Mary Stewart Die Geisterhunde
Christy Mansel – jung, reich und verwöhnt – trifft auf einer Reise im Nahen Osten ihren ...
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Mary Stewart Die Geisterhunde
Christy Mansel – jung, reich und verwöhnt – trifft auf einer Reise im Nahen Osten ihren ebenso charmanten wie interessanten Vetter Charles. Die beiden beschließen, ihre legendäre Großtante Harriet zu besuchen, obwohl sie wissen, daß sie damit ein Familien-Tabu verletzen. Nur keine Einmischung in die Angelegenheiten von Verwandten! „Lady Harriet“ lebt zusammen mit ihrem Leibarzt und drei arabischen Dienern in dem verfallenen orientalischen Märchenpalast Dar Ibrahim in den Bergen des Libanon. Es zeigt sich jedoch, daß es gar nicht so einfach ist, in Dar Ibrahim einzudringen – und fast unmöglich, wieder herauszukommen. Denn „Lady Harriet“ hat gute Gründe dafür, sich keine Zeugen für das zu wünschen, was in den unterirdischen Gewölben des Serail vor sich geht. Die hervorragende Erzählerin Mary Stewart zeichnet hier ungemein plastische Charaktere, eine scharfsinnig erdachte Handlung – und atemberaubende Spannung. Mary Stewart, in der englischen Grafschaft Durham als Tochter eines Geistlichen geboren, studierte an der Universität Durham, blieb nach ihrem akademischen Abschluß an der Hochschule als Dozentin für Englisch, bis sie dann 1945 den Geologieprofessor F.H. Stewart heiratete. Seit 1956 lebt sie mit ihrem Mann in Edinburgh. Mary Stewart begann mit dreißig zu schreiben, und ihre Bücher wurden außergewöhnliche Erfolge. Heute gehört sie zu der Handvoll englischer TopsellerAutoren: Ihre Romane – ein gutes Dutzend – erreichten Riesenauflagen, wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und erschienen in Fortsetzungen in verschiedenen namhaften Zeitschriften. Einige wurden auch verfilmt.
Vollständige Taschenbuchausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1969 Die Originalausgabe „The Gabriel Hounds“ erschien bei Hodder and Stoughton Ltd. London Copyright © 1967 by Mary Stewart Aus dem Englischen von Werner von Grünau Umschlaggestaltung Gebhardt und Lorenz Satz IBV Lichtsatz KG, Berlin Druck und Bindung Mohndruck, Gütersloh Printed in Germany ISBN 3-426-00633-2 3. Auflage
Diese Schilderung beruht auf Berichten über das Leben von Lady Hester Stanhope. Ich habe mich bemüht, mich in meinen Hinweisen so kurz wie möglich zu fassen, aber für die Leser, die es interessiert, wird die Zusammenstellung der Bücher auf Seite 69 als Anleitung ausreichen; damit habe ich auch meine wesentlichsten Quellen angegeben. Was ich Doughtys Travels in Arabia Deserta und ebenfalls Robin Feddens großartigem Buch Syria and Lebanon (John Murray) schulde, ist auch so deutlich genug zu erkennen. Noch ein Wort mag hier vielleicht notwendig sein. In einer solchen Schilderung ist es unvermeidlich, daß Beamte in Verbindung mit ihren Funktionen, wenn auch nicht namentlich, erwähnt werden. Jede Erwähnung einer Behörde, jede Nennung von Ministern, von Grenzbeamten und anderen sind nur im Zusammenhang mit dieser Geschichte erfolgt und beziehen sich auf keinerlei Inhaber dieser Ämter, seien sie tot oder lebendig. Noch eins: Es gibt zwar das Adonis Valley, jedoch nicht Nähr el-Sal’q — weder das Dorf noch das Schloß Dar Ibrahim. Ich möchte hier auch allen meinen Freunden von Edinburgh bis Damaskus, die mich in so großzügiger Weise unterstützt haben, meinen Dank aussprechen.
Erstes Kapitel Nicht eitle Unterhaltung sieh in diesem: Des Springbrunnens Sprudeln sei in ihm; Diwane seien hergerichtet, Pokale hingestellt, Kissen zurechtgelegt Und Teppiche ausgebreitet. Der Koran: Sure LXXXVII
Ich begegnete ihm auf der Straße, die die Gerade genannt wird. Ich war aus dem düsteren Laden in das Gleißen der Sonne von Damaskus hinausgetreten, die Arme mit Seidenstoffen beladen. Zuerst sah ich überhaupt nichts, da mir die Sonne gerade in die Augen schien und er im Schatten stand, dort, wo sich die Gerade Straße unter ihrem hohen Wellblechdach zu einem halbdunklen Durchgang verengt. Auf dem Souk wimmelte es von Menschen. Jemand blieb vor mir stehen, um eine Aufnahme zu machen. Eine Schar Jugendlicher strich vorbei. Sie musterten mich und machten ihre Bemerkungen auf arabisch, vermischt mit Ausrufen wie „Miss“, „Allo“ und „Goodbye“. Ein kleiner grauer Esel trottete unter einer Last von Gemüsen, dreimal so breit wie er selber, an mir vorüber. Ein Taxi fuhr so scharf an mich heran, daß ich einen halben Schritt in die Tür des Ladens zurücktrat, während der Ladenbesitzer neben mir aus Sorge um seine Seidenstoffe schützend eine Hand ausstreckte. Das Taxi schlingerte unter gellendem Hupen am Esel vorbei, teilte einen dichten Haufen zerlumpter Kinder, so wie ein Schiff durch Wasser schneidet, und schoß, ohne die Geschwindigkeit herabzusetzen, auf den Engpaß zu, wo sich die Straße zwischen hervorspringenden Reihen von Ständen jäh verschmälerte.
Da erblickte ich ihn. Er hatte mit gesenktem Kopf vor der Auslage eines Juweliers gestanden und ein kleines, vergoldetes Schmuckstück in seinen Händen betrachtet. Beim Hupen des Taxis sah er auf und sprang zur Seite. Mit diesem Schritt trat er aus der Tiefe des Schattens in das grelle Sonnenlicht hinaus. Plötzlich klopfte mein Herz heftiger, denn ich hatte ihn erkannt. Ich hatte gewußt, daß er sich in diesem Teil der Welt aufhielt, und wahrscheinlich war es genauso seltsam, ihm mitten in Damaskus zu begegnen, wie es das auch anderswo gewesen wäre. Aber nun stand ich dort im Sonnenschein und starrte zu ihm hinüber, betrachtete sein Profil, um vier Jahre mir fremder geworden und doch sogleich so vertraut und irgendwie an diesem Ort so unentrinnbar. Das Taxi entschwand mit einem Kreischen der Gänge und einem nochmaligen Aufbrüllen seiner Hupe im schwarzen Tunnel des großen Marktes. Die schmutzige, heiße Straße, die zwischen uns lag, war menschenleer. Einer der Seidenballen entglitt meinen Händen, und ich griff nach ihm, um ihn in seiner Kaskade von Karmesinrot aufzuhalten, bevor er den schmutzigen Boden berührte. Die Bewegung und die grelle Farbe müssen seine Aufmerksamkeit geweckt haben, denn er wandte sich mir zu, und unsere Blicke begegneten einander. Ich sah, wie sich seine Augen weiteten und er dann den vergoldeten Tand auf den Tisch des Juweliers zurückfallen ließ. Ohne den Schwall von schlechtem Amerikanisch zu beachten, das der Mann ihm nachbrüllte, überquerte er die Straße und kam auf mich zu. Die Jahre wichen sogar noch schneller zurück, als die rote Seide sich entfaltet hatte, wie er in genau dem gleichen Tonfall, mit dem ein kleiner Junge täglich seine noch kleinere Anbeterin begrüßt hatte, nun rief: „Ach, hallo! Bist du es?“ Ich war nun kein kleines Mädchen mehr, ich war zweiundzwanzig, und er war nichts weiter als mein Vetter
Charles, den ich selbstverständlich nicht mehr anbetete. Ich weiß nicht, warum, aber es erschien mir wichtig, dies klar herauszustellen. Ich versuchte, seinen Ton nachzuahmen, aber es gelang mir lediglich, eine Art idiotischer, dämlicher Gelassenheit hervorzubringen. „Hallo! Wie nett, dich zu sehen. Wie du gewachsen bist!“ „Ja, findest du nicht auch, ich rasiere mich jetzt auch schon fast jede Woche.“ Er lächelte mich an, und plötzlich war er auch kein kleiner Junge mehr. „Christy, meine Liebe, habe ich dich gefunden! Was, in aller Welt, treibst du denn hier?“ „Wußtest du denn nicht, daß ich in Damaskus bin?“ „Ich wußte, du würdest kommen, aber ich konnte nicht feststellen, wann. Was ich sagen wollte: Was tust du eigentlich hier ganz allein? Ich hatte geglaubt, du wärst mit einer Reisegesellschaft zusammen?“ „Bin ich auch“, antwortete ich, „ich habe mich nur ein bißchen selbständig gemacht. Hat Mama dir davon erzählt?“ „Sie hat es meiner Mutter erzählt, die es an mich weitergegeben hat, aber niemand schien sich sehr im klaren darüber zu sein, was du eigentlich treibst, wann du hier sein oder wo du wohnen würdest. Du hättest dir doch denken können, daß ich gern mit dir zusammengetroffen wäre. Gibst du denn niemals jemandem deine Adresse?“ „Ich hatte geglaubt, es getan zu haben.“ „Du hast deiner Mutter ein Hotel genannt, aber es war das falsche. Als ich dort anrief, erfuhr ich nur, daß deine Reisegesellschaft nach Jerusalem abgefahren sei. Als ich dort anrief, wurde ich nach Damaskus zurückverwiesen. Du verstehst es sehr gut, deine Spuren zu verwischen, kleine Christy.“ „Das tut mir leid“, erwiderte ich, „hätte ich geahnt, daß es eine Möglichkeit gab, dich noch vor Beirut zu treffen... Unsere Reiseroute hat sich geändert, das ist die ganze Geschichte, es
hat etwas mit dem Buchen der Flugplätze zu tun, und so lassen wir die ganze Reise von hinten nach vorn ablaufen. Deshalb mußte auch ein anderes Hotel in Damaskus ausgesucht werden. Ach, hol’s der Teufel, und morgen reisen wir nach Beirut ab! Seit drei Tagen sind wir jetzt hier. Bist du denn die ganze Zeit hier gewesen?“ „Erst seit gestern. Der Mann, den ich in Damaskus aufsuchen muß, kommt nicht vor Samstag nach Hause, aber als ich erfuhr, du müßtest jederzeit hier eintreffen, bin ich sogleich hierhergekommen. Ganz wie du sagst: Hol’s der Teufel! Aber hör mal zu, vielleicht ist es gar nicht so übel, daß man deine Reise umgekrempelt hat – bestimmt brauchst du doch nicht schon morgen abzureisen? Ich muß hier bis zum Wochenende warten, und da könntest du dich doch von deiner Gruppe trennen. Wir werden Damaskus miteinander ansehen und fahren dann nach Beirut weiter. Du bist doch nicht verpflichtet, mit den anderen zusammenzubleiben, nicht wahr?“ Er sah mich von oben her an und zog die Augenbrauen hoch. „Was hast ausgerechnet du in einer Reisegesellschaft zu suchen? Ich hätte nie geglaubt, daß du das magst.“ „Es liegt mir wahrscheinlich auch nicht, aber ich hatte plötzlich Lust, diesen Teil der Welt kennenzulernen, und hatte nicht die geringste Ahnung von ihm. Außerdem macht man es einem so leicht – alles wird im voraus gebucht und geplant, und ein Reiseleiter ist dabei, der Arabisch spricht und Bescheid weiß. Allein hätte ich doch kaum reisen können, meinst du nicht?“ „Warum nicht, das verstehe ich nicht. Und dann sieh mich nicht mit so großen, hilflosen Augen an. Wenn es jemals ein weibliches Wesen gegeben hat, das völlig imstande war, auf sich selber aufzupassen, dann bist du es.“ „Emma Peel von höchsten Graden, das bin ich!“ Ich betrachtete ihn sehr zufrieden. „Ach, Charles, ob du es glaubst oder nicht, es ist herrlich, dich zu treffen! Gott sei Dank hat
deine Mutter dich zu fassen bekommen und dir gesagt, daß ich hier durchkomme! Es wäre zu schön gewesen, mit dir ein bißchen hier zusammen zu sein, aber daran läßt sich nichts ändern. Ich hatte mir schon vorgenommen, ein wenig in Beirut zu bleiben, nachdem die übrige Reisegesellschaft am Samstag wieder nach Hause geflogen ist, und das werde ich jetzt wohl tun. Wie war deine Reise, schön? Eine Art große Fahrt, nicht wahr, mit Robbie zusammen?“ „Ja, so ungefähr. Die Welt ansehen und mein Arabisch wieder etwas auf Hochglanz bringen, bevor die eigentliche Arbeit in Beirut beginnt. Es ging los, wie aus der Pistole geschossen... Wir fuhren durch Frankreich, verluden den Wagen nach Tanger und bummelten dann langsam durch Nordafrika weiter. Von Kairo aus mußte Robbie wieder nach Hause, und so bin ich allein weitergefahren. In Kairo habe ich auch den Brief meiner Mutter bekommen, in dem sie mir von deiner Reise erzählte. So bin ich direkt hierhergefahren, in der Hoffnung, wir würden einander begegnen.“ „Sagtest du vorhin, du müßtest dich hier mit jemand treffen? Geschäftlich?“ „Zum Teil. Aber was stehen wir hier herum ? Hier stinkt es, und wir können hier jederzeit von einem dieser Esel niedergemäht werden. Komm, gehen wir Tee trinken.“ „Nur zu gern, aber wo willst du denn mitten in Damaskus einen Tee auftreiben?“ „In meiner kleinen Wohnung, die fast genauso schön ist wie der Asem-Palast.“ Er lächelte. „Ich wohne nicht im Hotel, sondern bei einem Mann, den ich noch von Oxford her kenne. Ben Sifara, ich weiß nicht, ob dein Vater diesen Namen jemals erwähnt hat. Bens Vater ist in Damaskus eine ziemlich angesehene Persönlichkeit – er kennt jeden und ist so ziemlich an allem beteiligt; er hat einen Bruder, der in Beirut Bankier ist, und einen Schwager in der Regierung – Innenminister,
darunter macht er es nicht. Die Familie ist das, was man hier eine ›gute Familie‹ nennt, und in Syrien bedeutet es nichts anderes als stinkreich.“ „Nicht so übel. Unter diesen Umständen würden wir in einem solchen Herdbuch eine recht gute Nummer haben.“ „Ja, nicht wahr!“ Die Stimme meines Vetters klang ziemlich spöttisch, und ich wußte, was er meinte. Meine eigene Familie unternehmungslustiger Bankiers war seit drei Generationen stinkreich, und es war überraschend, wie viele Menschen bereitwillig das sehr gemischte, um nicht zu sagen, das absolut plebejische Blut übersahen, das durch die Adern der Mansels pulste. Ich lachte auf. „Wahrscheinlich gehört er zu den Geschäftsverbindungen von Daddy und Onkel Chas.“ „Stimmt. Ich habe Ben versprechen müssen, ihn zu besuchen, wenn ich jemals nach Syrien käme, und mein Vater legte großen Wert darauf, daß ich diese Verbindung aufrechterhalte. Also bin ich hier.“ „Klingt nicht schlecht. Natürlich komme ich gern mit. Warte nur einen Augenblick, bis ich meine Seide habe.“ Ich betrachtete die schimmernde Masse in meinen Armen. „Fragt sich nur, welche?“ „Wenn du die Wahrheit hören willst: Keine von diesen gefällt mir sonderlich.“ Mein Vetter griff in eine der Falten, befühlte den Stoff zwischen den Fingern, furchte die Stirn und ließ ihn wieder fallen. „Schönes Gewebe, aber dieses Rot ist ziemlich grell, findest du nicht? Die Leute würden bei dir ihre Briefe einwerfen. Und dieses Blau... ? Nein, nichts für dich, meine Liebe. Es steht dir nicht, und ich sehe meine Mädchen gern in harmonischen Farben.“ Ich sah ihn kühl und abweisend an: „Und genau aus diesem Grund werde ich beide kaufen und sie mir in Streifen nähen
lassen. Horizontal. Nein, ich sehe ja ein, was du meinst. Aber im Laden sahen sie eigentlich ganz nett aus.“ „Da die Leute dort für ewige Finsternis sorgen, ist es kein Wunder.“ „Aber doch ganz hübsch, ich wollte es eigentlich für einen Morgenrock haben. Vielleicht bei gedämpftem Licht... ? Ich finde dieses Muster recht nett und orientalisch... ?“ „Nein.“ „Das ärgerliche an dir ist“, entgegnete ich verbittert, „daß du manchmal recht hast. Was hast du dir denn dort drüben in dieser Woolworth-Bude kaufen wollen, wenn wir schon von solchen Dingen reden? Einen Ring für Emily?“ „Ja, natürlich, ein Schmuckstück für meine Geliebte. Eine blaue Glasperle für meinen Wagen.“ „Eine blaue Glasperle für deinen... ? Eine blaue Glasperle für deinen Wagen? Das geht doch nun wahrhaftig etwas zu weit!“ Er lachte auf. „Hast du das nicht gewußt? Blaue Perlen schützen vor dem bösen Blick. Alle Kamele und Esel tragen sie, warum also nicht der Wagen? Manchmal haben sie sogar recht hübsche Türkise. Aber lassen wir das jetzt, die kann ich mir immer noch besorgen. Willst du wirklich etwas von dieser Seide kaufen? Ich bitte dich, alles, was du zu Hause bekommst, wird genauso gut sein, und du ersparst dir die Mühe, es mit dir herumzuschleppen.“ Der Händler, der unmittelbar hinter mir stand und dessen Anwesenheit wir beide völlig vergessen hatten, warf nun mit verständlicher Verbitterung ein: „Bis Sie kamen, sind wir glänzend miteinander ausgekommen. Die Dame hat sehr guten Geschmack.“ „Natürlich hat sie den“, entgegnete mein Vetter, „aber Sie können nicht von mir erwarten, daß ich mich für einen Morgenrock in der Farbe eines Briefkastens oder in
Papageienblau erwärme. Sollten Sie etwas Passenderes haben, könnten Sie es uns ja zeigen.“ Der Gesichtsausdruck des Mannes hellte sich auf. Erfreut und voller Erwartung musterte er den offensichtlich teuren Anzug meines Vetters. „Ich verstehe. Verzeihen Sie, Sir. Sie sind der Gatte der Dame?“ „Noch nicht“, antwortete Charles. „Komm, Christy, gehen wir hinein und kaufen das Zeug, und dann nichts als weg von hier, irgendwohin, wo wir uns unterhalten können. Mein Wagen steht auf dem Platz am Ende der Straße. Wo ist übrigens deine Reisegesellschaft?“ „Ich weiß es nicht, ich habe sie verloren. Wir hatten die Große Moschee besichtigt, und dann bummelten wir etwas abgetrieben durch den arabischen Markt, und ich blieb stehen, um mir die Auslagen anzusehen. Plötzlich waren alle verschwunden.“ „Und du hast sie einfach abziehen lassen? Werden sie jetzt nicht mit Bluthunden die Souks absuchen, wenn sie deine Abwesenheit bemerken?“ „Wahrscheinlich.“ Ich drückte die Seidenstoffe an mich und wandte mich der Ladentür zu. „Charles, wenn es ein wirklich himmlisches Cremeweiß gäbe...“ „Im Ernst, solltest du nicht lieber im Hotel anrufen?“ Ich zuckte die Achseln. „Ich bezweifle, daß man mich vor dem Abendessen vermissen wird. Die anderen haben sich inzwischen daran gewöhnt, daß ich auf eigene Faust losziehe.“ „Noch immer die gleiche verwöhnte kleine Dame, die ich liebe?“ „Ich mag ganz einfach die Masse nicht. Aber du hast gerade allen Grund zu reden! Daddy hat schon immer behauptet, du seist entsetzlich verwöhnt, und es ist bestimmt wahr.“ „Aber natürlich. Der liebe Onkel Chris“, antwortete mein Vetter gelassen und betrat hinter mir die schwarze Höhle des
Ladens. Am Ende kaufte ich etwas Weißes, einen schönen, schweren, cremeweißen Brokat, den, was mich nicht weiter überraschte, Charles von einem düsteren Regal hervorzuzaubern schien und den mir der Händler vorher nicht gezeigt hatte. Außerdem war dieser Stoff billiger als alle anderen, die ich bis dahin gesehen hatte. Auch überraschte es mich nicht sehr, als ich Charles mit dem Inhaber und seinem Verkäufer in einem zwar langsamen, aber, wie mir schien, einigermaßen fließenden Arabisch sprechen hörte. Er mochte (wie meine Eltern in meiner Gegenwart oft genug erklärt hatten) „entsetzlich verwöhnt“ sein, aber niemand hatte jemals abgestritten, daß er über erhebliche Intelligenz verfügte, wenn er willens war, sich ihrer zu bedienen – was (wie sie behaupteten) etwa einmal im Monat und dann ausschließlich in seinem eigenen Interesse geschah. Als wir, gefolgt vom Ladenjungen, der die Seide trug, zum Platz gelangten, war Charles’ Wagen sofort zu erkennen – nicht wegen der Marke oder der Farbe, denn weder das eine noch das andere war zu sehen, sondern wegen der sechs Reihen tiefen Menge kleiner Jungen, die ihn umstanden. Beim Näherkommen erwies er sich als ein weißer Porsche 911 S. Da ich meinen Vetter liebte und mich in der Welt auskannte, gab ich ihm sofort sein Stichwort. „Was für eine kleine Schönheit! Liebst du sie sehr?“ Er gab es zu. Er öffnete die Haube und zeigte mir alles. Fast hätte er den Wagen auseinandergenommen, nur um alles genau vorzuführen. Die Jungen waren begeistert. Sie drängten immer dichter heran, jetzt in zwölf Reihen, rissen den Mund auf, starrten und begriffen wahrscheinlich mehr als ich von den MacPherson-Verstrebungen und den Achsschenkeln, von Kompression, Torsionsstäben und teleskopischen Stoßdämpfern... Ich ließ diese Worte eines Liebenden über mich hinwegfluten, beobachtete dabei das Gesicht und die Hände meines Vetters und mußte an all die anderen derartigen
Augenblicke denken – an die elektrische Eisenbahn, an die Eier des Turmfalken, an die erste Armbanduhr, an das Fahrrad... Er richtete sich auf, zerrte ein paar Jungen rückwärts unter der Motorhaube hervor, schloß sie, bezahlte die zwei größten, die wahrscheinlich den Wagen für ihn bewacht hatten, und gab dem Ladenjungen ein Trinkgeld, das einen kleinen Wortschwall bei ihm auslöste. Dann fuhren wir davon. „Was hat er gesagt?“ „Nichts weiter als ›danke‹. Nur mit anderen Worten. ›Der Segen Allahs sei auf dir, deinen Kindern und den Kindern deiner Kinder.‹“ Der Wagen wand sich durch die dichte Menge auf dem Platz hindurch und bog auf eine enge, von Furchen durchzogene Straße ein, auf der alle teleskopischen Stoßdämpfer Überstunden machten. „Damit warst du mehr oder weniger gemeint. Ich hoffe, daß wir noch immer verlobt sind.“ „Faute de mieux, wahrscheinlich sind wir es noch. Aber ich glaube mich daran erinnern zu können, daß du selber die Verlobung aufgehoben hast, und zwar schriftlich. Das war damals, als du diesem blonden Weib begegnet bist – wie hieß sie doch noch, das Modell? Sie sah so aus wie ein Fall aus Belsen.“ „Samantha? Sie war sehr schick.“ „Natürlich. Auf jeden Fall müssen sie ja so aussehen, nicht wahr, damit sie all dies ausgefallene Zeug tragen können, während sie bis zu den Knien im Meer stehen oder Stroh aufladen oder Coca-Flaschen leeren oder etwas dergleichen. Was ist aus Samantha geworden?“ „Wahrscheinlich ist sie von ihrem gerechten Schicksal ereilt worden, aber nicht mit mir.“ „Das ist schon eine Ewigkeit her – gleich nachdem wir uns das letztemal gesehen hatten. Ist sonst niemand in meinem Weg?
Du willst mir doch nicht etwa erzählen, daß du seit vier Jahren nichts mehr angestellt hast?“ „Soll das ein Scherz sein?“ Er schaltete herunter, bog scharf nach links ab und beschleunigte wieder eine schmutzige, kleine Gasse hinunter, deren Gesamtbreite kaum mehr als anderthalb Meter zu betragen schien. „Aber tatsächlich ist es so, ja. So gut wie, wenn du mich richtig verstehst.“ „Ich verstehe. Was ist aus Emily geworden?“ „Wer zum Teufel ist Emily?“ „Hieß sie nicht Emily? Letztes Jahr. Bestimmt hat Mama Emily gesagt – oder war es Myrtle? Was du dir auch für Namen aussuchst!“ „Ich könnte nicht sagen, daß sie schlimmer sind als Christabel.“ Ich lachte auf. „Damit hast du nicht so unrecht.“ „Was mich betrifft“, fuhr mein Vetter fort, „sind wir einander schon von der Wiege an versprochen. So bleiben die schönen Moneten in der Familie, und Urgroßvater Rosenbaum, der Friede sei mit ihm, braucht nicht länger in seiner weißgekalkten Gruft zu rotieren, da...“ „Achtung! Der Hund!“ „Schon gut, ich habe ihn gesehen – oder zumindest: Der Porsche hat ihn gesehen. Das wäre erledigt. Also gut!“ „Du betrachtest vieles als selbstverständlich, nicht wahr? Nur weil ich dir in meinen Jugendjahren treu geblieben bin, sogar als du Pickel hattest.“ „Es blieb dir gar nichts weiter übrig“, meinte mein Vetter. „Du warst damals dick wie ein Seehund junges. Ich muß schon sagen, du hast dich herausgemacht.“ Ein verstohlener Blick von der Seite her, ziemlich brüderlich und mit erheblich geringerer sexueller Würdigung, als sie ein Richter bei einer Hundeausstellung aufbringt. „Tatsächlich atemberaubend, kleine Kusine, und das Kleid gefällt mir. Na schön, zerstör meine Hoffnungen, wenn es unbedingt sein muß. Gibt es
jemand?“ Ich lächelte boshaft. „Paß nur auf, mein Lieber, oder du wirst feststellen, daß da wirklich etwas ist. Dann wirst du deinen Wagen verkaufen müssen, um mir einen Brillanten zu schenken.“ „Von mir aus“, sagte er leichthin, „und da wären wir.“ Der Porsche verlangsamte seine Fahrt und bog in einem rechten Winkel von der Straße auf einen kleinen, wenig ansprechenden Hof ab, wo die Sonne grell auf den Staub herabbrannte und zwei Katzen auf einem Stapel zerbeulter Benzinkanister schliefen. In einer Ecke war ein spitz zulaufender Streifen tiefblauen Schattens, in den er mit einem Minimum an Bewegungen schwungvoll hineinfuhr und wo er den Wagen parkte. „Vordereingang im Stil von Damaskus. Sieht nicht sehr großartig aus, nicht wahr? Komm nur herein.“ Zunächst wirkte dieser Hof, als führte er überhaupt in gar nichts hinein. Man fühlte sich dort eingesperrt und von den hohen, fensterlosen Mauern erstickt. Es roch nach Hühnern und abgestandenem Urin. Aber ein großer Torweg auf der einen Seite wurde von einer Tür versperrt, deren rissiges Holz mit dem schweren schmiedeeisernen Griff und den mächtigen Angeln etwas von der alten Pracht verriet. Charles öffnete die Tür, die auf einen dunklen Gang führte, an dessen Ende Licht durch einen Torbogen einfiel. Wir gingen hindurch. Das Licht rührte von einem zweiten Hof her, diesmal länglich und etwa von der Größe eines Tennisplatzes. Maurische Bogen umschlossen auf drei Seiten einen schattigen Innenhof; auf der vierten Seite erhob sich am Ende eine erhöhte Plattform hinter einem dreifachen Bogen und bildete eine Art Bühne oder kleinen Innenraum. Hinten und an den Seiten dieser Plattform standen breite Bänke an den Wänden entlang, und ich erkannte den „Diwan“ oder jenen Raum, in dem sich die Männer des Orients versammeln und miteinander reden. Sogar in modernen orientalischen Häusern werden die Wohnzimmer noch heute
häufig, der Tradition entsprechend, so eingerichtet: Die Stühle und Sofas stehen an drei Seiten des Zimmers an den Wänden entlang. Vor den Bänken standen niedrige Tische. In der Mitte des Hofes sprudelte ein Springbrunnen; der Boden war mit blauen und weißen Fliesen ausgelegt, und die kleine Kolonnade schimmerte und blitzte in einem Mosaik von Blau, Grün und Gold. Irgendwo gurrte eine Turteltaube, hier und dort standen Orangenbäume in Kübeln, und wo der Springbrunnen plätscherte, erblickte ich das Aufleuchten einer goldenen Flosse. Im Hof war es sehr kühl, und es roch nach Orangenblüten. „Komm in den Diwan“, sagte Charles. „Ja, sehr hübsch, nicht wahr? Ich finde immer, daß die arabische Architektur etwas sehr Befriedigendes hat – sehr viel Poesie, Leidenschaft und Romantik, und dabei so leicht. Ebenso wie ihre Literatur. Aber du solltest einmal ihre Einrichtung sehen; mein Schlafzimmer ist mit dem Ramsch aus der Kammer von Ritter Blaubart ausgestattet.“ „Ich verstehe, was du meinst. Ich habe einige Prachtexemplare in den gemütlichen kleinen Zimmern des Asem-Palastes gesehen – alle mit Perlmutter eingelegt, sieht aus wie Blattern, aber sonst reiner viktorianischer Stil, unter Verwendung einer Menge arthritischen Bambusses. Aber, Charles, sieh dir nur die Teppiche an und die da drüben... und dieser blaue auf der Bank... Darf ich wirklich darauf sitzen?“ „Nur zu. Ich glaube, Ben wird bald hier sein, aber bis dahin ist dieses Haus mein Haus, wie er mir immer wieder versichert. Was möchtest du haben? Tee?“ „Ich hätte lieber Kaffee. Was tut man hier, klatscht man in die Hände und ruft die Eunuchen herbei?“ „So ähnlich.“ Auf dem wirklich scheußlichen eingelegten Tisch vor mir stand eine kleine Glocke aus Messing. Er ergriff sie, läutete und ging dann ruhelos – er war immer ruhelos
gewesen – die Stufen des Diwans hinunter bis zum Springbrunnen und wartete. Ich setzte mich auf den schönen blauen Teppich, lehnte mich in die Kissen zurück und beobachtete ihn. Nein, er hatte sich nicht verändert. Als Kinder sollen Charles und ich einander immer sehr ähnlich gewesen sein; das ging so weit, daß man uns, als wir noch klein waren, häufig für Zwillinge gehalten hat. Das hatte Charles stets in Raserei versetzt, denn damals war er von einer aggressiven Männlichkeit besessen, aber für mich, die ich meinen gescheiten Vetter stumm anhimmelte, wie nur ein kleines Mädchen es kann, war es eine tiefe Genugtuung. Als wir älter wurden, hatte sich diese Ähnlichkeit natürlichverloren. Es gab noch immer Grundzüge einer Ähnlichkeit: dunkles Haar, hochangesetzte slawische Backenknochen, leicht gebogene Nase, graue Augen und schlanke Gestalt. Nun war er einige Zentimeter größer als ich, war auch breiter geworden, aber hatte ganz offensichtlich die aggressive Männlichkeit seiner Jugendjahre abgelegt und eine selbstverständlich wirkende Eleganz entwickelt, die gut zu ihm paßte und seltsamerweise nicht weniger männlich wirkte. Auf seiner Reise durch Nordafrika hatte er sich eine schöne braune Hautfarbe zugelegt, und dadurch sahen seine Augen heller aus als die meinen, obwohl dies möglicherweise nur auf den Kontrast mit den schwarzen Wimpern zurückzuführen war, die (ungerecht wie die Natur sein kann) länger und dichter waren als die meinen. Wie immer es sich verhalten mag, Charles’ Augen waren jedenfalls schön, dunkelgrau und hatten lange Wimpern. Gelegentlich dachte ich noch immer, daß die Ähnlichkeit zwischen uns beiden auffallend sein müsse: eine gewisse Art, den Kopf zu drehen, ein eigentümlicher Tonfall, eine Bewegung. In einem waren wir einander bestimmt gleich: uns beiden war jene „Verwöhntheit“ eigen, die wir so schnell aneinander erkannten – eine respektlose Gescheitheit, die sogar
in Gereiztheit umschlagen konnte; eine Anmaßung, die keineswegs dem Stolz auf besondere Leistung entsprang, sondern, wie ich fürchte, darauf zurückzuführen war, daß wir zuviel zu jung erhalten hatten; eine heftige, selbstbewußte Ablehnung aller persönlichen Bande (einschließlich der unserer Familien), die wir als Unabhängigkeit bezeichneten, aber die in Wirklichkeit auf einer fast krankhaften Angst beruhte, andere Menschen könnten Besitzansprüche an uns stellen; und noch etwas, das wir Empfindsamkeit nannten und was wahrscheinlich nichts weiter bedeutete, als daß unsere Haut in unangenehmer Weise zu dünn war. Vielleicht sollte ich hier erklären, daß die Verwandtschaft zwischen Charles und mir enger war als sonst zwischen Vetter und Kusine. Unsere Väter, Charles und Christopher Mansel, waren eineiige Zwillinge, die fast bis zu ihrer Heirat untrennbar und nicht zu unterscheiden waren. Sie hatten auch am gleichen Tag geheiratet – Mädchen, die nicht miteinander verwandt waren, aber die (wie man noch immer erkennen konnte) dem gleichen körperlichen Typ angehörten. Es war nur ein Glück, daß die beiden Frauen einander sehr mochten, ein Glück deshalb, weil Charles und Christopher Geschäftspartner waren und weil, als der ältere Zwilling das Familienhaus in Kent erbte, der jüngere, Christopher, eins für sich selber in nur einer Meile Entfernung davon gebaut hatte. So waren Charles’ Sohn und Christophers Tochter bis vor vier Jahren miteinander aufgewachsen. Damals hatte Christopher seine Familie – Mama und mich – nach Los Angeles exportiert. Aus diesem irdischen Paradies waren wir gelegentlich entflohen, um in Charles’ Haus zu wohnen, während das unsere für diese Zeit vermietet wurde. Aber meine dortigen Besuche waren niemals mit dem Aufenthalt meines Vetters zusammengefallen. Nach Beginn der Ferien in Oxford hatte er sich im Ausland aufgehalten. Ihm machte es Spaß, „sich ein bißchen
umzusehen“, wie er es nannte, und seiner Begabung für fremde Sprachen freien Lauf zu lassen. Diese Begabung war ein Teil unseres Erbes aus dem Rassengemisch unserer Vorfahren, und der junge Charles hatte die Absicht, sie auszunutzen, sobald er in eine der Banken der Familie auf dem Kontinent eingetreten sei. Mein Höhenflug war nicht ganz so hoch gewesen. Aus Los Angeles hatte ich nichts weiter mitgebracht als das sichere Gefühl der Amerikanerin für das, was ihr steht, einen Akzent, den ich, sobald sich das mit einigem Anstand tun ließ, über Bord warf, und eine dreijährige Erfahrung im Tollhaus des amerikanischen kommerziellen Fernsehens, wo ich eine wilde Lehrzeit als Assistentin des Produktionsleiters in einer kleinen Gesellschaft durchmachte, die sich Sunshine Television Incorporated nannte – dies offenbar in seliger Mißachtung der Tatsache, daß von ihr ebenso wie von allen anderen Unternehmen normalerweise nur mit den Anfangsbuchstaben gesprochen wurde: S. T. Inc. Da waren wir also nun wieder, mein Vetter und ich, und mühelos fanden wir zu unserem alten Verhältnis zurück. Wir waren nicht etwa – wie unsere Väter – unzertrennlich gewesen, das war unmöglich. Uns verband, so widersinnig das klingt, eine Art gegenseitiger Ablehnung. Jeder hatte beim anderen eine Abweisung jeglicher Ansprüche zu spüren bekommen, die er durchaus anerkannte. Das hatte die zerschlissenen, in der Familie stets von neuem wiederholten Scherze über unsere Verlobung und all das törichte Geschwätz über uns und „wie reizend es doch wäre...“, die wir als Kinder über uns hatten ergehen lassen müssen, einigermaßen erträglich gemacht. Dieser uns bereits in die Wiege gelegte Scherz über unsere Verbindung rührte im übrigen nicht von unseren Eltern her – ich habe meinen Vater oft genug darauf herumreiten hören, daß unsere Familieneigenschaften für sich allein genommen schon schlimm genug seien, aber ins Quadrat erhoben, würden sie
zweifelsohne schwachsinnige Verbrecher hervorbringen, worauf Charles’ Vater erwiderte, nichts wäre bei einer solchen Verbindung, die im Grunde auf Blutschande hinausliefe, wahrscheinlicher, aber da meine Mutter zum Teil irischer Abstammung sei und die von Charles halbe Österreicherin, halbe Russin mit leichten französischen Anklängen (wie ihr Mann sich ausdrückte), könnte dieser Menschenschlag stark genug sein, um auch das zu verkraften. Wir hatten auch einen polnischen Juden, einen Dänen und einen Deutschen unter unseren Urgroßeltern vorzuweisen und betrachteten uns selber im übrigen als Engländer, was unter diesen Umständen durchaus berechtigt war. Aber das Gesäusel der Tanten über die beiden reizenden Kinder (die wir meiner Ansicht nach wohl waren) nahm kein Ende, so daß Charles und ich es uns weiterhin hatten anhören müssen; wir hatten einander in den Haaren gelegen, hatten uns gegenseitig gehaßt, uns gegenseitig verteidigt und hatten zusammengehalten. Niemals war uns dabei der Gedanke gekommen, wir könnten uns gegenseitig sexuell reizen – mit sechzehn oder siebzehn wäre es tatsächlich Blutschande gewesen. So hatten wir, ebenso gegeneinander gesichert wie Bruder und Schwester, mit gleichem Vergnügen und von gleicher Spottlust erfüllt, die ersten Liebesabenteuer des anderen beobachtet. Das waren flüchtige, jedoch unvermeidliche Affären. Früher oder später erhob das Mädchen Ansprüche Charles gegenüber, und schon ließ er es fallen. Es blieben keinerlei Spuren zurück. Oder irgendwie hatte mein eigener Schwarm etwas von seinem Zauber eingebüßt, und Charles mochte etwas kaum Verzeihliches über ihn gesagt haben, und schon gab ich es ihm wütend zurück. Dann aber mußte ich lachen, ihm recht geben, und die Welt war wieder heil.
Unsere Eltern ließen uns alles voller Verständnis durchgehen, nahmen uns die Zügel ab, gaben uns Geld, hörten sich an, was wichtig war, und vergaßen das übrige, wahrscheinlich, weil sie von uns ebenso dringend befreit zu sein wünschten, wie wir unserer Ansicht nach Befreiung von ihnen erstrebten. Die Folge war, daß wir wie in den Stock zurückfliegende Bienen in Abständen zu ihnen zurückkehrten und wir glücklich waren. Vielleicht erkannten sie klarer, als es Charles und mir möglich war, jene alles unterlagernde Sicherheit in unserem Leben, durch die seine Ruhelosigkeit und meine Unentschlossenheit im Grunde keine andere Bedeutung erhielten, als dem Ausloten der Wassertiefe vor dem Hafen zukommt. Vielleicht vermochten sie sogar durch alles hindurch die weitere Entwicklung zu überblicken. Aber hier waren wir nun und sahen uns einem neuen Anfang gegenüber. Ein junger weißgekleideter Araber war mit einem Tablett eingetreten, auf dem ein kunstvoll ziseliertes Kupfergefäß und zwei kleine blaue Tassen standen, die er auf dem Tisch vor mir abstellte. Er sagte etwas, zu Charles gewandt, und ging hinaus. Mein Vetter stieg rasch die Stufen des Diwans wieder hinauf und setzte sich neben mich. „Er hat gesagt, Ben wird noch nicht so bald hier sein, nicht vor Abend. Los, gieß du ein.“ „Ist auch seine Mutter nicht da?“ „Seine Mutter ist tot. Den Haushalt führt die Schwester seines Vaters, aber sie lebt zurückgezogen, wie man sagt. Nein, kein Harem, schau also nicht so neugierig und so hoffnungsvoll; sie hält nur eine ausgedehnte Siesta und wird bis zum Abendessen nicht erscheinen. Zigarette?“ „Jetzt nicht. Ich rauche ohnehin nicht viel, nur hin und wieder, ein bißchen Angabe, ziemlich albern. Du lieber Himmel, was ist denn das! Haschisch, oder was?“
„Nein, völlig harmlos, ägyptische Zigaretten. Sehen entsetzlich aus, was? Und nun erzähl mir einmal, was du so treibst.“ Er nahm die Tasse mit starkem schwarzem Kaffee von mir entgegen, lehnte sich auf dem mit Seide bezogenen Sitz zurück und sah mich erwartungsvoll an. Vier Jahre Klatsch wiederzugeben ist eine Aufgabe, und wir waren niemals große Briefschreiber gewesen. Ich glaube, es war mehr als eine Stunde verstrichen, und die Sonne hatte inzwischen den halben Innenhof in Schatten getaucht, als mein Vetter sich streckte, wieder eine ägyptische Zigarette zerdrückte und sagte: „Nun hör mal zu! Warum willst du dich denn unbedingt an deine Reisegesellschaft klammern? Willst du es dir nicht anders überlegen und dich jetzt von ihr trennen? Bleib bis zum Sonntag hier, und dann fahre ich dich hinauf – das Baradatal ist sehr schön, und die Straße ist gut.“ „Vielen Dank, aber ich bleibe besser mit den anderen zusammen. Wir fahren diese Strecke ohnehin in Wagen und werden uns unterwegs Baalbek ansehen.“ „Ich würde dich auch dorthin bringen.“ „Es wäre zwar hinreißend, aber es ist alles schon festgelegt. Im übrigen habe ich bereits gepackt, und du weißt doch, was für ein Theater man hier wegen der Visen macht. Das meine läuft morgen ab, und dann ist noch diese Geschichte mit dem Gruppenpaß. Ohnehin hat es einen Mordstumult gegeben, weil ich zurückbleiben will, sobald die Reisegesellschaft nach England abgeflogen ist, so daß ich nicht noch einmal das alles über mich ergehen lassen kann. Ich glaube, ich werde ganz einfach abreisen.“ „Na schön, dann sehe ich dich also in Beirut. Wo wohnst du?“ „Ich hatte gedacht, sobald ich auf mich gestellt bin, ins Phoenicia zu ziehen.“ „Ich werde auch dorthin kommen. Würdest du bitte für mich ein Zimmer bestellen? Ich rufe dich an, bevor ich von
Damaskus abfahre. Was hattest du dir vorgenommen, abgesehen davon, daß du, wie ich annehme, nach Dar Ibrahim fährst?“ „Dar Ibrahim?“ wiederholte ich verständnislos. „Wo Großtante Harriet lebt. So heißt es, das mußt du doch wissen? Es liegt am Nähr Ibrahim, dem Fluß, den wir Adonis nennen.“ „Ich... ja, ich habe es wohl gewußt, aber vergessen. Mein Gott, Großtante Harriet... An sie hätte ich niemals gedacht... Es liegt also in der Nähe von Beirut?“ „Etwa fünf zig Kilometer entfernt, an der Küstenstraße nach Byblos und dann landeinwärts in die Berge hinauf, in Richtung auf die Quellen des Adonis. Die Straße verläuft auf dem Höhenzug an der Nordseite des Tals, und irgendwo zwischen Tourzaya und Qartaba gibt es einen Nebenfluß mit Namen Nähr el-Sal’q, ein ziemlich reißender Fluß, der in den Adonis mündet. Dar Ibrahim liegt am Zusammenfluß der beiden in der Mitte des Tals.“ „Bist du jemals dort gewesen?“ „Nein, aber ich habe die Absicht hinzufahren. Hast du wirklich nicht daran gedacht?“ „Aber nicht im geringsten. Selbstverständlich wollte ich ins Adonistal fahren und mir die Quellen ansehen, wo der Wasserfall ist, und den Tempel von wem auch immer und die Stelle, wo Venus und Adonis einander begegnet sind. Ich hatte sogar daran gedacht, mir am Sonntag einen Wagen für diese Fahrt zu leihen, nachdem die Reisegesellschaft abgeflogen ist... Aber, um ganz ehrlich zu sein, Tante H. hatte ich völlig vergessen. Weißt du, ich kann mich ihrer kaum noch erinnern; als sie das letztemal nach England reiste, wohnten wir schon in Los Angeles, und davor – du lieber Himmel, das müssen an die fünfzehn Jahre her sein! Und Mama hat niemals etwas von ihrem Haus erwähnt – von Dar Ibrahim, so heißt es doch, nicht
wahr? –, aber das liegt wahrscheinlich daran, daß sie es in Geographie so ziemlich mit mir aufnehmen kann und ihr niemals klargeworden ist, daß Beirut so nah sei.“ Ich setzte meine Tasse ab. „Also mitten im Adonistal ? Gut, vielleicht fahre ich mit dir zusammen hin, und sei es nur, um mir das Haus anzusehen und Daddy davon zu erzählen. Bestimmt wird er glauben, für mich gäbe es noch einige Hoffnung, wenn ich ihm berichte, daß ich dorthin getreckt bin, um einige Blumen auf das Grab der lieben alten Tante zu legen.“ „Wahrscheinlich würde sie dir, wenn du es versuchtest, die Zahne ausschlagen“, sagte Charles. „Die ist noch quicklebendig. Bist du nicht vielleicht ein ganz kleines Stück hinter dem Mond?“ Ich starrte ihn an. „Lebendig? Tante H.? Wer ist denn hier hinter dem Mond? Sie ist doch kurz nach Neujahr gestorben.“ Er lachte auf. „Doch sie nicht! Wenn du an ihren Letzten Willen und ihr Testament denkst, liegst du völlig schief. Während der letzten paar Jahre hat sie die etwa alle sechs Monate in Umlauf gesetzt. Hat nicht Onkel Chris jenen berühmten Brief bekommen, in dem sie ihrer britischen Staatsangehörigkeit entsagte und schließlich jeden einzelnen mit einem Sixpence abfand? Jeden einzelnen, das heißt mit Ausnahme von mir.“ Er lächelte. „Und ich sollte die Geisterhunde und ihr Exemplar des Korans bekommen, weil ich Anzeichen ›eines angemessenen Interesses für die echten Kulturen dieser Welt‹ gezeigt habe. Aus diesem Grunde habe ich auch Arabisch gelernt. In gewisser Hinsicht“, fügte mein Vetter nachdenklich hinzu, „muß sie noch immer sehr naiv sein, wenn sie annimmt, daß sich Mansel und Mansel aus anderen als den allerniedrigsten Beweggründen für irgend etwas interessieren.“ „Nun red doch endlich, du machst mir was vor!“ „In bezug auf die Testamente und dergleichen? Ganz bestimmt nicht. Sie hat sich im erhabensten Stil der frühen
viktorianischen Epoche von uns losgesagt – ihre Briefe waren geradezu Musterexemplare dieser Zeit, in der die Familie, Großbritannien, Gott und so manches andere eine gewaltige Rolle spielten. Nun ja, vielleicht nicht gerade Gott, aber sie hatte die Absicht, Mohammedanerin zu werden, und wir sollten so gut sein, ihr einen zuverlässigen englischen Steinmetz zu schicken, der ihr einen eigenen Friedhof errichten sollte, wo sie in alle Ewigkeit im Frieden Allahs zwischen ihren geliebten Hunden ruhen dürfte. Auch sollten wir die Redaktion der Times davon in Kenntnis setzen, daß das Papier der Überseeausgabe zu dünn sei, um auf ihm Kreuzworträtsel richtig lösen zu können. Sie bäte darum, dies zu ändern.“ „Das meinst du doch nicht ernst!“ „Und ob!“ rief mein Vetter mit gespielter Empörung. „Ich kann jedes Wort beeiden.“ „Und was in aller Welt sind die Geisterhunde?“ „Erinnerst du dich nicht? Nein, wahrscheinlich nicht.“ „Ich glaube mich des Namens zu erinnern. Spielen sie nicht in irgendeiner Sage oder Legende eine Rolle?“ „Eine Geschichte aus dem Buch, das ›Erzählungen aus dem Norden‹ oder so ähnlich hieß. Die Geisterhunde sollen eine Meute von Hunden sein, die den Tod auf seiner Jagd begleiten. Wenn jemand sterben soll, hört man sie in der Nacht über dem Haus heulen.“ Er blickte zu mir hinüber. „Du fröstelst? Ist dir kalt?“ „Nein. Ich habe mir wohl nur vorgestellt, wie einer von ihnen über meinem Grab heult. Was haben diese Hunde denn nur mit Großtante Harriet zu tun?“ „Eigentlich nichts. Nur daß sie ein Pärchen von Porzellanhunden hatte, die mir sehr ins Auge gestochen hatten. Ich taufte sie damals die Geisterhunde, weil sie den Bildern im Buch so ähnelten.“
„Ein Pärchen... aber nein, du mußt wahrhaftig dein bißchen Verstand verloren haben. Das ist doch Schizophrenie, oder ist es ein Scherz ? Es gibt doch keinen Menschen auf der Welt, der auf der einen Seite einen weißen Porsche besitzen möchte und auf der anderen sich nach einigen Porzellanhunden sehnt! Das nehme ich dir nicht ab.“ Er lachte. „Echtes Porzellan, meine liebe Christy, chinesisches Porzellan ... Es sind Stücke aus der Ming-Periode, wenn es jemals welche gegeben hat, und wahrscheinlich gehören sie sogar ins Museum. Gott weiß, wieviel sie heute wert sind, aber da ich den guten Geschmack besaß, mich im Alter von sechs Jahren besinnungslos in sie zu verlieben, und Großtante Harriet sich mit noch besserem Geschmack ebenso besinnungslos gleichzeitig in mich verliebte, hat sie sie mir versprochen. Und obwohl sie zweifellos jetzt völlig durchgedreht ist, scheint sie sich dessen doch erinnert zu haben.“ Er machte eine nervöse Bewegung. „Verstehst du denn nicht, um die Hunde geht es mir ja dabei gar nicht, sie sind nur ein guter Vorwand, das ist alles.“ „Um sie zu besuchen?“ „Ja.“ „Das Familienbewußtsein schlägt erst ein bißchen spät durch, nicht wahr?“ meinte ich spöttisch, aber weder lachte er, noch leugnete er es ab, wie ich es erwartet hatte. Dafür bedachte er mich mit einem seltsamen, schrägen Blick unter seinen langen Wimpern hervor und erklärte lediglich: „Ich möchte diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen. Das alles klingt so verflucht geheimnisvoll.“ „Selbstverständlich begleite ich dich, und wenn es auch nur aus reiner Neugierde geschieht. Hoffen wir, daß sie sich deiner erinnert, denn ich bin überzeugt, daß sie jede Erinnerung an mich verloren hat. Sie muß mindestens hundert Jahre alt sein.“
„Kaum über achtzig, das kann ich dir versichern, und nach allem zu schließen, sehr aktiv. Sie ist hier eine leibhaftige Legende, galoppiert zu Pferd über Land, gefolgt von einer Meute von Hunden, und schießt, was ihr immer für ihr eigenes Mahl vor die Flinte kommt.“ „Auch jetzt noch? Daran erinnere ich mich ebenfalls, wer könnte es vergessen? Als sie damals bei uns wohnte, brachte sie acht King-Charles-Spaniels mit.“ „Heute sind es tibetische Terrier und Salukis – persische Windhunde, Hunde, die die arabischen Fürsten immer zur Jagd benutzt haben. Ich glaube, es ist schon ziemlich weit mir ihr gekommen – sie hat das Arabische völlig angenommen, sich geradezu in einen Araber verwandelt, sogar in einen Mann, kleidet sich wie ein Emir, raucht Wasserpfeife und empfängt andere Leute immer nur nachts. Außerdem wohnt sie in diesem schmutzigen großen Palast...“ „Palast?“ rief ich verwundert. „Für wen hält sie sich denn? Etwa für Lady Hester Stanhope?“ „Ganz richtig. Es ist anzunehmen, daß sie sich in diese Rolle hineingedacht hat. Sie nennt sich ja sogar Lady Harriet, und wie du und ich wissen, gibt es in unserer Familie zwar viel Seltsames, aber eine Lady hat es nie gegeben.“ Er sah mich nicht gerade ermutigend an. „Was weißt du von Lady Hester Stanhope?“ „Habe ich es dir nicht erzählt? Als wir das letzte Weihnachten bei euch zu Hause verbrachten, hat man mich in dein Zimmer gesteckt, und ich habe einige deiner Bücher gelesen. Du hast ja eine unglaubliche Menge Literatur über den Mittleren Osten. Hast du tatsächlich alle diese arabischen Gedichte und das andere Zeug gelesen? Auch den Koran?“ „Ganz durch.“ „Immerhin kann man behaupten, daß in erster Linie deine Bücher mich auf den Gedanken gebracht hatten, mir diesen
Teil der Welt anzusehen. Wir haben uns doch eigentlich immer für dieselben Dinge interessiert, findest du nicht? Oder du wirst wahrscheinlich eher sagen, daß ich dir immer hinterhergelaufen bin. Ich hatte stets ein wenig verschwommene, romantische Vorstellungen in bezug auf Petra, Damaskus und Palmyra, aber ich habe niemals daran gedacht, jemals hierherzukommen; dann sah ich die Ankündigung dieser Gesellschaftsreise, und da dachte ich, ich mache mal mit, sehe mich um und bleibe dann noch etwas länger, nachdem die anderen abgereist sind, und nehme mir die Zeit, mir noch das eine oder andere anzusehen. Dazu gehörte auch Djoun, der Ort, an dem Lady Hester Stanhope gelebt hat.“ „Jetzt eine Ruine.“ „Ich weiß, aber trotzdem wollte ich diesen Ort einmal sehen. Sie war eine tolle Frau, meinst du nicht? Ich habe alles gelesen, was du über sie hattest, und das war wirklich nett zu lesen, verglichen mit einigen der anderen Schwarten, die du sonst noch hattest. Gleich nach Weihnachten hatte ich nämlich die Grippe und blieb vierzehn Tage eingesperrt. Mama aber hatte nicht die Zeit, in den Buchhandlungen etwas aufzustöbern, was meinen geistigen Möglichkeiten ein wenig mehr entsprach.“ Er ließ sich nicht täuschen und lächelte. „Gib dir keine solche Mühe, geistig minderbemittelt zu erscheinen. Ich bin keiner von deinen mit Muskeln bepackten blonden Männern.“ „Bist du auch nicht“, sagte ich. Unsere Blicke begegneten einander. Es folgte eine kurze Stille, in der das Plätscherndes Springbrunnens seltsam laut klang. Dann erhob sich mein Vetter und streckte eine Hand nach mir aus. „Komm, die Sonne ist jetzt weg, sieh dir einmal die Wasserrosen an. Während man noch zusieht, schließen sie sich.“ Ich folgte ihm in den nun kühlen, schattigen Hof hinunter. Die Wasserrosen waren von einem blassen Blau und standen auf
steifen Stengeln ein paar Zentimeter über dem Wasser, wo ihre glänzenden Blätter die stille Oberfläche wie Kacheln aus Jade bedeckten. Hier und dort schimmerte unter ihnen eine goldene Flosse auf, und eine goldene Biene tauchte ihren Rüssel am Rand eines Blattes ins Wasser. Eine hellblaue Blüte nach der anderen schloß sich, bis eine Wasserrose nach der anderen steif und still für die Nacht dalag. Noch eine späte Biene, von der sich schließenden Blume fast eingefangen, kämpfte sich zornig zwischen den Blütenblättern hervor und schwirrte eilig davon. Ein wenig geistesabwesend sah ich zu, während meine Gedanken noch immer mit den letzten Neuigkeiten, die ich von Charles erfahren hatte, beschäftigt waren, mit dem geheimnisvollen Bild der exzentrischen alten Dame, die schon vor so langer Zeit der Familie den Rücken gekehrt und sich zu einer Art Familienlegende entwickelt hatte. Das Bild, das mir Charles soeben von ihr gezeichnet hatte, verschwamm in meiner Phantasie mit den lebhaften Vorstellungen, die ich mir damals in der Weihnachtszeit in den zwei Wochen erzwungenen Lesens gemacht hatte. Es traf zu, daß ich einige von Charles’ Büchern als eine sehr schwere geistige Nahrung empfunden hatte, aber die Berichte der ungewöhnlichen Lady Hester waren nicht nur lesbar gewesen, sondern geradezu erregend. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war sie in den Mittleren Osten gegangen. Sie war die Tochter eines Earls, in einer Zeit, in der der gesellschaftliche Rang fast allein ausschlaggebend war, eine männliche, herrische Frau, die als eine Nichte Pitts auch politischen Einfluß gewohnt war. Nachdem sie unter Entfaltung beträchtlichen Aufwands und mit einem großen Gefolge umhergereist war, zu dem ein Liebhaber, Sklaven und ein Leibarzt gehörten, hatte sie beschlossen, sich in Syrien niederzulassen, und schließlich nicht weit von Sidon entfernt in der Nähe von Djoun eine Bergfestung gekauft. Dort hatte sie mit östlichem Gepränge
gelebt, sich wie ein türkischer Emir gekleidet und hatte ihren Hofstaat von Dienern, albanischen Wächtern, Negersklaven, Gesellschaftern, Lakaien und einem Leibarzt mit eiserner Hand und zuweilen, buchstäblich, mit einer Peitsche regiert. Ihre Burg, die auf einer heißen, kahlen Bergkuppe lag, wurde von einem Zeitgenossen als ein „Märchenschloß“ geschildert und stellte mit ihren Höfen, ihren Gängen, die ein Gewirr bildeten wie ein chinesisches Puzzlespiel, mit ihren von Mauern umschlossenen Gärten, in die man auf Wendeltreppen gelangte, mit ihren geheimen, in Felsen gehauenen Ausgängen, durch die die Späher der Lady kamen und gingen, eine Welt für sich dar. Es war eine exotische Welt mit murmelnden Springbrunnen und üppigen Gärten. Es war die bewußte Nachbildung eines Wunderlandes aus Tausendundeiner Nacht, mit all den für orientalische Märchen charakteristischen Eigenschaften, die dort jedoch zum Greifen nah waren. Rosen und Jasmin blühten, stumme schwarze Sklaven und Nachtigallen, Kamele, heilige Katzen und arabische Pferde – sie besaß sie alle. Furchtlos, egoistisch bis zum äußersten, arrogant und exzentrisch, und im Lauf der Jahre sollte sich diese Exzentrizität zu Größenwahn steigern, mischte sie sich in die Politik des Landes, trotzte den ansässigen Emiren und stellte sich mit einigem Erfolg über das Gesetz. Sie scheint am Ende an ihre eigene mystische, schicksalhafte Bestimmung als Königin des Ostens geglaubt zu haben, die eines Tages gekrönt werden und an der Seite des neuen Messias in Jerusalem einziehen würde. Das Ende kam, wie es die Entschlossenen, die Mächtigen und Einsamen ereilt – sie starb allein, alt und mittellos, denn ihr Vermögen war vertan, ihre Burg zerfiel um sie her, und ihre Bediensteten bestahlen und vernachlässigten sie. Aber sie hinterließ – außer ihren Schulden – eine Legende, die bis zum heutigen Tag lebendig geblieben ist. Es war zweifellos faszinierend, sich vorzustellen, daß diese Legende in
gewisser Weise auch in der Person meiner eigenen Großtante Harriet weiterlebte. Nach allein, was ich von dieser Dame wußte, würde sie, wie ich annahm (abgesehen von ihrem gesellschaftlichen Rang), sehr gut zu dieser Rolle passen. Sie besaß Vermögen, war eine ungewöhnliche Persönlichkeit, gebildet und war weit umhergereist, und das mit einem Gefolge, das zwar nicht ganz so eindrucksvoll war wie das Lady Hester Stanhopes im Jahre 1820, doch hundert Jahre später ebensoviel Aufsehen und Ärger erregt hatte. Sie hatte einen Archäologen geheiratet, Ernest Boyd, und hatte ihn von da an auf allen seinen arbeitsreichen Reisen begleitet, wobei sie seine Ausgrabungen von Kambodscha bis zum Tal des Euphrat genau verfolgt und (auch das sei zugegeben) geleitet hatte. Nach seinem Tod gab sie jede aktive Betätigung auf und kehrte nach England zurück, bewahrte sich aber ein lebhaftes Interesse am Mittleren Osten und finanzierte ein paar Expeditionen, die ihre Phantasie anregten. Aber zwei Jahre englisches Klima genügten ihr. Sie hatte sich von der Familie verabschiedet (es war der letzte Besuch, dessen ich mich entsann) und war in den Libanon abgereist, wo sie sich ihre Zuflucht auf dem Berg kaufte und sich niederließ (wie sie uns erzählte), um ein Buch zu schreiben. Vor vier Jahren, gleich nachdem mein Zweig der Familie nach Los Angeles übergesiedelt war, hatte sie aus dieser Festung einen Ausfall gemacht. Sie war, wie sie erklärte, gekommen, um ihre Angelegenheiten zu regeln – und das bedeutete, daß sie beträchtliches Vermögen in den Libanon verlagern wollte –, einen Rüden für ihre widerliche (das waren Charles’ Worte) tibetische Terrierhündin Delilah zu finden und den Staub Englands für immer von ihren Sohlen abzuschütteln. Das war das letzte, was ich von ihr gehört hatte. Niemand ahnte, ob sie während der fünfzehn Jahre ihres freiwilligen Exils überhaupt etwas geschrieben hatte, natürlich mit Ausnahme der
gelegentlichen Neufassungen ihres Testaments, das die Familie mit großem Vergnügen las und dann unbeachtet ließ. Wir konnten ohne Großtante Harriet ebensogut auskommen, wie sie offenbar auch ohne uns zurechtkam. Selbstverständlich war auf keiner Seite auch nur das geringste Ressentiment zu spüren; meine Großtante verwirklichte nur in sich selber die Neigung der Familie zur Unabhängigkeit. So sah ich meinen Vetter noch immer zweifelnd an. „Glaubst du, daß sie dich empfängt?“ „Ach, mich empfängt sie schon“, antwortete er ruhig. „Meine Mutter hat immer recht spöttische Bemerkungen über Großtante Harriets Hang zu jungen Männern gemacht, und ich sehe nicht ein, warum wir das nicht ausnutzen sollten. Und wenn ich ihr sage, daß ich gekommen bin, um mein Recht zu fordern, das heißt, die Geisterhunde, wird ihr das nur Spaß machen; sie war selber stets eine harte Nuß und hat Menschen gemocht, die verlangten, was ihnen zustand. Was meinst du, wollen wir es nicht für Montag abmachen, falls es mir gelingt, bis Sonntag abend nach Beirut zu kommen?“ „Abgemacht. Es klingt sehr aufregend, wenn man auch nur ein Wort davon glauben könnte.“ „Nichts als die reine Wahrheit – oder der reinen Wahrheit so nah, wie man ihr in diesem Land überhaupt nur nah kommen kann“, versicherte mir mein Vetter. „Weißt du nicht, was man über dieses Land sagt? Es ist ein Land, in dem alles möglich ist, ein ›Land der Wunder... ‹.“ Mit leiser Stimme zitierte er: „›Die Männer, die dieses Land der Wunder bewohnen – diese Männer der Felsen und Wüsten –, deren Phantasie lebhaftere Farben aufweist und doch bewölkter ist als der Horizont ihrer Sande und ihrer Meere, handeln dem Wort Mohammeds und Lady Hester Stanhopes gemäß. Sie bedürfen des Umgangs mit den Sternen, mit Weissagungen, Wundern und dem Zweiten Gesicht des Dämons.‹“ „Wer hat das gesagt?“
„Lamartine.“ „Das klingt fast so, als ob sogar Großtante Harriet normal sein könnte. Ich kann es kaum noch erwarten. Aber jetzt muß ich gehen.“ Ich blickte auf meine Uhr. „Du lieber Himmel, ja, es ist Essenszeit.“ „Bestimmt möchte Ben, daß du bleibst. Er muß jetzt jeden Augenblick kommen. Kannst du nicht?“ „Nur zu gern, aber wir müssen morgen schon früh aufbrechen, und ich habe noch einiges zu erledigen.“ Ich beugte mich nieder, um meine Handtasche zu nehmen. „Und du wirst mich nach Hause fahren, mein Lieber, daß du dir darüber klar bist. Ich werde weder deinetwegen noch um irgendeines anderen Menschen willen jetzt durch die dunklen Straßen von Damaskus wandern – selbst wenn ich den Weg finden könnte, was ich wahrscheinlich nicht kann. Es sei denn, daß du mir ganz einfach den Porsche leihst?“ „Es gibt einige Risiken, zu denen ich bereit bin“, antwortete mein Vetter, „und andere, die ich lieber nicht auf mich nehme. Ich fahre dich also zurück. Komm.“ Leise durchquerten wir miteinander den Hof. Jemand – vielleicht der junge Araber – mußte eine Lampe hereingebracht und sie in eine Nische in der Nähe der Tür gestellt haben. Sie sah aus wie Aladins Lampe und bestand aus einem silbrigen Metall; bei Tageslicht wirkte sie sicher scheußlich, aber in der Dämmerung erschien sie mir mit ihren kleinen, orangefarbenen Flammenknospen schön. An dem tiefblauen, länglichen Stück Himmel über dem offenen Hof schimmerten bereits einige Sterne. Kein häßlicher Widerschein von Stadtlichtern zerstörte die tiefe samtene Dunkelheit dieses Himmels; obwohl er dort über der glitzernden, üppigen Fülle der Oase von Damaskus hing, sprach er doch von der Wüste und der weiten, leeren Stille jenseits der letzten Palme. Im Hof selber war es still. Das ferne Brausen des städtischen Verkehrs, nicht lauter als das
Summen in einer Muschel, bildete einen Hintergrund zu dieser Ruhe und Stille, in denen das Geplätscher des Springbrunnens der einzige Laut war. Der Brunnen in der Wüste... Ein Fisch bewegte sich unter der Wasserfläche, und das goldene Aufglitzern im Schein der Lampe schien die Schönheit des lebendigen Wassers noch hervorzuheben. Man konnte fast den Fisch sich bewegen hören. Ein Vogel ließ sich mit einem leisen Laut über der Arkade nieder, um dort im Geraschel der Blätter zu schlafen. „Eine Turteltaube, hörst du?“ Charles’ Stimme ließ mich, so leise sie war, zusammenfahren. „Die Dichter sagen, daß sie ständig ihren Geliebten ruft – ›Jussuf, Jussuf‹ –, bis ihre Stimme in einem Schluchzen bricht. Ich rufe dich also Samstag abend im Phoenicia an, um dir zu sagen, wann ich komme.“ „Ich warte auf dich. Ich hoffe nur, daß wir auch unsere Abenteuer aus Tausendundeiner Nacht in Dar Ibrahim erleben werden. Ach, du bestimmt, faszinierend wie du bist, aber gibt es auch nur den geringsten Grund zu der Annahme, daß sie auch mich sehen möchte?“ „Sie wird entzückt sein, dich zu sehen“, erklärte mein Vetter großzügig. „Hol’s der Teufel, aber sogar ich war ziemlich davon angetan, dich zu treffen.“ „Du spinnst wohl, mir solche Komplimente zu machen“, sagte ich und ging vor ihm durch die Tür.
