisegel, Schlingerkiel; wir liegen stabil, während sie schlingern, stampfen und rollen. Ich habe ein paar Trümpfe im Ärmel. Wenn ich sie erwische, werde ich sie schon versenken, aber ich könnte ihnen gegenüber auch bloß ein paar Tage aufholen.« Sie wühlte heftig in ihrem Haar. »Das sieht dem Imperator gar nicht ähnlich! San weiß sehr gut, dass ich zwei Wochen für die Vorbereitung dieses Schiffs benötige. Er begeht keine Fehler. Gios Awendin-Karacken sind robuste zweitklassige Handelsschiffe, dazu gebaut, das Kap zu umrunden. In den richtigen Händen können sie Tris erreichen. Eigentlich sind wir jetzt alle Handelsschiffe.« »Ich habe gehört, dass Tornado die Dissidenten bereits unter Kontrolle hat«, bemerkte Zaunkönig. »San hat Gio ein Mittel zur Flucht in die Hand gegeben. Warum in aller Welt tut er das?« »Normalerweise verlangt er viel von mir«, meinte Raa, »aber das ist ...« Zaunkönig ließ eine Scheide über das Rapier auf seinen Knien gleiten. »Vielleicht glaubt San, dass Gio untergehen wird. Dann wäre er den kleinen Scheißer und die beiden Schiffsladungen Schweinehunde los.« »Er überlässt nie etwas dem Zufall«, sagte Raa. »Manchmal glaube ich, selbst die Rückkehr Gottes ist bloß eine Geschichte, die er erfunden hat, um uns zu hegen und zu pflegen.« 386 Tief aus der Magengrube stieg ein Gefühl der Übelkeit in mir auf. Ich wollte Scolopendrium, und in meinen Händen setzte ein Zittern ein. »San kann Gio nicht erlauben wollen, Tris zu erreichen. Tris ist so friedlich. Gio hat vor, es zu vernichten.« »Stimmt, aber wenn wir die Insel vor Gio retten, wird sie eher Teil des Reiches werden«, sagte Raa. »Was hat Tris für San zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht. Es muss ihm wichtiger sein als Gios Rebellion ...« Dann begriff ich es, und in einem Augenblick sah ich die Zeit, wie San sie sieht. In einem unergründlichen Ausmaß erstreckte sie sich vor mir, wie ein Trichter. Ich starrte in einen schwarzen Brunnen, als sich Verkettungen und Muster über die Jahrhunderte hinweg auf einmal zusammenfügten. Selbst Eszai können sie nicht erkennen; der Imperator plant sie. Natürlich hatte ich keinen Beweis dafür, aber ich war davon überzeugt, dass ich Recht hatte. Es war ein Gefühl des Fal-lens, ebenso schrecklich, als würde der Kreis zerbrechen. Ein Leben war eine Sekunde, ein Funken. Kein Mensch kann über eine so gewaltige Spanne vor und zurück denken. »Oh, mein Gott! Ich bin mir absolut sicher ... Gio handelt als Werkzeug des Imperators!« Raa schenkte Zaunkönig ein Lächeln. »Ich kenne Inspiration, wenn ich sie sehe. Jant, worin liegt die wirkliche Bedeutung von Sans Befehl?« »Er schickt Gio nach Tris!« Ich sprang auf und richtete den Finger auf sie. »Du hast Tris nicht zufällig entdeckt, oder?« Sie erbleichte, hielt aber stand. »Komet, lass uns doch zusammenar...« »Oder} Wie blöd bin ich! Eine kleine Insel - der weite Ozean! Wie hoch ist da die Wahrscheinlichkeit? Die Schwalbe hätte eigentlich glatt zu beiden Seiten vorbeisegeln sollen! Du 387 hast nicht bloß Glück gehabt; San hat dir die Koordinaten gegeben, nicht wahr? Er hat dich ausgeschickt, um Tris zu finden. San hatte die Trisianer seit der Zeit finden wollen, seit sie damals das Reich verlassen hatten!« »Was?«, fragte Zaunkönig. »Das verstehe ich nicht«, sagte Raa. »Was meinst du mit >damals« »Ata, wie lauteten deine Befehle? Warum hast du es getan -um dich selbst zu beweisen? Kein Wunder, dass du sogar die Ehekarte ausgespielt hast. San möchte Tris um jeden Preis im Reich zurückhaben.« »Ja, Komet«, gab Raa zu. »Alles, was er mir gab, waren die groben Koordinaten, und ich habe mich ostwärts gehalten, bis ich auf Tris gestoßen bin.« »Die groben Koordinaten? Es muss dich doch gejuckt haben, ihn zu fragen, woher er sie kannte!« »Ja«, sagte sie leise. »Aber ich kann den Imperator nicht befragen, und ich übe mich in Selbstbeherrschung.« Ihre Augen waren ausdruckslos. »Damals wussten es alle«, meinte ich ehrfürchtig. »Vor zweitausend Jahren wusste ganz Vier- ... Fünflanden, dass es im östlichen Ozean eine Insel gab. San wollte, dass wir Tris wieder entdecken.« »Warum aber hat er sie Gio überlassen?«
»Weil jedes neue Problem die Lösung eines alten Problems ist«, schwadronierte ich. »San hat Gio losgeschickt, damit er die Insel erobert, nicht wir.« »Oh«, meinte Raa. »Weil er es nicht selbst tun darf?« »Ja. Hör zu: San hat mir befohlen, dem Senat mitzuteilen: >Unser Imperator hat uns ausgeschickt, euch vor Gio Ami zu beschützen^ So klingt Gio wie ein gefährlicher Feind, und so hat er eine Ausrede dafür, uns zu schicken!« »Gio ist ein gefährlicher Feind«, bemerkte Zaunkönig. »Ich 388 bin fest entschlossen, ihn und seine abscheulichen Straßenräuber daran zu hindern, Kapharnaum zu vernichten.« Meine Hand lag auf dem Türknauf. »Naja, endlich hat San die Mittel, die Trisianer zu erreichen, sie einzuholen. Tris ist ein loses Ende, das ihn seit zweitausend Jahren beschäftigt haben muss! Er hat dir das Geld gegeben, nach dem letzten Insektenschwarm die Flotte wieder aufzubauen, nicht wahr, Raa? Wie fühlt es sich an, eines seiner Instrumente zu sein? Nicht besser als Gio, der sich für einen Rebellen hält, jedoch bloß Sans Werkzeug ist. San möchte, dass die Nachkommen der Rebellen aus dem fünften Jahrhundert in den Schoß des Reichs zurückkehren, nicht wahr? Oh, jetzt brauche ich wirklich einen Schuss!« »Komm zurück!«, sagte Raa. »Erzähle uns, woher du das alles weißt! Woher hast du das?« »Eine Geschichte von Tris. Es ist ...« Ich sackte in mich zusammen. »Ich könnte was Kat gebrauchen.« Ich jagte zur Luke, die Leiter hinab und hinüber zum Lazarett. Das Buch, das ich aus der Bibliothek gestohlen hatte, berichtete, dass eine Gruppe Radikaler Pentadrika verließ, um Kapharnaum zu gründen. San musste das gewusst haben. Ich war mir sicher, dass er ihre Wiedervereinigung mit dem Reich wollte, und Gio stellte ihm die Mittel dafür zur Verfügung. Ich wusste, dass wir Gio aufhalten mussten. Ich wusste auch, dass ich gerade einen schrecklichen, kräftezehrenden Rundflug über die Prärielande absolviert hatte und dass der Umstand, sich wieder auf einer Karavelle zu befinden, nicht gegen die Tatsache half, dass ich dringend Kat benötigte. Geduckt ging ich unter den niedrigen Balken dahin. Von unten stiegen Gerüche nach Bratensaft und heißem Mehl auf. Das Schiff quietschte; das Deck war düster. Ich hielt inne und horchte an der Tür zum Lazarett, das von einer einzelnen hin und her schwingenden Laterne erhellt wurde. Von drin389 nen drang eine mitfühlende Stimme heraus. Es war die Ärztin. Ich glaubte, sie spräche mit Blitz, aber keine andere Stimme antwortete ihr oder unterbrach sie. Die alte Frau sprach mit sich selbst. »Im Lauf der Zei' sollen sich Eszai abnutzen und ersetz' werden. Du solls' wirklich nich' für immer leben.« Ich hörte sie herumwühlen. »Mein Lieber, mags' du Geschichten? Natürlich, du bis' ein Romantiker. Kaum zu glauben, dass ich mal ein kleines Mädchen mi' braunen Zöpfen und einem geflickten Rock war, den ich herumwirbeln ließ. In einem Sommer ging ich die gepflasterten Hinterhofstraßen von Hacilith hinab, un' ich hörte Musik. Das war vor deiner Gebur', Habich', lange davor. Was für eine Musik! Es waren eine Schalmei und ein Dudelsack, obwohl es einhunder' von jedem hätten sein können, so, wie sie die verlockendsten Melodien ineinander verwoben. Die Musik drang hinter einer hohen Mauer hervor, mi' einem Rundtor darin. Ich probierte das Tor, aber es war verschlossen. Ich rief den Musikern zu, aber nieman' gab Antwor'. Ich setzte mich auf die Pflastersteine und begann zu weinen. Dann kam diese Menge von Leuten die Straße herab, gekleide' in die allerschönsten Kostüme mit pflaumenblauen Federn und Masken mi' Blattverzierung. Sie kamen auf ihrem Maskenumzug an mir vorüber, und ich schlüpfte hinter ihnen durch das grüne Tor, als es sich öffnete, um sie durchzulassen. Von da an war ich völlig verloren unter den betrunkenen Gästen einer exotischen Gesellschaf, un' ich, nur ein kleines Mädchen mi' einem Kattunrock, war Gegenstan' ihrer Heiterkei'. Groß und grotesk wirbelten sie um mich herum, und ich starrte sie erschrocken an. Als ich des ständigen Lärms und der geheimnisvollen Anspielungen müde wurde, versuchte ich davonzulaufen. Ich versuchte, aus dem geschmückten Garten wegzukommen, aber die hohe Mauer 390 hiel' mich gefangen. Damen und Diener stießen mich beiseite, ihre scharfen Absätze zerrissen mir den Rock. Schließlich kroch ich unter einen Busch, der mi' diesen gewaltigen Wachsblumen bedeck' war, und schlief ein. Beim Erwachen fan' ich mich draußen auf der Straße wieder. Ich war aufgesammel' und mi' sämtlichem Müll von der Party hinausgefeg' worden. Habich'«, sagte sie erschöpft, »ich habe davon gehör', wie Männer den Willen von wilden Pferden brechen; sie binden ihnen die Hinterbeine zusammen, und wenn sie weglaufen wollen, stürzen sie hin. So war es für mich vor dem Kreis. Damals has' du mich gerette', und seitdem sind wir Freunde gewesen. Jetzt rette ich dich. Ohne dich kann ich nich' sein. Einfach ausgedrück', wenn du mich verläss', bin ich auf ewig allein.« Die Stimme verstummte, und alles war ruhig hinter der Tür. Ich stieß sie auf und schlüpfte in den Raum. Die Ärztin saß neben Blitz und spielte Solitaire mit Glasperlen. Sie legte sich die runzligen Finger an die Lippen. Blitz lag auf der Seite in einer Koje, die am Kopf- und Fußende an der Decke befestigt war und leicht mit der Bewegung des Schiffs hin und her schwang. Die Flügel hatte er geöffnet, einer war stark bandagiert, der andere gespreizt, damit er nicht auf der Matratze hin und her rollte. Die Federn waren in Übereinstimmung mit Rehgens Theorie von Sauberkeit kurz gestutzt worden. Er schlief. Die Decke hob und senkte sich mit dem unregelmäßigen Atem, aber in dem verschwommenen Licht wirkte er wie eine Steinplastik auf einem Grab.
Rehgen folgte meinem Blick zu der halb leeren Brandyflasche auf dem Fußboden. »Das is' das stärkste Betäubungsmittel, das er von mir annehmen will«, sagte sie. »Er fieber', un' die Wunde is' infizier', aber er weiger' sich, Schmerzmittel zu 391 nehmen. Er ha' Angs' vor ihnen. Ich glaube, weil er gesehen ha', was Drogen seinem Freun' angetan haben.« Ich umarmte sie; ihr Gesicht reichte mir bloß bis zur Brust. Die Falten unter ihren Augen überlappten sich wie eine Austernschale. Ihre einfache Baumwollschürze roch nach Wintergreen Oil und Dampf. Sie konnte in der kleinen Kabine aufrecht stehen, wohingegen ich den Kopf einziehen musste. »Wie geht's ihm?« »Sein Zustand ist erns'. Die Wunde will sich nich' schließen. Es wir' lange brauchen. Stiche müssen von der Basis her heilen, und der hier is' tief. Er ha' viel Blu' verloren. Er is' schwach, aber er iss' wenigstens. Eine Bluttransfusion is' die letzte Möglichkei'. Ich habe ihm gesag': >Bleib still liegen, oder ich werde dir ein Jahrhunder' lang zusetzen.< Ich behandle auch seinen verstauchten Arm. Was is' mi' dir? Du siehs' aus, als würdes' du wieder dran hängen.« »Ja ... tu ich ... ich häng wieder an der Nadel. Kann ich Blitz irgendwie helfen?« Sie drückte mir fest das Handgelenk und schob meinen lockeren Ärmel zurück. »Scheiße, Jan'. Diese Hauskatze, die du da hälts', ha' dich wieder gekratz'. So ein Schlamassel! Obwohl du sie das letzte Mal geschlagen has'. Kanns' mir nichts mehr vormachen.« Ich kauerte mich gegen eine der Rippen, die das Deck über uns stützten. Wenn man Drogen nimmt, wird man im Lauf der Zeit ungewöhnlich vertraut mit den Ecken des Raums. Meine eigene Vorhersagbarkeit machte mich ganz krank. »Hast du was Kat?« »Ja. Ich musste neue Vorräte heranschaffen, weil irgendwer mit der Schiffsladung auf und davon is'. Diesmal kein Mitlei', Jan'. Du nutz' deine Angewohnhei', um in Mitgefühl zu schwelgen, du saugs' es auf wie ein Schwamm.« Rehgen stützte ihr üppiges Hinterteil auf dem Arbeitstisch ab und ver392 deckte den Blick auf ihren Arzneibehälter. »Die Truhe bleib' verschlossen. Ich kann nach Zaunkönig rufen. Er is' stark genug, dich ins Gefängnis zu werfen.« »Ich bin nicht gewalttätig«, sagte ich entgeistert. »Ich weiß. Aber in ein paar Stunden wirs' du verzweifel' sein.« Ich wollte weg. »Sieh mal, ich möchte kein Kat mehr nehmen, aber ich habe nicht die Willenskraft, um aufzuhören. Letzte Woche habe ich drei Nächte lang nicht geschlafen, und kleine Dosen schenken mir die Energie, weiterzumachen. Ich versuch's, Rehgen.« »Ganz bestimm'. Wie hoch is' deine Dosis?« »Fünf Gran alle zwei Tage.« »Scheiße. Ein Zaskai würde mi' dieser Menge nich' lang leben. Ich habe, glaube ich, die Anstrengung des Kreises ge-spür', dich zu halten.« Ich sank an der Schiffshülle zusammen. Das Zittern setzte ein, und ich unterwarf mich deprimiert ihrer Untersuchung. Sie säuberte meine Einstichstellen und sah sich meine Zunge sowie die rot geränderten Augen an. Makabre Alte! »Wenn du nich' rasch aufhörs', wir' das Ka' dich umbringen. Du has' 'n ganz gewaltiges Problem am Hals.« »Was für ein Problem - Gio, der entschlossen ist, die einzige Idylle von Vierlanden zu verwüsten, oder Nachtigalls Treulosigkeit, über der ich stundenlang brüte?« »Dummer Junge! Nachtigalls Treulosigkei' is' ihre Weise, mi' deiner Drogensuch' zurande zu kommen.« »Es ist genau anders herum«, sagte ich. »Ich benutze Kat, weil ich den Gedanken an ihre Affären nicht ertrage.« »Reiß dich zusammen! Du un' Nachtigall, ihr erpress' euch gegenseitig - aber sie genieß' es eher, wohingen du dir selbs' wehtus', um ihre Aufmerksamkei' zu erringen. Du bis' süchtig nach Mitgefühl - von Nachtigall, von mir und sogar von 393 Habich'. Naja, da is' nichts mehr, aber du stirbs' immer noch. Hör auf dami', deinen ganzen Schmerz für später aufzuheben, lebe in der richtigen Wel'! Ich weiß, es is' har', aber es is' nich' so schlimm wie Rache an sich selbs' für einen Fluchtversuch. Wenn du diesen Teufelskreis nich' durchbrichs', wir' Gio dich überleben.« »Nachtigall hat mich zuerst verlassen ... Ich bin ihr mittlerweile gleichgültig«, beklagte ich mich. »Keine Debatten!«, fauchte Rehgen. Blitz rührte sich, und Rehgen kehrte mir den Rücken zu und durchsuchte Phiolen. Ich wollte ihr nicht zuhören, aber mir blieb keine andere Wahl, als sie leiser fortfuhr: »Ich finde, dass Egoismus die schlimmste chronische Krankhei' der Eszai is'. Nachtigall leide' ebenfalls daran. Sie lieb' dich als einen Waghals, wie du es mal gewesen bis' - in den Ressondsturm hineinfliegen, die Klippen von Vertigo besteigen. Gib zu, dass du wesentlich unschöner bis', wenn du auf dem Fußboden liegs' und die Decke anstarrs'. Manchmal glaube ich, die größte Anstrengung für San is' es, alle eure Lebern wiederherzustellen. Tornado forder' zehn Männer zu einem Saufwettbewerb heraus, Frost sauf genug Kaffee für zehn, und du nimms' gleichzeitig Stimulanzien un' Narkotika.« Ich wünschte, dass die Leute meine Heldentaten in An-dernort sehen und glauben könnten. Ich verschränkte fest
die Arme; meine scharfen Fingernägel gruben sich mir in den Bizeps. Ich wiegte mich vor und zurück. »Es tut weh, es tut weh. Ich möchte nicht die Rosskur durchmachen ... Ich kann jetzt nicht loskommen. Das Reich braucht mich.« »Du muss' jetz' was haben, weil du sons' in einen Schock-zustan' falls'. Ich möchte keine zwei Eszai in einem lebensbedrohlichen Zustan' haben. Dann rationiere ich bei dir, eine Dosis pro Tag, oral un' nich' intravenös, bis ich dich runterkriegen kann. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig eine In394 jektion auf einem Schiff is', das vom Sturm hin und her geworfen wir'.« Erleichtert darüber, mich Rehgens Regiment unterwerfen zu können, nickte ich. Sie würde für mich sorgen. »Abgemacht.« Sie streckte eine Hand nach meinem fast geleerten Flachmann aus. Die Linien auf ihren Fingerspitzen waren durch das Alter glatt geworden, und sie hatte Warzen entfernt, wobei kleine braune Kreise zurückgeblieben waren. Ich zwang mich, meine Faust einen Finger nach dem anderen zu öffnen und die Flasche fallen zu lassen. »Gu' gemach', Jan'«, sagte sie anerkennend. Hoffnungslosigkeit durchströmte mich; Furcht erfüllte mich. Ich warf ihr einen Blick zu, der von einem Welpen hätte stammen können, wenn meine Augen nicht so sehr denen einer Wildkatze geglichen hätten. Ein paar Minuten später wurde ich mit Rehgens zuversichtlichem Griff auf meinen bloßen Arm sowie einem Zucken ihrer Finger belohnt, als sie mir die Nadel in die Ellbogenbeuge stieß. Ich spürte keinen Schmerz; Rehgen war gut. Anders als ich ließ sie sich nicht die Zeit, dass eine Wolke roten Blutes in den Kolben hinaufquoll und sich auflöste und mit der Droge zurückgesogen wurde. Sie stieß schlicht und effizient den Kolben herab. Also erhielt ich die Hälfte des Rituals, nach dem es mich so dringend verlangte. Sie schüttelte den Kopf, wobei ihre Kehllappen wie bei einem Hahn wackelten. Ich verlor ihr besorgtes Gesicht aus dem Blick. Vielleicht wirke ich immer noch krank, aber es ist wunderschön hier drin. Ich atmete eine Woche Streit in einem Seufzer aus; schlief dann endlich ein. Die nächsten vier Tage sorgte ich für den Austausch von Informationen. Gouverneurin Schwalbe konnte lediglich fünfzig Elitesoldaten auftreiben, für die sie die Hand ins Feuer le395 gen wollte, dass sie nicht mit den Rebellen sympathisierten, und diese Zahl mit zuverlässigen Soldaten des allgemeinen Heerbanns verdoppeln. Raa heuerte eine Mannschaft an, konnte jedoch nur die grundlegenden Vorräte auftreiben, und das auch noch in schlechter Qualität und geringen Mengen: Salzfisch, dreihundert Fass Mehl, gestreckt mit Erdnüssen. Raa trat aufs Deck, wo ich die Soldaten überwachte, die Körbe mit Armbrustbolzen das Fallreep hinauftrugen, und sagte: »Mach ihnen Feuer unterm Hintern! Gios Schiffe haben letzte Nacht Anker gelichtet und sind bereits außer Sicht.« »Wie viele Schiffe?«, fragte ich. »Drei. Naja, er hat vier Karacken mitgenommen. Drei davon, die Pfau, die Kuckuck und die Aufruhr, sind bei Stillwasser direkt durch die überbrechenden Seen gefahren. Ich kenne den Oberkommandierenden nicht, aber er ist ein fähiger Navigator. Gio bietet schwerer See die Stirn - Böen von Stärke zehn! Aber niemand wird ihm folgen, da die Demoiselle Kranich gekentert ist. Ich habe zuvor im Logbuch die Hafenkoordinaten geändert, so dass ich es sorglos von einem Matrosen stehlen lassen konnte.« Sie lachte rau. »Die Demoiselle Kranich ist bei Flut auf die überbrechenden Seen bei Corriwreckan getroffen, genau um ein Uhr nachts.« Ihr schmallippiges Gesicht war beunruhigend. Mich schauderte, als ein Widerhall meiner Segelangst zurückkehrte. Das Beladen ging Tag und Nacht unter Raas ungeduldigem Blick weiter, aber es benötigte eine Woche, bevor die Schritte der Schauerleute die Leitern der Schwalbe hinauf und hinab sowie im Laderaum verstummten. Als ein Wind von Sturmstärke die Segel blähte und uns voranzog und wir durch die stürmische See draußen vor dem Hafen pflügten, zog ich mich nach unten zurück, um Blitz von den Neuigkeiten Bericht zu erstatten. 396 Ich übernahm die erste Wache bei Blitz. Nach dem Aufwachen wollte er nicht, dass der Schmerz sich zeigte, und lag ebenso aristokratisch im Lazarett wie daheim in seinem Palast. Ich wünschte mir seine Selbstgewissheit, aber ich besitze seine innere Sicherheit nicht, die daher rührt, dass sein Platz in der Welt niemals in Frage gestanden hatte. Rhydanner sehen stets meine Flügel, und Flachländer sehen meine Katzenaugen. Weil sich Wölfe den einsamen Burschen an die Fersen heften, wurde ich während der Jahreszeit des Schmelzens aus den Dunkelbergen hinausgejagt. Es war das Jahr, das ich später als 1810 zurückrechnete. Ich wusste nicht, dass die Luftströme in großer Höhe mich zur größten Stadt der hungrigen Ratten tragen würden, verwirrend für ein Kind der Berge, jedoch nahezu unentrinnbar. Bis zu meinem Eintritt in den Kreis wurde ich immer umhergeschubst, suchte stets nach einer Möglichkeit, den Orten zu entkommen, an denen ich gefangen war. Ich gewöhnte mich so sehr daran, mich zu verteidigen, dass mein Verhalten in der Apotheke in Hacilith, als ich mich allmählich etwas heimisch fühlte, mich wiederum in den Ruin stürzte und heimatlos werden ließ. Nach der Lawine rannte ich das zerstörte Tal hinab zum Plateau - wobei ich die gewaltigen Gipfel der MhorDunkelberge zu meiner Rechten hielt - und näherte mich vorsichtig dem Pueblo. Auf der verzweifelten Suche nach Essen schlich ich mich, schmutzig und aus Erschöpfung kurz vor dem Zusammenbruch, in den Lagerraum
der Destillerie. Eine so lange Strecke war ich noch nie zuvor allein gerannt. Ich stieg einen feuchten, mit Matten ausgelegten steilen Kiesweg in den dunklen Keller hinab, auf dessen Steinboden das Wasser gut und gern sechs Zentimeter hoch stand. Tropfen flössen die nasskalten Wände herab und fielen in rhythmischen Abständen von der Decke. Das war alles irgendwie 397 falsch. Wusste denn keiner, dass der Vorratsraum überflutet war? Es war wie das Hineinkriechen in eine Höhle. Über dem Keller lag erstickend der Geruch von gestampftem Fleisch; der gefriergetrocknete Pemmikan war zu einer durchweichten, schleimigen Masse geworden. Aber ich war mit dem Geruch trocknender Felle und mit Urin getränkter Geweihe aufgewachsen, die dadurch weicher werden sollten, damit man sie schnitzen konnte; außerdem mit dem Gestank braunen Fetts, das aus einem Herdfeuer aus brennenden Knochen spritzte, sowie aufgeschlitzten langen Knochen, die gekocht wurden, um Schmalz daraus zu gewinnen. Ich zog einen der Körbe mit getrockneten Beeren herab, die zu je fünf Stück gestapelt waren. Rhydanner zählen auf der Basis der Zahl »5«, weil es wärmer ist, eine Hand im Handschuh zu behalten. Abgesehen davon ist fünf in den Bergen von allem eine ganze Menge. Ich aß einen ganzen Korb Heidelbeeren und Moltebeeren. Dann schöpfte ich Wasser vom Boden und trank es aus der hohlen Hand, bis ich satt war. Während meiner ganzen Kindheit in den Dunkelbergen aß ich hauptsächlich Fleisch. Daher lebte ich nach meinem Eintreffen in der Stadt davon, dass ich brutzelnde Burger von Marktständen stahl. Das kam von allem, was ich auftreiben konnte, Fleisch am nächsten. Als ich herausfand, was Obst war und wie man es schälen musste, ging ich zum Klauen von Äpfeln und Orangen über, deren intensive Süße ich mochte, obwohl ich anfangs Krämpfe davon bekam. Die ersten Worte auf Morenzianisch, die ich lernte, waren die Schreie und Flüche der Händler. Ich kroch zum Destillierraum zurück und sah nach, ob er verlassen war. Anschließend schoss ich aus der steinernen Tür, verließ das Pueblo und trabte auf das Plateau, während ich mir Sand unter den Fingernägeln herausbiss. Die trübe 398 Sonne warf einen weißen Pfad über den wolkenverhangenen Himmel. Vom Gratpass wehte ein eiskalter Wind herüber, der das Brüllen der Schmelzwasserstrudel mit sich trug und unter dem sich das spärliche Heidekraut duckte und wieder aufrichtete. Überall lagen hohe Schneeverwehungen, die vor den zerschmetterten schwarzen Felsbrocken zurückwichen. Verschwommene Flecken in der Ferne waren Gämsen, die über das weite Plateau wanderten. Über ihnen kratzten uralte Gletscher an den fernen Felswänden, wie aus lauter Verzweiflung. Zwei Rhydanner sprangen vor mir auf. Mit einem Aufschrei vollführte ich einen raschen Satz zur Seite, aber sie versperrten mir den Weg. Es waren Erwachsene, ich war so groß wie sie, aber nicht so stark. Ich wusste den Namen des Mannes nicht, kannte jedoch seinen Ruf. Als schnellster Läufer in dem Gebiet hatte er viele Frauen erwischt und sich den anderen Männern gegenüber als Herr aufgespielt. Er hatte geheiratet und verteidigte leidenschaftlich eine Jägerin, eine sehr begehrenswerte Frau, die neben ihm stand. Eine Hand voll Kondorfedern zitterte in ihrem langen glatten Haar; es war mit Ocker gefärbt, und rote Kleckse beschmierten die Wurzeln ihrer Stirnhaare. Sie trug eine Halskette aus den durchbohrten Reißzähnen eines Bären, und Wolfsklauen hingen an den Riemen ihrer quastenbesetzten Kniehose. Sie sah alt aus, vielleicht fünfunddreißig. Beide hatten Messer in ihren Gürteln stecken, und über ihre Arme hatten sie jede Menge Reife geschoben, kostbare Besitztümer, die ihren Status hervorhoben. Während die Berge wachsen, fördern Erdbeben und Erosion manchmal Adern von Dunkelberge-Silber zutage, das Rhydanner zu Schmuck verarbeiten. Diese Jäger befanden sich außerhalb ihres Territoriums, das auf der anderen Seite eines von Felsnadeln gespickten 399 Kammes lag, der Raikes genannt wurde. Der scheue Junge mit den Struwwelhaaren, der, nachdem er sie erkannt hatte, zu fliehen versuchte, beeindruckte sie nicht im Mindesten. Sie schritten um mich herum. Ich konnte nicht zwischen ihnen davonjagen; ich saß in der Falle. »Was haben wir denn hier?«, fragte sie neugierig. Ihr Blick bohrte sich in mich hinein wie bleiche Knochensplitter. »Er ist ein Awianer. Obwohl stämmig, ist er jung.« »Allein? « Sie sahen sich um. »Wenn er Awianer ist, ist er nicht alt genug, um allein hier zu sein, möchte ich mal behaupten. Dann halt eine Waise.« Langsam fragte die Frau: »Bist du eine Waise? Oder verlassen worden?« Ich schwieg. »Was tust du hier?«, fragte der Mann. Mit einem Gefühl überwältigender Einsamkeit dachte ich, ich tue zweierlei: Ich kann in der Gesellschaft von Leuten bleiben, oder ich kann für mich allein bleiben. Die wettergegerbte Hand der Frau schoss vor und zwickte mein Gefieder. Ihr Gatte lachte auf und pflückte am anderen Flügel herum. Ich jaulte auf und jagte davon. Warum taten sie mir das an? Der kalte Wind hob mein schmutziges Haar. Meine klatschnassen Füße waren wie erstarrt; meine drei Schichten
Fellsocken hatte ich mir bei meiner Kletterei zwischen den Felsbrocken des Erdrutsches zerfetzt. Wie wahnsinnig rannte ich über niedrige Ausbisse und trat Steinchen von der frostzerfressenen Oberfläche los. Die Rhydanner hielten Schritt, ohne dass deswegen ihr Atem schneller gegangen wäre, und die ganze Zeit über lachten sie und rissen an meinen Federn und hinterließen eine Spur aus denen, die sie mir hatten ausrupfen können. Die Frau stieß mich 400 an, ich stolperte; der Mann schob mich zu ihr hin. Ich legte eine Pause ein, aber sie sprang heran und schubste mich; ich fiel hin und zerbrach das Eis auf einem Schneefeld. Wimmernd vor Enttäuschung und dem dumpfen Schmerz der vergangenen Nacht kam ich wieder hoch. Neckisch gab mir die Frau eine Kopfnuss und zog die Kapuze von meiner Alpakajacke herunter. Der Mann riss die Hornknöpfe und den Gürtel ab, der sie zusammenhielt, da ich längst aus ihr herausgewachsen war. Sie schoben mir Schnee in den Rücken. Wenn ich alle Kleidungsstücke ablegte, würde ich an Unterkühlung sterben. Ich glaubte, dass sie das im Sinn hatten. Ich wünsche mir, ich hätte damals begriffen, dass meine Flugfähigkeit sämtliche Rhydanner in Ehrfurcht versetzt hätte, weil Fliegen schneller war, als sie jemals rennen konnten. Wenn ich gewusst hätte, dass ich einmal eine Unzahl Armreife tragen würde; wenn ich gewusst hätte, dass ich einmal Besitzer des Spinnennetzes wäre und sie jedes Jahr mit freien Getränken daran erinnert hätte, dann hätte ich nicht geschluchzt und vergebliche Fluchtversuche unternommen, während mir die Tränen das Gesicht herabströmten. Ich wand mich los und rannte so rasch davon, wie ich konnte. Der Mann stieß zweimal einen Pfiff aus. Die Frau pfiff einmal zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und sie trennten sich: einer links, einer rechts. Sie jagen mich, dachte ich voller Entsetzen. Ich schwenkte von ihr ab und rannte geradeaus. Ihr Gatte verringerte die Kluft zwischen uns und schob mich gewaltsam und mit einem Gelächter reinster Freude auf sie zu. Das Eis in meinem Kragen scheuerte mir die Haut auf, und das Schmelzwasser tröpfelte mir den Hals hinab; die kalte Luft versengte mir die Kehle. Mühelos spulten sie ihr Jagdsystem ab und reichten mich gnadenlos zwischen sich hin und her. Für sie war es ein ge401 mütlicher Schritt, aber ich zitterte und stand kurz davor, mir vor Furcht in die Hose zu pinkeln. Bei der dritten Umrundung eines Geweihstapels, Zeichen für einen Fleischvorrat in dem gefrorenen Boden, begriff ich, dass sie mich absichtlich in weiten Kreisen rennen ließen. Mich verlangte es, Grat weit hinter mir zu lassen - alle Daras und Jäger zurückzulassen. Blind vor Tränen schwang ich jäh herum und rannte direkt auf die Schlucht zu. Grinsend jagten sie hinter mir her. Der Rand der Gletscherspalte lag drohend und viel zu dicht vor mir. Sie blieben stehen und schrien: »Halt!« Ich hörte die Sorge in ihren Stimmen, aber ich fiel auf keine Tricks mehr herein. Ich breitete die Flügel aus und glitt über den Rand der Spalte hinweg. Der Boden fiel unter mir davon, und plötzlich befand ich mich hunderte von Metern in der Luft über schäumendem, milchweißem Wasser. Die Rhydanner umklammerten einander, und beiden stand der Mund weit offen. Abgesehen von Eilean waren sie die Ersten, die mich fliegen sahen. Aber ich erinnere mich eher an das Gefühl des Entsetzens als das des Triumphs, während ihre Gestalten hinter mir zu Pünktchen schrumpften. Eine kräftige Luftströmung packte mich und schleuderte mich in die Höhe. Der Pentitentes-Kamm von Chir Serac erstreckte sich unter mir, bedeckt von kegelförmigen Eisformationen. Die höchste weiße Spitze der Mhor-Dunkelberge glitt unter meinen Flügeln dahin; das gesamte mächtige, wunderschöne Massiv lag unter mir. Eine ständige breite Strömung über meiner Welt fegte mich nach Südosten. Ich kämpfte in der dünnen Luft um jeden Atemzug und redete ruhig auf mich ein. »Dann gehe ich halt in diese Richtung. Wo ich auch landen mag, dort wird es auf jeden Fall besser sein.« Ich drehte mich in den Luftstrom und ließ mich von ihm mittragen. 402 »Jant?« Blitz hörte sich erheitert an. »Jant, wach auf! Geht's dir gut?« Ich seufzte. »Ja. Mach dir um mich keine Sorgen; wie geht's dir?« »Es wird. Brennt wie Feuer. Schwach. Fetzen von Musik gehen mir unentwegt durch den Kopf. Du wirkst ebenfalls benommen.« »Ich habe bloß nachgedacht«, erwiderte ich. »In Erinnerungen an meine Kindheit geschwelgt.« Die schäbige Kabine quietschte und schwankte. Der Bogenschütze nickte anerkennend und meinte: »Bitte, erzähl mir doch was davon! Es muss wunderbar gewesen sein, frei in den Bergen zu leben.« KAPITEL 18 Schaumkronen zierten die Wellen eines kabbeligen Ozeans. Er war wie ein atmendes Etwas, über dessen Rücken sich die Schwalbe hinwegwälzte. Ihre Mastspitzen begannen zu glühen, gefrierende Gischt knirschte an straff gespannten Segeln, und sie neigte sich schwer nach Steuerbord, als sie ins nächste Wellental eher rutschte denn segelte. Ein heftiger Windstoß trübte die Oberfläche des Wassers und peitschte den Regen waagerecht über das glänzende Deck. Wasser tropfte von den bleiernen Streifen, die auf Raas Kabinentür genagelt waren. Schrill pfeifend fuhr ein weißer, völlig undurchsichtiger Sturzregen herab und hämmerte die Wellen flach. Es war kaum vorstellbar, dass es wirklich noch heftiger regnen könnte. Ich schob die Luke am Vorschiff auf ihren Schienen zurück und spähte ins Lazarett hinab. In der Düsternis unten