Zweites Kapitel Adonis, Der im fernen Libanon lebt, Im steinigen Libanon, Wo seine rote Anemone blüht. James Elroy Flecker: Santorin
Ich war wohl davon ausgegangen, Charles habe mit der „Legende“ von Dar Ibrahim übertrieben, aber er schien doch recht zu haben. So war es für mich keine Schwierigkeit, einiges über meine exzentrische Verwandte in Beirut zu erfahren. Ja, selbst wenn ich noch niemals etwas von ihr gehört hätte, wäre ich auf sie aufmerksam gemacht worden. Es geschah am Samstag, an dem Tag, an dem die Reisegesellschaft nach London abflog und ich ins Hotel Phoenicia umzog, um Pläne für meine Unabhängigkeit zu schmieden und auf Charles zu warten. In den paar Stunden, die mir vom Samstag geblieben waren, wollte ich zum Friseur gehen und noch einige Einkäufe machen. Für den Sonntag hatte ich mir vorgenommen, mir einen Wagen mit Fahrer zu mieten, der mich zu genauerer Erkundung ins Libanongebirge und zu den Quellen des Adonis bringen sollte. Als ich mich an den Hotelportier wandte, um ihn zu bitten, mir für diese Fahrt einen Wagen mit Fahrer zu besorgen, stieß ich zum ersten Male auf meine Großtante. Der Portier nahm meine Absichten mit Begeisterung auf, und fast gelang es ihm, seine geheimsten Gedanken über die unerklärlichen Launen und Wünsche von Touristen zu verbergen. Wenn eine junge Frau unbedingt die Kosten für einen Wagen mit Fahrer auf sich nehmen wollte, nur um sich ein paar schmutzige Dörfer und einen Wasserfall anzusehen,
würde er ihr selbstverständlich helfen... und (ich sah ihm an, wie er mit fachkundigem Blick meine Kleidung abschätzte und auch meine Zimmernummer und meine mutmaßliche Rechnung in seine Überlegungen einbezog) je teurer der Wagen, desto besser. „Und wie ich gehört habe“, fuhr ich fort, „stehen unmittelbar an den Quellen des Adonis die Ruinen eines alten römischen Tempels, die ich besuchen könnte. Und nicht weit davon gibt es noch einen kleineren.“ „So?“ meinte der Portier, verfiel aber sofort wieder in einen anderen Tonfall. „Ja, natürlich, Tempel.“ Er schrieb etwas auf und entledigte sich damit jeder weiteren Verantwortung. „Ich werde dem Fahrer sagen, er soll sie in seine Route mit aufnehmen.“ „Ja, bitte. Noch eins: Was ist mit dem Essen?“ Nun, das waren Worte, bei denen er sich sofort erwärmte. Er strahlte auf. Da sei doch das berühmte Sommerhotel – zweifellos hätte ich schon davon gehört? –, und dort könnte ich ein ausgezeichnetes Essen bekommen, noch dazu mit Musik. O ja, Musik in jedem Zimmer, unaufhörlich Musik, Tag und Nacht vom Band, falls die Stille der Berge einen bedrückte. Und ein Schwimmbecken. Und Tennis. „Und wenn Sie dann noch einen kleinen Umweg bei der Rückfahrt einlegen, werden Sie Dar Ibrahim sehen können.“ Er mißverstand die Überraschung, die sich wohl auf meinem Gesicht spiegelte, und fügte rasch hinzu: „Haben Sie davon noch nicht gehört? Dar Ibrahim ist ein Palast, in dem eine Engländerin wohnt, eine sehr alte Dame, die einmal berühmt war. Sie hat diesen Palast gekauft, als er schon in Trümmer fiel, und hat ihn wunderschön eingerichtet, auch die Gärten wieder neu angelegt. Früher haben berühmte Menschen sie besucht und bei ihr gewohnt, und man konnte einige Teile des Palastes besichtigen, so wie Beit ed-Din und die Burgen der
Kreuzritter. Aber jetzt, ach... jetzt ist sie alt und, wie man sagt, ein bißchen...“ Er machte ein vielsagendes Gesicht und berührte seine Stirn. „Jetzt bleibt der Palast verschlossen, sie empfängt keine Besucher mehr und verläßt auch niemals ihre Besitzung. Aber ich habe mir erzählen lassen, wie schön es dort früher war, und ich selber habe sie mit ihrer Dienerschaft ausreiten sehen. Aber das ist nun alles vorbei, sie ist alt, und es ist lange her, seitdem jemand sie gesehen hat.“ „Wie lange?“ Er spreizte die Hände. „Sechs Monate, ein Jahr, ich weiß es nicht genau.“ „Aber sie ist noch immer da?“ „Aber ja. Sie soll jemand zur Gesellschaft haben, aber das ist vielleicht nur ein Gerücht. Ich glaube, es sind noch immer zwei oder drei Bedienstete bei ihr, und einmal im Monat werden Vorräte von Beirut nach Sal’q hinaufgeschickt – das ist das nächste Dorf – und dann auf Maultieren hingeschafft.“ „Führt denn keine Straße hin?“ „Nein. Die Straße verläuft den Höhenzug entlang, der das Tal begleitet, und um nach Dar Ibrahim zu gelangen, muß man zu Fuß gehen oder auf einem Maultier reiten.“ Er lächelte. „Ich wollte Ihnen damit nicht vorschlagen, es zu tun, denn heute ist es eine solche Mühe nicht mehr wert, Sie kommen ja gar nicht hinein. Nur der Blick ist empfehlenswert. Sehr schön. Auf jeden Fall sieht Dar Ibrahim aus der Ferne am besten aus.“ Ich wollte ihn etwas aushorchen und sagte nun: „Tatsächlich habe ich schon von diesem Schloß gehört. Ich glaube sogar, einige Verwandte der alten Dame in England zu kennen. Deswegen habe ich schon daran gedacht, sie zu besuchen. Ich wollte ihr bereits ein paar Zeilen schreiben und sie fragen, ob ich sie besuchen dürfte.“ Ich weiß nicht recht, was es war, aber es gab etwas, das mich davon abhielt, dem Portier meine eigene Beziehung zu dieser sagenhaften Gestalt zu offenbaren.
Zweifelnd schüttelte er den Kopf, jedoch funkelte die Neugier in seinen Augen auf, die mir verriet, daß meine Zurückhaltung wahrscheinlich das Richtige gewesen war. „Sie könnten es natürlich versuchen, aber wann sie diesen Brief erhalten würde oder wann Sie eine Antwort bekommen würden... Am Tor steht ein Pförtner“ – er zuckte die Achseln –, „aber es heißt, daß er niemanden einläßt. Er nimmt die Vorräte entgegen, und wenn Briefe mit dabei sind oder wenn sie welche geschrieben hat, werden sie bei dieser Gelegenheit übergeben. Aber sie hat nun schon seit langem niemanden mehr bei sich empfangen – niemand außer dem Arzt.“ „Ein Arzt? Ist sie denn krank?“ „Aber nein, jetzt nicht. Im vorigen Jahr – vor etwa sechs Monaten, muß im Herbst gewesen sein –, da habe ich so etwas gehört, aber jetzt ist sie ziemlich wohlauf.“ Sie mußte ziemlich wohlauf sein, überlegte ich, um zu Weihnachten mit solchem Schwung einen neuen Letzten Willen verfassen zu können. „Ist das ein Arzt aus Beirut?“ „Ja, ein englischer Arzt.“ „Wissen Sie seinen Namen?“ Ich fügte als etwas lahme Erklärung hinzu: „Wenn ich sie nämlich nicht selber besuchen kann, könnte ich vielleicht von ihm etwas über sie erfahren.“ Der Portier konnte sich des Namens nicht entsinnen, versprach mir jedoch, ihn für mich festzustellen. Als ich das nächstemal bei ihm vorbeiging, hatte er ihn für mich aufgeschrieben. Es handelte sich um einen Dr. Henry Grafton, der in der Nähe des Platzes der Märtyrer wohnte. Ich dankte ihm und kehrte nach oben in mein Zimmer zurück, wo ich mir das Telefonbuch vornahm und auch tatsächlich einen Graf ton, H. L, fand. Da war die Nummer. Nach ein bißchen Hin und Her gelang es mir, sie zu bekommen. Die Stimme eines Mannes meldete sich auf arabisch, aber nachdem wir uns durch sein ausgezeichnetes Französisch in sein noch besseres Englisch hindurchgewunden
hatten, mußte er mich enttäuschen. Nein, Dr. Grafton sei nicht da, Dr. Grafton habe vor einiger Zeit Beirut verlassen. Ja, für immer. Ob er mir in irgendeiner Weise helfen könne... ? „Ich wollte nur einige Erkundigungen über eine Verwandte einholen“, antwortete ich, „eine Mrs. Boyd. Wie ich hörte, soll sie vor ein paar Monaten, als Dr. Grafton noch in Beirut war, seine Patientin gewesen sein. Da wollte ich fragen, ob sie vielleicht in Ihrer Kartei steht? Die Sache ist nämlich die...“ „Mrs. Boyd?“ Die Stimme klang verwundert. „Nein, leider haben wir niemand dieses Namens. Wie ist denn die Adresse?“ „Sie wohnt außerhalb von Beirut. Die Besitzung heißt Dar Ibrahim und soll in der Nähe eines Dorfes mit Namen Sal’q liegen.“ „Dar Ibrahim?“ Die Stimme wurde lebhafter. „Meinen Sie etwa Lady Harriet?“ „Ja, allerdings, ich... wahrscheinlich wohl“, antwortete ich und kam mir ziemlich blöde vor. „Ich... ich hatte ganz vergessen... ja, natürlich, Lady Harriet.“ „Soweit ich darüber unterrichtet bin, geht es ihr gut“, fuhr die Stimme fort, „aber sie ist keine Patientin von mir. Normalerweise hätte ich sie nach Graftons Abreise weiterbehandelt, aber sie teilte mir in einem Brief mit, sie habe andere Dispositionen getroffen.“ Ein gewisser Tonfall, vielleicht ein Anflug von Belustigung in der ruhigen Stimme hätten mich fast dazu verleitet, ihn zu fragen, worin diese Dispositionen beständen, aber das war kaum möglich. Wahrscheinlich (dachte ich) ein Schreiben, in dem sie sich von der Welt, den Engländern und dem Ärzteberuf lossagte, oder zumindest ein neuer Letzter Wille und ein neues Testament. „Darf ich fragen, wer anruft?“ erkundigte sich die Stimme. „Hier spricht Lady Harriets Großnichte. Mein Name ist Christabel Mansel. Ich bin hier im Libanon auf Urlaub, und ich... wir alle haben von unserer Großtante seit längerem nichts
mehr gehört; ich habe schon fast geglaubt, sie sei tot. Aber dann habe ich gehört, sie lebe noch, und jemand im Hotel – ich wohne im Phoenicia – hat mir gesagt, Dr. Grafton habe sie behandelt. Deswegen habe ich angerufen, um nach Möglichkeit etwas festzustellen. Sie sagen, er habe Beirut verlassen? Ist er denn noch im Libanon? Wäre es möglich, sich mit ihm in Verbindung zu setzen?“ „Leider nicht. Er ist nach London zurückgekehrt.“ „Ach so. Auf jeden Fall vielen Dank. Vielleicht versuche ich, sie aufzusuchen.“ Am anderen Ende folgte meinen Worten eine kleine Pavise. Dann erklärte die Stimme bewußt gleichgültig: „Wie man hört, lebt sie sehr zurückgezogen.“ „Ja“, antwortete ich, „das hat man mir schon gesagt. Auf jeden Fall danke ich Ihnen für Ihre Auskunft. Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen“, sagte die Stimme. Als ich den Hörer auflegte, mußte ich lächeln. Unverkennbar verbarg sich hinter dieser angenehmen Stimme das arabische Gegenstück zu dem unverbindlichen britischen „Alles Gute“. Am Abend rief mich Charles an, um mir zu sagen, Bens Vater sei aufgehalten worden, so daß er selber frühestens Sonntag abend eintreffen könnte, und vielleicht werde er nicht einmal das schaffen. „Aber im Namen aller nur verfügbaren Götter“, schloß er mit Nachdruck, „am Montag bin ich mit dir zusammen, oder ich gehe bei diesem Versuch mit wehender Flagge unter.“ „Fordere es nicht heraus“, warnte ich ihn, „zumindest nicht, bevor du deine blaue Perle gekauft hast. Du hast mir doch gesagt, dies sei ein Land, in dem alles möglich ist.“ Meine eigenen Nachforschungen über Großtante Harriet erwähnte ich ihm gegenüber nicht. Ich sagte auch nichts davon, daß in mir eine ziemlich heftige Neugier gegenüber der exzentrischen Einsiedlerin von Dar Ibrahim erwacht war.
Der Portier hatte zweifellos sein Bestes getan, um mir zu einer angenehmen, teuren Fahrt zu verhelfen. Der Wagen war ein riesiger amerikanischer Apparat mit Heckflossen, Klimaanlage, blauen Glasperlen zur Abwehr des bösen Blicks und einem Schild an dem einen Fenster mit einem Wort aus dem Koran: „Auf Gott setz dein Vertrauen!“ Er besaß auch einen Höhenmesser. Er erschien mir höchst überflüssig, bis der Fahrer, ein lebhafter junger Mann mit scharfen Gesichtszügen Hamid hieß er –, mir erklärte, wir würden von Seehöhe in einem einzigen Anlauf bis zu über zweitausendfünfhundert Metern im Libanon emporsteigen. Ich ließ mich neben ihm im Wagen nieder und beobachtete belustigt und fasziniert den Höhenmesser, als wir in Byblos von der Küste abbogen und zu steigen begannen. Hamid hatte die Zahl der für dieses Bergland benötigten Anläufe ein wenig unterschätzt. Anfänglich wies die Straße eine nur mäßige Steigung auf und wand sich sacht durch Dörfer und zwischen Terrassenfeldern immerweiter hinauf, wo Apfelbäume in regelmäßigen Abständen zwischen kniehohem jungem Getreide standen und dunkelhäutige Kinder zwischen Hühnern im Staub spielten. Aber nach einer Weile schüttelte die Straße die kleinen grünen Siedlungen ab und stieg durch den letzten Streifen landwirtschaftlichen Kulturlandes steiler empor in ein steiniges Gelände, das nur noch von Herden durchzogen wurde. Aber selbst dort noch umschloß an geschützten Stellen eine säuberlich aufgeschichtete Mauer ein sorgfältig bearbeitetes Stück Land, wo Obstbäume in spärlicher Blüte standen. Auf den dem Wind mehr ausgesetzten Terrassen stießen die spitzen, grünen Blätter einer Getreidesaat aus dem Boden, jedoch von den Teppichen mit Frühlingsblumen, die überall wucherten, fast erstickt. Diese Blumen standen überall an den Straßenrändern, sie wuchsen in den Mauern der Terrassen und drangen aus den Spalten der Felsen hervor.
Hamid ließ mit einem gutmütigen Lächeln den Wagen halten, und so konnte ich diese Blumen voller Entzücken näher betrachten: Orchideen, blasse Zyklamen, eine riesige flachsblaue Geranie, persische Tulpen mit scharlachroten Blütenblättern und jene rote Anemone, die für Adonis blüht. Schließlich hatten wir alles kultivierte Land hinter uns und fuhren an gewundenen Höhenrücken entlang, wo graue Büsche sich an die Felsen klammerten und die einzige Blume der gelbe Ginster war. Die Luft war kristallklar und nach der schwülen Atmosphäre der Küste eine Erholung. Hin und wieder erblickten wir eine Herde orientalisch aussehender Schafe, creme- oder honigfarben oder mit schwarzen Flecken, die sich mit hängenden Ohren und gesenkten Köpfen langsam bewegten, als suchten sie unaufhörlich nach Futter. Schwarz glänzende Ziegen weideten mit ihnen zusammen, und jede Herde drängte sich dicht um ihren Hirten, eine einsame Gestalt, die, in ihren Burnus gehüllt, die Arme über dem Stock verschränkt, uns, als wir vorbeifuhren, ernst betrachtete. Die Straße stieg immer höher. Der Zeiger des Höhenmessers bewegte sich stetig nach rechts. Die Luft war scharf und kühl. Der gelbe Ginster blieb unter uns zurück, und an den Rändern des schmalen Weges kuschelten sich Haufen grauer, dünner Blätter zwischen den Steinen. Der Wagen schlingerte beängstigend um die Kurven, wobei die Felsen drohten, an der einen Seite entlangzuschaben, während sich auf der anderen ein steiler Abgrund öffnete, in dem unterhalb von uns Dohlen und Raben krächzend ihre Kreise zogen. Plötzlich aber hatten wir freie Sicht nach beiden Seiten. Wir fuhren auf dem Grat eines schwindelerregend kahlen Bergrückens entlang, zur Linken mit dem Blick auf weiße Felsen, blaue Weite und Kamm um Kamm bewaldeter Berge bis zum Meer hinunter; und tief unten zu unserer Rechten, eisgrün schimmernd, hin und wieder verschwindend, wieder
aufblitzend, während er durch eine von Wald bestandene Schlucht hinabstürzte und sprudelte, brauste der Nähr Ibrahim dahin, der Adonis. Und endlich gelangten wir, in steile, felsige Schluchten eintauchend, die hier und da die Sonne einfingen, so daß schmächtige Apfelbäume, mit ihren Stämmen tief in roten Anemonen, dort zu blühen vermochten, zur Quelle des Adonis selber. Die Quelle des Adonis ist seit unvordenklicher Zeit von einem Zauber umgeben. Für die primitiven Menschen eines durstigen Landes war der Anblick des weißen Wasserfalls, der unmittelbar aus seiner schwarzen Höhle hoch oben in einer gewaltigen, von Sonne glühenden Felswand hervorschoß, gleichbedeutend mit Göttern und Dämonen, mit finsteren Mächten und unheimlichen Schrecken. Ganz gewiß war er auch ein Symbol der Fruchtbarkeit... Dieser Fluß trug auf eine Entfernung von rund dreißig Meilen Leben in das Land an seinen Ufern. Und wo das Wasser aus dem Fels hervorbricht, ist der Talkessel plötzlich grün, voller Bäume und blühender Büsche, und an den Rändern des Wasserfalls leuchtet die rote Anemone. Hierher, den längst vergangenen Spuren der Isis und der Ischtar, der Astarte und der Großen Mutter selber folgend, die Demeter, Dea und Kybele hieß, kam Aphrodite, um sich in den syrischen Hirten Adonis zu verlieben und mit ihm zwischen den Blumen zu liegen. Dort tötete ihn der wilde Eber, und wohin sein Blut spritzte, wuchsen Anemonen. Bis zum heutigen Tag fließt das Wasser des Adonis in jedem Frühling rot bis zum Meer hinab. Jetzt ist der Talkessel vereinsamt bis auf die schwarzen Ziegen, die in der Sonne auf dem rissigen Boden des Tempels der Aphrodite schlafen, und über das Tosen des Wasserfalls hinweg ist das träge Läuten der Ziegenglocken hell und deutlich zu hören. Die Fetzen am
heiligen Baum hängen dort als Zeichen einer flehenden Bitte an die letzte Herrin dieses Ortes, die Mutter Maria. Auch ohne diese Legenden wäre der Anblick atemberaubend. Aber ihrer eingedenk, hatte diese Landschaft mit dem weißen Wasser und den glühenden Felsen, den mächtigen Ruinen und den bunten Blumen, die sich in dem vom Wasserfall aufsteigenden Wind bewegten, für mich etwas Überirdisches an sich. Als wir schließlich aus dem Talkessel auf die Piste zurückkehrten – man hätte sie kaum eine Straße nennen können –, die uns auf einem anderen Weg nach Hause bringen sollte, erhielt diese Szene ihren letzten Hauch orientalischen Zaubers. Ein Stückchen weiter und vom Talkessel des Adonis aus nicht zu sehen, lagen ein paar arabische Häuser am Ufer verstreut. Ein Pfad, nichts weiter als ein weißer Kratzer auf den Felsen, stieg in einem scharfen Winkel von der Straße aus bergan. Und auf diesem Pfad bewegte sich leichtfüßig ein braunes arabisches Pferd; der weiße Burnus seines Reiters wurde in dieser Bewegung wie ein Segel aufgebläht, und das Scharlachrot und Silber des Zaumzeugs schimmerten in der Sonne. Den Hufen des Pferdes dicht folgend, trotteten zwei schöne Hunde hinterher, rehfarbene Windhunde mit langem, seidigem Haar, Salukihunde, die die Fürsten des Orients zur Jagd auf die Gazelle benutzten. Eine Biegung im Weg verbarg sie mir, und plötzlich war es wieder ein ganz gewöhnlicher Tag. Wir waren vor dem Hotel angelangt, und es war Zeit zum Mittagessen. Auf unserem Weg die andere Seite des Tals entlang erblickten wir wieder den Reiter. Wir hatten mehr als eine Stunde beim Mittagessen zugebracht, und der Reiter mußte Pfade benutzt haben, die unzählige schwierige Kurven abschnitten, die der Wagen zu nehmen hatte. Während wir uns unseren Weg zwischen den Schlaglöchern hindurch zu einer kleinen
Siedlung eines abgelegenen Hochtals suchten, wo der Schnee nicht weit oberhalb von uns liegengeblieben war, entdeckte ich tiefer unten den Reiter, der nun auf seinem Pferd einen kaum sichtbaren Pfad entlang durch ein Feld mit hüfthohen Sonnenblumen im Schritt hinunterritt. Unter den dicken, herzförmigen Blättern blieben die Hunde unsichtbar. Dann jagten sie ihm voraus auf eine tiefer gelegene Kurve der Straße zu, und das Pferd verfiel hinter ihnen in kurzen Galopp. So still war die Luft, daß ich das Läuten der Schellen des Zaumzeugs über die dumpfen Laute der Hufe im Staub hören konnte. Die gedrungenen, abblätternden Häuser des Dorfes umdrängten nun von beiden Seiten den Wagen und entzogen Pferd und Reiter unseren Blicken. Im Dorf hielten wir an, um Orangen zu kaufen. Es war Hamids Einfall. Wir hätten sie an einem der Dutzende von Ständen auf der Fahrt aus Beirut hinaus kaufen können, aber diese, so sagte er, würden etwas Besonderes sein, unmittelbar vom Baum, noch warm von der Sonne und reif – wunderbar reif. „Und ich werde sie Ihnen als Geschenk überreichen“, erklärte er, nachdem er den Wagen im Schatten eines Maulbeerbaumes abgestellt hatte und auf die andere Seite getreten war, um mir die Tür zu öffnen. Es war ein armes Dorf, das sah man auf den ersten Blick; die Häuser waren kaum mehr als Hütten, die aus Lehmziegeln notdürftig errichtet waren, aber sie waren von Schlinggewächsen überwuchert, und jedes dieser Häuser lag inmitten sorgfältig bearbeiteter Terrassen mit Obst und Getreide. Trotz der Höhe hatte sich von der Fruchtbarkeit der Göttin ein wenig auch in diesem Ort niedergeschlagen. Er mußte vor den schlimmsten Winden einigermaßen geschützt sein, und bei der Schneeschmelze würde es dort genügend Feuchtigkeit geben. Das vorsichtig aufgefangene Wasser stand dunkelgrün in rechteckigen Zisternen unter den kahlen
Silberpappeln, und das Dorf – nichts weiter als eine Handvoll Häuser in einem windgeschützten, von der Natur gebildeten Amphitheater – lag in einer Wolke von Obstblüten, aber es waren nicht nur die Bäume mit dem so bezaubernd glänzenden Laub, die voll wachsartiger Blüten, Orangen und Zitronen hingen, sondern es leuchtete auch das Schneeweiß der Birnen, das kräftige Rosa der Mandeln und überall das zarte Rot der Äpfel, der wichtigsten Frucht des Libanon. Die Sonne schien heiß herab. Eine kleine Schar erstaunt blickender Kinder hatte sich um den Wagen versammelt; sie waren sehr klein, reizende Kinder mit dichtem, schwarzem Haar, großen, dunklen Augen und von daumenlutschender Neugier erfüllt. Der Ort wirkte wie ausgestorben, es war die Stille des Nachmittags. Niemand war auf den Feldern zu sehen; sollte es ein Cafe geben, so konnte es nur ein dunkler Raum in einem der kleinen Häuser sein; ich sah auch keine Frauen. Außer den Kindern, den mageren, scharrenden Hühnern und einem unglücklich aussehenden Esel mit von Stricken herrührenden Wunden war das einzige sich bewegende Wesen ein alter Mann, der in der Sonne saß und eine Pfeife rauchte. Von ihm ließ sich allerdings kaum behaupten, daß er sich bewegte. Er schien fast im Schlaf zu rauchen, und nur langsam schlug er die Augen auf und blickte halb blind zu Hamid empor, als dieser ihn begrüßte und ihm auf arabisch eine Frage stellte, wahrscheinlich, wer uns das Obst verkaufen würde, das noch an den schönen Bäumen hing. Der alte Mann wartete eine halbe Minute, während die Frage durch die Windungen seines Gehirns vordrang. Dann nahm er die Pfeife aus dem Mund, wandte seinen Kopf um ganze drei Grad, spuckte ekelerregend in den Staub und murmelte etwas vor sich hin. Wieder starrten seine Augen kurzsichtig ins Leere, und die Pfeife kehrte in seinen Mund zurück. Hamid bedachte mich mit einem breiten
Lächeln, zuckte die Achseln und sagte: „Es dauert nur einen Augenblick.“ Damit verschwand er in einem dunklen Eingang. Ich überquerte, von den Kindern gefolgt, die Straße. An ihrem Rand zog sich eine zwei Meter hohe Stützmauer hin, die das ganze Plateau, auf dem das Dorf errichtet war, zusammenzuhalten schien. Unterhalb von ihr lagen die Terrassenfelder, auf denen ich zuvor den Reiter auf seinem kastanienbraunen Pferd gesehen hatte. Die Sonnenblumen waren zu hoch und zu dicht gepflanzt, um eine Fülle von Blumen gedeihen zu lassen, wie ich sie weiter unten in den Bergen gesehen hatte, aber am Fuß der Mauer wuchsen wilde Iris und eine blaue Blüte, einer kleinen Lilie ähnlich, und rote Anemonen wie glänzende Blutstropfen zwischen den Wurzeln der Sonnenblumen. Ich stieg hinunter. Die Kinder folgten mir. Ich half ihnen dabei und mußte das letzte sogar herunterheben, eine halbnackte Winzigkeit von vielleicht drei Jahren, wahrscheinlich mit Krätze behaftet. Ich wischte meine Hände an meiner Hose ab und suchte nach Blumen. Die Kinder halfen mir. Ein großäugiger Junge in einem schmutzigen Unterhemd und sonst nichts riß für mich eine Handvoll rosiger Blüten ab, und die kleine Krätze brachte mir ein paar Blüten des Löwenzahns. Die Unterhaltung war sehr lebhaft, Arabisch, Englisch und (von Krätze) steinzeitliches Grunzen; wir verstanden einander großartig. Eins war bei diesem Geschäft völlig klar: Man erwartete von mir, daß ich zum Dank für die Gesellschaft und die Blumen etwas Greifbares überreichte. „Einen Schilling“, sagte Hamid von oben herunter. Seine Stimme klang belustigt. Ich blickte hinauf. Er stand am Rand der Straße. „Sind Sie sicher? Es kommt mir so wenig vor. Es sind sechs.“ „Es genügt völlig.“
Er schien recht zu haben. Die Kinder griffen nach den Münzen und verschwanden schneller die Mauer hinauf und über sie hinweg, als sie über sie heruntergekommen waren, diesmal ohne jede Hilfe, mit Ausnahme von Krätze, die über das letzte Stück von Hamid hochgezogen, abgestaubt und schließlich mit einem Klaps auf das nackte Gesäß entlassen wurde. Hamid wandte sich mir wieder zu. „Können Sie es schaffen? Einige dieser Steine sind etwas locker.“ „Ich werde mir erst gar nicht die Mühe geben. Ich gehe hinunter, und wir treffen uns, sobald Sie weiterfahren, unten auf der Straße. Haben Sie die Orangen bekommen?“ „Ja. Also gut, aber beeilen Sie sich nicht, ich werde unten auf Sie warten.“ Der Pfad, auf dem ich den Reiter gesehen hatte, war trocken, ausgetreten und kaum einen Schritt breit; er führte schräg durch die Sonnenblumen hindurch und durch drei oder vier Öffnungen in den Steinterrassen. Die großen, schweren Blütenköpfe waren mir abgewandt und blickten nach Süden; der Pfad war eine enge Schlucht zwischen den hier kopfhohen Pflanzen. Jetzt sah ich, daß sie etwa zwei Schritt voneinander gepflanzt waren, und zwischen ihnen standen andere Pflanzen mit gelblichgrünen Blättern, und Büschel bräunlicher Blüten wucherten zusammen mit Malven, Kornblumen und einem Dutzend anderer Pflanzen dem Licht entgegen. Wo sich das Pferd hindurchgedrängt hatte, hingen die Blätter gebrochen und welk herab, und über dem Honigduft der Sonnenblumen lag der saubere, moschusartige Geruch der Taubnessel. Ich suchte mir meinen Weg zur Straße hinunter. In der Mauerbresche, die zur letzten Terrasse hinunterführte, wichen die Sonnenblumen vor dem mir vertrauteren Mais zurück, und dort, wo die beiden Felder aneinander grenzten, stand wie eine Schildwache ein Feigenbaum, dessen Knospen sich gerade erst
zu jungen, grünen Blättern öffneten. Seine silbrigen Äste hielten die Knospen mit bezaubernder Anmut dem hellen Himmel entgegen, und an der rauhen Rinde seines Stammes wucherte eine dem wilden Wein ähnliche Schlingpflanze empor, deren Blüten so rot waren wie die Anemonen. Ich blieb stehen, um eine zu pflücken. Die Schlingpflanze war zäh, und ich riß eine Ranke vom Stamm ab, wodurch ich etwas bloßlegte, das darunter lag. Auf dem bleichen Silber des entblößten Stammes war in Rot die Zeichnung eines laufenden Hundes eingeritzt. Die Zeichnung war unbeholfen und doch voller Leben; dieses Wesen war unverkennbar ein langhaariger Windhund mit buschigem Schwanz. Ein Saluki. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß etwas, ist es einem erst einmal aufgefallen, immer wieder auftaucht, zuweilen erweckt es sogar den beunruhigenden Eindruck eines seltsamen Zufalls oder schicksalhafter Verkettung. Es sah wahrhaftig so aus, als ob diese Geschöpfe, nachdem Charles sie erwähnt hatte, mich durch den ganzen Libanon verfolgen sollten, aber im Grunde war dies ja auch gar nicht so sonderbar; man könnte ebenso sagen, daß man in England möglicherweise von Pudeln verfolgt wird. Ich ging weiter zur Straße hinunter. Hamid saß auf der niedrigen Mauer am Rand der Straße neben seinem Wagen und rauchte. Rasch erhob er sich, aber ich machte ihm ein Zeichen, sitzen zu bleiben. „Bleiben Sie sitzen. Rauchen Sie Ihre Zigarette zu Ende, bitte.“ „Möchten Sie eine Orange?“ „Gern. Danke. Sind sie nicht wunderbar? Sie haben ganz recht, so bekommt man sie nie zu essen... Hamid, warum werden hier so viel Sonnenblumen angebaut?“ „Wegen des Öls. Sie ergeben ein ausgezeichnetes Öl für die Küche, fast ebensogut wie Olivenöl. Die Regierung hat jetzt eine Fabrik gebaut, um auch Margarine daraus zu machen. Sie bietet gute Preise für die Ernte. Es gehört mit zu den
Bemühungen des Staates, den Anbau von Hanf zu unterbinden.“ „Hanf? Das ist doch Haschisch, nicht wahr? Marihuana? Guter Gott! Wächst denn das hier oben?“ „Aber ja. Haben Sie ihn noch nicht gesehen? Ich glaube, in England wird er ebenfalls angebaut, aber um Stricke daraus zu machen; nur in warmen Ländern enthält er die Droge. In früheren Zeiten ist in diesen Bergen immer sehr viel davon angebaut worden – wir haben hier das richtige Klima dafür, und es gibt noch immer Gegenden, in die die Inspektoren nicht kommen.“ „Die Inspektoren?“ Er nickte. „Die Inspektoren des Staates. Man legt jetzt sehr großen Wert darauf, den Anbau dieses Rauschgifts unter Kontrolle zu bekommen. In gewissem Umfang ist der Anbau auch legal, nämlich für medizinische Zwecke, und man muß für jede Phase des Anbaus und der Verarbeitung eine Genehmigung haben und wird strengen Kontrollen unterworfen, aber für die Bauern in diesen entlegenen Gebieten ist es niemals schwierig gewesen, mehr anzubauen, als sie angegeben haben, oder die Ernte einzubringen, bevor die Inspektoren erscheinen. Die Strafen sind strenger als jemals zuvor, aber es gibt noch immer einige, die versuchen, das Gesetz zu umgehen.“ Er zuckte die Achseln. „Was erwarten Sie? Es macht sich bezahlt, und immer gibt es Menschen, die für einen großen Verdienst auch bereit sind, ein großes Risiko einzugehen.“ Er warf seine Zigarette auf die Straße und zertrat den Stummel im Staub. „Haben Sie vorhin den alten Mann gesehen, mit dem ich gesprochen habe?“ „Ja.“ „Er hat das Zeug geraucht.“ „Aber kann er denn... ? Ich meine...“ „Wie könnte man ihn denn daran hindern?“
Ich starrte ihn an. „Wollen Sie damit sagen, daß es hier angebaut wird ?“ Er lächelte. „Es wuchs etwas Hanf neben seinem Haus zwischen den Kartoffeln.“ „Auch wenn ich ihn sehe, würde ich ihn nicht erkennen“, gestand ich. „Wie sieht er denn aus?“ „Eine hohe Pflanze von grauer Farbe, nicht sehr hübsch. Die Droge stammt aus den Blüten. Sie sind bräunlich, ein Büschel wie aus weichen Federn.“ Ich hatte meine Orangenschalen hinter der Mauer, auf der wir saßen, vorsichtig beiseite gelegt, und jetzt richtete ich mich jäh auf. „Ich habe so etwas Ähnliches unter den Sonnenblumen wachsen sehen!“ „So?“ sagte er gleichgültig. „Bevor die Inspektoren herkommen, wird nichts mehr dasein. Wollen wir jetzt fahren?“ Er öffnete mir die Wagentür. Alles in allem war es ein seltsamer, ein zauberhafter Tag gewesen, und ich hatte das Gefühl, als ob sich alles meinen Wünschen entsprechend entwickelte. Mir erschien es als ein unvermeidlicher Höhepunkt dieses Tages, daß ich, nachdem ich mich wieder in den Wagen gesetzt hatte, mit fester Entschlossenheit zu ihm sagte: „Sie erwähnten mir gegenüber vorhin, Sie wollten mir auf der Rückfahrt Dar Ibrahim zeigen. Wenn wir noch Zeit haben, würde ich dort gern einmal vorsprechen. Hätten Sie etwas dagegen?“ Gegen vier Uhr fuhren wir um eine steile Kurve herum in Sal’q ein. Hamid ließ den Wagen neben einer niedrigen Mauer stehen. Jenseits von ihr fiel das Gelände tief ab, und man hatte von dort aus einen atemberaubenden Blick auf das Adonistal. „Dort!“ sagte er. Ich sah in die Richtung, in die er zeigte. Hier war das Tal tief eingeschnitten, und der Fluß, der rasch dahinfloß, suchte sich seinen Weg zwischen dicht mit Bäumen besetzten Ufern. Irgendwo zu unserer Linken, jenseits der kleinen Moschee des Dorfes, brauste der Nebenfluß, der tiefer unten im Tal in den
Adonis einmündete. Zwischen den beiden Flüssen erhob sich etwa in der Mitte des Tals ein ziemlich hohes keilförmiges Tafelland, das an ein Schiff mit hohem Bug erinnerte; und an seiner höchsten Stelle, wie eine Krone auf dem steilen Felsen oberhalb des Zusammenflusses, ragte der Palast empor – eine große Ansammlung von Gebäuden, die unmittelbar am Rand dieses Vorgebirges begannen und sich über ein ziemlich großes Stück des Plateaus ausbreiteten. Bei den hinteren Gebäuden fiel das Gelände in einem kleinen Abhang steil ab, bis auf das Plateau hinunter, wo die Mauern des Palastes aus den Felsen emporzuwachsen schienen. Weit oben entdeckte ich Fenster, eine Reihe verzierter Bögen, die auf das Dorf hinausgingen, aber außer diesen, abgesehen von einigen kleinen rechteckigen Öffnungen, die eher der Ventilation zu dienen schienen, waren die Mauern fensterlos. Abweisend und weiß erhoben sie sich im grellen Sonnenlicht. Im hinteren Teil des Palastes war innerhalb der Mauern das Grün großer Bäume zu erkennen. Draußen erstreckte sich der flache Bergrücken, von nichts unterbrochen, steinig und öde, bis zu den Füßen der Berge, die die Schluchten des Adonis und seines Nebenflusses voneinander schieden. Das Geröll erinnerte an eine Schädelstätte. Es schien außer einem Felsenpfad den Nebenfluß entlang keinen Weg zu geben, der zu diesem Palast führte. Hamid gab mir Erklärungen. „Sie werden unten das Wasser durchwaten müssen“, sagte er. „Es gibt eine Furt mit seichtem Wasser, aber im Frühling kann sie, wenn es geregnet hat, sehr tief und reißend sein, und das Wasser überspült die Trittsteine. Heute aber wird es gehen. Wollen Sie wirklich dorthin? Dann begleite ich Sie, um Ihnen den Weg zu zeigen.“ Ich hatte nicht den Eindruck, daß man sich dort leicht verirren könnte. Ich konnte den Pfad bis zum Fuß des Höhenzuges verfolgen, und da ich sehr weitsichtig bin, konnte ich sogar von der Stelle, an
der ich nun stand, die Furt erkennen. Früher mußte dort eine steinerne Brücke gestanden haben, denn die eingestürzten Pfeiler waren unverkennbar. Zweifellos würde der Pfad zum Schloß hinauf ebenso leicht zu finden sein. Ich sah Hamid an. Er trug tadellos gebügelte, dunkle Stadthosen und ein ebenso makelloses Hemd. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber Sie brauchen sich wirklich nicht die Mühe zu machen. Ich kann den Weg kaum verfehlen. Wollen Sie nicht lieber hier beim Wagen bleiben, und vielleicht finden Sie auch im Dorf etwas zu trinken, Kaffee, wenn es dort überhaupt ein Cafe gibt...?“ Ich blickte mich um und betrachtete die alles andere als verheißungsvolle Ansammlung von Hütten, aus denen Sal’q bestand. Er lächelte. „Das gibt es, ich bin Ihnen für den Vorschlag dankbar, aber ich werde heute lieber auf den Kaffee verzichten. Ich werde Sie selbstverständlich begleiten. Es ist ein langer Weg für eine Frau, um ihn allein zu gehen; außerdem glaube ich, daß der Pförtner nur arabisch spricht. Wahrscheinlich würde es Ihnen recht schwerfallen, sich auch nur einigermaßen verständlich zu machen.“ „Ach ja, sicher. Ich danke Ihnen, es wäre sehr nett, wenn Sie mitkämen. Ich muß zugeben, daß dieser Weg ziemlich übel aussieht. Es wäre besser, wir hätten Flügel.“ Er schloß den Wagen ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. „Hier entlang.“ Der Pfad führte um die Mauer der Moschee herum und an einem kleinen Friedhof mit seltsamen, mohammedanischen Grabmonumenten vorbei; die schlanken Säulen mit ihren Turbanen aus Stein bezeichneten die Gräber der Männer und die mit Lotusornamenten verzierten Stelen die der Frauen. Das weißgetünchte Minarett ragte schlank in den blassen, heißen Himmel empor. Hinter der eingefallenen Friedhofsmauer führte der Pfad plötzlich in steilem Zickzack bergab, und das
lose Geröll erschwerte das Gehen. Die Sonne war nun schon ein gutes Stück über ihren Zenit hinaus, brannte aber noch immer heiß auf diese Seite des Tals herab. Bald befanden wir uns unterhalb der tiefsten Terrassen des Dorfes, wo der Hang zu steil und zu steinig war, als daß man noch irgend etwas hätte anbauen können, nicht einmal Reben. Ein steiler, heißer Felsrücken verbarg uns den Fluß, so daß alle seine Geräusche für uns erstarben. Es herrschte tiefe Stille. Die ganze Breite des Tals schien von dieser heißen, trockenen Stille erfüllt. Nach einer steilen Biegung des Pfades entdeckten wir eine Herde von Ziegen – schwarz und braun mit langem seidigem Haar, hängenden Ohren, riesigen Hörnern und schläfrigen, bösartigen gelben Augen. Mochte Gott wissen, was für Futter sie auf diesem kahlen Hang gefunden hatten, aber auf jeden Fall ruhten sie nun in der Sonne. Es konnten etwa dreißig sein, und ihre schmalen, klugen Gesichter, die uns berechnend und ohne jede Spur von Angst beobachteten, erweckten irgendwie den Eindruck, daß dies keine Herde war, die Menschen gehörte, sondern daß wir durch eine Schar von Lebewesen gingen, die Anspruch auf dieses Land hatten. Als eine der Ziegen träge aufstand und mit langsamen Schritten mir mitten in den Weg trat, ließ ich es nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen, sondern bog vom Pfad ab und ging um sie herum. Sie wandte mir nicht einmal den Kopf zu. Was nun die alte Brücke betraf, so hatte ich recht. Der Nebenfluß (Hamid erzählte mir, er hieße Nahr el-Sal’q) war, verglichen mit dem Adonis, nicht breit, aber zu dieser Zeit des Jahres waren doch noch immer über sechs Meter rasch dahinfließenden Wassers zu durchwaten, an manchen Stellenein seichtes Wasser über einem Grund weißen Kieses, an anderen über geborstene Felsblöcke hinwegschäumend oder in klaren, dunkelgrünen Kesseln strudelnd, die brusttief sein mußten. Am anderen Ufer war das Wasser von einer niedrigen,
vielleicht eineinhalb Meter hohen Felskante gesäumt, von der aus sich die Brücke früher über den Fluß gespannt hatte. Die Fundamente konnte man noch immer tief unten im klaren Wasser sehen. Auf der Seite, an der wir standen, war außer einem Haufen großer, rechteckiger Steinblöcke nur noch wenig von der Brücke übrig; einige von ihnen hatte man genommen und so im Wasser angeordnet, daß sie Trittsteine mit Zwischenräumen von fast einem Meter bildeten. „Hier hat in alten Zeiten mal eine Brücke gestanden, eine römische Brücke, wie man erzählt“, erklärte Hamid. „Das sind noch die alten Steine. Können Sie es schaffen?“ Er ergriff meine Hand, um mir hinüberzuhelfen, und ging dann mir voraus auf den Fuß der Felswand zu, wo ich einen Pfad sah, der sich durch ein Gewirr wilder Feigen und gelben Ginsters bis zum Höhenrücken hinaufwand. Der Anstieg war steil, aber nicht schwierig. Offensichtlich für Maultiere oder sogar für Pferde begehbar. Wir sahen außer Eidechsen keine anderen Tiere; nur noch Turmfalken, die über den steilen Felsen ihre Kreise zogen. Kein Laut bis auf das Rauschen des Wassers unterhalb von uns, das Schurren unserer Füße und unseren Atem. Als wir schließlich auf die Höhe des Felsplateaus gelangten und die augenlosen Mauern des Palastes vor uns aufsteigen sahen, überkam mich ein äußerst seltsames Gefühl. Ich hatte den Eindruck, als sei das Gebäude völlig ausgestorben und verlassen, als sei dies fast ein Ort, der bereits außerhalb des Lebens lag. Es erschien mir unmöglich, daß jemand dort leben könnte, am allerwenigsten ein Mensch, den ich gekannt hatte. Bestimmt konnte doch niemand, der jemals meiner zwar ungewöhnlichen, aber doch ungemein vitalen Familie angehört hatte, sich in diese weiße Friedhofsstille zurückziehen. Als ich stehenblieb, um wieder zu Atem zu kommen, betrachtete ich die kahlen, bleichen Wände, das verschlossene
Bronzetor und mußte an das letzte Mal denken, als ich Großtante gesehen hatte. Es war eine verschwommene Kindheitserinnerung... Der Obstgarten daheim, an einem windigen Tag – einer dieser milden, böigen Septemberwinde, bei denen die Blätter herumwirbeln und die Äpfel mit einem dumpfen Laut auf dem feuchten Boden aufschlagen. Über den Himmel zogen nachmittägliche Wolken, und die Saatkrähen sammelten sich kreischend, um nach Hause zu fliegen. Ich entsann mich Großtante Harriets Stimme, die vor Lachen über etwas, was Charles gesagt hatte, wie eine Krähe krächzte. „Früher hing eine Glocke neben dem Tor. Erklären Sie mir, was ich sagen soll, und wenn der alte Kerl nicht schläft, können wir ihn vielleicht dazu bewegen, etwas auszurichten“, rief Hamid zuversichtlich und ging mir voraus über die staubigen Felsen auf das Tor zu.