war Blitz so gerade eben zu erkennen. Das Bett war an der gepols403 terten Lederwand festgehakt worden, und er saß aufrecht darin und umklammerte mit den großen Händen ein Glas Brandy. Den Rücken drückte er gegen die Wand, was ein Versuch war, den Schmerz zu lindern, der ihn nach wie vor an jeder Bewegung hinderte. Ich verharrte unsicher in der quietschenden Tür, bis er mich herabwinkte. »Komm rein! Hier wochenlang herumzuliegen ist so langweilig. Ich habe mich entweder mit Rehgen unterhalten oder meinem eigenen Herzschlag auf den Kissen zugehört. Schließe bitte die Luke; die Kälte zwickt offenbar in meinen Wunden.« Da geriet das Schiff unerwartet ins Schlingern, und ich baumelte auf einmal von der Leiter herab und fiel auf einen Reserveschlafsack neben dem gegenüberliegenden Schott. »Ich habe gerade an Deck was frische Luft geschnappt - wenn man Seeluft denn frisch nennen kann. Wir rutschen nach wie vor seitlich die Wellen hinab wie an schwarzen Pyramiden. Raa ist fuchsteufelswild; in den Klauen des Sturms kommen wir nirgendwohin, und Gio vergrößert seinen Vorsprung. Zaunkönig ist nach wie vor krank. Wo ist die Ärztin?« »Holt sauberes Wasser vom Herd. Ich bin in guten Händen.« Das Schiff rollte, und geschmolzenes Wachs tröpfelte von den Kerzen in der Laterne. Die Flammen auf ihren langen Dochten sprangen in die Höhe. Blitz blinzelte. Er zog den unverletzten Flügel heraus, um sich zwischen den Konturfedern zu kratzen, faltete ihn daraufhin mit der Hand wieder zusammen und steckte ihn unter seinen voluminösen Überzieher. Das cremefarbene Kerzenlicht ließ sein Gesicht blass erscheinen. Er war glattrasiert und, dank langer Übung, äußerst gepflegt. Drei Monate Leben auf einem Schiff ist wie Biwakieren an der Front, und Blitz wusste, wie Langeweile, schlechte Verhältnisse und langes Warten die Disziplin der Männer untergruben und ihr Verhalten schließlich völlig ent404 artete. Die Verbände unter seinem gelben Überzieher waren frisch und sauber. »Ich mache mir Sorgen um Zyan«, sagte er. »Ich muss sie häufiger besuchen. Ich habe nur so wenig Gelegenheit, sie zu erziehen, und ich kann mich nicht darauf verlassen, dass Schwalbe es richtig macht. Die Zeit ist so furchtbar ungünstig; im vergangenen Jahrhundert wäre der Imperator zehn Jahre lang ohne mich ausgekommen. Arme Zyan, sie freut sich immer so sehr, wenn ich zu Besuch komme, obwohl sie jedes Mal anders ist. Sie wird so schnell groß. Jant, eines Tages entdeckst du vielleicht, dass du dich auf die hervorstechenden Merkmale eines Menschen verlassen musst, um ihn vom einen Jahrzehnt aufs nächste wieder zu erkennen.« Er wechselte vom Nieder- zu Hochawianisch, einer entsetzlich komplizierten Sprache, in der jedes Nomen einen Fall, ein Tempus, eines von drei Geschlechtern und eine von zwei sozialen Klassen hat. Die meisten Verben sind unregelmäßig, und der leiseste Versprecher in der Anredeform kann eine Beleidigung darstellen. Ich weiß nicht genau, ob Hochawianisch aufgrund seiner langen Entwicklung innerhalb der Aristokratie so kompliziert wurde oder absichtlich, um ehrgeizige Bauern, Pächter und Morenzianer zu entmutigen. »Es ist noch nie vorgekommen, dass ich eine derart lange Zeit nicht üben konnte. Wenn wir Tris erreichen, werde ich in einem traurig herausfordernswürdigen Zustand sein, aber ich bin für die Ergreifung Gios verantwortlich. Das schmerzt, Jant; ganz bestimmt schmerzt es. Ich spüre immer noch, wie der Stahl meine Seite durchbohrt - kalt und unnachgiebig. Nimm dir was zu trinken! Ich trinke nicht viel, es hätte katastrophale Auswirkungen auf das Erreichen meines Ziels, aber dieser Brandy ist bestimmt besser als unserer.« »Ist das einzige ordentliche Getränk an Bord«, meinte ich. »Raa ist in solcher Eile abgereist, dass wir an Rationen mitge405 nommen haben, was Gio zurückgelassen hat. Mir zieht sich der Magen zusammen; ich hatte die ganze Woche über nichts anderes außer Suppe und Saft. Kann ich dir was bringen?« »Nein, bleib ein wenig hier zum Plaudern. Ich habe einen Kurierauftrag für dich ...« »Was denn?« »Er ist etwas ungewöhnlich.« Blitz starrte in die Mitte der Kabine. Bei diesen ausgeprägten Schultern konnte man leicht unterschätzen, wie entkräftet er war. Ich wartete geduldig; vielleicht schweiften seine Gedanken ab. Der warme, runde Duft von Wachs erfüllte die Kabine und sorgte für eine gewisse Gemütlichkeit. Der Regen roch grün; der Kalfatwerg sog ihn auf und stank deswegen wie ein nasser Hund. Zum Glück konnte ich mir nur schwer die Brecher vorstellen, die über das Hauptdeck schlugen; das zerfetzte Topsegel über uns knallte und faltete sich auf. Die anbrandenden Wellen sahen im Abendlicht aus, als hätten sie die Pocken, die Sonne sank in einem erstickenden Himmel hinab und verwandelte die hektische Geschäftigkeit der Matrosen in eine Abfolge einzelner Bilder. »Es ist wieder Sommer ...«, keuchte Blitz. »Ihr Geburtstag. Ich sollte bei Martyn sein. Seit der Gründung des Kreises habe ich die Verabredung mit ihr an diesem Tag immer eingehalten. Mein lange gehütetes Geheimnis. Wenn ich der Schwalbe befehlen könnte, nach Awendin umzukehren, ich täte es.« »Da bin ich dabei!« Er schenkte mir ein bitteres Lächeln. »Ich wusste, dass ich irgendwann einmal die Verabredung mit Martyn nicht einhalten könnte. Es spielt jetzt keine Rolle, wo Gio Sterbliche dazu überredet, uns zu massakrieren. Aber obwohl meine Tradition bloß eine Laune sein mag, ist mir nicht wohl dabei, sie zu brechen, und ich stelle mir
vor, dass sie mich vermissen 406 wird.« Er sah beiseite. »Vermutlich willst du genau wissen, was seit anderthalb Jahrtausenden an mir zehrt...« Lange Zeit starrte Blitz ins Leere. Dann schätzte er den Zeitpunkt wohl als den richtigen ein und sagte plötzlich: »Jant, ich möchte einer toten Frau eine Botschaft überbringen. Wenn ich im Kampf mit den Rebellen getötet werde, musst du das Mausoleum aufsuchen und mit ihr über die Umstände meines Endes sprechen. Erkläre ihr, weswegen ich sie nicht mehr besuchen komme!« Er täuschte Interesse an seinem Brandy vor. »Der Leichnam meiner Kusine liegt in einem Aventuringlassarg neben den Grabstätten von Generationen meiner Familie in einer Grabkammer mit hohem Gewölbe. Du wirst sie zwischen den Bäumen auf der künstlichen Insel im Glimmerwassersee finden, auf dem Grund und Boden des Palastes. Ich besuche sie einmal im Jahr, und ich sollte heute dort sein. Die Tür lasse ich stets einen Spaltbreit offen, so dass ein Lichtstrahl auf Martyns Grab fällt. Sie liebte den See, verstehst du. Sie hat im Wasser immer nach den schwebenden Mineralteilchen gefischt, die das Sonnenlicht reflektieren. Du wirst einen sauberen Pfad vom Eingang zum Kopfteil ihrer Gruft vor dir sehen. Meine Schritte haben ihn durch den dicken Staub gezogen, der auf allem und jedem liegt. Eine Stunde lang berichte ich ihr von sämtlichen Ereignissen des vergangenen Jahres. Ich sage ihr, dass ich sie, wie versprochen, besuche, weil ich sie immer noch liebe. Ich bringe stets Springkraut mit, das ich in der unterirdischen Bogenkammer aufbewahre, die du noch nicht gesehen hast. Sie liegt neben dem Kühlhaus und ist ein wabenförmiger Keller, ein kühler, homöostatischer Vorratsraum, wo die Bögen waagerecht auf Gestellen hängen. Das Springkraut muss weiß sein, weil es sich so prächtig von ihrem tiefroten Haar absetzt. Und es muss unbedingt Springkraut sein, wie in 407 dem Vers, den niemand mehr kennt: Springkraut für Liebende, Weiden für Bräute, wilde Rosen für Mädchen, Lilien für Witwen. Nachdem ich ihr die neuesten Geschichten erzählt habe, lasse ich das Springkraut dort liegen, sammele die trockenen Überreste des vergangenen Jahres ein und rudere wieder über den See zurück.« Blitz rieb sich die Stirn und nippte an seinem Brandy. Vor dem geistigen Auge strich er über den glitzernden grünen Stein und saß auf dem Sockel, während draußen vor dem Portal des Mausoleums Ahornblätter zur Erde fielen und Tauben in dem barocken Häuschen gurrten. »Martyn und ich wurden wie aus heiterem Himmel von reiner und aufrichtiger Liebe getroffen«, sagte er sehr mürrisch, was mich überraschte, aber vermutlich erregt nichts so sehr die Bitterkeit wie ein Absturz aus der Ekstase. »Ich weiß nicht, warum. Ehrenjungfern gab es zuhauf im Gefolge meiner Mutter. Es gab Ballsäle voller Mädchen, die alle sehr hübsch und gut gebildet waren, aber keine von ihnen war ... echt. Als Kind war Martyn oft im Palast. Dann, in einer Bankettnacht, bemerkten wir einander, und nichts war wie zuvor. Unendlich viele verborgene Möglichkeiten zogen vor unserem inneren Auge vorüber. Wortlos erhoben wir uns gleichzeitig und verließen den Saal. Sie war neunzehn Jahre alt, ich einundzwanzig. Mein Gewissen ließ mich zögern; sie nahm mich beim Flügel und führte mich ins Vorzimmer, wo sie mich in die Mäntel schob, die an der Wand hingen, und mir erlaubte, sie zu küssen. Um Mitternacht eilten wir in die Ställe. >Möchtest du nicht fliehen?<, fragte Martyn. Sie war wild, es war ihr egal. Sie jagte ihr weißes Pferd über Hecken und Gräben, sprang in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit hinüber, und ich galoppierte neben ihr einher.« 408 Ein wildes, höhnisches Grinsen, das ich zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte, erschien auf Blitz' Gesicht. Er wirkte fast knabenhaft. >»Möchtest du nicht fliehen?< Danach flohen wir sehr häufig - bei jeder sich bietenden Gelegenheit.« Er hielt seine Zeigefinger zehn Zentimeter weit auseinander. »So weit war ich davon entfernt, den Hof zu verlassen, sie zu heiraten und uns ins Exil zu schicken. So weit waren wir gekommen, eine Handbreit von einer richtigen Flucht entfernt. Hätte ich doch nur den Mut dazu gehabt; sie würde heute noch leben. Sie w'ixt jetzt hier. Manchmal kämpfte ich gegen Insekten, aber meine Herkunft beschirmte mich. Martyn und ich verbrachten die meisten Tage in unserer eigenen Welt. Meine Familie verlor nie ein Wort darüber, aber sie wussten es alle. O ja, sie wussten es. Der Hof gedieh unter Mutters segensreicher Liebe zu Garganey, aber meine Liebe zur Tochter ihrer Schwester war ein Tabu. Wir führten stundenlange Gespräche und entfernten uns zu Pferd weit vom Palast, um in den Wäldern zu reden. Diese ganzen langen Gespräche! Und die Worte kamen so leicht. Beim Essen achteten wir darauf, weit voneinander entfernt zu sitzen. Beim Tanz war sie heiter und sorglos, während ich alles tat, um nur ja nicht hinzusehen. Martyn war eine einzigartige Reiterin. Ich erinnere mich noch genau an ihr Parfüm, an ihre sepiabraune und salbeifarbene Seide, ihre kräftigen Glieder, ihre bleiche Haut und ihre kastanienbraunen Flügel, die sie wie ein leicht erregbares Mädchen spreizte. Sie hatte so viele Wälder gesehen, dass deren Grün in ihren Augen verblieben war.« Ich kam mir wie ein Spanner im Gebüsch vor, der gleich neben Blitz' Kusine lag, die sich zwischen den Wurzeln einer Eiche an ihn schmiegte. Sie zog sich die Tunika hoch, die feinen Kettenglieder ihres Halsbands sammelten
sich in der 409 Grube an ihrer Kehle. Ich sah einen jungen Habicht, der sie auf den Hals und die vollen Brüste küsste und zaghaft und drängend immer wieder ihren Namen sprach. Ihre roten Locken breiteten sich auf den spröden Blättern aus, während ihr Habicht verzweifelt in die Bluse hineinmurmelte: »Das dürfen wir nicht.« Mir war unbehaglich zu Mute, weil ich Blitz immer als geschlechtslos und zölibatär betrachtet hatte; der Gedanke, dass er Martyn bumste, war merkwürdig und ein wenig widerlich. Mit seiner tiefen Stimme fuhr er fort: »Immer und immer wieder sehe ich sie vor mir. Manchmal erinnert mich die Schönheit einer Frau an Martyn, aber sie verhält sich nicht genauso. Wie dem auch sei, selbst die atemberaubendste Schönheit ist nur eine Annäherung an die Schönheit Martyns. Wenn ich lange genug warte ... na ja ... es gibt keine endlose Zahl an Charaktertypen, und mit der Zeit erscheinen sie wieder. Sie ähnelte Schwalbe sehr, war jedoch größer, und sie ähnelte auch Kölle - erinnerst du dich?« Ich nickte vorsichtig. Blitz hatte mich ausgeschickt, um seine Liebesbriefe an einen weiblichen Hauptmann namens Kölle zu schicken, die sich von mir durchbumsen ließ, nachdem sie die Schreiben gelesen hatte. Ich war allein, individualistisch und hedonistisch gewesen, also hatte ich das als Beweis dafür genommen, wie sehr sich Blitz in puncto Frauen irrte. Jetzt bewahre ich die Last der Schuld für mich, weil er es um seines Seelenfriedens und meiner Sicherheit willen nie erfahren darf. Er fuhr fort, ohne dass ihm etwas aufgefallen wäre: »Martyn war der Vollkommenheit so nahe, wie es überhaupt nur möglich ist. Ein derart intensives Glück kann nicht lange währen; es ist stets so, dass die Pfeile, die wir zu den Sternen hinaufschießen, auf unsere eigenen Köpfe zurückfallen. Die Insekten schwärmten immer näher heran und dezimierten 410 den ersten Kreis, und im Jahr sechshundertzwanzig verkündete San die Spiele. Martyn sah mir zu, wie ich die hundert Runden beim Wettkampf im Bogenschießen als Sieger beendete, aber sie fuhr nicht mit mir aufs Schloss, wo er uns Sieger unsterblich machte. Hinterher flüsterte ich ihr zu, dass sich niemand im Kreis unsterblich fühlte und wir dem Imperator kaum glaubten. Ich richtete mich ein, organisierte meine Unterkunft im Schloss, und als Nächstes schickte uns San an die Front. Die Mauer verlief am Nordufer des Rachis, und wir strengten uns mächtig an - die Insekten strapazierten das Reich bis zum Zerreißen. Eine Woche lang tat ich kein Auge zu. Ich kämpfte bis aufs letzte Quäntchen Kraft. Es brauchte Jahre, das Ungeziefer zurück nach Unterland zu stoßen. Es war ein härterer Kampf als der von 2015. Dann gab mir San Urlaub. Ich besuchte meine Familie, und alles sah anders aus. Sie waren alle älter geworden.« Blitz zog die Knie unter der Decke an und legte die Arme darum. Die ungezwungene Geste ließ ihn schockierend kleiner erscheinen; plötzlich sah ich den Knaben in einem Mann, den ich für zu alt und Ehrfurcht gebietend gehalten hatte, um noch einen Knaben in sich zu haben. »Der Adel und meine Brüder warfen mir Seitenblicke vom Rand des Ballsaals aus zu, als ich vor Teale niederkniete. Sie zog mich auf die Füße, kniff mir in die Wangen und drehte meinen Kopf hin und her. >Bei Gott, es ist wahr<, sagte sie sowohl mit Stolz als auch mit Neid. Ihre Leiber hatten sich mit der Zeit verändert, meiner nicht. Noch nie zuvor hatte die Welt so etwas wie einen Eszai gesehen. Ich erschien wie eine Bedrohung, obwohl ich keine Macht hatte, sie das Fürchten zu lehren; ich konnte nicht einmal altern. Die gestelzte Höflichkeit der vornehmen Gesellschaft verbarg kaum ihr Misstrauen. Ich beschützte ihre Welt des Wohlstands vor den Insekten, aber weil der Kreis erfolgreich war, verloren die Höf411 linge die Vorstellung von der Gefahr. Sie nahmen mein Opfer als selbstverständlich. Sie ließen sich treiben, ich kämpfte. Ich hielt um Martyns Hand an, aber sie konnte den Willen unserer Königin nicht missachten. Sie würde Hof und Land nicht verlassen. Obwohl es so leicht gewesen wäre, sahen wir damals keine Möglichkeit. Was war in all den Jahren meiner Abwesenheit aus dem unbekümmerten Wildfang geworden? Martyn hatte nicht ... Jetzt, da sie älter geworden war, misstraute sie wohl dem, was ich geworden war. Ich war nicht stark genug, sie einfach vom Hof mitzunehmen, und sie war nicht so stark, wie ich gedacht hatte ... oder vielleicht erschien ich der Welt stärker, als mir klar wurde. Im Nu war sie verheiratet, zog eine Schar wunderschöner Kinder groß, war eine alte Frau; starb. Sie war stets sehr wandelbar. Ich bewunderte ihre Fähigkeiten und liebte sie desto mehr. Ich verehrte und beschützte sie bis zum Ende, aber ich wechselte niemals mehr ein Wort mit ihr. Im Leben geht es anscheinend immer mehr um die Wahl, die man nicht getroffen hat. San verkündete, dass ich Eszai oder König von Awia sein könne, nicht beides. Der Thron ging an Avernwasser weiter. Ich stürzte mich wieder auf meine Arbeit. Schließlich sah ich Martyns Linie aussterben. Das geschäftige Treiben und die vielen Leute waren aus dem Palast verschwunden, und ich lebte für mich allein dort. Zweihundert Jahre ist so gut wie nichts geschehen. Ich hatte viele Herausforderungen zu bestehen, weil Bogenschießen schließlich der Nationalsport ist. Als ich das nächste Mal aufsah, erkannte ich das Königreich kaum wieder.« Blitz ging auf, dass er ins Leere starrte, und er wirkte überrascht. Er warf mir einen scharfen Blick zu und sagte hart: »Schon gut. Ich habe erwartet, dich zu überleben, Komet, aber das sind jetzt keine Insekten, die wir bekämpfen. Wirst du Martyn die Botschaft überbringen?« 412
Sein Vertrauen überwältigte mich. »Ich werde noch mehr tun. Ich werde ihr Springkraut bringen und von diesem Tag an deiner statt mit ihr sprechen, ein jedes Jahr für den Rest meines Lebens, und dann werde ich, wenn möglich, die Pflicht an einen anderen willigen Eszai weitergeben, wenn ich sterbe.« »Mein Gott, Jant; wie großzügig! Ich stehe in deiner Schuld. Vielen, vielen Dank ...« Er seufzte; er war ebenfalls zu erschöpft, um weiterzureden. Das nun folgende Schweigen reinigte die Atmosphäre. Wir wussten beide, dass wir Martyn nie wieder erwähnen würden. Ich sah uns dort: einen jungen und einen alten Unsterblichen. Der schlaksige Rhydanner, in sich zusammengerollt, sicher in seinem Selbstinteresse, zeigte einen hellen Stolz in den Augen, weil er die Möglichkeit gehabt hatte, einem Prinzen zuzusehen und zuzuhören, der vierzehnhundertdreißig und noch etwas mehr an Jahren alt war und in einem müden Versuch gesprochen hatte, seine Vergangenheit zu bereinigen. Man konnte Schale nach Schale abpellen und trotzdem Blitz nie verstehen, weil man mit jeder Schale nur ein klein wenig von ihm erhielt. Im Austausch dafür berichtete ich ihm alles von Nachtigalls Affäre und bat ihn um Rat. »Wenn Nachtigall in Tornados Wohnung ist, habe ich zu viel Angst, mich ihnen zu stellen, weil es sein Territorium ist, weißt du.« Blitz sah finster drein, dann überraschte er mich durch die Worte: »Aber sie hat dich von Anfang an unbedingt heiraten wollen! Ich kann mal ein Wörtchen mit ihr reden, wenn du möchtest. Ich kann ihr erklären, wie du dich fühlst, um dir meine Dankbarkeit für den Gefallen zu erweisen, den du mir versprochen hast. Ich habe einmal Rehgen von meiner Kusine erzählt, aber sonst niemandem. Du behältst das Geheimnis für dich?« »Ja, natürlich.« 413 »Du bist ein guter Freund.« Er legte sich hin, stützte sich auf einen Ellbogen und sagte: »Lass mich jetzt für die Nacht allein. Ich muss schlafen.« Am folgenden Morgen wartete ich ab, bis der Regen nachließ, lief dann aus meiner Kabine über das rutschige, gewölbte Deck und am Ruderhaus vorbei, das Raa um die Pinne herum errichtet hatte. Sie hatte ebenfalls einen Kupferdraht wie eine Lanze am Hauptmast festgezurrt. Zwei Matrosen, die sich ans Rad klammerten, sprachen murmelnd miteinander. Sie beneideten mich um meinen Gleichgewichtssinn und auch darum, wie entspannt ich mit der Kälte umgehen konnte. Wild jagte die Sturmschwalbe unter vollen Segeln dahin wie ein Pfeil, der zu einem noch unsichtbaren Ziel flog. Die messerscharfen Wellen schaufelten Wasser hoch und jagten weiter, danach rutschte das ganze Wasser wieder herab, und dann bauten sie sich wieder auf und so weiter und so fort. Jedes Mal, wenn die Schwalbe sich aufbäumte, machte sie »Wusch«, woraufhin sie wieder herunterkrachte: »klatsch«. Bei diesem »Wusch-Klatsch« spannten sich meine Muskeln fest an; ich war davon überzeugt, dass es das Schiff in Stücke reißen würde. Wenn sie stampfend nach vorn schoss, tauchte das Bugspriet herab bis auf die Wellen. Ich wartete nur darauf, dass es abbrechen würde. Wasser spritzte über den Bug, jagte das Deck hinab und strömte zwischen der Reling durch die Abflusslöcher wieder hinaus. Ich sah uns schon einen Kopfstand auf der Galionsfigur bis hinab zum Meeresgrund vollführen. In der nächsten Sekunde zeigte das Bugspriet wie ein Fahnenmast zum Himmel. In einer gewaltigen Kurve sank es wieder herab, und während die Schwalbe rollte, beschrieb die Mastspitze einen weiten Kreis am Himmel. Schlimmer noch, die Fünf-Meter-Wellen, die der Hurri414 kan aufpeitschte, überholten uns allmählich und schoben die Schwalbe jedes Mal, wenn sie sich aufrichtete, ein Stück weiter voran. Beim Absinken schlug der Bug auf die Wellen auf und bremste dadurch das Schiff ab, so dass zum Auf und Ab noch ein ruckartiges Abbremsen und wieder Losfahren hinzukam. Mein Eintritt in Raas Kabine wurde mit einem Nicken begrüßt. Sie war mit ihren Karten beschäftigt, während ihre Navigationsinstrumente bei jedem »Wusch-Klatsch« von einem Ende des Tischs zum anderen geschleudert wurden. »Heute sind wir genau einhundert Tage unterwegs«, sagte ich. Ich verkeilte mich in der Ecke. »Wann hört das hier auf? Du hast gesagt, dass wir inzwischen Tris sehen könnten.« »Wenn das Meer nicht so aufgewühlt wäre, könnten wir es«, brummelte Raa. »Wie geht's dem Bogenschützen?« »Unbeständig. Er kann laufen, aber seine Verletzung ist immer noch entzündet.« Zaunkönigs Stimme unterbrach mich: »Aufgewühlt, sagt sie! Das ist nicht aufgewühlt, das ist ein Hurrikan!« Er lag, ein Häufchen Elend, auf der Bank neben den Heckfenstern. Sein kantiger Adamsapfel zeigte zur Decke. Seine kurzen kastanienbraunen Flügel waren zusammengefaltet und passten genau unter die Wölbung seines Rückgrats, so dass er flach auf dem Rücken liegen konnte. Sein Gesicht zeigte eine grünliche Schattierung; Schweiß glitzerte in seinen Haaren und auf den stoppeligen, mit dem Rasiermesser geschnittenen Bartkoteletten. Ich bemerkte eine winzige Falte über dem Hosenbund, wo er früher rank und schlank gewesen war. Die Überfahrt forderte ihren Tribut. Zum Glück, dachte ich, bin ich für Blitz eine bessere Gesellschaft, wo er jetzt verwundet ist. Zaunkönig hätte er nie sein Geheimnis anvertraut. Der ganze Raum schaukelte nach oben und stürzte im freien Fall herab. Ich zuckte bei dem Krach zusammen. Der 415 Fechter stöhnte. »Wenn ich gekotzt habe, ist mir besser, bis ich fünfzehn Minuten später erneut kotzen muss. Ich
habe die Nase voll davon. Die Zähne schmerzen im Zahnfleisch. Wenn wir hochgehen, bleibt mein Magen da oben. Ich stürze mit einem Loch in der Mitte herab - beim nächsten Anstieg treffe ich ihn und Gott weiß was für innere Organe sonst noch wieder.« »Versuche zu fliegen«, meinte ich fröhlich. »O nein, nicht schon wieder ...« Die salzverschmierten Planken hinter ihm trafen auf das pockennarbige Wasser. Die Sturmschwalbe zog eine grüne Spur hinter sich her. Luftblasen tief in den Wellen rüttelten und schüttelten sich, stiegen auf und brachen als Schaum durch. Die violetten Ringe unter Raas Augen waren von derselben Farbe wie ihre Iris; zusammen mit ihrem bleichen Haar und der verblassenden Bronzehaut wirkte sie unirdisch. Sie schob ein hölzernes Lineal im Takt mit dem auf und nieder gehenden Rand des Tischs hin und her. »Geduld«, fauchte sie. »Ich bin machtlos dagegen, dass wir von schlechtem Wetter behindert werden oder dass die Pfau es um Tage verfehlt hat. Ich kann die Jahreszeiten nicht kontrollieren! Ich muss wissen, was Gio gerade tut. Hoffentlich kann ich ihn voraussagen ... Gegen diesen Sturm ist jedes Manöver, das ich durchführe, ebenso sinnlos wie ein Maskenball des Kreises.« Ein Lächeln teilte ihre Lippen. Geistesabwesend beugte sie sich wieder über ihre Karte. »Es ist schlicht Zufall. Ich hätte gedacht, ihn zu finden! Ich kann ihn nicht einholen, wenn mir der Wind ins Gesicht bläst, so viele Segel ich auch setze. Der Kapitän der Pfau ist nicht besser als ich. Er hat lediglich Glück, der Arsch.« Zaunkönig und ich schwiegen beide. Beim Gedanken, dass Raa einen Fehlschlag erleiden würde, machte sich Mutlosig416 keit in der Kabine breit. Sie streckte den Arm über die Tischplatte aus und fing geschickt einen Winkelmesser aus Messing auf, der gerade vorbeirutschte. »Kann Blitz einen Bogen spannen?« »Er sagt es.« »Kannst du bei diesem Wetter fliegen?« »Wenn ich über die Wolken kommen kann. Ansonsten wird der Regen ...« »Gut.« Sie bat mich zu der Karte und fuhr mit dem Finger über einige mit dem Lineal gezogene Bleistiftstriche. »Hier ist deine Richtung von unserer gegenwärtigen Position aus. Wir schaffen gerade etwas über einen Kilometer pro Stunde, also werden wir bei deiner Rückkehr in dieser Position sein.« Sie seufzte und fuhr fast tagträumerisch fort: »Als Gio Serein war, habe ich den Mann gemocht. Ich kann nicht das Gegenteil behaupten. Dreihundert Jahre der Feldzüge waren wir Freunde. Er geht bis an den Rand seiner Kräfte, also wird er an Land bleiben. Ju, ich erkenne diese absolute Verzweiflung der Zaskai wieder; sie treiben sich so weit und so erbarmungslos an, dass sie nicht überleben können. Ich gehe nur um Sans willen dorthin. Stimmt. Ich gebe zu, dass ich mich mit Gio an Land eigentlich nicht auseinandersetzen will, aber mir bleibt keine andere Wahl. Blitz und Serein kommen schon noch an die Reihe. Wir werden Tris am nächsten Tag oder so erreichen. Siehst du? Schnüffle ein bisschen herum, Komet, und bringe uns ein paar Ergebnisse mit!« Ich prägte mir die Berechnung ein und sagte zu Zaunkönig: »Mach dir keine Sorgen, es dauert bloß noch einen Tag.« »Ju, und nimm dein Training wieder auf«, spottete Raa. »Du sollst so scharf wie ein Harpunier sein, wenn ich dich auf Gio ansetze. Diese Brandung wird sich direkt auf den Felsen brechen. Was habe ich für ein Glück, dass die Kapharnai eine 417 so imposante Hafenmauer für ihre belanglosen kleinen Kanus gebaut haben!« Himmel und See waren so trübe, dass das Licht selbst grau war. Wolken kamen so tief herab, dass sie sich verflüssigten und zum Ozean wurden. Die Schwalbe war stets Zentrum einer verhangenen, undurchsichtigen Kugel, die halb gefüllt mit aufgepeitschtem Wasser war. Auf der Meeresoberfläche drehten sich große Spiralen aus sprudelndem weißen Schaum. Wellen schlugen gegen den Bug, spielten darauf wie auf einer Trommel, dass es durch das ganze Schiff schallte. Es kam krachend herab, das verdrängte Wasser spritzte hoch über die Galionsfigur hinaus und klatschte auf das Vordeck. Eine Mauer aus weißer Gischt von einem halben Meter Höhe stand fest auf den Wellen. Regentropfen prallten mit solcher Wucht davon ab, dass sie die Wogen glätteten, die Wellentäler füllten - die See war so weiß wie ein Schneefeld. Schaum flog von den Wellenkämmen davon. Ich atmete ihn ein; die Luft war voller Salz. Leicht zitternd streifte ich mir meinen Ledermantel über drei Lagen T-Shirts und steckte mein Haar in den Kragen. Ich trank einen Becher heiße Brühe, in die ich altbackenen Zwieback hineingebröselt hatte. Danach hob ich ab und stieg unstet in die Höhe, prallte schmerzhaft gegen Windböen, die aus allen Richtungen kamen. Hinter mir fiel der Regen als schräger grauer Streifen aus einem einzigen Wolkenflecken auf die krängende Karavelle. Flackernde Blitze erhellten die Wolken von innen. Aus Furcht vor ihnen flog ich im Zickzack aufwärts. Unter großen Schwierigkeiten schlug ich einen Pfad durch den Wind und war bereits bis auf die Haut von Regentropfen durchnässt, die groß wie Schneeflocken waren. Ich verschwand in der Wolkenunterseite und stieg bedäch418
tig auf, damit ich die Orientierung nicht verlor. Regen strömte an meinem Mantel herab, und kalte Wolkenfetzen peitschten an meinem Gesicht vorüber. Ich zog einige Wolkenfetzen mit, als ich in eine absolut vollkommene, schweigende Welt hinaustrat - die nur einen Bewohner hatte. Der Himmel oben war von einem einheitlichen winterlichen Blau, und eine strahlende Sonne schien auf eine geschlossene Wolkendecke unter mir, die wie ein zweiter, regloser Ozean aussah, dessen trübe Oberfläche zu starren Spitzen, wie bei einer Wolldecke, ausgehöhlt und gekrempelt war. So hell war es, dass es mich an den Glanz auf den Gletschern der Dunkelberge erinnerte. In der dünnen Luft atmete ich tief ein. Weiter vorn plätscherten Stratokumuluswolken um den Gipfel des Berges von Tris, dessen Färbung, pechschwarz und oliv, aus der Distanz gedämpft erschien. Noch weiter entfernt durchstach die Spitze der zweiten Insel des Archipels als Silhouette die Wolken. Es war, als hingen zwei Inseln im Himmel. Ich streckte meine Flügel zu einem langen flachen Gleitflug aus. Auf dem Boden war ich niemals frei von Verantwortung, von Leuten, von Drogen. Dies hier war die äußerste Form der Freiheit. Nur die Langweiligen und Erdgebundenen hocken in klotzigen Karacken, im feuchten Wald. Sie werden meine Welt nie verstehen, weil ich der Kurier bin und all diese Luft mein ist. Die Oberfläche der Wolken jagte unter mir dahin. Während die Sturmschwalbe und Kapharnaum unter dem Sturm zu leiden hatten, warf die untergehende Sonne die Farben des Nordlichts über mein ureigenes Meer. Baiser-Wolken verwandelten sich in ein opaleszierendes Blau, ein blasses Orange und ein rosiges Pink; der Schatten des Berges wurde länger. Ich liebte den unbewohnten Berg. Beim Anblick der Pracht von Tris aus meiner einzigartigen Perspektive über419 kam mich ein Hochgefühl, aber ich wünschte mir, ich könnte es Nachtigall zeigen. Sollten wir uns je wieder im Bett aneinanderkuscheln, würde ich es für sie mit Worten malen. Nach Einbruch der Nacht erreichte ich den Berghang. Der Sturm übertönte das Geräusch meiner Flügel, also stieg ich durch die Wolken ab, kreiste über Kapharnaum und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. In Tris hatte es nicht geregnet; der Boulevard und seine Rotunde waren hell erleuchtet, die umliegenden Straßen hingegen völlig dunkel. Einige wenige Leute standen an den Straßenkreuzungen. Eine Gruppe Männer mit Laternen und einer Art Stangenwaffen ging auf sie zu. Die Bummelanten setzten sich in Bewegung, latschten den Hügel hinab zum Hafen und betraten eine Weinstube, so dass die gepflasterte Straße wieder leer und verlassen war. Am Fuß des Amarotfelsens schlug eine Glocke zehnmal, und alles war still. Ich segelte über den Amarot hinweg, dessen Mauern vom Flammenschein gelb erleuchtet waren. Etwa tausend Männer hatten ihr Biwak auf dem Mosaik zwischen dem Senatsgebäude und der Bibliothek aufgeschlagen. Es waren Gios Rebellen, und sie hatten direkt auf Alyss' Gesicht Kochfeuer angezündet. Der Duft nach Gänsefett stieg zu mir auf. Richtiges Essen! Mein Gott, wie gern hätte ich etwas von diesem Fleisch gehabt! Schatten von zehnfacher Lebensgröße lagen auf den Säulen des Senatsgebäudes, als die Männer Zinnbecher und geteerte Hornbecher in ein gewaltiges Rumfass tauchten und herumreichten. Schmutzige Gesichter, vom Feuerschein gerötet, lachten höhnisch. Tausende von Stunden mühseliger Arbeit hatte es gekostet, das Mosaik zusammenzusetzen, und jetzt demolierte es Gios Räuberbande. Die Nacht schien schrittweise dunkler zu werden, und ich musste blinzeln; immer wieder passten sich meine Augen an. 420 Ich erkannte ein kleines Gebäude, das auf dem Felsrand hinter dem Senatsgebäude kauerte. Eine Gestalt, fett wie Cinna, kam aus dem dunklen Eingang herausgewatschelt und knöpfte sich den Hosenschlitz zu. Ich legte meine Flügel zum Abstieg an. Ja, es war Cinna, der den Eindruck einer Koagulation sämtlichen Schweinefetts von ganz Vierlanden erweckte. Er bummelte, die Hände tief in den Taschen vergraben. Ich schwang herum, so dass ich aufrecht stand, und ließ mich hinter ihm zu Boden fallen. Cinna blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich sehr langsam um. Er sagte: »Ich hol mir keinen runter. Ich wärme mir nur die Hände.« »Hm? Halt's Maul und folge mir!« Dicht an die Bibliotheksmauer gedrückt rannte ich zu dem unbeleuchteten Säulengang, der die Bibliothek mit dem Senatsgebäude verband. Ich schlich mich hinein und winkte Cinna, mir zu folgen. Er schwankte; sein Kolani war mit Rum bekleckert. Ich packte ihn bei den Schößen und stellte ihn direkt hinter eine der Säulen, wo er weniger zu sehen wäre, obwohl er zu beiden Seiten herausschaute. Seine rote Nase war dunkler als sein Gesicht, das bleich vom Schock war. Schweißtropfen traten ihm aus der glänzenden Stirn und rollten ihm die Pausbacken hinab. Ich zog den Eispickel hinten aus meinem Gürtel und flüsterte: »Wenn du schreist, bringe ich dich um.« Cinna warf mir einen flehentlichen Blick zu, wischte sich die Handflächen an den Knien ab und zeigte auf den Boden. Ich gestattete ihm, sich zu setzen und gegen die Säule zu lehnen. Auch ich hockte mich hin, hielt mich im Schatten und völlig außer Sicht. »Was ist hier los?«, fragte ich. »Rasch! Warum ist es so dunkel in Kapharnaum? Die Straßen sind verlassen, und eine Glocke hat geschlagen. Ich habe herumlungernde Männer gesehen; zuvor hatte Kapharnaum nichts Bedrohliches an sich gehabt. Was hat Gio mit ihnen gemacht?«
421 Cinnas ängstliches Geflüster war so leise, dass ich ihn kaum verstand. »Du hast das gesehen, Kurier? Ja, die Patrouille hat gerade die nächste Wache gerufen. Es sind keine Soldaten - der Senat hat Männer bestimmt, die dafür sorgen sollen, dass die Sperrstunde eingehalten wird und die Häuser bewacht werden.« »Sperrstunde? Es gibt eine Sperrstunde? Warum?« »Wegen des frei herumlaufenden Insekts. Es hat bislang acht Leute getötet. Der Senat und Gio haben die Stadt in zwei Sektoren aufgeteilt und durchsuchen sie systematisch, sogar Abflussrohre und Mansarden, aber sie können es nicht finden. Ein Insekt verursacht mehr Aufregung als sämtliche Schwärme in Unterland. Siehst du diese Plakate da drüben? Sie fordern die Leute auf, im Haus zu bleiben.« Er nickte zu einigen Blättern Papier hinüber, die an das Brett am Ende der Bibliothek geheftet waren. »Da ist ein Bild des letzten Opfers drauf. Aber die Tatsache, dass die Kapharnai die Freude an Insekten entdeckt haben, ist nicht der einzige Grund für die Sperrstunde. Diebe machen die Straßen unsicher. Banden.« »Gios Männer sind Desperados«, stimmte ich zu. Cinna rülpste leise und kicherte. »Wir nicht. Sie. Die Einwohner.« »Aber vor sechs Monaten gab es in Tris keine Verbrechen.« Auf der anderen Seite des Platzes erhob sich das Stimmengewirr zu einem heiseren Jubelgeschrei, und Cinna nutzte den Lärm aus und sagte: »Es ist deine Schuld.« »Pscht!« »Raa Ata hat diese ganzen Gewürze aufgekauft, nicht wahr? Jetzt haben sie nichts mehr zur Lebensmittelkonservierung. Also sind viele Vorräte der Kapharnai verfault, es ist Winter und einige Nahrungsmittel werden knapp. Die Preise sind in die Höhe geschossen - der Preis für Gewürze ist so hoch wie der von Scolopendrium, Kurier. Der Senat hat den 422 Handel mit Vierlanden bedingungslos untersagt, und sie wollen alles außer Brot und Fisch rationieren. Nun ja, ich weiß lediglich, dass sie ein wenig grummeln, weil Gios neunhundert Männer essen müssen und ihnen keine andere Wahl bleibt, als uns zu ernähren. Diese Betrunkenen, denen man da eben Beine gemacht hat, die haben den ganzen Tag über ein Ärgernis aus sich gemacht.« »Ich habe nicht gewusst, dass es in Kapharnaum Betrunkene gab.« »Jetzt ja. Diese Männer waren die Kaufleute, die Raa bezahlt hat. Ich weiß es, weil sie mich um Rum angegangen sind, als wir die Fässer hier raufgerollt haben. Ich weiß nicht, warum ich wie ein Drogenhändler oder Hauptmann aussehen sollte, wenn ich im Freien schlafen muss ...« »Bleib bei der Sache!« »Nun ja, Raa hat ihnen ein solches Vermögen bezahlt, dass sie nicht mehr arbeiten müssen. Ihr Geld ist Zeit, und sie hat ihnen Jahre geschenkt, so dass sie jetzt müßiggehen können. Hoffentlich hat sie von jenen Pfefferkörnern und dem Eingepökelten profitiert, diese Händlerin der Missregentschaft, wie ich selbst.« Er rieb sich die plumpen Hände. »Sie sind den Rum nicht gewöhnt, aber sie haben Geschmack daran gefunden. Sie trinken ihn wie Wein. Weil sie bewaffnet sind, sorgen sie für Aufruhr. Was einfach bloß wieder zeigt, dass die einzig wahre internationale Sprache die Drogen sind.« Allmählich dämmerte es mir. Ich drängte: »Sie sind bewaffnet? Sie sind mit den Schwertern und Hellebarden bewaffnet, die wir ihnen verkauft haben?« Cinna nickte. »Ja, ich glaube schon. Man hat mir gesagt, dass der Senat versucht hat, sämtliche Waffen von den Einwohnern der Stadt aufzukaufen, um sie seinen Patrouillen zu geben, aber er hat ganz klar nicht alle bekommen, weil ich von bewaffneten Raubüberfällen gehört habe - auf Lagerhäuser 423 und den Markt. Auch bemühen sich junge Männer weiterhin, uns Schwerter abzukaufen. Anscheinend sind sie ein ziemliches Statussymbol geworden. Kapharnai haben nie zuvor Qualitätsstahl zu Gesicht bekommen; er ist sein Gewicht in Gold wert. Und natürlich müssen sich die Männer vor dem Insekt schützen.« »Mist.« »Der Senat diskutiert, Steuern zur Bezahlung der Patrouillen zu erheben.« Cinna sah abschätzend die Radbrosche auf meinem geflickten Mantel an. »Gio erwartet dich und Serein. Er hat sich schon gefragt, ob die Sturmschwalbe im Sturm gesunken ist. Natürlich hat er nicht mit Raas wunderbaren seemännischen Fertigkeiten gerechnet. Gio hat sich seinen nächsten Zug überlegt und Senator Felchen mitgeteilt, dass wir Kapharnaum verlassen würden, aber das meint er natürlich nicht ernst. Er ist hier in Sicherheit; er hat den Senat in der Tasche.« Cinna legte einen besonderen Nachdruck auf Gios Namen. Offensichtlich stand er stark unter dem Einfluss des Fechtmeisters. Neunhundert Männer folgten Gio, überlegte ich. Das sind mehr als dreimal so viel wie wir. Dennoch ist das Verhältnis besser als gegen die Insekten. »Wenn ich meine Hände schon mit Blut besudeln muss, dann muss ich sagen, dass diese Rebellion weniger erschreckend ist als die Schwärme.« Cinna stand der Mund offen. »Du glaubst, es geht nur um Gio? Nein, Komet. Mein Gott, manchmal habe ich den Eindruck, um unsterblich zu sein, müsst ihr euch bloß gegenseitig an Arroganz überbieten.« »Spuck's schon aus!« »Gio hat den Sieg über den Senat errungen, und er ist darauf vorbereitet, ganz Kapharnaum gegen euch zu
führen, wenn ihr landet. Alle hier hassen euch«, fuhr er fort, »und Gio 424 hat Pläne ausgeheckt. Wenn die Schwalbe in den Hafen einfährt, wird sie umzingelt, und ihr werdet gefangen genommen. In dieser Stadt leben zwanzigtausend Leute. Felchen war misstrauisch, weil euer Besuch ein so katastrophales Ergebnis gehabt hatte. Aber Gios Rhetorik hat ihn so ziemlich überzeugt. Du hättest versuchen sollen, vor dem Senat lange Reden zu schwingen.« Cinna grinste höhnisch. »Gio ist aus demselben Grund und zu denselben Bedingungen hier wie die ursprünglichen Siedler - das Reich und San verlassen. Felchen glaubte, er hätte einen verwandten Geist gefunden. Gio bot ihm Hilfe bei der Jagd auf das Insekt an, und aus lauter Verzweiflung haben sie ihn mit offenen Armen empfangen. Seine Übersetzer sind vertraut mit ihrer alten Umgangssprache. Dem Senat hat der Anblick von uns Teerjacken nicht sonderlich gefallen. Sie haben die Sache drei Tage lang diskutiert, aber bislang noch keine Entscheidung getroffen.« Ich wäre gern noch einmal vor den Senat geladen worden. Wenn Gio ihre Meinung einfach dadurch ändern kann, dass er zu ihnen spricht, war meine Überlegung, dann könnte ich das viel besser, wenn die Reihe an mir wäre. Gio mochte zwei Wochen gehabt haben, um auf ihre Herzen und Gedanken Einfluss zu nehmen, aber eine Redeschlacht mit ihm würde mir gefallen. Cinna kicherte. »Sie sind so naiv. Ich selbst könnte mit drei Genossen diese Stadt in einem Jahr beherrschen, ohne ein Schwert zu zücken oder Unsterblichkeit zu versprechen -oh!« Ich drückte ihm meinen Eispickel an die Kehle. Er schluckte; ja, ihm sollten die Augen aus den Höhlen treten wie bei einem Frosch! Ich ertrug den Gedanken nicht, dass er aus Kapharnaum einen Slum machen könnte, der schlimmer als das Ostufer von Hacilith wäre. »Du Schweinehund«, zischte ich. »Wenn du jemals versuchst, Drogen nach Tris zu 425 bringen, wenn du auch nur daran denkst, hier zu handeln, werde ich dich umbringen, das schwöre ich dir! Wenn du deine Spuren verwischst, werde ich sie finden, weil ich jede Verbindung kenne, und zwar in einer größeren Welt, als du je begreifen wirst. Du wirst darum betteln, zur Front geschickt zu werden. Du wirst um das Rad betteln. Ich werde dich vom Bug zum Heck auf der Schwalbe kielholen lassen ...« »Nein!« »Du könntest sowieso was an Gewicht verlieren. Gilt übrigens auch, wenn du Gio erzählst, dass ich hier war.« Cinna drehte die Schultern im Versuch, sich von dem Eispickel an seinem Hals wegzuziehen. »Bitte, Komet! Ich bin Geschäftsmann und Sans bescheidener Diener. Ich werde immer wahrheitsgemäß berichten und Gio nichts sagen. In der Zwischenzeit habe ich dafür gesorgt, dass ich an Bord der Pfau bleiben kann ... Es wird der sicherste Aufenthaltsort sein.« »Feigling!«, formte ich mit dem Mund. Ich leckte mir Salz von den Lippen. »Sieh mal, wie du grinst! Du genießt das! Wahnsinniger Eszai! Wenn die Schwalbe landet, wird Gio dich töten. Wenn du den Schwanz einkneifst und nach Hause rennst, wirst du auf der Reise verhungern. Ich frage mich, was San denkt, wenn sein Kreis bei vier Unsterblichen zugleich bricht? Wette, da wird er ganz schön Kopfschmerzen kriegen.« Ich drückte ihm den Eispickel fester in den Hals. »Wo ist Gio jetzt? Ist er auf der Pfau}« Cinna schüttelte den Kopf; die blonden Haare auf seinem Kinn wackelten. Er zeigte über das Mosaik hinweg auf ein erleuchtetes Fenster mit Ziehharmonika-Jalousie oberhalb des Senatsgebäudes. »Siehst du dieses Endzimmer? Gleich an der Ecke, hinter der letzten Säule? Das ist das Schlafzimmer der Wohnung, die Felchen ihm zugewiesen hat. Sämtliche Sena426 toren haben Räumlichkeiten dort oben. Sehr feudal«, fügte er in stiller Bewunderung für Gios Errungenschaften hinzu. »Nun sage mir, Kurier, ob das nicht ein nützliches Bruchstück an Information ist?« »Allerdings.« Cinna warf einen Blick zum Feuerschein und zu den betrunken grölenden Rebellen hinüber und drückte mir eine Notiz in die Hand. »Bitte, lass mich gehen! Ich respektiere Raa. Ich würde ihr gern helfen, so gering meine Hilfe ja sein kann. Ein Weg durch die Brandung ist nur schwer zu finden. Ich habe die Einzelheiten unserer Annäherung an den Leuchtturm sowie die Position und den Zustand der Pfau aufgeschrieben. Bitte bring es ihr!« KAPITEL 19 Mitternacht auf offener See. Die erwartungsvolle Stille vor einem unmittelbar bevorstehenden Regenguss. Ich zog Kreise über der korrekten Position, konnte jedoch die Sturmschwalbe durch die Regenwolken nicht ausmachen. Ein schwaches Glühen erhellte die Wolken von unten; ich steuerte es an und stieg ab. Raa hatte an jeder freiliegenden Fläche, jedem Tau und jeder Rah Laternen befestigt, die mir anzeigten, wo ich zu landen hätte. Die Lichter der Schwalbe strahlten über einem gelben Ring aus Wasser in der undurchdringlichen Nacht. Sie sah aus wie eine Partyjacht, gierte und schlingerte jedoch wie verrückt. Die an der Reling des Hauptdecks angebrachten Lichter zogen zwei parallele Linien, zwischen denen ich sicher gelandet war. Jetzt, am Tisch in Raas stiller Kabine, sahen Blitz und ich zu, wie ihre Matrosen die Laternen und Sturmlampen wieder abmachten. Eine nach der anderen wurde ge427 löscht, bis das Büro und das Ruderhaus die einzigen erleuchteten Kabinen waren.
»Seht gut hin!«, meinte Raa. »Morgen Nacht zünden wir keine Laternen an. Der Wind lässt nach, und unsere Annäherung verläuft dank Jants Kundschafterdienst gut. Ihr werdet das Vergnügen haben, euch in völliger Dunkelheit nach Kapharnaum einzuschleichen, durch die schmale Straße neben ihrem Leuchtturminselchen. Ihr müsst Vertrauen in mich haben.« »Ja, aber vertraue um Gottes willen nicht Cinna! Er ist ein notorischer Lügner, er betet lediglich das Geld an. Gott sei Dank weiß Gio nicht, was er fragen soll, sonst würde ihm Cinna alles erzählen.« »Woher kennst du Cinna eigentlich?«, fragte Raa. »Das wollen wir lieber nicht weiter vertiefen«, erwiderte ich wegwerfend. Ich schenkte mir großzügig von Blitz' Brandy ein und ließ den Kopf auf den Armen ruhen. »Warum ist Zaunkönig nicht da?«, wollte Blitz wissen. »Er ist zu jung«, antwortete Raa spröde. Blitz hob die Brauen. »Warum ist Rehgen nicht hier?« »Sie ist zu alt.« »Weil die beiden einfach mit deinen Methoden nicht einverstanden wären«, bemerkte Blitz. »Zaunkönig ist ungestüm und idealistisch. Die Ärztin ist keine Kriegerin und hat nicht allzu viel zu bieten. Lasst mich euch besonnenen Herren als Erste meinen Plan umreißen!« »Es ist dasselbe«, meinte Blitz, »als ich versucht habe, Insekten auf den Straßen von Glimmerwasser auszurotten. Wie werden wir Gio und sein bösartiges Gefolge los, ohne der Stadt Schaden zuzufügen?« »Oder den Senat uns gegenüber noch abgeneigter zu machen, als er es sowieso schon ist?«, fügte ich hinzu. »San hat mir die Aufgabe zugewiesen«, sagte Raa, »und ich 428 werde sie erfüllen. Die Vorgehensweise ist klar. Hört zu! Blitz, wenn du ihnen den Anführer nimmst, bricht die Rebellion in sich zusammen. Aufgrund deines Geschicks mit dem Langbogen bist du die Person, die für einen Versuch am besten geeignet ist.« In dem kurzen Schweigen sah Blitz auf seinen Pokal und fragte liebenswürdig: »Du bittest mich, Gio gefangen zu nehmen? Oder ihn meuchlings zu ermorden?« »Habicht, denk ...« »Nein.« Er sah sie direkt an. »Nein, Ata; das würde ich nicht tun.« Raa verschränkte die Arme. »Habicht, es überrascht mich, dass du deine Ehre nicht wiederherstellen und dich an Gio dafür rächen willst, dass er dich in den Rücken gestochen hat.« »Es wäre noch weniger ehrenhaft, ein Meuchelmörder zu werden«, erklärte Blitz. »Ich habe niemals einen Mann getötet, und wenn ich mich einfach verstecken und ihn erschießen sollte, so weiß ich nicht, ob ich anschließend mit mir selbst noch leben könnte. Ich möchte die nächsten paar Jahrhunderte nicht mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen verbringen. Zusätzlich zur Tatsache, dass ich dadurch die Wertschätzung verlieren würde, die man mir entgegenbringt.« »Niemand auf dem Festland wird es je erfahren. Keines deiner Gefühle bringt uns in dieser misslichen Lage weiter. Wir sind weit weg von Zuhause. Es gibt keine fest verwurzelten Traditionen, keine geschnitzten Tiere mit Standarten in den Pfoten, keine heraldischen alten Urkunden, die besagen, wer wir sind. Wir sind mangelhaft ausgerüstet und schlecht vorbereitet. Die Kapharnai kennen uns nicht, und Gio hat dafür gesorgt, dass unsere Chancen fast gleich null sind. Ihn zu beseitigen, ist die einzige Möglichkeit.« »Warum?« 429 »Weil es trisianische Leben retten wird! Sie sind unschuldig; ich möchte ihnen nichts antun. Sobald wir Gio entfernt haben, werden die Kapharnai friedlicher gestimmt sein. Wenn wir einen Fuß nach Kapharnaum setzen, während Gio es unter Kontrolle hat, sind wir tot. Meiner Ansicht nach treibt Gio seine Gier, dem Kreis wieder beizutreten, in den Wahnsinn. Du kennst doch die Redensart: Nackter Ehrgeiz kennt nur ein Ziel. Findest du nicht, dass sich Gio eher wie jemand verhält, der wahnsinnig geworden und in Panik geraten ist, und nicht wie jemand, der auf eine Herausforderung aus ist?« »Ich glaube, Wahnsinnige möchten den Wahnsinn in jedermann erkennen«, bemerkte ich. Die Seefahrerin beachtete mich gar nicht. »Habicht, du musst ihn aufhalten! Hast du vielleicht eine bessere Idee?« Bedächtig erwiderte Blitz: »Nein. Nichtsdestoweniger hast du meine Antwort. Ich werde Gio nicht erschießen. Ich möchte ihn nicht für den Rest meines Lebens auf dem Gewissen haben.« Blitz löste die Knöpfe an seinem Kragen und zog die Seide herab, so dass wir eine kleine kreisrunde Narbe von einem Stich sehen konnten, der seine Schulter durchbohrt hatte. »Seht ihr das hier? Ein Pfeilschaft. Vor achthundert Jahren habe ich einen Herausforderer geschlagen, und er hat sich umgedreht und auf mich geschossen. Er hat den Rest seiner Tage im Sturge-Gefängnis auf der Teroninsel verbracht. An Meuchelmördern ist nichts Ehrenhaftes; ich möchte keiner sein ... Es wäre sowieso ziemlich offensichtlich, wenn man Gio mit einem Pfeil in der Brust fände. Das ist nichts für mich ...« Er verlor sich in Gedanken, während er die Narbe auf seiner rechten Hand streichelte. »Jant ...«, setzte Raa an. »Ha! Nur weil ich nicht Herr Glimmerwasser bin, glaubst du, ich hätte keine Moral! Abgesehen davon ist Gio der ge-
430 fährlichste Mann auf der Welt. Blitz ist eher als ich in der Lage, mit ihm umzugehen.« »Aber der Schuft hat ihn verwundet. Blitz, deinen guten Freund ...« »Ja, und der Schuft würde auch mir eine Klinge durch den Leib jagen, wenn er Gelegenheit dazu bekäme.« »Hast du die ganzen schrecklichen Verleumdungen vergessen, mit denen uns Gio bedacht hat? Du hast gesagt, du wärest bereit, ihn zu erschießen!« Insgeheim dachte ich daran, wie er Nachtigalls Ruf befleckt und meine Männlichkeit und Zuverlässigkeit in Frage gestellt hatte. Ja, ich war bereit gewesen, ihn umzubringen. Unheimlich lächelnd legte Raa nach: »Gio hat das Schloss angegriffen, Jant. Daran besteht kein Zweifel, aber er verdient, was er bekommt. Ein paar Tropfen von der Droge, die du in dich hineinjagst, sollte die Sache erledigen.« Ich sah zu Blitz hinüber, der die Achseln zuckte. Widerstrebend sagte ich: »Also schön, ich tu's.« »Gut!«, sagte Raa. Ihre Lederhose quietschte, als sie aufstand. Sie wandte sich ihrer Koje zu und wühlte energisch darin herum. »Wenn du es so hinbekommst, dass er wie ein Abhängiger aussieht, der eine Überdosis genommen hat, können wir seinen Ruf in Vierlanden ruinieren.« Ich sah sie gleichmütig an. »Und ein gefährliches Klima für andere Leute herstellen, die auch zufällig Drogen nehmen? Nein danke. Abgesehen davon benötige ich meinen ganzen Vorrat.« Wenn ein Eszai ein Verbrechen begeht und ertappt wird, hat das Schloss nicht die Macht, ihn anzuklagen, auch kann der Imperator nicht zu seinen Gunsten Fürsprache einlegen. Stattdessen wird er dem Gericht des Landes überstellt, in dem das Verbrechen stattfand, und er wird dort angeklagt und bestraft. Ich konnte nicht mal raten, wie ein trisianischer Ge431 richtshof funktionieren würde oder wie schwer die Strafe wäre. Oder ob ich mich erfolgreich herausreden könnte. Genauso kann sich das Schloss nur unter einer Bedingung in die Geschäfte eines Landes einmischen - wenn ein Eszai angegriffen oder ermordet wurde, muss der Mörder dem Schloss übergeben werden, damit er nach dem Gesetz seines Heimatlandes verurteilt werden kann, wie es bei Blitz' erstem Angreifer vor acht Jahrhunderten der Fall gewesen war. Wenn der Mörder von seinem Land geschützt wird, würde San jedem Bürger dieses Landes den Zutritt zum Schloss verwehren, zweifelsohne eine entsetzliche Drohung. Raas Koje war ein Kastenbett, darauf eine dicke Decke mit elfenbeinfarbener Spitze. Es schwang hin und her, als sie die dünne Matratze hochhob und ein unförmiges weißes Paket hervorholte - den Umschlag mit dem Scolopendrium, das mir Cinna verkauft hatte. Sie stieß ihn über den Tisch. »Ein zusätzlicher Vorrat. Benutze eine Prise von dem Pulver.« »Aber Ata«, meinte ich überrascht, »du hast doch gesagt, du hättest es ins Meer geworfen! Zaunkönig hat das bestätigt. Du hast ihn im Glauben gelassen ...« »Ich werfe niemals nützliche Dinge weg.« Ich starrte sie an und fragte mich dabei, ob sie gewollt hatte, dass ich süchtig werde. Mein Versteck im Mantelsaum sowie sämtliche Nadeln und Phiolen auf der Melowne hatte sie übersehen - die große Anzahl hatte mich überrascht: Hatte ich sie finden und abhängig bleiben sollen, damit ich hilflos, unter ihrer Kontrolle und korrupt sein könnte? Und jetzt bestach sie mich mit den Drogen, die ich selbst erworben hatte! Ich wusste, wie verrückt sich das anhörte, also hielt ich den Mund. Ohne einen Beweis wagte ich nicht, sie zu beschuldigen. Ich war so verloren und verwirrt wie in einem awianischen Irrgarten. »Oh, in Sans Namen, was bleibt mir denn anderes übrig?« 432 Zaghaft zog ich den Umschlag zu mir herüber, mir Blitz' Missbilligung sehr wohl bewusst. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sich Gio in Epsilon materialisierte. Ich benötigte ein Gift, das ihn direkt und schnell tötete, damit er keine Chance hätte, eine andere Welt zu erreichen. »Gio entdeckt vielleicht das Scolopendrium; es hat einen charakteristischen Geschmack. Wenn du diesen Kurs weiterverfolgen willst, kann ich dir eine weniger riskante, effizientere Substanz vorschlagen.« Ich zog meinen Ehering vom vierten Finger, dazu den breiteren Ring darunter - ein schwarzer Sternsaphir in einer Silberfassung. Mit dem Fingernagel drückte ich gegen den Stein; er versank, dann sprang er auf. Innen drin lagen zwei sehr kleine weiße Tabletten. Ich reichte Ata den Ring. »Was ist das?« »Atropin. Extrahiert aus einer Belladonnawurzel.« »Tollkirsche! Um Gottes willen - wozu trägst du denn das mit dir herum?« Sie reichte ihn mir vorsichtig zurück. »Ich bewahre es stets dort auf. Atropin ist sehr effektiv bei der Behandlung einer Überdosis Scolopendrium. Eine Tablette kann dem Toxin entgegenwirken, obwohl ich selten in der Lage gewesen bin, eine zu nehmen. Zwei Tabletten sind tödlich. Sie sind löslich und geschmacklos.« Blitz traf eine Entscheidung. »Ich sollte dich begleiten, es sei denn, du hast Angst, wegen mir nicht so schnell voranzukommen. Ich werde niemals morden, aber ich werde zu unserer Verteidigung schießen.« »Gern«, sagte ich dankbar. Mit Blitz im Rücken hatte ich das Gefühl, dass mir alles gelänge. Bogenschütze und Kurier - wir würden Gio zwischen uns aufteilen. Ich zog seine Flasche aus der Halterung am Tisch. »Ich gieße
für Gio einen schweren Trunk ab. Anders als dir macht mir ein bitterer Nachgeschmack nicht genügend aus. Er wird keinen langsamen Tod erleiden, weil Atropin rasch ein Fieber, einen tro433 ckenen Mund mit dem Beigeschmack eines Deliriums, einen rasenden Puls, eine Mischung aus scharfen, brennenden Gefühlen, Verwirrung, Krämpfe, Koma und Tod hervorrufen wird. So etwas nenne ich einen reichen Jahrgang.« Ich ließ die Flüssigkeit in der Flasche kreisen und nahm einen langen Schluck. »Du bist krank, Jant Shira.« Raa zuckte die Achseln. »Also haben wir uns entschieden. Wir fahren morgen Nacht um diese Zeit ein. Die Schwalbe wird außer Sichtweite bleiben, und ich rudere euch beide in den Hafen. Ich warte am Ende des Kais. Die Schwalbe ist sicher unter Viridians Kommando. Ich werde es so einrichten, dass sie das Schiff zwei Stunden vor Anbruch der Morgendämmerung hereinfährt, um uns wieder an Bord zu nehmen. Einhundert Matrosen und einhundertfünfzig Soldaten unter dem Kommando Sereins werden an Bord bereitstehen, falls nötig. Blitz, welche Waffen schlägst du vor?« Der Bogenschütze überlegte. »Armbrüste eignen sich zum Kampf in einer Stadt besser als Langbögen, so wenig ich sie ja auch leiden kann. Ich möchte keine Gefallenen unter den Kapharnai haben, und man kann Armbrüste überallhin mitnehmen, sogar in Tunnels hinab.« »Gut. Wenn Gios Leichnam entdeckt wird, bleibt dem Senat kaum eine andere Wahl, als mit uns zu reden.« »Hoffentlich funktioniert es«, seufzte Blitz. »Gute Nacht, ihr Mitverschwörer.« Ich wollte ihm schon aus der Kabine folgen, da schwenkte das Schiff herum. Segeltuch schlug wie wild, als der Wind die Richtung änderte und pfeifend um den Hauptmast wehte. Ata schob sich an mir vorbei, steckte den Kopf durch die Tür und schrie: »Wenden! Sie luvt an, ihr faulen Säcke! Schlaft ihr da drin? Nutzt diesen Wind aus!« Cinnas Umschlag lag vergessen auf dem Tisch. Mir wurde 434 der Mund trocken. Ich habe nie genug Kat, ich möchte immer mehr. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich stopfte mir den Umschlag heimlich in den Mantel und schlüpfte an Ata vorbei. »Wiedersehen, Jant...«, brummelte sie. »Schneller, Schwalbe. Schneller, meine Liebe. Gio kann nirgendwohin mehr fliehen.« KAPITEL 20 Ich ließ Raa und Blitz vor mir die Strickleiter in das winzige Ruderboot hinabsteigen. Das musste erst mal ausprobiert werden. Ich wartete ab, bis sie saßen, bevor ich hinabkletterte und zaghaft mit den Füßen nach den Planken tastete. Das Boot bockte. Es stand kurz vor dem Kentern, und ich hatte keine Chance, davonzufliegen. So rasch wie möglich suchte ich die Mitte der hölzernen Sitzbank am Heck zu erreichen. Ata legte die Riemen in die Dollen ein. »Stillsitzen!«, ermahnte ich sie. »Du bringst es zum Schaukeln!« »Beine zur Seite«, sagte sie. »Du bist im Weg.« »Denke gar nicht dran.« »Dann steige ich drüber.« »Nein!« Ich war nicht gern so nahe am Wasser. Eigentlich befanden sich meine Füße sogar unter den Wellen, was offensichtlich nicht rechtens war und nicht erlaubt sein sollte. Ata pullte die Riemen, und das gefährliche Fahrzeug wendete ruckartig Bug über Heck. Ich konzentrierte mich auf den Boden. »Alles klar?«, fragte Blitz. »Natürlich. Aber dieses Ding hier ist eindeutig instabil. Eine einzige Welle könnte es zum Sinken bringen.« »Er hasst es«, meinte Ata. 435 »Ich bin bloß vorsichtig.« Sie tauchte die Riemen ein, pullte weiter, bewegte sich hin und her, und das Boot geriet gefährlich ins Schwanken. »Du kippst es absichtlich um!« »Als ob ich so was täte«, sagte Ata trocken. »Es ist sowieso heillos überlastet.« »Sei nicht albern! Das ist gar nicht komisch.« Das Ruderboot unterschied sich völlig von den hohen Karavellen, mit denen ich mich abgefunden hatte. Sie waren so ausgelegt, dass sie sich nicht auf den Rücken legen sollten, wohingegen dieses Boot heftig schlingerte, wenn Ata ruderte. Ich spürte die Last zweier Jahrhunderte noch deutlicher, als ich das extrem nahe Wasser nach Estragons Flosse absuchte, aber alle kleinen Wellen hatten das Aussehen von Flossen. »Warum kann ich nicht einfach rüberfliegen?« »Nun werd doch mal erwachsen! Da der Sturm jetzt abgeflaut ist, werden die Rebellen deine Flügelschläge hören.« Ata keuchte zwischen den Ruderschlägen. »Ich werde gleiten.« »Und sie sehen deine Silhouette ... Oh, in Sans Namen!«, rief sie entsetzt aus. »Was ist?« »Jant, ich habe die Leine vergessen. Hilfst du mir? Leih mir mal eine Hand!« Sie reichte mir das Ende eines Taus, das über die Seite ins Wasser lief und in den Wellen schwamm. »Zieh an dieser Leine! Das ist lebensnotwendig! Es ist so gebaut, dass die Planken locker sind, solange du sie nicht fest gespannt hältst.« »Wirklich? «
»Ja - wenn du eine Minute lang locker lässt, wird es in mehr Teile zerfallen als eine Orange.« »Ich habe gewusst, dass das hier eine tödliche Falle war! Wie kannst du nur in einem spillerigen, halb fertigen Boot in 436 See stechen? Mist!« Ich schnappte mir die nasse Leine und zog daran, bis die Tropfen davonspritzten. Ata nickte. »Gut. Jetzt halte fest, oder wir landen alle im Meer.« Wasser rann von den Blättern, als sie die Riemen aufstellte. Die kupferbeschlagene Hülle der Sturmschwalbe war eine unbestimmte Masse in der Ferne. Die Lichter auf den drei Deckebenen wurden von der Mannschaft gelöscht, und dann war sie verschwunden. Blitz sprach leise mit der Seefahrerin. »Eszai sollten nicht so umherschleichen. Gio zwingt uns, Mörder zu sein. Viel lieber wäre ich jetzt an der Front und würde gegen Insekten kämpfen.« Er hatte sich geweigert, seine Schwertklinge zu schwärzen, obwohl ich ihm angeboten hatte, es für ihn zu erledigen. Seine Konzession an Heimlichtuerei war, dass er seinen Siegelring abgestreift und einen schwarzen Umhang über sein dunkelblaues Hemd geworfen hatte. Er umfasste seinen neuen Recurvebogen mit einem Arm wie eine Geliebte. »Wenn ihr die Sache erledigt habt, kehrt direkt zum Kai zurück«, sagte Ata. »Ich mache mir Sorgen um Zyan. Hoffentlich färbt von dieser Unehrenhaftigkeit nichts auf sie ab.« »Oh, da mach dir keine Sorgen! Ich finde, dass Töchter sich um sich selbst kümmern sollen.« »Und wir haben keinen Plan in der Hinterhand«, sagte er. »Keiner von uns weiß genügend, um das Verhalten der Kapharnai voraussagen zu können.« »Wir haben unsere Talente. Gio muss vor dir Angst haben, Bogenschütze. Wenn seine Gefolgsleute ihr wahres Gesicht zeigen, werden seine Lügen zutage treten. Der Senat wird begreifen, dass wir für Tris das Beste tun.« Blitz und Ata schwiegen, als wir uns dem Leuchtturm näherten. Sein unregelmäßiges Licht erhellte nicht die ganze breite Hafenmündung — der am weitesten entfernte Punkt der 437 Hafenmauer lag im Schatten. So leise wie möglich ruderte Ata darauf zu. Glitschige Basaltblöcke machten uns zu Zwergen; dicke Tangwedel rührten sich tief unter uns. Ich hatte inzwischen dreißig Minuten lang das Tau straff gehalten, vor dem inneren Auge Bilder, wie ich ertrank, aber ich sah die Unmengen leerer trisianischer Kanus an ihren treibenden Pontons, die in den Wellen auf und nieder gingen. Aus der Ferne wirkten sie wie Nadeln an Pinienzweigen. Im Vergleich hierzu waren die Pfau, die Kuckuck und die Aufruhr geradezu monströs. Sie wandten uns das unverzierte Heck zu, die Segel auf skeletthaften Spieren aufgerollt und ohne flatternde Fahnen. Lichter flackerten auf den Wohndecks der Pfau. Ihre drei hohen Masten, die in der Dunkelheit noch dünner wirkten, waren vor dem nächtlichen Himmel nur gelegentlich zu erkennen. Dennoch spürte ich ihre Masse und hörte die kleinen Wellen, die zwischen die Karacken und die Hafenmauer glitten und klatschend zurückfielen. Sie hoben sich mit der einströmenden morgendlichen Flut an ihren Befestigungen. Jenseits des Hafens führten Kapharnaums ineinander verschlungene Straßen über die dunkle Bergflanke hinauf. Tris erschien weit entfernt davon, zerbrechlich zu sein, aber nachdem wir es jetzt berührt hatten, setzte sein Zerfall ein. Was wäre, wenn es auf der anderen Seite des gewaltigen Meeres ein noch stärkeres Reich gäbe, ein noch beherrschenderes, das so etwas mit uns täte? San wäre fuchsteufelswild, wenn er von diesem Gedanken erführe. Gott hatte nichts anderes außer uns auf dieser Welt zurückgelassen, und da er San zum Schutz der Welt bestimmt hatte, sind San und seine Befehle rechtens. Eines Tages werde ich Wettbewerbe um den Beitritt zum Kreis für die Kapharnai ankündigen. Ich werde die Stadt überfliegen, ihre Standarte tragen, sie hinter mir flattern lassen, und Ata wird auf ihrem weißen Pferd den Boulevard hinaufreiten. Trisianische Reisende würden schließlich Vier438 landen einen Besuch abstatten; ich konnte es kaum erwarten, ihnen die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Die Hafenlaternen spiegelten sich im Wasser. Das Ende der Mauer lag im Schatten, obenauflagen einige umgedrehte Kanus vor einem kleinen, quadratischen Gebäude. Ata manövrierte uns am letzten Ponton vorüber dorthin. Blitz flüsterte: »Ich sehe keine Wachen, aber passt auf! Die Mauer ist sehr nah.« Sie zog die Riemen ein. Blitz streckte beide Arme aus und pufferte uns ab. Er zog das Boot herum, mit der Breitseite zur Mauer. Wir alle schauten die zwei Meter hoch zur Kante. »Ich sehe niemanden.« Er stand am Dollbord, die Handflächen auf den Steinen, und zog sich hoch. Das Boot wippte auf und nieder und kratzte an der Mauer. Sein Gesicht tauchte über dem Rand auf. »Reicht mir meinen Bogen!« »Ts! Du solltest mich zuerst gehen lassen«, sagte ich gereizt. »Jetzt lass bitte endlich die Vorleine los.« Ata nahm mir die Leine ab und stützte mich. Ich krabbelte auf die Promenade, legte mich flach auf den Bauch und spähte über die Kante. Ata holte die Leine, die über die ganze Länge des Boots lief, aus dem Wasser und löste sie dann vom Bugspriet. Sie warf sie zu Blitz hoch, der sie auf dem Boden aufwickelte. Mir stand der Mund offen. »Oh. Sie war nirgendwo befestigt?« Sie kicherte. »Nein. Ich musste dir nur irgendwie den Mund stopfen.« »Du ...« »Pscht!«, machte Blitz. Ata legte Fender aus zusammengeknoteten Leinen um die Bootshülle aus und streckte uns dann die Hände entgegen. Ich kehrte ihr den Rücken zu, doch Blitz nahm sie und hievte sie hoch, wobei Metall auf Stein kratzte.