Drittes Kapitel Diese verfallene Karawanserei... E. FitzGerald: The Rubáiyát of Omar Khayyám
Das Haupttor – zwei Flügel gehämmerter Bronze unter einem kunstvoll gemeißelten Bogen – war auf den ersten Blick hin ungemein eindrucksvoll, aber beim Näherkommen sah man, daß der schwere Türklopfer nicht mehr in seinen Scharnieren hing und die Steinmetzarbeit vom Wind fast zernagt war. Die hohen, kahlen Mauern wiesen hier und dort noch Überreste farbiger Ornamente auf, gespenstische Muster, Mosaikarbeiten und zerbrochener Marmor, den man mit Mörtel verputzt hatte. Die ganze Mauer war in einem blassen Ockergelb gestrichen, das jedoch im starken Sonnenlicht zu Weiß ausgeblichen war. Rechts neben dem Tor befand sich ein Glockenzug. Hamid zog am Griff. Weit entfernt hörten wir in der Stille das rauhe Schaben von Drähten, als sie sich ein rostiges Stück um das andere streckten, um die Glocke in Bewegung zu setzen. Einige Sekunden später gab es nach einem Quietschen und Knarren von Federn gleich hinter dem Tor einen hohlen Ton. Während das Echo noch die Bronzeplatten entlanglief, bellte irgendwo ein Hund. Danach trat erneut Stille ein. Hamid hatte gerade wieder seine Hand zum Glockenzug gehoben, als wir Schritte vernahmen. Allerdings konnte man es kaum als Schritte bezeichnen: nichts weiter als das flüsternde Schlurfen von Hausschuhen auf staubigem Boden und dann der Laut von Händen, die sich an der anderen Seite des Tores zu schaffen machten. Es war keine Überraschung, das Geräusch schwerer Riegel zu hören, die zurückgezogen wurden, oder das unheimliche Knarren, als sich das Tor zu öffnen begann. Ich sah Hamid an und entdeckte in seinen Augen die gleiche
gespannte Erwartung, die zweifellos auch in den meinen aufleuchtete. Nach dieser Einleitung konnte der Mensch, der uns nun öffnete, nur noch eine Enttäuschung sein. Aber er war es nicht. Im Gegenteil: er übertraf alle Erwartungen. Der eine hohe, große Flügel öffnete sich langsam und gab den Blick auf einen Gang frei, der im Gegensatz zu dem Sonnenschein, in dem wir standen, völlig dunkel zu sein schien. In dem vorsichtig geöffneten Spalt des Tors erblickten wir eine magere, gebeugte, weißgekleidete Gestalt. Eine wahnwitzige Sekunde lang – so hatte die Hitchcock-Einleitung für sein Erscheinen gewirkt – glaubte ich, der Mann habe kein Gesicht. Dann bemerkte ich, daß er von dunkler, fast schwarzer Hautfarbe war, und so hatte sich gegen das Schwarz des Gangs hinter ihm nur seine weiße Kleidung abgezeichnet. Er blinzelte ins Licht hinaus, ein ältlicher Mann mit hängenden Schultern, dessen Haut unter den Falten einer arabischen Kopfbedeckung wie eine getrocknete Pflaume gefurcht war. Seine Augen, die rot gerandet waren und sich gegen das Licht zusammenzogen, hatten einen grauen Schimmer, der auf grauen Star schließen ließ. Er blinzelte, murmelte etwas, zu Hamid gewandt, was ich für Arabisch hielt, und begann, das Tor wieder zu schließen. „Einen Augenblick, warte!“ Hamid war an mir vorbei vorgetreten, hatte rasch einen Fuß in den Spalt gesetzt und lehnte sich mit der kräftigen Schulter eines jungen Mannes gegen das Tor. Er hatte mir bereits erzählt, was er zu sagen beabsichtigte. Dieser sich überstürzende Schwall von Arabisch klang sehr dringlich. „Das ist keine gewöhnliche Besucherin, sondern jemand aus der Familie deiner Herrin, die du nicht am Tor abweisen kannst. Hör zu.“ Der alte Mann sah ihn unsicher an, und Hamid fuhr fort: „Mein Name ist Hamid Khalil aus Beirut, und ich habe diese junge Dame hergefahren, weil sie deine Herrin besuchen möchte. Wir
wissen zwar, daß deine Herrin keine Besucher empfängt, aber diese junge Dame ist Engländerin und die Tochter des Sohnes des Bruders deiner Herrin. Du mußt also zu deiner Herrin gehen und ihr sagen, daß Miss Christy Mansel aus England hergekommen ist, um sie zu besuchen – und Miss Christy Mansel überbringt Grüße von allen Verwandten deiner Herrin aus England.“ Der Pförtner starrte mit einem stumpfen Ausdruck vor sich hin, fast so, als habe er nichts gehört. Ich fragte mich bereits, ob er taub sei. Dann bemerkte ich, daß er mich ansah und sich in seinen glanzlosen Augen eine Art Neugier rührte. Aber er schüttelte den Kopf, und wieder kamen jene erstickten Laute von seinen Lippen, bei denen es sich, wie mir nun klar wurde, um die Bemühungen eines Menschen mit schwerem Sprachfehler handelte. Hamid sah mich mit einem Achselzucken an. „Man hat uns nur etwa die Hälfte erzählt, finden Sie nicht? ›Kein Verkehr mit der Außenwelt‹, das stimmt schon – dieser Mann ist fast völlig verblödet. Jedoch glaube ich nicht, daß er taub ist, und so muß er doch auch eine Botschaft übermitteln können. Sie dürfen noch nicht verzweifeln.“ „Das tue ich auch noch lange nicht.“ Er lachte auf und wandte sich wieder dem alten Mann zu, der leise schnaufend und murrend vergeblich versucht hatte, das Tor gegen den Widerstand des jüngeren Mannes, gegen seine Schulter und seinen Fuß zu schließen. Hamid hob die Stimme und redete nun wieder energisch auf den Alten ein. Sogar ohne die Übersetzung, die er mir dann gab, war der Sinn dessen, was er sagte, klar. „Hör mit dem Unsinn auf. Du verstehst mich sehr gut. Tu also nicht so, als ob du nichts hören könntest. Laß auch das Tor in Ruhe, wir gehen nicht weg, bevor du deiner Herrin nicht die Botschaft übermittelt oder uns jemand geschickt hast, der mit uns reden kann... Siehst du, schon besser! Hast du das nun
begriffen? Miss Christy Mansel, Tochter des Sohnes ihres Bruders, ist aus England hergekommen, um sie zu besuchen, und wären es auch nur ein paar Augenblicke. Ist das klar? Jetzt geh und übermittle ihr die Nachricht.“ Es bestand kein Zweifel daran, daß der alte Mann hören konnte. Sein Gesicht verriet nun ganz offen seine Neugier. Jäh streckte er den Kopf auf dem dürren Hals vor und starrte mich an, aber noch immer traf er keine Anstalten, zu gehen oder uns hineinzubitten. Heftig schüttelte er den Kopf, redete auf Hamid ein und klammerte sich mit einem Ausdruck von Eigensinn und Furcht an die Kante des Tores. Halb unruhig und halb von Widerwillen getrieben, mischte ich mich nun ein: „Vielleicht sollten wir es doch nicht tun, Hamid. Ich meine, wir sollten uns hier nicht so hineindrängen. Offensichtlich hat er seine Anweisungen, und er sieht so aus, als hätte er eine Todesangst davor, diese Anweisungen nicht zu befolgen. Wenn ich vielleicht nur ein paar Zeilen schriebe...“ „Wenn wir jetzt weggehen, kommen wir nie hinein. Er fürchtet gar nicht Ihre Großtante. Wenn ich ihn richtig verstehe, sagt er etwas von einem Arzt. ›Der Arzt hat gesagt, niemand darf hinein.‹“ „Der Arzt?“ „Regen Sie sich nicht auf“, erwiderte er hastig. „Vielleicht irre ich mich, denn ich kann ihn kaum verstehen, aber meiner Ansicht nach hat er das gesagt. Warten Sie einen Augenblick...“ Wieder eine Flut von Arabisch und wieder das entsetzliche Gestammel des Alten. In seinen Mundwinkeln hatte sich blasiger Speichel angesammelt, und er schüttelte heftig den Kopf. Dabei löste er in seiner tiefen Angst die Hände vom Tor und schlug sie zusammen, als wollte er Hühner vor sich her scheuchen. „Bitte...“, sagte ich.
Hamid brachte mit einem schroffen Wort und einer Bewegung den alten Mann zum Schweigen. „Was ist?“ „Hamid“, erklärte ich nun fest entschlossen, „damit ist die Sache entschieden, ich bestehe darauf hineinzugehen. Wenn ich meine Großtante nicht sprechen kann, will ich doch mit dem Doktor reden, falls er hier ist. Ist er nicht da, muß mir jemand seinen Namen und seine Adresse aufschreiben. Ich werde ihn dann sofort aufsuchen. Sagen Sie ihm das. Erklären Sie ihm, daß ich darauf bestehe. Und wenn Sie wollen, können Sie ihm auch sagen, daß meine Familie ihm und anderen große Unannehmlichkeiten bereiten kann, falls meiner Großtante etwas zustoßen sollte und die Familie nichts davon erfahren dürfte.“ Ich fügte noch hinzu: „Und sollte jemand hier sein, der mit uns reden kann, so will ich mit ihm sprechen, und zwar möglichst sofort.“ „Ich werde es ihm sagen.“ Ich habe keine Ahnung, wie er meine Wünsche dem anderen verständlich gemacht hat, aber nach einigen Minuten Gezänk mit dem Pförtner richtete dieser seine trüben Augen zum Himmel und warf die Hände hoch, um jede Verantwortung von sich zu weisen. Schließlich öffnete er das Tor und ließ uns eintreten. Hamid zwinkerte mir verstohlen zu, als er ein wenig zurücktrat, um mich an ihm vorbeigehen zu lassen. „Ich habe ihm gesagt, Sie wären von Ihrem Weg von Sal’q herauf erschöpft und weigerten sich, draußen in der Sonne zu warten. Wenn wir ihn auch nur ein einziges Mal das Tor schließen lassen, bezweifle ich, ob wir jemals wieder von ihm hören werden.“ „Bestimmt nicht. Aber um Himmels willen begleiten Sie mich, bitte. Ich habe das Gefühl, als sei ich hier nicht sehr willkommen.“
„Ich würde Sie um nichts in der Welt im Stich lassen“, antwortete Hamid beruhigend, ergriff meinen Ellbogen und führte mich in die kühle Dunkelheit hinein. „Ich hoffe nur, daß Sie die alte Dame bei guter Gesundheit antreffen werden... Es kann durchaus sein, daß ich völlig mißverstanden habe, was dieser alte Derwisch mir mitzuteilen versuchte. Zumindest sind wir jetzt drin... Das allein schon kann ich meinen Enkeln erzählen.“ Hinter uns schloß sich knarrend das Tor, und die Riegel kreischten unheilverkündend, als sie wieder vorgeschoben wurden. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß wir uns nicht in einem gewöhnlichen Gang befanden, sondern in einem hohen, gewölbten, tunnelähnlichen Raum von etwa fünf Metern Länge, an dessen Ende sich wiederum ein schweres Tor abzeichnete. Auf jeder Seite dieses Tunnels lag eine kleinere Tür. Die eine von ihnen stand offen, und in dem trüben Licht eines Fensterschlitzes in der Innenmauer erkannte ich ein altes Bett auf Rollen, auf dem zerwühlte Decken lagen. Zweifellos das Zimmer des Pförtners; vielleicht ursprünglich für eine Wache gedacht. Die Tür gegenüber war geschlossen. Der Alte öffnete das Tor am Ende des Tunnels, und ein heller Lichtschein fiel herein. Wir folgten ihm auf einen großen Hof hinaus. Das war aller Wahrscheinlichkeit nach der äußere Hof des ehemaligen Palastes, der Midan, wo sich die Untertanen des Emirs mit Geschenken oder Bittschriften versammelten und wo seine Krieger ihre Reitkünste bei Spielen und Turnierkämpfen vorführten; dort ritten sie auch hinein, um nach Kampf oder Jagd von den Pferden zu steigen. Unter den Bogengängen befanden sich auf drei Seiten Gebäude, die früher einmal Stallungen, Geschirrkammern und vielleicht Unterkünfte für die Krieger gewesen waren; auf der vierten Seite, links von der Stelle, an der wir eingetreten waren, erhob sich eine hohe Mauer, hinter der ich ein wenig Grün erblickte.
In seinen guten Tagen mußte dieses Schloß mit dem emsigen Getriebe der Dienerschaft, mit dem Geklapper der Pferdehufe und dem Geklirr der Waffen ein herrliches Leben geboten haben. Nun aber war es dort sehr still und menschenleer, dennoch verrieten die Spuren im Staub, daß vor kurzem noch Tiere dort gewesen waren, und es roch nach Pferden. Der Pförtner führte uns, ohne stehenzubleiben, durch den Midan in die Arkade und durch noch eine Tür in einen düsteren Gang. Seine Gestalt in den weißen Gewändern schlurfte verschwommen vor uns her. Undeutlich erkannte ich Gänge, die links und rechts abzweigten; ich sah Türen, von denen einige geöffnet waren und in Räume führten, in denen es zu dunkel war, um irgend etwas zu erkennen; aber in einem von diesen warf eine Art Oberlicht einen schwachen Schimmer auf Säcke, Kisten und einen Stapel zerbrochener Stühle. Der Gang bog dreimal im rechten Winkel durch dieses Labyrinth ab, bevor er auf noch einen Hof, diesmal einen kleinen Hof, mündete; er war nicht viel mehr als ein Lichtschacht, der mit gewölbten Fenstergittern gesäumt war; auf der einen Seite erhob sich eine fensterlose Wand, an der ein Holzstapel aufgeschichtet war. Im Vorbeigehen bemerkte ich eine flüchtige Bewegung, die, als ich genauer hinsah, bereits vorbei war. Nichts. Aber ich wußte: Es war eine Ratte. Wieder ein Gang; mehrere Türen, von denen einige offenstanden und verwahrloste, schmutzige Räume erkennen ließen. Das ganze Gebäude war von einer Atmosphäre erfüllt, als sei es schon seit langer Zeit verlassen und als lebten dort nur Ratten, Mäuse und Spinnen. Nicht ein Fußboden, der nicht dreckig war und von Rissen im Muster der Kacheln durchzogen; die Mosaikarbeiten an den Wänden waren stumpf und vielfach beschädigt, die Fenstergitter zerbrochen und die Schwellen abgetreten. Eine schwere, staubige Stille lag wie eine graue Decke über allem. Ich erinnere mich, daß, als wir an einer baufälligen Mauer
vorbeigingen, ein rostiger Nagel mit einem Klirren, das mich zusammenfahren ließ, aus seinem Loch herabfiel; das Geraschel des Mörtels, der danach herabrieselte, klang wie ein Windstoß in welken Blättern. Es war weit von dem „Märchenschloß“ entfernt, das ich in meiner Phantasie, die mächtiger ist als kühle Überlegung, erwartet hatte. Ich begann mich in einem Zustand immer größerer Angespanntheit meiner Nerven zu fragen, was ich wohl am Ende dieses Unternehmens vorfinden würde. Völlig durchgedreht, so hatte Charles’ Urteil gelautet, und als er es aussprach, war es mir kaum mehr als ein bißchen komisch erschienen; aber hier begann ich, als ich unserem schlurfenden Führer einen neuen Gang mit seinen trüben, verschwommenen Konturen, mit seinen geborstenen und aufklaffenden Türen, seinem unebenen Boden und dem Geruch jahrealter Verwesung entlang folgte, mir von ganzem Herzen zu wünschen, nicht gekommen zu sein. Die Vorstellung, schon bald einer Mischung von Hilflosigkeit, Altersschwäche und vielleicht Krankheit gegenüberzustehen, die inmitten all dieses Verfalls wie eine Spinne im Zentrum eines alten, staubigen Spinnennetzes leben mußte, erfüllte mich mit kaltem Grauen. Plötzlich standen wir wieder in einem Hof. Inzwischen hatte ich jede Orientierung verloren, aber aus der Tatsache, daß ich über die Dächer auf der anderen Seite hinweg Baumkronen in zartem Grün sehen konnte, schloß ich, wir befänden uns nun ziemlich auf der anderen Seite des Palastes. Dieser Hof war etwa fünfzehn Meter im Durchmesser, und er mußte früher einmal ebenso dekorativ gewirkt haben wie der, in dem Charles und ich in Damaskus uns unterhalten hatten. Aber auch er war inzwischen wie alles andere hier verfallen. In seinen besseren Tagen hatte der Fußboden aus Marmor bestanden; blaugekachelte Arkaden und schlanke Säulen hatten ihn gesäumt, und in seiner Mitte mußte ein Springbrunnen
gesprudelt haben. Am Fuß jeder Säule stand ein mit Ornamenten geschmückter Kübel aus Marmor für Blumen. Diese Kübel waren noch immer mit Erde gefüllt, aber es wuchs nur noch Gras in ihnen, und einige festgeschlossene Knospen von grauer Farbe waren zu sehen. Eine dürre Tamariske hing mit ihren Zweigen über den Beckenrand des Brunnens herab. Irgendwo zirpte leise eine Zikade. Graue Disteln wuchsen in den Rissen des Bodens, und das Wasserbecken war trocken. Unter den Arkaden lag auf der einen Seite der übliche tiefe Alkoven im Schatten, um nur eine Stufe erhöht die Estrade mit ihren Sitzen an drei Seiten. Ich hätte allen Kissen mißtraut, die möglicherweise dort gelegen hätten, aber diese Sorge hätte ich mir ersparen können, denn die Sitze bestanden aus Marmor ohne jedes Polster. Der Pförtner gab uns zu verstehen, uns dort niederzulassen. Dann wandte er sich nach einem erneuten Schwall von Klagen Hamid gegenüber von uns ab und ließ uns allein. Wieder breitete sich Stille aus, nur vom Zirpen der Zikaden unterbrochen. „Rauchen Sie?“ fragte Hamid und holte Zigaretten hervor. Er gab mir Feuer und kehrte dann in den Sonnenschein des Hofes zurück, wo er sich mit dem Rücken gegen eine Säule niederkauerte. Wie geistesabwesend kniff er die Augen zusammen und blickte in den hellen Himmel hinauf, gegen den sich die vom Wind bewegten Äste der Bäume jenseits der Mauer abzeichneten. „Was werden Sie tun, wenn sie Sie nicht empfängt?“ „Dann werde ich wohl weggehen, sobald ich mit dem Arzt gesprochen habe.“ Er wandte mir sein Gesicht zu. „Es tut mir leid, Sie sind so niedergeschlagen.“ Ich zögerte. „Nein, eigentlich nicht. Ich kenne sie kaum und bin ziemlich sicher, daß sie sich meiner nicht erinnern wird. Sie hat fast ihr ganzes Leben bis zum Tod ihres Mannes im Osten verbracht; danach hat sie nur noch etwa zwei Jahre in England
gelebt – aber ich war damals noch sehr klein. Vor fünfzehn Jahren hat sie England dann endgültig verlassen, und damals war ich sieben. Seit dem Tag, an dem sie sich von uns verabschiedete, habe ich sie nicht wiedergesehen. Es würde mich kaum wundern, wenn sie mir jetzt mitteilen ließe, sie könne sich meines Namens nicht entsinnen. Das heißt, falls dieser Derwisch ihn überhaupt richtig wiederholt..., ich habe mich schon gefragt, ob er dazu fähig ist. Meinen Sie nicht, daß er mit seiner vornehmen Zurückhaltung den ersten Preis verdient? Er sollte Mitglied des königlichen Hofes sein.“ „Ihre Königin würde doch bestimmt nicht...? Ach, da ist er ja schon“, rief Hamid und erhob sich. „Allah sei gepriesen, denn er hat jemand mitgebracht.“ Dieser „jemand“ war ein junger Mann, ein Europäer. Er war groß, mager und nachlässig gekleidet; sein blondes Haar war von der Sonne fast ausgeblichen, und seine Augen waren grau. Er sah ein wenig aufgestört aus, wie ein Mensch, den man jäh aus dem Schlaf geholt hat, und plötzlich fielen mir die angeblichen nächtlichen Gewohnheiten meiner Großtante Harriet ein. Vielleicht schliefen ihre Bediensteten während des Tages? Er blieb einen Augenblick im Schatten stehen, bevor er den Pförtner mit einer Handbewegung entließ. Dann trat er in die Sonne hinaus. Ich sah ihn blinzeln, als ob das grelle Licht ihn blendete, während er sich uns auf dem rissigen Boden langsam und offensichtlich widerstrebend näherte. Er mochte etwa vierundzwanzig sein. Seine Stimme klang ziemlich freundlich, und was noch wichtiger war: Er sprach englisch. „Guten Tag. Ich glaube, daß ich Ihren Namen nicht ganz verstanden habe. Nach allem, was Jassim mir gesagt hat, haben Sie eine dringende Nachricht für Lady Harriet? Vielleicht könnten Sie diese Nachricht auch mir übermitteln?“
„Sie sind Engländer? Wie schön.“ Ich stand auf. „Es ist genaugenommen keine Nachricht. Mein Name ist Mansel, Christy Mansel, und Mrs. Boyd – ›Lady Harriet‹ – ist meine Großtante. Ich bin auf der Durchreise in Beirut und habe zufällig erfahren, daß meine Großtante noch immer hier oben in Dar Ibrahim wohnt, und so habe ich sie besuchen wollen. Meine Familie in England würde sich bestimmt sehr freuen, etwas von ihr zu hören, und so wäre ich ihr sehr dankbar, wenn sie mir ein paar Minuten gönnen würde.“ Er sah mich überrascht und, wie ich dachte, argwöhnisch an. „Eine Großnichte ? Christy, sagten Sie ? Mir gegenüber hat sie niemals diesen Namen erwähnt.“ „Warum sollte sie?“ Meine Stimme klang vielleicht ein bißchen herausfordernd. „Und Sie, Mr... hm ... ? Ich nehme an, daß Sie hier wohnen?“ „ja. Mein Name ist Lethman, John Lethman. Ich... man könnte sagen, daß ich Ihre Großtante pflege.“ „Sind Sie etwa Arzt?“ Meine Worte mußten etwas schroff und überrascht geklungen haben, denn er wirkte ziemlich aus der Fassung gebracht. „Bitte?“ „Entschuldigen Sie, es war nur, weil Sie so... ich wollte sagen, ich habe eigentlich einen älteren Menschen erwartet. Der Pförtner hatte meinem Fahrer erklärt, daß ›der Arzt‹ niemand meine Großtante besuchen ließe. So habe ich erst erfahren, daß Sie hier sind. Das heißt, falls er Sie gemeint hat.“ „Wahrscheinlich.“ Er legte eine Hand an die Stirn und schüttelte heftig den Kopf, als wollte er sich aufmuntern. Dann streifte er mich mit einem verlegenen Lächeln. Seine Augen waren noch immer verschwommen und trübe. Diese grauen Augen hatten große, kurzsichtig wirkende Pupillen. „Entschuldigen Sie, aber ich bin noch immer nicht ganz da, ich hatte geschlafen.“
„Das tut mir leid. Wenn man den ganzen Tag als Tourist umherjagt und sich alles ansieht, vergißt man allzuleicht, was für eine gute Einrichtung die Siesta ist... Entschuldigen Sie also, Mr. Lethman. Aber als der Pförtner vorhin sagte, ›der Arzt‹ sei hier, kam mir der Gedanke, meine Großtante könne krank sein. Das heißt, wenn Sie hier leben müssen...?“ „Wir sollten das lieber gleich richtigstellen“, sagte er. „Ich bin gar kein Arzt, es sei denn, daß Sie ein paar Semester Psychotherapie als Ausbildung zählen wollen.“ Er sah mich kurz an. „Davon dürfen Sie sich aber auch nicht beunruhigen lassen, denn ich bin ganz gewiß nicht in dieser Eigenschaft hier! Ihre Großtante fühlt sich recht wohl, und im Grunde besteht meine Aufgabe darin, ein Auge auf die arabischen Dienstboten zu halten und ganz allgemein für alles zu sorgen; außerdem leiste ich ihr ein wenig Gesellschaft und unterhalte mich mit ihr. Ich muß nicht unbedingt hier leben, nicht in dem Sinn, wie Sie es vorhin sagten. Die Sache hat sich ganz einfach so ergeben, daß ich hier in den Libanon gekommen bin, um einiges Material für eine Abhandlung zu sammeln, die ich schreiben wollte. Eines Tages habe ich dann hier Zuflucht gesucht, von einem Gewitter überrascht, wie es sie gelegentlich hier gibt. Ihre Großtante nahm mich auf, und schließlich ergab eins das andere, und ich bin geblieben.“ Sein Lächeln hatte etwas Schüchternes, aber seltsam Entwaffnendes an sich, so daß ich dachte, ich könnte die fehlenden Teile dieser Geschichte einigermaßen leicht einfüllen. „Wenn Sie sich einen besseren Ort zum Schreiben vorstellen können, müssen Sie ihn mir nennen“, fügte er hinzu. Ich konnte mir unzählige bessere Orte zum Schreiben vorstellen, darunter auch fast jedes Zimmer fast überall auf der Welt, aber vor allem in der Nähe anderer Menschen, jedoch sagte ich es nicht. Statt dessen fragte ich: „Wie lange sind Sie denn schon hier?“
„Beinah ein Jahr. Ich bin im Juli vergangenen Jahres gekommen.“ „Ach was! Immerhin ist es beruhigend zu wissen, daß ihr nichts fehlt. Ich werde sie also sprechen können?“ Er zögerte, hatte offensichtlich die Absicht, etwas zu sagen, schüttelte dann aber wiederum in der für ihn charakteristischen Art den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Diese Bewegung sah so aus, als wollte er ein körperliches Unbehagen verscheuchen, vielleicht so etwas wie Kopfschmerzen. Ich bemerkte, wie Hamid ihn neugierig beobachtete. „Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, schießen Sie los. Aber wollen wir uns nicht vorher setzen?“ Er folgte mir in den Schatten des Diwans, und wir setzten uns. Ich legte meine Hände um ein Knie und wandte mich ihm wieder zu. Er sah noch immer aus, als fühlte er sich nicht ganz wohl, jedoch nicht in körperlicher Hinsicht; seine Hände ruhten schlaff auf seinen Knien, und sein Körper wirkte entspannt. Jedoch verriet seine gefurchte Stirn eine tiefe Sorge. „Wie lange haben Sie nicht mehr von Ihrer Großtante gehört?“ fragte er schließlich. „Wenn Sie mich persönlich damit meinen, so muß ich sagen: Ich habe niemals von ihr gehört. Ich entsinne mich überhaupt nur, sie etwa dreimal in meinem Leben gesehen zu haben; das letztemal war ich sieben Jahre alt, aber meine Familie hört hin und wieder von ihr. Im vergangenen Jahr kam ein Brief von ihr – ich glaube, es war kurz vor Weihnachten. Damals hat sie bestimmt so geschrieben, als sei sie ziemlich wohlauf und guter Stimmung – also recht befriedigend. Allerdings enthielt ihr Brief nicht viel Neues.“ Ich hatte plötzlich den Eindruck, er wüßte, was ich meinte, aber er lächelte nicht. Mit gefurchter Stirn blickte er auf seine Hände. „Ich habe nur gefragt, weil...“ Er hielt inne und blickte
plötzlich auf. „Miss Mansel, wieviel wissen Sie und Ihre Familie von der Art und Weise, in der sie hier lebt?“ „Im Grunde wissen wir sehr wenig, mit Ausnahme dessen, was nicht zu übersehen ist, daß sie vielleicht jetzt, da sie älter wird, ein wenig exzentrischer geworden ist und daß sie, da sie schon so lange hier lebt, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr den Wunsch hat, sich noch zu verändern und wieder nach England zurückzukehren. Sie werden auch bemerkt haben, daß unsere Familie nicht viel von starken Familienbanden hält, und in letzter Zeit ist ein Zug bei Großtante Harriet immer deutlicher hervorgetreten, nämlich alle ihre Verbindungen zu England und allen seinen Schönheiten abzubrechen – in ihren Briefen, wenn sie überhaupt jemals schrieb, drehte es sich immer wieder nur um dies. Glauben Sie nur nicht, daß sich die Familie dies zu Herzen genommen hat. Was sie tut, ist ihre eigene Angelegenheit. Aber seitdem ich hier bin, habe ich ein wenig mehr über sie gehört, und da habe ich mir gedacht, daß sie ihre Exzentrizität etwas auf die Spitze getrieben hat. Ich meine, diese Nachahmung von Lady Hester Stanhope. Ist es wirklich wahr? Lebt sie tatsächlich so? Sagen Sie, Mr. Lethman, sie ist doch nicht etwa wirklich durchgedreht, oder?“ „Aber nein, aber nein“, entgegnete er hastig. Er wirkte nun unendlich erleichtert. „Ich habe mich schon gefragt, ob Sie davon wüßten. Es wäre gar nicht so einfach, alles von Grund auf zu erklären, aber wenn Sie die Stanhope-Geschichte kennen, ist die Sache verhältnismäßig einfach. Ich möchte nicht behaupten, daß Ihre Großtante es bewußt darauf angelegt hat, eine moderne ›Lady vom Libanon‹ zu werden, aber als sie sich hier in Dar Ibrahim niederließ, hat sie ein recht großes Haus geführt. Da haben einige Leute diesen Vergleich gezogen. Schließlich hat sie selber entdeckt, daß die alte Stanhope-Legende unter den Arabern draußen im Land noch immer sehr lebendig war und daß sie einen großen Nutzen
daraus schlagen konnte. Sie verstehen schon, man war ihr gegenüber sehr diensteifrig, sie gewann Einfluß und konnte in den Genuß so mancher Nebenerscheinungen des Ruhms gelangen. Die Einheimischen waren es, die sie zuerst ›Lady Harriet‹ nannten, und dieser Name setzte sich fest. Ihre Großtante hat sich wohl anfänglich nur darüber amüsiert, aber dann entdeckte sie, daß es ihr zusagte, eine ›Persönlichkeit‹ zu sein. Wie es mit solchen Dingen so geht, entwickelten sie sich nach und nach über einen Punkt hinaus, an dem sie sich noch hätten aufhalten lassen können, und ganz gewiß über jenen Punkt hinaus, an dem sie die ganze Sache – auch sich selber gegenüber – als Scherz hätte abtun können. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen?“ „Ich glaube wohl“, antwortete ich. „Sie konnte sich nicht mehr davon lösen, und so ist sie ganz einfach in diesem Strom weitergeschwommen.“ „So ist es. Sie wollte sich auch gar nicht davon lösen. Sie hatte schon so lange hier in diesem Land gelebt, und in gewisser Weise war es ihre Heimat geworden. Ich glaube sogar, daß sie, so seltsam es klingen mag, der Ansicht ist, sie hätte ein gewisses Anrecht darauf, eine legendäre Gestalt zu sein.“ Er lächelte. Es war das erste Lächeln, das echt wirkte. „Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Ich bin der Ansicht, daß sie mit dem Original sehr viel gemein hat. Sie hat sich einfach daran gewöhnt, sich in dieser Rolle wohl zu fühlen, und die romantischeren Einzelheiten müssen ihr großes Vergnügen bereitet haben, so zum Beispiel, mit den Hunden und den Falken auszureiten oder Dar Ibrahim wieder als Raststätte für die Karawanen auf ihrem Weg vom Libanon und vom Antilibanon zum Meer zur Verfügung zu stellen oder die gelegentlichen ›berühmten Reisenden‹ bei sich aufzunehmen – wie ich glaube, zumeist Archäologen, die ihren Mann und seine Arbeit gekannt hatten. Sie hat sich auch ein bißchen in
die Politik eingemischt, und seit einiger Zeit droht sie sogar damit – ich selber bin der Ansicht, daß es sich dabei nur um Theater handelt –, zum Islam überzutreten.“ Er hielt inne. „Als ich dann plötzlich und wie aus heiterem Himmel hier landete, war sie begeistert. Ich sollte der ›Leibarzt‹ werden, der in der Stanhope-Geschichte eine so große Rolle gespielt hatte – es ist Ihnen doch wohl bekannt, daß Lady Hester Stanhope ihren eigenen Leibarzt bei sich in Djoun wohnen hatte? Als nun unsere ›Lady Harriet‹ mich aufnahm und feststellte, daß ich schon den halben Weg zu einem medizinischen Examen zurückgelegt hatte, sagte ihr das außerordentlich zu. Auf diese Weise habe ich einen Ehrentitel erhalten, der die arabische Dienerschaft beeindruckt, aber im übrigen tue ich nichts weiter, als Ihrer Großtante Gesellschaft zu leisten und sie zu unterhalten. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß ich mir ärztliche Hilfe aus Beirut holen würde, wenn sie jemals einen Arzt brauchte.“ „Wen hat sie denn jetzt, nachdem Dr. Graf ton nicht mehr hier ist?“ „Dr. Grafton?“ Er sah mich fassungslos an, und ich begegnete überrascht seinem Blick. „Ja, kennen Sie ihn denn nicht? Wenn er Großtante Harriet noch vor sechs Monaten behandelt hat, müssen Sie doch hier gewesen sein.“ „Das war ich auch. Ich habe mich nur darüber gewundert, daß Sie den Namen kannten.“ „Jemand im Hotel, der mir von Dar Ibrahim erzählte, sagte mir auch, meine Tante sei im vergangenen Jahr krank gewesen. Ich habe daraufhin feststellen lassen, wer ihr Arzt war, und habe ihn angerufen, um mich nach ihr zu erkundigen. Da wurde mir gesagt, er sei aus Beirut abgereist. Wen hat sie denn jetzt?“ „Seitdem hat sie Gott sei Dank niemanden mehr gebraucht. Sie hat jetzt etwas gegen die Ärzte in Beirut, aber ich zweifle nicht
daran, daß ich sie, falls es notwendig sein sollte, zur Vernunft bringen könnte.“ Er lächelte. „Machen Sie sich keine Sorgen... ich passe schon gut auf sie auf und halte dieses Haus, soweit sich das machen läßt, in Ordnung. Wenn Sie jetzt an diese Atmosphäre eines Hotels mit vier Sternen denken, die Sie bis jetzt kennengelernt haben, dann möchte ich Sie doch darauf hinweisen, daß es hier fünf Höfe, zwei Gärten, drei türkische Bäder, eine Moschee, Stallungen für fünfzig Pferde und zwölf Kamele und mehrere Kilometer Gänge einschließlich einiger Geheimausgänge gibt. Was nun die Zimmer betrifft, ist es mir niemals gelungen, sie zu zählen. Ich muß mich eines Radars bedienen, um vom Prinzenhof in das Serail zu gelangen.“ Ich lachte auf. „Es tut mir leid, habe ich so auffällig den Staub auf dem Fußboden angesehen? Haben Sie denn bei so viel Gemäuer keine Sklaven?“ „Es gibt nur mich und noch drei andere – Jassim, den Pförtner, ein Mädchen mit Namen Halide und Halides Bruder Nasirulla, der im Dorf wohnt und den Tag über hier ist. Im Grunde kommen wir recht gut durch, da die alte Dame selber heute sehr einfach lebt. Ich kann Ihnen versichern, daß ihr Teil des Palastes ein bißchen besser in Schuß ist als das, was Sie bisher gesehen haben. Halide ist ein braves Mädchen und sorgt gut für Ihre Großtante. Sie brauchen sich also wirklich keine Sorge um sie zu machen.“ „Habe ich gesagt, daß ich mir Sorgen mache? Ich hatte gar nicht die Absicht, Sie in dieser Weise in die Defensive zu drängen. Was habe ich denn gesagt? Ich bin überzeugt davon, daß Tante Harriet als Lady vom Libanon eine herrliche Zeit verlebt, und ich freue mich, daß Sie hier sind, um sich ihrer anzunehmen. Ich möchte nichts weiter, als sie fünf Minuten sprechen, damit ich meiner Familie darüber berichten kann.“ Wieder eine dieser Pausen. Da wären wir also, dachte ich, wieder auf dem Nullpunkt angelangt.
Er setzte sich auf der harten Bank zurecht und sah mich von der Seite an. „Ja, verstehen Sie denn nicht, darum geht es ja gerade! Wir haben strengen Befehl, alle abzuweisen, und“ – sein Blick fiel wieder auf seine Hände – „alles, was sie mir von ihrer Familie erzählt hat, läuft nur darauf hinaus, daß sie auch da keine Ausnahme wünscht.“ Ich lächelte. „Durchaus verständlich, und ich mache Ihnen auch keinen Vorwurf daraus – ihr ebenfalls nicht. Aber wäre es nicht richtiger, wir lassen sie selber darüber entscheiden? Ich gehe dabei davon aus, daß sie von meiner Anwesenheit noch gar nichts weiß. Oder hat Jassim es ihr mitzuteilen vermocht?“ „Er hat sie noch gar nicht gesehen, sondern ist gleich zu mir gekommen. Im übrigen macht er sich besser verständlich, als Sie annehmen, aber Ihren Namen hatte er nicht behalten. Ich konnte auch nicht wissen, wer Sie sind, bevor ich mit Ihnen gesprochen hatte. Ich gebe zu, daß er als Bote keine besonders große Begabung hat – Sie könnten ihn als eins der guten Werke Ihrer Tante bezeichnen, ebenso wie mich –, aber um Leute am Tor abzuweisen, ist er sehr nützlich, und heutzutage finden wir nicht so leicht jemanden, der hier bleibt. Es ist nicht mehr viel Geld da, verstehen Sie ?“ Es klang etwas seltsam, wie er das sagte, während er mich mit diesen sonderbar trüben Augen unverwandt anstarrte. Mir fiel auf, daß das Weiße der Augen blutunterlaufen war, auch sah er so aus, als bekäme er nicht genügend Schlaf, aber er wirkte jetzt ganz ungezwungen, wie er lässig zurückgelehnt auf der Marmorbank saß, als wäre sie mit seidenen Kissen und persischen Teppichen bedeckt. Er trug eine graue, leichte Hose und ein blaues Strandhemd, billig das eine wie das andere, aber an seinem Handgelenk hatte er eine bestimmt teure goldene Uhr, zweifellos in Beirut gekauft. Ich mußte an das denken, was Charles über die Neigung unserer Großtante Harriet zu jungen Männern gesagt hatte. Und in einem anderen Winkel meines Bewußtseins tauchten die Worte
auf: „ungebührlicher Einfluß“. Aber ich ging darüber hinweg, denn das alles war schließlich so bedeutungslos. Wenn es Tante Harriet gelang, sich einen jungen Mann zu verpflichten, der ihren baufälligen Palast für sie verwaltete und ihr jene Art von Gesellschaft bot, die sie liebte, um so besser. Insbesondere wenn es zutraf, daß nur noch sehr wenig Geld übrig war. Ich fragte mich nur, inwieweit dies stimmen mochte und ob Mr. Lethman das plötzliche Eindringen einer Verwandten als eine Gefährdung seiner eigenen Stellung bei „Lady Harriet“ betrachtete. In diesem Fall würde mein gutaussehender Vetter Charles sogar noch weniger willkommen sein als ich. So beschloß ich, Charles, bevor ich Tante Harriet selber gesprochen hatte, nicht zu erwähnen. „Jassim“, fuhr John Lethman fort, „hätte Ihre Tante auch noch gar nicht sprechen können. Für gewöhnlich schläft sie während des Tages sehr viel. Sie ist ebenso wie ihr Vorbild ein Nachtvogel. Wenn Sie also noch ein wenig warten wollten, könnte ich zu ihr hingehen und sie fragen. Für gewöhnlich geht Halide um sechs Uhr zu ihr, um sie zu wecken.“ „Natürlich werde ich warten“, antwortete ich. „Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben, Hamid?“ „Ganz und gar nicht“, erwiderte Hamid, ohne sich zu rühren. Es folgte eine kleine Pause. Lethmans Blicke wechselten zwischen Hamid und mir hin und her, und dann sah er auf seine Uhr. „Ausgezeichnet. Jetzt dauert es nicht mehr lange, und dann werden wir sehen.“ Wieder eine Pause. Er räusperte sich. „Übrigens sollte ich Sie warnen... Selbstverständlich werde ich mir größte Mühe geben, aber ich kann für nichts garantieren. Sie ist alt und manchmal vergeßlich und – sagen wir: schwierig^ An manchen Tagen ist sie schlimmer als an anderen.“ „Und heute war also ein schlimmer Tag?“ Er verzog bedauernd den Mund. „Nicht zu gut.“
„Wenn sie sich wirklich nicht wohl genug fühlt, um mich zu sehen, können wir nichts daran ändern, nicht wahr? Aber sagen Sie ihr, daß ich jederzeit zurückkommen kann, wenn sie sich wieder besser fühlt. Sie braucht es nur zu sagen. Ich bleibe mindestens bis zur Mitte der Woche in Beirut und könnte auch noch länger bleiben. Ich hatte die Absicht, demnächst meine Familie anzurufen, um ihr mitzuteilen, was ich vorhabe. Es wäre nett, wenn ich bei dieser Gelegenheit auch über Tante Harriet etwas zu sagen hätte. Übrigens ist es durchaus möglich, daß mich mein Vater heute abend anruft.“ „ Heute abend ? Haben Sie mich denn nicht richtig verstanden ? Ich meinte es wörtlich, als ich sagte, sie sei ein Nachtvogel. Für gewöhnlich scheint sie zwischen zehn Uhr und Mitternacht erst richtig aufzuwachen und ist dann ganz auf der Höhe; danach bleibt sie oft die ganze Nacht auf. Wenn sie überhaupt jemand empfängt, dann in der Nacht.“ „Du lieber Gott, sie nimmt es mit ihrer Rolle aber wirklich ernst, nicht wahr? Wollen Sie damit sagen, daß ich, wenn ich sie sehen will, die ganze Nacht hierbleiben muß?“ „Auf jeden Fall kann es ziemlich spät werden. Könnten Sie das?“ „Ich könnte, aber ich kann meinen Fahrer kaum bis in die späten Nachtstunden hier behalten. Würden Sie mich denn unterbringen? Haben Sie ein Zimmer?“ Ich meinte ein Zimmer, in dem man auch schlafen konnte, und so war diese Frage gar nicht so töricht, wie sie zunächst klang. Mr. Lethman schien sich diese Frage etwas genauer zu überlegen. Es folgte eine kurze Pause, und dann sagte er recht zuvorkommend: „Bestimmt werden wir eins für Sie finden.“ Ich sah Hamid an. „Haben Sie etwas dagegen? Wir warten noch ab, was meine Großtante zu sagen hat, und wenn ich hierbleiben muß, um sie später zu sprechen, würden Sie dann ohne mich zurückfahren? Sie könnten beim Hotel vorbeigehen
und Bescheid geben, daß ich hier übernachte. Haben Sie morgen Zeit?“ „Für Sie immer.“ „Das ist sehr nett von Ihnen“, antwortete ich dankbar. „Würden Sie mich in diesem Fall morgen früh abholen? Warten Sie im Dorf. Sie brauchen nicht bis zum Tor zu kommen.“ „Ich werde bestimmt bis zum Tor kommen“, versprach Hamid. „Machen Sie sich darum keine Sorgen. Aber ich lasse Sie ungern hier zurück.“ „Es wird schon gehen, ich muß meine Großtante unbedingt sprechen.“ „Natürlich müssen Sie das. Das verstehe ich auch. Ich weiß, daß es mich nichts angeht, aber bestimmt ließe es sich doch einrichten, daß Sie sie jetzt ein paar Minuten sprechen, denn dann könnte ich Sie in Ihr Hotel zurückbringen.“ Plötzlich richtete sich Mr. Lethman neben mir auf. Seine Stimme klang abgespannt und verzweifelt, und ganz offensichtlich war es ihm Ernst, als er sagte: „Das Ganze tut mir sehr leid. Ich mache nicht etwa zum Spaß alle diese Schwierigkeiten, und die Stellung, in die ich mich hier hineinmanövriert zu haben scheine, ist mir höchst widerwärtig. Es sieht so aus, als ob ich Sie fernhalten möchte, und Sie glauben, ich hätte in der ganzen Sache nicht mitzureden...“ „Das ist nicht ganz meine Meinung“, erwiderte ich, „und Sie haben hier ja auch eine bestimmte Stellung. Ich will damit sagen: Das ist ihr Haus, und wenn sie Sie gebeten hat, hier zu wohnen, läßt sich dagegen nichts einwenden. Selbst wenn Sie offiziell nicht ihr Arzt sind, könnten Sie sich noch immer als ihr Verwalter oder etwas Ähnliches bezeichnen.“ „Malvolio in Person, mit gelben Strümpfen, Kniehosen und allem, was dazu gehört.“ In seiner Stimme klang eine gewisse Gereiztheit auf, die mir nicht gefiel. Aber schon war sie verschwunden. Er ließ ihr sein entwaffnendes Lächeln folgen.
„Aber die Situation ist hier in keiner Hinsicht als normal zu bezeichnen. Ich habe mich wohl daran gewöhnt, und auf jeden Fall leben wir hier in einem äußerst sonderbaren Land, in dem man lernt, sich mit fast allem abzufinden, aber es ist mir klar, daß ein Haus wie dieses auf einen Menschen wie Sie, der es zum erstenmal betritt, sehr ungewöhnlich wirken muß. Als sie mich zum erstenmal empfing, erging es mir ebenso. Sie bewohnt die Räume des ehemaligen Emirs – wir nennen diesen Teil den Prinzenhof-, und ein alter Prachtdiwan ist ihr Schlafzimmer. Die meiste Zeit ist es dort stockfinster. Lady Stanhope hat ebenso gelebt, aber aus Eitelkeit. Ich weiß nicht, welchen Grund Ihre Großtante hat, diesen gewiß nicht, aber möglicherweise handelt es sich bei ihr nur um Nachahmung; ich erinnere mich noch, wie ich das erstemal um Mitternacht hineingeführt wurde und mich fragte, in was für einer Klapsmühle ich gelandet sei. Und in letzter Zeit hat sie angefangen...“ Er unterbrach sich und betrachtete eine seiner Schuhspitzen mit großer Aufmerksamkeit. „Können Sie sich Ihrer Großtante noch gut erinnern?“ „Im Grunde gar nicht. Ich habe nur den Eindruck behalten, daß sie groß und dunkel war; sie hatte durchdringende schwarze Augen und trug schwarze Kleider, weite Gewänder, die sie einhüllten wie der Umhang der weißen Königin. Sie trug auch einen Umhang, den sie mit einer Brillantenbrosche zusammenhielt. Ich entsinne mich noch, daß meine Mama damals sagte, ihre Brillanten seien schmutzig. Das fand ich komisch, aber ich weiß nicht, warum.“ „Brillanten? Die müssen wohl schon seit langem verschwunden sein. Ich habe niemals welche gesehen.“ Seine Stimme klang, wie ich fand, als ob er es bedauerte. „Sie ist auch gar nicht sehr groß, aber einem Kind könnte sie natürlich groß erschienen sein. Und was ihre Kleider betrifft, so sind auch sie Teil der Legende.“
„Ja, ich weiß, sie zieht sich an wie ein Mann aus dem Orient. Und warum nicht?“ Ich löste meine Hände, die ich um mein Knie gelegt hatte, und streckte meine Beine aus. „Schließlich ziehe ich mich wie ein europäischer Mann an.“ „Ich habe mich davon nicht irreführen lassen“, erklärte Mr. Lethman und zeigte damit zum erstenmal einen Funken von etwas Menschlichem. Auch sein besorgter Ausdruck war ein wenig gemildert. Er erhob sich. „Ich gehe jetzt und sehe nach, wie die Dinge stehen. Selbstverständlich will ich versuchen, sie dazu zu überreden, Sie sogleich zu empfangen. Möglicherweise tut sie es und empfängt Sie mit offenen Armen, aber tut sie es nicht, treffen wir die entsprechenden Vorkehrungen, damit Sie die Nacht über bleiben können. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ „Gut. Ich werde Sie auch vom Schlimmsten unterrichten.“ Ein flüchtiges Lächeln, und schon war er verschwunden. Ich trat an das Becken des Springbrunnens und setzte mich auf seinen Rand neben Hamid. „Haben Sie alles gehört?“ „Das meiste“, antwortete Hamid. „Klingt alles etwas seltsam, finden Sie nicht? Zigarette?“ „Im Augenblick nicht, danke. Ich rauche überhaupt nicht viel.“ „Aber er.“ „Was meinen Sie damit?“ „Haschisch.“ Ich starrte ihn an. „Was? Wirklich? Woher wissen Sie das?“ Er zuckte die Achseln. „Haben Sie nicht seine Augen bemerkt? Und andere Anzeichen – mit der Zeit lernt man sie kennen. Als wir kamen, muß er gerade geraucht haben.“ „Deswegen war er auch so schläfrig – wie aus einer anderen Welt! Er hat gesagt, er hätte gerade geschlafen, und mir eingeredet, es wäre nur eine Siesta gewesen. Ich hatte geglaubt, er hätte einen Teil der Nacht meiner Großtante Gesellschaft
geleistet. Haschisch hat er geraucht! Kein Wunder, daß er wütend auf mich war, weil ich ihn dabei gestört habe!“ „Ich glaube kaum, daß er wütend auf Sie war. Dieses Rauchen kann Menschen sehr entspannen; sie nehmen alles leichter und wissen häufig nicht, was sie tun. Nur das Denken ist ihm schwergefallen. Ich rauche manchmal selber dieses Zeug; im Libanon tun es alle.“ „Sie auch?“ Er lächelte. „Nicht, wenn ich fahre, keine Sorge. Und ich rauche auch nicht viel; dazu bin ich zu vernünftig, auch ist es gefährlich. Die Wirkung beiden einzelnen Menschen ist verschieden. Bis ein Mensch erkannt hat, wie er darauf reagiert, kann es schon zu spät sein. Haben Sie gehört, daß er sagte, er schriebe ein Buch? Wenn er hierbleibt und Marjoun raucht, schreibt er es nie. Jahre hindurch wird er sich einbilden, morgen würde er damit anfangen und es würde das beste Buch werden, das jemals geschrieben wurde... Aber niemals wird er damit anfangen. So wirkt Marjoun: es gibt einem Visionen und nimmt einem den Willen, sie auch zu verwirklichen. Er wird genau so enden wie dieser alte Mann: er wird hustend in der Sonne sitzen und seinen Träumen nachhängen... Was werden Sie tun, wenn er bei seiner Rückkehr erklärt, die alte Dame wolle Sie nicht sehen?“ „Das weiß ich nicht recht.“ „Ich will Ihnen sagen, was ich tun würde. Wenn er sagt, daß Ihre Großtante Sie nicht empfangen will, sollten Sie ihm erklären, Sie beständen darauf, mit ihr selber zu sprechen. Wenn er nicht darauf eingeht, dann sagen Sie ihm, daß Sie eine solche Ablehnung nur von einem wirklichen Arzt entgegennehmen können, und Sie verlangen, ein Arzt aus Beirut solle sofort herkommen. Das alles können Sie in sehr freundlichem Ton sagen. Fragen Sie ihn, welchen Arzt er denn
empfehlen würde und welche Zeit ihm morgen recht wäre. Dann sagen Sie es mir, und ich bringe Sie her.“ Seine Stimme klang eigentlich gelassen, aber dennoch sah ich ihn verwundert an. „Was meinen Sie damit?“ „Nichts Besonderes.“ Wieder zuckte er die Achseln. „Ich habe nur den Eindruck, daß hier alles nach seiner Pfeife tanzt. Auch haben wir es bisher nur mit seiner Behauptung zu tun, daß kein Geld mehr da ist. Dabei war sie – ich wiederhole es – eine sehr reiche alte Dame.“ „Aber der Familie ist es doch völlig gleichgültig...“ Ich unterbrach mich. Es war offensichtlich nutzlos, Hamid zu erklären, daß niemand von uns daran dachte, Großtante Harriet vorzuschreiben, wie sie ihr Geld verpulverte. Sie sollte sich von uns aus auf ihre Art und Weise amüsieren. Auf jeden Fall aber ging es hier um andere Dinge als nur um Geld. So sagte ich nachdenklich: „Wenn es zutrifft, daß sie bei guter Gesundheit ist, müßte sie ja für sich selber sorgen können und wäre mir bestimmt dankbar, wenn ich mich hier einmische. Ich will ja nur wissen, ob sie wirklich wohlauf ist. Ist es der Fall, kann sie mit ihren schmutzigen Brillanten anstellen, was sie mag. Wahrscheinlich hat er recht damit, daß sie es bereits getan hat.“ „Höchstwahrscheinlich.“ Ich wußte nicht, ob Hamids sachliche Feststellung bedeutete, daß er dabei an die in diesem Palast offensichtlich geübte Sparsamkeit oder an John Lethmans goldene Armbanduhr dachte. Er fügte noch hinzu: „Ich möchte damit nichts Abfälliges gesagt haben, aber ich habe nun einmal einen sehr häßlichen Charakter.“ „Ich auch. Und wenn er wirklich Marihuana raucht – also Haschisch...“ Ich holte tief Atem. „Ja, damit wäre das entschieden. Ich werde darauf bestehen, da kann er sagen, was er will. Es tut mir entsetzlich leid, daß ich Sie so lange habe warten lassen, Sie sind sehr geduldig.“
„Sie bezahlen mir ja meinen Wagen pro Tag und meine Zeit. Wie diese Zeit verbracht wird, spielt keine Rolle, und man spart Benzin, wenn man nur in der Sonne sitzt und raucht.“ Ich lachte auf. „Auch ein Standpunkt. Und Sie haben recht, ich muß mit ihr sprechen. Falls notwendig, mache ich einen Mordskrach und bestehe darauf.“ „Nicht notwendig.“ Ich fuhr zusammen. Ich hatte Mr. Lethman nicht zurückkehren hören, aber da war er. Rasch kam er den im Schatten liegenden Teil der Arkaden, von Jassim gefolgt, entlang. Er sah so aus, als habe er sich beeilt. Oder, dachte ich, als habe er eine unangenehme Unterredung hinter sich. Auf jeden Fall sah er jetzt hellwach aus, er wirkte sogar energisch. „Will sie mich sehen?“ „Ja, sie will Sie sehen, aber leider wird es erst spät in der Nacht sein.“ Er machte eine Handbewegung, als wollte er sich entschuldigen. „Es tut mir leid, ich habe versucht, sie zu überreden, aber wie ich Ihnen wohl schon sagte, hat sie nicht ihren guten Tag, und so wollte ich nicht allzusehr darauf bestehen. Sie hat in letzter Zeit etwas unter Bronchialasthma gelitten, nichts Ernstes, aber sie kann dann schlecht schlafen. Sie will nichts davon wissen, den Arzt kommen zu lassen, und da wir noch vom letzten Herbst her das Rezept haben – sie hatte damals die gleichen Beschwerden –, habe ich sie nicht dazu überreden können. In gewisser Weise ist das Medikament daran schuld, es ist schlimmer als die Krankheit selber. Es wirkt auf sie deprimierend. Und ich muß Ihnen gestehen, daß die Nachricht von Ihrem Besuch sie sehr aufgemuntert hat.“ „Das ist ja wunderbar. Ich verspreche Ihnen, sie nicht zu ermüden.“ „Haben Sie mit Ihrem Fahrer alles abgemacht? Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer, bevor ich zu Ihrer Großtante zurückkehre.“
„Es ist alles besprochen. Hamid holt mich morgen ab.“ „Ausgezeichnet“, sagte er, als ob er es meinte. „Wenn Sie jetzt mit mir kämen, Jassim wird Ihren Fahrer zum Tor begleiten.“ Als ich mich von Hamid verabschiedete, hatte ich den Eindruck, daß Jassim mich ziemlich sehnsüchtig ansah, als hätte er auch mich gern an die Luft gesetzt. Aber dann entschwand er schlurfend in der Dunkelheit, und Hamid folgte ihm, nachdem er mir noch einmal unbekümmert zugewinkt hatte. Mr. Lethman führte mich in entgegengesetzter Richtung zum rückwärtigen Teil der Gebäude. „Es hat also bei ihr doch keiner großen Überredung bedurft?“ fragte ich. „Nicht der geringsten“, gestand er, „sobald sie begriffen hatte, wer Sie sind. Um ganz ehrlich zu sein, sie konnte sich Ihrer nicht mehr gut erinnern, aber trotzdem möchte sie Sie gern sehen.“ „Das hatte ich mir eigentlich gedacht. Wahrscheinlich aus einer überwältigenden Neugier heraus.“ Er sah mich, wie es schien, überrascht an. „Ja, vielleicht ist es das. Ist es Ihnen unangenehm ?“ „Warum sollte es? Das Motiv ist ohne jede Bedeutung, solange das Ergebnis stimmt. Sie will mich sprechen, nicht wahr? Das ist verständlich. Was ist denn Ihrer Ansicht nach mein Hauptmotiv für diesen Besuch in Dar Ibrahim?“ „Ich... ja, gewiß.“ Es klang, als sei er ein wenig aus der Fassung gebracht. „Was ist los? Schockiert Sie das etwa?“ „Nein. Aber... Sie sind eine sehr ungewöhnliche junge Dame, nicht wahr ?“ „Weil ich auf meine eigene Art selig werden möchte oder weil ich der Ansicht bin, daß Verwandte nicht dazu verpflichtet sind, sich zu mögen, ob es ihnen paßt oder nicht? Das ist doch nicht so ungewöhnlich, nur wollen die meisten Menschen es
nicht zugeben.“ Ich lachte auf. „O ja, ich gehe gern meinen eigenen Weg, aber ich erkenne auch das Recht der anderen an, das gleiche zu tun. Es ist etwa das einzige, was zu meinen Gunsten spricht.“ „Was ist, wenn der Weg der anderen nicht der gleiche ist wie der Ihre?“ „Ich habe in allem meinen eigenen Kopf, bei mir heißt es immer: Volldampf voraus und hol der Teufel die Torpedos, aber ich lasse mit mir reden. Wo wollen Sie mich unterbringen?“ „Im Serail.“ „Damit hätten Sie mich wahrhaftig dort untergebracht, wohin ich gehöre, nicht wahr? Hinter Schloß und Riegel?“ „So ungefähr. Zumindest sind alle Fenster vergittert.“ Er lächelte mich von oben her an und wirkte plötzlich reizend. „Es ist nämlich der beste Teil des Palastes, wie ich Ihnen versichern kann... Wir mögen zwar nur widerwillige Gastgeber sein, aber haben wir erst einmal nachgeben müssen, lassen wir uns nicht mehr lumpen. Erstklassige Unterbringung, um den mangelnden Enthusiasmus wieder auszugleichen. Wußten Sie, daß Lady Hester Stanhope ihre Gäste ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend einteilte? Ich glaube, daß die dritte Klasse bei ihr recht schlechte Nächte verbracht hat.“ „Bei ihr kann ich es mir denken. Immerhin nett von Ihnen, mich in die Spitzengruppe einzureihen, nachdem ich Ihnen all die Unannehmlichkeiten bereitet habe.“ „Mein Gott, das sind doch keine Unannehmlichkeiten. Im Grunde freue ich mich, daß Sie bleiben – Ihre Großtante ist hier nicht der einzige Mensch, der Gesellschaft liebt... Ich fühle mich sehr erleichtert, daß sie so auf alles eingegangen ist und ich mich nicht mit Ihnen habe herumzustreiten brauchen. Bestimmt wird Ihr Besuch ihr unendlich guttun – ich finde sogar, es wäre sehr nett, wenn sie plötzlich Gefallen an Ihnen
fände und Sie veranlaßte, ein paar Wochen zu bleiben. Dann können nämlich Sie aufbleiben und ihr um drei Uhr morgens aus dem Koran vorlesen, und ich hätte damit einmal eine Nacht zum Ausspannen.“ „Besteht darin Ihre Tätigkeit?“ „Das wissen doch alle. Soll ich es ihr vorschlagen? Wie lange könnten Sie denn bleiben?“ „Das werde ich Ihnen morgen früh sagen.“ Er lachte auf und stieß ein hölzernes Tor auf, das unter einem von Schlingpflanzen überwucherten Torbogen etwas schief in seinen Angeln hing. „Hier herein“, sagte er und ließ mich an sich vorbeigehen.