Ihr Haar zeigte sich wie ein weißer Blitz unter der Kapuze ihres schwarzen Schul439 tertuchs - das sich so sehr von der blendenden Rüstung unterschied, die sie in der Schlacht trug. »Ich verstecke mich neben diesem Depot«, flüsterte sie. »Blitz, folge Jant; er hat so was zuvor schon gemacht. Jant, hör um Gottes willen auf zu schmollen! Vergiss nicht, um acht Uhr früh zurückzukehren. Sternglas-Zeit. Viel Glück!« Ich ging los, entdeckte, dass ich allein war, drehte mich um und sah Ata und Blitz, die einander immer noch ansahen, wobei ein ganzes Spektrum ungesagter Dinge zwischen ihnen hin und her ging. Dann schüttelte Blitz knapp den Kopf, trat einen Schritt zurück und kam zu mir. Vor den Fassaden der Häuser am Hafen waren wir gefährlich exponiert, weil etwa alle fünfzig Meter Straßenlaternen standen, die ihren Schein auf das Pflaster warfen und so hell waren, dass ich die Sterne nicht erkennen konnte. Wir mussten über die gelben Pfützen hinwegsprinten und in den sehr schmalen schattigen Abschnitten innehalten. Ich erreichte einen der eigenartigen schwarz-weißen Pfosten mit dem hölzernen Querbalken und den herabbaumelnden Drähten und kauerte mich dahinter. »Habicht, von jetzt an dürfen wir nicht mehr sprechen! Ich weiß, die Sache gefällt dir nicht, und ich werfe es dir auch nicht vor. Aber folge bitte, nur dieses Mal, meiner Führung!« Der Bogenschütze nickte. Er trug seinen gespannten Bogen über der rechten Schulter, so dass er die Arme frei hatte. Seinen Mantel hatte er in den Gürtel gesteckt und über den Köcher auf seinem Rücken gezogen, so dass ihm eine stachelige Haube über die Schulter ragte. Im Köcher an seiner linken Hüfte zeigten sich Nocken und Befiederung von fünfzig Pfeilen. So voll gestopft war der Behälter, dass sie so gut wie gar nicht klapperten. Ungeschickt zog Blitz die Schultern ein - ein Versuch, seine breite Gestalt zu verbergen. Mit der 440 Entschlossenheit des Eszai unternahm er alles, um ein Leisetreter zu sein. Ich sagte: »Dann mal los!« Öllampen an den Geschäftsfassaden erhellten den gesamten Boulevard. Aber das Gitternetz der Straßen war perfekt für uns Attentäter; wir stahlen uns die parallel verlaufenden Straßen hinab. Eng an die Mauer gedrückt schritt ich rasch aus, duckte mich in einen Hauseingang und wartete, bis mich Blitz eingeholt hatte. Jedes Mal, wenn wir eine Seitenstraße überquerten, tauchte links von uns die hell erleuchtete Hauptstraße auf. Eine Statue auf einem Sockel. Stichlings Weinhandlung; Opahs Meeresfrüchte; Leng und Zingel, Lebensmittel, Rollläden herabgelassen. Ich rannte über die Straße und lief auf der anderen Seite weiter. Blitz drückte sich hinter mir in den Eingang des Geschäfts. Er schonte sich. Ich winkte ihn in die Schatten zurück, während ich mich umschaute. Zeit, die Straßen zu wechseln. Ich schoss nach rechts über eine Kreuzung, die vom Boulevard wegführte, und jagte anschließend wieder nach links, den Hügel hinauf. Die Straßen trafen scharf im rechten Winkel aufeinander, weil die Trisianer keine Kutschen haben. Wir hörten eine Glocke schlagen. Das war der Ruf der Senatspatrouille für die nächste Wache. Diese Straße war dunkler - hier standen überall bloß Wohnhäuser. Wir sausten an offenen Säulengängen vorüber und drückten uns dicht an Hausecken. Wäre Kapharnaum schmuddeliger und wesentlich weniger streng angelegt gewesen, so hätten wir auch gut und gern in den frühen Morgenstunden durch Hacilith schleichen können: sich an einer Ecke verstecken, die Wachen umgehen. Haken schlagen, um die rivalisierende Bognerbande loszuwerden. Als wir uns einem hell erleuchteten Haus näherten, winkte ich den Bogenschützen heran, und wir schritten gemeinsam und selbstbewusst an dessen Vordereingang vorüber. Wenn 441 sich Leute ruhig in ihren Häusern aufhielten, konnte eine flüchtige Bewegung sie aufschrecken, aber sie sehen kein zweites Mal hin, wenn sie einen für einen Wachmann halten. Sämtliche Häuser waren gleich groß und boten keinerlei Deckung; wir gingen rasch dahin. Die Lampen vom Boulevard warfen ihren Schein in die Seitenstraßen hinein; wir hielten uns dicht bei den Mauern mit den Wandgemälden. Blitz ahmte jede meiner Bewegungen lautlos nach. Ich weiß Vertrauen unter Freunden zu schätzen. Wenn man nicht jeden Treueschwur der Kindheit den Banden gegenüber in Ehren hielt, die sich eine jede Minute änderten; wenn man sich nicht zwischen die Kletterrosen wagte, an den Rand von Tümpeln und in dunkle Straßen, so war man sich selbst gegenüber nicht treu. Ich trage immer noch die Radnarbe auf der Schulter. Ich habe diese festen Freundschaftsschwüre in Ehren gehalten und bin als Ergebnis dessen nach wie vor ein Kind. Am Fuß des Amarot verloren sich die Straßen in der Dunkelheit. Nur der erleuchtete Boulevard führte in Serpentinen weiter den Berg hinauf. Einige Trisianer kamen die zehn Meter breite Fahrbahn herab. Sie trugen Umhänge über lockeren weißen Hemden und weite Hosen; sie hatten Lampen und Waffen dabei. Würden sie uns zu Gesicht bekommen, würden sie sofort unsere fremdartige Kleidung aus Vierlanden wieder erkennen. Schlimmstenfalls müssten wir so tun, als wären wir zwei von Gios Banditen. Ich winkte Blitz zurück, und wir hielten uns um die Ecke des letzten Hauses versteckt. Die Ausgangssperre bedeutete, dass Gios Männer nicht in der Stadt herumwanderten. Unglücklicherweise waren sie alle auf dem Mosaik oben auf dem Felsen eingepfercht - nichts zwischen uns und ihnen außer dem Senatsgebäude selbst. Wir beobachteten die Patrouille, die zwei Straßen entfernt nach Kapharnaum abstieg. 442 »Sie nehmen den anderen Weg«, bemerkte Blitz. Ich packte ihn beim Mantel und zog ihn zurück, als die
vorherige Patrouille auftauchte. Die Männer wechselten unterdrückt einige wenige Worte mit ihren Kollegen und kamen dann weiter den Boulevard herauf. Wir warteten. Stunden schienen zu vergehen, bis sie nur noch daumengroß oben auf dem Ausbiss zu erkennen waren. Da sagte ich ganz leise: »Wir sind dran. Fertig? Sieh dich gut um, du hast bessere Augen als ich. Vergiss dieses verfluchte Insekt nicht! Wir können nicht so gut sehen, wie es uns riechen kann. Es ist bestimmt schneller als du; und es ist sehr gut genährt.« Während der ersten paar hundert Meter war der weiße Stein der Felsenspitze deutlich zu erkennen. Dann stolperten wir weiter bergan durch das Gebüsch. Unter jedem Stein befürchtete ich einen Skorpion. Ein holzartiger Duft stieg vom feuchten Thymian auf, der mir die Schienbeine zerkratzte. Blitz, der sich hinter mir vorankämpfte, zertrat ihn einfach. Am Rand der Felsenspitze gab es überhaupt keine Deckung. Die Steine knirschten unter unseren Stiefeln, und ein sanfter Wind blies oben vom Berg herab. Ich legte mich flach hin, und nach einer würdevollen Pause folgte Blitz meinem Beispiel. Wir horchten. Gios Männer widmeten sich offensichtlich wieder dem Rum. Alle waren wohl um das Feuer für den Braten versammelt, lachten und ließen es sich gut gehen. Schön. Blitz berührte mich am Arm und zeigte hinter uns. Dort unten breitete sich Kapharnaum aus; der Boulevard glitzerte wie ein bernsteinfarbener Fluss. Die viereckigen Villenkomplexe waren hell erleuchtet, die Lampen hoben winzige grüne Gärten hervor, rot gedeckte, ansonsten graue Dächer, die Farben auf den Fresken. Das Feuer des Leuchtturms am Hafen blitzte regelmäßig in einem schwarzen Streifen Himmel auf, 443 ein einzelner Stern unter den am tiefsten stehenden Konstellationen. Es fiel mir schwer zu glauben, dass weit jenseits davon die Sturmschwalbe auf und nieder ging. Kapharnaum war wunderschön, aber die Ausgangssperre erklärte nicht das Gefühl drohenden Unheils, das angespannte Schweigen. Die Stadt wartete, aber ich bezweifelte, ob irgendein Bewohner wusste, warum. Das hohe Senatsgebäude, das nur schemenhaft zu erkennen war, verdeckte die Sterne. Blitz und ich sahen einander an. Ich schob meinen Mantel über dem Schwertgriff zurück; er legte einen Pfeil auf die Sehne. So leise wie möglich stiegen wir über den Rand des Felsens auf den flachen Gipfel und traten in den Schatten des Senatsgebäudes neben die erste von zwölf Säulen. Sie hatten quadratische Sockel und zogen sich an der ganzen Länge des Gebäudes entlang. Der Wind blies den Rauch des Kochfeuers der Rebellen über den Dachfirst. Gios Zimmer lag dort oben um die Ecke. Blitz stützte sich mit einer Hand an dem Stein ab und sah auf. Das Gebäude ragte über uns in die Höhe; seine Säulen waren fünfzehn Meter hoch, und seine Kanten schienen in dem Dämmerlicht zu wabern. Blitz tätschelte einen glatten Eckstein und flüsterte: »Kannst du da raufklettern?« »Manchmal gibst du ziemlichen Stuss von dir. Sieh ihn dir an!« »Verdammt! Ich hatte gehofft, unser Plan ...« »Natürlich kann ich.« Ich grinste. »Das erinnert mich an damals in Hacilith, vor meinem Aufbruch zum Schloss. Da bin ich am Palast des Gouverneurs hochgestiegen und habe ein Erpresserschreiben auf Aver-Falkonetts Kissen zurückgelassen. Leicht.« Blitz' lebhafter Sinn für Moral flammte auf. »Was? Ich erinnere mich nicht, dass du das dem Kreis gestanden hättest.« »Pscht! Ist eine sehr lange Geschichte; später.« 444 Ich hatte ganze eintausend Pfund verlangt und war erstaunt gewesen, dass Aver-Falkonett gezahlt hatte. Ich hatte das für ein Vermögen gehalten; wie wenig ich doch gewusst hatte! Dennoch hatte ich Pferde und neue Ausrüstung gekauft und genügend behalten, dass es genug für die Wegelagerer war, die mich keine zehn Stunden später auf der Krummen Straße meiner gesamten Habe beraubt hatten. »Bleib hier bis zu meiner Rückkehr im Schatten stehen. Rühr dich nicht von der Stelle! Abgesehen davon natürlich, wenn sich der Schatten weiter bewegt.« Ich packte die Steine fest mit beiden Händen, zog ein Bein völlig an, fand Halt für meine Zehen und schob mich mit dem anderen hoch. Eng an den Stein gedrückt griff ich weit nach oben und fand weiteren Halt für Hand und Fuß. Ich war eine volle Körperlänge über Blitz. Er hielt den Pfeil auf der Sehne und wartete neben einer Säule. In der Dunkelheit sah sein ernstes Gesicht körnig aus. Wie ein Luchs hielt ich Ausschau nach Rissen im Putz. In meinen Augen prickelte es wie von winzigen weißen Nadeln. Die Flügel faltete ich eng an den Körper, weil ihr Gewicht mich von der Wand zurückzog; dann stach ich meine starken, zugespitzten Fingernägel in die Spalten und krümmte meine Hand zur Klaue. Ich rammte meinen Stiefel hinein, streckte das Bein, richtete mich auf und griff nach dem nächsten Halt. Gleich darauflegte ich die andere Hand darunter, die Wange an den kühlen Stein gedrückt, trat hoch. Der Wind war hier stärker. Er fegte um die ungeschützte Ecke und kühlte meinen Schweiß. Ich hing an einer Hand und beiden Füßen, richtete mich gerade auf und legte eine Pause ein. Ich stieß einen langen Atemzug der Bewunderung über den Anblick aus, der sich mir bot: Hunderte von Häusern und zwanzigtausend Seelen, die sich Gio als Gewinn in seinem Spiel unter den Nagel gerissen hatte. Nun, jetzt hat er 445 es mit Komet zu tun, der gelernt hat, die jäh abfallenden, vom Eis zersplitterten Kamine der Felsen in den Dunkelbergen hinaufzuklettern.
Über mir war ein schmaler Sims. Ich streckte die Hand aus, tastete in der Seemöwenscheiße umher, suchte mir einen festen Halt für die Füße, knickte in den Knien ein und vollführte einen eleganten Satz hinauf. Leichtfüßig lief ich den Sims entlang, bog um die Ecke und erreichte die Seite des Gebäudes, die dem Mosaik gegenüberlag. Ich drückte mich flach gegen den Architrav von Gios Fenster. Sollte jemand von unten hochsehen, könnte er mich vor dem weißen Stein erkennen. Rasch schob ich die Jalousie hoch und spähte ins Zimmer. Niemand drin, also sprang ich über die Fensterbank und landete geduckt, lautlos auf dem mintgrün gefliesten Boden. Gios Wohnung war gewaltig. Ein quadratisches Bett stand in der Mitte, das anders als in Vierlanden keine Vorhänge hatte. Bloß eine braungraue seidene Tagesdecke war darübergeworfen worden. Die Wände bedeckten Trompe-L'Giil-Gemälde eines üppigen Festmahls. Elegante Speisende in trisianischen Gewändern führten gerade Trauben zum Mund oder hielten Trinkbecher hoch. Ihre Augen schienen mir durch den Raum zu folgen, als ich um einen hölzernen Wandschirm herum zu einem Nachttisch aus Alabaster ging, auf dem eines der offenen Lichter brannte. Daneben standen ein Glas, halb mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt, und eine Flasche mit einem vertrauten Etikett. Diw-Hafen-Gin, Gios Lieblingsmarke. Ich hob die Abdeckung meines Rings ab und ließ beide Aconitumtabletten in das Glas fallen, wo sie sich sofort auflösten. Ich schwenkte es und setzte es neben der Lampe nieder, die aus purem Gold bestand und die Form eines springenden Delfins hatte. Unregelmäßig geformte Korallen in Klaueneinfassungen sowie 446 kostbare Perlen überkrusteten das Unterteil. Sie faszinierte mich ... »Ja, stimmt ...«, ertönte eine Stimme direkt vor der Tür, »genau das brauche ich, ebenso wie Glimmerstadt unbedingt weitere Kaffeegeschäfte braucht! Gute Nacht, Tirrick.« »Gute Nacht, Gio.« Gio! Ich jagte zurück zum Fenster. Gios Fuß erschien an der Tür. Ich konnte das Fenster nicht mehr erreichen, sprang hinter den Schirm. Fünf volle Meter war ich vom Fenster entfernt. Mist. Zum Losstürmen bereit spähte ich vorsichtig durch das feine Gitterwerk auf der Kante des eingeschlagenen Paneels. Gio zog sich den Mantel aus und warf ihn aufs Bett. Er trug dieselbe Kleidung, die er auch beim Verlassen des Schlosses getragen hatte, und obwohl sie gewaschen worden war, roch sie nach eingefressenem Schlamm und Salz. Er hatte sich immer noch nicht auf die Suche nach einem Hemd begeben und trug das 1969er-Rapier an einem roten Doppelgürtel um den Taillenbund seiner blauen Kniehose. Die Furchen an Rippen und Hüften waren von Sehnen durchzogen. Gios Gier nach Rache mochte bloß eine weitere Form der Verzweiflung sein, aber sie hatte ihn diszipliniert, wenn auch nicht sauber gehalten. Die Narbe, die er Zaunkönig zu verdanken hatte, zeigte sich als blassrosa Kerbung unterhalb seines Kehlkopfs. Fieberhaft überlegte ich, was zu tun wäre. Ich war rasch genug, um zu entkommen, aber Gio würde mich gewiss sehen und den Gin nicht trinken; er würde seine Fechter gegen die Sturmschwalbe aussenden, und Atas Plan würde fehlschlagen. Ich hielt still. Ich konnte hier bleiben, bis Gio entweder schliefe oder tot wäre. Neben der Wand am Bett standen sechs Stahltruhen. Wenn sie voll waren, wäre Gio zweifelsohne Millionär. Auf 447 die starken Kisten hatte man drei Goldbronze-Behälter für Edelsteine gesetzt, deren Schlösser etwas primitiver waren, weil - wie bei vielen awianischen Mechanismen - die Form mehr geschätzt wird als die Funktion. Die Bilder auf den einzelnen Paneelen des Schirms vor meinen Augen zeigten Kuppelbauten, die denen auf der Insel ganz und gar nicht ähnlich waren. Dass es sich um uralte awianische Paläste handelte, konnte Gios Aufmerksamkeit kaum entgangen sein. Er zog sein Rapier und führte zwei oder drei Hiebkombinationen durch. Er schien unzufrieden. Ich beobachtete ihn, und währenddessen prickelte es quälend in meinen Beinen, wie von Nadelstichen. Ich hielt meinen Schwertgriff so fest gepackt, dass sich der ineinander gedrehte Metalldraht in meiner Handfläche abdrückte. Gio legte sich das Rapier über die Schulter, sprang zum Nachttisch hinüber und leerte das Glas Gin in einem Zug. Nichts geschah. Er kehrte zu einer Grundstellung zurück und begann mit seinem Schatten zu sparren, wobei er weiße Dellen im Putz zurückließ. Lautlos streckte ich mich, um zuzuschauen. Mittlerweile sollte er sich in qualvollen Krämpfen auf dem Fußboden winden. Er sollte rasch ersticken, die Zunge zu sehr geschwollen zum Kreischen. Ich konnte mir bei meinem ewigen Leben nicht vorstellen, was schief gegangen war. Das Gift zeigte nicht die geringste Wirkung. In wenigen Minuten beendete Gio seine Übungen und schritt völlig gesund aussehend auf mich zu. Er wollte die Läden schließen; dann wäre ich hier drin gefangen. Sobald er an dem Schirm vorbeikäme, würde er mich entdecken. Er war bloß noch einen Schritt entfernt. Ich vollführte einen Satz zum Fenster, aber es war zu weit. Ich landete genau davor, das Gesicht Gio zugewandt. Sein Gesicht war eine groteske Maske des Erstaunens. 448 »Janfi« Blitzschnell ging er in Grundposition, mich auf Rapierlänge vor sich haltend. Die helle Spitze seiner Waffe schwebte nur einen Zentimeter von meinem Brustkorb entfernt. Ich schob mich zurück, bis sich meine Waden gegen das Fenstersims drückten, hinter mir die Nachtluft. Ich ließ als Zeichen, dass ich mich ergab, die Hände unten. Gio hatte die wahnsinnigen Augen weit aufgerissen, und das Erstaunen hielt ihm die Hand fest. Er
warf einen prüfenden Blick zur Schwelle - wenn ich hier war, könnten die anderen Eszai auf dem Fuß folgen. »Wo ist Zaunkönig? Was hast du hier getan?« Er sah meinen Blick zum leeren Ginglas hinüberflackern. Ich war so durcheinander, dass ich einfach hinsehen musste. Kein Mann sollte noch aufrecht stehen, nachdem er eine solche Menge Belladonna zu sich genommen hatte. »Gift?«, flüsterte er; er kannte meine Geschichte. Sein Gesicht wurde weiß vor Wut. »Du feiges Schwein! Ich schütte es dir den Hals hinab! Wie lange, bevor es wirkt? Antworte, verdammt!« Die Furcht ließ seine Stimme schrill werden. »Was habe ich getrunken? Was war es?« Aus schierer Verwirrung heraus gab ich keine Antwort; Gio sollte mittlerweile mausetot sein. Unter dem Druck seiner Rapierspitze teilte sich mein Ledermantel. Gio schrie: »Tirrick! Hilfe! Ich bin vergiftet worden! Mord! Rasch!« Stimmen von unten nahmen den Schrei auf: »Gio ist vergiftet worden!« »Ich habe gewusst, dass die Trisianer etwas versuchen würden!« Mit einem tiefen, ernsten Blick beugte sich Gio vor. »Komet, nimmst du mir das wirklich übel? Aus dem Kreis ausgeschlossen, würdest du dasselbe tun.« Er drängte mich mit einem manischen kleinen Nicken zu einer Antwort. Ich rührte keinen Finger. Plötzlich knurrte er hasserfüllt und zog seinen Arm zum Stoß zurück. 449 Ich sprang rücklings aus dem Fenster, fiel, vollführte einen Salto rückwärts, wirbelte in einer vollen Drehung herum und kämpfte darum, meine Flügel freizubekommen. Feuerschein streckte sich, wurde zu einem verwaschenen Streifen Helligkeit. Sterne unter mir, weißer Granit über mir. Verzweifelt schlug ich die Flügel, um Luft darunter zu bekommen, und kippte atemlos über dem Platz ab. Die Rebellen kreischten, aber ich konnte sie nicht erkennen. Ich versuchte, mich irgendwie zu orientieren. Verzweifelt kämpfte ich mich zum Sims des Senatsgebäudes hoch. Gio beugte sich aus dem Fenster und starrte in stummem Entsetzen hinaus. Ich trat mit den Beinen, schlug heftig mit den Flügeln und streifte das Dach über ihm, stieß mich vom First ab und glitt über den Felsen hinweg. Ich kreischte Blitz zu: »Lauf!« »Oh, nein«, meinte Blitz. »Pscht!« »Lauf! Wir müssen! Folg mir!« Ihm blieb keine andere Wahl; die Rebellen kamen stolpernd auf die Beine und griffen nach ihren Waffen. Einander ansehend fanden sie den Nerv, das Mosaik zu überqueren und anzugreifen. Blitz jagte unmittelbar vor ihrer Nase um die Ecke zur einzig erkennbaren Tür - der Bibliothek. Unter mir hörte ich Gio fluchen. »Bringt mir Wasser! Holt mir den Schiffsarzt!« Setzte die Wirkung des Aconitum verspätet ein? »Die zweite Etage lässt sich verteidigen«, rief ich Blitz zu. »Ich treff dich da oben!« Blitz rammte die Tür mit der Schulter ein und wandte sich im Eingang den Männern zu. »Ich bin ...« Er schoss den Pfeil ab, und der Nächste ließ sein Rapier fallen, umklammerte seine Hand, drehte sich auf dem Absatz um und floh, eine Blutspur nach sich ziehend. »... Blitz. Der unsterbliche Bogenschütze.« Er schoss auf den größten Mann in der Mitte. Der 450 Pfeil durchbohrte dessen Hand, die den Schaft einer Axt umklammert hielt. Aufheulend sprang der Mann hoch und schüttelte die Pfeilspitze aus der Haut zwischen seinen Fingern ab. Alle wichen zurück. »Ihr werdet sehen, dass die Treppe gefährlich für euch ist.« Blitz legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne. »Ich empfehle euch Vorsicht, Mob. Bleibt draußen.« Er verschwand in der dunklen Bibliothek. In meinen Augen hatte er es nur noch schlimmer gemacht. Fünf unverletzte Männer drangen ein. Einer trat nach der Türschwelle. »Scheißkerl!« Er sah zu mir auf; ein Muttermal, grau in dem schwachen Licht, bedeckte zur Hälfte sein schlaffes Gesicht. Ein anderer war ein ehemaliger Soldat, der Brandochs weißes Dreispitz-Abzeichen auf seiner zerrissenen Jacke trug. Er rief nach weiteren Leuten - ein großer, zottelhaariger Mann, der seinen Pullover über dem Mantel trug; eine stämmige Frau, obwohl ich mir in der Dunkelheit nicht ganz sicher war. Ich flog tief über sie hinweg und schwang mich zum Fenster hinauf, um etwas an Geschwindigkeit zu verlieren. Ich spreizte meine Schwingen, bremste hart und bog meine Flugfedern zurück. Meine Fluggeschwindigkeit fiel auf Null; ich stürzte. Ich traf die Fensterläden mit den Sohlen beider Stiefel. Die Läden flogen auseinander, ich fiel hindurch und landete direkt auf meiner Kehrseite, während meine Flügel im Fenster feststeckten. In diesem Geschoss herrschte pechschwarze Finsternis, aber ich roch den feierlichen Duft nach Papier und ehrwürdig gealtertem Holz. Ich strich ein Zündholz an und hielt es hoch. In seinem Schein erkannte ich, dass die gut gefüllten Regale sich an einem einzigen Mittelgang entlangzogen, der von Kisten voller Papiere versperrt war. Blitz kam die Treppe herauf und fuhr herum, den Rücken mir zugekehrt. »Komet? Wo bist du?« 451 Im schwachen Schein weiterer Zündhölzer legte ich den Weg durch den Gang zurück. Blitz atmete tief, wie ein gehetzter Bär. Er stand still wie eine Statue da und horchte auf die Stimmen, welche die Stufen heraufkamen. »Sie sitzen beide in der Falle. Geh du zuerst!« »Machst du Witze? Das ist Glimmerwasser. Der Bogenschütze. Er wird mich ins Auge schießen, sobald ich ...« »Glimmer-trallala. Los, mach schon!«
»Vielleicht sogar beide Augen ...« Blitz schnaubte. »Es sind Unsterbliche]« »Dann können sie warten«, ertönte die Stimme der Frau. Blitz senkte leicht seinen Bogen und setzte sich auf einen Tisch. »Für den Augenblick sind wir hier sicher«, meinte ich. »Oh, wir sind sicher, ja? Prächtig! Soll ich dir dann einfach eine Tasse Kaffee zubereiten? Das ist deine Schuld, Jant! Wir hätten unbemerkt bleiben können. Ich war versteckt. Ich war bereit, mich zur Sturmschwalbe zurückzuschleichen, während du hättest fliegen können. Aber nein; du musstest ja schreien: >Lauf!< Jetzt weiß der Mob, dass wir hier sind - ich bin in die Ecke gedrängt!« Er schüttelte eine Faust unter meiner Nase. Einzelheiten waren auf seinem Gesicht in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber ich sah, dass er vor Schlafmangel Ringe unter den Augen hatte. »Du unverantwortlicher Findling, du Rhydanner...« »Bitte benutze >Rhydanner< nicht als Schimpfwort!« »Drogensüchtiger. Nun}« »Nun was? Wenn du bei den Säulen geblieben wärst, hätten sie dich erwischt. Gio hat mich gesehen, dann ist alles zu schnell gegangen. Es blieb keine Zeit zum Überlegen mehr.« »Das Überlegen sollte eigentlich deine starke Seite sein. Also, ist er hinüber?« Gio war weit entfernt davon, tot zu sein. »Ich versteh's 452 nicht!«, protestierte ich. »Eine Unempfindlichkeit gegenüber einer solchen Menge von Belladonna ist unmöglich; nirgendwo sind Fälle einer Genesung verzeichnet.« Blitz trommelte mit seinen kräftigen Fingern auf den Tisch, was sich anhörte wie ein kleines Galopprennen. Er hielt seinen prächtigen Langbogen in der anderen Hand, die Finger auf dem Pfeilschaft. Ich zündete eine mandelförmige Lampe an und schritt zum Fenster. Unten rannten die Gesetzlosen wild durcheinander. Mir war übel bei dem Gedanken, dass das Aconitum nutzlos war. Vielleicht hätte ich es selbst jederzeit brauchen können. Ich habe es niemals benutzt, weil Scolopendrium als Droge so rasch wirkt, dass ich zu den seltenen Gelegenheiten, zu denen ich eine Überdosis genommen habe, kaum mehr daran hätte denken oder den Ring bedienen können. Ich habe Aconitum dabei gehabt, seitdem ich von seiner Wirkung erfahren hatte, seit fünfzig Jahren. Ah, verdammt! Ich habe die Tabletten nicht ersetzt, und zwar seit - seit wann? Seit zwanzig Jahren? Und viele Gewitterstürme habe ich seitdem durchflogen; wie viele lange heiße Bäder im Badehaus genommen? Es war ein Fehler, den nur ein Unsterblicher begehen konnte. »Die Tabletten sind zu lange in meinem Ring gewesen«, sagte ich. »Der Wirkstoff muss sich verflüchtigt haben. Gio erleidet nicht die volle Wirkung, wenn überhaupt eine.« »Du hast nie gelernt, Eszai zu sein«, meinte Blitz leise, was schlimmer war als sein Gebrüll. »Fassen wir doch mal zusammen. Item: Gio wird entschlossen sein, uns unseren Attentatsversuch auf sein Leben heimzuzahlen. Item: Es ist vier Uhr früh, also bleiben uns volle vier Stunden, bis die Schwalbe eintrifft. Item: Ich habe nur einhundert Pfeile. Item: Ich habe beträchtliche Schmerzen, und ich werde längere Zeit nicht laufen können.« »Was?« 453 Als Antwort ließ Blitz seine Hand unter die Verbände um seine Taille schlüpfen. Blutrot hielt er sie wieder hoch und wischte mit den Fingern über die alte Narbe in seiner Handfläche. Ich hatte die Flecken auf seinem Hemd nicht bemerkt. »Die Aktivität hat meine Wunde gereizt; sie hat sich nicht völlig geschlossen. Ich wollte es nicht groß erwähnen, aber es wird mich behindern, also musst du es wissen. Verdammt, sei nicht so bestürzt; geh einfach los und beobachte den Mob!« Ganz eingeschrumpft vor Schuldgefühlen wandte ich mich zum nächsten Fenster und öffnete einen Laden. »Siehst du jemanden von meinem Heerbann?«, fragte Blitz. »Nein. Nicht viele Awianer vom Seenland oder von der Küste rebellieren; sie wissen, dass sie das Schloss brauchen.« »Gut. Darum wenigstens bin ich dankbar.« Eine Menge Volk füllte den Platz zwischen uns und dem Senatsgebäude, das vom großen Feuer rötlich erhellt war. Sie vollführten einen unglaublichen Lärm: ein Tumult aus Klatsch und Tratsch, Fetzen von Gesprächen und falschen Gerüchten - die könnte ich ausnutzen. Ich sah auf ihre Köpfe hinab; Kapuzen, Mützen und wollene Hüte. Ich entdeckte die athletisch gebaute Frau, die sich mit den Ellbogen einen Weg zum Boulevard oben bahnte. Ein allgemeiner langsamer Fluss in jene Richtung war entstanden, wie ein einsetzender Erdrutsch. Die Luft schwirrte vor Angst und Aufregung. Ich hörte genau hin und versuchte, Satzfetzen aus dem Chaos aufzufangen: »Gehen wir. Sinnlos, hier zu bleiben, wenn Gio den Löffel abgegeben hat, nicht wahr? Du hast gehört, was dieser Trottel Tirrick gesagt hat.« »Ich würde ja gern, wenn ich nur was sehen könnte! Wenn zwei Eszai da sind, wird es noch mehr geben, siehst du? Der ganze Kreis ist vielleicht hier.« »Gio ist nicht tot! Seine Befehle lauten, hier zu bleiben.« »Ich habe diesen ganzen Befehlsscheiß letztes Jahr an den 454