Viertes Kapitel Und leise weht es durch einen Garten am Wasser... E. FitzGerald: The Rubáiyát of Omar Khayyám
„Oh!“ rief ich und blieb stehen. John Lethman schloß hinter mir das Tor und trat neben mich. „Gefällt es Ihnen?“ „Und ob es mir gefällt!“ Es verschlug mir fast den Atem. „Was war denn hier früher?“ „Nichts weiter als der Haremsgarten. Leider ist er entsetzlich vernachlässigt.“ Das war er natürlich, aber darauf beruhte auch zum Teil seine Schönheit. Nach dem Anblick sonnendurchglühter Steine und staubiger Trümmer, der den ganzen Nachmittag hindurch meine Augen verletzt hatte, waren diese Fülle von Grün, von Blumen und der Schimmer kühlen Wassers eine Erholung. Dieser Garten war nach dem Vorbild der anderen Höfe angelegt: ein mit Steinplatten ausgelegter und von Blumen und Büschen unterbrochener Hof, in dessen Mitte ein Wasserbecken lag, umgeben von schattigen Arkaden, in die die verschiedenen Zimmer und Wirtschaftsräume mündeten. Hier aber herrschten riesige Dimensionen. Offensichtlich nahmen die Räumlichkeiten und der Garten des Serails die ganze Breite des Palastes ein und erstreckten sich über einen großen Teil des Plateaus. An drei Seiten dieses großen Geländes zogen sich die Bögen der langen Arkaden hin und warfen ihr Muster von Sonne und Schatten über die Eingänge, die früher zu den Gemächern der Frauen geführt hatten. Auf der vierten Seite – nach Norden zu – fiel die Arkade mit der äußeren Mauer zusammen. Dort blickte man durch eine Reihe zierlich geschwungener Bögen über den Nähr el-Sal’q auf das Dorf und
die fernen schneebedeckten Gipfel des Libanon hinaus. Diese Fenster waren zwar hoch, jedoch mit so engen Gittern versperrt, daß man zwischen ihnen kaum eine Hand hätte hinausstrecken können. Innerhalb dieses von Säulen gebildeten Rahmens hatte vor langer Zeit ein Mann, der etwas davon verstand, einen großen symmetrischen Garten angelegt und hatte von einer höher gelegenen Quelle aus Wasser hineingeleitet, um die Bäume und die Blumen zu bewässern und das Wasserbecken zu füllen – diesmal kein Zierbrunnen, sondern eine weite Wasserfläche, fast ein See, in dessen Mitte eine kleine Insel lag, die von Bäumen bestanden war. Auf ihr, im Herzen des Hains, sah ich vergoldete Dachplatten schimmern – das Dach eines kleinen Gebäudes, das einem exotischen Sommer- oder Lusthaus ähnelte: ein Pavillon im persischen Stil mit einer Zwiebelkuppel, schlanken Säulen, vergitterten Fensterbögen und niedrigen, rissigen Stufen. Früher einmal hatte eine Brücke zu der Insel geführt, ein zierliches, hübsches Bauwerk; nun aber war sie zur Hälfte eingestürzt, und es blieb eine Lücke von etwa zwei Meter Breite. Der See selber war nun von Wasserrosenblättern fast ganz bedeckt, und an seinem Rand bildeten die Schwertlilien dichte Gruppen von Speeren. Um den Rand herum führte ein breiter, mit Platten belegter Weg, wo Farnkraut und Heckenrosen die geborstenen Marmorplatten durchstoßen hatten. Von den mit Platten bedeckten Dächern der Arkaden und zwischen den Säulen rankten sich purpurrote Bougainvilleen und Rosen herab, und jeder Vorsprung war mit Vogelmist weiß bedeckt und von Tauben bevölkert, die unaufhörlich gurrten. Der Kontrast zwischen der geometrischen Anlage des länglichen Sees, den zierlichen Bögen und dem anmutigen Pavillon einerseits und der üppig wuchernden Pflanzenwelt, die sich hier hineingedrängt hatte,
war von erregender Schönheit. Es erinnerte an ein persisches Bild der alten Schule, das sich plötzlich in seinen Konturen aufzulösen drohte. „Nicht eine Pflanze, die nicht hier herein gehörte“, sagte ich. „Es ist wunderschön! Und dabei haben mir diese armen Frauen immer leid getan. Damit wäre auch das entschieden, Mr. Lethman. Morgen ziehe ich hier ein und werde sehr lange bleiben. Wie lange können Sie es mit mir aushalten?“ „Warten Sie, bis Sie Ihr Zimmer gesehen haben, bevor Sie sich festlegen“, antwortete er und ging mir voraus. Das Zimmer lag in der Mitte der Südseite des Gartens. Es war ein einfacher rechteckiger Raum mit ziemlich hoher Decke, schachbrettartig gemustertem Marmorboden, Mosaikornamenten an den Wänden in Feldern von Blau und Gold, die Texte in arabischer Schrift einrahmten. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, die ich bis dahin gesehen hatte, war dieser sauber und von einem dreiflügeligen Fenster, das unmittelbar auf die Adonisschlucht hinausging, in helles Licht getaucht. Das Fenster war vergittert, aber nicht so stark wie die anderen, die auf das Plateau hinausführten. Das hatte seinen guten Grund: die Außenmauer des Serails stieg offenbar unmittelbar von der Felskante oberhalb des Flusses auf. „Das Schlafzimmer liegt nebenan“, erklärte Mr. Lethman, „und danach kommt das Badezimmer. Wenn ich von ›Badezimmer‹ spreche, meine ich natürlich die ganze Anlage, den Hammam – Dampfräume, Räume zum Abkühlen und zum Massieren.“ Er lächelte. „Aber wie Sie sich vorstellen können, kein Dampf.“ „Und nicht irgendein heißes Wasser?“ „Können Sie denn nicht ernst sein? Aber wir haben fließendes Wasser, direkt vom Schnee herunter, und es gehört ganz Ihnen.“ Sein Lächeln verschwand, und er sah mich ein wenig zweifelnd an. „Es ist eigentlich sehr tapfer von Ihnen zu bleiben. Wir sind so gar nicht auf solche Besuche eingerichtet.“
„Mir macht es Spaß“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Dieser Teil des Palastes wird Ihnen wahrscheinlich wie ein Rest echter orientalischer Romantik vorkommen, wie verfallen alles andere auch sein mag. Ich hoffe nur, daß Sie sich Ihre Illusionen bewahren können... Leider ist das Schlafzimmer noch nicht fertig. Ich schicke gleich Halide, die alles zurechtmacht und Ihnen einige Handtücher bringt. Brauchen Sie sonst noch etwas?“ „Nur eine Zahnbürste, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die im Hammam vorgesehen ist. Machen Sie kein so besorgtes Gesicht, es war nur ein Scherz von mir. Für eine Nacht werde ich schon so auskommen, wenn möglicherweise für das Abendessen ein Apfel aufzutreiben wäre. Ich hoffe, daß in der Diät meiner Großtante Harriet ein Abendessen vorgesehen ist?“ Er lachte auf. „Verlieren Sie nicht den Mut. Es wird Sie trösten zu erfahren, daß Halide mich nicht der Diät Ihrer Großtante entsprechend verpflegt. Aber ich muß jetzt leider gehen.“ Er blickte auf seine Uhr. „Bestimmt würden Sie auch gern etwas Alkoholisches trinken. Ich lasse Ihnen gleich etwas bringen. Bald wird es zu dunkel sein, um hier noch viel zu erkunden, aber gehen Sie, wohin es Ihnen beliebt – natürlich mit Ausnahme der Räume des Prinzen, aber Halide oder ich werden auf jeden Fall dort sein, um Sie abzuwehren, sollten Sie sich dorthin verirren.“ „Vielen Dank, aber ich werde hierbleiben. Dieser Garten ist zu schön.“ „In etwa einer halben Stunde bin ich wieder hier, und dann werden wir essen.“ Nachdem er gegangen war, setzte ich mich auf die Kissen des Diwans und blickte auf die Schlucht hinaus, wo das letzte Licht die Wipfel der Bäume vergoldete. Im Tal wurden die Schatten tiefer und verwandelten sich von Purpur zu Schwarz. Bald
würde es dunkel sein. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich müde war; ich hoffte, daß, wenn Halide mir das Getränk brächte, es nicht der übliche arabische Willkommenstrunk sei: Arak. Er war es nicht, und er wurde mir auch nicht von Halide gebracht, sondern von einem untersetzten, jungen Araber, wahrscheinlich ihr Bruder Nasirulla. Er war ebenso wie Jassim in weiße Gewänder gekleidet und trat leise mit einem Tablett ein, auf dem eine angezündete Lampe, zwei Gläser und eine Flasche goldenen Weins aus dem Bk’aa standen. Es ist ein herrlicher Wein, leicht, herb und so ungefähr das Beste, was der Libanon hervorbringt. Er hätte mir in diesem Augenblick nichts anbieten können, was ich lieber getrunken hätte. Ich fing an, von Mr. John Lethman etwas freundlicher zu denken. Als ich mit Nasirulla zu sprechen versuchte, sah er mich scheu an, schüttelte den Kopf und sagte etwas auf arabisch. Dann stellte er die Lampe in eine Nische neben der Tür, deutete ein Selam an und ging hinaus. Nachdem die Lampe gebracht worden war, schien die Dunkelheit schneller herabzusinken, wie es stets der Fall ist. Nur einige Minuten nachdem Nasirulla mich verlassen hatte, wurde der blaue Himmel draußen vor den Fenstern immer dunkler, und um sieben Uhr war es völlig finster. Ich saß zusammengekauert auf dem Bänkchen am Fenster, trank den goldenen Wein und fragte mich, was diese Nacht wohl noch bringen würde. Es war sehr still. Der Nachthimmel war wie mit großen Sternen übersäter schwarzer Samt, und als wäre es tatsächlich ein Samtvorhang, schienen alle Laute wie abgedämmt, sogar das leise Rauschen des Flusses unterhalb meines Fensters. Im Garten waren die Tauben verstummt, und nicht ein Windhauch bewegte die gefiederten Bäume. Durch die offene Tür roch ich den Duft von Jasmin, Rosen und einigen anderen stark riechenden Blumen, und hinter allem, als sollte damit auch an
alles andere erinnert werden, der süßliche, schwere Geruch des Teiches. Mr. Lethman kam um etwa drei Viertel acht wieder zurück, begleitet von Nasirulla mit dem Tablett, auf dem das Abendessen stand. Es gab eine Suppe, heiß aus einer großen Thermosflasche. Und ein Gericht Scha-warma – mit Essig, Zitrone, Zwiebeln und Kardamomkörnern gewürztes Hammelfleisch, an einem langen Spieß gebraten. Dazu eine Schüssel mit Salat, eine Schale mit heller Butter und ein halber Käse aus Ziegenmilch, eine Menge ungesäuertes Brot, ein paar Äpfel und noch eine Flasche Wein. Nasirulla stellte das alles auf dem niedrigen Tisch ab, sagte etwas zu Mr. Lethman und ließ uns allein. „Wenn Sie das einfaches Leben nennen, können Sie mich anwerben“, sagte ich. Er lachte auf. „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Halide mir etwas nebenbei zukommen läßt. Übrigens hat mir Nasirulla soeben gesagt, daß sie schon unterwegs ist, um Ihr Zimmer herzurichten.“ „Ich mache Ihnen viel Mühe. Zum Beispiel, daß Sie das Abendessen den langen Weg hierher haben bringen lassen. Wo essen Sie denn sonst?“ „Recht oft hier.“ Wie zur Entschuldigung fügte er hinzu: „Sie werden es wahrscheinlich ohnehin feststellen, und so kann ich es Ihnen ebensogut gleich sagen: Dies sind meine Zimmer. Nein, hören Sie mich bitte an... ich hatte heute nacht sowieso drüben auf der anderen Seite schlafen wollen. Sie brauchen also nicht zu denken, daß Sie uns besondere Unannehmlichkeiten bereitet haben.“ „Keine Unannehmlichkeiten...? Mr. Lethman, ich weiß nicht, was ich sagen soll! Ich habe Sie aus Ihrem Zimmer verdrängt!“ Er unterbrach jedoch meine Einwände, indem er die Suppe eingoß und mir die meine zusammen mit etwas arabischem Brot in einer runden Schale mit Henkel reichte. Dann schenkte
er mir Wein nach. Es sah fast so aus, als wollte er seine frühere Abneigung, mich einzulassen, wiedergutmachen oder als ob, nachdem sich Lady Harriet mit mir abgefunden hatte, der traditionellen arabischen Gastfreundschaft Genüge getan werden müsse und als ob er und die arabischen Bediensteten buchstäblich nicht genug tun könnten, um mir meinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Jede Beziehung zwischen meinem lebhaften Gastgeber und dem aufgestörten, von Schlaf oder Haschisch benommenen jungen Mann, den ich am Nachmittag kennengelernt hatte, schien völlig zufällig. Jetzt tat er sein Bestes, um mich zu unterhalten, und während des ganzen Essens plauderten wir sehr angeregt miteinander. Er wußte ziemlich viel über die Geschichte dieses Ortes und hatte viel Lustiges von diesem Haus zu erzählen, das er als den „Hofstaat der Lady zu herabgesetzten Preisen“ bezeichnete, aber es fiel mir auf, daß er sehr wenig über meine Großtante Harriet selber sprach, und hinter dieser Zurückhaltung glaubte ich eine gewisse Hochachtung und sogar Zuneigung ihr gegenüber zu entdecken. Wenn er sich auch sonst über alles mögliche lustig machte, und sosehr sie auch dazu herausfordern mochte, seine Herrin ließ er ungeschoren, und ich mochte ihn gerade deshalb um so mehr. Auch war er an allem, was ich ihm über die Familie erzählen konnte, interessiert. Das einzige, das zu erwähnen ich bewußt vermied, war Charles’ Anwesenheit in Syrien und die Tatsache, daß auch er einen Besuch plante. Ich hatte die Absicht, einen günstigen Augenblick zu finden, um Großtante Harriet selber zu erzählen, daß er sie besuchen wollte, um auf diese Weise alle Schwierigkeiten einer Überredung durch andere Personen zu umgehen. Nicht daß es nun, wenn Charles recht haben sollte, überhaupt einer Überredung bedurfte. Wenn sie sich so bereitwillig damit einverstanden erklärt hatte, mich zu sehen, obwohl sie sich meiner doch kaum noch entsann,
dann war Charles, ihr Liebling, schon so gut wie in diesem Haus eingelassen. Um neun Uhr brachte Halide den Kaffee und teilte Mr. Lethman mit, Nasirulla sei ins Dorf zurückgekehrt und mein Zimmer stehe bereit. In ihrem Äußeren ähnelte sie ihrem Bruder nicht sehr; sie war jünger und schmächtiger gebaut. Sie war eine dunkelhäutige Araberin, eher walnuß- als olivfarben, und hatte große, dunkle Augen, einen schlanken Hals und schmale Hände. Ihr Kleid war aus bronzegrüner Seide, ein kostbar wirkendes Material und eine raffinierte Farbe; ihre Augen waren schwarz nachgezogen, und damit hätte sie sich auch in London sehen lassen können; und unter der dünnen Seide trug sie, falls ich mich nicht irrte, einen französischen – einen sehr französischen – Büstenhalter mit halben Schalen. Wie viele arabische Frauen schleppte sie ihr Bankkonto an ihren Handgelenken mit sich herum, an denen es von schmalen goldenen Armbändern klimperte. Das war kein einfaches arabisches Mädchen, und wenn ich überhaupt etwas davon verstand, vergeudete sie ihre Lieblichkeit gewiß nicht auf die Wüste. Während sie Mr. Lethman (auf englisch) vom Zimmer berichtete, musterte sie mich, und die Botschaft, die sie mir zu übermitteln hatte, war eine, die jede Frau versteht, in jeder Sprache, ob sie nun den Eskimos oder irgendeinem anderen Naturvolk angehört: „Bestimmt würde er dich gar nicht erst ansehen, so wie du in diesen Hosen ausschaust, aber komm mir nicht in den Weg, oder...“ Dann senkte sie ergeben ihre dunklen Augen und sagte in ihrem hübschen Englisch, das nur einen leichten fremdländischen Akzent hatte, zu John Lethman: „Wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben, möchte die Lady Sie noch einmal sprechen.“ Sie ging hinaus, ließ aber die Tür offen. Ich blickte ihrer schlanken, anmutigen Gestalt nach, als sie in den Schatten der Arkaden entschwand, jenseits des kleinen Lichtscheins, den die
Lampe warf, aber ich nahm an, sie sei nicht sehr weit gegangen. Bald wußte ich, daß ich mit meiner Vermutung recht gehabt hatte: Wo das Wasser des Sees das helle Grau des sternübersäten Himmels spiegelte, bemerkte ich eine Bewegung. Sie wartete zwischen den Büschen am Rand des Wassers und beobachtete uns wahrscheinlich durch die offene Tür. John Lethman ließ sie offenstehen. Da ihm augenscheinlich daran lag, seinen Kaffee auszutrinken und der Aufforderung nachzukommen, beeilte auch ich mich. Schon bald erhob er sich. „Ich muß Sie jetzt leider allein lassen, aber ich komme später zurück, sobald sie mich gehen läßt, und führe Sie hinüber. Wird Ihnen auch bestimmt hier nichts fehlen?“ „Wieso? Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, mir fehlt nichts. Ich werde schon ein Buch finden.“ „Selbstverständlich, nehmen Sie nur alles, was Sie wollen. Sollte die Lampe nicht hell genug sein, können Sie sie leicht höher drehen; Halide wird es Ihnen zeigen.“ Jäh wandte er den Kopf, als irgendwo in der Tiefe der Gebäude grell eine Glocke erklang, die in der stillen Nacht besonders laut wirkte. Von einer Stelle, die uns näher lag, stieg plötzlich wütendes Gebell von Hunden auf, die von dem heftigen, anhaltenden Läuten der Glocke gereizt wurden. Nach dem Bellen zu urteilen, waren es große Hunde, die sich innerhalb des Hauses und nicht weit von uns entfernt befinden mußten. „Was in aller Welt ist denn geschehen?“ fragte ich bestürzt. „Nichts, als daß Ihre Großtante ungeduldig wird. Es tut mir leid, aber ich muß jetzt gehen. Sobald ich kann, hole ich Sie.“ „Aber diese Hunde?“ „Das hat nichts zu bedeuten, die vollführen immer einen solchen Höllenlärm, sobald die Glocke läutet. Um sie machen
Sie sich keine Sorgen, bevor ich Sie holen komme, sperre ich sie ein.“ „Einsperren? Laufen sie etwa frei im Palast umher? Sie klingen gefährlich.“ „Es sind unsere Wachhunde, und sie müssen auch gefährlich sein. Sie werden jedoch nur nachts freigelassen, und in das Serail kommen sie nicht herein, wenn man das große Tor geschlossen hält. Da haben Sie nichts zu befürchten.“ Er bedachte mich mit einem flüchtigen Lächeln. „Keine Sorge, dies ist keine Nacht, in der Sie lebendig aufgefressen werden – zumindest nicht von den Hunden.“ Er ging hinaus. Ich hörte, wie sich das hölzerne Tor hinter ihm schloß, und einige Augenblicke später seine Stimme, als er die Hunde rief. Das Bellen verstummte, und die Stille breitete sich wieder aus. In ihr erblickte ich Halide, die in ihrer grünen, schimmernden Seide in der Tür stand. „Wenn Sie jetzt mitkommen, zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.“ Sie hatte im Schlafzimmer für mich noch eine Lampe angezündet und stellte sie nun auf ein Bord in der Nähe des Bettes. Dieses Zimmer wirkte wie eine genaue Kopie des anderen, schien jedoch größer zu sein, da es keine Möbel bis auf ein schmales eisernes Bett, einen gebrechlich aussehenden Stuhl aus Bambusrohr und eine schwarzgestrichene, scheußliche Kommode enthielt, auf der ein schön lackierter Spiegel und eine verbeulte alte Blechbüchse mit Metallschließen und der Aufschrift S. S. Yangtse Maid standen. Auf dem Fußboden lagen keinerlei Teppiche, und das gleiche galt für die Fenstersitze der Estrade. Das Bett war mit irischem Leinen bezogen, ein wenig vergilbt und nicht sehr gut gebügelt, und die rote Daunendecke mit Waffelmuster lag auf einer Matratze, die wie die härteste und gesündeste Matratze der Welt aussah. Ich konnte mir einfach nicht denken, daß dies Halides Revier sei; alles, was mit ihr zusammenhing, hätte viel mehr von
orientalischem Gepränge an sich haben müssen. Was hatte eigentlich John Lethman damit gemeint, als er davon sprach, drüben auf der anderen Seite zu schlafen? Dennoch war es nicht dieser Gedanke, der mich veranlaßte, nun zu ihr zu sagen: „Ich habe Mr. Lethman hinausgedrängt, nicht wahr? Wo wird er schlafen?“ Ein Achselzucken, das dennoch nicht frech wirkte. „Es gibt viele Zimmer.“ Als ich nicht antwortete, sah sie mich, vielleicht ein wenig beunruhigt, an und fügte in dem Versuch, höflicher zu sein, obwohl ihr dies offensichtlich schwerfiel, hinzu: „Er verbringt oft die Nacht mit der Lady. Vielleicht wird er erst am Morgen schlafen.“ „Ach so. Vielleicht habe ich dann doch nicht alles so durcheinandergebracht, wie ich geglaubt hatte.“ Ich lächelte sie an. „Aber ich fürchte, daß du viel Mühe damit haben wirst, zweimal die Betten beziehen zu müssen.“ Sie stellte es nicht wie üblich in Abrede, aber das mochte vielleicht nur daran liegen, daß ihr Englisch für höfliches Geplänkel nicht ausreichte. „Haben Sie das Badezimmer gesehen?“ „Ja, danke. Ist das Wasser trinkbar?“ „Ja, aber es stand Wasser auf dem Tablett mit dem Abendessen. Das lasse ich hier. Sollte nichts weiter mehr sein... ?“ „Ich glaube nicht, danke. Es sieht alles sehr hübsch aus, und bestimmt werde ich mich hier wohl fühlen. Ach, würdest du mir bitte noch zeigen, wie man die Lampe höher dreht? Mr. Lethman sagte mir, ich könnte mir, während ich warte, seine Bücher ansehen.“ In das andere Zimmer zurückgekehrt, kam sie meiner Bitte nach, hob die Lampe aus der Nische und stellte sie auf den Tisch neben die Bücher. Ich dankte ihr und betrachtete sie, während sie begann, das benutzte Geschirr auf das Tablett zu
stellen. Sie sagte nichts weiter mehr, aber ich sah, wie sie mich beobachtete, und es bedurfte keiner großen Phantasie, um aus diesen hastigen, verstohlenen Blicken eine wachsame Feindseligkeit herauszulesen. Ich war jetzt gereizt und wünschte mir, sie würde mit ihrer Arbeit fertig werden und verschwinden. Ich konzentrierte mich darauf, mir ein Buch auszusuchen. Als leichte Lektüre, um ein paar Stunden hinter mich zu bringen, waren sie nicht sehr vielversprechend. Eine arabische Grammatik, ein paar Bücher über Syrien und den Libanon, die ich bereits während der Zeit meiner Genesung in Charles’ Zimmer gelesen hatte, und eine Sammlung, von der man möglicherweise sagen konnte, sie stelle John Lethmans Hausaufgabe dar – einige Bände (mir ebenfalls bekannt) über die erste Lady vom Libanon: Joan Haslip und Roundell und Silk Buckingham und drei alte Bände von Dr. Meryons Tagebuch über seine gestrenge Herrin. Ich sah mir die Deckblätter an. Wie ich mir gedacht hatte, handelte es sich um Bücher meiner Großtante Harnet, die sie wahrscheinlich ihrem eigenen „Dr. Meryon“ aus jüngster Zeit zum aufmerksamen Studium geliehen hatte. Ich sah die Reihe von Büchern flüchtig durch. T. E. Lawrences Crusader Castels, Guillaumes Islam, der Koran in Volksausgabe, Kinglakes Eothen... sie alle gehörten Großtante Harriet. Keine medizinischen Lehrbücher, die wahrscheinlich zu groß und schwer waren, um sie bei wissenschaftlicher Feldarbeit mit sich herumzuschleppen. Die einzigen Bücher, die interessanterweise seinen Namen trugen, waren Huxleys The Mind Changers, Fräsers Golden Bough und eine neuere Taschenbuchausgabe von Theophile Gautiers Le Club des Hachachiens. Keine Romane außer Dostojewskis Die Brüder Karamasow und Margery Allinghams The Tiger in the Smoke. Der letzte Band in der Reihe war de Quincey. Ich blätterte zerstreut darin herum, während Halide das Geschirr ziemlich laut aufs Tablett stellte.
„Der Opiumesser verliert nichts von seinen moralischen Empfindungen oder seinem moralischen Streben: er wünscht und trachtet ebenso ernsthaft wie bisher danach, das zu verwirklichen, was er für möglich hält und was seiner Überzeugung nach die Pflicht von ihm verlangt; aber sein geistiges Erfassendes Möglichen übersteigt bei weitem seine Fähigkeiten, nicht nur die der Durchführung, sondern sogar seine Fähigkeiten, es auch nur zu versuchen. Er liegt unter der Last eines Alpdrucks und eines Angstgefühls.“ Plus ça change, plus c’est la même chose. Das entsprach dem, was Hamid gesagt hatte. Ich schüttelte den durch das Opium herbeigeführten Alptraum ab, während Halide das Tablett ergriff und zur Tür ging. „Ich werde sie hinter dir schließen“, sagte ich und näherte mich, aber sie blieb in der Tür stehen und wandte sich um. „Sind Sie wirklich die Tochter des Sohnes des Bruders der Lady?“ Ich versuchte, mir über diese Version klarzuwerden, während sie mich über das Geschirr hinweg anblickte. „Ja.“ „Ihr Vater ist also hier im Libanon?“ „Nein.“ „Ist er tot?“ „Nein“, antwortete ich verwundert. „Wieso?“ „Dann reisen Sie also allein?“ „Warum nicht?“ Sie überging diese Frage. Sie verfolgte einen bestimmten Gedanken, den ich nicht zu erraten vermochte, der jedoch für sie offenbar von wesentlicher Bedeutung war. „Werden Sie... werden Sie lange hier bleiben?“ Die Neugier ließ es mich mit der Wahrheit nicht ganz so genau nehmen. „So lange sie mich läßt“, antwortete ich und beobachtete sie. „Sie fühlt sich nicht wohl“, sagte sie hastig. „Sie werden morgen früh gehen müssen.“
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Das zu sagen ist doch wohl ihre Sache?“ In einem Tonfall der Naivität, der ein Aufflackern von Boshaftigkeit verbergen sollte, fuhr ich fort: „In einem so großen Gebäude brauche ich ihr doch bestimmt nicht im Weg zu sein. Mr. Lethman hat mich ja auch gebeten, so lange zu bleiben, wie es mir gefällt.“ Die schwarzen Augen funkelten auf, ob vor Unruhe oder vor Zorn, vermochte ich nicht zu entscheiden. „Aber das ist doch nicht möglich! Er...“ Schrill, gebieterisch und, wie es schien, sehr übel gelaunt, zerriß Großtante Harriets Glocke die Stille. Weiter weg, aber offenbar noch immer frei, bellten die Wachhunde. Das Mädchen zuckte so heftig zusammen, daß die Sachen auf dem Tablett klirrten und schepperten. „Durch den Gong gerettet!“ rief ich aus. „Aber was sagtest du eben?“ „Nein. Nein. Ich muß gehen!“ Dann fuhr sie fast unbeherrscht fort, als ich ihr folgen wollte, um das große Tor zu öffnen: „Lassen Sie das! Das schaffe ich, das schaffe ich schon!“ Das Tor fiel hinter ihr zu, und ich blickte ihr nachdenklich nach. Wahrhaftig durch den Gong gerettet. Oder durch die Glocke. Ich glaubte nun, etwas klarer zu sehen. Ob John Lethman nun auf Großtante Harriet gesetzt hatte oder nicht, auf jeden Fall hatte Halide auf John Lethman gesetzt. Und ich war nicht ganz sicher, was das nun für Großtante Harriet zu bedeuten hatte. Ich kehrte zur Bücherreihe zurück. Es wäre nett, könnte ich hier berichten, daß ich zu jenen Menschen gehöre, die in einer solchen Situation zum Dostojewski, zum Huxley oder sogar zum Golden Bough greifen und sich damit zu einem langen Abend des Lesens zurückziehen. Aber als schließlich Mr. Lethman erschien, um mich wie versprochen abzuholen, traf er mich in The Tiger in the Smoke vertieft an, von dem ich bereits ein paar Kapitel gelesen hatte, wobei ich
halb und halb wünschte, ich hätte mir etwas weniger Aufregendes für eine Nacht in dem menschenleeren Flügel eines baufälligen Palastes ausgesucht. Er war zwar nicht mit einer Petroleumlampe, aber dafür mit einer großen, sehr starken Taschenlampe bewaffnet. „Bereit?“ fragte er mich. Er führte mich in den Hof zurück, in dem Hamid und ich gewartet hatten, aber dort bogen wir nach rechts ab, weg vom Haupttor, in der gleichen Richtung, in der ich ihn hatte entschwinden sehen, als er Großtante Harriet aufsuchte. Die Anlage war gewaltig, viel größer, als ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte das Gefühl, unaufhörlich Gänge entlangzugehen, um Ecken herum, Treppen hinauf, Treppen hinab und über mindestens zwei weitere kleine Höfe, und in dem ersten verriet ein Wasserrinnsal, daß nicht alle Quellen ausgetrocknet waren. Als wir den zweiten überquerten, vernahm ich hinter einer verschlossenen Tür hervor einen kratzenden Laut, gefolgt von einem winselnden Kläffen, bei dem ich zusammenzuckte. „Keine Angst, ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich sie einsperre.“ Er ließ das Licht seiner Taschenlampe einen Augenblick auf die Tür fallen, und in der Spalte dicht über dem Boden sah ich eine feuchte Hundeschnauze, die die Luft schnüffelnd einzog, aufschimmern. „Sofi! Star! Still! Seien Sie vorsichtig, Miss Mansel, diese Schwelle ist morsch. Das ist der Garten des Prinzen.“ Ich weiß nicht recht, was ich erwartet hatte, zumindest etwas so Großartiges wie den Garten des Serails, aber der Garten des Prinzen war in Wirklichkeit sehr klein. Die Luft war von schwerem Jasminduft erfüllt, und im Schein der Taschenlampe erblickte ich flüchtig eine niedrige Mauer, die den Abschluß eines Wasserbeckens bilden mochte, aber im übrigen schien dieser Garten nicht viel mehr als ein länglicher Hof mit einigen Blumenkästen und ein paar kleinen symmetrischen Bäumen in
Kübeln zu sein. John Lethman ließ den Schein seiner Taschenlampe auf die geborstenen Steinplatten des Weges fallen, aber er hätte sich die Mühe sparen können, denn aus einer offenen Tür etwa in der Mitte der einen Seite des Gartens fiel das Licht zwischen zwei kleinen Bäumen in Kübeln auf unseren Weg. Es war nur das trübe, rötliche Licht einer Lampe, wie ich sie in meinem Zimmer hatte, aber in der tiefen Dunkelheit wirkte dieses Licht sehr hell. Er blieb an der Tür stehen und trat zur Seite. Plötzlich klang seine Stimme völlig verändert: beklommen, nervös und ehrerbietig. „Ich habe Miss Mansel hergeführt, Lady Harriet.“ An ihm vorbei betrat ich das Zimmer.
Fünftes Kapitel Es kam Ein Streifen Licht, ein Flammenstrahl; Und nichts erblickt’ der Dame Auge, Nichts anderes sah sie mehr... S. T. Coleridge: Christabel
Der Diwan des Prinzen war riesig, und es herrschte in ihm eine geradezu schwelgerische Verwahrlosung. Anders kann ich es nicht nennen. Der Fußboden bestand aus farbigem Marmor, hier und dort mit einem persischen Teppich bedeckt, aber alles sehr schmutzig; die Wände waren mit verschlungenen Mosaikarbeiten geschmückt, und jedes dieser Felder umrahmte eine Nische aus von der Zeit zernagtem Stein, in der früher einmal eine Statue oder eine Lampe gestanden haben mochte, die nun aber bis auf eine Ansammlung von allem möglichen wertlosen Zeug – Kartons, Papieren, Büchern, Arzneiflaschen und Kerzenstummeln – leer war. Der Springbrunnen in der Mitte des Raums war mit Brettern nachlässig abgedeckt und diente jetzt als Tisch, auf dem ein großes Tablett aus grauem, stumpfem Silber mit einem Stapel von Tellern und den Resten einer soeben beendeten Mahlzeit stand. Daneben am Boden eine leere Schüssel mit der Aufschrift Hund. An der Wand eine Kommode aus glänzendem Mahagoni, bedeckt mit noch mehr Flaschen und Tablettenschachteln. Ein paar schäbige Küchenstühle und ein großes, thronähnliches Gebilde, eine rote Lackarbeit aus China, vervollständigten die Einrichtung im unteren Teil des Zimmers. Überall lag Staub. Ein breiter Bogen aus feingemeißeltem Stein überspannte drei flache Stufen, die den unteren vom oberen Teil des Diwans schieden. Hinten in der einen Ecke des oberen Raums stand ein
großes Bett, das früher einmal ein luxuriöses Stück gewesen sein mußte, denn das sah man noch den wie Drachenklauen geformten Füßen und dem hohen, geschnitzten Kopfende an; von der Decke über dem Bett hing ein vergoldeter Gegenstand herab, der einem Vogel ähnelte und in seinen Krallen einmal den Betthimmel gehalten haben mußte. Jetzt war einer der Flügel des Vogels zerbrochen, das Gold war abgeschuppt und schmutzig, und aus seinen Krallen hingen nur noch ein paar abgegriffene Samtvorhänge herab, deren Farbe kaum noch zu erkennen war, eine Tönung zwischen Rot und Schwarz. Schwer und wolkenähnlich fluteten sie, von Kordeln gehalten, auf beiden Seiten des Kopfendes herab. Mit ihren tiefen Schatten verbargen sie fast gänzlich die Gestalt, die dort in einem Wust von Decken zurückgelehnt saß. Das Licht, das so hell auf den Plattenweg des Gartens gefallen war, drang kaum bis in die hinteren Ecken des Raums. Es rührte von einer altmodischen Petroleumlampe her, die zwischen dem Geschirr des Abendessens stand; als ich an ihr vorbeiging und mich dem Bett näherte, schien mein Schatten wie ein Ungeheuer vor mir herzulaufen, dann die Stufen emporzuschwanken und das seltsame Halbdunkel in der Ecke durch eine weitere Schicht von Finsternis zu vertiefen. Denn seltsam war gewiß dieses Halbdunkel. Ich hatte zwar erwartet, eine Großtante Harriet anzutreffen, die sich ganz erheblich von meinen weit zurückliegenden Kindheitserinnerungen unterschied, die jedoch nicht ganz so sonderbar war. Wie ich schon John Lethman erklärt hatte, besaß ich nur eine recht verschwommene Erinnerung an eine ziemlich große Frau mit Hakennase, ergrauendem Haar und scharfen, schwarzen Augen, die sich mit meinem Vater verbissen herumstritt, meiner Mutter wegen des Gartens ständig zusetzte und mich und Charles immer wieder und unerwartet mit den eigenartigsten Geschenken überhäufte,
während sie uns zwischendurch dann wieder völlig übersah. Selbst wenn sie noch so gekleidet gewesen wäre wie vor fünfzehn Jahren, hätte ich sie nicht erkannt. John Lethman hatte mich schon warnend darauf hingewiesen, daß sie sehr zusammengegangen sei, und das stimmte; und obwohl ich glaubte, daß ich die kräftige Nase und die dunklen Augen erkannt hätte, die mich aus den Schatten der Bettvorhänge heraus anstarrten, war ich doch trotz allem – sogar trotz Lethmans Warnung – nicht auf jene ungewöhnliche Erscheinung vorbereitet, die dort in bunte Seidenstoffe gehüllt wie ein Buddha thronte und mir mit einer großen, bleichen Hand ein Zeichen machte, näherzutreten. Hätte ich nicht gewußt, wer sie war, so hätte ich sie für einen phantastisch gekleideten Orientalen gehalten. Sie trug eine Art Nachtgewand aus Rohseide und darüber einen weiten Umhang aus scharlachrotem Samt, mit Goldbrokat abgesetzt, und darüber nochmals einen riesigen Kaschmirschal ; aber diese Gewänder hatten trotz der weichen und sogar kostbaren Stoffe etwas überaus Männliches an sich. Ihre Haut war von fahler Blässe, und ihre Lippen waren blutleer und eingeschrumpft, aber die dunklen Augen und die kräftigen Augenbrauen gaben dem vollen, ovalen Gesicht Leben und verrieten keinerlei Anzeichen von dahinschwindender Kraft und Greisenhaftigkeit. Sie hatte sich übermäßig und nachlässig mit Puder bestäubt, und es war etwas davon auf den roten Samt gefallen. Über diesem geschlechtslosen Gesicht saß ein hoher, weißer, verschlungener Turban, der, ein wenig auf eine Seite verrutscht, einen Teil ihres Kopfes entblößte, den ich einen Augenblick lang voller Entsetzen für die Andeutung einer Glatze hielt; dann aber gelangte ich zu dem Schluß, sie müsse sich den Kopf rasiert haben. Das war, wenn sie den dicken Turban immer trug, nur zu erwarten, aber es steigerte nur noch das Groteske ihrer Erscheinung.
Es gab eins, woran ich sie erkannt hätte: der Ring an ihrer linken Hand. Er war unzweifelhaft ebenso groß und strahlend, wie ich mich seiner aus meiner Kindheit erinnerte. Auch entsann ich mich, wie beeindruckt Charles und ich von den Bemerkungen meiner Eltern über diesen Ring waren. Es handelte sich um einen als Cabochon geschliffenen Rubin aus Burma, groß wie ein Daumennagel, der sogar damals schon einen unvorstellbaren Wert besaß. Dieser Stein war das Geschenk eines Fürsten in Bagdad, und sie hatte ihn stets an ihren großen, kräftigen und eher männlich wirkenden Händen getragen. Der Rubin blitzte im Lampenlicht auf, als sie mir, ein wenig keuchend, das Zeichen machte, näher zu treten. Ich wußte nicht, ob von mir erwartet wurde, sie zu küssen. Diese Vorstellung war mir zuwider, aber ein erneutes Funkeln des Rubins deutete auf einen Schemel am Ende des Bettes hin, und ich war froh, auf diese Weise dem Ärgsten zu entgehen. „Hallo, Tante Harriet, wie geht es dir?“ „Gut, Christy.“ Die Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, war von einer gepreßten, asthmatischen Kurzatmigkeit beengt, aber die dunklen Augen sahen mich ziemlich lebhaft und neugierig an. „Setz dich und laß mich dich ansehen. Hm. Ja. Du warst schon immer ein hübsches kleines Ding. Jetzt zu einer Schönheit herangewachsen, nicht wahr? Noch nicht verheiratet?“ „Nein.“ „Dann ist es aber höchste Zeit.“ „Ich bitte dich, ich bin doch erst zweiundzwanzig!“ „Nicht älter? Wie man vergißt! John erklärt mir, daß ich ständig alles mögliche vergesse. Sogar dich hatte ich vergessen, hat er dir das erzählt?“ „Er hat gesagt, es sei durchaus wahrscheinlich.“ „Sieht ihm ähnlich. Immer versucht er, anderen einzureden, daß ich senil werde.“ Sie schoß einen Blick auf John Lethman,
der mir die Stufen hinauf gefolgt war und nun am Fußende des Bettes stand. Er beobachtete sie unablässig und, wie mir schien, mit einiger Unruhe. Wieder traf mich der scharfe Blick. „Und wenn ich dich vergessen hätte, wäre es kaum verwunderlich. Wie lange ist es her, seit ich dich gesehen habe?“ „Fünfzehn Jahre.“ „Hm. Ja. Muß wohl so lange sein. Aber wenn ich dich jetzt so ansehe, glaube ich doch, daß ich dich erkannt hätte. Du ähnelst deinem Vater. Wie geht es ihm?“ „Danke, es geht ihm gut.“ „Ich darf wohl annehmen, daß er mir seine herzlichsten Grüße schickt?“ Der noch immer scharfe Tonfall war bösartig und herausfordernd. Ruhig begegnete ich ihrem Blick. „Wüßte er, daß ich hier bin, hätte er mir bestimmt Grüße aufgetragen.“ „Hm.“ Sie lehnte sich in ihrer Ecke jäh in die Kissen und zog sich in ihre vielschichtigen Hüllen zurück. Sie machte dabei die kuschelnden Bewegungen einer Glucke, die sich auf ihren Eiern niederläßt. Ich fand, daß ihr kurzes „Hm“ nicht gerade unfreundlich geklungen hatte. „Was ist mit den übrigen?“ „Alle wohlauf. Sie werden sich sehr freuen, wenn sie hören, es sei mir gelungen, dich zu besuchen, und daß es dir gutgeht.“ „Zweifellos.“ Niemand hätte dieses sarkastische Flüstern als senil bezeichnen können. „Eine aufmerksame Familie, diese Mansels, findest du nicht? Und was weiter?“ Als ich nicht gleich antwortete, wiederholte sie: „Was weiter, Mädchen?“ Ich richtete mich auf meinem Schemel auf, auf dem man sehr unbequem saß. „Ich weiß nicht, was du noch von mir erwartest, Tante Harriet. Wenn du meinst, wir hätten dich schon früher besuchen sollen, hättest du uns doch immer dazu auffordern können, findest du nicht? So wie die Dinge aber stehen, weißt du doch ganz genau, daß du uns alle, jeden für sich und alle miteinander, seit fünfzehn Jahren ungefähr zweimal im Jahr
zum Teufel gewünscht hast. Und du verzeihst mir wohl, wenn ich sage, daß ich heute nicht gerade mit offenen Armen hier aufgenommen wurde!“ Ich fügte etwas spitz hinzu: „Auf jeden Fall bist ja auch du eine Mansel. Du kannst mir nicht sagen, daß meine Familie dir nicht ebensohäufig schreibt wie du ihr, auch wenn es sich nur darum handelt, dir für die letzte Ausgabe deines Testaments zu danken!“ Die dunklen Augen funkelten. „Mein Testament? Ha! Darum geht es also! Du bist hier, um zu kassieren?“ „Damit hätte ich mir eine schöne Aufgabe eingebrockt, da du noch am Leben bist, meinst du nicht?“ Ich lächelte sie an. „Außerdem ist es eine verdammt lange Reise, nur um sich einen Sixpence zu holen... Aber wenn du mir meinen Sixpence hier sofort auszahlen willst, werde ich dich nicht wieder belästigen.“ Ich konnte ihren Ausdruck nicht erkennen, nur die Augen, die mich, von den Brauen und dem Turban beschattet, aus den Kissen heraus beobachteten. Ich bemerkte auch einen Blick von John Lethman, wie mir schien, halb belustigt und halb besorgt, als sie sich plötzlich bewegte und an ihren Decken zupfte. „Ich hätte hier draußen sterben können, keiner hätte sich darum gekümmert. Nicht einer!“ „Aber hör mal...“, begann ich, hielt aber inne. Charles hatte angedeutet, es machte ihr einen Riesenspaß, andere aus der Fassung zu bringen. Bisher hatte ich auch den Eindruck von ihr gewonnen, daß sie versuchte, mich aufzureizen. Aber die Großtante Harriet, der ich mich entsann, hätte niemals so geredet, nicht einmal um eine scharfe Erwiderung zu provozieren. Jungen Menschen erscheinen fünfzehn Jahre wie ein ganzes Leben: aber vielleicht war es von ihr aus betrachtet ebenfalls ein ganzes Leben. Ich sollte also nicht mit Unbehagen und Gereiztheit reagieren, sondern eher Mitleid mit ihr haben.
So erwiderte ich rasch: „Tante Harriet, so solltest du wirklich nicht reden! Du weißt doch ganz genau, daß du es nur Daddy oder Onkel Chas mitzuteilen brauchst, wenn du irgendeinen Wunsch hast. Oder einem von uns anderen. Meine Familie lebt nun seit vier Jahren in Amerika, das weißt du, und dadurch sind wir nicht über alles auf dem laufenden, aber auf jeden Fall war es doch immer Onkel Chas, dem du sonst geschrieben hast, und nach allem, was er sagte, habe ich angenommen... ich meine, ich habe immer geglaubt, du hättest stets sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, du wolltest weiterhin hier leben, sozusagen nach deinen eigenen Gesetzen...“ Ich machte eine weit ausholende, nicht sehr aufschlußreiche Handbewegung, mit der ich den verwahrlosten Raum und die hinter ihm liegenden dunklen Gewölbe des schlafenden Palastes einbezog. „Es muß dir doch klar sein, daß, wenn irgend etwas vorläge, wenn du krank wärst – wenn du wirklich den Wunsch hättest, es sollte jemand von der Familie zu dir kommen, oder wenn du irgendeine Hilfe brauchtest...“ Das Bündel auf dem Bett, tief in seiner düsteren Ecke, blieb so still, daß mich der Mut verließ. Die Lampe hatte nur mit niedriger Flamme gebrannt, aber nun leckte durch einen Luftzug oder eine Unebenheit am Docht eine Zunge empor, und ich bemerkte das jähe Auffunkeln in ihren Augen. Von stillem Leiden war hier nicht die Rede. Mein Instinkt, der mich hinderte, Mitleid mit ihr zu empfinden, war völlig richtig gewesen. „Tante H.!“ rief ich entschlossen. „Willst du mich auf die Palme bringen? Ich meine, du machst doch nur Spaß, nicht wahr ? Es ist dir doch klar, daß das alles Unsinn ist!“ „So. Unsinn, sagst du? Willst du damit etwa behaupten, ich hätte eine liebende Familie?“ „Ach, du lieber Gott, du weißt doch, wie Familien sind! Ich glaube kaum, daß sich die unsere von allen anderen unterscheidet! Du weißt auch ganz genau, daß du uns alle mit
einem Sixpence abfinden kannst, bis du im Gesicht blau angelaufen bist, aber trotz allem sind wir doch noch deine Verwandten!“ „Haben Sie das gehört, John?“ Er sah aus, als sei ihm das alles furchtbar unangenehm. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich kam ihm zuvor: „Du weißt ganz genau, was ich meine! Nichts anderes als: wenn du etwas brauchtest oder dir irgend etwas zustieße... nun ja, von London nach Beirut sind es nur etwa sechs Stunden, und schon wäre jemand hier und würde alles auf Trab bringen, bevor du überhaupt wüßtest, was gespielt wird. Daddy sagt immer, daß eine Familie nichts weiter als eine Versicherung auf Gegenseitigkeit ist. Solange man atmet und einem nichts fehlt, geht alles seinen gewohnten Gang und niemand kümmert sich um den anderen, aber laß etwas schiefgehen, und schon setzt sich die ganze Bande in Bewegung. Mein Gott, ich tue, was mir gefällt, und niemand hindert mich daran, dorthin zu gehen, wohin ich mag, aber ich weiß ganz genau, daß Daddy in drei Sekunden hier wäre, wenn ich auch nur ein bißchen in Schwierigkeiten geriete und ihn anriefe!“ Ich blickte zu John Lethman auf, zögerte und fügte dann entschlossen hinzu: „Und du kannst auch gleich damit aufhören, auf Mr. Lethman herumzuhacken. Mir gegenüber kannst du sagen, was dir Spaß macht, aber ich möchte eins unbedingt sofort klarstellen, selbst wenn es mir nicht zusteht, es zu sagen... Allen wird es vor Freude fast das Gesicht zerreißen, wenn sie erfahren, daß er hier bei dir ist, also solltest du lieber nett zu ihm sein, denn je länger er hierbleibt, um so besser! Du lieber Himmel, es ist doch nicht so, daß wir dich vernachlässigen – wir lassen dich nur nach deiner Façon selig werden, und du scheinst dabei auch recht gut zu gedeihen. Den Eindruck habe ich jedenfalls!“ Jetzt lachte sie, ohne es zu verbergen. Der Kokon erbebte unter ihren pfeifenden Atemzügen. Die große Hand schoß empor,
und der Rubin blitzte auf. „Schon gut, mein Kind, schon gut, ich habe dich nur necken wollen! Du bist eine von denen, die sich auf die Hinterbeine stellen, was? Solche Leute habe ich immer gemocht. Nein, ich mache es den anderen nicht leicht, mich hier aufzusuchen; ich habe damit schon Ärger genug gehabt, und du kannst sagen, was du willst, ich werde alt. Du warst jedenfalls sehr eigensinnig. Aber warum bist du eigentlich gekommen, wenn du so viel davon hältst, ›zu leben und leben zu lassen‹?“ Ich mußte lächeln. „Bestimmt würde es dich ärgern, wenn ich behauptete, es wären verwandtschaftliche Gefühle. Nennen wir es also Neugier.“ „Was hast du denn von mir gehört, um so neugierig zu sein?“ „Was ich gehört habe? Das kannst du dir wohl denken! Wahrscheinlich bist du es so gewohnt, an einem solchen Ort zu leben und dich hinter allen möglichen Legenden zu verbergen wie eine... eine...“ „Wie ein überaltertes Dornröschen?“ Ich lachte auf. „So ungefähr! Das heißt, wenn du es so ausdrücken willst. Aber du bist nun einmal eine Berühmtheit, und das weißt du. Alle reden von dir. Du bist eine der Sehenswürdigkeiten des Libanon. Selbst wenn ich keine Verwandte von dir wäre, hätte man mir von dir erzählt und mir dringend geraten, mir Dar Ibrahim anzusehen. Als mir dann bewußt wurde, daß ich einen sehr guten Grund hatte, dich aufzusuchen, und mir, wenn nötig, mit Gewalt hier Eingang verschaffen mußte, war für mich der Fall klar. Nur siedendes Öl hätte mich von einem Sturm auf diese Festung abhalten können, aber auch das kaum.“ „John, notieren Sie sich das: Siedendes Öl ist es, was wir brauchen. Hm, du bist tatsächlich eine Mansel bis zu deinen Krallenspitzen, stimmt’s? Und die Leute reden über mich, sagst du? Wer sind diese ›Leute‹?“
„Ach, nur jemand im Hotel in Beirut. Ich hatte eine Fahrt machen wollen...“ „Im Hotel ? Mit wem hast du dir denn in einem Hotel in Beirut über mich den Mund zerrissen?“ So wie sie es sagte, klang es, als handelte es sich um ein Bordell in Kairo. „Ich habe mir nicht gerade den Mund zerrissen. Zufällig handelte es sich bei meinem Gesprächspartner um den Portier des Hotels. Ich hatte zu den Adonisquellen bei Afka fahren wollen, und da erzählte er mir, ich würde in der Nähe von Dar Ibrahim vorbeikommen und...“ „Welches Hotel?“ „Das Phoenicia.“ „Es ist erst, nachdem Sie das letztemal in Beirut waren, gebaut worden“, warf John Lethman ein. Bis dahin hatte er noch kein Wort gesprochen und schien sich noch immer in seiner Haut nicht wohl zu fühlen. „Es ist das große, von dem ich Ihnen erzählt habe, unten am Hafen.“ „Wie heißt es? Phoenicia? Schon gut, fahr fort, was hat man von mir in diesem Hotel erzählt?“ „Im Grunde nicht sehr viel“, antwortete ich. „Der Portier wußte nicht, daß ich mit dir verwandt bin, und er sagte mir nur, es sei ein interessanter Ort, und ich könnte ebensogut meinen Fahrer veranlassen, über Sal’q zurückzufahren und hier anzuhalten, um einen Blick auf den Palast werfen zu können. Dann habe ich ihm erzählt, daß sich unsere Familien kennen – ich habe ihm aber noch immer nicht gesagt, wer ich bin –, und ich habe ihn gefragt, wie es dir ginge und ob er etwas über dich gehört hätte.“ „Was hatte er darauf geantwortet?“ „Soviel er wüßte, wärst du wohlauf, hättest aber seit einiger Zeit den Palast nicht mehr verlassen; außerdem wärst du vor einiger Zeit krank gewesen und ein Arzt aus Beirut hätte dich aufgesucht...“
„Das hat er gewußt?“ „Du lieber Himmel, wahrscheinlich hat es in allen Zeitungen gestanden. Du gehörst doch nun einmal zu den legendären Gestalten dieser Gegend! Hat dir Mr. Lethman nicht erzählt, daß ich beim Arzt angerufen habe, um etwas über dich zu erfahren?“ „Ja, ja, ja, das hat er mir erzählt. Das hätte dir auch nicht viel genützt, denn dieser Mann war ein Esel. Nur ein Glück, daß er nicht mehr da ist, ein großes Glück. So ist es jetzt viel besser, viel besser.“ Der Schal war heruntergerutscht, und sie zerrte wie in jäher Erregung an ihm herum. Sie wirkte plötzlich verdrießlich und murmelte etwas wie: „Meinetwegen anzurufen“ und „In Hotels sich über mich den Mund zu zerreißen!“ Es war ein Geflüster, das keineswegs mehr sarkastisch und scharf klang, sondern eher verschwommen und undeutlich. Sie schüttelte den Kopf, so daß der Turban noch mehr verrutschte und noch ein Stück des glattrasierten Schädels entblößte. Es war mir widerwärtig. Ich blickte zur Seite und versuchte, meinen Widerwillen nicht zu verraten. Aber wohin ich auch sah, begegnete ich Spuren und Zeugen einer schlampigen Exzentrizität; sogar der Wirrwarr der Arzneiflaschen auf der Kommode war mit Staub bedeckt, und Staub knirschte unter meinen Schuhen, als ich meine Füße etwas ausstreckte. Die Luft in diesem Raum war dumpf, so groß er auch war, und meine Haut prickelte. Plötzlich hatte ich das Verlangen, mich an die frische Luft zu flüchten. „Christy... Christy...“ Das keuchende Murmeln lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. „Blöder Name für ein Mädchen. Abkürzung wofür?“ „Christabel. Meine Eltern hatten einen Mädchennamen gesucht, der möglichst nah an Christopher herankam.“
„Aha.“ Wieder zupfte sie an ihren Decken. Ich hatte den lebhaften Eindruck, daß die Augen, die mich aus dem Halbdunkel beobachteten, bestimmt nicht unter Vergeßlichkeit litten; diese Vergeßlichkeit gehörte bei ihr zu einem Spiel, dem sie sich hingab, wenn es ihr gerade Spaß machte. Es war kein angenehmes Gefühl. „Wovon haben wir eben geredet?“ Ich riß mich zusammen. „Vom Arzt. Von Dr. Grafton.“ „Ich war gar nicht krank, nur war dieser Mann ein Idiot. Ich habe es ganz und gar nicht auf der Brust, es fehlt mir nicht das geringste... Auf jeden Fall hat er den Libanon verlassen. Hat es nicht auch über ihn einiges Gerede gegeben, John? Einen Skandal? Ist er nicht nach London zurückgekehrt?“ „Ich glaube wohl“, antwortete Lethman. „Das hat man mir gesagt, als ich dort anrief“, warf ich ein. „Etwas anderes habe ich allerdings nicht über ihn erfahren.“ „Soso“, sagte sie, und ihre Stimme war wieder voll spöttischer Bosheit. „Wahrscheinlich hat er inzwischen sein Schild in der Wimpole Street angebracht und macht ein Vermögen.“ „Von einem Skandal habe ich niemals etwas gehört, aber es trifft zu, daß er abgereist ist. Ein sehr tüchtiger Mann soll seine Praxis übernommen haben.“ John Lethman streifte mich mit einem raschen, bedeutsamen Blick und beugte sich dann vor. „Meinen Sie nicht, Lady Harriet, daß Sie sich jetzt etwas ausruhen sollten? Es ist ohnehin Zeit für Ihre Tabletten. Wenn Sie es mir erlauben, werde ich Halide läuten und Miss Mansel zurückbegleiten.“ „Nein“, erklärte Großtante Harriet energisch. „Aber, Lady Harriet...“ „Ich sage, was ich sage, mein Junge, hören Sie auf, mir mit Ihrer Geschäftigkeit auf die Nerven zu fallen. Ich werde auch die Tabletten noch nicht schlucken, denn sie machen mich nur müde. Sie wissen doch, wie ungern ich sie nehme. Ich bin überhaupt nicht müde, und dieser Besuch macht mir Spaß.
Bleib, wo du bist, meine Liebe, und unterhalte dich mit mir. Vertreib mir die Zeit. Erzähl mir, wo du gewesen bist und was du dir vorgenommen hast. Wie lange bist du schon in Beirut?“ „Erst seit Freitag abend. Ursprünglich war ich mit einer Reisegesellschaft zusammen...“ Ich begann ihr von meiner Reise zu erzählen und schilderte sie so amüsant wie möglich. Ich hätte es nicht sehr bedauert, wenn diese Unterredung ihr Ende gefunden hätte, aber die alte Dame schien nun in Fahrt gekommen zu sein, und ich hatte nicht die Absicht, mich von John Lethman aus dieser Audienz herausholen zu lassen, welchen Vorwand er auch immer benutzte, bevor ich nicht auch Charles irgendwie hier eingeführt hatte. Er würde diese ganze seltsame Szenerie nur allzugern kennenlernen und würde sich bestimmt nicht mit dem, was ich ihm erzählen konnte, begnügen wollen. Es kam mir auch einmal flüchtig der Gedanke, warum sie eigentlich nicht von selber nach ihm gefragt hatte, aber das würde ich wohl schon bald feststellen, und dann war es die Aufgabe meines Vetters, sich selber gegenüber jedem Widerstand seinen Platz hier zu erobern, falls er Lust dazu hatte. Vorläufig verzichtete ich darauf, ihn zu erwähnen, und erzählte von Petra, Palmyra und Jerash, während Großtante Harriet mir zuhörte, hin und wieder ihre Bemerkungen machte und sich offenbar gut unterhielt. John Lethman hingegen wartete stumm, spielte nervös mit den Bettvorhängen und wandte seinen Kopf von einer Seite zur anderen, ähnlich einem Zuschauer bei einem Finale in Wimbledon. Ich war mitten in einem Bericht über Palmyra, als sie mich plötzlich aufschreckte, indem sie die Hand ausstreckte und an einer Klingelkordel zog, die zwischen den Falten der Bettvorhänge herabhing. Im Gebäude widerhallte das mir schon vertraute metallische Läuten; gleich darauf begannen die Hunde zu bellen.
Ich hörte auf zu sprechen, aber sie sagte fast ärgerlich: „Weiter, weiter. Zumindest verstehst du zu erzählen. Hast du auch die Grüfte in den Bergen aufgesucht?“ „Und ob, es war doch eine Reise, bei der alle Ausflüge schon eingeplant waren, so blieb uns nichts anderes übrig. Wahrscheinlich darf man einem Archäologen gegenüber so etwas gar nicht sagen, aber für mich sieht ein Grab genauso aus wie das andere.“ „Stimmt genau. Was ist aus der Reisegesellschaft geworden?“ „Sie ist am Samstag nach London zurückgekehrt.“ „Du bist jetzt also ganz auf dich gestellt? Gehört sich denn das?“ Ich lachte auf. „Wieso nicht? Ich kann selber auf mich aufpassen. Außerdem ...“ „Daran ist kaum zu zweifeln. Wo bleibt denn dieses dumme Mädchen?“ Diese Worte hatte sie plötzlich an John Lethman gerichtet, der aufsprang. „Halide? Sie kann nicht weit weg sein. Wenn Sie Ihre Tabletten haben wollen, so kann ich...“ „Doch nicht meine Tabletten. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich sie noch nicht nehme. Jetzt will ich meine Pfeife haben.“ „Aber, Lady Harriet.“ „Ach, da bist du ja! Wo, zum Teufel, warst du?“ Halide näherte sich rasch durch den unteren Teil des Raums. Sie konnte, als die Glocke läutete, nicht weit weg gewesen sein, aber sie atmete schnell und kurz, als sei sie gelaufen. Ihr Gesicht war bleich, und sie wirkte verängstigt. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, näherte sie sich und ging die Stufen hinauf und auf das Bett zu. „Sie haben geklingelt?“ „Natürlich habe ich geklingelt“, antwortete Großtante Harriet recht gereizt. „Meine Pfeife will ich haben.“ Halide blickte unsicher von ihr zu John. Dann sah sie Lady Harriet wieder an; die alte Frau machte eine ihrer für sie
charakteristischen ungeduldigen Bewegungen und stieß mit rauher Stimme hervor: „Was ist denn? Was ist denn?“ „Hol sie ihr bitte“, sagte Lethman. Das Mädchen warf noch einen ängstlichen Blick auf das Bett und eilte die Stufen hinunter zur Kommode. Ein wenig verwundert blickte ich ihr nach. Bisher hatte ich nicht den Eindruck, daß sie sich leicht einschüchtern ließ, und man verstand auch nicht ohne weiteres, wieso meine Großtante ihr eine solche Angst einzujagen vermochte, da ihr ja nicht einmal die von Lady Hester Stanhope benutzten Methoden zur Verfügung standen, die neben ihrem Bett eine Peitsche und einen Stock liegen hatte, um sie auf dem Rücken ihrer Sklaven auszuprobieren. War sie mit der Bedienung unzufrieden, unterwarf sie alle – einschließlich ihres Arztes – einer Kur, die sie als die schwarze Arznei bezeichnete und die mit überzeugender Wirkung verschrieben wurde. Jetzt betrachtete ich Lady Harriet. Sie saß zusammengekauert wie ein seltsamer orientalischer Dschinn, eingehüllt in ihre Seidenstoffe und Decken. Sie mochte, so dachte ich, einen Menschen vielleicht nervös machen, aber Furcht einjagen? – Nein. Dann aber fiel mein Blick auf etwas an der Wand oberhalb ihres Bettes. In der Wand steckten zwei Reihen von Pflöcken, von den Bettvorhängen halb verborgen; über der einen lag ein Stock und über der anderen ein Gewehr. Ich traute meinen Augen nicht und starrte sie an. Immerhin waren wir mitten im zwanzigsten Jahrhundert, und sogar hier mußte es einige Grenzen für das geben, was sich ein Mensch erlauben durfte. Ich sollte möglichst bald von hier verschwinden, dachte ich. Wahrscheinlich war ich auch müder, als ich geglaubt hatte. Oder vielleicht war es das seltsame Abendessen? Als ich mich zusammennahm, um in meiner Schilderung fortzufahren, hörte ich Großtante Harriet mit sehr freundlicher Stimme sagen:
„Nur eine kleine Pfeife, meine Liebe. Und ich möchte die Spitze aus Bernstein heute haben.“ Halide beeilte sich, mit unbeholfenen Fingern den Anweisungen nachzukommen; sie zog eine Schublade auf und nahm einen hölzernen Kasten heraus, der den Tabak und das Mundstück enthielt. Diese brachte sie ans Bett und setzte das Mundstück auf den Schlauch jenes Geräts auf, das die Araber Nargileh oder Wasserpfeife nennen. Als sie hinter den Bettvorhängen den Blicken Tante Harriets entzogen war, bemerkte ich, wie sie John Lethman hastig und fragend ansah. Die Antwort war nur ein gereiztes Nicken. Das also war der Grund für ihre Nervosität: sie befand sich in der bekannten unangenehmen Lage einer Bediensteten, der von dem einen Herrn befohlen wurde, was, wie sie wußte, der andere mißbilligen würde. Lethman flüsterte mir zu: „Ich kann Ihnen leider keine Zigarette anbieten, denn sie erlaubt nicht, daß irgendein anderer hier raucht. Auf jeden Fall hat sie nur für Kräutertabak etwas übrig, und der riecht leider scheußlich.“ „Es macht nichts, ich möchte ohnehin nicht rauchen.“ „Was flüstert ihr denn da?“ fragte Großtante Harriet scharf und musterte uns. „Schon gut, Halide, sie zieht.“ Dann zu mir gewandt: „Nur weiter, unterhalte mich. Was hast du in Damaskus getan? Wahrscheinlich bist du wie all die anderen Gaffer in der Großen Moschee herumgezogen.“ „Genau wie die anderen Gaffer, Tante Harriet.“ „Willst du dich etwa über mich lustig machen?“ „Ich fand es nur so komisch, wie du es sagtest. Was für Gaffer?“ „Gott weiß. Wahrscheinlich gibt es die auch nicht mehr. Die Welt ist nicht mehr das, was sie war.“ Sie zog an ihrer Pfeife. „Hat dir Damaskus gefallen?“
„Es geht. Ich hatte nicht genug Zeit für mich allein. Aber etwas Nettes habe ich dort erlebt: ich bin zufällig Charles begegnet.“ „Charles?“ Ihre Stimme klang scharr, und ich glaubte zu bemerken, daß Halide und John Lethman einander wieder hastig ansahen. „Hier?“ fragte Großtante Harriet. „Ist das etwa ein Familientag? Was in aller Welt hat denn mein Neffe Charles in Damaskus zu suchen?“ „Aber nein, doch nicht Onkel Chas“, antwortete ich rasch. „Ich meine Charles, meinen Vetter – meinen ›Zwilling‹. Auch er verbringt seine Ferien hier. Ursprünglich sollte er mit mir hierherkommen, um dich zu besuchen, aber wahrscheinlich trifft er erst morgen im Libanon ein, und ich fürchte, daß ich ihm zuvorgekommen bin. Eigentlich war er es, der mich auf den Gedanken gebracht hat, dich zu besuchen; es liegt ihm sehr viel daran, selber zu kommen, und möglicherweise hätte ich es niemals gewagt, hier so hereinzuplatzen, wenn er mich nicht auf diesen Gedanken gebracht hätte.“ Es folgte ein Schweigen. Die Pfeife gurgelte ziemlich ekelerregend, und sie blinzelte mich durch den Rauch hindurch an. Die Luft war beißend und noch stickiger als vorher, und ich spürte Hitzewellen auf meiner Haut. Ich richtete mich auf meinem Schemel auf. „Du... du erinnerst dich doch an Charles, Tante Harriet? Ihn wirst du nicht vergessen haben, selbst wenn du mich vergessen hattest – er war stets dein Liebling.“ „Natürlich habe ich ihn nicht vergessen. Wie könnte ich? Ein hübscher Junge. Hübsche Jungen habe ich immer gemocht.“ Ich lächelte. „Heute kann ich es dir ja sagen, ich war immer sehr eifersüchtig! Entsinnst du dich an damals – an das letzte Mal, als ich dich sah –, als du bei uns wohntest und du den Papagei und die Hunde mitbrachtest? Mir hast du einen Fächer aus Elfenbein geschenkt und Charles den Weihrauchbrenner und die Glücksstäbchen; damit hat er dann das Sommerhaus angezündet, und Daddy war so wütend, daß er sagte, er würde
ihn nach Hause schicken, aber du hast erklärt, wenn das geschähe, würdest du ebenfalls abreisen, da die übrige Familie langweilig sei wie Spülwasser, und alles, was Charles täte, leuchtete wie eine böse Tat in einer sonst faden Welt. Ich erinnere mich nur deshalb so genau daran, weil es innerhalb der Familie zu einem geflügelten Wort geworden ist.“ „Ja, ich erinnere mich. Nein, wie die Zeit vergeht! Manchmal schnell, manchmal langsam... und all die Dinge, deren man sich erinnert... und die Dinge, die man vergißt. Ein hübscher Junge... ja, ja.“ Eine Weile rauchte sie, in Schweigen versunken, schien sich selber zuzunicken und überließ schließlich Halide, ohne sie anzusehen, das Mundstück der Pfeife. Wieder hob sie ihre dunklen Augen und richtete sie fest auf mich. „Du ähnelst ihm.“ „Wahrscheinlich. Aber jetzt, wo wir beide erwachsen sind, im Grunde nicht mehr so sehr. Du hast ihn ja vor nicht so sehr langer Zeit gesehen. Einiges hat allerdings die Zeiten überstanden, wir haben die gleiche Augen- und Haarfarbe.“ „Du ähnelst ihm sehr.“ Sie sprach, als habe sie mich nicht gehört. Noch immer nickte sie vor sich hin, ihre dunklen Augen verschleiert und geistesabwesend, während ihre Hände unruhig am Schal zupften. „Lady Harriet“, erklärte John Lethman plötzlich, „ich muß wirklich darauf bestehen, daß Sie Ihre Tabletten jetzt nehmen und sich ein wenig ausruhen. Miss Mansel...“ „Selbstverständlich“, rief ich und stand auf. „Wenn nur Großtante Harriet mir noch sagen würde, was ich Charles ausrichten soll?“ „Du kannst ihm meine Grüße ausrichten.“ Ihr Flüstern klang wie das Rascheln welker Blätter. „Aber...“ Ich sah sie ein wenig verständnislos an. „Willst du ihn denn nicht sehen? Er wird wahrscheinlich schon morgen mit mir zusammen im Phoenicia wohnen. Darf er dich nicht
am Montag besuchen? Oder wenn das weniger stört, könnte er doch morgen abend nach dem Essen hier herauskommen und warten, bis du bereit bist, ihn zu empfangen? Er hat seinen eigenen Wagen und braucht nicht hierzubleiben wie ich. Ich würde nur zu gern mit ihm zusammen herkommen, um dich noch einmal zu sehen, aber wenn zwei Menschen zuviel für dich sind...“ „Nein.“ „Willst du damit sagen, daß wir beide kommen können? Das ist wunderbar! Dann...“ „Ich will damit sagen, daß ich ihn nicht empfangen werde. Nein. Ich habe dich hier bei mir aufgenommen, und es war mir ein Vergnügen. Aber damit Schluß. Du kannst meinem Neffen Charles und Christopher so viel von mir erzählen, wie du jetzt weißt, und damit müssen sie sich zufriedengeben.“ Als ich etwas erwidern wollte, hob sie ihre Hand und fügte freundlicher hinzu: „Das alles muß dir seltsam erscheinen, aber ich bin eine alte Frau, die ihr Leben auf ihre Weise führt. Mir scheint, daß das Recht, sich das Leben nach eigener Lust und Laune einzurichten, das Beste ist, was das Alter einem bringt. So zu leben, wie man möchte und solange man es sich leisten kann. Du magst es hier sehr sonderbar und unbehaglich finden, aber mir gefällt es, und den Leuten zu Hause kannst du erzählen, daß es mir ausgezeichnet geht und ich mit meiner Art zu leben und mit meiner Abgeschiedenheit, die ich mir mit diesen hohen Mauern gekauft habe, vollauf zufrieden bin. Mir genügt auch der stumpfsinnige Idiot am Tor, und mir genügen die Dienste, die Halide mir zu bieten vermag. Also keine weiteren Einwände mehr.“ „Aber er wird entsetzlich enttäuscht sein! Und noch schlimmer: Er wird wütend auf mich sein, weil ich ihm hier sozusagen zuvorgekommen bin. Du warst doch eigentlich seine Lieblingsverwandte, und ich glaube tatsächlich, daß ihm
ziemlich viel daran liegt, dich zu sehen. Ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist, aber es besteht die Absicht, eine Filiale der Bank in Beirut zu eröffnen, und Charles wird wahrscheinlich dort arbeiten – mindestens eine Zeitlang. Solange er hier ist, möchte er, wie ich weiß, alle nur möglichen Beziehungen anknüpfen und...“ „Nein.“ „Tante Harriet...“ „Ich habe mein letztes Wort gesprochen“, erklärte sie majestätisch und mit einem Auffunkeln des Rubins, das mich in meine Schranken verweisen sollte. Das tat es auch. Ich gab auf. „Na gut, ich werde es ihm sagen. Es wird ihn freuen, daß ich dich bei so guter Gesundheit angetroffen habe. Sollen wir dir irgend etwas aus England schicken? Bücher zum Beispiel?“ „Ich kann alles bekommen, was ich will, vielen Dank, mein Kind. Aber jetzt bin ich müde, und du kannst gehen. Richte deiner Familie meine Grüße aus, aber glaub nur nicht, daß ich mir eine Flut von Briefen wünsche, denn das ist nicht der Fall. Ich werde sie auch nicht beantworten. Wenn ich tot bin, werdet ihr es von John erfahren. Nein, du brauchst mich nicht zu küssen. Du bist ein hübsches Kind, und du hast mir mit deinem Besuch eine Freude gemacht, aber jetzt geh.“ „Auch mir war es eine Freude. Ich danke dir, daß du mich hast hereinkommen lassen. Gute Nacht, Tante Harriet.“ „Gute Nacht. John, kommen Sie sofort hierher zurück, sobald Sie sie in ihr Zimmer begleitet haben. Halide! Wird denn dieses blöde Mädchen die ganze Nacht für die paar Tabletten brauchen? Ach, da bist du ja. Und jetzt vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe, John: Kommen Sie sofort hierher zurück.“ „Natürlich“, versicherte ihr Mr. Lethman, und seine Stimme klang erleichtert.
Er hatte mich schon halb bis zur Tür geführt. Es lag etwas seltsam Unpersönliches über diesem Abschied, aber mir schien es genau das Richtige zu sein. Ich blieb einen Augenblick in der Tür stehen und sah zurück. Halide stand wieder an der Kommode und schüttete etwas aus einer kleinen Flasche in ihre Hand. Hinter ihr, hinter dem rötlichen Schein der Lampe, wirkte das Bett wie ein Berg der Finsternis. Als sich Halide umwandte, um die Stufen wieder hinaufzusteigen, bewegte sich etwas in den düsteren Schatten am Bettende, etwas Kleines, Graues, Schnelles. Einen schauerlichen Augenblick lang glaubte ich, sogar im Schlafzimmer gäbe es Ratten, aber dann sah ich das Geschöpf mitten aufs Bett springen, und hinter den Vorhängen hervor erschien die große, bleiche Hand und streichelte es. Eine junge Katze. Auch halb wild. Als sich Halide auf den Bettrand setzte, sprang die Katze zur Seite und entschwand. Das Mädchen in seinem schimmernden grünen Seidenkleid neigte sich zu der mir verborgenen Gestalt der alten Frau vor und reichte ihr Wasser in einem großen geschliffenen Kelch. Die ganze Szene hatte etwas Unwirkliches an sich, etwas wie aus einer anderen Welt, etwas von einem Auftritt auf einer schlecht beleuchteten Bühne. Ich hatte das Gefühl, daß es mit mir, Charles und dem Tageslicht nicht das geringste zu tun hatte. Ich drehte mich um und eilte hinter dem Schein von John Lethmans Taschenlampe her. Das Licht streifte kurz mein Gesicht. „Was ist? Frieren Sie?“ „Nein. Nichts weiter.“ Ich holte tief Atem. „Es ist nur so schön, wieder an der frischen Luft zu sein. Mit dem Tabak hatten Sie recht, er ist ein bißchen scharf.“ „War das alles? Ich hatte den Eindruck, daß dieses Gespräch Sie aus der Fassung gebracht hat.“
„Bis zu einem gewissen Grad, ja“, gab ich zu. „Ich muß einräumen, daß mir alles etwas seltsam erschienen ist. Und es war ja auch nicht gerade einfach, mit ihr zu reden.“ „In welcher Hinsicht?“ „Du lieber Himmel... aber Sie sind es wohl gewohnt! Ich will damit sagen, es war alles so unzusammenhängend; auch ist sie vergeßlich, und dann die Art und Weise, in der sie mich anfänglich aufzureizen versuchte. Schließlich sieht sie ja auch so sonderbar aus, und dann noch die Pfeife! Ich fürchte, daß ich ein paarmal etwas taktlos gewesen bin, aber ich habe immer gehört, sie hätte keine Geduld ewigen Jasagern gegenüber, und da habe ich gedacht, es sei am besten, ihr die reine Wahrheit zu sagen. Ich hatte schon geglaubt, sie entsetzlich herausgefordert zu haben, als sie so zu murmeln begann, aber das war wohl nichts weiter?“ „Dazu gehört schon wesentlich mehr. Sie können sich darauf verlassen, daß sie es ehrlich meinte, als sie sagte, Ihr Besuch hätte ihr Freude gemacht.“ Er war, dachte ich, ein bißchen abweisend. Aber alle verdrießlichen Gedanken, die in mir aufstiegen, waren im gleichen Augenblick verflogen, als er fortfuhr: „Hätten Sie mir nur schon vorher von Ihrem Vetter Charles erzählt. Vielleicht wäre es mir dann gelungen, sie zu überreden.“ „Ja, das war dumm von mir. Ich wollte wohl zunächst einmal feststellen, woher der Wind bei ihr wehte. Wäre es möglich, daß sie es sich noch anders überlegt?“ „Gott weiß. Offen gesagt, ich habe keine Ahnung. Sobald sie einen Entschluß gefaßt hat, ist es ziemlich schwierig, sie davon wieder abzubringen. Zuweilen habe ich den Eindruck, daß sie nur deswegen eigensinnig ist, um ihren Spaß daran zu haben, Sie verstehen schon, was ich meine. Ich weiß nicht, warum sie sich plötzlich so dagegen gesperrt hat.“
„Ich ahne es auch nicht. Denn sie vergöttert ihn, wissen Sie. Er war der einzige von uns, für den sie wirklich etwas übrig hatte.“ Ich fügte beklommen hinzu: „Er wird wütend auf mich sein, weil ich ihm seinen Fang abgejagt habe, und ich habe es wohl ihm gegenüber schon oft getan. Es lag ihm tatsächlich viel daran, sie zu sehen – und nicht etwa nur aus Neugier wie ich. Ich weiß nicht, was er sagen wird. Bestimmt hat sie Ihnen doch schon von ihm erzählt?“ „Und ob. Wenn ich nur gewußt hätte, daß er hier ist... Vorsicht bei dieser Stufe! Wie lange wird er denn im Libanon bleiben?“ „Ich ahne es nicht.“ „Sagen Sie ihm, falls er genügend Zeit hat, soll er die Sache ein paar Tage ruhen lassen, mindestens aber bis zur Mitte der Woche. Ich will tun, was ich kann, und werde mich mit Ihnen im Phoenicia in Verbindung setzen.“ Wie es schien, ließ sich nicht viel anderes mehr tun. Man konnte nur noch auf seine guten Dienste hoffen. „Ich danke Ihnen“, sagte ich, „ich werde es ihm ausrichten. Bestimmt wird sie es sich anders überlegen, wenn sie erst einmal Zeit gefunden hat, darüber nachzudenken.“ „Hier ist schon Seltsameres geschehen“, antwortete John Lethman ziemlich geheimnisvoll.
Sechstes Kapitel Deine Verheißungen sind wie Adonis’ Gärten, Die heute blühen und morgen ihre Früchte tragen. Shakespeare: Heinrich VI.
In der Nacht regnete es. Ich war etwa zwischen halb zwei und zwei Uhr morgens in mein Zimmer zurückgekehrt. Da war die Nacht trocken, sehr dunkel und völlig still. Nichts ließ das Aufsteigen eines Unwetters vermuten. Mr. Lethman begleitete mich bis zur Tür meines Schlafzimmers, wo ich die angezündete Petroleumlampe hatte stehenlassen, sagte gute Nacht und entfernte sich. Ich trug meine Lampe in den Hammam, wusch mich, so gut es ging, in einem Rinnsal kalten Wassers und kehrte dann in mein Zimmer zurück. Einen Schlüssel gab es nicht, aber ich entdeckte an der Innenseite der Tür einen starken hölzernen Riegel. Ich schob ihn vorsichtig vor. Dann zog ich mich bis auf meine Unterwäsche aus, drehte die Lampe ziemlich unsachgemäß herunter, blies die Flamme aus und legte mich ins Bett. Obwohl es schon spät und ich müde war, lag ich noch eine Weile wach und sah das Erlebnis dieser Nacht immer wieder vor mir. Ich stellte mir vor, wie ich Charles, meiner Mutter und meinem Vater davon erzählte, aber irgendwie schienen es nicht die richtigen, nicht die passenden Worte zu sein. „Sie wirkte seltsam, sie schien krank zu sein, sie wird alt, sie geht mit diesem Eremitendasein etwas zu sehr hausieren...“ Aber keins dieser Worte schien das Skurrile dieses Gesprächs wirklich zu treffen. Und wenn sie es tatsächlich ablehnte, Charles zu empfangen... Aber das war Charles’ Problem. So schlief ich ein. Ich weiß nicht, ob es der grelle Schein des Blitzes oder das fast gleichzeitige Krachen
des Donners war, das mich weckte, aber als ich mich im Bett bewegte und die Augen öffnete, schien das Rauschen des Regens alles andere zu übertönen. Niemals habe ich einen solchen Regen gehört. Er kam ohne jeden Wind, nichts weiter als das Krachen des Donners und das grellweiße Aufreißen des schwarzen Himmels. Ich richtete mich im Bett auf, um zuzusehen. Die Fensterbogen leuchteten immer wieder flackernd gegen das Unwetter draußen auf, und die Rechtecke der Gitter zeichneten sich in einem Muster von Schwarz und Weiß scharf im Zimmer ab. Durch das Fenster, das ich geöffnet hatte, drangen überwältigend die Düfte der Blumen herein, durch den Regen noch verstärkt. Zusammen mit den Düften schlug auch, schon greifbarer, der Regen selber ins Innere, prasselte auf das Fenstersims und fiel mit großen, hämmernden Tropfen auf den Boden. Widerstrebend stieg ich aus dem Bett und ging mit nackten Füßen über den kühlen Boden bis zur Wand, um das Fenster zu schließen. Während ich noch in der Dunkelheit zwischen den Blitzen nach dem Riegel tastete, wurde mein Arm von dem hereinströmenden Regen fast bis zur Schulter naß. Ich warf das Fenster zu, und noch als ich mich abmühte, den ächzenden, klemmenden Griff herumzudrehen, hörte ich vom Haupttor her plötzlich das klagende Geheul eines großen Hundes. Es ist einer der unheimlichsten aller Laute, der im Menschen wohl urzeitliche Erinnerungen an Wölfe und Schakale weckt, überlagert von zahllosen Geschichten um Tod und Trauer. Die Stimme des ersten Hundes erhob sich in einem zitternden Klagen, dem sich sogleich das langgezogene Geheul eines anderen anschloß. Die Wachhunde, die selbstverständlich vom Gewitter aufgeschreckt waren; aber ich spürte, wie meine Hand instinktiv das nasse Eisen des Fenstergriffs umklammerte, während ich lauschte und mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Dann gelang es mir, das Fenster zu schließen, und
ich tastete nach meinem Handtuch, um meinen Arm abzutrocknen. Kein Wunder, daß das Heulen eines Hundes den Tod ankündigen sollte. Während ich noch meinen nassen Arm und meine Schulter abrieb, mußte ich an die Sage von den Geisterhunden denken, von der mir Charles erzählt hatte. Die Meute des Todes, die über den Himmel jagte. Ganz gewiß schien in dieser Nacht die Hölle mit allen ihren Mächten losgelassen. In früheren Zeiten hätten bestimmt alle im Palast geglaubt, daß die Hunde, die mit dem Unwetter dahinstürmten, den Tod ankündigten. In früheren Zeiten. Damals wärst du abergläubisch gewesen und hättest an dergleichen geglaubt. Während jetzt... ach, Unsinn, es war doch alles in Ordnung. Ich ließ das Handtuch fallen und tappte zum Bett zurück. Etwa fünf Sekunden später entdeckte ich etwas, das erheblich störender war als die Geisterhunde. Es regnete durchs Dach. Noch schlimmer, es regnete in der Ecke durch, wo mein Bett stand. Dies bemerkte ich, da es dunkel war, auf die einfachste nur mögliche Weise, indem ich mich, als ich wieder ins Bett stieg, mitten in eine Pfütze legte und gleichzeitig einen großen Wassertropfen genau auf den Nacken erhielt. Ihm folgte sofort noch einer und noch einer... Ich sprang auf den kalten Marmorboden zurück und begann verzweifelt nach meinen Schuhen zu suchen. Aber das Blitzen hatte unverständlicherweise fast ebenso plötzlich aufgehört, wie es angefangen hatte, und es war nun völlig finster. Schließlich fand ich den einen Schuh und stolperte auf der Suche nach dem zweiten umher, konnte ihn aber nicht finden. Ich mußte also die Lampe anzünden. Dies bedeutete natürlich, daß ich meine Handtasche finden mußte, außerdem die Streichhölzer, die ich bei mir zu haben hoffte – aber bis mir das gelang, würden noch ein paar Liter Wasser in mein Bett getropft sein. Es wäre wohl
das Gescheiteste gewesen, das Bett aus der Gefahrenzone wegzuziehen, bevor ich anfing, nach meinen Sachen zu suchen, aber nach allem, was ich von der Einrichtung dieses Palastes gesehen hatte, fühlte ich mich der Aufgabe nicht gewachsen, eins dieser Möbelstücke in der Dunkelheit über den Boden zu zerren. So hüpfte ich herum, tastete fluchend umher, bis ich meine Streichhölzer gefunden hatte, und brauchte noch rund weitere fünf Minuten, um das Anzünden der Petroleumlampe zu bewältigen. Sobald Licht im Zimmer war, dauerte es nur noch Augenblicke, um meinen zweiten Schuh zu finden und ein Kleidungsstück für meinen fast nackten Körper zu suchen. Dann zog ich, zum Äußersten entschlossen, mein Bett aus der Ecke heraus. Vom Kreischen altersschwacher Laufrollen begleitet, bewegte es sich ruckartig über den rissigen Marmorboden. Nun tröpfelte das Wasser in einem gleichmäßigen Rhythmus auf den Boden. Erst nach einer Weile wurde mir bewußt, wie laut dieses Tröpfeln war. Der Regen hatte aufgehört. Ich kehrte ans Fenster zurück. Ebenso plötzlich, als wäre ein Wasserhahn zugedreht worden, war der Regen versiegt. Ich konnte bereits die Sterne sehen. Ich öffnete das Fenster und stellte fest, daß dem Unwetter ein leichter, böiger Wind gefolgt war, der die Wolken vertrieb und in den Bäumen der Schlucht rauschte. Nach der Kühle des vom Regen gesättigten Unwetters war der Wind warm, und so ließ ich das Fenster weit offen. Dann kehrte ich zurück, um mich meinem unmittelbaren Problem zuzuwenden. Die Decken und Laken waren zum größten Teil noch trocken, da ich sie beim Heraussteigen aus dem Bett zurückgeschlagen hatte. Jetzt zog ich sie ab, legte sie vorsichtig auf den trockenen Teil des Fenstersimses und drehte dann noch vorsichtiger die Matratze um. Sie war fest mit Roßhaar gefüllt und mit ungebleichtem Baumwollstoff frisch bezogen; ich konnte nur
hoffen, daß sie den Rest der Nacht durchhalten würde, bevor die Nässe von unten nach oben durchschlug. Auf das nasse Laken verzichtete ich, brachte die trockenen Decken zum Bett zurück, löschte das Licht und legte mich, nun angezogen, wieder hin, um den Rest der Nacht so zu verbringen. Jedoch noch nicht im Schlaf. Das stetige Tropfen gleich neben mir auf dem Marmorboden empfand ich wie lautes Trommeln. Ich hielt es vielleicht zehn Minuten durch, aber dann wurde mir klar, daß ich keinen Schlaf finden würde, falls ich dem nicht ein Ende setzte. So rollte ich nochmals aus dem Bett, suchte nach dem zerknüllten, durchnäßten Laken, fand es und legte es unter die tropfende Stelle. In der beseligenden Stille, die folgte, traf ein anderer Laut mein Ohr. Ich richtete mich auf und lauschte. Jetzt waren es nicht die Todeshunde; sie waren verstummt. Es war ein Vogel, der im Garten sang, süß und melodisch, und dieser Laut wurde vom Wasser und den umgebenden Mauern zurückgeworfen. Ein anderer fiel ein. Dann ein dritter, Kaskaden von Tönen, die die Luft läuterten. Ich zog den Riegel an der Tür zurück und tappte durch die Arkade hinaus. Ein matter Schimmer lag auf dem See, heller als das bleiche Sternenlicht, das er noch spiegelte. Regenschauer tröpfelten hin und wieder, wenn ein Windstoß einfiel, von den Büschen. Das Lied der Nachtigallen durchdrang den Garten und strömte aus dem Gewirr der durchnäßten, wie lackiert glänzenden Schlingpflanzen hervor. Ein Pärchen weißer Tauben schoß aus seinem Nest in der westlichen Arkade heraus und entschwand mit schnellem Flügelschlag über meinen Kopf hinweg. Etwas – oder ein Mensch bewegte sich im Dunkel der Arkaden. Es war ein Mann, der die Arkade entlangging. Er bewegte sich sehr leise, und ich vermochte ihn über den Gesang der Vögel und das Rascheln der Blätter hinweg nicht zu hören, aber es war
bestimmt kein in weiße Gewänder gehüllter Araber. Es mußte John Lethman sein. Wahrscheinlich war er gekommen, um festzustellen, wie ich das Gewitter überstanden hatte. Ich wartete noch einige Augenblicke, aber er kam nicht, und ich sah nichts mehr von ihm. Bis auf das Singen der Vögel lag der Garten still und ruhig da. Plötzlich fröstelte ich. Fünf Minuten Nachtmusik waren mehr als genug. So tappte ich in mein Zimmer zurück, verschloß meine Tür gereizt dem Schluchzen der Nachtigallen und kroch in mein Bett zurück. Ich erwachte bei gleißendem Sonnenschein und von einem Klopfen an der Tür. Es war Halide mit meinem Frühstück: ein Teller mit dünnem, ungesäuertem Brot, etwas Weichkäse, die unvermeidliche Aprikosenmarmelade und eine große Kanne Kaffee. Das Mädchen sah müde aus und beobachtete mich noch immer verstohlen und mit mürrischen Blicken, machte jedoch keinerlei Bemerkungen über die Unordnung in meinem Zimmer, das durchweichte Laken am Fußboden oder auch nur über das von der Wand weit abgerückte Bett. Als ich ihr für das Tablett mit dem Frühstück dankte und mit ein paar Worten das Unwetter der Nacht erwähnte, nickte sie lediglich verdrossen und ging wieder hinaus. Aber alles andere wirkte an diesem Morgen so heiter, sogar der Hammam. Der Sonnenschein strömte durch das blaue und bernsteinfarbene Glas der Kuppeln an der Decke herein und tauchte die Alabasterbecken und blassen Marmorwände in ein diffuses Unterwasserlicht. Das Wasser rieselte – kälter denn je – aus dem Maul eines Delphins in eine silberne Muschel. Ich wusch mir Gesicht und Hände, kehrte in mein Zimmer zurück und zog mich an. Dann trug ich das Tablett in den strahlenden Sonnenschein am Rand des Wasserbeckens hinaus. Die goldene Hitze, der hochgewölbte blaue Himmel machten es mir schwer, mich des Unwetters und des herabprasselnden
Regens der vergangenen Nacht zu erinnern, aber hier und dort auf meinem Weg, wo die Steinplatten eingesunken waren, oder in den um die Baumwurzeln ausgehobenen Mulden, die den Regen auffangen sollten, stand schimmerndes Wasser noch immer handtief. Das Unkraut zwischen den Steinen sah aus, als sei es schon wieder um die Hälfte gewachsen; die Blumen wirkten bunter, die Büsche glänzend und erfrischt. Neben dem Wasser stand ein Pfau und betrachtete, seine Schwanzfedern zum vollen Rad gespreizt, sein Spiegelbild. Er sah aus, als sei er einem Bilderbuch entnommen oder als sei er ein Schmuckstück aus Edelsteinen von der Hand Fabergés. Ein anderer Vogel flatterte, klein und golden, über einen Oleander. Vom kleinen Lusthaus auf der Insel schimmerten, frisch gewaschen, eine goldene Kuppel und glänzende blaue Kacheln auf. Eine der Nachtigallen ließ zwischen den Rosen ihr Lied noch immer nicht verstummen. Ich fragte mich, wie es John Lethman in der vergangenen Nacht gelungen sein mochte, so umherzuwandern, und warum er es getan hatte. Etwa eine halbe Stunde später erschien er. Was für Ausflüge er in der Nacht auch gemacht hatte, schienen sie doch keine Nachwirkungen bei ihm hinterlassen zu haben. Er sah munter und hellwach aus; der verschwommene Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden: sie waren von einem hellen Grau und sehr klar. Er bewegte sich energisch und zielbewußt und begrüßte mich fast fröhlich. „Guten Morgen.“ „Ach, hallo. Das ist ja wie verabredet!“ Ich trat mit meinem Gepäck – ich hatte nur eine Handtasche – reisefertig aus meiner Tür. „Ich hatte mich gerade nach Ihnen umsehen wollen, in der Hoffnung, die Hunde wären wieder eingesperrt.“ „Bei Tage immer. Haben sie Sie letzte Nacht geweckt? Es ist ein bißchen wild zugegangen, fürchte ich. Haben Sie
durchschlafen können?“ Bei diesen Worten streiften seine Blicke an mir vorbei und erfaßten die Unordnung im Zimmer. „Wahrhaftig, wild war wohl die richtige Bezeichnung! Was ist denn geschehen? Nein, Sie brauchen mir nichts zu erzählen – hat es etwa durchgeregnet?“ „Das kann man wohl sagen!“ Ich lachte auf. „Hatten Sie am Ende doch beschlossen, mich als drittklassig einzustufen? Nein, ich mache nur Spaß. Ich habe das Bett ganz einfach weggezogen und schließlich doch eine Mütze voll Schlaf bekommen. Nur werden Sie leider eine ziemlich nasse Matratze vorfinden.“ „Das macht doch nichts. Ist sie erst einmal hinausgeschafft, trocknet sie innerhalb von fünf Minuten. Es tut mir furchtbar leid, aber die Dachtraufe muß irgendwo wieder verstopft sein. Nasirulla hatte mir geschworen, sie ausgeräumt zu haben. Haben Sie denn wirklich schlafen können?“ „Danke, gut. Am Ende eben doch. Machen Sie sich darum keine Sorgen. Denken Sie ganz einfach nur, es war ein böser Sturm, der nichts Gutes bringen konnte.“ „Was soll das heißen?“ „Wäre ich nicht gekommen und hätte das ganze Haus auf den Kopf gestellt, wären Sie derjenige gewesen, der unter diesen Wasserstrahl gekommen wäre.“ „Ja, das hat einiges für sich. Aber einmal ist es nicht ganz logisch, und außerdem sind Sie wirklich kein böser Sturm. Ihre Großtante war heute nacht nach Ihrem Besuch sehr aufgekratzt.“ „Wirklich? Habe ich sie nicht zu sehr ermüdet?“ „Nicht im geringsten. Nachdem Sie gegangen waren, hat sie sich noch lange mit mir unterhalten.“ „In bezug auf Charles wahrscheinlich keine Änderung?“ „Leider noch nicht, aber lassen Sie ihr Zeit. Sind Sie bereit? Wollen wir jetzt gehen?“ Wir gingen auf das Tor zu.
„Hat sie Sie noch bis spät in die Nacht dabehalten?“ fragte ich. „Es erscheint mir ziemlich aufreibend, so wie Sie Ihre Kräfte hier verausgaben.“ „Ach, eigentlich nicht so sehr. Ich war schon im Bett, bevor das Gewitter ausbrach.“ „Wahrscheinlich hat es Sie geweckt?“ „Nicht im geringsten.“ Er lachte. „Und glauben Sie nur nicht, daß ich meine Pflichten vernachlässige. Ihrer Großtante bekommen solche Störungen wie in der vergangenen Nacht ganz hervorragend. Sie erklärt mir, daß sie daran ihre Freude hat. Sie hätte eine wunderbare Katisha abgegeben.“ „›Aber für ihn, der ein Gelehrter ist, gibt es nichts Furchtbares darin, wenn Donnerkeile vom Himmel vor ihm einschlagen‹“, zitierte ich, und wieder lachte er leise in sich hinein. „Nun, sie hat nicht so unrecht, ich habe das Unwetter ebenfalls genossen. Zumindest sein Nachspiel. Der Garten war danach einfach zauberhaft.“ Ich bemerkte, wie er mich rasch und verstohlen ansah. „Sie sind hinausgegangen?“ „Nur einen Augenblick; ich trat hinaus, um den Nachtigallen zu lauschen. Sehen Sie sich doch nur die Blumen an! Kommt das vom Gewitter ? Der böse Sturm hat auch manches Gute gebracht, meinen Sie nicht?“ Wir durchquerten den kleinen Hof, wo Hamid und ich am Tag zuvor gewartet hatten. Auch hier hatte der Regen alles sauber abgewaschen, und die Marmorsäulen schimmerten im grellen Sonnenschein. Die mit Schnitzereien verzierten Tröge zu ihren Füßen verschwanden fast unter der Glut der roten Anemonen; ihre Blüten waren weit geöffnet und glänzten wie frisches Blut zwischen den langen Gräsern hervor. „Meine Adonisgärten“, sagte Mr. Lethman. „Wie bitte?“ „Adonisgärten. Ich nehme an, daß Sie die Adonissage kennen?“
„Ich weiß nur, daß sich Aphrodite mit ihm am Libanon getroffen und er hier den Tod gefunden hat. In jedem Frühling verfärbt sein Blut den Fluß, und rot fließt er bis zum Meer. Woran liegt es? Enthält das Wasser Eisen?“ „Ja. Es ist eine der mit dem Frühling zusammenhängenden Auferstehungssagen, wie auch die von Persephone oder der Osirismythos. Adonis war ein Gott der Feldfrüchte, ein Fruchtbarkeitsgott, und er stirbt, um sich wieder zu erheben. Die ›Adonisgärten‹ könnte man als kleine persönliche Symbole von Tod und Auferstehung bezeichnen. Es handelt sich dabei auch um geheimnisvoll wirkende Magie, denn die Menschen, die sie bearbeiten und die Samen und Blumen dazu brachten, so schnell wie nur möglich zu wachsen, glaubten damit der Ernte des Jahres nachzuhelfen. Die Blumen und Kräuter entwickelten sich, welkten und starben innerhalb weniger Tage dahin, und dann wurden die ›Gärten‹ zusammen mit den Bildnissen der Götter, während die Frauen klagten und vor Kummer in Raserei gerieten, zum Meer hinuntergetragen und hineingeworfen. Verstehen Sie, hier vermischte sich alles mit dem Kult des Dionysos, mit dem des Osiris und mit den Riten des Attis, und es gibt diesen Kult – ob Sie es mir glauben oder nicht, nur in einer zivilisierteren, geläuterten Form – heute noch auf der ganzen Welt.“ Er hielt inne und streifte mich mit einem Blick. „Entschuldigen Sie, das war eigentlich schon eine Vorlesung.“ „Nein, das interessiert mich. Reden Sie nur weiter. Warum haben nun Sie diese Gärten hier wieder angelegt?“ „Kein besonderer Grund, es sei denn, daß es die richtige Jahreszeit ist. Außerdem ist es interessant zu beobachten, wie schnell hier alles in Adonis’ eigenem Tal wächst und welkt. Finden Sie das nicht auch?“ „Ich bestimmt. Das sind romantische Vorstellungen, die mich ansprechen, wie nichts anderes sonst. Aber was bedeuten sie
Ihnen? Ich will damit sagen, was haben Adonis und die übrigen mit Psychotherapie zu tun? Oder ist es Tante Harriets Idee?“ „Mit Psychotherapie? Ach, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich eine Abhandlung schreibe? Ich interessiere mich für die Psychologie religiöser Besessenheit, und ich befasse mich in meiner Arbeit mit einigen Aspekten ekstatischer Religionen des Nahen Ostens – mit dem Mythos des Orpheus, mit dem des Dionysos und mit den Adonisüberlieferungen in ihren verschiedenen Formen. Das ist alles. Ich habe hier am Ort recht interessantes Material gefunden.“ Er lächelte, vielleicht ein wenig verlegen. „Ich habe es wirklich nicht vernachlässigt. Sobald ich nur von meiner Kette loskomme, reite ich weg und in die Dörfer in den Bergen hinauf. Wenn Sie längere Zeit hierbleiben sollten, könnten Sie...“ „Sie reiten?“ Wir befanden uns nun im Midan, dem großen Eingangshof. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die andere Seite. „Hier gibt es noch immer ein Pferd. Wissen Sie, daß Ihre Großtante bis vor einigen Jahren noch geritten ist? Sie ist wirklich eine ungewöhnliche Frau. Hallo! Das Tor ist noch immer geschlossen. Nasirulla ist noch nicht gekommen.“ Er blickte auf seine Uhr. „Er hat sich verspätet. Noch einen Augenblick, bis ich hier geöffnet habe, damit Kasha frische Luft bekommt.“ Er zog die obere Hälfte der geteilten Tür auf und machte sie hinten an der Wand an einem morsch aussehenden Holzpflock fest. Im Halbdunkel erblickte ich ein Pferd, das mit gesenktem Kopf vor sich hin döste. Ein kastanienbrauner Araber. „Tragen Sie beim Reiten arabische Kleidung?“ fragte ich. Er sah mich überrascht an. „Für gewöhnlich, ja. Sie ist kühler. Wieso? Einen Augenblick mal – sagten Sie nicht, Sie wären gestern an der Adonisquelle gewesen? Haben Sie mich nicht dort oben gesehen?“
„Ja, in einem Dorf auf der anderen Seite des Wasserfalls. Ich habe das Pferd wiedererkannt. Und Sie hatten die Hunde bei sich.“ Ich mußte lächeln. „Sie sahen fürchterlich romantisch aus, vor allem in Begleitung dieser Salukis. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie für mich das Ereignis des Tages waren.“ „Und nun habe ich Ihnen das ganze Erlebnis verdorben? Es war kein arabischer Emir, der mit seinem Falken und seinen Hunden zur Jagd auf Gazellen ausritt, sondern nichts weiter als ein Tagedieb, der eine verschlafene Unterkunft in der Sonne gefunden hat und wahrscheinlich niemals mehr genug Verstand aufbringen wird, um sich wieder herauszuarbeiten.“ Ich antwortete ihm darauf nicht, aus dem einfachen Grund, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Die Worte selber waren verbittert, und doch fehlte ihnen der Klang der Verbitterung. Selbst wenn ich es gewollt hätte, gab es darauf doch keine tröstende Antwort. John Lethman mußte es wohl ebenso wie mir bewußt sein, daß seine Aufgabe, so wie sie nun einmal war, mit Großtante Harriet ihr Ende finden würde. Aber war das so sicher? Oder hatte er es auf Dar Ibrahim selber abgesehen, auf eine „verschlafene Unterkunft in der Sonne“, in der er ganz allein residieren würde ? Er hatte einmal gesagt, es sei ein Ort, an dem sich gut schreiben ließe, und sowenig ich darin mit ihm übereinstimmen mochte, konnte ich mir doch schlimmere Orte vorstellen, an denen sich ein Mann ohne Ehrgeiz niederließ, um ein unbeschwertes Leben in einem herrlichen Klima zu führen, und obendrein mit einer Huri versorgt... Vielleicht war der Verfall des Palastes nicht so sehr auf Mangel an Geld wie auf Alter und Gleichgültigkeit zurückzuführen. John Lethman konnte sich sehr wohl darüber im klaren sein, welche Mittel schließlich zur Verfügung stehen würden, nicht nur um einen Teil dieses Palastes behaglich einzurichten, sondern auch um ihm, falls notwendig, zeitweise zu entfliehen. Kein anderer als
er vermochte es besser zu beurteilen. Im Grunde war es keine so schlechte Unterkunft. Wir waren inzwischen ans Tor gelangt. Von Jassim war nichts zu sehen, und so zog Mr. Lethman die schweren Riegel zurück und öffnete das bronzene Tor. Draußen prallte die Sonne weiß auf das felsige Plateau herab. Es war niemand da. „Ihr Fahrer ist noch nicht hier“, sagte er. „Möchten Sie nicht lieber wieder hereinkommen und hier warten...“ „Vielen Dank, aber ich glaube, ich gehe ihm besser entgegen. Und ich möchte nochmals für alles danken, was Sie für mich getan haben, Mr. Lethman.“ Ich streckte ihm meine Hand hin, und er ergriff sie, aber als ich in meinem Dank fortfahren wollte, wehrte er lächelnd ab und erklärte, er und Großtante Harriet hätten den Besuch sehr genossen. „Und ich werde bestimmt alles mir nur Mögliche für Ihren Vetter tun, aber falls es mir nicht gelingen sollte...“, er zögerte, seine hellen Augen begegneten den meinen und wichen mir wieder aus, „hoffe ich, daß Sie mir deswegen nicht allzu böse sind.“ „Ich? Das geht doch mich nichts an. Wie sie lebt, ist ihre eigene Sache, und wenn Charles wirklich so viel daran liegt, sie zu besuchen, ist es an ihm, Mittel und Wege ausfindig zu machen. Also auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank. Und ich hoffe, daß die Abhandlung gute Fortschritte macht.“ „Auf Wiedersehen.“ Das große Tor fiel hinter mir zu. Wieder hatte sich der Palast hinter mir geschlossen, von der Welt abgeriegelt, stumme Mauern sonnendurchglühter Steine, die das grelle Licht von den weißen Felsen zu ihren Füßen zurückwarfen. Vor mir breitete sich das Tal im harten, gleißenden Licht des Morgens aus. Die Sonne stand hinter mir, und der steile Pfad zwischen den Felsen lag im Schatten. Auch hier war die Wirkung des nächtlichen Regens sofort zu erkennen. Sogar die Felsen
rochen frischer, und der Staub hatte sich zu festem Schlamm verkrustet, der nun mit unzähligen Rissen rasch trocknete. Ich hätte darauf schwören können, daß an einigen der Feigenbäume, die sich zwischen den Felsen festklammerten, frische grüne Knospen erschienen waren. Ich fragte mich, ob Hamid, wenn ich an den Fuß des Abhangs gelangte, mir über den Fluß entgegenkommen würde. Aber er war nirgends zu entdecken, und als ich an den Nähr elSal’q gelangte, erkannte ich auch den Grund. Der Fluß führte Hochwasser. Hier hatte sich das Unwetter ausgewirkt, und wie ich feststellen konnte, diesmal ohne etwas Gutes zu bringen. Hoch oben im Quellgebiet mußte es ebenso reichliche Niederschläge, vielleicht sogar noch stärkere als im Tal, gegeben haben. Vielleicht hatten sie sich auch noch mit schmelzendem Schnee in den Kammlagen vereint, um nun ins Tal hinabzustürzen, denn der Nähr el-Sal’q schien um mindestens sechzig Zentimeter gestiegen zu sein und kam mit einer starken Strömung angestürzt. Wo gestern nachmittag der Steinsockel der alten römischen Brücke noch mindestens dreißig Zentimeter aus dem Wasser herausgeragt hatte, war nun nichts mehr zu sehen als das schäumende Weiß sprudelnden Wassers, wie nun der Fluß, von rotem Schlamm getrübt, in seinen Stromschnellen herabdrängte, um sich in den Adonis zu ergießen. In uns allen schlummern Widerstände, die sich nicht so schnell mit veränderten Verhältnissen abfinden wollen. Es erschien mir unmöglich, tatsächlich auf der falschen Seite des Flusses zu stehen und von der Welt abgeschnitten zu sein. Er sollte noch so sein wie gestern, ein Wasserlauf mit rascher Strömung, aber klar und leicht zu überqueren, wenn man nur die richtige Stelle fand. So stand ich am felsigen Ufer, das an diesem Morgen kaum über den Wasserspiegel hinauszuragen schien, und blickte ziemlich hilflos um mich. Aus diesem Grund mußte
Nasirulla heute morgen nicht zur Arbeit erschienen sein. Selbst wenn Hamid käme, um mich abzuholen – und bisher war nichts von ihm zu sehen –, könnte er den Fluß ebensowenig wie ich überqueren. So saß ich hier zwischen dem brausenden Wasserlauf des Nähr el-Sal’q und dem noch mächtigeren reißenden Strom des Adonis gefangen. Falls es mir nicht gelänge, mir einen Weg zwischen den beiden talaufwärts zu suchen und sie irgendwo zu überqueren, wo das Flußbett erheblich schmaler war, saß ich hier bestimmt von der Außenwelt abgeschnitten. Ich nahm an, daß das Wasser ebenso schnell, wie es gestiegen war, auch wieder fallen würde, sobald das Hochwasser nachließe, aber ich hatte keine Ahnung, wie bald das geschehen könnte. Inzwischen aber würde Hamid bestimmt kommen, um mich aus dem Dorf abzuholen, und so blieb mir kaum etwas anderes übrig, als mich neben dem Fluß niederzulassen und auf sein Erscheinen zu warten. Der Palast, der ein Stück von der Felskante des Abhangs zurücklag, war von hier aus nicht zu sehen, aber ich hatte eine gute Aussicht auf das Dorf, das sich hoch oben am Talrand hinzog. Ich sah mich um, fand einen flachen Felsen, der vom nächtlichen Regen sauber gespült war, und setzte mich, um zu warten. In diesem Augenblick entdeckte ich den Jungen. Ich hätte darauf schwören können, daß sich nichts bewegt hatte. Soeben hatte ich noch, wie mir schien, in das wirbelnde Wasser geblickt und über dieses Wasser hinweg auf das steinige Ufer, das im vollen Sonnenlicht lag und von einigen kärglichen grünen Büschen durchsetzt war. Und dann sah ich plötzlich einen Jungen vor mir. Er war kräftig und trug einen zerlumpten Kaftan wie die Leute vom Lande, und er konnte zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt sein. Er war barfuß und im Gegensatz zu den meisten arabischen Jungen, die ich gesehen hatte, war er auch barhäuptig, und sein Kopf war nur von
einem Wust unbändigen schwarzen Haars bedeckt. Seine Haut war dunkelbraun. Völlig still stand er neben einem Busch auf einen starken Stock gestützt. Er schien mich anzustarren. Ich zögerte einen Augenblick, erhob mich dann von meinem Felsen und kehrte zum Flußufer zurück. Der Junge rührte sich nicht. „Hallo, du dort drüben! Sprichst du Englisch?“ Meine Stimme verlor sich, vom Getöse des Wassers zwischen uns übertönt. So rief ich noch lauter und versuchte es noch einmal. „Kannst du mich hören?“ Er nickte. Es war ein seltsam würdevolles Nicken, eine Geste, die man möglicherweise von einem Schauspieler, jedoch nicht von einem Hirtenjungen erwartet hätte. Und das war er, ein Hirtenjunge, denn einige der Ziegen, die wir am Tage vorher gesehen hatten, trotteten nun langsam und ziellos den Hang hinter ihm hinab und rupften die spärlichen Gräser. Dann stieß er mit einer Bewegung, die ganz die eines kleines Jungen und gar nicht würdevoll war, seinen Stock in die steinige Erde und vollführte mit seiner Hilfe einen Sprung bis zum Flußufer. Jetzt waren wir kaum mehr als sieben Meter voneinander getrennt, aber noch immer erhob sich das Getöse des Nähr el-Sal’q zwischen uns. Wieder versuchte ich es. „Wo kann ich das Wasser überqueren?“ Diesmal schüttelte er den Kopf. „Morgen.“ „Ich habe nicht gefragt wann, sondern wo!“ Aber im Grunde hatte er meine Frage beantwortet, und diese Antwort war völlig eindeutig. Die Furt, wahrscheinlich die einzige, lag hier, und der Fluß würde vierundzwanzig Stunden brauchen, bis sein Wasser wieder absank. Mein Entsetzen mußte mir wohl am Gesicht abzulesen gewesen sein. Er deutete mit dem Stock flußaufwärts auf die hoch aufragenden steilen Felswände, die den Talschluß versperrten, und dann hinab, wo sich die beiden Flüsse in einem Gestrudel weißen, mit Rot durchsetzten
Schaums vereinten. „Schlimm!“ brüllte er. „Alles schlimm! Bleiben Sie dort!“ Ein jähes Lächeln, sehr jungenhaft, das zwei Lücken zwischen seinen ebenmäßigen weißen Zähnen entblößte. „Sie wohnen bei der Lady, ja? Die Schwester des Vaters Ihres Vaters?“ „Meine was... ?“ Ich versuchte, mich da wieder hineinzudenken. Er hatte recht. Und es lag natürlich an Nasirulla, daß im Dorf nun alle Bescheid wußten. „Ja. Wohnst du im Dorf?“ Eine Handbewegung, nicht auf das Dorf zu, sondern die unfruchtbare Landschaft und die Ziegen einbeziehend. „Ich lebe hier.“ „Kannst du mir ein Maultier verschaffen? Einen Esel?“ Ich hatte auch schon an John Lethmans Pferd gedacht, aber, wenn nichts anderes glückte, konnte ich noch immer auf dieses Pferd zurückgreifen. „Ich zahle gut!“ schrie ich hinüber. Wieder ein Kopfschütteln. „Kein Maultier. Esel zu klein. Alle ertrinken. Es ist ein böser Fluß.“ Nach einigem Nachdenken fügte er zur Erklärung hinzu: „Heute nacht hat es geregnet.“ „Was du nicht sagst!“ Er verstand, wie ich es gemeint hatte, obwohl er mich kaum gehört haben konnte. Wieder das zahnlückige Lächeln. Er deutete zum Dorf hinüber. Ich hatte nicht bemerkt, daß er hinübergeblickt hatte, aber als ich in die angedeutete Richtung sah, entdeckte ich auch selber Hamid. Eine schlanke Gestalt in dunkelblauer Hose und stahlblauem Hemd, die sich nun aus dem tiefen Schatten unterhalb der Stützmauer löste, die das Dorf zum steilen Hang hin abgrenzte. Er ging den Pfad hinunter. Ich wandte mich wieder dem Jungen zu. Die Ziegen waren da und weideten noch immer; der Fluß rauschte; das ferne Dorf lag in der flimmernden Hitze des Höhenrückens; aber hier unten am felsigen Ufer war vom jungen nichts mehr zu sehen. Nur die nassen Felsen, die in der
Hitze glänzten, und von der Stelle, an der er gestanden hatte, starrte mich nun eine zottige schwarze Ziege mit ihren kalten gelben Augen an. Ein Land, in dem alles möglich ist. „Bei allen Göttern“, rief ich laut, „ich wünschte, dein Versprechen würde in Erfüllung gehen, lieber Vetter, und zwar schon jetzt, wirklich.“ Etwa zehn Sekunden später wurde mir klar, daß die schlanke Gestalt in der Ferne nicht Hamid war, sondern Charles selber, der den Hang hinunter schnell auf mich zukam.
Siebtes Kapitel Während purpurrot aus seinen heimatlichen Felsen Der Adonis sanft dem Meer zustrebt... Milton: Das verlorene Paradies
Bestimmt ein Land, in dem alles möglich war. Nach meiner unruhigen Nacht inmitten all der Dinge, die zum Schloß aus einem Märchenbuch hätten gehören können – Pfauen, stumme Bedienstete, Haremsgärten –, hätte auch das geringste Anzeichen von Zauberei mich nicht mehr verwundert. Ein wenig überraschte mich nur, daß ich Charles auf eine solche Entfernung so schnell von Hamid zu unterscheiden verstand, den ich doch erwartet hatte. So schnell – und von einem Aufwallen tiefer Freude begleitet. Ich blieb ruhig auf meinem Felsen in der Sonne sitzen und blickte ihm entgegen. Als er noch immer ein Stück entfernt war, hob er eine Hand zum Gruß. Dann schien etwas seine Aufmerksamkeit zu fesseln, denn er blieb stehen und wandte sich um, offenbar, um ein Stück Schatten unter einem staubigen Busch anzureden. Während ich noch hinsah, verwandelte sich dieser Schatten in eine schwarze Ziege, und neben ihr, mit gekreuzten Beinen kauernd, der Hirtenjunge, dessen Stock zu seinen Füßen im Staub lag. Das Gespräch dauerte ein paar Minuten, und dann erhob sich der Junge. Die beiden näherten sich nun miteinander dem Flußufer. Wieder ging ich zu meinem Ufer hinab, und dann standen wir einander gegenüber, das trübe, rotgetönte Wasser zwischen uns. „Hallo!“ rief Charles. „Hallo!“ schrie ich. Dann fügte ich nicht sehr geistreich hinzu: „Ich sitze fest. Das Hochwasser ist schuld.“
„Das scheint mir auch. Geschieht dir ganz recht. Kommt davon, wenn man anderen etwas wegschnappt. Wie geht es Großtante H.?“ „Gut. Du bist aber früh dran. Wie hast du das geschafft?“ „Heute früh eingetroffen. Im Hotel alles erfahren. Habe deinen Fahrer gesprochen und ihm gesagt, ich hole dich ab.“ „Wirklich? Freut mich, daß du mich sofort holen kommst!... Charles, der Junge sagt, das Hochwasser dauert bis morgen. Was sollen wir tun?“ „Ich komme hinüber“, rief mein Vetter. „Kannst du nicht! Es ist verdammt tief. Hat es bei dir gestern nacht in Beirut geregnet?“ „Ob was?“ „Geregnet?“ Ich deutete zum völlig klaren Himmel hinauf. „Regen?“ „Ich weiß wirklich nicht, warum wir so weit voneinander entfernt stehen und über das Wetter reden“, rief Charles und begann seine Hemdknöpfe zu öffnen. Entsetzt schrie ich: „Charles, das kannst du nicht! Und es würde auch nichts nützen, wenn du es schaffst...“ „Du kannst zusehen oder es auch bleiben lassen, ganz wie du willst“, entgegnete mein Vetter. „Entsinnst du dich der guten alten Zeit, als man uns zusammen in die Badewanne steckte? Keine Angst, ich werde auch das überstehen.“ „Ich kann es kaum noch erwarten, dich ertrinken zu sehen“, brüllte ich spöttisch. „Aber wenn du mir nur einmal zuhören würdest...“ Er hielt inne und wandte mir sein Gesicht fragend zu. „Ja, bitte?“ Ich warf hastig einen Blick über meine Schulter. Es schien mir nicht gerade das Richtige zu sein, hier mitten im Tal unsere Privatangelegenheiten hinauszubrüllen, aber ich konnte nichts weiter feststellen als das Gewirr von Busch und Bäumen am Berghang hinter mir. Der Palast war von hier aus nicht zu sehen, und nichts rührte sich auf dem
Pfad. „Es ist sinnlos herüberzukommen“, schrie ich. „Sie hat gesagt, daß sie dich nicht sehen will.“ „Sie will mich nicht sehen?“ Ich nickte. „Warum nicht?“ Ich machte eine Handbewegung. „Kann ich dir hier nicht sagen. Aber sie will nicht.“ „Na gut, aber wann?“ „Niemals – sie hat gemeint, überhaupt nicht. Sie will ganz einfach niemanden sehen. Charles, es tut mir leid...“ „Und das hat sie dir tatsächlich gesagt?“ „Ja, und sie schien auch ein bißchen...“ An dieser Stelle hinderte mich meine Kehle, heiser von all dem Geschrei, weiterzureden, und ich mußte husten. Ich bemerkte, wie Charles eine Bewegung machte, die seine tiefe Verärgerung verriet. Dann wandte er sich dem Jungen zu, der dicht hinter ihm stand, begleitet von seiner schwarzen Ziege. Ihn hatte ich ganz vergessen. Oder es mochte daran liegen, daß ich ihn als Zuhörerschaft bei unserem Gespräch nicht für voll genommen hatte – ebensowenig wie die Ziegen, die Felsen und das steinige Erdreich, mit denen er offenbar ganz nach Belieben verschmolz. Aus den Bewegungen des Jungen, begleitet von dem Fuchteln seines Stockes, schien mir klar, wonach Charles gefragt hatte. Schließlich wandte sich mir mein Vetter wieder zu und hob erneut seine Stimme. „Er hat gesagt, daß ich den Fluß weiter oben überqueren kann.“ „Mir hat er gesagt, es gäbe keine andere Stelle.“ „Es gibt doch immer ein paar Dinge, die ich schaffe, du aber nicht“, entgegnete er. „Jedenfalls ist es hoffnungslos, so weiterzumachen. Ich kann nicht die ganze Zeit hier stehen und über einen Fluß hinweg Vertraulichkeiten über Tante H. in die Welt hinausbrüllen.“ Er deutete zu dem Palast hinauf, der für mich unsichtbar blieb. „Gleich unterhalb... verteufelt reißend ...