Nagel gehängt. Komm schon, überleg mal, was wir unterwegs zum Schiff alles mitgehen lassen können.« Gio Ami trat aus dem Senatsgebäude, einen großen, rechteckigen Schild am Arm. Als Griff diente eine metallene Gabel mit einem großen gepolsterten Haken, damit sein Oberarm das Gewicht auch tragen konnte. Sogleich suchte er mit gezogenem Schwert Schutz hinter einer Säule. Er wirkte benommen und war blass wie bei einem Kater; ich wusste nicht genau, ob das Gift eine abgeschwächte Wirkung bei ihm zeigte oder ob ihm übel vor Anspannung war. Er beugte sich weit vor und schrie: »Ich bin hier! Mir geht's gut! Seht her!« »Erschieß ihn!«, wies ich Blitz an. Blitz senkte den Kopf und versuchte, Gio in den Blick zu bekommen. Ich beugte mich hinaus und rief der Menge zu: »Tornado kommt! Raa führte die halbe Flotte des Schlosses in den Hafen! Dreißig Karavellen voller Soldaten und ein Eszai auf jedem Schiff!« Gios Anhänger wollten zu ihm, aber die Frau forderte die Leute auf, sich ihr anzuschließen. »Kommt schon, wir müssen zu den Booten, bevor Tornado eintrifft.« Sie drängten zum Boulevard. Gio versuchte es erneut: »Kommt zurück! Hört zu, sie werden euch als Piraten hängen! Ich bezahle euch allen einen gleichen Anteil an allem von dieser Stadt! Es gibt keine weiteren Schiffe! Allein habt ihr keine Chance gegen Raa!« Ich steckte den Kopf hinaus. »Tornados Soldaten werden alle inhaftieren, die bei Gio bleiben! Er wird vor Gericht gestellt werden!« Rasch zog ich den Kopf zurück, als eine Axt den Fensterrahmen traf und auf die Leute unten hinabfiel. Zu Blitz bemerkte ich: »Gio kann sie nicht daran hindern zu gehen. Mir ist es gelungen, sie zu spalten.« »Gut.« Er nickte. Ein junger Fechter gestikulierte zu meinem Fenster herauf 455 und redete sehr heftig auf Gio ein, der den Kopf schüttelte. Sein Freund erhob jedoch weiterhin Einwände. Gio richtete sein Rapier auf ihn. »Nein, Tirrick!« Tirrick betrachtete Gio, sah eine schmutzige und zerzauste Gestalt vor sich und musste zugleich mit mir begriffen haben, dass Gio nicht vergiftet war; seine Paranoia ließ ihn so vorsichtig handeln, als ob er echte Symptome verspürte. »Ich glaube, Ata hat Recht«, sagte ich. »Gio ist wahnsinnig.« »Vielleicht«, meinte Blitz. »Zum Glück ist Zaunkönig noch wahnsinniger.« Tirrick warf den Wächtern neben dem Bibliothekseingang einen Blick zu und rannte dann an Gio vorbei ins Senatsgebäude. »Jetzt debattieren die Fechtmeister unter sich.« Blitz biss sich auf die Lippe. »Ich habe Gio Ami nie gemocht, weil er vorgibt, ein Mann von Ehre zu sein, jedoch bloß nach den Regeln lebt, die ihm gerade passen -wie es verdammte Tradition in Güte ist. Weißt du, er war mal verheiratet; wäre er es noch immer, wäre uns das hier vielleicht erspart geblieben. Aber er hat Respekt vor den Gebräuchen der Halbinsel vorgetäuscht. Sie erhalten dort an ihrem Hochzeitstag eine Kerze zum Geschenk. Wenn sich die Eheleute in den folgenden Jahren streiten, müssen sie die Kerze anzünden und so lange brennen lassen, wie der Streit dauert. Ist sie völlig abgebrannt, wird das Paar automatisch als geschieden betrachtet. Das ist Gio passiert. Er nannte seine Frau eine Störenfriedin, schloss sie aus dem Kreis aus, und nach ihrer Heimkehr fand sie ihre Freunde gealtert und krank vor, oder tot und begraben. Arme Frau!« Ich bemühte mich, weiter den Boulevard hinabzusehen. Weiße Rauchwölkchen, wie Samenkapseln von Baumwolle, stiegen unten vom Hügel auf, wo die Hafenmauer verborgen von den Häuserreihen lag. »Ich glaube, Raa gibt Zeichen. Sie 456 muss sich gedacht haben, dass alles schiefläuft. Ich wette, sie verbrennt Kanus ... Ich weiß nur nicht, ob das Signal mir oder der Schwalbe gilt.« Blitz beobachtete säuerlich das Treppenhaus. »Wie Amateure haben wir einen stärkeren Bogen gewählt, als wir handhaben konnten«, sagte er, »und das Ziel verfehlt. Wenn ich nicht überlebe, Jant, denkst du daran, meine Botschaft zu überbringen?« Nie zuvor hatte ich von Blitz ein fatalistisches Wort vernommen. »Ich schwöre es. Meine Pflicht als Kurier.« Der Himmel über dem Senat war inzwischen von einem blassen Grau; ich war imstande, die Züge der Leute unten zu unterscheiden. Ein dunkler Mantel wurde burgunderrot, Graubraun erwies sich als Hellblau, das Haar eines Knaben zeigte hennarote Strähnen. Die Dämmerung ließ einen bleichen, wolkenlosen Wintertag durchdringen. Erneut sah ich zum Meer hinüber und jaulte auf. Das Inselchen mit dem Leuchtturm war jetzt schwach zu erkennen. An seinem seewärts gelegenen Ende brach sich die Brandung. Ein Viermaster, winzig in der Entfernung, kam krängend unter vollen Segeln um die Insel herumgefahren. Mit vielen Knoten Geschwindigkeit fuhr er in den Hafen ein, wobei seine langen Wimpel sich hinter ihm schlängelten. »Die Schwalbe! Sieh mal, die Schwalbe kommt rein!« Blitz seufzte erleichtert. Wenige Minuten später eilten ein paar Burschen in wattierten Jacken den Boulevard hinauf und drängten sich eifrig zu Gio durch. Der hörte zu, winkte sie dann beiseite und rief: »Da ist es! Wir müssen uns dem Flaggschiff des Schlosses stellen. Ich sage euch, es gibt nur eine Karavelle. An Bord sind zwei Eszai, und wir werden sie überwältigen. Überlasst mir die Befriedigung, mit Zaunkönig zu kämpfen - und euer
Lohn ist die Sturmschwalbe\« 457 Die Menge schrie auf. Gio hob seinen Schild und eilte über den Platz, wobei er seiner Räuberbande zurief, sie solle sich zu so etwas wie der Division eines Heerbanns aufstellen. Die Schwertkämpfer aus Güte besetzten die Front, dann kamen die größten, rauesten Kerle, darauf die Knaben aus Hacilith und dann einige Tussis in der Nachhut. Aber die Schwertkämpfer an der Bibliothekstür wollten sich nicht rühren, als Gio sie darum bat. Seine Autorität war geschwunden, aber er tat so, als ob es keine Rolle spielte. Er gab auf und kehrte zu der dicken Säule zurück. Blitz dachte laut nach. »Ich kann die Chancen für Zaunkönig und Ata erhöhen.« Sofort spannte er seinen Bogen und ließ los. Ein Mann an der Spitze der Marschkolonne geriet ins Wanken, kreischte und stürzte, einen Pfeil im Oberschenkel. Blitz wählte einen weiteren Schaft aus dem Köcher an seiner Hüfte, ließ ihn fliegen, und der erstaunte Bursche hinter dem ersten Mann jaulte auf und plumpste zu Boden. Ich konnte den Pfeil, der ihm über dem Knie aus dem Bein ragte, kaum erkennen. Blitz fing an, von dreißig rückwärts zu zählen: »Achtundzwanzig, siebenundzwanzig ...«, während er die Männer vom nächstgelegenen Rand der Formation, die wie Ziele auf einer Galerie aufgereiht waren, einen nach dem anderen lahmlegte. Als die Kolonne ihr Gekreisch hörte, richtete sie über ihre ganze Länge hinweg die Schilde aus. Sie entfernte sich von uns, schlug einen Bogen um die verwundeten Männer und ließ sie einfach liegen. Etwa zwanzig krochen auf dem Mosaik umher. Einer schrie laut, als er das Gefieder des Pfeils abbrach und den Schaft aus seinem Oberschenkel zog. Gio, unsichtbar hinter seinem Schild, führte seine Schar zum Boulevard, und der Platz leerte sich sehr rasch. Sie eilten zwischen den schmalen Steinmauern entlang und schlängelten sich über die Haarnadelkurven nach unten. Das zerschla458 gene Mosaik war bald öde und verlassen; Alyss und die Insekten wirkten wegen der fehlenden Mosaiksteine regelrecht kariös. In den Ecken draußen vor der Bibliothek stapelte sich der Müll, und Asche flog aus dem erkaltenden Feuer in den Säulengang. Blitz schoss sauber und methodisch die Rebellen aus der Nachhut der Kolonne nieder, wobei er jeden Mann in den linken Oberschenkel traf. »Du, vier; und du, drei ... zwei... eins. Da. Mehr Pfeile wage ich nicht zu verbrauchen. Ist das nicht eine widerliche Arbeit?« Schritte huschten durch die Etage unter uns. Blitz rief: »Kommt auf jeden Fall auch zu unserer Versammlung! Aber stellt euch bitte vor, damit ich weiß, wen ich abschieße!« Eine Bewegung im Senatsgebäude lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich. Ein Fechter schleifte zusammen mit seinem Freund eine von Gios schweren Truhen heraus. Eine weitere folgte, dann eine vierte, bis sämtliche Truhen und verzierten Kisten mit Gios Vermögen auf dem Mosaik aufgereiht waren. »Was ist das?«, fragte Blitz, aber ich hörte kaum hin, weil ich vor Wut kochte. Tirrick, der spitzbärtige kleine Kriecher, stahl den Schatz, und ich konnte nichts dagegen tun. Als Nächstes stolperten die Senatoren aus der Tür am Fuß der Säulen. Ein erschrockener Jugendlicher in einer blassen Tunika, dann ein untersetzter alter Mann wurden von den Fechtern zusammengetrieben. Felchen kam widerstrebend als Letzter heraus. Tirrick führte ihn. Der große, drahtige Trisianer hielt den Kopf in einem merkwürdigen Winkel geneigt, weil ihm Tirrick einen Dolch an die Kehle gelegt hatte. Er schob ihn auf das Mosaik hinaus und sah dann mit einem kühnen Lächeln direkt zu unserem Fenster auf. 459 KAPITEL 21 »Sie führen die Senatoren vor«, sagte ich. »Tirrick«, meinte Blitz. »Ich kenne diesen Typus: privilegiert, jedoch wütend und verbittert, jüngster Sohn aus niederem Adel.« Er befeuchtete sich die Finger und streckte sie aus dem Fenster, um die Windrichtung abzuschätzen. Dann kratzten seine Fingerspitzen über die Pfeilfiederung und legten sich an die Sehne. Tirrick rückte seinen Dolch an Felchens Kehle zurecht und rief: »Wir töten einen von denen hier für jeden Pfeil, den du abschießt!« Felchen verdrehte die Augen und stampfte mit dem Fuß auf. Seine braunen Arme hingen starr an den Seiten herab. »Die Truhen sind bis zum Rand mit Geld gefüllt«, sagte ich. »Ich glaube, die Fechter bringen sie zum Schiff. Sie nehmen dabei die Senatoren als Geiseln, zum Selbstschutz. Das ist unsere Chance zur Flucht. Oh, verdammt, nein, ist sie nicht...« Etwa zwanzig Fechter rannten mit Lampen und Ölkrügen aus dem Säulengang heraus. Blitz zielte auf sie, sah jedoch Tirricks Schneide an Felchens Haut und schoss nicht. Die Wächter am Bibliothekseingang ließen die Fechter durch. Von unten ertönte das Krachen zerbrechender Töpferwaren, ein Rascheln und Reißen. Ein schwerer Schlag erschütterte den Boden, als die Männer ein Bücherregal umstürzten. Ich hörte sie die Papyrusrollen zu Haufen zusammentreten. »Sie werden die Bibliothek anzünden!« Ich schoss zur Treppe und rief hinab: »Hört auf! Im Namen Sans und Gottes willen! Wie könnt ihr es wagen?« Eine Stimme rief gleichmütig zurück: »Kommt raus und lasst euch hinrichten, oder bleibt und verkokelt.« Aber das sind Bücher - sämtliche Bücher von Tris! »Das dürft ihr nicht!«, kreischte ich verzweifelt. 460
Ein blaugraues Wölkchen stieg auf, wie Zigarettenrauch. Innerhalb von Sekunden verbreitete es sich und erfüllte das gesamte Treppenhaus. Vom Fenster aus sah ich die Fechter aufs Mosaik hinauslaufen, wobei sie die Wächter bei ihrer hastigen Flucht beiseiteschoben. »Die Bibliothek hat Feuer gefangen! Macht euch bereit, sie müssen sich ergeben. Es greift um sich!« Rauch wallte in einem dichten Strom neben mir hoch und trieb an der Decke entlang. Blitz entspannte seinen Bogen. »Wir müssen durchbrechen. Da sind ein Dutzend Fechtmeister. Mit denen können wir es aufnehmen, aber die Senatoren werden sterben.« »Die Bücher!«, wimmerte ich. »Ich kann sie nicht zurücklassen ...« »Sei nicht dumm!« »Vielleicht gibt's einen anderen Weg nach unten.« Graue Rauchringe hüllten die Dachbalken völlig ein. Rasend schnell kamen sie herab und legten sich über den Raum. Ich fummelte mit einem Stapel ledergebundener Bücher auf dem Tisch herum, ließ sie in meine Manteltaschen gleiten und nahm die Laterne. »Warte hier, ich sehe am anderen Ende nach!« Blitz begann, laut zu husten. Ich rief: »Beug dich tief nach unten! Krieche drunter her!« Ich war zuvor schon in einem brennenden Gebäude gewesen und er nicht, soweit ich wusste. Aber mir schmerzten die Lungen, als ich Rauch einatmete, und ich hustete sogar noch heftiger als er. Ich musste die Bücher retten, so viele, wie ich tragen konnte, also schritt ich den Gang hinab und schnappte sie mir aus den Regalen. Eines stopfte ich mir in meinen Hosenbund, ein weiteres in meinen Gürtel. Mir blieb keine Zeit für die Übersetzung der Titel, auch sah ich nichts, da mir der Rauch in den Augen brannte. Ich wusste folglich nicht, was ich da mitnahm. Verzweifelt stapelte ich sie in der linken Armbeuge, 461 warf einen schweren Wälzer beiseite, wählte zwei andere aufs Geratewohl. Ich dachte, ich rette eine Hand voll Bände nach dem Zufallsprinzip, die das gesamte Wissen einer ganzen Kultur repräsentieren sollen. Welche waren die kostbarsten? Handelten diese vom Ingenieurswesen, vom Kochen oder von Dichtkunst? Oder war es sogar verdammte Fiktion? Unmöglich konnte ich das beurteilen. Wütend spuckte ich den widerlichen Rauch aus und klemmte den Stapel in meine Arme. Ich erreichte das Ende der Bibliothek - einfach nur eine nackte Wand und sämtliche Bücher plumpsten nacheinander lautstark zu Boden. Unverkennbar, jedoch entsetzlich fehl am Platz, hing ein grau gesprenkeltes Netz zwischen den letzten beiden Regalen: Insektenpapier. Es sah aus wie zusammengefaltet, war allerdings hart wie Beton. Von den Regalen schwang es sich in die Höhe und verschwand irgendwo in dem Rauch, der von den Dachbalken herabgekrochen kam. Zwei lange braune Vorderbeine drangen aus dem Nest hervor. Der schwarze, dürre Fuß des Insekts setzte sich klickend zwischen meine Stiefel, und seine drei Klauen schlössen sich. Ich wich in die gegenüberliegende Nische zurück. Das Insekt zog den dreieckigen Kopf ein und glitt zwischen den Bücherregalen hervor. In seinen Mosaikaugen spiegelte sich der vom Lampenschein erhellte, umherwirbelnde Rauch. Eine Franse seines rechten Vorderbeins wischte über die Regale. Es musste Zaunkönigs Rapier herausgezogen haben, denn das Loch durch seinen Rumpf war jetzt eine tiefe Höhlung, gefüllt mit glatter neuer Schale. Seine Haut hatte es abgestreift und war jetzt sogar noch größer, als ich es in Erinnerung hatte. Die hohen Gelenke seiner Hinterbeine ragten drohend aus dem Rauch hervor. Zwei keulenähnliche schwarze Palpen rieben aneinander wie zwei Hände. Sie zogen sich zurück, und die Scherenkie462 fer öffneten und schlössen sich. Es hob ein Vorderbein und säuberte seinen einzelnen gekrümmten Fühler zwischen den Fasern unterhalb seines Knies. Blitz spannte seinen Bogen und sprach mit den Lippen an der Sehne. »Tritt beiseite!« Im Rauch war er durch die Tränen, die mir aus den Augen strömten, bloß eine Silhouette. Ich drückte mir den Mantelaufschlag über Nase und Mund. Noch weitere dreißig Sekunden, und der Raum wäre voll. Von unten war ein Knistern zu hören. »Warte!« Das Insekt stand still da, genügend nahe, dass ich die Narben und Abdrücke erkennen konnte, die ich mit meinem Eispickel hinterlassen hatte. Eine Reihe schwarzer Stacheln, vier hintereinander, stützte den oberen Teil seines gestreiften Unterleibs. Die bleiche Unterseite pulsierte, als es ihn unter sich zog und Luft durch seine weit geöffneten Tracheen einsog. »Warte. Es mag den Rauch nicht.« Sein Fühler zuckte nach vorn, suchte reine Luft. Unwillkürlich kauerte es sich nieder. »Es wird losrennen - lass es durch!« Das Insekt sprang los, huschte an Blitz vorüber, streckte sich zu voller Länge und griff über das Treppengeländer in das Treppenhaus hinab. Es trat mit den schwarzen, schwertförmigen dritten Beingliedern um sich, die Klauen krabbelten über den Lack, der Blasen warf, und dann verschwand es in dem Rauchschwall. Sofort rannte ich hinter ihm her; Blitz schien verwirrt zu sein, also packte ich ihn beim Arm und zog ihn zu den Stufen. Wir holten tief Luft und stürzten hinab. Ich betastete mein Haar - es fühlte sich so heiß an, dass ich glaubte, es stünde in Flammen. Blitz hielt sich die Hand über den Mund, die Spitze seines Bogens kratzte über die Decke. Die steilen Stufen waren im Rauch so gut wie unsichtbar. Schweiß und Tränen tropften mir das Gesicht herab.
463 Wir stolperten ins Erdgeschoss hinab und landeten auf herabgefallenen Büchern, die den Boden zehn Zentimeter hoch bedeckten. Sie rutschten übereinander weg und machten ihn schlüpfrig. Ich führte Blitz um schief stehende hohe Regale herum, wobei wir angesengte Papyrusrollen zertraten, was sich anhörte, als würden wir alte Insektenhüllen zertreten. Sogar jetzt war ich noch hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, sie an mich zu reißen und dann erst weiterzurennen. Das Knistern des Feuers wurde zu einem stetigen Zischen, und sein roher orangefarbener Schein sprang hinter dem Rauch hoch und erhellte Rauchringe, die sich vor uns dahinwälzten. Gelbe Flammen breiteten sich zwischen den Parkettbohlen aus. In der Nähe der Fenster wurden die Flammen länger und neigten sich, da der Luftstrom sie zu den Läden hinaussaugte. »Krieg keine Luft«, sagte ich schwach. »Wo ... wo ist diese verdammte Tür?« Die unerträgliche Hitze sengte meine Federn an, meine gerötete Haut schmerzte. Die Seiten der offenen Bücher auf dem Boden rings um uns her wellten sich und verfärbten sich spontan braun. Gleich darauf sah ich eines in Flammen aufgehen. Ich zeigte auf das Rechteck aus bleichem Morgenlicht; wir rannten hinaus, ohne unsere Waffen bereitzuhalten. Aus dem Rauch herauszukommen, das war alles, was zählte. Die Männer, die den Ausgang bewacht hatten, lagen in ihrem eigenen Blut über das Mosaik verstreut. Wir überquerten die Schwelle, wobei der Rauch mit uns herausquoll. Einer war rasch an einem entsetzlichen Hieb gestorben, der ihm den Bauch bis zum Brustbein geöffnet hatte. Die Augen hatte er weit geöffnet. Ein weiterer lag zusammengerollt in einer roten Lache, die so dick war, dass das Insekt eine Arterie durchtrennt haben musste, obwohl ich die Verletzung nicht erkennen konnte. Ein wenig entfernt lag der Arm eines dritten Mannes neben einem Rapier. 464 Das Insekt hielt nicht inne, um sich die Mandibem zu säubern. Es war verwirrt von den Gerüchen und belebt von der frischen Luft. Seine sechs Füße hinterließen Abdrücke, seine Kniegelenke zogen sich zusammen und trennten sich wieder, als es auf die Fechter und die Senatoren zujagte, deren weiße Gewänder sich in seinen richtungslosen Augen widerspiegelten. Die Münder hatten sie vor Erstaunen weit geöffnet. Sämtliche Fechter, Tirrick eingeschlossen, rannten Hals über Kopf davon und ließen die Senatoren einfach stehen, so dass sie dem Insekt nun mitten im Weg standen. Blitz lehnte sich in seinen Bogen und zog mit der ganzen Kraft seiner Schultern den Broadhead-Pfeil bis zum Griff zurück. Drüben auf der anderen Seite des Platzes richtete sich das Insekt vor Felchen auf. Blitz streckte die Finger, ließ die Sehne mit einem Knall los, und der Pfeil fuhr zischend an mir vorüber. Die vorderen Klauen des Insekts peitschten durch die Luft, dann fiel es auf seine rechte Seite, wo es sich zusammenrollte. Die gewölbten Platten seines Unterleibs glitten übereinander, als es sich wand und drehte. Ein Zucken durchlief seinen Leib, es spannte sämtliche Gelenke an und zog die Gliedmaßen ein, wie die Beine einer toten Krabbe. Sie legten sich steif übereinander, so dass sich die Füße eng an die sechs halb durchsichtigen Kugelgelenke unter seinem Rumpf drückten. Neben der kreisrunden Vertiefung an der Basis seines Fühlers bildete Blitz' Pfeilschaft eine zweite. Die Hülle darum klaffte, ein offener Riss war entstanden, durch den ein Organ aus dunkelbraunem Gel sichtbar wurde. Die Senatoren sahen das Insekt ebenso wie die Bibliothek mit großen Augen an. Die ganze Gelehrsamkeit von Tris ging in Flammen auf. Ich stand vor der unerträglichen Hitze wie vor einer Bestrafung und breitete meine Flügel aus, um sie aufzunehmen und mich von ihr verzehren zu lassen. Hitze465 wellen rollten über uns hinweg, Regale zersplitterten unter Quietschen und Krachen. Fürchterliche Flammen wüteten in der Bibliothek, vor der ich so viel Respekt hatte; mir war abgrundtief schlecht. »Shira!«, rief Blitz. »Komm her, warum stehst du so nah dran? Sie fällt auseinander!« »Nein. Die Bücher brennen ... Was hat Gio getan?« »Reiß dich zusammen! Sprich mit den Senatoren!« Wie betäubt war ich und bekam deswegen nur halb mit, dass Blitz die trisianischen Anführer zum Boulevard hinüberwinkte. Hinter uns lagen die Truhen vergessen da. Ich dachte: Wenn ich das hier überlebe, werde ich sie mir unter den Nagel reißen. Die Trisianer würden in dem Schatz wertlosen Plunder sehen, also verzichtete ich für den Augenblick darauf, und ging, einen großen Bogen um das Insekt schlagend, zu den drei oder vier Rebellen mit den Pfeilen in den Oberschenkeln hinüber. Sie litten entsetzliche Qualen, und dennoch musste ich laufen, um sie einzuholen. Wieselgleich rannten sie den Pfad hinab und sahen sich immer wieder entsetzt um. Felchen bemühte sich, einen der Senatoren festzuhalten, eine junge Dame. Sie trat um sich, biss und kämpfte verzweifelt, wollte sich losreißen und hinüber zur Bibliothek rennen. Ich lief hin, um zu helfen, aber Felchen fauchte mich an: »Sie ist Danios Nachfolgerin. Ich lasse sie nicht los; sie wird ins Feuer hineinrennen. Jedes Mal, wenn du hier auftauchst, bringst du unseren Bibliothekarinnen den Tod.« Wir versuchten, die hysterische junge Frau zu beruhigen. Ich erklärte es Blitz, der freimütig erklärte: »Ich weiß, wie sie empfindet. Menschen sterben, es gibt stets weitere, aber Bücher sind unersetzlich. Sie sind der unsterbliche Teil der Zaskai - wie viele Leben verbrennen da drin jetzt zu Schutt und Asche?« 466 Zu Felchen sagte ich: »Ihr habt gesehen, wie Gios Männer Euch behandelt haben. Sie sind Ursache für diese Katastrophe, nicht wir. Wir werden Euch von ihnen befreien, bevor sie die übrige Stadt zerstören. Blitz hat das Insekt erschossen. Wir sind ausgesandt worden, Euch vor ihm und vor Gio zu beschützen; in Vierlanden ist er
ein gesuchter Verbrecher.« Verwirrt richtete Felchen das spitze, robuste Gesicht von meiner Person weg auf den Bogenschützen. Der Senat hatte Gios Rhetorik so sehr in den Himmel gehoben, dass es ihm jetzt schwerfiel, unseren Taten zu vertrauen. Während ich rasch dahinging, scharten sie sich eng zusammen und versuchten, über dem Prasseln der Flammen hinweg etwas zu hören. Unter ohrenbetäubendem Quietschen und Krachen sank das Dach der Bibliothek in der Mitte ein. An beiden Seiten baumelten Scheite wie Finger herab. Glühende Dachziegel rutschten in den Spalt, was noch weiteren Lärm verursachte; das Gepolter wurde zu einem Gebrüll. Funken wirbelten auf und fielen auf das Dach des Senatsgebäudes. Es war hypnotisierend. »Jant«, sagte Blitz. »Sag ihnen, dass ich sie an einen sicheren Ort bringe. Anschließend werde ich die Straße bis hinauf zur Nachhut von Gios Marschkolonne von Plünderern säubern.« »Geht's dir gut genug dafür?«, fragte ich. »Ich glaube schon.« »Dann fliege ich hinüber zu Raa und Serein und treffe dich an der Hauptstraße.« Ein älterer Senator fragte hustend und krächzend: »Was ist los? Wo ist Gio?« Die Sprache wechselnd gab ich zur Antwort: »Er ist Ursache für das Chaos - ich werd's herausfinden. Blitz wird Euch helfen. Führt ihn bitte zu einem sicheren Rückzugsort. Es tut mir leid, es tut mir aufrichtig leid.« 467 Mit zitterndem Finger zeigte Felchen auf den Amarot. Mittlerweile leckten Flammen aus dem Dach des Senatsgebäudes. Vom Wind zur Weißglut entfacht, breitete sich das Feuer über die Wohnungen im Obergeschoss aus und verschlang sie. »Keine noch so große Entschuldigung wird je dieses Sakrileg wiedergutmachen können.« Als wir die Basis der Felsspitze erreichten, wies Felchen Blitz zu einer Straße mit Namen Erste Straße. Ich verließ sie, und sobald ich in der Luft war, merkte ich, dass ich heftig gegen den Wind ankämpfen musste, der mich in das Inferno hineinsaugen wollte. Er peitschte in Böen von einhundert Kilometern pro Stunde um die Felsspitze und entfachte eine aufrecht stehende, wirbelnde Flammensäule von achtzig Metern Höhe über der zerstörten Bibliothek. Auf Höhe des Amarot lag der Rauch schichtenweise und trieb allmählich immer weiter hinaus. Er legte sich vor die aufgehende Sonne und beschattete die Stadt. Brennende Scheite fielen in die Gärten der Villen darunter. Die weiß verputzten Wände wirkten grau, und der Boulevard war übersät mit Schutt und zerbrochenem Mobiliar, das die Rebellen herausgeschleppt hatten; hier und da lagen Leichen von Trisianern, die versucht hatten, sie daran zu hindern. Schläfrige Einwohner kamen auf die Straße herausgestolpert, sahen zur Felsspitze hinauf und versuchten zu verstehen, was da vor sich ging. Am Stadtrand gerieten die Leute in Panik und machten sich zum Hafen auf. Ich sah Kapharnai jeglichen Alters, die dem Ruf nach Mitwirkung bei einer Eimerkette folgten. Etwa zweihundert Leute füllten Eimer, Pfannen und Schüsseln aus Zisternen und trugen sie die gewundene Straße zum Amarot hinauf, aber die Luft war nicht atembar; die aufsteigende Hitze und der Wind brachten die Leute zum Stehen, bevor sie das Mosaik erreicht hatten. Ein 468 paar der bewegungsunfähigen Rebellen, die nach wie vor inmitten der Geldtruhen lagen, drehten und wanden sich, während sie den Rauch einatmeten und Kleidung und Haar sich spontan entzündete. Ich stieg höher, weil ich die Kapharnai erschreckte und sie ihre Zeit damit verschwendeten, mich zu beobachten. Ich verlor den pfirsichfarbenen Himmel jenseits der Rauchwolke aus den Augen. Taubenschwärme fegten um die winzigen Dachfirste und ließen sich, verwirrt von dem unheimlichen Schein, erneut zum Schlafen nieder. Die Dämmerung wollte nicht weichen; das Licht war so schwach, als ob es immer noch sieben Uhr früh wäre. Die Plünderer schwärmten in der Oberstadt aus, traten Türen ein, hebelten Läden aus den Angeln und ließen einen Strom aus Müll, bellenden Hunden und halb verzehrtem Essen zurück. Buchseiten und geschwärzte Flugschriften, Fragmente von Papyrusrollen, im Feuer ganz dünn geworden, rempelten sich im Rauch in der Luft gegenseitig an und fielen schließlich als heiße Asche auf die Stadt herab. Überreste hunderttausender Bücher regneten auf Kapharnaum. Die überreizten Rebellen waren nicht das Einzige, hinzu kam noch der Dämmerschein und das Tosen in der Bibliothek, das viel lauter war als das Geräusch des Windes auf meinen Flügeln. Gios Räuberbande drängelte sich jetzt in der unteren Hälfte der Hauptstraße und blockierte die breite Fahrbahn. Ihnen voran schritt Gio mit gezogenem Rapier. Seine Kolonne war doppelt so groß wie Raas dichte Reihen. Ihr Heerbann kam die Straße von der Sturmschwalbe aus heraufmarschiert. Die Bootsmänner trommelten; ihre Schläge wurden lauter, als ich an Höhe verlor und über sie hinwegstrich. Ich entdeckte Raa, die an der Seite Zaunkönigs die Soldaten anführte; sie schaute auf und hob die Hand. Ihr 469 Halstuch hatte sie sich um die Taille geschlungen, so dass ein Kürass und eine Rückenplatte sichtbar wurden. Zaunkönig trug keine Rüstung, sondern den Kampfdrillich seines Heerbanns. Er hielt Ausschau nach Gio, da er nach wie vor unzufrieden mit ihrem unehrenhaften Duell im Wald und nun entschlossen war, Gio auf gleicher Augenhöhe zu schlagen, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er, Zaunkönig, die Unsterblichkeit verdient hatte.
Raa war auf allen Seiten von Armbrustschützen sowie einer Leibwache ihrer stärksten Matrosen umgeben, alle in Halb-Rüstung. Ihnen folgten einhundertfünfzig Männer aus Awendin mit Hellebarden und Speeren; für Piken war kein Platz. Sie trugen dunkelgrüne Brigantinen; ihre Helme blitzten wie kugelförmige Spiegel. Die Nachhut von Atas Marschkolonne blieb am Kai stehen, und die Übrigen trennten sich von ihr und marschierten weiter die Straßen hinauf. Sie hatte etwa fünfzig Mann, die Lamai-Einheit eines Heerbanns, zum Schutz der Sturmschwalbe zurückgelassen, die etwa einhundert Meter hinter Gios Schiffen lag. Sowohl vom Vorschiff als auch vom Achterdeck spähten Bogenschützen hervor. Beide Fallreeps waren herabgelassen, aber farbige Schilde säumten die Reling. Die Langbogenschützen beobachteten angespannt die abtrünnigen Rebellen, die mit Beute beladen aus den Einmündungen der Straßen gerannt kamen. Sie liefen das Fallreep der Pfau auf ein Deck hinauf, das ein Meer aus gezogenen Waffen darstellte; weiße, von der Furcht hässlich verzerrte Gesichter starrten zu mir herauf. Sie waren Piraten geworden; sie waren darauf vorbereitet, ihre Karacke bis in den Tod zu verteidigen. Als Gios Bande Raas Vorhut zu Gesicht bekam, lösten sich die Rebellen allein oder zu zweit aus der Marschkolonne und verschwanden in den Gassen und Straßen. Sie zogen nach links 470 und rechts wie Figuren auf einem Brettspiel, und ich kam zum Schluss, dass ihre Bewegungen zu zufällig für Taktik waren, noch bevor ich sah, wie sie herabgelassene Jalousien von Geschäften einschlugen und alles im Innern mitgehen ließen. Raas Heerbann und Gios Horde blieben keine zwanzig Meter voneinander entfernt stehen. Es folgte eine Sekunde des Schweigens, während derer Gio, den Schild am Arm, aus seiner Reihe heraustrat, die Leute ihm gegenüber musterte und offenbar nach Zaunkönig suchte. Der Hauptmann des Heerbanns von Awendin rief: »Armbrustschützen! Spannen. Einlegen. Abschießen!« Alle Mann schössen aus kurzer Entfernung direkt auf die Rebellen in vorderster Reihe. Sie zielten dabei auf die Fechtmeister, da diese die Gefährlichsten waren. Die metallenen Bolzen, die Insekten töten konnten, sausten an den Markisen der Geschäfte und an Statuen vorbei und gruben sich in die Gesichter, Brustkörbe und Bäuche der Männer. Ich sah schwarze Bolzenspitzen aus Rücken herausragen. Auf einen Ruf hin traten die Kampfgefährten der Armbrustschützen vor, hoben ihre grünen und weißen Schilde zu einer Mauer und eilten über die Straße in Position. Dahinter luden die Armbrustschützen ihre Waffen nach. Gios Männer warteten voller Entsetzen auf die nächste Salve. Köpfe gingen auf und nieder, als einige Männer sich in die Seitenstraßen davonmachten, aber die meisten waren in der Mitte gefangen. Die Schilde wurden gesenkt, die Armbrüste gehoben. »Spannen! Schießen!« Eine weitere Salve flog Gios Frontlinie entgegen. Der letzte Fechtmeister fiel, leblos oder tödlich verletzt. Gio spähte hinter seinem Schild hervor, schwang den Arm. »Vorwärts! Durchbrecht die Mauer! Reißt die Schilde herab!« Eine Welle von dreihundert Männern setzte sich in Bewe471 gung. Die Front der Kolonne schien abzublättern, als sie immer schneller die trennende Kluft überbrückten. Sie sprangen hoch in die Luft, traten mit voller Wucht in die Schilde, schlugen mit den Schultern dagegen und drückten sie gewaltsam nach unten. Ihre Schwerter stießen sie in Hälse und Gesichter der Schildträger. Die Armbrustschützen verstauten ihre Waffen in den Holstern auf ihrem Rücken und gingen nun mit gezogenen Schwertern gegen die Rebellen vor. Die verwirrte Menge schob und drängte die Straße hinauf und hinab. Ich erkannte, dass Atas Speerträger in der Nachhut ihres Heers gefangen waren. Das war bestimmt ein Fehler wären sie nicht besser als die Armbrüste? Armbrustschützen hatten Ata vor fünf Jahren gut gedient; jetzt verließ sie sich allzu sehr auf sie. Die Schildmauer war perfekt, aber sie sollte von Speeren gestützt werden. Der Heerbann folgte schlicht seiner üblichen Vorgehensweise: der Taktik des Insektenkampfs. Das war ein Irrtum, aber selbst Ata war der Unterschied nicht aufgefallen. Sowohl der Heerbann als auch die Aufständischen versuchten, einander zu umgehen. Von oben beobachtete ich, wie sich die Seitenstraßen füllten. Im selben Ausmaß, wie sich das Handgemenge verbreitete, wurden die Kolonnen auf dem Boulevard kürzer. Zaunkönig und Gio befanden sich genau im Zentrum. Ich rief den Heerbann an, der die Gassen durchsuchte, und führte sie den richtigen Weg, um den Rebellen, die mehr an den Kampf in Seitenstraßen gewöhnt waren, einen Hinterhalt zu legen. Dann landete ich und dirigierte eine Gruppe; wir überraschten fünf von Gios Männern, bevor sie sich wieder mit der Hauptkolonne vereinen konnten, und töteten sie allesamt. Ich kehrte in die Luft zurück, von wo aus ich leicht Raas 472 Leibwächter ausmachen konnte. Gelegentlich erhaschte ich einen Blick auf ihr Gesicht, aber sie hatte inzwischen keine Zeit mehr, zu mir aufzuschauen. Der Druck war so heftig, dass sie ihr Krummschwert aus Waffenschmiede mit der konvexen Seite nach oben hielt. So konnte sie eher zustoßen als zuschlagen. Wann immer möglich, rief Gio seinen Rebellen zu, sollten sie Raa in die Enge treiben. In Unterland haben weibliche Soldaten stets erfolgreich gegen Insekten gekämpft. Das Ausmerzen folgt bestimmten Vorgehensweisen; die Frauen helfen einander, und Männer geben manchmal Rückendeckung. Die unterschiedliche Stärke war nicht so wichtig, wenn sich sechs oder sieben Infanterierekruten über ein Insekt hermachen konnten. Frauen können auch zur Kavallerie gehen und Streitrösser reiten. Aber bei diesem
Zusammenstoß kämpften sie eine Frau gegen einen Mann, und ich machte mir ernstlich Sorgen um sie. Die ganze Straße hinab spähten Familien der Kapharnai aus den Fenstern über den Geschäften. Sie waren in ihren Häusern gestrandet und wurden Zeugen von etwas, das sie kaum verstehen konnten, sie sahen auf Männer hinab, die entlang der Front in der Mitte rangen und aufeinander einstachen, und hinter ihnen füllten Banden seltsam gekleideter Fremder die Straße oben und unten, so dass sie weiteren Druck auf das Gewühl ausübten, in dem man kaum noch Luft bekam. So eifrig waren die Fremden darauf bedacht, zum Ort des Kampfes zu gelangen, dass sie sogar über Leichen hinwegtrampelten. Am Ende der Straße loderten Flammen aus dem Behördenviertel, und Rauch brodelte wie Speichel in Lampenöl. Die hilflosen Kapharnai wussten offenbar gar nicht, was sie tun sollten, also schrie ich: »Bleibt in euren Häusern! Mischt euch nicht ein -sie kämpfen gegeneinander, nicht gegen Trisianer!« Sie sahen, wie ihre eigenen Geschäfte unter ihnen geplün473 dert wurden. Ihre Gesichter verschwanden von den Fenstern, als sie sich in den oberen Räumen verbarrikadierten. Ich schaute mich um; die Bibliothek war jetzt eine dachlose Hülle, die Böden waren herabgefallen, und nur die Fassade stand noch; mit den Flammen, die aus den Fenstern leckten, und dem geschwärzten Stein darum sah sie aus wie ein tänzelndes Skelett. Blitzende Funken und glanzlose Asche regneten leicht auf uns herab. Ich schlug mit den Flügeln, um Flocken von den Federn zu schütteln, und dachte: Die Stadt wird von verbranntem Wissen zugedeckt. Auf der Suche nach Zaunkönig schob Gio seine eigenen Männer beiseite. Ich landete zum Beobachten auf dem nächsten Dach und suchte in der Gasse unter mir nach einer Armbrust, die ich mitnehmen könnte. Gio erspähte mit wildem Blick Raas Leibwächter und daneben Zaunkönig, niemand sonst in unmittelbarer Umgebung, weil sich kein Kämpfer mit ihm einlassen wollte. Gio hob sein Rapier zum Gruß. »Na, sieh mal, wenn das nicht der Anfänger ist!« »Guten Morgen«, sagte Zaunkönig lächelnd. »Du hättest dir bessere letzte Worte aussuchen können«, knurrte Gio. Der Zweikampf ums erste Blut im Amphitheater war ein reines Vergnügen gewesen; in einem Duell auf Leben und Tod gibt es keine Regeln. Sie beobachteten einander in kühler Erwartung; Kapharnaum existierte für sie nicht mehr, denn sie waren in einer Welt von zwei Männern gefangen: Herausforderer und Herausgeforderter. In dieser Welt existieren keine Worte. Das weiß ich, weil ich dort gewesen bin. 474 Gio ließ sein Rapier wütend herabsausen. »Du hast mir meinen Namen gestohlen«, sagte er. »Ich werde wieder Serein sein. Ich bin gut genug. Ich fordere dich heraus, Serein Zaunkönig.« Zaunkönig hob seine Klinge. »Lauf einfach hier rein und erspare mir die Mühe.« Ich hob ab und stieg durch den ohrenbetäubenden Schlachtenlärm auf, bis ich über ihnen stand. Sie gaben es auf, andere Stile vorzutäuschen, um ihren eigenen zu verbergen. Blutrünstig flogen sie aufeinander zu. Gio wollte auf Zaunkönig einschlagen; gleichzeitig versuchte ein Umstehender, ihn zu erwischen, aber Zaunkönig schlug ihm mit dem Knauf des Rapiers die Zähne ein. Zaunkönig warf sich seinerseits auf Gio. Er wischte den Stoß mit einem Hieb beiseite, der eine geringere Klinge als das 1969er-Rapier hätte zersplittern lassen. Ich dachte: Wie lange können sie das beibehalten? Aber ich kannte die Antwort - mindestens vier Stunden lang. Gio richtete sein Rapier auf ihn, die Befestigungsschlinge locker ums Handgelenk. Er stieß auf Zaunkönigs Dolchseite zu. Zaunkönig zog sein Rapier herüber - Klirr! -, löste sich und zielte auf Gios empfindliches Schienbein. Gio sprang hoch und griff dann an. Zaunkönig parierte, griff seinerseits an, band Gios Klinge in Quart, tat so, als wolle er ihn auf den Arm schlagen, und versuchte, ihn durch die Stirn zu stechen. Gio wirbelte in einer Bewegung davon, deren Erlernen mich zwei Jahre gekostet hatte. Seine hohen Stiefel glitten über das Pflaster. Er versuchte, vier oder fünf Züge von Zaunkönigs Aktionen vorauszuberechnen. Im Bruchteil einer Sekunde ließ Zaunkönig seine Rapierspitze durch Gios Rapiergriff gleiten, schnitt ihm die Haut von den Knöcheln und zog die Klinge wieder zurück. Blut strömte herab, und Gios Hand wurde glitschig. Er verbarg die 475 Schwerthand mit seinem Dolch, so dass Zaunkönig die Richtung seines nächsten Stoßes nicht vorhersagen konnte. Beide vollführten weite Bewegungen; die Köpfe hatten sie eingezogen, damit sie keinen Hieb in die Augen erhalten konnten, und beobachteten einander lieber aus dem Augenwinkel, weil man so rasche Bewegungen besser erkennen konnte. Die gespannten Schwertarme hielten sie zur größeren Kraftentfaltung eng an den Körper gedrückt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hackten sie auf die Feinde gleich neben sich ein, und diese wichen vor ihnen zurück und machten ihnen Platz. Der Kampf breitete sich jetzt weiter die Straße hinauf und hinab aus, und einzelne Gruppen von Männern zerstreuten sich in den Seitengassen. Am dichtesten wogte der Kampf um Atas Leibwache herum; Speerträger hinten, Rebellen vorn. Fünf Matrosen hielten die Arme ineinander verschränkt, um ihr Raum zum Atmen zu verschaffen.
Lasse ich mich so von dem Duell vereinnahmen, bin ich hier zu nichts nutze, sagte ich mir. Ich brauche eine Fackel, die ich auf Gio fallen lassen kann. Ich flog zurück, um Blitz zu suchen. Das war einfach, weil er die einzige Person in der Kleidung von Vierlanden war, die mitten auf der breiten Straße entlangging. Hinter ihm stieg die Straße den Hügel hinauf, dahinter loderte das unglaubliche Feuer. Die Kapharnai mit ihren weinenden Kindern, Eimerketten und Packen mit Habseligkeiten sah er gar nicht. Er schoss unbeirrt auf die kleinen Gruppen von Rebellen. Piraten waren sie geworden, die bloß noch ihre verschiedenen Absichten verfolgten. Einige wüteten wie die Wölfe; ein Mann zog die goldene Strebe an einer Straßenlaterne herab; zwei Wüstlinge wurden von einem trisianischen Mann in Schach gehalten, der seine Tochter verteidigte. Blitz ging nur noch langsam, um keine unnötige Energie zu vergeuden. Er zog das linke Bein nach und hielt seinen 476 mächtigen Bogen waagerecht mit aufgelegtem Pfeil, den Handballen an der Wange. Auf kurze Distanz schoss er Pfeile mit weißer Befiederung auf die Plünderer ab. Jeder, der eine Jalousie anrührte oder ein Haus mit einem Arm voller Gold verließ, erhielt einen Pfeil durch Bizeps oder Hüfte, der ihn wild um sich schlagend zu Boden schickte. Ich glitt über ihn hinweg, landete in vollem Lauf und kam neben ihm zum Stehen. »Gio und Zaunkönig duellieren sich! Ata steckt mitten im Gewühl - wir müssen ihr helfen!«, rief ich. Ich zog mein Schwert, und wir rannten weiter den Hügel hinab zu der Rotunde auf halber Strecke. Blitz schoss nach wie vor. Er verfehlte niemals sein Ziel und zählte unterdrückt mit: »Fünfundfünfzig. Vierundfünfzig. Drei ... Zwei ...« Ich musterte die Fenster auf jede Bewegung hin, die mir am Ende ein Messer im Rücken bescheren mochte. Jenseits des Forums kamen wir an einem Bezirk mit schmalen Straßen vorüber. Gleich in der nächsten sahen wir eine Bande von Rebellen, die sich gegen eine solide Tür warfen. Der erste war ein wieselhafter Mann in bauschigen Jeans mit tief angesetztem Schritt. Er hielt die Schulter gegen die nachgebenden Bretter gestemmt, und die anderen unterstützten ihn mit ihrem Gewicht. Sie bemerkten Blitz und mich, erneuerten jedoch ihren Angriff auf das Gebäude. Aus dem Innern kreischten Frauen etwas auf Trisianisch, allerdings so schnell und mit einem solchen Dialekt, dass ich kein Wort verstand. Aus einem Fenster im ersten Stockwerk warf eine elegante Dame mit Lockenkopf, einem weißen Chiton und roten Fingernägeln Terrakottageschirr auf die Belagerer hinab, die sich zum Schutz die Arme über den Kopf hielten und weiter drückten. »He!«, schrie Blitz. »Weg von der Tür da! Jant, was rufen sie? Was ist das hier?« 477 Ich las eine winzige Inschrift auf einem Steinblock in der Mauer: Salema's Imbroglio. »Es ist ein Imbroglio; auf Trisianisch, meine ich. Ein Bordell.« Der Bogenschütze hob die Brauen. »Verstehe. Dann müssen wir die Ehre dieser Damen retten - ungeachtet dessen, ob sie irgendwelche Ehre haben oder nicht.« Er zielte auf den schmalgesichtigen Awianer. Ein Pfeil fuhr direkt durch das Bein des Mannes und weiter in die Tür. Der Schaft rief ein schrilles Knirschen von Holz auf Knorpel hervor, trieb dem Mann den Jeansstoff ins Knie und nagelte ihn glatt fest. Er versuchte einen Schritt nach vorn, kam jedoch nicht los. Kreischend hämmerte er mit den Fäusten und dem freien Bein auf die Tür ein. »Ist was?«, fragte sein Kumpel, der wohl etwas schwer von Begriff war. »Zieh ihn raus!«, schrie er. »Das kannst du nicht, er hat einen Widerhaken.« Blitz spannte seinen Bogen. »Und wenn du's versuchst, töte ich euch beide.« Die Bande wich zurück, nahm dann die Beine in die Hand und rannte in Richtung auf das Forum. Blitz rief den Huren zu: »Ich verspreche euch, es wird euch nichts geschehen.« »Tut mir leid!«, bettelte der Möchtegern-Vergewaltiger und beugte sich vor, beide Hände über die Knie gelegt. »Allerdings wird dir das leid tun«, bemerkte Blitz ohne den Pfeil zu bewegen, der auf ihn gerichtet war. »Habicht, was tust du da?«, fragte ich beunruhigt über diese Veränderung. Dem Vergewaltiger traten die Augen aus den Höhlen. Er trat mit dem linken Bein aus, und seine Schuhsohle fuhr kratzend über die Stufe. Er stotterte: »Nicht, nicht! Ich werde ...« »Was genau wirst du?«, fragte Blitz, den der donaisische 478 Akzent des Mannes in blinde Wut versetzte, und schoss den Pfeil ab; er nagelte das linke Bein des Wüstlings an einem Brett fest. Die Kniescheibe setzte ihm ein wenig Widerstand entgegen, aber er fuhr leicht zwischen den ausgeprägten Oberflächen der Gelenke dahinter hindurch und teilte das Holz. Der Pfeilkopf war ein glänzender Knauf auf dem abgeflachten, weichen Knie. Blitz wählte einen weiteren Pfeil. »Meine Karte. Schließlich musst du daran erinnert werden, wer wir sind.« Er schoss erneut und nagelte den rechten Ellbogen des Mannes an der Tür fest. Ein Splitter des gebrochenen Knochens löste sich klickend von der Metallspitze, die an ihm vorbeisauste. Der Vergewaltiger heulte und schluchzte. »Warum? ... Washabichgetan?« Er wandte den Kopf ab und übergab sich. »Du weißt, wer wir sind!«, donnerte Blitz. »Aber du musst immer noch betteln, du musst bitten! Du glaubst, Tris
sei außer Reichweite des Schlosses! Du nutzt diese freundliche Stadt schamlos aus!« Ehe ich Blitz daran hindern konnte, zog er einen vierten Pfeil heraus. Wohl kaum, weil er Gefallen daran fand. Ich stellte mich eilig vor ihn. »Aufhören! Bist du von Sinnen?« Mit steinernem Gesicht zielte er über meine Schulter. »Der Flegel hat noch einen Ellbogen übrig ...« »Lass ihn in Ruhe!«, rief ich. »Vergewaltigung ist das schlimmste aller Verbrechen«, brummelte Blitz. Er schüttelte sich und sah zu den wunderschönen Huren auf, die zuschauten, einige furchtsam, einige unverschämt. »Übersetze für mich, Jant«, sagte er und rief: »Na gut, Mädchen. Tut mit ihm, was ihr wollt!« Wir ließen das tierische Gebrüll des Mannes hinter uns. Die Kapharnai in ihren Hauseingängen beobachteten uns voller Entsetzen. Für sie waren Blitz und ich ebenso schlimm 479 wie die Rebellen. Ein junger Bursche, dessen Hose mit dem Blut eines anderen bespritzt war, lief uns vom Platz aus entgegen. Er starrte uns hasserfüllt an und schwang eines unserer Breitschwerter wie einen Tennisschläger. Blitz zögerte. Ich schleuderte meine Haarsträhnen zurück, breitete meine Hände mit den doppelten Gelenken sowie die Flügel aus und brüllte: »Groaaar!« Kreischend suchte der Bursche das Weite. Blitz war beeindruckt. An der nächsten Kreuzung stand einer der unidentifizierbaren Pfähle, den eine rechtwinklig angebrachte schwarzweiße Holzstange krönte. Ein Mann verschob Hebel, die an Drähten zogen, die wiederum die Stange in wohl definierten Bewegungen auf und nieder schwingen ließen, so ähnlich wie eine Flagge. Dabei sah er die Straße hinauf zu einem anderen Pfahl am Fuß des vom Rauch verdeckten Amarot und folgte genau dessen Bewegungen. Eine Sekunde später wiederholte ein dritter Apparat in der Ferne am Stadtrand diese Signale. Ich begriff, dass es mitnichten Standarten waren; es war ein Kommunikationssystem und rascher als alles, was ich zu bieten hatte. Selbst inmitten des Chaos dachte ich: Diese Neuerung werde ich mir zu eigen machen. Ich werde dieses System anstelle der Leuchtfeuer auf die Wehrtürme von Unterland setzen, um das Vorrücken der Insekten zu überwachen, bevor mir jemand anders damit zuvorkommt. Wir erreichten die Rotunde an der Kreuzung zweier Hauptstraßen, ein sinnloser Prachtbau von kaum Zimmergröße. Runde Säulen stützten Bögen, die dem Boulevard, der Nord-Süd-Straße und wieder dem Boulevard zugewandt waren. Jemand hatte große Stücke von den Innenwänden gehackt, die mit blauen Edelsteinen verziert waren. Eine Frau in einem Soldatenmantel mit hochgeschlagenem 480 Kragen stemmte energisch Rechtecke mit Saphiren aus dem Mosaik. Beim Anblick von Blitz' Pfeil, der auf sie gerichtet war, wich sie zurück, warf ihr Messer hoch, fing es an der Spitze auf und tat so, als würde sie es nach ihm schleudern. Blitz schwang den Bogen leicht nach links und schoss auf den Rand der nächsten Säule. Der Pfeil traf im schrägen Winkel auf, prallte ab und flog in das schattige Innere weiter. Sie spürte den Wind, als er an ihrem Gesicht vorbeisauste, stürmte aus dem Nordbogen und jagte mit flatterndem Mantel durch die Bestuhlung der leeren Teeläden davon. Blitz verneigte sich - er konnte sich sogar sarkastisch verneigen. Die Nachhut von Gios Kolonne war zweihundert Meter unter uns auf der Straße. Wir sahen die Hinterköpfe, die Spitzen der Sallets oder Knoten von Bandanas im Nacken. Zwei Männer in der letzten Reihe bemerkten uns, stießen ihre Freunde an, und die Bewegung lief wie eine Welle weiter, bis sich alle in der Nachhut umdrehten. Zunächst wollten sie uns bloß beobachten, bis ein Mann mit einem Ausdruck des Hasses einen Bolzen aus seinem Gurt zog, seine Armbrust anlegte und sie an seine Schulter hob. Sogleich folgten ihm neun oder zehn weitere; ich duckte mich in die Rotunde, aber Blitz stand still und ungläubig da. Ich drängte ihn: »Komm rein!« Blitz schüttelte den Kopf, als die Männer schössen und uns eine Salve von Bolzen entgegengeflogen kam. Da wir außer Reichweite waren, fielen sie herab und blieben im Pflaster stecken. Abgebrochene Teile rutschten weiter bis knapp zwei Meter vor Blitz' Füße. Er trat dagegen, wie um zu überprüfen, dass sie wirklich echt waren und er sich nichts einbildete. Seine Stimme klang betrübt, als er fragte: »Was habe ich getan, dass ich all das verdiene? Sie glauben, sie können mich beim Schießen übertreffen. Ich versuche, mit ihnen zu verhandeln.« »Mit ihnen redend« Ich hielt inne, weil Blitz eine Hand voll 481 Pfeile ergriff, lange dünne Schäfte mit steifen dreieckigen roten und gelben Federn. Er hielt sie zusammen mit dem Griff seines Bogens fest und schoss sie rasch nacheinander auf die Linie. »Zwanzig, neunzehn, achtzehn.« Eine weitere Hand voll. »Siebzehn, sechzehn, fünfzehn.« Die Rebellen rannten, als stünde ihnen der Hintern in Flammen. Am Ende lagen sie jedoch alle stöhnend oder kreischend auf dem Boden. Die Leute in der nächsten Linie zeigten auf uns und liefen dann los. Sie mussten auf uns zulaufen, um die leeren Mündungen der Seitenstraßen zu erreichen. Die Hornspitzen von Blitz' Langbogen zitterten. Er senkte ihn, holte tief Luft und warf einen Blick auf die brodelnde Front hinab, wo Gio und Zaunkönig immer wieder auftauchten und verschwanden. Seine Beine zitterten, und er war bleich vor Schmerz. Ich beobachtete, wie die Leibwächter der Seefahrerin, in Dunkelblau und gepanzert, auf die Rebellen
einschlugen, Ata dicht dahinter. Aus Gios Mob stieg ein Speer in die Höhe, fiel senkrecht herab und traf Raa auf die Brustplatte, so dass sie ins Stolpern geriet. Sie war unverletzt geblieben, hatte jedoch das Gleichgewicht verloren. Der Mob drängte vor, und sie geriet unter seine Füße und verschwand. Ihre Leibwächter wichen zurück und versuchten, aufrecht stehen zu bleiben, indem sie sich gegenseitig um den Leib packten, was sie im Endeffekt jedoch alle zu Boden zog, wodurch sich ein Loch in der Menge öffnete. »Aufstehen!«, sagte ich. »Rasch, Habicht! Schieß!« Blitz schoss jetzt, um zu töten. Er zielte auf die Rebellen, die auf Ata standen. Es waren die treffsichersten Salven, die mir je zu Gesicht gekommen waren: ein Pfeil alle zwei Sekunden. »Aufstehen! Steh auf.«, brummelte er. Die Rebellen fielen rings um die Stelle, an der Ata zu Boden gegangen war. Er pflückte sie aus dem Gedränge heraus, 482 wo sie so dicht beieinander standen, dass zwischen ihnen kein Platz mehr war. Sie konnten nicht einmal die Schilde heben. Die Pfeile trafen jetzt immer und immer wieder dieselben Männer; tote Leiber, die einfach aufrecht stehen blieben und deren Köpfe und Schultern mit den zweifarbig gefiederten Pfeilen gespickt waren, aber Ata und die Männer, die auf sie einstachen, waren darunter. Wir konnten sie nicht erkennen. Die Leibwächter versuchten, sich voranzuschieben; sie stachen die Rebellen vor sich in Brust und Unterleib. Sie schrien und zerrten an der Kleidung der Männer zu beiden Seiten und bedrängten sie, weiter vorzustoßen. Blitz zischte vor Wut. »Ich bekomme keine freie Sicht. Neun. Acht. Sieben. Aus dem Weg!« Sein Köcher war nahezu leer. Die Enden seines Bogens bebten; rasend schnell griff seine rechte Hand nach den kurzen Pfeilen und legte einen auf die Sehne. Umfasste die Sehne mit drei gekrümmten Fingern. Zog sie an seinem Ohr vorbei bis zur Seite seines Kopfes. Schwang die Schultern zurück für ein paar zusätzliche Zentimeter. Er schoss mit unermüdlicher Geschwindigkeit, aber um seine geschürzten Lippen zeigten sich Furchen. »Fünf, vier, Jant, bereite dich vor; der Kreis wird zerbrechen.« Zaskai machen Raa nieder. Und ich kann nichts dagegen tun! Ich versuchte, den Anfang zu spüren - konnte es nicht —, und es traf mich voll. Zeit raste an uns vorüber; ich fühlte mich in der Mitte entzweigerissen. Mein Bewusstsein jagte hinaus, breitete sich in sämtliche Richtungen aus. Es streckte sich, wurde flach, dünner und unendlich dünn, bis meine eigene Identität und Individualität schwand. Ich verlor das Bewusstsein für meine Umgebung. Ich hörte auf zu existieren. Ruckartig formte sich der Kreis neu. Ich erwachte und sah blinzelnd auf die zerstörten Schaufensterfronten und die blaue Kuppel über mir. 483 Es war so rasch geschehen, dass ich immer noch auf den Beinen stand, aber ich hatte mein Schwert fallen gelassen. Mir war kalt, ich war mir meines Körpers und des Schlachtenlärms sehr bewusst. »Drei, zwei ...« Blitz hielt mit einem Pfeil auf der Sehne inne. »Ich ... ich bin immer noch hier«, sagte er wie im Delirium. Wir sahen einander an, voller Entsetzen über Atas Tod. »Getötet von Zaskai«, flüsterte er. Mitten im Gewühl geriet Serein Zaunkönig ins Stolpern. Neu im Kreis, verstand er nicht, was geschehen war. Gio andererseits war es gut bekannt. Er nutzte die Situation aus und hieb auf Zaunkönigs Stirn ein, zog ihm eine rote Linie über die Schläfe, um ihn mit Blut zu blenden. Zaunkönig kam wieder zu sich und wollte sich verteidigen, konnte jedoch, da er sich erst wieder sammeln musste, bloß zurückweichen. Gio hieb weiter auf sein Gesicht ein, um ihn noch nervöser zu machen. »Serein!« Blitz hob wiederum seinen Bogen und schoss einen Pfeil hoch über die gesamte Marschkolonne der Rebellen. Ich hatte so gerade eben noch erkennen können, dass jemand Serein von hinten gepackt hatte. Zaunkönig, der nach wie vor ziemlich durcheinander war, kämpfte darum, sich zu befreien. Der Pfeil schoss gerade auf den Kopf des Angreifers herab; der Mann brach zusammen. »Einer.« Blitz legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens. Von hinten wollte ein Mann in einer bemalten Lederjacke Zaunkönig mit einem Krummschwert anfallen. Blitz spannte und ließ los; der Pfeil durchbohrte die Stirn des Mannes, und er fiel gegen Zaunkönig. Die Menge begriff, dass jeder, der sich Zaunkönig näherte, einen Pfeil zwischen die Augen bekam, und überließ die Duellanten sich selbst. 484 »Serein ist ein Eszai und muss sein Duell allein gewinnen«, keuchte der Bogenschütze. »Aber ich habe dafür gesorgt, dass der Kampf auf gleicher Augenhöhe stattfindet; heute werden keine zwei Eszai ermordet.« Der Saum seines Hemds war voll gesogen von Blut; es breitete sich über seine Hose aus. Dort, wo Raas zerstückelter Leichnam zertrampelt wurde, hob jemand eine Hellebarde, auf deren Spitze ihr Kopf steckte. Ich erkannte ihn nur an dem kurzen weißen Haar, so zerfetzt und zerrissen war er. Der Stiel drehte sich, und der Kopf wandte sich uns zu. Die indigoblauen Augen waren nach oben verdreht, der Mund stand offen, die Nase war flachgedrückt und blutig. Die Beine gaben unter Blitz nach. Stolpernd kehrte er zur Mauer der Rotunde zurück, ließ sich davor nieder, lehnte sich dagegen und rutschte dann zur Seite weg, wobei er eine Blutspur nach sich zog. Ich half ihm dabei, sich wieder aufrecht hinzusetzen. Den Bogen hielt er über den Knien. Mit den Zähnen zog er sich die
Lederschlaufe von der rechten Hand und ließ sie fallen. Sein Gesicht war aschfahl. »Diese Tiere! Wie konnten sie das tun - sie zerreißen? Eine Eszai, und Zyans Mutter ... Unsterblichkeit nutzt im Gewühl gar nichts. Wir sind zu sehr an Insekten gewöhnt. Sie werfen nicht mit Speeren. Verdammt, fühlst du dich nicht, als ob du selbst gestorben wärest? Ich verabscheue das Gefühl, wenn ein anderer stirbt, ebenso wie das Gefühl, dass mich die Jahre einholen, die ich dem Tod abgeluchst habe. Du weißt ... wir werden alle eine Sekunde älter, bevor San den Kreis wieder schließt.« Er senkte den Kopf. »Du weißt, dass sich das bei mir zu Minuten addiert ...« Blitz legte sich die Arme um die Taille und presste voller Qual die Augenlider zusammen. Ich hockte mich neben ihn 485 und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Es war der Versuch, ihn wieder zu sich zu bringen, denn er war dabei abzudriften, und redete mit sich selbst. »Sie haben sie getötet. Ihre Pläne waren sinnlos ... Ich weiß nicht, was sie als Nächstes tun werden.« In diesem Zustand war er völlig kampfunfähig, und die Rotunde bot nur spärliche Deckung. Blitz wusste dies und strengte sich gewaltig an. Er legte seinen vorletzten Pfeil auf und zog sein Schwert aus der Scheide, obwohl er seine gesamten Kräfte aufbieten musste, um es anzuheben. »Warte ab und komm erst mal wieder zu Kräften«, meinte ich. Er nickte. »Ja. Ich werde versuchen, mich zu Rehgen durchzuschlagen ... Ich treffe dich auf der Schwalbe.« Er seufzte, das Kinn auf die Brust gelegt. Er dachte an Raa; die Wirklichkeit, die ihn traf, war ebenso lähmend wie die Verletzung. »Du und Serein, ihr müsst weitermachen. Tötet Gio, um Atas willen ... um meinetwillen. Ihr seid Eszai, und das ist euer Daseinszweck.« Ich wollte nicht, dass er sich mit weiteren Rebellen einließe, dazu sah er viel zu schlecht aus. »Bleib nicht hier. Diese Schweine werden herkommen. Geh ganz hinunter bis zum Ende der Fünften Straße, bevor du dich zum Hafen wendest. Am Stadtrand sind die Straßen ruhiger. Habicht, ich glaube wirklich ...« >»Habicht, ich glaube wirklich< - nichts da«, sagte er durch die zusammengebissenen Zähne. »In die Luft mit dir, und bring diesen Kampf zu einem, Ende« Er sah mir zu, wie ich zwei Stück juwelenbesetzten Putz aufhob, mit jeder Hand eines. Ich rannte los und hob ab. Wie ein Pfeil tauchte ich zu Gio hinunter und warf beide Steine nach ihm. Einer traf ihn auf seinen Flachskopf, der an486 dere auf den Unterarm, und er geriet ins Taumeln. Zaunkönig sprang vor und stieß zu. Gio rettete sich in letzter Sekunde mit einer sauberen Parade - die Rapiere knallten Griff an Griff zusammen. Da die Klingen jetzt nutzlos waren, rangen die beiden miteinander. Gio trat Zaunkönig vors Schienbein. Der Muskel in Zaunkönigs Wade wackelte, aber Zaunkönig warf den größeren Mann zurück und wischte sich Blut aus den Augen. »Erschieß ihn!«, brüllte Gio einen Armbrustschützen an. »Jemand soll ihn erschießen! Warum erschießt ihr ihn nicht?« Als Antwort hierauf spuckte Zaunkönig Gio an und vollführte einen tiefen Hieb hinter dessen Knie, um die Achillessehne zu durchtrennen. Gio drehte sich auf dem Fußballen und ließ den schwachen Hieb an sich vorbeistreichen. Ein Schrank von einem Kerl bot Gio sein Rapier an. In einer fließenden Bewegung steckte sich Gio den Dolch in den Gürtel und riss dem Mann die Waffe aus der Faust. Er richtete beide Rapiere auf Zaunkönig. Sie mussten verschieden schwer sein, aber das hätte ich aus der Art und Weise, wie er sie handhabte, nicht erkennen können. Nun war Zaunkönig im Nachteil. Er schlug auf die Seite des neuen Rapiers ein, aber Gio parierte und griff gleichzeitig an. Zaunkönig hielt seine Stellung. Ein Matrose versuchte, ihm seine Waffe zu reichen, aber Gio trennte ihm die Hand ab, die immer noch den Griff umklammerte. Benommen beugte sich der Matrose hinunter, um sein Schwert zurückzuholen, aber er hatte keine Hand mehr, mit der er es hätte aufheben können. Ich kreiste über Zaunkönig und rief ihm ermutigende Worte zu. Er wirkte verzweifelt; Blut strömte ihm das Gesicht herab. Er holte das Letzte aus sich heraus und richtete sich hoch auf, als hätte er neue Hoffnung gefunden, aber ich glaubte, er ergriff die Initiative, weil Gio nicht reagierte. Zaunkönig fintete. Gio attackierte mit einem Zug, der wie 487 der blanke Hohn wirkte. Zaunkönig wich aus, ließ dabei seinen Dolcharm zu tief und zu exponiert hängen. Gios Rapier drang zwischen seinen Fingern hindurch, glitt durch seine Hand und unter der Haut den Arm hinauf. In einem Schauer aus Blut trat die Spitze wieder aus seinem Ellbogen heraus. Zaunkönig öffnete die Hand, und der Dolch fiel herab. Es ist vorbei, dachte ich; aber durch dieses Manöver hatte Zaunkönig Gios Schwert gebunden. Sein Rapier drückte Gios andere Klinge gewaltsam weit nach links, dann löste er sich und stieß zu. Der Griff prallte heftig gegen Gios Brust. Gio krümmte sich, und etwa ein Meter blitzender Stahl ragte ihm aus dem Rücken. Ein roter Fleck verdunkelte den Mantel darum. Zaunkönig zog den Griff herab und zerriss Gio dadurch die Lunge. Er stolperte, und Blut spritzte ihm aus dem Mund. Zaunkönig konnte sein Gewicht mit der Klinge nicht halten und ließ ihn fallen. Gehalten vom Rapier, ging er mit zu Boden. Er riss Gios Klinge durch den Muskel seines Arms heraus, wodurch
eine klaffende Wunde zurückblieb. Gio lag zusammengerollt da. Hustete. Blut tröpfelte von seinen Lippen aufs Pflaster. Er atmete nicht mehr. Aus. Soldaten aus Awendin eilten zu Zaunkönig und stützten ihn. Mit den Fingern versuchte er, die Ränder der Wunde wieder zusammenzudrücken. Blut rann ihm in den Mund, doch er lächelte. Er hatte Gios Klinge absichtlich in seinem Arm aufgefangen; eine wilde Variante ebenjenes Angriffs, der ihm vor einem Jahr die Unsterblichkeit errungen hatte. Zaunkönig schlug mit den Fäusten auf die Soldaten ein, die ihn beruhigen wollten. Dann verlor er das Bewusstsein, also trugen sie ihn, von mir geführt, zur Sturmschwalbe. Ich hob ein Bündel Pfeile sowie eine Flasche Wasser und mein Hörn auf, das ich ertönen lasse, um auf dem Schlacht488 feld Befehle zu erteilen, flog zur Fünften Straße zurück und landete neben Blitz. Er wirkte erschöpft, jedoch dankbar, als ich an ihm vorbeirannte. »Gio ist tot!«, rief ich, ließ die Pfeile und die Flasche im Laufen fallen und hob ab. Ich flog in geringer Höhe über die Rebellen hinweg und rief: »Gio ist gefallen! Gebt auf!« Die gesamte Front der Kolonne, die das Duell miterlebt hatte, und noch weitere Soldaten, insbesondere die weiblichen, ergaben sich dem awendinschen Heerbann. Die Nachhut löste sich auf, und die Rebellen wurden zu Plünderern oder Flüchtlingen. Viele hatten die Orientierung verloren und rannten jetzt weiter in das Straßennetz hinein. Aber das führerlose Zentrum der Kolonne und die Männer, die Raa getötet hatten, wussten, dass ihre Stunde geschlagen hatte. Eine neue Art von Aggression flammte unter ihnen auf, die ihren Grund in der Verzweiflung hatte, in der Fremdheit Kapharnaums und im Rum, den sie getrunken hatten. Es herrschte eine nahezu greifbare Atmosphäre von Möglichkeit und Bedrohung. Die fünfhundert Rebellen auf der Hauptstraße handelten sogleich wie ein Mann, mächtig, euphorisiert und wahnsinnig. Ich spürte ihre Energie, und mein Puls raste. Alles konnte geschehen; alles geschah - der Aufruhr gehorchte keinerlei Gesetzen mehr. Die Jugendlichen waren darin zu Hause, und alle dachten: Warum nicht den Wohlstand nehmen, der uns im Überfluss umgibt? Jetzt, wo wir es dürfen? Die Stärke des Einzelnen war nichts im Vergleich zur Gewalttätigkeit der Menge - sie riss Geschäftsfronten auseinander. Alle Dinge der Stadt wollten sie in einer einzigen Woge der Hysterie verschwenden. Aus Bäckereien holten sie Sackkarren und zertrümmerten damit Karyatiden. Sie steckten einander mit ihrem schrillen Geschrei der Freude über die Kraft in den eigenen Leibern an, der Freude über ihre Freiheit und über ihren jähen Reichtum. Nichts, was ih489 nen Kapharnaum zukünftig vielleicht bieten konnte, war mit dem Spaß zu vergleichen, die Stadt zu zertrümmern. Aus der Luft sah ich eine wogende Menschenmasse den Boulevard verlassen. Sie kreisten um geplünderte Geschäfte wie um das Auge des Sturms. Das flackernde, unnatürliche Licht von der brennenden Felsspitze erhellte den Kai. Gios Männer waren jetzt bloß noch Piraten, welche die umliegenden Häuser plünderten. Sie schleppten Tische heraus, packten Lampen in Laken hinein und verknoteten sie zu Bündeln. Kämpfe brachen zwischen ihnen aus: Männer stachen aufeinander ein, schlugen einander bewusstlos, und das allein wegen jenes kostbar aussehenden Metalls. Sie zertrümmerten Mobiliar und schwangen die Stücke wie Keulen. Ich konnte nicht anders, also kreischte ich: »Hört auf mit der Zerstörung dieser wundervollen Stadt!« Wer mich hörte, lachte laut auf. Es bestand keine Hoffnung, die Plünderer zu fangen, da wir sonst unsere eigenen Verwundeten hätten im Stich lassen müssen. Ich befahl dem Heerbann deshalb, sich zur Schwalbe zurückzuziehen. Am Fuß des Fallreeps hatte die Einheit von Awendin eine Barrikade gebildet und hielt Piken über eine Schildmauer hinweg gehoben. Einige Soldaten formierten sich dort neu, aber in gleicher Zahl ließen diejenigen, die das Gold erspäht hatten, ihre Schilde fallen und desertierten zu den Plünderern. Sporadisch schickten Bogenschützen auf dem Vor- und Achterdeck der Schwalbe Salven zu den Piraten hinab, die den Kai überquerten und denen nichts anderes übrig blieb, als durch den Pfeilhagel zur Pfau zu rennen. Diebe, die entweder ihre Beute trugen oder ihre verletzten Kumpane mitschleppten, strömten in Massen über die Fall490 reeps der Pfau. Verwirrt überflog ich die Aufruhr und Kuckuck; ihre Decks befanden sich auf Höhe des Wassers. Sie waren aufgegeben worden; leer und völlig gerade saßen sie auf ihrem Kiel auf dem Meeresgrund. Ihre Hauptdecks waren von Wasser überschwemmt, aus dem sie wie vier quadratische Inseln herausragten. Die Mannschaften aller drei Schiffe waren damit beschäftigt, die Segel der Pfau zu entrollen und zu setzen. Andere winkten schreiend ihre Kumpels an Bord. Enterbeile und Speere am Heck des Schiffs erweckten den Eindruck von gesträubten metallenen Nackenhaaren. Ich glitt über das Deck der Pfau und sah Tirrick und Cinna. Tirrick hielt die Rapierspitze auf Cinna Bawtere gerichtet und zwang ihn, das Schiff zu steuern. Sichtlich zitternd, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, klammerte sich Cinna ans Rad. Tirrick hingegen lächelte räuberisch und rief: »Kommt an Bord! Wir werden die Schwalbe versenken, dann Proviant aufnehmen und nach Awendin segeln! Ich werde der nächste Serein sein und Fettwanst der nächste Raa!«
Cinna sah mit finsterem Gesicht zu mir hoch. Er hatte sich eine Kette um die Körpermitte gelegt, wie es furchtsame Matrosen tun, damit ihr Leiden, falls sie über Bord gehen, ein rasches Ende finden würde. »Cinna«, rief ich, »wage nicht, abzulegen!« Er erwiderte, ich solle verduften und etwas Unaussprechliches mit einer Ziege tun. Matrosen am Hafen lösten die Taue der Pfau und schwärmten an Bord. Das Schiff glitt knirschend an der Kaimauer entlang, während Plünderer immer noch Taschen aufs Deck warfen und Taue einfingen, um sich hochzuziehen. Die Zurückgelassenen wandten ihre Aufmerksamkeit der Schwalbe zu. Kleine Gruppen von Rebellen sammelten sich außer Reichweite der Veranden der Villen; sie scharten sich 491 zu einem verzweifelten Angriff auf das Fallreep der Schwalbe zusammen, um sie zu entern. Ich dachte an Rehgen; ich würde nicht zulassen, dass jemand der Ärztin auch nur ein Haar krümmte. Sie war meine Ratgeberin sowie Blitz' Vertraute und ergebene Freundin. Blitz wäre noch mehr am Boden zerstört, als er es sowieso schon war, sollte Rehgen etwas zustoßen. Ich habe gesehen, wie Raa gestorben und Serein schwer verwundet worden ist. Ich habe Blitz zurückgelassen, der sich taumelnd seinen Weg durch die Außenbezirke der Stadt gebahnt hat. Die einzigen Bücher, die dem Feuersturm entkommen sind, stecken in meiner Tasche. Ich weiß nicht, wie viele Trisianer zusammengebrochen sind, aber ihre Häuser, ihre Geschäfte und der Hafen sind vernichtet. Cinna segelte mit ihrer Habe davon, umgeben von Piraten und geschützt von Tirrick. Gios restliche Männer waren völlig außer Rand und Band geraten. Unsere Truppen waren entmutigt und zogen sich entweder zurück oder desertierten. Jeder Einzelne in dem ganzen Durcheinander musste mir unbedingt zuhören, musste aufhören und aufschauen, so dass ich die Hysterie, die sie im Griff hielt, vernichten konnte. Ich musste ihre Aufmerksamkeit mit einer Geste auf mich lenken, die mächtiger war als Gios letzte Vorstellung. Aber wie? Keines meiner Hornsignale hatte jetzt etwas zu bedeuten. Ich konnte keine Felsbrocken von oben auf die Pfau fallen lassen und gleichzeitig außer Reichweite der Bogenschützen bleiben. Schreiend landete ich mit einem akrobatischen Salto auf der Hauptstraße, aber obwohl mich die Rebellen hörten, schenkten sie mir nicht die geringste Beachtung, sondern rannten einfach davon. Was sollte ich tun - sie einen nach dem anderen verfolgen? Wütend über unseren Fehlschlag, in der Erkenntnis, dass wir gestrandet waren, spürte ich, wie die 492 Uhr für meinen Scolopendriumkonsum ablief. Ein kalter Schauer überlief mich; die langen Armmuskeln zuckten. O mein Gott, nicht jetzt\ Wenn Estragon auftauchte, könnte sie der Pfau ein rasches Ende bereiten, aber das würde den Kampf an Land nicht zum Erliegen bringen, der von einer Sekunde auf die andere immer blutiger wurde. Ich brauchte Estragon, ihren Wagen oder eine Gruppe Zinken, eine Seeschlange ... Eine Seeschlange! Durfte ich es wagen, mit den Seeschlangen zu sprechen? Ich dachte: Ich kann Andernort benutzen, um der Plünderung von Kapharnaum Einhalt zu gebieten! Ich flog zur Schwalbe und landete auf dem Halbdeck. Rehgen hatte den Zentralbereich unter mir in ein Feldlazarett verwandelt und alle Hände voll zu tun. Verwundete wurden hereingebracht und auf Feldbetten zwischen Masten und Luken gelegt. Rehgen beugte sich gerade über einen Mann, dessen Blut sich auf der braunen Trage sammelte. Ihre Gehilfin mühte sich mit dem Riemen der Brustplatte ab, den sie erst fester zuziehen musste, um ihn dann durch die Schnalle zu bekommen. Rehgen sagte: »Nein! Dieses Schmatzen in der Wunde - kümmere dich nich' um den Res'!« Sie schob einen Wattebausch unter den Rand der Rüstung und drückte ihn auf einen Schnitt mit ausgefransten Wundrändern über seinen Rippen. Der Soldat wehrte sich. Rehgen packte ihn fest, und er lag still da. Dann löste sich seine Hand aus der ihren. Ich beobachtete die Szene, als ich den Umschlag aus meiner Kabine holte, und ich erkannte alles. Rehgen sah ihm beim Sterben in die Augen. Das tat sie oft bei den Sterblichen, bei denen sie trotz aller Bemühungen den Tod nicht verhindern konnte. Sie wollte die Veränderungen mitverfolgen, wenn die Augen starr wurden. Einst hielt ich ihre Besessenheit für Mitgefühl, jetzt halte ich sie bloß für unersättliche Neugier. Sie möchte sehen, was sie sehen, sie möchte wissen, 493 was sie alle auf einmal wissen. Es ist verständlich, weil die Leute stets neugierig auf das sind, was sie nicht tun können. Oder Rehgen — und diese Überlegung ist so morbide, dass ich sie nicht ausschließen möchte - gefällt es vielleicht, dass sie das Letzte ist, was ein Mann sieht, bevor er die Welt verlässt. Eines Tages wird ihr neugieriges Gesicht vielleicht mein Gesichtsfeld durch einen blutroten Schleier füllen. Ich drückte mich in Atas Büro; die Flasche Brandy stand auf dem Tisch. Durch das Heckfenster sah ich die Pfau fast reglos gegen einen Wind stehen, der landeinwärts wehte. Ihre Matrosen schwärmten über die hohen Heckaufbauten aus, richteten einige Balken - den langen Holzbalken eines Trebuchets. Laut sagte ich: »Verfluchte Scheiße, nicht noch ein Katapult!« Es konnte sogar jenes sein, das über die Flugfederstraße gezogen worden war. Es hatte zwei große hölzerne Tretmühlen zu beiden Seiten. Je ein Matrose kroch in eine Mühle und trat sie herum; andere draußen drückten nach, um den Arm zurückzuschieben. Er war so lang, dass er über die Stufen zum Achterdeck hinausragte. Zwei weitere Männer senkten eine Kugel in die Schlinge hinab. Tirrick rief etwas, der Arm schoss an einer Seite des Besanmastes hoch, und der Stein sauste durch die Luft.