Aber ich muß mit dir reden. Ahmed hat gesagt, weiter flußauf ist eine Stelle. Kannst du auf deiner Seite weiter hinaufgehen?“ „Ich will es versuchen.“ Ich drehte mich um und begann mir meinen Weg den Fluß entlang zu suchen. Einen Pfad gab es nicht, und an dieser Stelle floß das Wasser dicht unterhalb der Felswand entlang, so daß man nur mühsam weiterkam; das Vorwärtskommen wurde auch noch durch einen ziemlich dichten Bestand von Bäumen erschwert. Diese machten es mir zusammen mit dem zerklüfteten Gelände unmöglich, mich stets in Sichtweite des Wassers zu halten. Hin und wieder erblickte ich flüchtig Charles und den Jungen, dann verschwanden sie aber wieder, denn sie folgten offenbar einem gewundenen Ziegenpfad durch das Dickicht bergan. Ich stieg auf meiner Seite der Schlucht mehrere hundert Meter hinauf und sah den Fluß in einer Biegung und sein Bett in einer noch engeren Schlucht eingeengt, wo das Wasser in einer Reihe von Stromschnellen, in denen das Wasser tief und rasch dahinströmte und von Becken zu Becken hinabstürzte. Dort tauchten Charles und der Junge wieder auf, und ihr Pfad schien sich nun dicht oberhalb des reißenden Flusses hinzuziehen, aber obwohl der Fluß hier eng aussah und voller Felsbrocken war, entdeckte ich noch immer keine Stelle, an der mir ein sicheres Überqueren möglich erschien. Und je enger die Schlucht wurde, desto schneller und lauter war das Wasser, so daß jede Art von Mitteilung, mit Ausnahme der Zeichensprache, unmöglich war. Immer wieder deutete der Junge aufmunternd flußauf. Charles machte mir mit gespreizter Hand und einem ausgestreckten Daumen Zeichen der Ermutigung. Wir schleppten uns weiter, noch immer getrennt von dem lauten Brausen des weiß schäumenden Wassers. Wir mußten weit mehr als einen Kilometer dieses anstrengenden Weges zurückgelegt haben, als das Flußbett in
einer Biegung plötzlich zum letztenmal anstieg und sozusagen steil die Felswand hinauflief. Selbstverständlich kam der Fluß unmittelbar aus der Felswand heraus. Die Quelle, die den Nähr el-Sal’q speiste, war fast eine Miniaturausgabe der Adonisquelle: Sie kam jäh aus einer Spalte in der kahlen Felswand, die das obere Ende der Schlucht abriegelte, ans Tageslicht geschossen. Sie war viel kleiner, weniger erregend und wirkte auch weniger unheimlich. Die Quelle, ein Strahl eisgrünen Wassers, sprudelte mit einem durch das Echo verstärkten Rauschen aus der Felswand, warf sich in einen strudelnden Kessel und jagte dann zwischen den weißen Felsblöcken der Schlucht talwärts. Ein paar überhängende Büsche, vom Sprühwasser durchnäßt und gepeitscht, bewegten sich in dem vom Wasserfall erzeugten Luftzug. Die Sonne prallte auf die Felswand, aus der das Wasser hervorbrach, und tauchte den Wasserfall in einen Schimmer von Licht, aber weiter unten, wo wir standen, war es schattig, und der Wind, der sich über dem Wasser erhob, war kühl. Mutlos sah ich mich um. Wenn es unten an der Furt schon schwierig gewesen war, sich miteinander zu verständigen, in der Schlucht noch schlimmer, so war es hier unmöglich. Das Tosen des Wassers, durch den Widerhall mehrfach verstärkt, wurde von Felsen zu Felsen geworfen, so daß Charles und ich, obwohl wir nun kaum noch drei Meter voneinander entfernt standen, nicht ein Wort von dem, was der andere sagte, hätten hören können. Außerdem sah ich noch immer keine Möglichkeit, hinüberzukommen. Den reißenden Fluß an seinem Ursprung zu überqueren, wäre Selbstmord gewesen, und oberhalb des Wasserfalls ragte ein gezackter Grat auf, der die Höhe einer Kathedrale erreichte. Dort hinauf zeigte nun der Junge, und schon sah ich mit tiefer Beunruhigung Charles darauf zugehen. Mein Protestschrei, oder vielleicht eine ungestüme Handbewegung, machte ihn auf mich aufmerksam,
denn er blieb stehen, nickte mir zu, stieß mit dem Daumen in die Luft und ging dann offenbar voller Zuversicht auf die Felswand zu. Da erst fiel mir ein, daß Klettern eine der beliebten Tätigkeiten gewesen war, mit denen (siehe mein Vater) sich mein Vetter in ganz Europa immer wieder die Zeit vertrieben hatte. Ich gab es auf. Ich konnte nur hoffen, daß Charles, wie es für gewöhnlich der Fall war (siehe meine Mutter), seine Zeit zu Nutz und Frommen mit diesen Dingen vergeudet hatte. Es schien der Fall zu sein. Ich habe keine Ahnung, ob es nun tatsächlich eine leichte Kletterei gewesen war oder ob es ihm nur gelang, diesen Eindruck zu erwecken, aber es sah alles so einfach aus. Er ging vorsichtig an die Sache heran, denn stellenweise war der Felsen naß oder locker, aber es dauerte nicht lange, bis er auf meine Seite des Nähr el-Sal’q gelangt war. Das letzte Stück kam er nur kriechend weiter, und schließlich landete er wohlbehalten neben mir. „Hallo, Aphrodite!“ „Adonis, wenn ich nicht irre? Es freut mich, dich zu sehen, aber wenn du mit dem Gedanken spielen solltest, mich auf dem Rückweg über diese Eigernordwand zu führen, kannst du dir gleich etwas anderes ausdenken. Das kommt nicht in Frage.“ „Ich würde mein eigenes kostbares Genick nicht bei einem solchen Versuch in Gefahr bringen wollen. Nein, ich fürchte, daß du hier festsitzt, meine liebe Kusine. Außerdem ist es hier verflucht kalt, findest du nicht, und es ist noch immer verdammt laut... Wollen wir nicht in die Sonne hinaufgehen, wo wir miteinander reden können?“ „Ja, tun wir das, um Himmels willen. Ich habe den Eindruck, daß du gewaltige körperliche Anstrengungen unternimmst, nur um dich ein bißchen mit mir zu unterhalten.“
„Bei dir ist das doch selbstverständlich“, antwortete mein Vetter. „Warte mal, ich will dem Jungen nur sagen – wo ist er denn? Hast du ihn weggehen sehen?“ „Daß du das nicht schon längst erraten hast! Das ist doch kein Junge, sondern ein Faun. Er macht sich ganz nach Belieben unsichtbar.“ „Höchstwahrscheinlich“, stimmte Charles mir ruhig zu. „Er wird schon aufkreuzen, wenn er sich seine Belohnung holen will.“ Ich folgte ihm aus der Schlucht hinaus, und bald gelangten wir auf ein kleines, steiniges Plateau, auf das die Sonne heiß herabbrannte. Auch hier war die Ähnlichkeit mit der Adonisquelle gegeben, denn auf dem Plateau standen die Ruinen eines alten Tempels. Es war nun nichts weiter mehr übrig als die steilen Stufen zum Säulengang hinauf, ein Stück rissigen Bodens und zwei noch aufrechte Säulen. Es muß von Anfang an nur ein kleines Heiligtum gewesen sein, vielleicht eine unbedeutendere Kultstätte der großen Götter von Afka, die hier an der Quelle des Nebenflusses errichtet worden war. Nun war sie von Unkraut überwuchert, vergessen und interessierte niemanden mehr. Zwischen den Steinen wuchsen Büschel gelber Blumen, und auf halber Höhe der einen Säule, wo der Stein zernagt war und sich ein Loch gebildet hatte, hatte ein Falke sein unordentliches Nest gebaut, das von weißen Exkrementen über und über beschmutzt war; aber irgendwie paßten diese rechteckigen römischen Quadersteine, die etwas Männliches an sich hatten, die honigfarbenen Säulen, die zerfressenen Stufen, auf denen die Disteln wuchsen, mit ihrer eigenartigen Schönheit in diese wilde Landschaft. Die Stufen boten uns einen Sitzplatz im Schatten einer der Säulen. Das Tosen des Wasserfalls wurde durch die Wände der Schlucht abgefangen, und hier herrschte unendliche Stille. Charles holte seine Zigaretten hervor und bot mir eine an. „Nein, danke. Ach, Charles, ich bin so froh, daß du gekommen
bist! Was soll ich denn tun? Ich kann diese entsetzliche Felswand nicht hochklettern, und der Faun hat mir gesagt, das Wasser würde erst morgen wieder fallen.“ „Das ist mir klar. Es gibt aber noch einen anderen Weg. Er hat mir erzählt, daß eine Art Piste von hier in die Berge in der Nähe von Afka führt, aber es ist ein verteufelt schwieriger Weg, und wenn ich mit dem Wagen auf der Straße heranfahre, um dir entgegenzukommen, müßtest du ihn ganz allein gehen und würdest ihn niemals finden. Wahrscheinlich könnte es dem Jungen gelingen, herüberzukommen, um dir als Führer zu dienen, aber trotzdem würde uns aller Voraussicht nach in einer Million Jahren diese Begegnung nicht gelingen. In dieser Gegend gibt es ein Gewirr solcher Pisten.“ „Und sicher wimmelt es von wilden Ebern und schreienden Stämmen aus dem Midian. Nichts“, so erklärte ich rundheraus, „wird mich dazu bewegen, in den Hohen Libanon hinaufzuklettern, Hirtenjunge hin oder her.“ „Ich gebe dir völlig recht.“ Mein Vetter lehnte sich träge an die Säule und blies den Rauch zur Sonne hinauf. „Wenn das Wasser vor Anbruch des Abends nicht fällt, bleibt uns nur eines übrig: in den Palast zurückzukehren.“ Er streifte mich von der Seite her mit einem Blick und zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe ja auch gar nicht gehofft, etwas anderes tun zu können. Was hat nun das alles zu bedeuten, daß sie mich nicht einlassen will?“ „Sie hat ganz einfach erklärt, sie will es nicht, und tatsächlich bin ich auch nicht allzu erpicht darauf, dorthin zurückzukehren. Ich werde dir gleich davon erzählen... Aber zunächst etwas anderes: Ich habe nicht richtig verstehen können, was du mir unten an der Furt zugebrüllt hast – hattest du gesagt, du hättest Hamid, meinen Fahrer, gesprochen? Er sollte mich heute morgen hier abholen.“
„Ja, ich habe ihn gesprochen, und es ist alles in Ordnung. Ich bin an seiner Stelle gekommen. Du weißt doch, daß Bens Vater aufgehalten wurde und erst Sonntag nach Hause kommen sollte – war das gestern? Dann hat er gestern abend wieder angerufen und gesagt, er könnte es doch nicht schaffen, er müßte noch nach Aleppo und möglicherweise nach Homs Weiterreisen, und er wüßte nicht genau, wann er nach Hause käme. Da habe ich Ben erklärt, ich würde später wiederkommen, aber nun wollte ich direkt nach Beirut weiterfahren, solange du noch da seist. Ich habe gestern abend nicht mehr versucht, dich anzurufen, denn es war schon ziemlich spät, als er telefonierte, und bin heute ganz früh aufgebrochen – und mit ganz früh meine ich buchstäblich bei Sonnenaufgang. Die Straße war völlig leer, und ich fuhr das Baradatal mit Schallgeschwindigkeit entlang. An der Grenze wurde ich in zwanzig Minuten abgefertigt, und das muß für diese Leute Rekordzeit sein. Gegen acht Uhr war ich in Beirut. Dein Fahrer befand sich in der Hotelhalle, als ich mich einschrieb und nach dir fragte, und von ihm erfuhr ich, daß du die Nacht über hiergeblieben wärst und er versprochen hätte, dich abzuholen. Da habe ich ihm gesagt, er könnte sich die Mühe sparen, denn ich würde dich selber sofort abholen.“ „In Ordnung, falls er nicht eine andere Fahrt durch die Verabredung mit mir eingebüßt hat.“ „Keine Sorge, ich habe ihn bezahlt“, sagte Charles. „Ich bin im übrigen sicher, daß er eine andere Fahrt findet, das Phoenicia ist immer voller Leute, die Wagen brauchen. Er schien sehr zufrieden zu sein.“ „Dann wäre das also geregelt. Er ist auch bestimmt ein netter Kerl. Ich habe gestern einen herrlichen Tag verbracht.“ Charles klopfte die Asche auf ein Unkrautbüschel ab. „Um mir das alles anzuhören, bin ich hier. Nach all den Mühen, die wir durchgemacht haben, um dieses kleine Gespräch zustande zu
bringen, solltest du auch lieber etwas Interessantes vorzuweisen haben. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mir so in die Quere zu kommen, kleine Christy ? War Tante H. von dir so entsetzt, daß sie sich nun weigert, noch jemand zu empfangen?“ „Wird wohl so sein.“ Ich richtete mich auf. „Ach, mein Lieber, es gibt so unendlich viel zu erzählen! Im Grunde hatte ich ursprünglich gar nicht die Absicht, im Palast vorzusprechen, aber als wir ins Dorf kamen, hielt Hamid an, und da sah es so nah aus, so unheimlich und romantisch. Auch ist mir niemals der Gedanke gekommen, daß sie es ablehnen würde, einen von uns zu empfangen. Sieh mal, dort unten, kannst du es erkennen? Man kann es tatsächlich auch von hier aus sehen. Wirkt ziemlich großartig, findest du nicht? Ich muß schon sagen, die Entfernung trägt zur Verzauberung bei! Aus der Nähe betrachtet, wirkt es ziemlich verfallen.“ Tatsächlich konnte man von diesem hohen Horst aus das Ende des vorspringenden Bergrückens erkennen, auf dem sich der Palast erhob. In Vogelfluglinie konnte er nicht viel mehr als einen Kilometer entfernt sein, und in der reinen, klaren Luft waren sogar die Äste der gefiederten Bäume deutlich sichtbar. Wir blickten auf die Rückseite des Palastes hinunter. Ich konnte die hohe kahle Mauer sehen und auf ihrer Innenseite die von blühenden Schlingpflanzen überwucherten Säulengänge, die den schimmernden See säumten. Hinter dem Serail ein Gewirr von Dächern und Höfen, deren genaue Lage zueinander mir auch jetzt noch unklar blieb. Aus der Ferne sah dieser Ort verlassen aus, wie eine Ruine, die der Sonne preisgegeben war. „Siehst du den grünen Innenhof und den See?“ fragte ich. „Das ist das Serail, in dem ich geschlafen habe.“ „Wie passend“, meinte Charles. „Und Tante H.?“ „Sie bewohnt die Gemächer um den Prinzenhof.“
„Kann ich mir vorstellen. Nun schieß endlich los. Hamid hat mir erzählt, du hättest sie ziemlich überrumpelt, und am Ende hättest du auch deinen Willen bekommen.“ „›Am Ende‹ ist der richtige Ausdruck, denn erst gegen Mitternacht bin ich bis zu Tante H. vorgedrungen.“ Ich berichtete ihm nun von meinen Erlebnissen, ohne etwas von dem auszulassen, dessen ich mich entsinnen konnte. Er hörte mich bis zum Schluß an, ohne mich allzuoft zu unterbrechen. Dann beugte er sich vor, warf seinen Zigarettenstummel vorsichtig neben seinen Fuß auf die Steine und zertrat ihn. Er betrachtete mich mit gefurchter Stirn. „Eine recht tolle Geschichte, was? Aber wir hatten ja auf jeden Fall eine etwas eigentümliche Situation erwartet. Sie ist jedoch wohl eigentümlicher, als wir es uns vorgestellt hatten.“ „Was meinst du damit?“ „Hast du sie eigentlich als geistig normal empfunden?“ fragte er rundheraus. Ich habe oft von Augenblicken der „Offenbarung“ gelesen. Dabei schien es sich um jähes, blendendes Licht wie auf der Straße nach Damaskus, um Schuppen, die einem von den Augen fielen, und dergleichen zu handeln. Niemals hatte ich viel darüber nachgedacht, außer daß ich diese Dinge verschwommen als „Wunder“ einordnete, als Ereignisse, die sich in der Bibel oder in einem anderen erhabenen Rahmen vollzogen, jedoch nicht normalerweise – bestimmt nicht im wirklichen Leben. Aber in einem kleineren und sehr persönlichen Zusammenhang erlebte ich nun ebenfalls eine Offenbarung. Da saß mein Vetter, der gleiche Mensch, den ich seit zweiundzwanzig Jahren kannte. Er sah mich an und stellte mir eine Frage. Ich kannte ihn, solange ich zurückdenken konnte. Ich hatte mit ihm in der gleichen Badewanne gesessen. Ich
hatte es miterlebt, wie er Prügel bezog. Ich hatte ihn höhnisch ausgelacht, als er von der Mauer des Obstgartens herunterfiel und weinte. Ich hatte mit ihm sexuelle Fragen in einem Alter erörtert, in dem wir keine körperlichen Geheimnisse voreinander kannten. Als dies später eintrat, betrachtete ich ihn mit der nachsichtigen Gleichgültigkeit langer Vertrautheit. Als ich ihm vor ein paar Tagen in der Geraden Straße begegnete, war ich erfreut, aber die Begeisterung warf mich nicht um. Und nun drehte er plötzlich den Kopf herum, sah mich an und stellte mir eine Frage. Und ich sah, wie ich sie niemals zuvor gesehen hatte, die grauen Augen mit den langen Wimpern, das gutgeschnittene dichte, glatte Haar, die leichte Höhlung unterhalb der Backenknochen, die ein wenig arrogante und so sehr erregende Form der Nasenflügel und der Oberlippe, die lebhafte Intelligenz, die Kraft und den Humor, die sich nun im Gesicht des Mannes offenbarten. „Was ist los?“ fragte er etwas ungeduldig. „Nichts weiter. Was hattest du gesagt?“ „Ich habe dich gefragt, ob du Tante H. als geistig normal empfunden hast.“ „Ach so.“ Ich riß mich zusammen. „Ja, selbstverständlich! Ich habe dir ja schon erzählt, daß sie eigenartig und etwas wirr war und sagte, sie vergäße leicht etwas. In gewisser Weise war sie auch recht scharf und boshaft, aber...“ Ich zögerte. „Ich kann nicht so genau erklären, was ich meine, aber ich weiß, daß sie durchaus normal aussah. So seltsam sie auch war, so wie sie sich kleidete und was sonst noch alles hinzukam... Charles, ihre Augen blickten ganz normal.“ Er nickte. „Genau das meine ich. Nein, warte mal, du hast noch nicht alles gehört.“ „Noch nicht alles? Willst du damit sagen, du hättest noch etwas erfahren, seitdem wir das letztemal zusammen waren?“ „Und ob! Ich habe am Freitagabend bei mir zu Hause angerufen, um zu sagen, daß ich nun bald aus Damaskus nach
Beirut abreise. Ich habe meinen Eltern erzählt, ich hätte dich getroffen, wir würden zwei oder drei Tage miteinander verbringen und auch Großtante H. besuchen. Nun wollte ich wissen, ob sie ihr irgend etwas mitzuteilen hätten. Da sagte mir meine Mutter, sie hätten einen Brief von ihr erhalten.“ Ich sah ihn verblüfft an. „Einen Brief? Du meinst doch nicht etwa noch ein Testament oder etwas in dieser Richtung?“ „Nein, einen Brief. Er ist vor ungefähr drei Wochen eingetroffen, als ich mich in Nordafrika aufhielt. Es muß gleich nach deiner Abreise gewesen sein. Meine Mutter hatte mir auch schon geschrieben, um mir davon zu berichten, und als ich anrief, erklärte sie mir, ihr Brief würde für mich bei Cook in Beirut liegen. Außerdem hat sie mir auch Tante Harriets Brief dorthin nachgeschickt.“ Seine Hand fuhr in die Innentasche. „Hast du ihn schon?“ „Ich habe ihn heute morgen abgeholt. Warte, bis du ihn gelesen hast, und dann sag mir, ob du daraus klug wirst.“ Er reichte mir den Brief. Er war auf einem recht groben Papier geschrieben, das sehr wohl von Packpapier abgerissen sein konnte; die Handschrift war spinnenartig und verkleckst, als habe man mit einem Federkiel geschrieben. Und das war wohl auch der Fall. Er war voller Fehler. Mein lieber Neffe, im vorigen Monat habe ich einen Brief von Humphrey Ford, dem Freund und Kollegen meines lieben Mannes, erhtn, der, wie Du Dich erinnern wirst, im Jahr 1949 und erneut in 53 und 54 mit uns in Resada zusammen war. Er schrieb mir, er habe kürzlich die Nachricht von einem Freund erhtn, daß mein GrNeffe, Dn Sohn Charles, zur Zeit orientalische Sprachen mit der Absicht (so glaubt er) studiert, den Beruf meines lieben Mannes auszuüben. Der arme Humphrey kte sich darüber nicht klarwerden, da er so bedauerlich geistesabwesend sein kann,
aber er teilte mir jedenfalls mit, daß der junge Chas in diesem Jr Syrien bereisen wird. Wenn er mich besuchen möchte, wrde ich mich freuen, ihn zu begrüßen. Wie Du weißt, halte ich nichts von der Freiheit, in dr heutzutage die jungen Leute erzogen werden, und Dn Sohn ist, was meine liebe Mutter einen Taugenichts genannt haben wrde, aber ein kluger Junge, und es wrde uns Freude machen, ihn hier zu empfangen. Hier gibt es viel, was ihn beim Studium orientalischen Lebens und orientalischer Gewohnheiten interessieren sollte. Es geht mir hier mit meinem kleinen Personal, das s. aufmerksam ist, und einem Mann aus dem Dorf, der die Hunde versorgt, ganz gut. Samson kann den Dr nicht leiden. Der junge Chas wird sich seiner erinnern. Grüße an De Frau, auch an meinen anderen Neffen und Frau – das kleine Mädchen muß inzwischen herangewachsen sein, ein eigenartiges kleines Ding, aber dem Jungen ähnlich genug, um hübsch genannt werden zu können. De Ibde Tante, Harriet Boyd Post Scriptum – Die Times ist noch immer so dünn, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß Dne Vorstellungen energisch genug gewesen sind. Post Post Scriptum. Ich habe mir hier in der Gegend einen ausgezeichneten Grabstein besorgt. Ich las den Brief einmal durch, dann nochmals von Anfang bis Ende, nur langsamer, und ich glaube, daß mir mein Mund die ganze Zeit über offenstand. Dann starrte ich meinen Vetter an. Er hatte sich, den Kopf zurückgelegt, wieder an die Säulen gelehnt und beobachtete mich unter den langen Wimpern hervor. „Nun?“
„Aber Charles ... wann hat sie denn... ist der Brief datiert? Ganz oben ist etwas hingekritzelt, aber ich kann es nicht lesen.“ „Arabisch“, antwortete er kurz. „Im Februar geschrieben. Nach dem Poststempel zu urteilen, hat sie ihn nicht gleich aufgeben lassen, und sie hat ihn auch nicht mit Luftpost geschickt, so daß er fast drei Wochen unterwegs war. Aber darauf kommt es nicht an. Bestimmt wurde er nach dem weihnachtlichen Letzten Willen und Testament geschrieben. Meinst du nun nicht, daß es sich hierbei um eine unzweideutige Einladung handelt?“ „Bestimmt. Zwei Monate her ? Offensichtlich ist etwas geschehen, was sie ihren Entschluß ändern ließ.“ „John Lethman?“ „Hältst du das für möglich?“ fragte ich. „Da ich keinen Einblick in dieses Zusammenleben hatte, kann ich schlecht darüber urteilen. Wie ist er denn?“ „Eher groß und ziemlich mager und hält sich schlecht. Helle Augen...“ „Meine Liebe, sein Äußeres ist mir ziemlich gleichgültig. Würdest du sagen, daß er ein anständiger Mensch ist?“ „Wie soll ich das wissen?“ „›Keine Kunst, das innere Wesen am Antlitz abzulesen.‹ Belassen wir es dabei, aber was war nun dein Eindruck?“ „Kein schlechter. Ich habe dir gesagt, daß er zunächst etwas abweisend war, aber sollte Hamid recht haben, war er noch nicht ganz in diese Welt zurückgekehrt, und auf jeden Fall war es klar, daß er nur tat, was Tante H. ihm befahl. Nachdem er sie aufgesucht hatte, war er sehr nett. Wahrscheinlich hatte sie ihm erklärt, er habe von diesem eigenartigen kleinen Ding, sosehr es auch dem hübschen Jungen ähnelte, nichts zu befürchten.“
Er nahm das ohne ein Lächeln hin. „Meinst du also, daß er sich da gemütlich einnistet?“ „Auch mit diesem Gedanken habe ich gespielt“, gab ich zu, „nachdem Hamid ihn mir eingegeben hatte. Beide waren wir uns darüber einig, daß wir dazu neigten, gleich das Schlimmste anzunehmen. Ist es von Bedeutung?“ „Kaum, solange sie und er sich darüber einig sind.“ „Ich glaube, deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich hatte den Eindruck, daß sie die ganze Zeit über genau das tat, was ihr paßte. Ich bezweifle, daß er sie von irgend etwas abhalten könnte, wenn sie es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hätte.“ „Falls das zutrifft...“ „Darauf kann ich schwören. Du weißt, daß es völlig sinnlos ist, sich etwas vorzumachen. Sie hat es sich ganz einfach anders überlegt, seitdem sie diesen Brief geschrieben hat. Es ist durchaus möglich, daß sie wirklich vergessen hat, wie phantastisch du bist. Das soll vorkommen.“ „Davon mußt du mir ein andermal erzählen.“ Er beugte sich vor. „Ach, mein Gott, es ist mir völlig gleichgültig, was sie sich in den Kopf gesetzt hat oder was in ihrem Geist vorgeht, solange alles so abläuft, wie sie es sich wünscht. Sie ist eben nur schon so alt wie Methusalem, und sie ist allein, mit Ausnahme dieses Mannes, von dem wir nichts wissen, und was du da vom Haschischrauchen gesagt hast, klang eigentlich nicht allzu beruhigend. Mag sein, daß er heute noch völlig in Ordnung ist, aber er befindet sich auf dem Weg in ein Niemandsland, darüber mußt du dir klar sein.“ Wieder rutschte er unruhig hin und her. „Nachdem sie aber so lange hier gelebt hat, weiß sie zweifellos, daß zwei und zwei vier sind, und du sagst, du hättest den Eindruck von ihr gehabt, sie würde mit ihm fertig...“ „Mit sechs seines Schlages.“
„Um so besser. Aber ich hätte es gern selber festgestellt, das ist alles. Du mußt doch zugeben, daß die gestrige Nacht mit ihrem Brief nicht ganz übereinstimmt.“ „Hättest du das erwartet? Ich würde doch niemals behaupten, daß Beständigkeit zu ihren charakteristischen Eigenschaften gehört.“ „Das gerade nicht, aber sag mal, hat sie eigentlich einen Grund für das über mich verhängte Embargo angegeben?“ „Nicht den geringsten. Ich hatte aber, offen gesagt, den Eindruck, daß sie, indem sie mich empfing, ihre eigene Neugier befriedigt hatte. Jetzt wollte sie nur noch in ihr eigenes Leben zurückkehren, wie immer das aussehen mag. Ich habe dir ja auch erzählt, daß sie lange Zeit hindurch ganz normal wirkte, aber dann sah sie plötzlich so aus, als wäre sie viele Meilen entfernt, und dann redete sie auch das seltsamste Zeug. Ich bin niemals zuvor mit jemand zusammen gewesen, der nicht alle Tassen im Schrank hat, also weiß ich gar nicht, woran man es erkennt, aber ich würde sagen, bei ihr liegt eigentlich nichts Schlimmeres vor, als daß sie alt und zerstreut ist. Und ich kann dir nur versichern, daß ich John Lethman ganz nett gefunden habe, und Tante H. schien völlig glücklich und zufrieden zu sein und keineswegs krank, abgesehen davon, daß sie etwas kurzatmig war. Aber nun zu wissen, was sie gedacht hat, da vergiß nicht, daß ich sie kaum kenne und ich mich auch nicht allzu wohl in meiner Haut fühlte, das lag an diesem scheußlichen Tabak, der stickigen Luft in diesem Raum und diesem ziemlich ekligen gurgelnden Geräusch, das sie mit ihrer Pfeife machte. Ach, Charles, das habe ich völlig vergessen – es war auch eine Katze im Zimmer, und ich habe es nicht gewußt. Sie muß hinter den Bettvorhängen versteckt gewesen sein. Ich fühlte mich so seltsam, als ob ich mich gleich erbrechen müßte, und ich dachte, es läge einfach an der
stickigen Luft oder dergleichen, aber die Katze muß der Grund gewesen sein.“ „Katze?“ Jäh stieß sein Kopf vor. Nun war er an der Reihe, mich anzustarren. „Guter Gott, tatsächlich?“ Sein Entsetzen tat mir wohl. Charles hatte also die Sache mit den Katzen nicht vergessen, den Abscheu, den ich vor ihnen empfand. Nun läßt sich ja eine krankhafte Angst schwer erklären. Und Angst vor Katzen – ganz echte Angst – ist etwas so Komisches, daß es fast nicht zu glauben ist. Ich finde Katzen schön; ich liebe es, sie anzusehen; auf Bildern mag ich sie. Aber ich kann nicht im gleichen Zimmer mit ihnen zusammen sein, und die seltenen Male, bei denen ich versucht habe, meine Furcht zu überwinden und eine Katze anzufassen, ist es mir dabei fast schlecht geworden. Katzen sind für mich ein Angsttraum. Als ich noch klein war und zur Schule ging, hatten meine lieben kleinen Freundinnen es herausgefunden und mich mit der Schulkatze in einem Zimmer eingesperrt. Zwanzig Minuten später wurde ich schreiend und vor Angst völlig am Ende wieder befreit. Es ist der eine Punkt, an dem ich verwundbar bin und womit mich Charles, selbst in seinen schlimmsten Flegeljahren, niemals gequält hat. Er leidet nicht unter dieser Angst, aber steht mir doch so nah, daß er sie versteht. Ich lächelte ihn an. „Nein, ich habe es nicht überwunden, und ich weiß nicht, ob es einem jemals gelingen kann. Ich erblickte sie erst in dem Augenblick, in dem ich das Zimmer verließ. Sie kroch hinter den Vorhängen hervor und sprang auf das Bett zu Tante H., die sie zu streicheln begann. Sie kann unmöglich die ganze Zeit dagewesen sein, sonst hätte es mich schon früher gepackt, und ich hätte es erraten. Hinterher habe ich gedacht, es muß noch eine Tür zu diesem Zimmer gegeben haben, die ich nicht bemerkt hatte. Bei einem Raum dieser Größe wäre es ja auch zu erwarten.“
Er antwortete mir nicht darauf. Wieder blickte ich auf den Brief in meiner Hand. „Wer ist Humphrey Ford?“ „Wer? Ach, in dem Brief? Richtig. Er ist ein emeritierter Professor in Orientalistik. ›Bedauerlich geistesabwesend‹ ist der genau treffende Ausdruck, möchte ich sagen. Von ihm erzählte man sich, er hielte immer die erste Vorlesung des Semesters, um sich dann still und leise nach Saudi-Arabien zu verdrücken, wo er sich einem ewigen Sabbat hingab. Das war vor meiner Zeit, Allah sei gepriesen, aber er ließ sich auch da ein paarmal sehen, lud mich ein- oder zweimal zum Frühstück ein und erkannte mich sogar hin und wieder auf der Straße. Ein netter alter Knabe.“ „Warum hast du selber ihr nicht mitgeteilt, daß du kommst?“ „Ich war nicht sicher, bis wann ich es schaffen würde, und da dachte ich, es sei besser, sobald ich in Beirut bin, mich erst einmal umzuhören.“ „Und Samson? Was ist mit Samson, da sehe ich nicht klar? Die Katze?“ „Ein Hund. Tibetischer Terrier. Als sie das letztemal in England war, hat sie ihn bekommen – er gehörte früher einem ihrer Vettern aus der Familie der Boyds; er ist gestorben, und da hat sie den Hund aufgelesen und ihn als Rüden für Delilah mitgenommen. Ursprünglich hieß er Wu oder Puuh oder so ähnlich, tibetisch natürlich, aber sie hat einen Samson aus ihm gemacht. Warum, kannst du dir denken.“ „Für mich zu hoch.“ Ich gab ihm den Brief zurück. „Die Hunde habe ich überhaupt nicht zu sehen bekommen, sie waren immer eingesperrt, nur nachts nicht. John Lethman hat behauptet, sie wären gefährlich.“ „Wenn Samson ihn nicht leiden konnte, so hat er wahrscheinlich sich selber vor ihm in Sicherheit bringen wollen und nicht etwa dich.“ Er faltete den Brief und steckte ihn in seine Tasche zurück. Ich hatte den Eindruck, daß er sich
nun, indem er weitersprach, etwas näher an die Sache heranzutasten suchte. „Wie ich mich erinnere, war es ein bösartiger, bissiger Hund – nur der Familie gegenüber nicht. Dir hätte er wahrscheinlich gar nichts getan: man sagt doch, daß es eine Art Familienstimme oder einen allen gemeinsamen Geruch gibt, den ein Hund erkennt, auch wenn er dich noch niemals zuvor gesehen hat.“ „Wirklich?“ Ich schlang meine Finger um ein Knie und lehnte mich zurück, das Gesicht der Sonne zugewandt. „Weißt du, Charles, diesen Brief kann man so und so betrachten... Falls sie vergessen haben sollte, was sie in diesem Brief geschrieben hatte, als sie mit mir zusammen war, dann hat sie wahrscheinlich ebenfalls vergessen, daß sie gesagt hat, sie wollte dich nicht empfangen. Verstehst du, was ich meine? Jedenfalls habe ich dir gesagt, John Lethman habe erklärt, er wolle mit ihr reden, und wenn er es aufrichtig meint, tut er es auch. Und selbst wenn es nicht der Fall sein sollte, wird er es nicht wagen, dich ganz einfach zu übersehen. Eigentlich klang es nicht so, als habe er diese Absicht; er hat davon gesprochen, sich mit dir in Verbindung zu setzen. In einem solchen Fall kannst du ja Tante Harriets Brief vorlegen und ihn dazu bringen, dich einzulassen.“ „Wahrscheinlich.“ Aber seine Stimme klang, als sei er in seinen Gedanken weit weg. Und er brauchte erstaunlich viel Zeit, um sich noch eine Zigarette anzuzünden. „Oder hör zu, warum in aller Welt gehst du nicht gleich mit mir zurück, denn ich sitze ja nun hier fest und muß zurückkehren. Wir können John Lethman schon jetzt den Brief zeigen, und dann wollen wir mal sehen, ob du dir nicht heute nacht den Weg bis zu Tante Harriet freikämpfen kannst. Wenn du erst einmal vor der Tür stehst, kann er dich kaum zurückweisen. .. Hörst du mir eigentlich zu, Charles?“ Ich glaube nicht, daß er mich hörte. Er blickte von mir weg, das
sonnendurchflutete Tal entlang zum Palast, der sich in der Ferne erhob. „Sieh mal dorthin.“ Anfänglich sah ich nichts weiter als das verfallene Gebäude, das in der Sonne schlief, die erstarrten, blendenden Formen der Felsen, die von gewaltigen Schatten gesäumt waren, und das Grün ferner Bäume, durch den Hitzedunst ins Graue schlagend. Es gab keine Wolken, die sich bewegten, keinen Wind, sie zu bewegen. Keinen Laut. Dann bemerkte ich, was er beobachtete. Ein Stück vom Palast entfernt, zwischen den Felsen und dem wirren Gestrüpp, das den Rand der Adonisschlucht anzeigte, war eine Bewegung zu entdecken, die schließlich als ein Mann in arabischer Kleidung zu erkennen war, der sich langsam zu Fuß dem Palast näherte. Er war von der übrigen Umgebung kaum zu unterscheiden, denn sein Gewand war Staubfarben, sein Turban braun, und wenn Charles und ich nicht ungewöhnlich übersichtig gewesen wären, bezweifle ich, ob wir ihn überhaupt hätten entdecken können. Er kam nur sehr langsam vorwärts und verschwand von Zeit zu Zeit, wenn ihn sein Pfad hinter Felskuppen oder durch dichtes Gestrüpp führte, aber schließlich tauchte er auf dem kahlen Felsplateau hinter dem Palast auf. In der einen Hand hielt er einen Stock und schien eine Art Sack über der einen Schulter zu tragen. „Sieht aus wie ein Pilger“, sagte ich. „Wenn er es auf den Palast abgesehen hat, wird ihm eine herbe Enttäuschung zuteil werden, und ich kann mir nicht vorstellen, was sonst sein Ziel sein sollte. Der Faun muß recht haben, dort verläuft ein Pfad.“ „Den muß es ja geben!“ rief mein Vetter. „Hast du dich denn noch gar nicht darüber gewundert, wie John Lethman gestern vor dir im Palast eintreffen konnte?“ „Wie dumm von mir, daran habe ich überhaupt noch gar nicht gedacht. Ja, jetzt erinnere ich mich auch, davon gehört zu haben, daß der Palast an dem alten Kamelweg vom Hohen
Libanon zum Meer lag. In diesem Fall muß es doch eine recht gut erkennbare Piste geben.“ Ich lächelte ihn an. „Aber, mein lieber Charles, nicht für mich.“ „Ganz im Gegenteil“, antwortete mein Vetter, „ich überlege gerade... Einen Augenblick, laß nur nicht den Mann aus den Augen.“ Der „Pilger“ war bis zur rückwärtigen Mauer des Palastes gelangt, aber anstatt sich nun nach Norden zu wenden und an der Mauer des Serails entlangzugehen, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein und schritt auf die Ecke zu, wo die Mauern buchstäblich aus den Felsen der Adonisschlucht emporzuwachsen schienen. Dort standen Bäume in einer Gruppe, genau über dem Abgrund, und zwischen ihnen verschwand er. „Auf diesem Wegkann er gar nicht um den Palast herum!“ rief ich. „Das ist die Seite, auf die mein Zimmer hinausging, und da ist eine steile Felswand bis hinunter zum Fluß.“ „Er hat sich mit jemand verabredet“, sagte Charles. Wegen des grellen Sonnenlichts kniff ich die Augen zusammen. Dann entdeckte ich sie zwischen den Bäumen: den Araber und einen anderen Mann, der mit ihm sprach, und dieser andere trug europäische Kleidung. Langsam traten sie zwischen den Bäumen hervor, offensichtlich in ein Gespräch vertieft, und dort, am Rand des Halbschattens, blieben sie stehen, kleine, durch die Entfernung verkürzte Gestalten. „John Lethman?“ fragte Charles. „Er muß es sein. Aber sieh mal, da ist noch jemand. Bestimmt habe ich jemand zwischen den Bäumen sich bewegen sehen. Diesmal in Weiß.“ „Ja, noch ein Araber. Das wird wohl Jassim, dein Pförtner, sein.“ „Oder Nasirulla ach nein, ich hatte es ganz vergessen, er könnte heute gar nicht hinüber. Dann muß es Jassim sein.“ Ich furchte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Haben sie etwa die
ganze Zeit dort draußen auf ihn gewartet? Ich habe zwar nicht besonders scharf hingesehen, aber wenn sie vom Hauptportal hergekommen wären, hätten wir sie doch sehen müssen.“ „Gibt es denn einen Weg auf dieser Seite?“ „Ja, auf der Nordseite, unterhalb der Arkade des Serails. Der Pfad führt durch die Bäume oberhalb des Nähr el-Sal’q und dicht an der Palastmauer entlang.“ „Wenn sie auf diesem Weg gekommen wären, hätten wir sie bestimmt bemerkt. Nein, es muß eine Hintertür geben. Das wäre auch zu erwarten. Sie muß dort irgendwo zwischen den Bäumen verborgen sein.“ „Eingang für Lieferanten?“ rief ich. „Aber wahrscheinlich hast du recht, jetzt übergibt er seinen Sack oder was er da trägt. Und jetzt geht er wieder. Ob sie uns sehen können, wenn sie in diese Richtung blicken?“ „Ganz unmöglich. Wir befinden uns im Schatten dieser Säule, und hinzu kommt, daß die Sonne ihnen in die Augen scheint. Schade, wir sollten ein Fernglas haben, ich würde gern deinen Mr. Lethman genauer betrachten. Ja, er entfernt sich. Achte auf die anderen. Ich bin sicher, daß wir sie nicht verschwinden sehen werden.“ Diese Szene wirkte durch die Entfernung unendlich verkleinert; dadurch war sie in eine Atmosphäre der Stille getaucht und hatte etwas seltsam Traumartiges an sich. Soeben noch schienen die drei Männer neben den Bäumen unterhalb der Mauer gestanden zu haben, aber im nächsten Augenblick hatte sich der Araber umgedreht und suchte sich langsam seinen Weg zwischen den Felsen zurück, während die beiden anderen im Schatten der Bäume verschwunden waren. Schweigend warteten wir. Der Araber hatte sich entfernt, aber die beiden anderen tauchten nicht mehr aus dem kleinen Gehölz auf. Es mußte also einen anderen Weg in den Palast hinein geben. Trotz der Entfernung war alles deutlich zu
erkennen, die Farben waren lebhaft, aber dennoch schien es sehr weit weg zu sein. Ich dachte voller Erschöpfung und dann mit einiger Gereiztheit an den langen Rückweg durch die Schlucht des Nähr el-Sal’q. „Offen gesagt, ich will nicht auf dem alten Weg zurück. Können wir nicht darauf verzichten?“ „Bist du zu dem Schluß gelangt, daß du doch lieber den alten Pilgerweg in den Hohen Libanon ausprobieren willst?“ „Nein, aber könntest du mich nicht doch irgendwie über den Eiger führen? Vorhin sah alles recht leicht aus.“ „Wirklich?“ Er lächelte, aber sagte nichts weiter. „Könntest du es nicht tun?“ „Nein, mein Liebling, das könnte ich gar nicht. Und noch wichtiger, ich will es nicht, selbst wenn ich es könnte. Offensichtlich ist es Allahs Wille, daß du nach Dar Ibrahim zurückkehrst, und dieses eine Mal könnte Allahs Wille zeitlich nicht besser abgestimmt sein. Ich meine damit, daß er sich genau mit dem meinen deckt. Du gehst also zurück – ich begleite dich.“ „Wirklich? Willst du etwa John Lethman diesen Brief jetzt gleich zeigen und ihn überreden, dich einzulassen?“ „Nein. John Lethman hat nichts damit zu tun. Du wirst es sein, die mich einläßt.“ Ich setzte mich jäh auf. „Wenn du das tust, was du meiner Meinung nach vorhast...“ „Wahrscheinlich. Es gibt eine Hintertür, eine Art Ausfallpforte.“ „Und weiter?“ fragte ich interessiert. „Ich denke noch nach...“ Er sprach nun langsam, seine Augen noch immer auf den breit hingelagerten Palast gerichtet. „Sag mal, die Stelle, an der wir uns heute morgen getroffen haben, die Furt... die konnte man vom Palast aus nicht einsehen?“ „Nein. Aber Charles...“
„Und du sagtest auch, als du mich den Hang unterhalb des Dorfes herunterkommen sahst, hättest du geglaubt, ich sei dein Fahrer?“ „Ja, aber Charles...“ „Deinen Fahrer haben die dort oben gesehen, aber niemals mich. Und im übrigen würden sie mich ebensowenig hier erwarten wie du. Wenn sie auch den ganzen Morgen Ausschau gehalten haben, würden sie doch nichts anderes festgestellt haben, als daß du zum Fluß hinuntergegangen bist, um dich mit deinem Fahrer zu treffen, der vom Dorf herunterkam. Stimmt’s?“ „Ja, aber Charles, das kannst du nicht tun! Denkst du denn wirklich daran...?“ „Natürlich kann ich es. Nun sei still und hör mir zu. Ich möchte unbedingt selber in dieses Gebäude hinein und genau feststellen, was dort gespielt wird, und ich will jetzt hinein und nicht auf Lethmans fragwürdigen guten Willen warten. Es sieht ganz so aus, als ob das Hochwasser des Flusses uns eine vom Himmel gesandte Chance gegeben hat; es ist ganz deutlich Allahs Wille. Deine Rolle dabei ist äußerst einfach und unkompliziert. Du kehrst in den Palast zurück, läutest wieder nach dem alten Jassim und berichtest ihm, was ja ohnehin mehr oder weniger der Wahrheit entspricht. Sag ihm, du hättest den Fluß nicht überqueren können, ebensowenig wie dein Fahrer, aber beide wärt ihr so weit wie möglich den Nähr el-Sal’q entlanggegangen, um festzustellen, ob es eine Möglichkeit gäbe, ihn zu überqueren. Du wärst bis zur Quelle vorgedrungen, aber dort hättest du nirgends eine Stelle gefunden, um hinüberzugelangen, nicht einmal mit Hilfe deines Fahrers.“ Er lächelte. „Bis hierher könnte es kaum wahrer sein. Dann hättest du dem Fahrer gesagt, er solle nach Beirut zurückkehren und sich morgen wieder einstellen, denn bis dahin würde das Hochwasser abgesunken sein. Du hättest
auch den Fahrer gebeten, deinem Vetter Charles auszurichten, du bliebst noch eine Nacht hier und würdest morgen im Phoenicia mit ihm zusammentreffen.“ „Aber, Charles...“ „Sie können es kaum ablehnen, dich wieder einzulassen. Nach allem, was du erzählt hast, scheint sich ja auch dein Mr. Lethman über deine Gesellschaft recht gefreut zu haben. Wer könnte ihm das verübeln? Wenn du an einem solchen Ort lebtest, würdest du sogar den Schneemenschen aus dem Himalaja mit Freuden begrüßen.“ „Vielen Dank.“ „Keine Ursache. Kehr also in den Palast zurück. Du hast mir erzählt, man hätte dir gesagt, du könntest überall hingehen, nur nicht in die Prinzengemächer. Und genau das sollst du jetzt tun. Diesmal hast du noch viele Stunden mit Tageslicht vor dir. Bemüh dich, diese Hintertür zu finden; du sagtest vorhin, sie müsse in deinem Teil des Palastes liegen.“ „Das müßte sie. Ich habe dir von dem Mann erzählt, der gestern nacht durch den Garten des Serail geschlichen ist. Wer immer es gewesen sein mag, ich könnte darauf schwören, daß er nicht an meinem Zimmer vorbei zum Haupttor gegangen ist. Er muß also auf eine andere Weise herein- und wieder hinausgelangt sein. Aber meinst du das ernst? Hast du wirklich die Absicht, heimlich einzudringen?“ „Warum nicht? Wenn du diese Hintertür finden kannst, sorg dafür, daß sie heute abend nach Dunkelheit unverschlossen bleibt, und so wird Mohammed zum Berg kommen.“ „Und wenn ich sie nicht finden kann?“ „Dann werden wir uns etwas anderes ausdenken müssen. Gar keine Fenster, die auf das Plateau hinausgehen? – Nein, das kann ich von hier aus sehen: es gibt keine. Aber du sagtest vorhin, es gäbe an der Nordseite, zum Dorf zu, eine Art Arkade und unterhalb von ihr einen Pfad?“
„Die gibt es, aber die Fenster sind alle vergittert. Vergiß nicht, früher war es ein Harem.“ „Du sagtest auch, das ganze Schloß sei baufällig; wären nicht zufällig einige von den Gittern zerbrochen? Oder könnte man sie mit Gewalt öffnen?“ „Ja, ich könnte es mir denken. Aber sie befinden sich hoch oben in der Mauer und ...“ „Ich kann klettern“, erklärte Charles. „Wenn sich die Mauer in so schlechtem Zustand befindet, gibt es auch viele Stellen, an denen man seinen Fuß hinsetzen kann. Ich habe schon immer in einen Harem einsteigen wollen.“ „Das kann ich mir vorstellen. Aber warum nicht zunächst den einfacheren Weg versuchen? Ich meine mit mir am Haupttor?“ „Weil du, wenn es nicht klappt, möglicherweise dann auch nicht eingelassen wirst, und dann wäre auch die Möglichkeit eines heimlichen Eindringens verpatzt. Auf jeden Fall wäre es mir lieber, hinter Lethmans Rücken hineinzukommen.“ Ich wollte Charles schon fragen, wieso, aber als ich das Gesicht meines Vetters sah, entschied ich mich dafür, Zeit und Energie nicht unnütz zu opfern. Ich kenne Charles. Statt dessen fragte ich: „Was weiter, wenn du erst einmal drin bist? Und was geschieht, wenn man dich erwischt?“ „Es wird nichts weiter als ein wenig Krach geben oder schlimmstenfalls eine kleine Rauferei mit John Lethman, und die riskiere ich. Das macht mir keine Sorgen, und zumindest werde ich auf diese Weise Tante H. zu sehen bekommen, auch wenn sie mir die Augen ein bißchen auskratzt.“ Ich sah ihn an. „Das kriege ich nicht ganz in meinen Kopf hinein. Ich meine, Neugier ist ja ganz schön und gut, aber dieser plötzliche Ausbruch von Anhänglichkeit... Nein, Charles, das geht ganz einfach nicht. Es klingt alles sehr schön und großartig, aber so etwas kannst du ganz einfach nicht tun.“
„Kann ich das nicht? Du mußt es mal folgendermaßen betrachten. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als für die kommende Nacht dorthin zurückzukehren. Aber du möchtest es nicht. Wäre es dir nicht lieber, ich wäre auch dort?“ „Unter diesen Umständen“, erwiderte ich, „wäre mir sogar der Schneemensch lieber.“ „Vielen Dank. Na schön, süße Christabel, dann...“ Selbstverständlich versuchte ich es ihm weiterhin auszureden, und ebenso selbstverständlich trug er am Ende – wie immer – den Sieg davon. Außerdem war sein letztes Argument das durchschlagendste von allen. Wie „romantisch“ die vergangene Nacht für mich in Dar Ibrahim auch gewesen sein mochte, hatte ich doch keine Lust, sie nochmals allein zu wiederholen. „Dann ist das erledigt.“ Entschlossen erhob er sich. „Ich klettere nun wieder auf die andere Seite hinüber, und nach einiger Zeit werden mich die anderen, falls sie daran interessiert sind, zum Dorf zurückkehren sehen. Du hast gesagt, gegen zehn Uhr wärst du mit dem Abendessen fertig gewesen und Tante H. hätte dich um zwölf Uhr herum kommen lassen? Falls sie sich entschließen sollte, dich nochmals zu empfangen, machen wir am besten ab, daß ich von zehn Uhr dreißig an hinter dem Palast sein werde. Wenn es dir nicht gelingen sollte, die Hintertür zu öffnen, werde ich ein paarmal unterhalb der Mauer bellen wie ein Bergfuchs, und wenn alles ruhig ist, so daß ich hinaufklettern kann, häng ein Handtuch oder etwas anderes Helles hinaus, das ich sehen kann. Ich weiß, alles ist wie in einem schlechten Stück, aber einfache Ideen lassen sich für gewöhnlich am besten ausführen. Sollte die Mauer tatsächlich zu ersteigen sein, würde ich sogar das Fenster vorziehen, wenn die Hunde in der Nacht im Gebäude losgelassen werden.“ „Du lieber Gott, ja, die hatte ich ganz vergessen... ich weiß nicht, ob ich etwas gegen sie unternehmen könnte. Sollte er
mich noch einmal zu Tante H. führen, wird er sie möglicherweise einsperren, aber sonst...“ „Keine Sorge, dieses Risiko müssen wir auf uns nehmen. Es ist ein weit ausgedehnter Palast. Aber kehren wir jetzt zurück, einverstanden?“ „Was ist mit dem Faun?“ „Ich möchte behaupten, daß ich sein Schweigen erkaufen könnte. Meinst du nicht?“ „Ganz bestimmt“, antwortete ich. „Und aus dem Dorf wird niemand den Nähr el-Sal’q überqueren können und berichten, daß ein weißer Porsche den ganzen Tag hindurch in einer Straße des Dorfes gestanden hat. Im übrigen werde ich noch ein bißchen warten, bis ich gesehen habe, daß man dich wieder ins Schloß eingelassen hat. Sollte es nicht der Fall sein, komm zur Schlucht hinunter, und dann werden wir nochmals über alles nachdenken. Aber ich bin überzeugt, daß sie es tun werden.“ „Du hast gut reden, aber ich möchte nicht noch eine Nacht ohne ein Nachthemd verbringen müssen.“ „Das ist nicht meine Schuld, sondern Allahs Wille. Ich bringe dir heute abend eine Zahnbürste mit, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich, mit einem Nachthemd beladen, wieder oberhalb des Wasserfalls hinüberklettere. Du könntest dir ja immer eine Dschibbah von Großtante Harriet ausleihen.“ Und nach diesem herzlosen Trost ging er mir voran zum Wasserfall und zur Schlucht zurück.