Er flog über die Schwalbe hinweg und krachte in das Dach einer der Hafenvillen. Cinnas Matrosen machten sich eifrig daran, einen Ankerspill aufzuwinden, um die Reichweite des Trebuchets zu verkürzen. Mist, wenn wir je Blitz' professionelle Meinung gebraucht hätten, dann jetzt. Ich schoss aus der Kabine und rief Rehgen zu: »Sie nehmen uns ganz unwaidmännisch unter Beschuss! Geh nach unten -und bleib dort, bis ich Verstärkung bringe. Verlasse nicht das Schiff, es sei denn, sie schlagen ein Loch in die Hülle. Wenn du an Land gehen musst, bitte den Hauptmann des Heerbanns von Awendin um Deckung!« 494 Ich hörte, wie Rehgen anordnete, ihre Patienten zum Wohndeck hinabzubringen. Mir blieb nicht viel Zeit. Ich kippte eine Faust voll Kat aus dem Umschlag, das wie Zucker zwischen meinen Fingern ins Brandyglas rieselte, klopfte auf meine Hand, um das Pulver aus den feuchten Linien meiner Handfläche herauszubekommen, entkorkte dann die Brandyflasche und goss ein. Die Kristalle wirbelten herum. Ich leerte das Glas bis auf den Satz aus ungelöstem Pulver, wo der Brandy nicht in die trockenen Körnchen eingedrungen war. Mit einem Klicken setzte ich es ab. Das war eine gewaltige Überdosis. Durch die Fenster sah ich Breitschwertkämpfer an der Kreuzung des Boulevards kämpfen. Piken hielten das Fallreep frei, aber dahinter war nur eine Linie Soldaten geblieben. Auf einmal erklang das metallische Klirren gedämpfter, wie aus weiter Entfernung; die eifrige Geschäftigkeit bei den Kranken schrumpfte zu irgendetwas im Hintergrund. Meine eigenen Atemzüge dröhnten laut, und das Blut polterte in meinen Ohren. Es überkommt mich. Die Pfau drehte sich und zeigte mir ihr schlankes Heck, dazu die flachen Türme ihrer rußgefleckten Segel. Ihr Bild verschwand. Das Abbild der Kaimauer und der Häuser wurde weggerissen. Das Meer regte sich silbern, jedoch konturlos. Es reflektierte nicht; es sollte den Himmel widerspiegeln. Die Wellen wurden langsamer, nahmen die Konsistenz von Sirup an. Die Pfau hob sich und fiel Stunden später wieder herab. Ein weiterer Schuss wurde immer langsamer, bis er fast schwebte; er zog eine träge Spur durch die Luft und verschwand in der Wasseroberfläche vor dem Fenster. Ich gehe unter. Ich hob mich auf die Knie und folgte mit den Fingerspitzen den schmutzigen Scheiben. Wenn ich mich nicht aufs Atmen konzentriere, wird mir nie mehr einfallen, wie das geht. Ich konnte nicht länger knien, also legte 495 ich mich hin, einen Arm lang ausgestreckt. Die Armbänder am anderen Handgelenk drückten sich in meine Wange, mein Schwertgürtel grub sich in meine Hüften. Schwarzer Dunst füllte mein Blickfeld vom Rand her bis zur Mitte. Mit einem jähen Gefühl von Panik dachte ich: Ich habe nicht mal annähernd genug genommen. Das wird nie funktionieren. Ich brauche mehr ... KAPITEL 22 Ich machte mich auf zu einem Flug über Epsilons Savanne nach Vista Marchan und zur alten Insektenbrücke. Hunderte von Metern weiter unten fuhr Estragons Goldwagen vom Markt los und folgte mir. Sie beschleunigte, bis sie direkt unter mir war, dann hielt der Wagen Schritt, ein winziges glänzendes Rechteck auf der gewaltigen Ebene, das eine gerade grüne Spur aus flachgedrücktem Gras zurückließ. Ganz kurz sah ich Estragon in ihrem kurzen roten Kleid zu mir aufblicken. Ich wurde sofort langsamer, ließ den Wagen vorausjagen, tauchte dann hinab, wobei ich an Geschwindigkeit gewann, je mehr ich an Höhe verlor, und holte den Wagen von hinten ein. Ich zog die Beine an, damit ich mit den Füßen nicht gegen die Kopfstütze stieß, und ließ meine spitzen Stiefel auf den Beifahrersitz gleich neben Estragon hinunter. Sie sah unbeirrt nach vorn, während der Wagen weiter geradeaus dahinsauste. Ich hockte mich hin, zog nacheinander meine Flügel ein und drehte und wand mich, bis ich bequem saß. Ich zeigte auf die graue Insektenbrücke. »Los!« Estragon, die das Steuer umklammerte, schaukelte mit ihrem Körper nach vorn und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. 496 Die schimmernden Türme von Vista Marchan beanspruchten dort Raum, wo eigentlich nur das üppige Grasland hätte sein sollen. Ein warmer Wind fegte von da oben herab, der mir die Augen ausdörrte. Nirgendwo in Vierlanden gibt es einen so knochentrockenen, gnadenlosen Wind. Estragon warf mir einen Blick zu und beklagte sich: »Ich habe überall gesucht. Was geht da vor, Jant? Ich schwamm in den Hafen und sah Steine durch das Wasser um die Hülle deines Schiffs fallen.« »Wir stehen unter Beschuss. Das andere Schiff schleudert sie auf uns. Rehgen ist auf der Schwalbe — wie ich auch.« Estragon knirschte wütend mit ihren Haifischzähnen. Ihre Gestalt flackerte wild zwischen der pedantischen Dame und einem bösartigen Fisch hin und her. »Was für eine Verschwendung von Gelehrsamkeit! Ich werde Strandgut aus ihrem Schiff machen!« »Es ist sogar noch schlimmer: Die Bibliothek steht in Flammen - eintausend Jahre Weisheit auf immer verloren. Wir werden nie erfahren, welche bedeutenden Werke verschwunden sind. Raa Ata ist tot. Oh - bist du dieser gigantische Hai gewesen?« »Ja. Ich folgte einem Schoner, den ich ausgeschickt hatte, damit er auf einem Meer von Andernort neben deinem
Schiff hersegeln sollte. Du hast mich um Hilfe gebeten, also habe ich ihn zum Schutz gechartert.« »Mein Gott, Estragon! Du bist ja vielleicht groß!« »Größer. Soll ich deinen Feinden den Kiel unterm Hintern abbeißen?« »Selbst wenn du das tust, werden die Piraten an Land weiterkämpfen, und sie werden die Insulaner töten. Die überlebenden Trisianer werden sich anschließend nach wie vor dem Schloss widersetzen. Kein noch so großer Redeschwall wird sie zu einer Meinungsänderung veranlassen, denn nach Gios 497 Lügen werden sie nie wieder einem Vierlanden etwas glauben. Wir können nicht gewinnen. Mir will keine andere Möglichkeit einfallen, wie wir diesen Aufstand unter Kontrolle bekommen können, als ein so unglaubliches Spektakel zu veranstalten, dass beide Seiten ihre Differenzen vergessen. Seeschlangen leben weit entfernt vom Land, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Estragon. »Sie fressen keine Menschen, das wäre die Energie nicht wert. Sie leben in der Tiefsee; wenn sie ihre Haut abstreifen, kratzen sie sich an den Wurzeln der Kontinente, die aus den Abgründen emporragen.« »Nun gut, ich möchte eine Seeschlange haben.« »Du möchtest sie retten! Ganz bestimmt?« »Nur, wenn sie mit dem Handel einverstanden sind. Die Terschiede sagten mir, dass ihr Ozean ausgetrocknet sei, und du hast gesagt, sie brauchten einen sicheren Hafen. Seeschlangen können herkommen und im Meer von Vierlanden leben - unter der Bedingung, dass sie mir gehorchen.« Ich wappnete mich innerlich, als wir die breite Brücke hinauffuhren. Wir jagten mit summenden Rädern über die unregelmäßige Oberfläche. Ich sah die Riefen, wo einzelne Insekten ihre zerkaute Holzpaste hinzugefügt hatten. Die dürren Stützen der Brücke aus gehärtetem Speichel sausten zu beiden Seiten vorüber, und während wir uns zum Gipfelpunkt hinaufarbeiteten, fiel die Savanne unter uns davon. Wir erreichten den Gipfel, wo ein heftiger, böiger, weltenübergreifender Wind von Vista herüberwehte, und für einen großartigen Augenblick sah ich den ganzen weiten Markt. Dann war er verschwunden; wir waren in der Welt von Vista. Der Wind fuhr heulend durch den oberen Teil der Brücke, und unter uns fegte er die oberste Sandschicht über die Wüste wie feinen Kristallstaub, der sich an der Basis der Kaimauer zu hohen Dünen auftürmte. 498 Viele weiße Spuren liefen auf die Stadt Vista Marchan zu; von hier oben ähnelten sie den Strahlen eines Sterns. Die Ansammlung bleicher blockartiger Türme schien wie eine Fata Morgana vom Himmel herabzuhängen und sich in dem gebeugten Licht über die ganze Wüste hinweg zu Lachen zu sammeln. So einen Ort hatte ich noch nie zuvor gesehen. Wir stiegen neben den Türmen ab, die, wie mir aufging, höher als der Turm des Thronsaals waren. Mehr als Ehrfurcht hatte mich ergriffen, und ich zitterte, als wir auf Vistas großer Kaimauer ausrollten und zum Stehen kamen. Zu beiden Seiten herrschte gähnende Leere: vom Sand verschlungene Werften und Molen mit langen, trockenen, muschelbesetzten Leitern, die kurz vor dem Boden endeten. Über die Salzebenen hinweg sah ich zu Epsilon hinüber, eine durchscheinende Illusion, eine üppige Prärie und ein pulsierender Markt. Es lag in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur weißen Wüste. »Sind Insekten nicht faszinierende Kreaturen?«, meinte Estragon. »Dies ist die Wüste von Vista. Sie war einst ein Meeresboden.« Die Räder ihres Wagens hinterließen Spuren im Kies, als wir auf der gewaltigen Mauer entlangfuhren. Die salzbleichen Straßen waren bar jeder Bewegung. Die einzig lebenden Dinge in Vista waren ich selbst und Estragon; ihre Flossen streiften mir über die Oberschenkel, während sie die Armaturen bediente. Papierene Insektenzellen waren in die bröckelnden Betongebäude eingewoben oder hingen wie graue Spitze daran herab. »Tut mir leid, dich so weit weggebracht zu haben«, fügte sie hinzu. »Dein Trip nach Hause wird verdammt qualvoll werden.« Rostflecken liefen die Werftmauer herab. Sie stammten 499 von oben eingenieteten, abblätternden Eisenringen. Markierungen der Meereshöhe und verblassende Zahlen waren in einer Schrift eingeprägt, die doppelt so hoch war wie ich. Wir hielten an und starrten auf den verschwundenen Ozean hinaus. Der weiße Himmel und der Sand erstreckten sich so weit in die Ferne, wie ich sehen konnte: zwei Ebenen, die sich am Horizont trafen. Gelegentlich verfärbten Flecken die gleißende Oberfläche der Dünen, Chemikalien und Öl, die aus dem Boden heraufsickerten. Eine Postkutsche, die einem kürzlich hier gewesenen Touristen gehört haben musste, lag verlassen und halb mit Sand gefüllt da. Der obere Teil ihrer Speichenräder trat aus der Oberfläche eines hart gebackenen Hügels heraus. Hinter uns war die Stadt, waren gesichtslose Türme und ausgebleichte Mauern, die der Sand, der von einem Wind über Jahrhunderte hinweg darübergetrieben worden war, abgescheuert hatte. Wendeltreppen ragten wie Wirbelsäulen aus den zerfallenen Treppenhäusern. Rostige Träger stachen aus der vierzigsten Etage hervor dünn gewordenes Metall, wie perforierte Waffeln. Es war kein Laut zu hören außer dem Wind, der Salzkristalle über den trockenen Meeresgrund und die Betonpromenade fegte. Alles lag völlig außerhalb meiner Erfahrung. Ich sagte: »Es ist nicht schön. Es ist...«
»Eine Wüste, Jant. Viel, viel Sand.« »Estragon«, meinte ich ungeduldig. »Kapharnaum brennt.« Sie drohte scherzhaft mit dem Finger, handelte jedoch rasch und holte eine goldene Taschenuhr aus einer Schachtel, die Teil des Armaturenbretts war. Sie ließ das Glas aufspringen, und ich erkannte, dass es überhaupt keine Uhr war. Innen drin befanden sich ein goldener Mechanismus sowie ein Drahtgeflecht, das eine fette schwarze Fliege von der doppelten Größe einer Schmeißfliege in sich barg. Sie summte ener500 gisch, was sich anhörte, als würde sie versuchen, ein Loch in ihren goldenen Käfig zu bohren. »Es ist erstaunlich«, sagte Estragon, »was man auf dem Markt in Epsilon den Zinken alles abkaufen kann, wenn man genügend Fleisch dabei hat.« »Was ist das?« »Eine Zeitfliege. Irgendwie bringen sie es fertig, nicht zerquetscht oder gefressen zu werden. Sie können den Bruchteil einer Sekunde in der Zeit zurückspringen, bis zu dem Punkt, an dem sie der Puppe entschlüpft sind. Diese Zeitfliege ist in Vista Marchan ausgeschlüpft und seit dieser Zeit hier gefangen gewesen. Ich bringe dich dorthin zurück; wir werden die Zeit zurückdrehen, bis die Flut zurückkehrt. Ziehe sie für mich auf, ja?« Ich drehte den kleinen goldenen Schlüssel an dem komischen Apparat, wie bei einer Uhr, und das Netz übte nach und nach Druck auf das gefangene Insekt aus. Es fühlte sich bedroht und wollte seine Fluchtmethode anwenden, aber weil der Mechanismus es gefangen hielt, nahm es die Bedrohung mit. Es brachte auch uns zurück, und zwar schnell. Richtig schnell. Einige Minuten lang änderte sich nichts. Ich drehte mich um und sah zurück auf die Stadt. Vielleicht waren die Gebäude etwas weniger grau, etwas weniger verfallen. Dann zeigte sich auf Höhe der Straße eine verwaschene Bewegung rund um den Wagen, als ob ich farbige, umherwirbelnde Luft sehen könnte. »Das sind die Einwohner der Stadt«, erklärte Estragon, »in ihrem Alltagsleben oder beim Kampf gegen Insekten. Sie bewegen sich zu schnell in der Zeit zurück, als dass wir sie erkennen könnten.« Sie tätschelte mir den Arm und zeigte zum Horizont. Gewaltige stählerne Schiffe stiegen aus den Gebieten des ölig verfärbten Sands. Aufgewirbelter Sand flog davon, und es zeigten sich Masten und Ruderhäuser, dann wurden lange, auf 501 der Seite liegende Hüllen ausgegraben. Die Sandoberfläche verdunkelte sich zu einem blassen Grau und glitzerte auf einmal. Schließlich tauchten flache blaue Lachen in den tiefsten geraden Sandwellen auf, wo ich zuvor keine Löcher bemerkt hatte. Die langen Lachen schwollen an und vereinigten sich, verwandelten die Spitzen der Sandwellen in Inseln und bauten sich um die Dünen herum auf. Wasser lief darum zusammen und zeigte mit zunehmender Tiefe ein immer dunkleres Blau. Die kleinen Wellen im Sand waren alle bedeckt, der Meeresspiegel hob sich, die Dünen waren verstreute Inseln. Jetzt waren nur noch ein paar übrig; dann bedeckte das Meer die letzte Düne. Der Ozean stieg weiter an, näherte sich den untersten Sprossen der Leitern, richtete die grauen Metallschiffe auf. Farbe ergoss sich in den Himmel. Von eintönig ging er zunächst in ein blasses, dann ein strahlendes Blau über. Die auf Hochglanz polierte Karosserie des Autos spiegelte ihn wider. Die Zeitfliege in der Uhr jaulte vor Anstrengung. Sie war jetzt ein junges Abbild ihrer selbst, die Flügel verschrumpelt und feucht, wie sie es gewesen waren, als jemand sie eingesperrt hatte. Ihre sechs dünnen Beine kratzten an der glänzenden inneren Oberfläche der Uhr. Auf einmal verschwand die Insektenbrücke. Frisches Papier löste sich ruckartig vom Fuß des Bogens zum Zenit hinauf. Wellen schlugen gegen die Hafenmauer und stiegen zur Anzeige der Meereshöhe empor, immer höher. Die Stahlschiffe verschwanden augenblicklich; statt ihrer spie der Ozean weiße Schiffe aus, die am Anker auf und nieder schaukelten. Die Ringe in der Kaimauer glänzten; Vista Marchans Türme waren vollständig und makellos, Glaswände spiegelten die Sonne. Das Summen der Uhr hörte jäh auf, und alles war klar und still. Es war ein wunderschöner Tag. Männer und Frauen in orangefarbenen Wappenröcken und gelben 502 Helmen gingen auf den Docks ihren Geschäften nach, in seliger Unwissenheit über die Vernichtung, die über sie hereinbräche, sobald die Insektenbrücke durchkäme. Estragon zeigte mir die Uhr; sie war leer. »Die Zeitfliege«, sagte sie, »ist gerade in einer Fabrik in Vista festgesetzt worden.« Eine allmächtige Woge erhob sich mitten aus dem Ozean und ergoss sich in den Hafen. Sie wurde dabei mit jeder Sekunde kleiner, bis sie als sanfte kleine Welle gegen die Mauer schwappte. Der Kopf einer gewaltigen grünen Schlange durchstieß zusammen mit ihrem Oberkörper die Oberfläche des Meeres, besprühte uns mit Gischt und verdeckte die Sonne. Der Kopf war viermal größer als eine Karavelle, der Rumpf mit den festen Muskeln ebenso dick wie einer der Türme hinter mir. Die glänzende grüne Schlange senkte den flachen spitzen Kopf auf die Promenade herab. Die Hafenarbeiter schienen verärgert, waren jedoch zu höflich, um etwas zu sagen. Estragon und ich entstiegen dem Wagen. »O Gott, der uns verlassen hat!«, keuchte ich. »Nein, es ist bloß eine Schlange.«
»Scheiße ... Wie viele davon gibt es?« »Pscht!«, schalt Estragon. »Ihre Zahl beträgt weniger als eintausend.« Der Leib der Seeschlange erstreckte sich hinaus in die Ferne. Er mäanderte in hundert Meter weiten Kurven wie der Moren. Voller Panik steuerte ein Schiff Rauch ausstoßend von seiner Seite weg. Etwa einen halben Kilometer vor der Küste tauchte die Schlange unter, und in derselben Entfernung schwang noch weiter draußen eine blau-grün gestreifte kegelförmige Insel in der schäumenden See hin und her - die abgeflachte Spitze ihres Schwanzes. 503 Wir standen vor dem leicht hervortretenden gelben Auge der Schlange. Die senkrecht geschlitzte Pupille war so hoch und breit wie mein Körper. Ihr Kopf war mit leuchtenden Schuppen von der Größe einer Tischplatte bedeckt. Schwarze Haut zeigte sich dazwischen, die wie eine Stickerei um die viereckigen Schuppen auf den geschlossenen Lippen aussah. Eine tief gespaltene schwarze Zunge schoss aus der Spitze des Mauls hervor und glitt um uns herum. Sie berührte mich nicht, aber ich spürte die Bewegung von Luft einen Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, und ich spürte ihre Feuchtigkeit. Blitzschnell zog die Schlange ihre Zunge zurück in das Loch auf der Oberlippe, das genügend groß gewesen wäre, um hindurchzukriechen. »Jant«, sagte Estragon, »darf ich dir den König der Seeschlangen vorstellen?« Sie wandte sich an das Untier: »Euer Ruchlosigkeit, dies ist ein Botschafter vom Imperator von Vierlanden, der bald auch Euer Imperator sein könnte, wenn Ihr Euch mit seinen Bedingungen einverstanden erklärt ... Jant, sprich mit ihm; er kann dich mit seiner Zunge hören.« Die Schlange legte ihren gewaltigen Kopf auf eine Seite, wie eine umkippende Karacke, und rieb mit dem geschlossenen Maul über die Promenade. Mit einem Knirschen wie von tausend Mühlsteinen kratzte es große Senken in den Zement und grub die eisernen Ankerpfosten zu beiden Seiten aus. Ihr Auge ging hin und her, als es mich abschätzend ansah. »Estragon wird Euch den Weg zum Ozean von Vierlanden weisen«, verkündete ich. »Ihr und Euer Volk könnt dort leben, wenn Ihr mir drei Dinge versprecht. Erstens: Vernichtet das Schiff namens Pfau, das inmitten des Hafens treibt, den Estragon Euch zeigen wird. Zweitens: Beschädigt anschließend keine weiteren Schiffe mehr und fügt keinem Menschen mehr Schaden zu. Lebt in den Tiefen und haltet Euch von der Küste fern, dann werdet ihr wahrscheinlich weniger Schaden 504 anrichten. Drittens: Unsere Welt ist ebenfalls von den Insekten bedroht; das macht uns zu Verbündeten, und in der Zukunft könnte ich Euch erneut um Hilfe ersuchen, über Estragon.« Die ganze Zeit über fuhr die wimpelartige Zunge der Schlange aus ihrem breiten, schlangenhaft lächelnden Maul heraus und wieder hinein und nahm die Schwingungen der Luft auf, schmeckte meine Worte. Sie verdrehte den Kopf, suchte nach Estragon und rutschte gefährlich nahe an ihren Wagen heran, hätte ihn beinahe zerquetscht, bevor sie vor ihrem Auge stehen blieb. Sie zischte, und ich spürte ihren heißen, fischigen, giftigen Atem aus dem runden Loch in ihrer Lippe herausfegen. »Was sagt er?«, fragte ich. »Er möchte wissen«, antwortete Estragon, »ob dein Meer genügend tief ist. Ich glaube nicht, dass der Ozean von Vierlanden geräumig genug für alle Seeschlangen ist. Ich werde ihm sagen, dass es ausreichend Platz nur für einige wenige gibt, die hindurchschlüpfen können. Auf diese Weise werden zumindest einige der Katastrophe entkommen, und ihre Art wird überleben.« Der glitzernde Leib der Schlange wand sich über seine gesamte sichtbare Länge hinweg. Estragon sah mich aufmunternd an. »Der König akzeptiert die Bedingung. Er ist von deiner Ehrbarkeit überzeugt; er sagt, er kann sie schmecken.« »Woher weiß ich, ob ich einer Seeschlange vertrauen kann?« Estragon lachte. »Dafür hast du das Wort eines Haifischs.« Die Windungen des kilometerlangen Leibs der Seeschlange legten sich enger zusammen, als sie den Kopf zurückzog und geschmeidig ins Wasser tauchte. Ich starrte ihr mit offenem Mund nach. »Du wirst sie wieder sehen«, sagte der Hai. »Leb wohl, Jant. 505 Ich muss ihr Führer sein, und wir haben einen ziemlich langen Weg in diesem köstlichen Wasser vor uns zu schwimmen. Dennoch haben wir noch viel, viel Zeit.« Ihr rotes Kleid wurde grau und getüpfelt und zog sich jetzt als nahtlose Haifischhaut über ihren Leib. Sie trat ganz zum Rand der gewaltigen Mauer, hakte die bloßen Zehen ein und hob die haifischgrünen Hände über den Kopf. »Lass mich nicht hier zurück!«, schrie ich. Ich war nicht bloß in einer völlig unbekannten, fremdartigen Welt gestrandet, sondern auch noch irgendwo in deren Vergangenheit! Sie richtete das kalte Auge eines Haies auf mich. »Hast du nicht geübt? Du solltest inzwischen in der Lage sein, dich mit dem Willen zurückzubringen! Ich habe dich angewiesen zu üben, und ich erwarte, dass du lernst. Naja, das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für einen Versuch.« Sie beugte sich vor, stieß sich ein wenig ab, tauchte in einem perfekten Bogen hinab ins kristallklare Wasser und kam nicht wieder hoch. Vielleicht muss ich auf ewig hier bleiben, dachte ich voller Panik. Vielleicht muss ich hier leben. Mit mir selbst schimpfend untersuchte ich den stinkenden, verlassenen Wagen, der bereits verrottete. Ich trat dagegen. Die
Hafenarbeiter waren während unseres Gesprächs mit dem König der Seeschlangen verschwunden, und ich war allein. Ich ließ mich nieder und saß etwa eine Stunde lang da, obwohl ich nichts hatte, um die Zeit zu messen. Ich versuchte, das Gefühl zu kopieren, das ich sonst hatte, wenn ich Andernort verließ. Ich stellte mir den Zug vor - einen plausiblen Pfad nach Vierlanden -, der immer stärker und fester wurde. Ich packte ihn und zog mich hindurch. Ich lag irgendwo, wo es nach Federn roch. Dunkelheit hüllte mich ein. Ich spürte nichts. Mein Leib war gelähmt; ich konnte mich nicht rühren. »Weil du tot bist«, verkündete eine schwere Stimme in meinem Ohr. Ich kreischte lautlos. 506 Dies ist die falsche Welt; ich habe keinen Körper, in den ich zurückkehren könnte. Ich kämpfte, schlug um mich und zwang mich in einen Wachzustand hinein. Ich lag auf dem abgenutzten Teppich in Atas Kabine, neben den faltengefüllten vertäfelten Wänden und der Brokatbank vor den Heckfenstern, auf der Rehgen saß. »Gut gemacht!«, schwärmte sie. »Du hast uns gerettet!« Die Fenster hinter ihr zeigten eine völlige Schwärze. »Dennoch eine Schande, dass ich dich getötet habe.« Sie lächelte, und ihr Mund zog sich auf beiden Seiten auseinander. Sie lächelte und lächelte und lächelte. Ich bin immer noch nicht zu Hause. Ich bin immer noch nicht wach! Ich kniff die Augen fest zusammen und kämpfte verzweifelt. Dann sah ich eine bedrohliche Landschaft mit zerstörten Brücken, Festungen, Windmühlen, alles von hinten durch ein tosendes Feuer erhellt, gewaltige Bauten mit steinernen Treppenhäusern, die in alle Richtungen verliefen. Dort setzte ich mich nicht nieder. Irgendjemand ließ die Finger über mein Gesicht laufen, bohrte sie wie Würmer in meinen Mund; sie öffneten mir gewaltsam den Kiefer und fuhren in meine Kehle hinab. Ich erwachte und übergab mich hilflos, und zwar beides gleichzeitig. Mühsam öffnete ich die Lider; die grüne Iris beider Augen war glasig wie Splitter, ansonsten jedoch lag ich reglos da. Rehgens blutbeschmierte Pumps und Blitz' Schnallenschuhe mit den dicken Sohlen standen vor meinem Gesicht. Mein Gott, ich hasse es, in der stabilen Seitenlage zu erwachen. »Er reagier' nich'«, sagte Rehgen. Ich spürte ihren Daumen auf meinem Lid. »Doch«, meinte ich, aber es kam nur wie ein Hauch heraus. Blitz' Stimme klang sehr geschwächt. »Na, verdammt, dann bringe ihn dazu, dass er reagiert!« 507 Rehgen gab ein Geräusch von sich, das ein Schulterzucken gewesen sein mochte, und schlug mir ins Gesicht. »Seine Pupillen sind so schmal wie Zwirnsfäden. Spürs' du, wie der Kreis daran arbeite', ihn zu halten?« »Ja, und verdammt soll er sein!« Erneut schlug mir Rehgen ins Gesicht, und ich keuchte und spuckte. »Ah, Jant«, sagte Blitz. »Alle kämpfen ums Überleben, aber du verziehst dich lieber! Du hast Gio nicht vergiften können, aber du bist verflucht gut darin, dich selbst zu vergiften. Wir brauchen dich, damit du Geschosse auf die Mannschaft am Trebuchet hinabwirfst. Ich weiß, dass du bei schwerem Beschuss lieber im Koma liegst; hegst du die Hoffnung, dass dich das kalte Wasser wieder belebt, wenn wir sinken?« Ich wälzte mich auf die Knie und sah ihn blinzelnd an. Er lag halb auf einem Sessel und zitterte immer noch vor Schmerzen. Statt seines Langbogens hielt er einen kleineren Bogen mit Spannseil in Händen, der sich mühelos gespannt halten ließ. »Blitz«, sagte Rehgen, »jetz' lass ihn doch nich' noch mehr Schuldgefühle entwickeln! Das is' sons' bloß eine Ausrede für eine weitere Dosis.« »Dieser Gassenjunge! Ich werde ...« »Du irrst dich«, flüsterte ich. »Du hast mir aufgetragen, den Aufruhr zu beenden, und genau das tu ich gerade.« Eine Welle stieß die Schwalbe heftig gegen die Hafenmauer und warf Rehgen aus dem Gleichgewicht. Die Schlangen waren eingetroffen! Ich schluckte trocken, kam daraufhin stolpernd auf die Beine und verließ die Kabine. Rehgen eilte -Blitz schlich hinter mir her - die Leiter zum Achterdeck hinauf, wo ich über die Reling blickte. Der Kai war mit Leichen übersät; sein Pflaster war aufgerissen, und die Mauern der Häuser waren zerstört, wo die Schüsse der Pfau getroffen hat508 ten. Unsere Galionsfigur und das Vorschiff waren zu einer Masse zersplitterten Holzes zerschlagen worden. Ich erfasste alles mit einem Blick und wusste nicht, ob ich wirklich erwacht war. Der Himmel war dunkel — war dies Vierlanden oder nach wie vor Andernort? Als mein Blick durch eine Luke auf die untere Ebene fiel, sah ich Zaunkönig auf einem aufgerollten Tau sitzen. Er trank gerade gierig aus einer Flasche Wasser, während Rehgens Gehilfin den Schnitt in seinem Arm nähte, der bis auf den Knochen offen lag. Dieser Anblick holte mich auf die Erde zurück. Er wusste, dass Eszai Verletzungen aushalten können - obwohl nicht so schwere. Er hatte wohl völlig missverstanden, was ich ihm vom Kreis erzählt habe. Die Pfau setzte ihr Bombardement fort. Cinna wirbelte das Rad herum, so dass das Ruder voll eingeschlagen und das Heck des Schiffs stets uns zugewandt blieb. Tirrick kommandierte die schwitzenden Piraten, die in der Tretmühle trippelten, um das Katapult wieder aufzurichten. Sie bestückten seine Schlinge mit schleimigen Felsbrocken aus dem schiffseigenen Ballast.