Achtes Kapitel Aber wer soll dich lehren was der nächtliche Besucher im Schilde führt? Der Koran: Sure LXXXVI
Alles verlief genau so, wie Charles es sich gewünscht hatte. Es schien fast zu leicht zu sein. Jassim hatte sich vielleicht eingebildet, es sei Nasirulla, der läutete, um eingelassen zu werden, denn sofort öffnete er das Tor, und als er sah, wer es war, ließ er mich ein, wobei er nur ein leises mürrisches Murmeln von sich gab. Kurz darauf erklärte ich John Lethman, was sich zugetragen hatte. Falls er sich darüber ärgerte, so verbarg er es doch sehr gut. „Wie dumm von mir, dies nicht erwartet zu haben, um so mehr, als Nasirulla nicht auftauchte. Es ist schon früher nach einem schweren Regenguß und während der Schneeschmelze geschehen. Natürlich müssen Sie hierbleiben. Sind Sie wirklich den ganzen Weg flußauf gegangen, um einen Weg hinüber zu finden?“ „Ja, bis zur Quelle hinauf, zumindest nehme ich an, es ist die Quelle: eine Art Wasserfall unmittelbar aus der Felswand heraus. Der Fahrer hatte geglaubt, dort wäre ein Weg und er könnte mir helfen. Aber dazu müßte man Bergsteiger sein, und das wollte ich keinesfalls riskieren. So haben wir es aufgegeben, und ich bin zurückgekehrt.“ „Ist er nach Beirut zurückgefahren?“ Ich nickte. „Er sagte, vor morgen sei es nicht zu erwarten, daß das Wasser fällt. So habe ich durch ihn meinem Vetter Charles ausrichten lassen, gar nicht erst hierherzufahren, da Großtante Harriet zu krank sei, um ihn zu empfangen.“ Ich fügte noch hinzu: „So habe ich es jedenfalls formuliert. Wenn ich
persönlich mit ihm spreche, werde ich es ihm genauer erklären. Werden Sie Tante Harriet sagen, daß ich zurückgekommen bin?“ Er zögerte, hob dann eine Hand und lächelte. „Ich weiß nicht recht. Wollen wir nicht lieber die Entscheidung darüber verschieben, bis sie aufwacht?“ „Sie lieben die Improvisation, nicht wahr?“ „Ganz richtig. Kommen Sie jetzt in Ihren Garten zurück, Miss Mansel. Sie sind gerade rechtzeitig zum Essen eingetroffen.“ Ob es Jassim gelungen war, die Neuigkeit schon an Halide weiterzugeben, oder ob sie normalerweise selber mit John Lethman zusammen gegessen hätte, vermochte ich nicht zu beurteilen. Nur ein paar Minuten nachdem er mich in mein Zimmer im Hof des Serails zurückgeleitet hatte, erschien das Mädchen mit einem Tablett für zwei Personen, das sie mit offensichtlichem Groll heftig auf dem Tisch absetzte, dann stand sie da, betrachtete mich mit vernichtenden Blicken und ließ einen Schwall von Arabisch auf John Lethman los, der am ehesten dem Fauchen einer wütenden Katze ähnelte. Er nahm es mit Gelassenheit hin, unterbrach sie nur einmal leicht gereizt und machte schließlich, nach einem Blick auf seine Uhr, eine Bewegung, die sie zu beschwichtigen schien. Auf jeden Fall brachte sie sie zum Schweigen, und sie verließ den Raum nach einem erneuten Blick auf mich und mit einem temperamentvollen Herumwirbeln schwarzer Röcke. Wie mir auffiel, keinerlei schöne Seide an diesem Vormittag und keine Schminke; nichts weiter als ein schäbiges, schwarzes Arbeitskleid, und dies nicht einmal allzu sauber. Halb verärgert und halb belustigt, dachte ich, daß sie mich kaum mitzuzählen brauchte, wenn sie sich etwa um Konkurrenz Sorgen machte: seit mehr als vierundzwanzig Stunden hatte ich nun kein heißes Wasser und keine Haarbürste mehr gesehen, und nach meiner langen, heißen Wanderung den Nähr el-Sal’q hinauf und wieder zurück mußte ich alles andere als verführerisch
aussehen; aber es wahr wohl kaum nötig, ihr nun zu erklären, daß ich keinesfalls die Absicht hätte, ihr in die Quere zu kommen. Lethman sah mich peinlich berührt an. „Entschuldigen Sie diesen Auftritt. Wollen Sie etwas trinken?“ Er brachte mir ein Glas Wein und reichte es mir. Als ich es entgegennahm, berührten sich unsere Hände. Die seine war rötlichbraun und die meine hellbraun; aber trotz allem würde man beide als weiß bezeichnen. Vielleicht hatte Halide dennoch Grund zur Furcht. „Die arme Halide“, sagte ich und trank einen Schluck. Es war der gleiche kühle, goldfarbene Wein vom Vortag. Rasch fügte ich hinzu: „Es ist ja auch verständlich, wo sie doch so viel zu tun hat. Würde es sie verletzen, wenn ich ihr etwas daließe? Heute morgen habe ich es nicht getan, weil ich meiner Sache nicht ganz sicher war.“ „Verletzen?“ Es lag in seiner Stimme ein Anflug von Schärfe. „Einen Araber können Sie mit Geld doch nicht verletzen.“ „Vernünftige Einstellung“, antwortete ich und legte mir etwas vom Kefta auf, saftige Fleischklößchen auf einem Reisberg. „Hat eigentlich der Wasserfall, den ich am Oberlauf des Nähr el-Sal’q gesehen habe, irgendeine Beziehung zum Adoniskult, von dem Sie mir erzählt haben?“ „Eigentlich nicht, es gibt jedoch in der Nähe eine Stätte, die wohl ein kleineres Heiligtum darstellt, das vom Tempel der Venus von Afka aus gegründet wurde. Sie können es nur finden, wenn Sie aus der Schlucht hinaufsteigen... nicht gesehen? Es lohnt sich auch kaum, nur aus diesem Grund diesen Weg auf sich zu nehmen...“ Der Rest des Essens verlief in freundlicher Atmosphäre, und es fiel mir ziemlich leicht, ihn mit unpersönlichen Themen zu beschäftigen. Das empfand ich als große Erleichterung, denn ich wollte meine Fähigkeiten, andere Menschen zu täuschen,
keinen allzu großen Belastungen aussetzen, und meine Begegnung mit Charles war noch etwas zu frisch in meiner Erinnerung. So war es besser, Gespräche über Familienangelegenheiten zu meiden, und ich legte auch keinen Wert darauf, um ein neues Zusammentreffen mit Großtante Harriet zu bitten. Wahrscheinlich stimmten in diesem Punkt meine und John Lethmans Interessen überein. Gleich nach dem Essen erhob er sich. Wenn ich es ihm nicht verübelte... ? Er hätte noch einige Dinge zu erledigen... Wenn ich ihn jetzt entschuldigte? Rasch und fast zu eifrig versuchte ich ihn zu beruhigen. In der Nachmittagshitze würde der Garten einschläfernd wirken, und ich würde mich dorthin setzen, erklärte ich ihm, und über einem Buch einnicken. Und ob ich hinterher ein wenig durch die Gebäude streifen dürfte ? Selbstverständlich nicht durch den Prinzenhof, aber woanders? So faszinierend ... eine Chance, die ich vielleicht niemals wieder erhalten würde... und natürlich fiele es mir nicht im Traum ein, Großtante Harriet zu stören ... es bestände auch nicht die geringste Notwendigkeit, daß sie es überhaupt erführe... Wir trennten uns mit einem Gefühl der Erleichterung, ohne es uns anmerken zu lassen. Nachdem er gegangen war, wobei er das Tablett mitnahm, holte ich mir ein paar Kissen von der Fensterbank in den Garten hinaus, wo ich mich am Rande des Wasserbeckens im Schatten einer Tamariske niederließ. Es war sehr still. Die Bäume standen regungslos da, das Wasser wirkte wie eine schimmernde Glasscheibe, und die Blumen ließen in der Hitze die Köpfe hängen. In meiner Nähe schlief regungslos eine Eidechse auf den Steinen; sie rührte sich nicht einmal, als eine Wachtel an ihr vorbeihuschte, um sich mit ausgebreiteten Flügeln im Sand niederzulassen. Auf der eingestürzten Brücke führte der Pfau einer Henne, die ihm nicht einmal zusah, etwas müde ein Rad vor. Irgendwo
zwischen den leuchtendroten Blüten der Bougainvilleen, die die Arkaden überwucherten, sang ein Vogel, und ich erkannte die Königin der Nacht, die Nachtigall. Ihr Gesang klang nicht ganz so schön wie gegen den Hintergrund des überstandenen Unwetters und des Sternenlichts. Einige Finken und eine Turteltaube erhoben ebenfalls, wie aus Protest, ihre Stimmen, und da gab es die Nachtigall mit einem Triller, der am ehesten einem Gähnen ähnelte, auf. Ich konnte es ihr nicht verübeln und schlief nun selber ein. Etwa eine Stunde später erwachte ich, und ich hatte den Eindruck, als ob die schläfrige Hitze den ganzen Hof überwältigt hätte. Es war nun überhaupt kein Laut mehr zu hören. Als ich mich aus meinen Kissen erhob, flitzte die Eidechse davon und entschwand meinen Blicken, aber die Wachtel hob nicht einmal ihren Kopf unter den Flügeln hervor. Ich begab mich auf meinen Entdeckungsgang. Es wäre wenig sinnvoll, an dieser Stelle meine Wanderungen an jenem Nachmittag in allen ihren Einzelheiten zu schildern. Es war wenig wahrscheinlich, daß ein Außentor unmittelbar in den Wohnbezirk der Frauen führen würde, aber die „Ausfallpforte“ hatte im rückwärtigen Tal gelegen, und da der Hof des Serails mit seinen Gemächern und seinem großen Garten die ganze Breite des hinteren Palastes einnahm, mußte selbstverständlich meine Suche dort beginnen. Nun war die Ausfallpforte offenbar von den Bäumen an der Südseite verdeckt. Als ich aus meinem Schlafzimmerfenster hinausblickte, konnte ich gerade noch die Spitzen der Bäume sehen, die die Ecke überragten. Sie befanden sich mit meinem Fenstersims auf gleicher Höhe. Das Serail erhob sich eineinhalb Stockwerke über dem Plateau. Die Ausfallpforte mußte auf einen Gang unter ihm oder an den Fuß einer Treppe führen. Ein Vorstoß an der östlichen Arkade und in die Tiefen des Hammam an der Ecke überzeugte mich davon, daß es dort
keine Treppe gab, auch keine Tür, die zu einer solchen führen konnte. So verließ ich nach einer Weile das Serail und machte mich an die Aufgabe, das verwahrloste Labyrinth der Gebäude des Palastes zu erforschen. Bestimmt war die Anlage nicht so riesig, wie ich es mir vorstellte, aber es gab so viele Treppen in so vielen Richtungen, enge dunkle Gänge, kleine Zimmer, die wie zufällig ineinander übergingen, viele von ihnen in Halbdunkel getaucht und alle miteinander mit dem Gerumpel und dem Abfall von Jahren angefüllt, daß ich schon bald jedes Gefühl für Richtung verlor und ganz einfach auf gut Glück weiterwanderte. Jedesmal, wenn ich an ein Fenster gelangte, blickte ich hinaus, um mich zu orientieren, aber viele dieser Räume waren nur von Oberlichtern erhellt oder von schmalen Fenstern, die auf Gänge hinausgingen. Hier und dort ein Fenster, aus dem man einen Blick auf das Land werfen konnte; ein kleiner Hof hatte sogar eine offene Arkade, von der aus man unmittelbar über die Adonisschlucht hinwegblicken konnte – es war ein großartiges Panorama der schneebedeckten Gipfel. Das Gelände fiel dort senkrecht zum Fluß ab. Ich entsinne mich, daß ein Fenster im Erdgeschoß am Ende eines dunklen Ganges einen Ausblick nach Norden, auf das Dorf zu, bot; aber dieses Fenster war vergittert, und daneben befanden sich zwei schwere Türen mit eingesetzten Gitterstangen, die, wie ich ohne Schwierigkeiten erkannte, in Gefängniszellen führten. Nachdem ich fast zwei Stunden umhergelaufen war, ich mir meine Hände schmutzig gemacht hatte und meine Schuhe mit grauem Staub bedeckt waren, war ich der Entdeckung einer Tür, die die Ausfallpforte sein könnte oder zu einem Treppenhaus gehörte, in dem ich zu ihr gelangen konnte, noch immer nicht näher. Gewiß war ich bei meinem Suchen an mehrere verschlossene Türen gelangt. Die verheißungsvollste
von ihnen lag an der Ostseite des Midans, eine hohe Tür mit einer vergitterten Lüftungsöffnung. Aber als ich mich hinaufzog, um rasch einen Blick hindurchzuwerfen (offenbar gab es an diesem Nachmittag keinen anderen Menschen mehr in diesem Gebäude), entdeckte ich nichts weiter als ein paar Schritt weit einen Fußboden mit holprigem Pflaster, der in Dunkelheit führte, offenbar zu ebener Erde und in der falschen Richtung. Kein Anzeichen einer Treppe – und im übrigen war die Tür auch verschlossen. Natürlich gab es unzählige Treppen, die verwirrend und auf den ersten Blick planlos von einem Stockwerk ins andere führten, aber ich fand nichts, wovon ich mit Sicherheit hätte sagen können, es sei ein Keller oder ein Erdgeschoß. Die längste Treppe hatte nur zwölf Stufen und mündete auf eine Galerie, die einen widerhallenden Raum umschloß, groß genug für einen Ballsaal, wo Schwalben unter dem Dach nisteten und sich die Bougainvilleen durch die nicht verglasten Fensterbögen rankten. Diese Fenster befanden sich in Kniehöhe und erhellten die beiden Längsseiten des Saals; die eine Reihe ging nach Süden, die andere nach innen auf einen sonst unbeleuchteten Gang hinaus. Heiße Sonnenstrahlen fielen schräg durch die äußeren Bögen ein; um sie herum hingen schlaff und still die roten Blüten; das Tosen des Wassers stieg aus der Schlucht nur noch wie leises Gemurmel empor. Drei Viertel fünf. Ich trat auf die schattige Innenseite der Galerie und ließ mich müde auf einem tiefen Sims zum Ausruhen nieder. Entweder war die Ausfallpforte doch nichts weiter als eine Täuschung, oder sie blieb mir durch eine der verschlossenen Türen unwiderruflich verborgen. Meine Suche hatte natürlich nur oberflächlich sein können, aber ich wagte nicht, die Sache zu übertreiben. Diese Chance hatte sich nicht verwirklichen lassen, und Charles würde nun doch seine
Kletterkünste zeigen müssen. Auch geschah es ihm nur recht, dachte ich gereizt und klopfte den Staub von meinen Hosen. In einer Hinsicht war mir das Glück treu geblieben: ich war den ganzen Nachmittag hindurch niemandem begegnet, und trotz meiner fixen Idee, alle Fenster sehr genau zu betrachten, hatte ich doch darauf geachtet, stets wie ein harmloser, interessierter Besucher auszusehen. Ein paarmal fragte ich mich, ob wohl die Hunde losgelassen seien und ob die Tatsache, daß sie mich in John Lethmans Gesellschaft gesehen hatten, sie mir gegenüber freundlich stimme; aber die Sorge hätte ich mir sparen können, denn von ihnen war nichts zu sehen. Wenn sie noch immer in dem kleinen Hof eingesperrt waren, verrieten sie es doch durch keinerlei Anzeichen. Zweifellos schliefen auch sie in der Nachmittagshitze. Ich wurde durch das Knarren einer Tür aufgeschreckt, die irgendwo unterhalb von mir am anderen Ende des Ganges geöffnet wurde. Die Siesta war vorbei, der Palast erwachte. Es war besser, in mein Zimmer zurückzukehren, falls jemand auf den Gedanken verfiele, mir Tee zu bringen. Leichte Schritte auf Stein und das Aufschimmern roter Seide. Halide blieb in der Tür stehen, sah sich um und sprach mit jemand in einem Zimmer; ihre schmalen, braunen Hände schlossen träge den vergoldeten Gürtel um ihre Taille. Sie hatte ihr Arbeitskleid ausgezogen; diesmal war ihr Kleid scharlachrot über hellem Grün, und ihre vergoldeten Sandalen hatten hohe Absätze und geschwungene persische Spitzen. Der Vogel hatte sein schmückendes Gefieder wieder angelegt und war hübscher denn je. Bestimmt das Paarungsgefieder. Aus dem Zimmer antwortete ihr John Lethmans Stimme, und einen Augenblick später trat er an die Tür. Er trug ein langes arabisches Gewand aus weißer Seide, offen bis zur Gürtellinie, und seine Füße waren nackt. Er sah aus, als sei er soeben erst erwacht. Es war
zu spät, sich nun noch zu bewegen, ohne gesehen zu werden, und so verhielt ich mich still. Halide sagte noch etwas und lachte. Er zog sie, noch immer schläfrig, an sich und flüsterte ihr, den Mund an ihrem Haar, eine Antwort zu. Ich wich vorsichtig vom Fenster zurück, in der Hoffnung, sie wären zu beschäftigt, um diese Bewegung zu bemerken und aufzublicken. Aber fast gleichzeitig ließ mich ein Laut, mir inzwischen vertraut, aber in dieser schläfrigen Stille fast erschreckend, an meinem Fenstersims erstarren. Die Glocke aus dem Diwan des Prinzen. Und danach das unvermeidliche Getöse der Hunde. Ich weiß nicht, was ich nun erwartete – vielleicht eine Reaktion Halides, der Furcht ähnlich, die sie in der vergangenen Nacht offenbart hatte; sicherlich würde sie davonstürmen und der herrischen Forderung der Alten nachkommen. Aber nichts dergleichen geschah. Die beiden hoben die Köpfe, blieben jedoch, wo sie waren. Halide (so glaubte ich) sah ein wenig bestürzt aus und stellte John Lethman hastig eine Frage. Er gab ihr eine kurze Antwort, und sie lachte auf. Sie überschüttete ihn mit einer Flut von arabischen Worten, von Lachen unterbrochen; da lachte auch er, und die Hunde beruhigten sich wieder und verstummten. Der Mann schob schließlich das Mädchen von sich und machte mit Kopf und Hand eine heftige Bewegung, die offensichtlich bedeutete: „Du solltest lieber gehen!“ Noch immer lachend, hob sie eine Hand, um ihm das wirre Haar aus der Stirn zu streichen, küßte ihn und entfernte sich – jedoch ohne jede Eile. Ich rührte mich nicht. Regungslos blieb ich stehen und sah ihr nach. Zum erstenmal, seitdem Charles seinen kühnen Vorschlag gemacht hatte, in der Nacht gewaltsam einzudringen, war ich voll und ganz damit einverstanden. Ich konnte es kaum noch erwarten, ihm von meinen
Beobachtungen zu berichten. Halide hatte Großtante Harriets Rubinring am Finger getragen. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran. Als sie die Hand gehoben hatte, um John Lethman die Haare zurückzustreichen, hatte das Licht, das von irgendwoher aus dem Zimmer hinter ihm auf sie fiel, den Edelstein auffunkeln lassen. Ein Zweifel war nicht möglich. Und sie hatte aufgelacht, als die Glocke ertönte; sie hatte sich zwar entfernt, aber sich keinesfalls beeilt. Ich starrte ihr noch immer nach und kaute auf meiner Unterlippe. Plötzlich sah ich den von einer Lampe erleuchteten Raum der vorigen Nacht wieder vor mir: die in weite Gewänder gehüllte alte Frau, tief in Wolle und Seide auf ihrem Bett in der Ecke verkrochen, neben ihr Halide, die die ganze Zeit über wachsam um sich blickte; und hinter mir John Lethman... Er kehrte in das Zimmer zurück und schloß die Tür. Ich räumte mir selber drei Minuten ein, ging dann leise von der Galerie hinunter und suchte mir einen Weg zurück zum Hof des Serails. Zunächst glaubte ich, daß Charles’ Alternativplan – der so gut auf eine Vorstadtbühne gepaßt hätte – ebenfalls zum Scheitern verurteilt sei. In der letzten kurzen Stunde zwischen Tageslicht und Dunkelheit – zwischen sechs und sieben Uhr – erkundete ich die Arkade an der Nordseite des kleinen Sees. Ich tat noch immer so, als sei ich lediglich an der Aussicht interessiert, und wanderte von Fenster zu Fenster. Dabei sah ich mir sehr genau die Eisengitter und das Mauerwerk an, in das sie eingelassen waren. Alles war noch in guter Ordnung – viel zu gut erhalten, als daß ich etwas hätte unternehmen können; das einzige Fenster, das nicht vergittert war, hatte man statt dessen mit dicken Läden verschlossen. Gewiß, hier und dort gab es einmal eine Stange, die verbogen oder gebrochen war, oder der Rand des Gitters war durch Rost aus seiner Verankerung in der
morschen Mauer gelöst. Aber das Gitter selber bestand aus starken, sechszölligen Rechtecken, und nur eine Öffnung von der Breite eines halben Fensters hätte ausgereicht, um einen Körper einzulassen. Aber eine solche Öffnung gab es nicht, und die vorhandenen Öffnungen hätten bestenfalls für eine Katze oder einen kleinen, wendigen Hund ausgereicht. Und selbst wenn es eine solche Bresche gegeben hätte, dachte ich verbittert, wäre sie doch irgendwie blockiert gewesen. Ich war selber von meinem Zorn, von meiner Enttäuschung überrascht. Aber so war es nun einmal: Charles und ich waren allzu zuversichtlich gewesen. Schließlich lag dieser Palast doch sehr einsam, und Großtante Harriet stand in dem Ruf großen Reichtums. Es war eigentlich nur selbstverständlich, daß man die Schutzvorrichtungen an den einzigen zugänglichen Fenstern in gutem Zustand erhielt. Das hatte mit dem sonstigen Zustand im Inneren nicht das geringste zu tun. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich volle fünf Minuten dort gestanden, die vergitterten Fenster angestarrt und mich gefragt habe, was zu tun sei, bevor mir der rettende Gedanke kam. Er stellte sich mit der gleichen erhabenen Einfachheit und mit der gleichen Kraft ein wie der Apfel, der Newton auf den Kopf gefallen war. Das eine der Fenster war verschlossen. Das letzte. Und zwar durch einen Laden. Und ein Laden, den man von innen angebracht hatte, ließ sich wahrscheinlich auch von innen entfernen oder öffnen. Ich eilte die Arkade entlang und musterte ihn nun im schwindenden Tageslicht voller Aufmerksamkeit. Auf den ersten Blick wirkte er ungeheuer stabil. Starke Holzläden mit dicken Nägeln wie Bolzen schlossen hier fest übereinander, nicht anders als zweiflügelige Türen. Eine schwere Stange oder eher Latte war auf diese beiden Flügel genagelt, um sie zusammenzuhalten. Aber als ich mir die Sache etwas näher ansah und die Nägel abtastete, stellte ich zu
meiner Freude fest, daß es nicht Nägel, sondern Schrauben waren, zwei an jedem Ende, Schrauben mit großen Köpfen, mit denen ich meiner Ansicht nach leicht fertig werden konnte. Bestimmt würde ich doch unter all dem umherliegenden Gerumpel ein Werkzeug finden, mit dem sich die Sache machen ließe. Ich brauchte nicht lange zu suchen; die meisten Zimmer waren allerdings leer, manche von ihnen sogar Wind und Wetter ausgesetzt, denn ihre Türen waren zerbrochen oder standen weit offen. Aber ich entsann mich eines Raumes, drei Türen weiter – ich war auf der Suche nach der Ausfallpforte buchstäblich fast mit Gewalt eingedrungen –, der eigentlich wie ein ehemaliger Abstellraum ausgesehen hatte. Früher einmal mußte dies ein Schlafzimmer gewesen sein, aber selbst in dem minderwertigsten Hotelführer wäre es als viertklassig eingestuft worden. Das durchhängende Bett, der zerbrochene Tisch und jede freie Stelle des staubigen Fußbodens waren mit einem Wirrwarr nutzloser Gegenstände bedeckt. Ich suchte mir meinen Weg über einen Kamelsattel, eine alte Nähmaschine und ein paar Säbel hinweg bis zu einer Kommode, wo ich, wie ich mich erinnern konnte, ein Papiermesser neben einem Stoß zerfledderter Bücher entdeckt hatte. Es war fest und stabil und sollte sich für die Aufgabe hervorragend eignen. Ich nahm es mit mir bis zur Tür und blies den Staub ab; aber dann stellte ich fest, daß es gar kein Papiermesser, sondern ein echter Dolch war, eine Waffe mit kunstvoll eingelegtem Griff und einer Klinge, die die Hand des guten Schmieds verriet. Ich eilte zu dem mit einem Laden verschlossenen Fenster zurück. Die Schraube, die ich als erste in Angriff nahm, war rostig und tief in das Holz hineingeschraubt, so daß ich sie, nachdem ich mich einige Minuten lang mit ihr abgemüht hatte, aufgab und
mich der nächsten zuwandte. Diese ließ sich schließlich, saß sie auch anfänglich sehr stramm, herausdrehen. Ich trat ans andere Ende. Die Latte verlief ein wenig schräg, so daß ich mich auf die Zehen stellen mußte, um mit den beiden anderen Schrauben fertig zu werden, aber nach einiger Mühe gelang es mir, die eine herauszuziehen und die andere so weit zu lockern, daß ich sie leicht würde entfernen können. Dabei beließ ich es. Es wäre sinnlos gewesen, die Läden jetzt schon zu öffnen, bevor John Lethman verschwunden war. Um die eine verrostete Schraube kümmerte ich mich nicht mehr; sobald es mir gelungen wäre, das eine Ende der Latte zu lösen, brauchte ich sie nur herumzudrehen, wobei die rostige Schraube wie ein Zapfen wirkte, an dem ich die Latte hängen lassen konnte. Es war kaum anzunehmen, daß jemand den Dolch vermissen würde. Ich versteckte ihn unter den Kissen der Fensterbank in meinem Zimmer und ging in den Hammam, um mich zu waschen. Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, begegnete ich gerade noch Jassim, der mir eine angezündete Lampe, eine Flasche Arak und eine Mitteilung von John Lethman brachte, in der dieser mir erklärte, er selber müsse mit Großtante Harriet speisen, aber man würde mir um neun Uhr das Essen bringen, und um zehn würde er selber kommen, um sich zu vergewissern, daß ich alles hätte, was ich für die Nacht brauchte. Die Mitteilung schloß mit den Worten: „Ich habe ihr nicht gesagt, daß Sie zurückgekommen sind. Es schien mir nicht ganz der richtige Augenblick zu sein. Bestimmt werden Sie dafür Verständnis aufbringen.“ Ich glaubte, ganz richtig verstanden zu haben. Ich steckte den Zettel in meine Handtasche und sah die Flasche mit Arak voller Widerwillen an. Wieviel hätte ich für eine gute Tasse Tee gegeben. Er kam, wie er es versprochen hatte, blieb eine halbe Stunde, unterhielt sich mit mir und entfernte sich kurz nach zehn Uhr
dreißig, wobei er das Tablett mit dem Geschirr meines Abendessens mitnahm. Kurz nach elf vernahm ich wiederum das heftige Läuten von Großtante Harriets Glocke und irgendwo im Palast das Krachen einer zufallenden Tür. Danach Stille. Ich löschte meine Lampe, blieb eine Weile sitzen, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, öffnete dann die Tür meines Zimmers und trat in den Garten hinaus. Die Nacht war warm und von Düften erfüllt, der Himmel finster, und er wies jene klare Dunkelheit auf, die man in Gedanken mit dem kosmischen Raum verbindet. Die einzelnen Sterne erschienen mir so groß wie Gänseblümchen, und am Himmel hing eine Mondsichel. Hier und dort ließ ihr Schein die Oberfläche des Sees aufschimmern. Ein paar Nachtigallen sangen um die Wette, eine Art wilden und doch engelhaften Wechselgesangs, vom Wasser her durch das grobe Lärmen der Frösche immer wieder unterbrochen. Im Schatten einer Säule wäre ich fast über ein schlafendes Perlhuhn gefallen, das mit lauten Protesten zwischen den Säulen blindlings davonflatterte, wobei es ein Volk Felsenrebhühner aufscheuchte, die ihrerseits emporschwirrten und schimpfend zwischen den Büschen verschwanden. Ein paar Frösche tauchten, und es klang wie das Knallen von Champagnerkorken. Genauer betrachtet konnte von einem heimlichen Vorwärtskommen kaum die Rede sein, und als ich an das mit dem Laden verschlossene Fenster gelangte, wartete ich mit bis zum äußersten gespannten Nerven auf die Hunde, damit diese in den allgemeinen Protest einfielen. Aber von ihnen war nichts zu bemerken. Ich wartete ein paar Minuten und machte mich dann an meine Arbeit am Fenster. Die Schraube ließ sich mit dem Dolch leicht herausdrehen, und ich zog die Latte herunter. Ich hatte befürchtet, die Läden könnten vielleicht noch auf andere Weise verschlossen worden sein, aber der rechte
bewegte sich, als ich gegen ihn drückte, und öffnete sich schließlich unter einem Ächzen rostiger Angeln, das die ganze Nacht auszufüllen schien. Entschlossen schlug ich ihn bis zur Mauer zurück, wartete und lauschte. Nichts, nicht einmal mehr ein Laut von den Nachtigallen, die vor Angst anscheinend in Schweigen verfallen waren. Um so besser. Ich schlug auch die andere Seite zurück und lehnte mich hinaus. Und wie ich mich hinauslehnen konnte! Ich hatte mit meiner Annahme, warum man hier Läden angebracht hatte, recht behalten: bis auf ein paar Stümpfe vom Alter zernagten Eisens, die hier und dort noch aus dem Mauerwerk ragten, war das Gitter völlig verschwunden. Ich beugte mich über das Fenstersims vor und starrte angestrengt hinaus. Das Fenster mochte etwa zehn Meter über dem Boden liegen; unmittelbar unter ihm verlief der Pfad, der die Nordmauer des Palastes säumte. Jenseits des Pfades fiel das felsige Gelände in einem sanften, mit Büschen, verkrüppelten Bäumen und einigen schlanken Pappeln, die sich an die Kante der Felswand über dem Nähr el-Sal’q klammerten, bestandenen Hang ab. Weiter links konnte ich den ziemlich großen Hain von Maulbeerbäumen erkennen, in deren Schatten der obere Teil des steilen Pfades zur Furt hinunter lag. Nichts Größeres wuchs in der Nähe der Mauer mit Ausnahme der dünnen Pappeln, die zu schmächtig waren, als daß man an ihnen hatte hinaufklettern können; es gab auch keine Schlinggewächse, die an den Mauern emporwucherten. Aber Charles, dachte ich, konnte recht haben, und gerade die Baufälligkeit des Palastes könnte für ihn ein Vorteil sein. Im Mondschein konnte ich nicht viel erkennen, aber hier und dort war die glatte Oberfläche des Mauerwerks unterbrochen oder von etwas überwuchert, und ich nahm an, daß Farne und andere Pflanzen den Mörtel zwischen den Steinen verdrängt
hatten; und die Felsen weiter unten sahen, wenn auch kahl, doch so rauh aus, daß sie einem geübten Kletterer genügend Halt zu bieten schienen. Das aber war eine Sache, mit der sich mein Vetter befassen mußte. Ich spähte angestrengt hinaus, um irgendeine Bewegung festzustellen, möglicherweise sogar das kurze Aufblitzen einer Taschenlampe, konnte aber nichts erkennen. Jenseits der nahen Bäume herrschte nichts als Finsternis, eine weite, stille Finsternis, in der noch dunklere Gestalten lauerten, aber dem Auge war nichts erkennbar bis auf die Reihe von Lichtern des Dorfes und das ferne Flimmern von Schneefeldern unter dem jungen Mond. Seine Kletterei durch die Felswand oberhalb des Nähr el-Sal’q mußte er mit Hilfe des Mondes oder einer Taschenlampe hinter sich bringen, und diese Kraxelei war wahrscheinlich, verglichen mit der, die die kahle Wand unterhalb von mir von ihm forderte, einfach gewesen, denn hier durfte er es auf keinen Fall wagen, seine Taschenlampe zu benutzen. Plötzlich kam mir der Gedanke, ob sich in dem Abstellraum oder irgendwo im Hof ein Seil befinden mochte. Sollte ich eins finden, würde einer der aus dem Gemäuer herausragenden Eisenstümpfe stark genug sein, daß ich ein Seil daran befestigen konnte. Ich hängte mein weißes Handtuch zum Zeichen, daß die Luft rein sei, über das Fenstersims und eilte die Arkade entlang. Am Ende der eingestürzten Brücke bewegte sich etwas zwischen den Büschen. Das war nicht einer der Pfauen, dazu war es zu groß, und es bewegte sich auch zu zielbewußt. Ich blieb stehen, und plötzlich klopfte mein Herz heftig. Die Gestalt brach durch das raschelnde Gebüsch, und tausend Düfte, stark wie Gewürze, schlugen mir aus den zertretenen Blättern entgegen. Dann schlich das Wesen langsam auf den Plattenweg und in den Mondschein hinaus. Einer der Hunde. Fast gleichzeitig hörte ich ein platschendes Geräusch, dem das rasche Tappen von Pfoten auf Stein folgte.
Auch der andere Hund kam am Wasser entlang auf mich zugelaufen. Wie erstarrt blieb ich stehen. Ich glaube nicht, daß mir sofort der Gedanke kam, vor den Hunden selber Angst zu haben; ich nahm jedoch von vornherein an, daß John Lethman mit ihnen zusammen war und sich vom Garten her mir näherte. Was mich erschreckte, war der Gedanke an das verräterische Fenster hinter mir, aus dem mein Zeichen dafür, alles sei klar, heraushing und Charles aufforderte, seine Kletterei zu beginnen... Nun war der zweite Hund neben dem ersten stehengeblieben; die beiden standen nun Schulter an Schulter, regungslos, mit erhobenen Köpfen und gespitzten Ohren. Sie sahen sehr groß und sehr scharf aus. Sie befanden sich zwischen mir und meinem Schlafzimmer. Ohne Rücksicht auf Charles hätte ich in diesem Augenblick viel darum gegeben, John Lethmans Schritte und seine Stimme zu hören, die die beiden zurückrief. Aber nichts rührte sich – sie mußten aus eigenem Antrieb umherstreifen. Flüchtig tauchte der Gedanke in mir auf, wie sie eigentlich in das Serail hatten hereinkommen können; Lethman mußte das Tor, als er sich mit dem Tablett entfernte, offengelassen haben, und ich hatte es in meiner Leichtfertigkeit nicht überprüft. Natürlich würde Charles, falls sie bellten, sie hören und gewarnt sein. Oder wenn sie mich anfielen und ich John Lethman zur Hilfe herbeirief... Es blieb mir nun nichts weiter übrig, als völlig still zu stehen und ihre Blicke zu erwidern. Das Mondlicht schimmerte in ihren Augen auf. Sie hatten die Ohren hochgestellt, und ihre langen, schmalen Köpfe gaben ihnen etwas Raubtierähnliches. Sie erinnerten mich an Füchse. „Gute Hunde“, sagte ich ohne Überzeugung und streckte widerstrebend eine Hand aus. Es folgte eine unangenehme Pause. Dann stieß der größere der beiden plötzlich ein leises Winseln aus, und ich sah, wie er die
Ohren anlegte. Mit einem Gefühl dumpfer Erleichterung bemerkte ich, daß er mit dem buschigen Schwanz wedelte. Der kleinere der beiden Hunde schien das als Aufforderung aufzufassen. Auch er legte die Ohren an, senkte den Kopf und kam mit wedelndem Schwanz auf mich zugekrochen. Ich fühlte mich so erleichtert, daß meine Knie drohten nachzugeben. Ich setzte mich auf die Kante eines Steintroges mit Tabakpflanzen und stieß atemlos hervor: „Gute Hunde, oh, was für gute Hunde! Kommt her – und seid um Gottes willen still...“ Wie, zum Teufel, hießen sie doch noch? Soupy? Soapy? Softy? Bestimmt nicht...! Sofi, richtig, das war es, und Star. „Star!“ rief ich, „Sofi! Kommt her – hierher, das ist brav... Seid still, ihr großen Brocken, ihr großen, lieben Idioten... Wachhunde, daß ich nicht lache ...! Ach, du scheußlicher Hund, du bist ja so naß ...“ Die Hunde waren begeistert. Wir gaben uns einem ziemlich wirren, feuchten und einigermaßen leisen Geschmuse hin, bis ich völlig sicher war, sie in der Hand zu haben. Dann erhob ich mich und tastete nach ihren Halsbändern, um sie hinauszuführen und damit Charles den Weg zu ebnen. „Kommt jetzt mit, meine Freunde. Macht euch jetzt lieber wieder an eure Arbeit, ihr gefährlichen Wächter. Wir können jetzt jeden Augenblick einen Einbrecher erwarten, und da möchte ich euch weit weg haben.“ In diesem Augenblick vernahm ich von einer Stelle unmittelbar unterhalb der nördlichen Mauer Charles’ Zeichen, das scharfe zweimalige Kläffen eines Bergfuchses. Natürlich hatten auch die Salukis es gehört. Ihre Köpfe fuhren hoch, und ich fühlte, wie der größere – der Rüde – vor Spannung zitterte. Aber auf diese beiden Hunde mußte der Fuchs doch recht wenig überzeugend gewirkt haben – oder er mußte ihnen sehr fremdländisch vorgekommen sein, denn als ich wieder nach ihren Halsbändern griff und beschwichtigend
auf sie einredete, ließen sie sich von mir widerstandslos zum Tor führen. Sie waren so groß, daß ich mich nicht einmal niederzubeugen brauchte, und so lief ich mit einer Hand in jedem Halsband den Plattenweg entlang. Das heißt, ich versuchte zu laufen, um mich zu beeilen, aber was für Laute sie auch vom anderen Ende des Gartens her zu hören glaubten, so reizten sie doch so sehr ihre Neugier, daß sie schwer in ihren Halsbändern hingen und mit leisen, winselnden Geräuschen tief in ihren Kehlen hin und wieder zurückblickten. Ich erwartete schon, jeden Augenblick würde ihr Geheul einsetzen. Aber sie blieben still, und schließlich hatte ich sie bis zum Tor gebracht, um es, entgegen allen Erwartungen, fest verschlossen vorzufinden. Keine Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie sie hatten hereinkommen können; wahrscheinlich gab es in den morschen Mauern Dutzende von Löchern, die sie alle kannten. Ich mußte mich jetzt darauf konzentrieren, die beiden wieder auszusperren. Es war ziemlich mühsam, beide Hunde festzuhalten und gleichzeitig das Tor zu öffnen, aber endlich gelang es mir, und ich schob nach einem letzten freundlichen Klaps beide Hunde hinaus, schloß das Tor fest hinter ihnen und ließ den Schnappriegel wieder einrasten. Einen Augenblick herrschte wieder tiefe Stille. Die Laute vom anderen Ende des Gartens her waren verstummt, jedoch glaubte ich, als ich angestrengt hinsah, weit entfernt in der Dunkelheit eine Bewegung zu erkennen. Kurz darauf vernahm ich leise Schritte. Er war eingedrungen. Ich ging ihm schon entgegen, als ich zu meinem Entsetzen die Hunde vor dem Tor heulen und bellen hörte; das eifrige Scharren ihrer Pfoten auf dem Holz kam mir so laut vor, als ob eine Pferdeherde herangaloppierte. Das Bellen klang noch immer unvorstellbar freundlich, viel zu freundlich; wie es schien, verdiente sogar der Eindringling aus der Außenwelt eine lautstarke Begrüßung.
Ich konnte ihn nun ziemlich deutlich erkennen, wie er vor den Säulen der östlichen Arkade her rasch auf mich zukam. Ich eilte ihm entgegen. „Es tut mir leid, aber es sind die Hunde, die verfluchten Hunde! Sie sind irgendwie hereingekommen und machen einen Mordskrach. Ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll!“ Jäh blieb ich stehen. Die schattenhafte Gestalt stand nun vor mir. „Ich bedaure es sehr“, sagte er, „haben sie Sie erschreckt? Jassim, dieser Idiot, hat das Tor offengelassen, und da sind sie hereingekommen.“ Es war gar nicht Charles. Es war John Lethman.
Neuntes Kapitel Aus meinem unedlen Erz sei ein Schlüssel gefeilt, Das Tor aufzuschließen... E. FitzGerald: The Rubáiyát of Omar Khayyám
Wahrscheinlich war es ein Glück, daß die Dunkelheit meinen Gesichtsausdruck verbarg. Es folgte eine lange, entsetzliche Pause, in der mir auch nicht im geringsten einfiel, was ich nun sagen sollte. Verzweifelt versuchte ich mir zu vergegenwärtigen, wie ich ihn begrüßt hatte, und ich gelangte zu dem Schluß, daß ich nicht viel verraten haben konnte, oder er hätte nicht so wenig überrascht gewirkt. Gedankt sei Allah, daß ich ihn nicht als „Charles“ angeredet und mich nicht zum Angriff als der besten Form der Verteidigung entschlossen hatte. „Wie in aller Welt sind Sie hier hereingekommen?“ Ich glaubte, ein flüchtiges Zögern bei ihm zu entdecken. Dann bemerkte ich seine Kopfbewegung. „Ganz hinten in der Ecke gibt es eine Tür. Haben Sie sie auf ihren Wanderungen nicht entdeckt?“ „Nein. War sie denn offen?“ „ Leider. Es ist eine Tür, die wir für gewöhnlich überhaupt nicht benutzen, denn sie führt nur zu einem Labyrinth von Räumen, die zwischen diesem und dem Prinzenhof liegen. Wahrscheinlich haben sein Gefolge und seine persönlichen Sklaven früher dort gewohnt.“ Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Jetzt sind diese Räumlichkeiten nicht einmal mehr für Sklaven geeignet, es gibt dort nichts weiter als Ratten. Die Hunde haben wohl aus diesem Grund dort herumgeschnüffelt – für gewöhnlich dürfen sie nicht einmal in die Nähe der Gemächer des Prinzen kommen, aber Jassim muß irgendwo eine Tür offengelassen haben. Haben sie Sie erschreckt?“ Er sprach
leise, wie man es instinktiv in einer stillen Nacht tut. Ich achtete nur halb auf das, was er sagte, denn ich fragte mich, ob die Laute, die ich zuvor gehört hatte, tatsächlich mit Charles’ Kletterei in Verbindung standen oder doch nur mit John Lethman. Falls letzteres zutraf, mußte auch Charles ihn gehört haben und noch unten am Fuß der Mauer warten. Oder würde er jetzt etwa jeden Augenblick zum Fenster hereinsteigen? Ich hob meine Stimme zu normaler Stärke. „Das haben sie. Aber warum haben Sie gesagt, sie wären so wild ? Tatsächlich sind sie doch sehr freundlich.“ Wieder lachte er auf, aber ein wenig zu bereitwillig. „Manchmal können sie es sein. Auf jeden Fall ist es Ihnen gelungen, sie hinauszuführen.“ „Sie haben mich wahrscheinlich als Angehörigen der Familie erkannt – oder aber sie haben mich gestern mit Ihnen zusammen gesehen, und so wissen sie, daß ich hier sein darf. Sind es nur die beiden? Hatte Tante Harriet nicht früher auch noch kleine Hunde – Schoßhunde?“ „Früher hatte sie noch eine Meute von Spaniels, dann einige Terrier. Der letzte von ihnen ist im vergangenen Monat gestorben. Wäre er noch hier, wären Sie vielleicht nicht so billig davongekommen.“ Wieder das jähe Lachen. „›Schoßhund‹ war kaum die richtige Bezeichnung... Aber hören Sie, die Sache tut mir wirklich leid. Ich nehme an, daß Sie noch nicht im Bett waren?“ „Nein. Ich hatte gerade daran gedacht, mich schlafen zu legen. Ich hatte die Lampe gelöscht und war hinausgetreten, um noch einen Blick in den Garten zu werfen. Können Sie den Jasmin und die Tabakblüten riechen? Gehen eigentlich die Rosen niemals schlafen?“ Während ich sprach, bewegte ich mich entschlossen auf das Tor zu, und er folgte mir. „Und da wir gerade von Schlafen sprechen: schlafen Sie eigentlich auch
nie? Haben Sie jetzt Ihre Runde gemacht, oder wollten Sie nur die Hunde suchen?“ „Beides. Ich hatte mich gefragt, ob Sie wohl doch damit rechneten, Ihre Großtante noch einmal zu sehen.“ „Nein. Das war nicht der Grund meines Aufbleibens. Ich wollte ja gerade zu Bett gehen. Das braucht Sie nicht zu bedrücken, Mr. Lethman, ich verstehe es völlig. Gute Nacht.“ „Gute Nacht. Und weitere Störungen brauchen Sie nicht zu befürchten, ich habe die andere Tür geschlossen und werde darauf achten, daß auch dies Tor versperrt ist.“ „Ich werde es selber schließen“, versicherte ich ihm. Das Tor fiel hinter ihm ins Schloß. Es war noch unterdrücktes Gejaule zu hören, als die Hunde ihn begrüßten, und dann verloren sich diese Laute im Labyrinth des Palastes. Zumindest hatte mir dieses unerfreuliche kleine Zwischenspiel einen guten Vorwand geliefert, das Tor des Serails von innen zu verschließen. Der Schlüssel drehte sich mit einem befriedigenden Knacken herum, und ich eilte zum geöffneten Fenster zurück. Diese Nacht hatte es in sich. Ich hatte zwei Drittel meines Weges am Wasser entlang zurückgelegt, als ein leises „Christy!“ mich jäh zum Stehen brachte. Ein Schatten löste sich aus einem düsteren Eingang und erwies sich als mein Vetter. Es verschlug mir fast den Atem. Wütend und höchst ungerecht fuhr ich ihn an: „Du Oberidiot, hast du mir einen Schrecken eingejagt! Ich glaubte... Wann bist du denn hereingekommen?“ „Kurz vor ihm.“ „Du hast ihn also gesehen?“ „Und ob. Lethman?“ „Ja. Er ist durch eine Tür ganz am anderen Ende hereingekommen. Die Hunde müssen...“ „Einen Dreck ist er! Von der Insel ist er gekommen“, entgegnete Charles heftig.