Ein Ruck durchfuhr die Pfau. Eine unnatürliche Welle umkreiste sie. Das Wasser zu beiden Seiten der Hülle begann zu schäumen und zu blubbern; Wellen plätscherten in alle Richtungen davon. Hinter ihr, zwischen ihr und der Leuchtturminsel, trat ein langer schwarzer Grat an die Oberfläche. Er war kuppelförmig wie der Rücken eines Wals, stieg jedoch immer höher und höher aus dem Wasser, über die Höhe der Reling der Pfau hinaus. Es war die Oberlippe des Seeschlangenkönigs. Verblüfft starrten Blitz und Rehgen hin. Die Männer auf der Pfau rannten verwirrt und entsetzt umher, als der Grat immer höher stieg. Zwei geschwungene scharfe Fänge tauchten parallel zu den Wellen auf. Länger als Piken waren sie und 509 ragten aus dem schwarzen Bogen auf der linken und rechten Seite heraus. Auf dem Kiefer der Seeschlange zeigten sich grüne und blaue phosphoreszierende Streifen, als sie in dem brodelnden Wasser erschienen. Einhundert Meter hinter der Oberlippe, zwischen uns und der Pfau, kam die schleimige Unterlippe hoch. Die Männer am Katapult zeigten kreischend mit dem Finger hin; auf dem Hauptdeck rannten sie von einer Seite zur anderen, außerstande zu ergründen, was die Bögen zu beiden Seiten wohl zu bedeuten hatten. Das offene Maul der Seeschlange hob sich, die gekrümmten Zähne waren auf die Pfau gerichtet. Die gefurchte schwarze Haut des oberen Gaumens stand uns gegenüber. Er war doppelt so groß wie das Hauptsegel und glänzte wie Pech. Wasser strömte vom glatten, knochigen Kopf. Durch den verrauchten Himmel hallte das Gekreisch der Piraten bis zur Stadt hinüber. Ich hatte den Eindruck, dass sich der gesamte Meeresgrund hob. Wasser donnerte von beiden Seiten des offenen Mauls der Seeschlange herab; in dem Schaum, der zwischen Ober- und Unterkiefer hindurchschoss, tanzte und wirbelte die Pfau umher wie eine Eierschale in kochender Salzlake. Vom aufgerichteten Katapult löste sich ein Schuss, und der Stein fuhr senkrecht in die Höhe. Ich hörte Cinnas schrilles Gekreisch. Der lanzenlange Zahn der Schlange erreichte die Höhe des Vormasts der Pfau, schloss sich um das Schiff und hielt es gefangen. Die Pfau kippte zur Seite, das Krähennest auf ihrem Hauptmast wurde einmal auf der Backbord-, einmal auf der Steuerbordseite ins Wasser geschleudert, Männer gingen über Bord. Der Unterkiefer der Seeschlange verwehrte den Blick auf das Schiff. Ihr gelbes Auge tauchte auf, umgeben von nasser schwarzer Haut, und Wellen klatschten dagegen. Als sie sich hoch aufrichtete, stieg das Wasser in ihrem Maul zusammen mit der Pfau einen Augenblick lang höher 510 als das Hafenwasser. Matrosen klammerten sich an Taue, fielen mit heiserem Geschrei in die Tiefe. Schäumendes Salzwasser spritzte zu beiden Seiten heraus, als unter einem Übelkeit erregenden Knirschen die Seeschlange das Maul schloss. In dem jähen Schweigen taumelte die abgebissene Mastspitze der Pfau in die Brandung. Wie sie so neben dem rautenförmigen Kopf der Schlange trieb, der gerade aus den Wogen herausragte, wirkte sie kaum größer als ein Streichholz. Jetzt kam der Körper an die Oberfläche und blockierte den Hafenzugang. Er erstreckte sich bis weit hinaus zum Horizont. Der König der Seeschlangen senkte den Kopf und drehte sich zu uns um. Blitz tastete nach einem Pfeil und stammelte: »Was ist das ...?« Er spannte seinen Bogen und zielte direkt auf das gelbe Auge. »Nein!« Ich legte meine zittrige Hand über die Pfeilspitze und drückte sie gewaltsam nach unten. »Nicht schießen!« Blitz sah mich mit offenem Mund an. Er rang um Verständnis. »Warum nicht? Sein Leichnam wird uns nicht den Weg versperren. Er wird in der Sonne verfaulen. Sich auflösen.« Er schrie der Seeschlange zu: »Was bist du?« Das lange Maul der Schlange blieb geschlossen, aber die schwarze Zunge schoss wie eine Peitsche oben aus ihrer Schnauze hervor und beleckte, sich kräuselnd, die Reling knapp vor mir. Vermutlich schmeckte die Seeschlange die Luft nach meinem Geruch ab. Ich winkte ihr mit den Armen zu und grinste wie verrückt vor Dankbarkeit. »Vielen Dank! Vielen Dank im Namen des Imperators -jetzt geh und suche dir ein Zuhause!« Sie neigte den Kopf zur Seite, aber als sie zurücksank, überblickte sie mit ihrem großen Bernsteinauge prüfend das Deck der Sturmschwalbe. Wie herabrollende Felsbrocken tönte es, 511 als das Wasser zurückströmte und sich über dem Auge der Schlange, dem nach oben gerichteten Maul und der zugespitzten Nase schloss; die Nasenlöcher tauchten als Letzte unter. Eine gewaltige, V-förmige Welle bildete sich dort, wo sie unter dem Wasser ihren gewaltigen Leib einholte und den Kopf aus dem Hafen zurückzog. Ich schwöre, es gab einen Windstoß, als alle auf der Sturmschwalbe die Luft ausstießen. Eine Sekunde lang herrschte völliges Schweigen auf dem Kai - es war still, der Kampf hatte aufgehört. Ich hörte Waffen zu Boden fallen, dazu ein Klirren, als Taschen mit Beute ebenfalls zu Boden fielen. Ein Chaos entstand, weil etliche Soldaten Schulter an Schulter mit den Piraten näher ans Wasser traten, um hingerissen den treibenden Topmast und die zerbrochenen Teile von Kanus und Pontons anzustarren. Die Übrigen, insbesondere die Trisianer, versuchten, so weit wie möglich vom Meer wegzurennen, hinein in die Stadt. Die Plünderungen am Kai und den ganzen Boulevard hinaufhatten völlig aufgehört; alle glotzten aufs Meer.
»Hast ...?«, stotterte Blitz. »Im Namen von ... Beim Arsche Gottes ... Ich glaub's einfach nicht, was ich da gerade gesehen habe!« Er wandte sich mir zu. »Warum hast du mich daran gehindert, auf das Ungeheuer zu schießen?« »Es hat uns gerettet, Habicht; es ist ein Freund.« Rehgen an meiner Seite bemerkte ruhig: »Du bis' zu tief drin gewesen, Jan', wenn du Vista Marchan erreich' has'.« Mir traten die Augen aus den Höhlen, aber sie lächelte bloß. »Woher hast du gewusst, dass dieses Ding auftauchen würde?«, wollte Blitz wissen. Ich ließ mich aufs Deck nieder; mir war zu schlecht, um Rehgen auszuquetschen. Ich stöhnte: »Oh, bitte, ich möchte mich hinlegen. Sie haben aufgehört zu kämpfen. Ich habe dem Aufruhr ein Ende gesetzt; wir haben gewonnen.« 512 »Wir haben so viel verloren, Jan', dass du es wohl kaum >gewinnen< nennen könntes'.« Blitz stieß mich mit seinem Stiefel an. »Ich sehe Felchen und Senatoren zum Fallreep kommen. Im Augenblick habe ich nicht den Eindruck, dass die Beziehungen zwischen Kapharnaum und dem Schloss noch schlimmer werden könnten. Kannst du dich an sie wenden?« »Jan' is' sehr verwirr'«, sagte Rehgen. »Ich glaube nich' ...« Ich nickte. »Ja. Ich werde für das Schloss sprechen.« Ein reinigender Rauch wirbelte über den Himmel. Die Feuchtigkeit der Meeresbrise kondensierte die von der Bibliothek aufsteigenden Schwaden zu einer dicken Wolke, die über die Klippe herabstieg; dahinter verschwand nach und nach der rauchgeschwärzte, ausgebrannte Amarot. Die Luft war verschmutzt und schwül, was den Senatoren völlig fremd war. Hustend standen sie eng beieinander. Angesichts der Seeschlange hatte es ihnen die Sprache verschlagen. Sie hatten die Augen niedergeschlagen, waren in Todesangst. Blitz und ich hangelten uns etwas wackelig das Fallreep zur Küstenstraße hinunter, die mit Schutt übersät war. Felchens Tunika und das wirre graue Haar waren rußbeschmiert. Er betrachtete das Blut auf Blitz' Hemd, das Erbrochene auf dem meinen und die Asche auf uns beiden und sackte in sich zusammen. »Wir haben die Schlange gesehen. Könnt ihr euch mit ihr unterhalten?« »Ich habe es gerade getan«, erwiderte ich. Sie besprachen sich untereinander; sie klangen alle sehr niedergeschlagen. Felchen sagte: »Das ist um so vieles schlimmer, als wenn die legendären Insekten lebendig geworden wären. Wir hatten keine Ahnung von der Existenz einer solchen Schlange. Wie habt ihr sie gerufen?« »Was fragen sie ...«, setzte Blitz an. 513 »Einen Augenblick!«, unterbrach ich ihn. Ich sammelte meine Gedanken und wandte mich an die Senatoren. »Ja, ich habe die Schlange herbeigerufen, um dem Kampf ein Ende zu bereiten und eure noch verbliebenen Häuser zu retten. Ich möchte keine weiteren herbeirufen, aber der Bogenschütze ist sehr wütend und gnadenlos. Ihr habt unsere Auseinandersetzung auf dem Schiff vernommen; er möchte euch zeigen, was wir tun können. Ich versuche, ihm das Zugeständnis abzuringen, dass er die Insel nicht von riesigen Schlangen umzingeln lässt.« Ich wandte mich an Blitz und sagte würdevoll auf Hochawianisch zu ihm: »Es muss so aussehen, als ob wir uns besprechen würden. Ich bluffe, aber die Senatoren werden das Reich hinterher anerkennen. Tu so, als ob du wütend wärst, und sprich mit mir; zitiere ein Theaterstück oder so.« Blitz begriff rasch. Er schüttelte den Kopf und sagte in strengem Tonfall: »Nun gut, in diesem Fall - Springkraut für Liebende.« »Weiden für Bräute?«, wollte ich wissen. »Wilde Rosen für die Maid«, gab Blitz zurück. »Hör mal, du wirst mir das alles anschließend erklären, ja?« Ich klopfte ihm auf die Schulter, als ob wir uns gerade geeinigt hätten. »Oh, ja, aber ich bin mir sicher, dass es dir nicht gefallen wird. Und den Ehefrauen schenken wir Lilien. Genau.« Wieder auf Trisianisch sagte ich: »Mein Freund und ich haben uns entschieden, die Schlangen nicht herbeizurufen und sie im tiefsten Ozean zu belassen, wo sie für euer Land keine Bedrohung mehr darstellen werden.« Ich streckte Felchen meine Hand entgegen. »Es gibt so viel weitere wundervolle Dinge in Vierlanden. Wir sind eure Verbündeten; bitte, tretet uns bei!« Felchen und die anderen zweifelten offenbar noch. Seine schmalen Schultern sackten zusammen. »Wenn alle Prüfungen, die Tris von nun an bevorstehen, so schwierig sind, kön514 nen wir ihnen nicht allein entgegentreten. Wir geben dir eine Botschaft an ...« Er hielt inne und erbleichte. »... an San, da er uns jetzt das antut, was er Pentadrika antat.« »Was?«, fragte ich. Felchen sah seine Bundesgenossen hilfeheischend an und zuckte die Achseln. »Alle wissen, dass San vor Jahrhunderten Pentadrika vernichten ließ, um die Macht an sich zu reißen. Er ließ absichtlich zu, dass jene unselige Alyss getötet wurde, und jetzt tut er dasselbe mit uns.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. San war lediglich ein Ratgeber. Er hatte ohne Zweifel Alyss gesagt, sie solle die Enklave der Insekten meiden, und sie muss nicht auf ihn gehört haben.« Felchen warf einen Blick auf den düsteren Rauch, der den Amarot bedeckte und durch den man immer wieder
Blicke auf die geschwärzte Bibliothek erhaschen konnte. »Das ist nicht das, was Kapelin schrieb. Ich habe das Manuskript gelesen, wie viele von uns, aber jetzt... wie beweisen wir es jetzt? Es ist mit allen übrigen zu Asche geworden.« Ich wusste nicht, was ich sagen oder glauben sollte, deshalb sah ich mich suchend nach weiteren Beweisen unseres guten Willens um, holte die Bücher aus meinen Taschen und überreichte sie der Nachfolgerin Danios, die sich immer noch nicht beruhigt hatte. »Hier ...« »Oh, danke«, sagte sie sarkastisch und sah sich die Titel an. »Die Ärztin des Schlosses ist hier; sie wird euren Ärzten bei den verwundeten Kapharnai helfen. Ihre Kenntnisse und Vorräte werden von Nutzen sein. Wir werden den entstandenen Schaden reparieren, soweit wir es können. Wenn ihr Getreideschiffe benötigt, werde ich sie schicken. Der Kreis untersteht eurem Befehl; möget ihr von der Geschichte und den Motiven des Imperators halten, was ihr wollt - ich verspreche euch, wir werden Tag und Nacht arbeiten.« 515 Ich dachte: Wir haben ihnen eine schlechte Regierung gebracht. Durch uns ist Tris den Kinderschuhen entwachsen und zum pflichtvergessenen Jugendlichen geworden. Aber Scolopendrium schlug nach wie vor in Wellen der Übelkeit und des Entzückens auf mich ein. Ich war einfach froh darum, am Leben zu sein, an einem der verbliebenen Leben. Als unsere Soldaten Blitz auf dem Kai erblickten, traten sie zu ihm. Aber da er fieberte, setzte er sich einfach hin und überließ es mir, die Befehle zu erteilen, während Rehgen sich um ihn kümmerte. Ich sagte dem Hauptmann des Heerbanns aus Awendin, er solle die Rebellen einsammeln und hinter Schloss und Riegel bringen. Dann kam Viridian, Atas Tochter. Sie hatte die blutbesudelten Körperteile ihrer Mutter eingesammelt und bestand darauf, dass Raa Ata Dei auf See bestattet würde, und zwar mit allen Ehren, die einer berühmten Forscherin sowie der Seefahrerin des Kreises zustanden. »Es ist entsetzlich«, sagte ich, »dass Raa nie erfahren kann, was aus Tris wird.« Blitz überblickte die zerbrochenen Pflastersteine, Ergebnis des Beschusses mit dem Trebuchet, und das vergessene, geplünderte Gold. Sein Auge verweilte auf dem Meer, in dem sich das Licht des Abends brach. Er verhielt sich dem Ozean jetzt ebenso misstrauisch gegenüber, wie ich es gewöhnlich war, und ich liebte das Meer jetzt, weil es nicht mehr dasselbe war, da die Seeschlangen in seinen Tiefen umherschwammen. »Ja, das ist es, Komet. Und ich frage mich, ob das Reich je wieder ein Fünkchen Normalität erlangen kann.« 516 KAPITEL 23 Im Schloss, Januar 2021 Die Wege unterhalb der Kreuzblumen waren glatt, weil der Schnee darauf teilweise geschmolzen und dann wieder gefroren war. Abdrücke von Stiefeln und Nagelschuhen zeigten sich in allen Einzelheiten darauf. Raureif säumte die steinernen Blätter des Architektenturms, und Eiszapfen von einer Länge, dass man Insekten damit aufspießen konnte, hingen von der »Brücke der Größe« herab, die die gepflasterte Eske-Straße über den Moren trug. Auf den Rasenflächen zwischen dem Simurghflügel und der Außenmauer hatte ein Zentimeter Eis zwei Zentimeter Schnee versiegelt und funkelte bläulich im frühen Morgenlicht. Ich wartete draußen vor dem Thronsaal in dem kleinen Kreuzgang, sah zu einem der spitzen scheibenlosen Fenster hinaus und sann über die Tatsache nach, dass, wenn man die Besten der Welt - körperlich oder intellektuell - in ein Schloss steckte und sie dort eintausend Jahre lang im eigenen Saft schmoren ließ, das Ergebnis nicht immer schmackhaft sein musste. Beim Blick hinaus nach Süden sah man, dass zwischen Außenmauer und Palast das Dach der Harcourtkaserne, wo der Heerbann des Reichs stationiert war, wieder erneuert worden war. Männer waren mit der Reparatur des Vorwerks am Haseltor beschäftigt, und die ganze Curtainwall entlang standen die Flaggen auf halbmast. Gleich neben mir, auf den Spandrillen zwischen den kleinen Bogenfenstern, gab es Schnitzereien von Menschen mit toten Gesichtern, denen Zweige aus den offenen, verrottenden Mündern sprossen. Ihr einziger Zweck bestand darin, 517 uns daran zu erinnern, dass wir eines Tages sterben und bloß noch Nahrung für Pflanzen sein werden. Es ist ein Gedanke, der die Eszai dazu anspornt, ihren Platz im Kreis zu halten, und der die Sterblichen dazu anspornt, Großes zu tun und sich dem Kreis anzuschließen oder allein um ihrer großen Taten willen nicht aus dem Gedächtnis verloren zu gehen. Tris würde Jahre brauchen, um sich von dem Schaden zu erholen, den Gio angerichtet hatte. Blitz, Zaunkönig, Rehgen, Viridian und ich hatten die Insel einen Monat nach dem Aufstand verlassen. Zuletzt sah ich sie in der Ferne unter einem Sonnenuntergang verschwinden, den die gewaltige Menge an Ruß und verbranntem Bücherstaub hoch in der Luft rosig gefärbt hatte. »Atas Sonnenuntergänge«, nennen die Kapharnai sie seither. Blitz war in Awendin geblieben, um sich zu erholen, und mit Zaunkönigs Hilfe sorgte er für die Errichtung eines Denkmals zu Ehren Atas auf der Grasinsel. Tausende aus ihrer umfangreichen Familie hatten sich dort versammelt; ich fand die Art und Weise, wie ihr Netzwerk aneinandergeklebt hatte, ziemlich erschreckend. Am meisten fühlte ich jedoch mit Blitz, weil er auch einen Weg finden musste, die Sache Zyan zu erklären. Den gestrigen Tag hatte ich damit verbracht, San von der Schlacht zu berichten, von dem anschließenden
Aufstand und von der Schuld, die wir dem fünften Land gegenüber hätten: Tris, Gut Kapharnaum. Jetzt sollte ich Antwort darauf geben, weshalb ich den Seeschlangen eine Heimat in unserer Welt zugesagt hatte. Ich sah auf, als Rehgen den Thronsaal verließ. »Dubis'jetz' an der Reihe«, sagte sie. »Ich habe San von allem berichte', bei dem ich Zeugin war.« »Du hast ihm von Vista Marchan erzählt?« »Ja, aber ob er überrasch' war, weiß ich nich'.« 518 »Es fällt schwer zu glauben«, meinte ich, »dass ich nicht der einzige Eszai bin, der von Andernort weiß. Und herauszufinden, dass du Kat genommen hast.« Rehgens Grinsen war breit wie eine aufgegangene Walnuss und zeigte einen fleckigen Gaumen. »Als Mädchen. Ich war mal ein junges Mädchen jan'; is' das nich' erstaunlich? An der Universitä' kursierten Gerüchte von seiner Wirkung. Ich habe nur einmal im Geis' wissenschaftlicher Forschung dami' experimentier'; ich mochte die Halluzinationen nich', weil sie so extrem eindringlich waren. Beim Anblick der Schlange glaubte ich, sie würde wie die Seeschlange aussehen, die ich im Traum auf einem Spaziergang durch Vista sah. Dann dachte ich: Hm, das war auch unter dem Einfluss des Farns Scolopendrium. Jan', ich wollte nich' nach Tris. Ich wollte mich von neuen Entdeckungen fernhalten. Aber das Interessanteste, was ich erfuhr, war nich' Trisianisch; ich habe meine Hypothese in neuem Lieh' gesehen.« Ich seufzte. »Man kann lernen, durch Meditation in die Welten von Andernort zu gelangen. Ich zweifle, dass ich je damit Erfolg haben werde, aber du könntest es vielleicht - du bist gut genug, dass du den Kreis spürst.« Wir sahen einander an und fragten uns, ob der Imperator persönlich Andernort vielleicht einen Besuch abgestattet hatte. Soweit wir wussten, konnte er gut und gern des Nachts dort umhergewandert sein und die Insektenhorden bei ihren Vorbereitungen beobachtet haben, in die verschiedenen Teile von Vierlanden durchzubrechen. »Ich verspüre nicht den Wunsch, nach Andernort zurückzukehren, Rehgen. Seitdem ich die Königsseeschlange gesehen habe, wie mächtig sie war, die Schönheit ihrer verblüffenden Färbung, und wie glücklich und zufrieden die Terschiede sind, fühle ich mich frei von meinem Verlangen. Ich bin bereit, die Sache in Ordnung zu bringen. Wenn ich mit dem Entzug 519 durch bin und mich von dem Trauma erholt habe, werde ich Gios Schatz Waffenschmiede zur Verfügung stellen.« »Für die Stabilitä' Awias.« »Um Nachtigall zurückzugewinnen.« »Weiß' du, Nachtigall ha' gespür', wie der Kreis zerbrochen is'. Sie sagte, der Gedanke hätte sie krank vor Sorge gemach', dass du es gewesen bis'. Sie ha' den Imperator gefrag', ob du gestorben bis' und ob sie altern würde, aber er verweigerte ihr die Antwor'.« Ich war mir bewusst, dass San wartete, und zeigte auf die Tür zum Thronsaal. »Komm mit! Ich möchte nicht allein da rein.« Wir schritten über den scharlachroten Teppich und durch das Portal in der Abschirmung wie ein Paar, das verheiratet werden sollte: Rehgen mit ihrem Halstuch, das zur Jahrtausendwende schon bessere Tage gesehen hatte, und ich in einem neuen Hemd mit Weste, einem langen Samttuch und mit feinem schwarzen Eyeliner. Zudem war mein Haar so kurz geschnitten, dass es schon grausam im Verhältnis zu meinen scharf ausgeprägten Gesichtszügen wirkte. Rehgen knickste und setzte sich auf die Bank, und ich kniete vor dem Podest nieder. Das leuchtende Sonnenbanner hinter dem Thron des Imperators reflektierte das Licht in all den reizvollen Farben eines Buntglasfensters. »Komet«, sagte San. »Du hast Schlangen aus Andernort mitgebracht, die unseren Ozean verseuchen. Ich kann mir nichts Gefährlicheres und Unverantwortlicheres vorstellen als dein Spiel mit den Grenzen und einheimischen Lebewesen anderer Welten.« Ich neigte den Kopf. »Tris ist Teil von Vierlanden; Vierlanden ist Teil von Andernort. Sie sind stets miteinander verbunden gewesen. Soweit es Insekten, Meereswesen und ... und mich selbst betrifft, ist es ein zusammenhängendes Ganzes.« 520 »Die Schlangen werden im Meer ein ebenso großes Problem darstellen wie die Insekten an Land!« »Herr, ich versichere Euch, dass sie uns nicht angreifen werden. Sie fressen bloß die riesigen Wale, die dem Land niemals nahekommen.« »Und benötigen wir nicht Wale und Untiefen? Darüber hinaus wird das jähe Erscheinen einer Seeschlange die ureigene Wahrnehmung der Realität aller Menschen bedrohen.« Ich war nach wie vor untröstlich darüber, dass die Bibliothek von Kapharnaum und ihre kostbaren Manuskripte verloren gegangen waren. Ich sah auf, um dem Imperator meinen Ärger zu zeigen. Er konnte mich nicht so bald nach Gios Rebellion aus dem Kreis werfen. Obwohl es mittlerweile wesentlich weniger Unruhe in Vierlanden gab, konnte ein bibliophiler Kurier ebenso gefährlich sein wie ein rachedurstiger Fechter. Der Imperator brauchte mich, einen trisianischen Gelehrten, der dem Senat und den Seeungeheuern bekannt war und der, obwohl
widerwillig, das ganze Jahr lang sein getreuer Diener war. Er sandte uns aus, um Schlachten und Infernos handzuhaben, und er bot uns keinerlei Belohnung, nur das schäbige Gehalt des Schlosses und noch etwas weitere Lebenszeit. Ich fragte mich erneut nach seiner Motivation, aber wie sehr es mich auch beunruhigte, tun konnte ich nichts. Wenn ich San verärgerte, würde er mich sterblich machen, und ohne ihn würde Vierlanden von Insekten überschwemmt. Ich dachte an das Bild in dem Geschichtsbuch, das San als einen bescheidenen, zum Weisen gewandelten Soldaten zeigte. Entschlossen sprach ich: »Ich weiß, dass meine Entscheidung die beste war. Sie hat uns und Kapharnaum gerettet. Wir haben Gio Einhalt geboten, und der Senat wird die Rolle der Gouverneure von Tris übernehmen. Ihr habt mir zu verstehen gegeben, dass wir uns aller Mittel bedienen sollten, 521 die uns notwendig erschienen, und die Seeschlangen herbeizurufen war das Rechte ...« Meine Stimme kroch immer langsamer dahin und erstarb schließlich wie eine Schlange auf einer Aschenbahn. »Du hörst dich an, als würdest du nichts bereuen, Komet.« »Herr.« Ich richtete meinen Blick fest auf die Nische, wo die Säule des fünften Landes stehen sollte. Der Imperator verstand und betrachtete mich eine lange Zeit. »Was auch geschieht, wir können wegen der Seeschlangen im Augenblick wenig unternehmen. Wenn Seefahrer und Wale sie sichten, werden sie hoffentlich glauben, dass Seeschlangen unser Meer schon immer bewohnt haben. Es hat schon immer Legenden von Ungeheuern gegeben.« Er hielt inne. »Komet, du wirst niemandem von Andernort erzählen.« »Versprochen.« »Ich bezweifle, dass ein Wüstling wie du sein Wort halten kann! Wie viele Male hat der Kreis dich aus Andernort zurückgeholt, weil du ansonsten gestorben wärst? Unsterblichkeit war nicht für diesen Zweck gedacht gewesen, Komet. Beim nächsten Mal, fürchte ich, kann der Kreis dich nicht mehr halten. Eine weitere tödliche Überdosis wird dann allerdings tödlich sein.« Die übrige Welt würde glauben, dass mich am Ende das Scolopendrium umgebracht hatte. Ich fummelte mit meinem Ohrring herum und dachte, dass meine private Spielwiese sowieso irgendwie verdorben war, da ich jetzt wusste, dass andere Eszai sie besucht hatten. Die Bedeutung Epsilons war eine andere geworden, und ich spürte kein Verlangen mehr, dorthin zu gehen, insbesondere nicht nach meiner Erfahrung beim Versuch, nach Hause zu wechseln. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich es vermissen würde. »Ich komme schon ohne klar«, sagte ich. »Ich möchte auch 522 nicht mehr abhängig sein; ich möchte geheilt werden. Das Letzte, was Raa zu mir sagte, war: >Hör auf zu schmollen, Jant!<« Rehgen warf zu meinen Gunsten ein: »Ich werde mich um ihn kümmern. Ich glaube, er wir' nich' wieder zu Scolopendrium greifen. Ich stelle ihm eine ausgezeichnete Prognose.« Besänftigt sagte der Imperator: »Nun ja, vielen Dank, Komet. Trotz deiner unrichtigen Entscheidung mit den Seeschlangen waren deine Dienste für Vierlanden von großem Wert. Jetzt gehe mit Rehgen, und zu gegebener Zeit wirst du die Trisianer einladen, an den Wettspielen um die Position des Seefahrers teilzunehmen. Du wirst sterbliche, unbeteiligte Botschafter aussenden, die ausführlich mit dem Senat sprechen und ihn hierher einladen und die Spannungen zwischen Kapharnaum und uns abbauen sollen.« Ich verneigte mich und nahm meinen Abschied. Langsam schritt ich an der Abschirmung und den ersten der Bänke für die Zaskai vorüber. Hinter mir ertönte Sans Stimme: »Was ist mit Gio Amis Vermögen?« Ich blieb wie angewurzelt stehen. Verdammt. Langsam drehte ich mich um und schlich zurück, während der Imperator fortfuhr: »Das, was du vom Platz vor dem Senatsgebäude geborgen hast? Rehgen sagte mir, dass du an der Spitze eines Gefolges aus Dienern die Metalltruhen zu deiner Wohnung geschleift hast.« Gab es etwas, das San nicht wusste? Ich stellte mir vor, wie meine hart errungene Beute in den Gewölben des Schlosses verschwand oder in Projekte investiert würde, von denen ich nie etwas zu sehen bekäme. Ich seufzte resigniert. »Herr, was soll ich mit Gios Vermögen tun? Ich wollte es für Waffenschmiede benutzen.« »In diesem Fall, Botschafter, halte ich es für das Beste, wenn du es behältst.« 523 KAPITEL 24 Nachtigall schritt über den zerstörten Platz, dessen Mauern jetzt lediglich aus Schneegestöber bestanden. Am Nordwestturm türmte sich der Schnee sogar noch höher. Sie erstieg das Treppenhaus, das in Eis gehüllt war. Die Tür zu meiner Wohnung schloss sich, und sie ließ ihren langen Mantel zu Boden gleiten. Ich lag nackt im Bett und sah ihr zu. Noch immer habe ich für Vieles zu kämpfen, aber auch Vieles zu feiern. Ich hatte Gios Schätze im Zimmer arrangiert. Goldketten hingen vom Spiegel herab, Silberteller glitzerten auf dem Mantel des Kamins. Er selbst war mit Stapeln von Silberbarren gepanzert, und Münzkonstellationen funkelten auf dem Teppich. Das Himmelbett hatte ich über und über mit Juwelen geschmückt. Nachtigall trat heran, um die Reichtümer zu begutachten; sie streichelte sie und setzte ein Lächeln auf. Ihre Finger hinterließen auf meiner Haut Spuren eines köstlichen Gefühls, wie von Funken. Ich sagte ihr, sie sei wunderschön. Sie tauchte unter das Laken, zog es sich über ihre wohlgeformten Schultern. Ich warf den Kopf zurück und heulte wie ein Wolf. Eine kleine Weile später rüttelte jemand am Knauf, aber die Tür war abgeschlossen.
DANKSAGUNG Mein Dank geht an Simon Spanton und Diana Gill. Meiner Agentin Mic Cheetham bin ich unendlich dankbar für ihre Hilfe und Unterstützung. Vielen Dank an M. John Harrison und Richard Morgan, dass sie mir Zeit geschenkt haben. Danke auch an Stuart Huntley von der »Schoole of Defence« für einige der Bewegungen im Duell von Kapitel 1. Vielen Dank an Chris Jackson und die Mannschaft der MS Chalice für Minkwale und Seeadler. Danke an Lynn Bojtos, Cath Price und Gillian Redfearn fürs Herumhängen im »Schloss«. Liebe und Dank an Brian für alles - touche!