„Von der Insel? Das ist doch unmöglich!“ „Und ich sage dir, daß ich ihn gesehen habe. Ich hörte, als ich die Mauer halb hinaufgeklettert war, einige seltsame Geräusche, und so bin ich sehr vorsichtig gewesen und habe mich, bevor ich über das Fenstersims hereinstieg, in aller Ruhe ein wenig umgesehen. Da sah ich dich und die Hunde sich auf dem Weg entfernen. Ich ließ dich bis zum anderen Ende gehen, aber dann konnte ich nicht mehr so viel länger dort hängen und zog mich durch das Fenster hindurch. Im nächsten Augenblick sah ich ihn über die Brücke kommen.“ „Aber... bist du auch sicher?“ „Denkst du, ich spinne? Er ist doch nur ein paar Schritte von mir entfernt vorbeigegangen. Ich bin für mein Leben verkrüppelt, denn ich mußte mich dicht unter einen Feigenkaktus ducken. Nachdem er vorüber war, bin ich in eins dieser Zimmer geflüchtet und habe mich versteckt.“ „Aber wenn er die ganze Zeit auf der Insel gewesen ist, muß er beobachtet haben, wie ich das Fenster öffnete. Die Läden haben entsetzlich geknarrt. Er muß doch erraten haben, warum ich sie öffne. Warum hat er mich dann nicht deswegen gestellt oder noch etwas länger gewartet, um zu sehen, was ich vorhatte ? Charles, die Sache gefällt mir nicht! Es ist leicht gesagt, es würde keine großen Unannehmlichkeiten geben, selbst wenn man dich hier erwischte, aber an einem solchen Ort wie diesem würde man ohne weiteres, nur auf Verdacht hin, einen Schuß auf dich abgeben. Und warum hat er nicht gewartet? Was hat er jetzt vor?“ „Meine Liebe, laß etwas Dampf ab. Hätte er dich am Fenster gesehen, hätte er dich selbstverständlich gefragt, was zum Teufel du dort treibst, und was er sich auch dabei gedacht hätte, bestimmt würde er dir das Handwerk gelegt haben. Offensichtlich hat er dich also nicht beobachtet. Das ist damit erwiesen.“
„Nehmen wir es an...“ Hastig fügte ich hinzu: „Jetzt fällt mir ein – ja, die Hunde hätten auf der Insel gewesen sein können. Ich habe Star – das ist der große – in der Nähe der Brücke gesehen, und als Sofi kam, hat es mächtig geplanscht, und sie war naß. Vielleicht hat John Lethman sie dort gehört und ist hinübergegangen, um sie zu holen... ? Nein, das kann auch nicht stimmen, denn dann hätte er mich gesehen. Aber er hätte mich auch gesehen, wenn er durch eine Tür am anderen Ende hereingekommen wäre. Er wäre, als ich noch am Fenster stand, an mir vorbeigegangen. Ach, ich gebe es auf! Charles, was soll nur das alles? Warum sollte er lügen?“ „Das weiß ich nicht. Aber wenn wir wissen, wie, wissen wir auch, warum. Gibt es dort am Ende wirklich eine Tür?“ „Ich weiß nicht, ich habe keine gesehen. Aber alles ist so stark überwuchert, und ich habe auch nicht ernsthaft gesucht, denn es war nicht die richtige Stelle für die Ausfallpforte.“ „Wollen wir nicht mal nachsehen? Irgendwie ist er doch hereingekommen – und nicht zum Haupttor. Und wenn er sich die ganze Zeit über auf der Insel aufgehalten und dich dann nicht gefragt hat, was du da eigentlich treibst, möchte ich doch gern wissen, warum. Läßt sich das große Tor zufällig abschließen?“ „Ich habe es abgeschlossen.“ „Geliebte Christy, du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut! Was, zum Teufel, ist denn das?“ „Ein Pfau. Vorsicht, Charles, die Tiere schlafen alle.“ „Mit katzenähnlichen Schritten schleichen wir des Weges. Kannst du eigentlich im Finstern sehen, Geliebte?“ „Ganz gut, habe es inzwischen gelernt“, antwortete ich. „Nebenbei gesagt, John Lethman kann es auch. Man sollte meinen, daß er, wenn er auf diesem Friedhof seine Runden macht, eine Taschenlampe bei sich hätte, aber nein! Ich darf
wohl annehmen, daß es dir nicht eingefallen ist, eine mitzubringen?“ „Du tust mir sehr unrecht. Unrecht tust du mir, Brutus. Solange wir können, werden wir uns aber ohne sie behelfen.“ „Du bist heute nacht sehr guter Stimmung, was?“ „Berauscht von deiner Gegenwart. Außerdem macht mir die Sache Spaß.“ „Mir auch, das muß ich schon sagen, jetzt, wo du hier bist.“ „Paß auf“, warnte mein Vetter, „ein Feigenkaktus dicht neben deinem Kotflügel.“ Er zog, um mir Platz zu machen, einen Zweig zurück und legte einen Arm leicht um meine Schultern, um mich hindurchzusteuern. Er mußte auch gesehen haben, daß ich lächelte, denn er fragte: „Was soll das? Ein Almosen?“ „Brüderliche Liebe.“ „Bin ich damit gemeint?“ „Du bist doch der einzige Bruder, den ich habe.“ „›Je näher im Blut, desto grausamer‹“, zitierte er leise und blickte in die Nacht. „Da ist, glaube ich, deine berühmte Tür.“ „Wo?“ Er deutete mit der Hand. „Dort hinter dem üppigen Kraut, was immer es ist.“ „Du unwissender Bauer, das ist Jasmin. Hier ist es entsetzlich dunkel, können wir nicht die Taschenlampe benutzen? Schon besser... aha!“ „Was heißt das: aha?“ „Sieh mal“, sagte ich. Charles sah hin. Ihm konnte kaum entgehen, was ich gemeint hatte. Gewiß war da eine Tür, und ebenso gewiß war sie morsch, aber niemand – weder Hund noch Mensch – war seit sehr langer Zeit hindurchgegangen. Kniehoch wuchs das Unkraut vor ihr, und die Angeln sahen wie Wollspindeln aus, so dick waren sie mit Spinnweben überzogen. „Aha, das kann man wohl sagen“, meinte mein Vetter. „Und ein schönes Spinnennetz quer davor, falls wir
angenommen haben sollten, es wäre möglicherweise von der anderen Seite her geöffnet worden. Nein, wie kitschig, hier ist bestimmt nicht an Klischees gespart worden... Aber die Dinge entwickeln sich nur deshalb zu Klischees, weil es die bequemste Art ist, etwas auszudrücken. Nein, diese Tür ist nicht mehr geöffnet worden, seitdem der alte Emir das letztemal im Jahre achtzehnhundertfünfundsiebzig in seinen Harem getrottet ist. Sieh dir nur einmal die Spinnen an. Auf diesem Weg ist also unser John Lethman nicht hereingekommen. Das hatte ich auch kaum angenommen. Zurück, zurück, Horatius!“ „Aber von der Insel her kann es doch gar keinen Weg geben!“ „Wir werden sehen“, meinte Charles sachlich. „Hallo!“ Der Lichtstrahl der Lampe bohrte sich jetzt schmal, hell und konzentriert durch das Unkraut am Fuß der Wand und beleuchtete einen Grabstein, eine schmale, flache Steinplatte, die in das Mauerwerk eingelassen war und einen tief eingemeißelten Namen trug: Jazid. „Nichts weniger als ein Friedhof“, sagte Charles und ließ den Lichtstrahl etwas weiter wandern. Noch ein Stein, noch ein Name: Omar. „Du lieber Himmel, hör auf!“ rief ich. „Meinst du, es ist wirklich ein Friedhof ? Hier drin ? Aber warum in aller Welt... ? Außerdem sind es die Namen von Männern. Sie können also nicht...“ Ich verstummte. Das Licht hatte noch einen Namen erfaßt: Ernie. „Charles...“ „Da wären wir also. Ich kann mich sehr gut an Ernie erinnern.“ „Du lieber Himmel, bleib doch ernst!“ rief ich gereizt. „Du weißt doch ganz genau, daß Großonkel Ernest...“ „Nein, nein, der Hund. Er war einer von den King-CharlesSpaniels, die sie besaß, als sie zum erstenmal hierher kam. Erinnerst du dich nicht an Ernie? Sie sagte immer, er sei nach Großonkel Ernest benannt, weil er immer geistesabwesend war, nur nicht beim Essen.“ Charles wirkte nun selber ziemlich
geistesabwesend, als ob er angestrengt über etwas nachdächte, aber nicht über das, worüber er gerade redete. Der Lichtstrahl bewegte sich weiter. „Es ist der Friedhof ihrer Lieblingshunde, ist dir das nicht klar? Neil, Minette, Jamie, noch immer die Spaniels... Haydee, Lalouk, die klingen mir schon orientalischer... Ach, da ist sie ja. Delilah... Arme Delilah. Das wären sie alle.“ „Für ihn können sie noch nichts hergerichtet haben.“ „Für wen?“ „Für Samson. John Lethman hat mir erzählt, er sei im vergangenen Monat gestorben. Aber sag mal, müssen wir die ganze Nacht auf einem Hundefriedhof verbringen? Was suchst du noch?“ Der Lichtstrahl strich die Mauer entlang, aber begegnete nichts weiter als einem Gewirr von Schlingpflanzen und den gespenstisch bleichen Gesichtern von Blumen. „Nichts“, sagte Charles. „Dann machen wir, daß wir von hier wegkommen.“ „Komme schon, mein Liebling, mein Engel.“ Er schaltete das Licht aus und drückte einen Armvoll Ranken beiseite, um mich durchgehen zu lassen. „Das ist wohl eine Nachtigall, die dort oben ihr liebes kleines Herz hinaussingt? Diese verdammten Rosen, mein Pullover muß inzwischen schon wie ein Büffelfell aussehen.“ „Was muß eigentlich geschehen, um dich in eine romantische Stimmung zu versetzen?“ „Das werde ich dir eines Tages erzählen. Kannst du das dort schaffen?“ „Das“ war die Brücke. Das schwache Mondlicht, das vom Wasser zurückgeworfen wurde, ließ das fehlende Stück klar erkennen; es war nicht so weit, wie ich gedacht hatte, vielleicht eineinhalb Meter. Charles sprang als erster leichtfüßig hinüber und zog mich mehr oder weniger nach, als ich hinter ihm hinübersprang. Kurz darauf trat ich, eine Hand in der seinen,
vorsichtig von der Brücke hinunter auf das felsige Ufer der Insel. Sie war sehr klein, denn sie war nichts weiter als ein kunstvoll angelegter Haufen von Steinen, der mit Stauden und Büschen bepflanzt wurde, die inzwischen verwildert waren, aber die das Auge auf den Hain von schattenspendenden Bäumen lenken sollten (die Art der Bäume vermochte ich nicht zu erkennen), deren Zweige über das Lusthäuschen herabhingen. Es war, wie ich schon gesagt hatte, ein kleiner Sommerpavillon, ein rundes Gebäude mit schlanken Pfeilern, die eine vergoldete Kuppel trugen. Der Eingang bestand aus einem offenen Torbogen, und an den Seiten, zwischen den Pfeilern, zogen sich durchbrochene Steingeländer hin, die, vom Mondlicht getroffen, zauberhafte Muster bildeten. Breite, niedrige Stufen führten vom Ufer hinauf, und ein Gewirr von Schlingpflanzen hing halb über den Torbogen herab und tauchte das Innere in Dunkelheit. Mein Vetter ließ meine Hand los, zog einen Teil der Ranken zur Seite und schaltete die Taschenlampe ein. Mit schwirrendem Flügelschlag schossen zwei Tauben über seinen Kopf hinweg, so daß er sich ducken mußte und deshalb laut vor sich hin fluchte. Dann ging er mir voraus hinein. Das Innere war bis auf ein kleines sechseckiges Becken in der Mitte des Fußbodens, wo früher einmal ein Springbrunnen gesprudelt haben mußte, leer. Ein grüner Fisch, wie von dickem Grünspan überzogen, starrte mit trockenem Maul aus stagnierendem Wasser hinaus, das kaum noch den Lichtstrahl zurückwarf. Auf zwei Seiten war das Innere von breiten, halbrunden Bänken abgegrenzt; sie waren kissenlos und mit Zweigen und Vogelexkrementen übersät. Gegenüber dem Eingang erhob sich eine feste Wand, die in ihrer ganzen Höhe und Breite bemalt war. Charles richtete sein Licht auf sie. Die Malerei war eher persischer als arabischer Stil, denn ich konnte Bäume mit Früchten und Blüten erkennen, Gestalten,
die unter ihnen saßen, in kostbare blaue und grüne Gewänder gehüllt, und eine Figur, die einen jagenden Leoparden darstellen mochte, der hinter einer Gazelle auf goldenem Grund hersprang. Ich konnte mir denken, daß dieses Gemälde bei Tageslicht, ebenso wie alles andere im Palast, ausgeblichen und schmutzig wirken würde, aber in dem flüchtigen Schein, in dem starken Gelb der Taschenlampe sah es bezaubernd schön aus. Die Szene war in drei Felder aufgeteilt, ein Triptychon, von steifen, stilisierten gemalten Baumstämmen geschieden, die den Linien der Pfeiler folgten, die diesen Teil der Wand einrahmten. An dem einen Rand des mittleren Feldes war an einem Baumstamm eine dunkle Linie zu sehen. „Das hätten wir“, sagte Charles und trat näher. „Du meinst, es ist eine Tür?“ Er antwortete mir nicht. Langsam ließ er das Licht über das Bild hinspielen, und seine Hand folgte dem tastenden Lichtstrahl, glitt über die Wand hin und befühlte sie. Schließlich stieß er ein zufriedenes Brummen aus. Von der Mitte eines gemalten Orangenbaums schien sich ein Teil der Blätter abzulösen und sich seiner Hand anzuschmiegen: der Ringbolzen einer Tür. Er drehte ihn herum und zog. Die bemalte Wandfläche öffnete sich leise auf oft benutzten Angeln, und dahinter gähnte Finsternis. Ich bemerkte, wie mein Herz schneller schlug. Eine Geheimtür wird immer erregend wirken, und in dieser Umgebung... „Wohin kann sie nur führen?“ Als er mir durch ein Zeichen befahl, leise zu sein, und mit einem Daumen nach unten deutete, fuhr ich in einem Flüstern fort, das in der jähen Erregung fast zu ersticken drohte: „Du meinst doch nicht etwa, daß hier ein unterirdischer Gang ist?“ „Was denn sonst? Wie du siehst, ist diese Mauer gerade, aber wenn wir sie uns von hinten ansehen würden, vom Wäldchen aus, würden wir feststellen, daß die Außenwand genauso
gebogen ist, wie die anderen es sind, denn das Gebäude ist rund. In diesem Segment ist Platz genug für den Einstieg in den Schacht.“ Er lachte über meinen Gesichtsausdruck. „Nicht so sehr überraschend; diese alten Paläste hatten so viele Türen, Tunnel und geheime Ausgänge wie Wurmlöcher – sehr wichtig in den guten alten Zeiten, als man noch mit bewaffneten Wächtern um das Bett herum schlief und mit ein paar Sklaven zusammen aß, die die Gerichte auf Gift hin probieren mußten.“ Er fügte hinzu: „Hier ist der Harem. Man könnte sich vorstellen, daß der Emir seine private Treppe haben wollte.“ „Mein Gott, das ist alles, was wir brauchen! Nun fehlt uns nur noch ein fliegender Teppich oder ein Geist in der Flasche.“ Er lächelte. „Gib niemals die Hoffnung auf, vielleicht finden wir sie noch.“ Das Licht spielte über die Tür hin. „Er muß auf diesem Weg mit den Hunden hereingekommen sein. In diesem Fall wird sich die Tür wahrscheinlich ziemlich leicht von innen her öffnen lassen, aber ich trau dem Frieden nicht und möchte nicht in alle Ewigkeit dort unten eingesperrt sitzen. Wir wollen etwas suchen, was wir als Keil dazwischenlegen können.“ „Dort hinunter?“ fragte ich beunruhigt. „Du wirst doch nicht etwa hinuntergehen?“ „Warum nicht? Kannst etwa du der Verlockung widerstehen?“ „Ohne weiteres... Nein, Charles, das ist zwar alles sehr aufregend, aber wir sollten es nicht tun. Ich habe das Gefühl, es ist völlig falsch.“ „Das liegt nur an der Umgebung. Wenn dies die Hintertreppe zu Hause wäre, würdest du dir nichts dabei denken. Das ganze Zeug aus Tausendundeiner Nacht heizt dir ein.“ „Wahrscheinlich ist es so. Kannst du sehen?“ Das sagte ich, als er den Lichtstrahl in die Öffnung fallen ließ und über die Schwelle trat. „Ausgezeichnet. Eine steile Treppe, in gutem Zustand und sogar einigermaßen sauber.“
„Das kann ich mir allerdings nicht vorstellen“, erklärte ich, als ich seine ausgestreckte Hand ergriff und vorsichtig über die Schwelle hinweg ihm folgte. Aber es stimmte. Gleich hinter der bemalten Tür führten die Stufen steil hinunter, als Wendeltreppe um eine Mittelsäule herum. Diese schien reich mit Ornamenten versehen, und an der gekrümmten Außenwand waren noch mehr Malereien, ähnlich der an der Tür. Verschwommen erkannte ich Baumstämme, grüne, ineinander verschlungene Äste und einen hellen, mit Blumen übersäten Boden, wo ein Rennkamel, durch die Krümmung der Mauer seltsam verlängert, einen schnurrbärtigen Krieger auf seinem Rücken trug, der einen Säbel schwang, und eine Frau, die gelassen auf einer Zither spielte. In dieser Mauer war ein Geländer aus einem schwärzlich verfärbten Metall befestigt, das möglicherweise Messing war, in regelmäßigen Abständen von zierlich geschmiedeten Eidechsen oder kleinen Drachen gehalten, die im Mauerwerk eingelassen waren. Zweifellos eine Treppe von Bedeutung, eine königliche Treppe, der Privatweg des Fürsten zu den Gemächern der Frauen. Dies war sein gewohnter und keineswegs geheimer Weg gewesen; nichts weiter als seine Privattreppe, ebenso reich verziert und schön ausgestattet wie seine eigenen Gemächer. Das Lusthäuschen war im Grunde nichts anderes als das oberste Stockwerk eines runden Turms oder Felsenschachts, der aus der Mitte des Sees durch das feste Gestein hindurchführte, auf dem der Garten angelegt war. „Kommst du?“ fragte Charles. „Nein... nein, warte mal...“ Ich hielt ihn an der Hand zurück. „Ist dir nicht klar – wenn dies die Treppe des Serails aus den Gemächern des Prinzen ist, so bedeutet dies Großtante Harriet. Sie wird jetzt hellwach sein, und wahrscheinlich wird ihr John Lethman aus der siebenundzwanzigsten Sure des Korans vorlesen.“
Er blieb stehen. „Damit hast du recht. Aber sie muß doch auch noch woanders hinführen.“ „Muß sie das?“ „Die Hunde sind auch auf diesem Weg gekommen. Ich bezweifle, daß sie nachts das Schlafzimmer der alten Dame durchqueren dürfen. Also müssen sie von woanders gekommen sein. Und noch etwas: Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dies könnte der Weg zur Ausfallpforte sein?“ „Natürlich! Sie liegt im untersten Stockwerk des Gebäudes. Aber sollten wir nicht ein bißchen warten? Wenn wir jemandem begegnen...“ „Ich muß zugeben, lieber nicht“, antwortete Charles. „Du hast recht, wir warten lieber noch ein bißchen damit.“ Er folgte mir zurück ins Lusthäuschen, und hinter ihm schloß sich die bemalte Tür lautlos wie gegen ein Polster stillstehender Luft. Nachdem wir in das durchbrochene Licht des Mondes zurückgekehrt waren, fiel es uns leichter, den Weg zu sehen. Er schaltete die Lampe aus. „Um wieviel Uhr versinkt sie in Schlaf?“ „Keine Ahnung“, erwiderte ich, „aber John Lethman ist wahrscheinlich noch eine Weile auf. Willst du versuchen, sie zu sprechen, nachdem er verschwunden ist?“ „Ich glaube, nicht. Falls es sich nicht als dringend notwendig erweisen sollte, möchte ich nicht so vorgehen. Es würde genügen, wenn man mitten in der Nacht so eindringt, einen älteren Menschen zu Tode zu erschrecken. Nein, wenn ich sie überhaupt aufsuche, muß es auf normalem Weg geschehen: also bei Tageslicht, am Haupttor und auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin. Aber nach allem, was bisher geschehen ist, soll mich der Teufel holen, wenn ich von hier verdufte, ohne mich nicht sehr genau umgesehen zu haben. Würdest du anders handeln?“
„Wahrscheinlich nicht. Und wenn ich den Rest der Nacht hier verbringen muß, ist es mir ohnehin lieber, du bist auch da.“ „Nein, solche Leidenschaft!“ meinte mein Vetter mit gelassener Heiterkeit. Wir standen jetzt an der Brücke; er blieb stehen, hielt den Kopf schief und horchte. Es herrschte tiefe Stille. Nichts regte sich. Leise trat er auf die Brücke hinaus, und ich folgte ihm. „Du wirst doch nicht aus diesem Hof hinausgehen?“ flüsterte ich hastig. „Die Hunde würden einen Mordslärm machen...“ „Nein. An dem Teil des Palastes, in den sie dich hineingelassen haben, bin ich nicht interessiert, nur an dem anderen. Übrigens, findest du nicht, daß das fehlende Brückenstück von hier aus breiter aussieht? Glaubst du, du kannst so weit springen, wenn ich dich auffange?“ „Ich kann es versuchen. Charles, hast du eben ›sie‹ gesagt? Willst du etwa irgendwelche geheimnisvollen Vorgänge in die ganze Sache hineindenken? Es gibt doch gar keinen Anlaß zu der Annahme, daß...“ „Wahrscheinlich nicht. Ich werde mich wohl irren. Erzähle ich dir später, du Todesspringer. Los, spring jetzt!“ Ich sprang, rutschte beim Aufsprung aus, aber er bekam mich noch zu fassen und hielt mich fest. Lächerlich, daß mir jetzt erst bewußt wurde, wie stark er war. Wir stiegen von der zerfallenen Brücke hinunter und drängten uns zwischen den raschelnden Büschen hindurch. Über seine Schultern hinweg sagte er zu mir: „Für den Fall, daß wir die Ausfallpforte dort unten nicht finden, schauen wir uns jetzt mal meinen anderen Rückzugsweg an, einverstanden? Ich glaube, dort hinten in dem mit Gerumpel angefüllten Raum habe ich vorhin einen Strick entdeckt – ich glaube es wenigstens. Er würde uns auf dem Weg nach unten das Leben etwas angenehmer machen.“
„Ich hatte mir schon gedacht, dort könnte so etwas sein. Ich war gerade unterwegs dorthin, als die Hunde mich stellten. Glaubst du, daß John Lethman auch in der vergangenen Nacht auf dem Weg über die Insel hereingekommen ist?“ „Darauf kannst du Gift nehmen“, meinte Charles nur. „Aber warum spricht er nicht davon? Warum lügt er? Ist es denn wichtig?“ „ Nur wenn er vermeiden möchte, daß du erfährst, es gäbe einen Weg unter dem See hindurch.“ „Willst du damit sagen, er hätte befürchtet, ich könnte ihn umgehen und auf eigene Faust zu Tante H. vordringen?“ „Möglich. Aber es erscheint mir zu viel Aufwand, um etwas zu verhindern, was ohnehin ziemlich belanglos ist, findest du nicht?“ „Eigentlich ja. Außerdem wäre es ja möglich gewesen, daß ich diesen Weg auf eigene Faust entdeckt hätte. Er hat mich doch nicht daran gehindert, hier umherzugehen und in alles meine Nase zu stecken.“ Wir waren inzwischen auf den Weg mit den Steinplatten gelangt. Nach der Dunkelheit im Lusthäuschen und zwischen den überhängenden Büschen kam es mir dort ziemlich hell vor. Etwas entwich raschelnd, vor sich her gluckend, ins Gebüsch. Ich bemerkte, wie mich Charles mit einem forschenden Blick streifte. „Warum bist du eigentlich nicht schon früher auf die Insel gegangen? Ich hätte angenommen, sie hätte dich als erstes gereizt. Sie ist so ungemein romantisch.“ „Ich hatte auch die Absicht, aber als ich dann an die Brücke gelangte...“ Ich hielt inne. „Ja, ich verstehe. Du meinst, damit hat er gerechnet? Wahrscheinlich hätte ich auch allein die eingestürzte Brücke geschafft, aber es schien die Mühe nicht zu lohnen.“ „Siehst du. Falls du nicht darauf versessen warst, wozu gar kein Anlaß vorlag, konnte er damit rechnen, du würdest dich
kaum damit befassen. Und selbst wenn du hinübergesprungen wärst, hättest du wahrscheinlich niemals bemerkt, daß sich hinter der bemalten Wand eine Tür verbarg.“ „Aber warum hat er mich überhaupt in diesem Hof untergebracht, wenn ihm so viel daran lag, daß ich die Treppe nicht finde? Ich weiß, es ist vielleicht das einzige noch bewohnbare Schlafzimmer hier, aber wenn es für ihn wichtig war...“ „Ganz einfach, weil es das Serail ist und es von vornherein als ein Fünfsternegefängnis angelegt wurde. Jeder andere Teil des Palastes weist wahrscheinlich unzählige Ein- und Ausgänge auf, so mußte er dich also hier unterbringen und dir die Geschichte von den bissigen Hunden auftischen, damit du auch hier drin bliebst. Außerdem“, fuhr er fort, und dabei klang seine Stimme nicht im geringsten beunruhigt, „außerdem werden wir fast mit Sicherheit eine zweite Tür am Fuß der Wendeltreppe finden – die Tür, die Jassim für die Hunde offengelassen hat –, und mit ebenso großer Sicherheit werden wir sie verschlossen vorfinden. Jedenfalls jetzt.“ Ich sah ihn an, aber da die Taschenlampe jetzt nicht brannte, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. „Und wenn sie verschlossen ist?“ „Na ja...“, meinte mein Vetter und beließ es dabei. „Willst du damit etwa sagen, du könntest das Schloß nicht sprengen?“ fragte ich heftig. Er lachte auf. „Das ist das erste Zeichen ehrlicher Bewunderung, das mir von deiner Seite zuteil wird, seitdem ich damals die Tür zum Apfelspeicher mit Karbid sprengte. Christy, mein Liebling, du bist wirklich zur Bankierbraut geboren. Und das kann ich dir versichern: Das Sprengen von Schlössern gehört bei den Mansels eigentlich zu den Pflichtübungen.“
„Ja, verständlich. Aber...“ Ich machte eine Pause und fuhr nachdenklich fort: „Alles läuft doch darauf hinaus, daß hier wirklich etwas faul ist... Ich hatte noch nicht die Zeit, mit dir davon zu sprechen, aber heute nachmittag habe ich Halide Großtante Harriets Rubinring tragen sehen – du erinnerst dich seiner? –, und sie und John Lethman haben bestimmt ein Verhältnis miteinander. Nach ihrem ganzen Benehmen zu schließen, beachten sie Tante H. auch nicht sehr – das erschien mir nach der gestrigen Nacht, als sie in meinem Beisein ihr gegenüber so aufmerksam waren, etwas seltsam.“ Ich berichtete ihm dann in kurzen Zügen von der kleinen Szene, die ich an diesem Nachmittag beobachtet hatte. Er war stehengeblieben, um mir zuzuhören, und im Mondschein konnte ich erkennen, wie er den Kopf aufmerksam gesenkt hielt, aber nachdem ich geendet hatte, nahm er keine Stellung dazu, sondern setzte lediglich seinen Weg durch die Arkade fort. Ich folgte ihm. „Und warum hat er mich belogen?“ fuhr ich beharrlich fort. „Es muß doch einen Grund für die Lügen, wie er hier hereingekommen ist, und auch für die Hunde geben... Gewiß, heute nacht hat er in dieser Hinsicht seine Behauptung etwas abgeschwächt, aber vorher ist er darauf herumgeritten, wie wild sie seien und wie gefährlich es für mich wäre, hier herumzuwandern. Immer wieder unterstrich er, daß sie nachts frei herumliefen.“ „Wahrscheinlich wollte er dich in deinem eigenen kleinen Hof festgehalten wissen, während er mit dem Mädchen beschäftigt war.“ „Aber ich bitte dich“, entgegnete ich schroff. „Dabei hat er sich nicht im geringsten stören lassen, als ich den ganzen Nachmittag im Palast umherwanderte. Außerdem ist ja der Palast, weiß Gott, groß genug. Charles, sie hat wirklich diesen Ring getragen, und wenn du mich fragst...“
„Sei einen Augenblick still, ich möchte das Licht anmachen. Hörst du etwas ?“ „Nein.“ „Dann bleib hier draußen und halt die Ohren offen, währen ich hineingehe und mich nach einem Strick umsehe.“ Er verschwand in der Tür der Rumpelkammer. Nachdenklich blickte ich ihm nach. Vier Jahre hatte ich ihn zwar nicht gesehen, aber noch immer kannte ich jeden Tonfall seiner Stimme genauso wie meinen eigenen. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich war er mir gegenüber verschlossen. Es mußte etwas geben, wovon er wußte, oder etwas, das er vermutete, und woran er mich nicht teilhaben lassen wollte. Er hatte es sehr geschickt gemacht, aber damit war diese Tatsache noch nicht aus der Welt geschafft. „Da“, hörte ich ihn drinnen sagen. „Etwas gefunden?“ „Nicht so lang wie ein Hundeschwanz, auch nicht ganz so stark wie ein Spinnennetz, aber er könnte ausreichen. Halt mal die Lampe, ich möchte sehen, wie fest er ist. Du lieber Himmel, ist der schmutzig... Ich würde allerdings mit dem Ding nicht in die Westwand des Dru steigen, aber er sollte mir die Mauer hinunter ein bißchen helfen können, wenn wir die Hintertür nicht finden.“ Er trat wieder aus dem Raum hinaus und wischte sich den Schmutz von den Händen. „Und jetzt bleibt mir nichts weiter zu tun, als mich zu waschen und zu warten. Sagen wir eine Stunde, was meinst du? Solange ich noch vor Tagesanbruch hier wegkomme... Es wäre sogar möglich, daß der Nähr el-Sal’q bis zum Morgen erheblich gefallen ist, da könnte ich mir viel Mühe ersparen, indem ich ihn gleich unten überquere und wegkomme, bevor mich jemand sieht.“ „Wo hast du jetzt deinen Wagen stehen?“ „Ich habe ihn etwa eine halbe Meile unterhalb des Dorfes abgestellt. Dort gibt es einen kleinen Steinbruch, wo ich ihn von der Straße herunterfahren konnte und er ganz gut versteckt
ist. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, den Rest der Nacht im Wagen zu verbringen und am Morgen selber herüberzukommen, um dich abzuholen, aber es bleibt stets das Risiko, daß jemand den Wagen in der Dämmerung dort stehen sieht und Nasirulla diese Nachricht mitbringt, bevor du aus dem Palast heraus bist. Und wenn ich überhaupt noch die Absicht habe, Tante H. zu besuchen, dürfte es mir ziemlich schwerfallen, dafür eine Erklärung zu finden... So habe ich für Hamid eine Nachricht hinterlassen, sich morgen um halb zehn hier einzustellen, um dich abzuholen. Ich selber fahre nach Beirut zurück und warte dort auf dich. Und jetzt zeig mir dein Badezimmer, Christy, mein Engel, und dann lauschen wir den Nachtigallen, während ich mir meine Dietriche zurechtlege.“
Zehntes Kapitel Oh, geh leise, sagte Christabel. S. T. Coleridge: Christabel
Aber dann brauchten wir sie doch nicht. Als wir wieder hinaustraten, war der schmale Mond höher gestiegen, stand jetzt ein Stück über den Bäumen der Insel, und bei seinem schwachen Licht brachten wir die Brücke wieder hinter uns und kehrten in das Lusthäuschen zurück. Die bemalte Tür schwang lautlos auf, und Charles legte einen Stein an die Schwelle. Der Lichtstrahl der Taschenlampe schoß uns voraus in die schwarze Leere, als wir vorsichtig hineintraten und anfingen, die Wendeltreppe hinunterzugehen. Die Malereien glitten an uns vorbei, gespenstisch in dem sich bewegenden Licht. Kuppeln und Minarette, Zypressen wie Speerspitzen, Gazellen, Falken, arabische Hengste, Obstbäume und singende Vögel... und unten die Tür. Natürlich geschlossen. Im Schein des schwachen Lichts wirkte sie massiv und undurchdringlich, aber als Charles sie berührte und vorsichtig an ihr zog, öffnete sie sich zu meiner Überraschung ganz leicht und mit der gleichen, gut geölten Lautlosigkeit wie auch die obere. Da bemerkte ich, daß der Riegel verschwunden war, und wo das ursprüngliche Schloß gesessen hatte, war nur noch zersplittertes Holz. Dieses gesprengte Schloß gehörte zweifellos mit zu der Geschichte dieses Palastes... In jüngerer Zeit hatte man die Tür dann wieder sichern wollen, indem man eine Krampe, eine Haspe und ein Vorhängeschloß anbrachte, aber ein Schloß kann immer nur so stark sein wie seine Verankerung, und diese war, ebenso wie alles übrige in diesem Palast, morsch. Das Vorhängeschloß war zwar noch immer da, es war auch
geschlossen, aber auf der einen Seite war die Haspe aus dem verfaulten Rahmen gerissen und hing herunter, eine einzige Schraube steckte noch in dem einen Loch, und das andere war leer. Auf diese Weise waren also die Hunde hinausgelangt. Es war durchaus möglich, daß sie selber das Schloß heute nacht gesprengt hatten, sonst wäre es bestimmt wieder instand gesetzt worden. Diese Beschädigung stammte offensichtlich aus jüngster Zeit, denn am Boden lagen noch Splitter und Holzmehl, und als Charles den Lichtstrahl über den Boden spielen ließ, sah ich auch die heruntergefallene Schraube aufschimmern. „Glück gehabt“, sagte er leise. „Ein Glück für die Wachhunde“, flüsterte ich. Er lächelte und machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Auf leisen Sohlen ging ich hinter ihm durch die Tür. Es war sehr dunkel, ein großer gewölbter Gang mit rauher Decke, auf der der Lichtstrahl schwach und armselig wirkte. Wir waren am Ende einer T-förmigen Querverbindung und in einem Gewölbe, das durch Kreuzbögen gebildet wurde. Unsere Tür schloß das eine Ende des Hauptschaftes des T ab. Ein paar Schritte von uns entfernt führte ein offener Gang nach links in Finsternis hinein, ein Tunnel, durch den ein Luftzug hereinströmte. Genau vor uns und damit den Hauptschaft des T abschließend, befand sich eine andere Tür. Ebenso wie das Haupttor des Palastes war auch diese Tür aus Bronze, ihre einzelnen Felder und die Oberfläche kunstvoll bearbeitet – trotz Alter und schädigender Einflüsse hatte die Oberfläche die seidige Schönheit mit der Hand gehämmerten Metalls bewahrt. Auf beiden Seiten ragten verzierte eiserne Halter aus der Mauer, in die man früher Fackeln gesteckt hatte; unter ihnen wurden Nischen in der Mauer sichtbar, mannshoch und Schilderhäusern ähnlich. Der Gang selber wies in den Stein gemeißelte Ornamente auf; hier und dort waren noch Spuren abgeblätterter Farbe zu sehen. „Das muß die Tür des Prinzen
gewesen sein“, flüsterte ich. „Du hattest recht, es ist der untere Gang in das Serail. Wollen mal sehen, ob die Tür abgeschlossen ist.“ Aber er schüttelte den Kopf und ließ das Licht von der Tür in den Gang zur Linken hineinspielen. „Zunächst einmal der Rückzugsweg“, erwiderte er leise. „Dieser Weg führt zur Ausfallpforte, wetten? Mal nachsehen!“ Der Gang war lang und gekrümmt, nicht ganz eben und sehr dunkel. Wir kamen nur langsam vorwärts. Soweit ich feststellen konnte, waren die Wände hier aus gewachsenem Fels – keinerlei Malereien –, und in bestimmten Abständen steckten eiserne Halter für Fackeln in der Felswand. Auch der Boden war uneben, große Steinplatten, von holprigem Pflaster gesäumt, alles abgetreten, schmutzig und voll trügerischer Löcher. Einmal brachte mich ein Rascheln in der Finsternis zum Stehen; ich packte Charles’ Arm, aber die Ratte oder was es gewesen sein mochte, huschte davon, ohne daß ich sie gesehen hatte. Der Gang bog nach links ab, stieg ein wenig an und traf im rechten Winkel auf einen anderen. Wir blieben an der Querverbindung stehen. Unser Gang war der Hauptschaft eines anderen T, diesmal aber war das Querstück größer. Charles schaltete das Licht aus, und eine Weile horchten wir. Die Luft war hier frischer, und man konnte ohne weiteres davon ausgehen, daß dieser Gang Verbindung zu frischer Luft hatte. Dann vernahm ich von rechts her schwach das Schnüffeln und Winseln der Hunde. Charles ließ sofort das Licht aufblitzen: wir sahen den unebenen Boden des Tunnels in breiten und sehr niedrigen Stufen ansteigen. „Dieser Gang führt wahrscheinlich zu dem Tor, das du im Midan gesehen hast, und das bedeutet, falls ich mich nicht irre...“ Er ließ den Lichtstrahl nach links spielen, und fast augenblicklich schien er sich auf etwas zu konzentrieren, das in der Mitte des abfallenden Ganges lag. Eine unterbrochene Spur von
Exkrementen, von einem Pferd oder einem Maultier. „Ich habe mich nicht geirrt“, sagte er. „Hier entlang.“ Bald darauf blickten wir durch das Gehölz am Rand der Adonisschlucht. Die Ausfallpforte war in den gewachsenen Felsen eingelassen, in einer tiefen Nische; sie lag unterhalb der Ebene des Felsplateaus hinter dem Palast. Eine steile Rampe, aus dem Felsen ausgehauen, führte durch das Gehölz bis zu ihr, und die Wurzeln der Maulbeerbäume, die auf gleicher Höhe mit dem Oberbalken der Tür lagen, waren bloßgelegt und wanden sich wie die von Mangroven über den oberen Teil der Tür hinweg. Ein Strebepfeiler schützte sie auf der Außenseite, und Unkraut und Schlingpflanzen wuchsen üppig zwischen den Baumwurzeln und hingen von oben über den Einschnitt im Felsen herab. Jeder, der sich vom Plateau her näherte, hätte nichts weiter als den Stützpfeiler gesehen, der dort bis in das Gehölz vorsprang, und an ihm vorbei den Absturz in die Adonisschlucht. Die Rampe war gerade breit genug für ein mit Lasten beladenes Tier, und das Tor war massiv und mit breitköpfigen Nägeln beschlagen. Es befand sich in ausgezeichnetem Zustand, war verschlossen und verriegelt. „Siehst du“, sagte mein Vetter. „Gerade groß genug, um ein Maultier oder ein Pferd durchzulassen – ein Notausgang – und dahinter der lange Gang, der unter dem Serail hindurch zum Midan hinaufführt. Das wird mir auf jeden Fall, Allah sei gedankt, die Kletterei ersparen. Nett von ihnen, den Schlüssel im Schloß zu lassen, findest du nicht? Komm jetzt wieder herein – nein, schieb nicht wieder die Riegel vor, ich glaube, wir lassen es lieber unverschlossen.“ Als wir wieder innerhalb des geschlossenen Tors standen, blickte er auf seine Uhr. „Zwei Uhr durch. Sie können doch bestimmt nicht die ganze Nacht wach bleiben?“ „Wenn hier jemand noch wach ist, wird es nur Tante Harriet sein.“
„Ja“, sagte mein Vetter. „Na ja...“ Er blickte zu Boden und spielte mit dem Knopf der Taschenlampe. Als sie wieder aufblitzte, konnte ich sein Gesicht sehen. Es wirkte geistesabwesend, ja sogar düster. Plötzlich blickte er auf. „Wollen wir jetzt zurückgehen?“ „Zurück. Zur Tür des Prinzen? Auch sie wird wohl versperrt sein.“ Etwas von den alten Geheimnissen dieses Ortes mußte wohl ausstrahlen, denn ich spürte, wie ich fast voller Erleichterung sprach, und ich sah, wie er mich erneut mit einem Blick streifte. „Möglich, aber ich bezweifle, daß sie im Innern alles abgeschlossen halten. Christy...“ „Ja?“ „Willst du weitergehen?“ „Weiter?“ Wir waren inzwischen an die erste TQuerverbindung gelangt und bogen auf das lange gerade Stück ein. „Du meinst hier hinten ? Wohin könnten wir denn sonst gehen?“ „Ich meine, weiter zur Prinzentür. Oder möchtest du lieber in das Serail zurückkehren?“ „Möchtest du?“ „Nein, jetzt nicht. Aber wenn du dich lieber aus dieser Sache zurückziehen und mir den Rest überlassen möchtest...“ „Ich bitte dich! Ich habe keine Angst vor John Lethman, selbst wenn es bei dir der Fall sein sollte.“ Er wollte etwas entgegnen, schien es sich dann aber überlegt zu haben, lächelte und sagte lediglich: „En avant, mes braves!“ So gingen wir weiter. Die Prinzentür war nicht verschlossen. Lautlos öffnete sie sich. Hinter ihr lag ein langer gewölbter Gang, stockfinster, sehr still und völlig leer. Charles blieb stehen. Der Lichtstrahl schien sich in der Finsternis vor uns fast zu verlieren. Ich glaubte, daß
er einen Augenblick zögerte, aber dann ging er weiter. Ich folgte ihm. Der Gang war, ebenso wie der Schacht der Wendeltreppe, ursprünglich reich verziert gewesen, aber obwohl er gefegt und der Boden einigermaßen sauber war, befand er sich in ziemlich schlechtem baulichem Zustand. Die an die Wände gemalten Landschaften waren ausgeblichen und blätterten ab, und selbst beim Licht der Taschenlampe war zu erkennen, daß sie sehr schmutzig waren. Der Boden bestand aus Marmor, bedeckt mit schäbigen, zerfetzten Matten, auf denen unsere Schritte geräuschlos blieben. Die Luft war still, stickig und roch nach Staub. Auf beiden Seiten befanden sich in Abständen Eingänge, wie ich sie schon von meinen Wanderungen durch den Palast her kannte, die meisten von ihnen gähnende, finstere Löcher, in denen zerbrochene Türen hingen, die sich ins Leere oder auf Gerumpel öffneten. Charles ließ sein Licht in den ersten dieser Räume hineinspielen, der nichts weiter als große irdene Krüge zu enthalten schien. „Niemand weiter hier als vierzig Räuber“, meinte er. „Was hast du erwartet?“ „Gott weiß ... Und dort ist Aladins Höhle. Schauen wir mal einen Augenblick hinein.“ Zunächst konnte ich nicht erkennen, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Dieser Raum schien etwa das gleiche Gerumpel zu enthalten wie die „Rumpelkammer“ im Serail: Möbelstücke, Zierat, Spinnweben – der gleiche langweilige und seit Jahren nicht mehr beachtete Kram. Auf einer wackligen Kommode ein Stoß Bücher, die etwas weniger staubig wirkten als das übrige. Der Lichtstrahl glitt die Bücher entlang, und ihm folgten Charles’ wählerische Finger. Den dicksten Band drehte er mit dem Buchrücken nach außen herum. „Habe ich mir doch gedacht.“
„Was ist es?“ „Chambers’ Lexikon.“ Er hatte das Buch in seiner Hand aufgeschlagen, und ich blickte im Licht der Taschenlampe hinein. „Nein, wie nützlich. Wußtest du, was ein Torskfisch ist? Das ist das gleiche wie eine Brosme oder ein Lumb. Was man nicht alles lernt! Kreuzworträtsel, Charles.“ „Ganz richtig.“ Er klappte das Buch zu, und eine Staubwolke erhob sich. Dann griff er nach einem andern. Es war kleiner als das Lexikon, sah jedoch mit seinem dicken Ledereinband, der, soweit sich dies unter dem feinen grauen Staub erkennen ließ, reich verziert war, irgendwie gewichtiger aus. Mit diesem Buch ging er behutsamer um, und nachdem er den Staub weggeblasen hatte, sah ich den Goldschnitt aufschimmern. „Was ist es?“ „Ein Exemplar des Korans, und im übrigen ein ziemlich prächtiges. Sieh es dir mal an.“ Das Papier war dick und fühlte sich kostbar an. Die arabische Schrift, für sich allein schon schön, wurde durch die zierlichen Ornamente, die die Anfänge der einzelnen Suren oder Kapitel schmückten, noch hervorgehoben. Ganz gewiß kein Buch, von dem ich angenommen hätte, daß es jemand in ein staubiges Zimmer verbannen und damit der Vergessenheit überantworten würde. Er legte es ohne jede weitere Bemerkung wieder hin und ließ das Licht über das übrige Gerumpel hingleiten. Plötzlich blieb es stehen. „Siehst du, was ich sehe?“ Anfänglich vermochte ich unter all dem grauen, namenlosen Kram nichts weiter zu sehen als eine sehr schäbige Violine, etwas, das einem Paar Rollschuhen ähnelte, und ein Gewirr von Lederriemen, Schnallen und Quasten, in dem ich schließlich ein Zaumzeug erkannte. Dahinter und von ihm halb
verborgen zwei staubige Gegenstände, die nach Nippes aussahen. Porzellanhunde. Noch immer starrte ich sie gute fünf Sekunden an, bevor ich darauf zustürzte. „Charles! Doch nicht etwa deine Geisterhunde?“ „Und ob!“ Er kniete im Staub neben dem Lederzeug nieder. „Halt doch bitte mal die Lampe!“ Ich beobachtete ihn, wie er vorsichtig das Zaumzeug beiseite legte und eine der Porzellanfiguren in die Hand nahm. Mit einiger Verwunderung bemerkte ich, wie vorsichtig, fast andächtig er mit diesem Gegenstand umging. Er holte ein Taschentuch aus seiner Tasche und begann, den Staub wegzuwischen. Langsam kam die Figur unter der sanften Behandlung durch das Taschentuch zum Vorschein. Es war ein Geschöpf, das ein Hund oder ein Löwe hätte sein können, etwa fünfzehn Zentimeter hoch und aus einem gelblichen, lebhaft wirkenden Porzellan mit schimmernder Glasur hergestellt. Es saß auf seinen Hinterbeinen, eine Vorderpfote am Boden und die andere leicht auf einer mit Streifen geschmückten Kugel aufgesetzt. Der Kopf war über eine Schulter zurückgewandt, mit starrem Blick, die Ohren zurückgelegt und das breite Maul zu einem Lächeln geöffnet, so wie Hunde lächeln können. Es hatte eine dichte, wallende Mähne, und der buschige Schwanz war auf dem Rücken zusammengerollt. Der Hund hatte einen Ausdruck fröhlicher Wachsamkeit und verspielter Wildheit. Sein Weibchen, das noch am Boden stand und dessen helles Fell von Staub verdunkelt war, hatte anstelle einer Kugel ein Junges mit buschigem Schwanz unter der Vorderpfote. „Mein Gott, wer hätte das gedacht!“ rief Charles leise. „Wie findest du sie?“ „Mich mußt du nicht fragen, ich verstehe nichts von diesen Dingen. Sollen sie wirklich Hunde darstellen?“
„Man bezeichnet sie als Fus Hunde oder buddhistische Löwen. Niemand scheint ganz sicher zu sein, was für Tiere sie eigentlich waren.“ „Wer war Fu?“ „Der Buddha selber. Es sind die einzigen Geschöpfe in der buddhistischen Mythologie, die töten dürfen, und dann auch nur zur Verteidigung Buddhas, ihres Herrn. Offiziell sind sie die Wächter seines Tempels.“ Er drehte das glänzende Tier in seinen Händen hin und her. Das runzlige, gemütlich-breite Gesicht lächelte mich wie ein Chinese über die hübsche Kugel hinweg an. „Weißt du“, sagte ich, „ich habe das Gefühl, als ob ich mich ihrer erinnere. Aber warum, meinst du, hat man sie hier abgestellt? Ich hätte gedacht. ..“ „Ja“, murmelte Charles. Er setzte den Hund wieder auf den Boden, richtete sich jäh auf und nahm mir die Lampe aus der Hand. Ich hatte den Eindruck, daß er nicht ein Wort von dem, was ich sagte, gehört hatte. „Fahren wir nun in unserem Programm fort?“ Ohne auf eine Antwort zu warten und ohne noch einen Blick auf das Gerumpel im Zimmer zu werfen, ging er vor mir rasch auf den Gang hinaus. Es herrschte noch immer die gleiche Stille, die gleiche Dunkelheit, und es war noch derselbe Geruch abgeschlossener, staubiger Luft. Die Bäume der ausgeblichenen, gemalten Landschaft glitten vorbei, hin und wieder von den dunklen, höhlenähnlichen Eingängen leerer Zimmer unterbrochen. Dann bog der Gang vor uns leicht nach links ab, und an der Außenseite der Krümmung fiel das Licht der Taschenlampe wieder auf einen Eingang, ebenso gewölbt wie die anderen, und doch ganz anders. Dahinter gähnte keine leere Höhle, und es war auch kein verfallendes, morsches Holz zu sehen. Diese gewölbte Türöffnung wurde durch eine Tür aus Eichenholz
versperrt, ganz neu und fest, und sie war nicht nur verschlossen, sondern es war sogar ein neues Vorhängeschloß angebracht. Einen Augenblick ruhte das Licht auf diesem Schloß und wanderte dann zur nächsten Tür weiter. Auch dort ein neuer Anblick. „Richtige Schatzkammern, was?“ sagte ich leise. Mein Vetter antwortete nicht. Das Licht glitt langsam die Tür entlang nach oben zum vergitterten Luftloch, wieder hinunter und ruhte dann auf dem, was neben der Tür stand. Er trat näher, um es sich genauer anzusehen, und ich folgte ihm. Zwischen den beiden Türen standen, an der Wand aufgeschichtet, Dutzende von Büchsen von der Größe kleiner Ölbüchsen, hellgelb und mit einem Bild auf dem Etikett. Als der Lichtstrahl auf sie fiel, erkannte ich auf der mir am nächsten die Aufschrift in großen schwarzen Buchstaben: Feinstes Speiseöl. Ideal für Braten, Mayonnaise und Salate. Und darunter noch etwas anderes. Ich blieb jäh stehen. Das Licht schwenkte rasch zu mir zurück. „Was ist dir?“ „Ach, diese Büchsen“, antwortete ich und blinzelte in den Lichtstrahl hinein, der von meinem Gesicht herunterglitt und zu dem Stapel neben der Tür zurückkehrte. „Ich habe gerade bemerkt... ich kann mich nur nicht erinnern, wo ich das schon zuvor gesehen habe. Ach ja, jetzt fällt es mir ein! Es ist nichts weiter, Charles, nur das rote Bild auf den Büchsen, der rennende Hund.“ „Ja und? Was ist mit ihm?“ „Wahrscheinlich nichts weiter. Es ist nicht wichtig. Nur daß ich ihn schon früher einmal gesehen habe.“ „Wo?“ Ich sah ihn verwundert an. Seine Stimme klang interessiert, fast scharf. „Sonntag nachmittag, drüben in dem Dorf, in das Hamid mich geführt hatte. Habe ich dir nicht davon erzählt? Das
Sonnenblumenfeld mit dem kleinen Zeichen am Baumstamm, der rote Hund, von dem ich fand, er sähe wie ein Saluki aus.“ „Ist das der gleiche?“ „Ich glaube.“ Wir beugten uns näher hinab, und nun konnte ich unter dem Bild des rennenden Hundes in noch kleinerer schwarzer Schrift lesen: Marke Jagdhund. Beste Qualität, vor Nachahmungen wird gewarnt. „Sal’q“, sagte mein Vetter, fast nur zu sich selber gewandt. Der Lichtstrahl lag voll auf der Büchse. Er sah aus, als sei er in Gedanken versunken. „Bitte?“ „Das ist gleichbedeutend mit ›Jagdhund‹, wußtest du das nicht? Das Wort Saluki ist das arabische seluqi oder slughi und bedeutet ›Jagdhund‹. Ich bin der Ansicht, daß Nähr el-Sal’q eine Art Verballhornung darstellt und eigentlich ›Jagdhundfluß‹ bedeutet. Mit anderen Worten, ein hiesiges Erzeugnis. Es ist das gleiche Bild, das du auch auf dem Feld gesehen hast?“ „Genau das gleiche.“ Ich richtete mich auf. „Es wird sich bestimmt um ein hiesiges Erzeugnis handeln – wahrscheinlich Sonnenblumenöl, und was ich gesehen habe war eine Markierung für das Feld. Ich glaube, irgendwo gelesen zu haben, daß die Bauern solche Markierungen für ihre bebauten Felder benutzen – das hat wohl einen gewissen Sinn, da viele von ihnen nicht lesen können. Mein Gott, das muß ja einen Konsum von etwa zehn Jahren darstellen! Wozu haben sie nur so viel gebraucht?“ Er hob eine der Büchsen an und stellte sie wieder hin. „Leer“, sagte er nur und wandte sich ab. Ich sah ihn neugierig an. „Warum so interessiert?“ „Nicht hier“, erklärte er, „nicht jetzt. Wir wollen erst einmal dies zu einem Ende bringen, einverstanden? Und wir sollten lieber nicht mehr reden.“
Als wir um die Biegung des Gangs herumkamen, wobei wir sehr wachsam waren, erblickten wir etwa dreißig Schritte vor uns eine Treppe, die in einem weiten Bogen zu einem Absatz und zu noch einer Türwölbung führte. Die Tür stand offen, bis dicht an die Wand gedrückt, aber an ihrer Stelle versperrte ein schwerer Vorhang die Öffnung. An der einen Seite des Vorhangs zeigte sich ein Lichtstreifen. Wir blieben regungslos stehen und horchten. In der abgeschlossenen Luft kam mir sogar unser Atem laut vor. Aber nichts regte sich; kein Geräusch drang hinter dem Vorhang hervor. Behutsam die Lampe mit den Fingern abschirmend, so daß sich nur ein rosiger Lichtschimmer wie ein Glühwürmchen dem Vorhang zu nähern schien, stieg Charles die Treppe hinauf und ging vorsichtig über den Absatz auf den Eingang zu. Er blieb neben dem Vorhang stehen, und ich wartete dicht hinter ihm. Die Lampe war jetzt ausgeschaltet, und das einzige Licht war der Schimmer am Rand des Vorhangs. Noch immer kein Laut. Aber jetzt roch ich den seltsam scharfen Geruch von Großtante Harriets Tabak. Hier mußte der Diwan des Prinzen liegen, und sie war uns wahrscheinlich ganz nah. Vielleicht hatte sie gelesen, dachte ich, und war über ihrem Buch eingeschlafen. Ihren Atem konnte ich nicht hören, aber dieser Raum war ja auch so groß, und wenn sie vor dem Einschlafen die Bettvorhänge vorgezogen hatte... Mein Vetter streckte entschlossen die Hand aus und zog den Rand des Vorhangs ein wenig zurück. Er näherte ein Auge der Spalte, und ich beugte mich vor, um auch etwas zu sehen. Es war tatsächlich das Schlafgemach des Prinzen. Und dies war der Vorhang hinter Großtante Harriets Bett. Der Raum war nur wenig beleuchtet; der Lichtstreifen am Rand des Vorhangs war uns nur im Vergleich zu der Finsternis, in der wir selber standen, so hell erschienen. Die Lampe stand auf dem Tisch, ihr Docht heruntergedreht, nichts weiter als ein
Glimmen. Aber da ich das Zimmer kannte, konnte ich mich ganz gut orientieren. Alles war genauso wie gestern abend: der rotlackierte Stuhl, das nicht abgespülte Geschirr auf dem Tisch, das Sammelsurium eines Hypochonders auf der Kommode, die Schüssel auf dem Boden mit der Aufschrift Hund, jetzt von der Milchschale für die Katze halb verdeckt, und auf dem Bett... Einen atemlosen Augenblick lang glaubte ich, daß auch Großtante Harriet da sei, nur ein paar Schritte von uns entfernt, und dort saß, wo sie gestern nacht in ihrer Umhüllung von Schals und Seidenstoffen gethront hatte; dann bemerkte ich, daß das Zimmer leer war. Im dunklen Schatten am Kopfteil des Bettes lagen nur ein Haufen Decken, die rote Jacke, die sie ausgezogen hatte, und das wollige Häufchen eines Schals. Einen Augenblick später durchlief mich von neuem eine kalte Welle der Übelkeit. Ich erschauerte, als die Katze ihren Kopf hob und uns von dem zerwühlten Bett aus betrachtete. Charles erblickte sie gleichzeitig mit mir, und als ich jäh zurücktrat, ließ er den Vorhang fallen und folgte mir. Er legte seine Arme um mich. „Schon gut, schon gut, sie kommt nicht.“ „Bestimmt nicht?“ „Natürlich nicht. Du brauchst nichts zu befürchten, beruhige dich nur.“ Ich fröstelte, und die Arme drückten mich noch fester. Mit meinem Kopf reichte ich gerade bis zu seinem Backenknochen. „Warte ein bißchen“, flüsterte er, „dann gehen wir.“ Er hielt mich eine Weile fest, bis das Frösteln nachließ und ich spürte, wie die Kälte aus meinem Körper wich. Es war sehr dunkel und still. An seinem Atmen erkannte ich, daß er den Kopf abgewandt hatte und wachsam lauschte. Dann drehte er sich mir wieder zu, und ich merkte, wie er tief Luft holte, um zu reden. Dann aber drückte er unerwartet und doch verstohlen seine Wange an mein Haar. „Christy...“ „Ja?“
Eine kleine Pause. Der Atem entwich wie ein leichtes Seufzen und strich über mein Haar hin. „Nichts weiter. Geht es dir wieder besser?“ „Ja.“ „Dann komm.“ „Willst du... willst du nicht lieber warten, um sie zu sehen? Ich glaube kaum...“ „Nein. Vergiß es, wir gehen zurück.“ „Es tut mir leid, Charles.“ „Das sollte es auch.“ Es lag leichter Spott in seinem Flüstern. „Nur Mut, meine Süße, sie wird dich nicht holen. Sei ein tapferes Mädchen. Charles wird für dich gegen die böse Katze kämpfen.“ Das Entsetzen verließ mich wieder. Ich mußte lachen. „Der große, tapfere Charles“, sagte ich. „Und wenn wir jetzt den Hunden begegnen? Ich habe es jetzt wieder überstanden, ich danke dir.“ „Wirklich? Dann soll jetzt, glaube ich, diese Nacht ihr Ende haben. Zurück in deinen Harem, mein Mädchen.“ Die bemalte Tür stand noch immer offen, und die Luft draußen in dem Lusthäuschen war wunderbar frisch und würzig. Wir gingen die Brücke bis zu dem eingestürzten Stück entlang, und ich sprang hinter ihm hinüber. Er ließ mich jedoch nicht gleich weggehen. „Christy...“ Er sprach leise und schnell. „Ich muß dir etwas sagen.“ „Ich habe es gewußt. Ich wußte, daß du mit etwas hinterm Berg gehalten hast. Was ist es?“ „Ganz so liegt die Sache nicht. Es gibt nichts, was ich weiß. Sagen wir lieber, ich hätte einige Vermutungen, und ich weiß, daß etwas ganz und gar nicht stimmt, und ich habe das Gefühl, als ob wir da einem ganz dicken Hund auf der Fährte sind. Aber – und ich bitte dich, dich nach Möglichkeit damit abzufinden – ich werde es dir jetzt noch nicht sagen.“
„Warum nicht?“ „Aus dem einfachen Grund, weil du bis morgen früh hierbleiben mußt, während ich das nicht nötig habe. Nein, hör mir zu... Du mußt John Lethman wieder gegenübertreten und dich ihm gegenüber höflich und normal verhalten, und du weißt ja auch nicht, ob es sich nicht Großtante Harriet wieder in den Kopf setzt, dich nochmals zu sehen und...“ „›Höflich und normal‹ John Lethman gegenüber? Dann stimmt also doch etwas mit John Lethman nicht?“ „Ich habe dir gesagt, daß es nur Vermutungen sind. Das meiste davon sind jedenfalls nur Vermutungen. Aber du mußt hierbleiben.“ „Je weniger ich also weiß, desto besser ist es?“ rief ich spöttisch. „Sehr gerissen, lieber Chas, sehr gerissen. Hol dich der Teufel, ich kann doch wohl die Harmlose spielen oder etwa nicht? Ich tue es doch die ganze Zeit über. Du kannst einem wirklich auf die Nerven gehen! Genau betrachtet bin ich es schließlich, die hier mittendrin steckt, und nicht du! Los, du mußt es mir sagen! Ist etwa John Lethman Tante Harriets Geliebter oder etwas Ähnliches?“ „Du lieber Himmel!“ rief Charles, „wenn das alles wäre...“ Natürlich setzte ich ihm zu, aber ich konnte ihn nicht umstimmen. Schließlich ließ er mich los und duckte sich zum Sprung auf die Brücke. „Warum mußt du auf diesem Weg zurück?“ fragte ich. „Warum läßt du dich nicht vom Fenster aus am Seil herunter?“ Er schüttelte den Kopf. „Das hier ist einfacher. Schließ jetzt bitte die Läden, damit es nicht auffällt. Aber bring nicht wieder die Latte an – für alle Fälle. Jetzt gehe ich. Leg dich jetzt ins Bett, und wir sehen uns am Vormittag im Hotel.“ Er schien zu zögern. „Du hast doch nicht etwa Angst?“
„Angst? Warum in aller Welt sollte ich Angst haben?“ „Um so besser, wenn du keine hast“, erwiderte Charles und ließ mich stehen.
Elftes Kapitel Nun, von Gefahr befreit und frei von Furcht, Durchschritten sie den Hof: von Herzen froh. S. T. Coleridge: Christabel
Ich hatte geglaubt, nicht gut schlafen zu können, aber ich erlosch wie ein Kerzenlicht und schlief die rund fünf Stunden, bis mein Frühstück kam, in einem Zug durch und erwachte zu einem herrlichen Morgen und dem von Sonne durchfluteten Frieden des Gartens im Serail, zum leichten Gekräusel des Wassers, als eine sanfte Brise es berührte, und zum Gesang der Vögel. Trotzdem erinnere ich mich, daß nicht der romantische Frieden dieses Ortes mich in diese Welt zurückführte und mich ihrer wieder bewußt werden ließ, sondern die Ahnung von etwas Nebelhaftem, der leichte Schatten einer Furcht, der über dem vor mir liegenden Tag lagerte. Selbst nachdem es mir klargeworden war, daß dies nur das Ergebnis von Charles’ Andeutungen über John Lethman sein mochte, dem ich an diesem Morgen wieder begegnen mußte, und daß ich den Rest des Tages mit Charles verbringen würde, empfand ich noch immer, wie der Hof des Serails, der ganze in seinem heißen Tal eingesperrte Palast, mich mit einer Art Platzangst erfüllten. So stand ich schnell auf, stürzte meinen Kaffee herunter und dachte voller Unruhe an nichts anderes mehr, als von dort wegzukommen, zurück in mein Hotel, zum Leben, zu der Buntfarbigkeit und zum Gewimmel gewöhnlicher Menschen in den Straßen von Beirut. Und zu Charles. Hamid sollte mich um halb zehn abholen, aber es war kaum halb neun, als ich meinen Kaffee austrank, den Nasirulla mir gebracht hatte, noch ein paar Minuten im Garten verweilte, zu
einem letzten Blick auf die goldene Kuppel des Lusthäuschens, auf das die Sonne hernieder schien, um dann auf dem vorgeschriebenen Weg das Serail zu verlassen. Meine erste Sorge war dadurch, daß Nasirulla mit dem Frühstück erschien, behoben. Wenn er da war, so ließ sich der Fluß an diesem Morgen überqueren. Ich beschloß, sofort aufzubrechen und zum Dorf hinaufzugehen, um Hamid dort zu erwarten. Ich hatte versucht, es Nasirulla durch Zeichen verständlich zu machen, daß ich schon früh aufbrechen wollte, und obwohl er mich ohne ein Lächeln, wie es seine Art war, lediglich angestarrt hatte, ohne jeden Ausdruck eines Verstehens, mußte er doch John Lethman etwas gesagt haben, denn ihm begegnete ich im zweiten Innenhof, wo die Anemonen der Adonisgärten in der Hitze des einen Tages bereits verwelkt und gestorben waren. Ich fand, daß er an diesem Morgen noch schlimmer aussah als sonst, und ich fragte mich, ob sich das gleiche von mir sagen ließe. „Sie sind aber früh auf“, rief er. „Wahrscheinlich habe ich mir wegen der Furt Sorgen gemacht. Aber ich nehme an, es ist jetzt alles in Ordnung, und ich werde hinüberkommen?“ „Aber gewiß. Haben Sie nach all den Aufregungen und Ausflügen am Ende doch noch gut schlafen können?“ „Nach den... ? Ach, die Hunde! Ja, danke. Haben Sie die armen Tiere eingesperrt? Ich gebe zu, daß ich anfänglich ein wenig Angst hatte, aber sie waren eigentlich sehr brav, und so ist es nur noch ein kleines Abenteuer, an das man später gern zurückdenkt. Aber sie verhalten sich wohl nicht allen gegenüber so?“ „Keinesfalls. Sie müssen etwas Besonderes an sich haben.“ Ein Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen vordrang. „Ich möchte nicht behaupten, daß sie jemals besonders bissig waren, aber sie geben gute Wachhunde ab, weil sie einen Mordslärm
machen, wenn sie etwas Ungewöhnliches hören. Ich hatte sie eingesperrt, und vielleicht war es ein Fehler.“ Ich wollte ihn nicht nach dem Grund fragen, aber er machte eine Pause, als erwartete er es, und zweifellos war es eine Frage, die sich von selber ergab. Zumindest gab mir die Pause Zeit, mein Gesicht zu beherrschen, und dann fragte ich: „Warum?“ „Ich hätte sie zur Bewachung draußen lassen sollen. Wir haben die hintere Pforte offen vorgefunden. In der Nacht hätte jeder eindringen können.“ „Die hintere Pforte? Gibt es denn noch einen Ausgang?“ „Es gibt einen Ausgang, der auf das Plateau auf der Rückseite des Palastes hinausführt. Damit und mit den Hunden, die er in das Serail hineinließ, hat sich Jassim heute nacht ein besonderes Stückchen geleistet.“ Ich fragte so harmlos wie möglich: „Aber würde denn jemand einbrechen? Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß Sie Spuren gefunden haben, die darauf hindeuten?“ „Aber nein. Die Sache ist nur die, daß uneingeschränktes Vertrauen nicht zu meinen Tugenden gehört, insbesondere seitdem ich in diesem Land lebe. Um wieviel Uhr kommt denn Ihr Fahrer?“ „Um neun“, sagte ich und log, „aber ich dachte, ich könnte ebensogut jetzt gleich aufbrechen und ihn schon im Dorf abfangen. Es war furchtbar nett von Ihnen, mich so lange zu ertragen. Ich weiß, das habe ich Ihnen gestern schon alles gesagt, aber heute können Sie davon ausgehen, daß alles in doppeltem Maße gilt.“ „Es war mir ein Vergnügen. Ich bringe Sie hinaus.“ An diesem Tag bemühte er sich nicht einmal darum, daß es so klang, als ob er es meinte. Die Ruhe des gestrigen Tages war verschwunden, und er wirkte gehetzt und gereizt. Er eilte mit raschen, nervösen Schritten mit mir durch den kleineren Hof und hob eine Hand zu seinem Gesicht, mit jener Bewegung, die
ich schon am ersten Tag bemerkt hatte, als habe er eine empfindliche Haut. Er schwitzte ein wenig, und seine Augen waren entzündet. Es fiel mir auf, daß er mich nicht ansah, sondern sein Gesicht von mir abgewandt hielt, als sei er verlegen oder als schäme er sich. Ich fragte mich, ob das Bedürfnis zu „rauchen“ ihm hart zusetzte, und blickte unangenehm berührt zur Seite. „Ihre Adonisgärten liegen im Sterben.“ „Ja, nun ja, das ist ihr Schicksal.“ „Großtante Harriet weiß nicht, daß ich zurückgekommen bin?“ „Nein.“ „Ich habe ja auch nicht erwartet, daß Sie es ihr sagen. Ich habe mich nur gefragt, ob sie meinen Vetter noch erwähnt hat.“ „Mit keinem Wort.“ Kurz angebunden, hellwach und sachlich. Nun, er schuldete mir nichts weiter als mein Entrinnen. Er war weit davon entfernt, es zu verhindern, sondern im Gegenteil froh, mich loszuwerden, ebenso wie mir daran lag, dort herauszukommen. Er trat mit mir aus dem Haupttor hinaus, bis an den Rand des Plateaus heran, wo er stehenblieb und mir nachblickte, als ich den Pfad hinunterstieg. An die Furt gelangt, sah ich zurück und entdeckte ihn noch immer dort oben: er beobachtete mich, als wollte er sich vergewissern, daß ich tatsächlich ging. Zum zweitenmal wandte ich Dar Ibrahim den Rücken und trat vorsichtig auf die Trittsteine. Sie ragten nun wieder aus dem Wasser heraus und waren bereits trocken, aber das Wasser, das um sie herumwirbelte, war höher als bei meinem letzten Überqueren, und es floß noch immer blutrot – blutrot zur Erinnerung an den toten Adonis. Äste, Blätter und rote Blumen waren von der Strömung mitgerissen und zerschlagen am Ufer abgelagert worden. Zwei Ziegen weideten ziellos zwischen diesem Strandgut umher, aber vom Jungen sah ich keine Spur. Als ich auf die andere
Seite des Flusses gelangt war und mir meinen Weg das steinige Ufer hinauf suchte, erblickte ich Hamid – diesmal war es unverkennbar Hamid –, der den Pfad hinunter auf mich zukam. Wir begegneten einander im Schatten eines Feigenbaums, wo noch drei Ziegen in einem staubigen Haufen beieinanderlagen und schliefen. Nachdem die Begrüßungszeremonie beendet war, stellte ich ihm die Frage, die, seitdem Nasirulla mir den Kaffee gebracht hatte, dicht unter der Oberfläche meines Bewußtseins gelauert hatte. „Haben Sie heute morgen meinen Vetter gesehen?“ „Nein.“ Er lächelte. „Er ähnelt Ihnen sehr, nicht wahr? Ich hätte gedacht, Sie sind Geschwister.“ „Man hat uns immer für Zwillinge gehalten. Sind Sie nicht auf Ihrem Weg von Beirut herauf einem weißen Sportwagen begegnet? Oder haben irgendwo einen geparkt gesehen?“ „Heute morgen? Auf der Straße habe ich nur einen einzigen Wagen gesehen – einen schwarzen mit einem arabischen Fahrer –, ach ja, und einen Landrover mit drei Maronitenbrüdern.“ Er sah mich neugierig an. „Ich kenne den Wagen Ihres Vetters, ich habe ihn gestern gesehen. Ist er etwa auch die Nacht über im Palast gewesen?“ Ich nickte. „Das bedeutet, daß er wahrscheinlich weggekommen ist, bevor er gesehen wurde. Das beruhigt mich... Hamid, Sie dürfen es niemand erzählen, versprechen Sie es mir. Meine Großtante weiß nicht einmal, daß er da war. Sie hat mich Sonntag abend empfangen – davon erzähle ich Ihnen später –, aber sie hat gesagt, sie wolle meinen Vetter Charles nicht sehen, und er brauche sich nicht einmal die Mühe zu geben, nach Dar Ibrahim zu kommen. Sie wissen ja, daß er gestern früh von Damaskus herübergekommen ist und dann weiterfuhr, um mich zu treffen, aber der Fluß führte Hochwasser, und so mußte ich noch eine Nacht bleiben. Es hat mit daran gelegen, daß mein Vetter den Plan ausheckte, in das
Innere des Palastes zu gelangen und sich selber einmal umzusehen.“ Rasch erzählte ich ihm die wesentlichsten Einzelheiten: die Begegnung am Tempel und die Pläne für den „Einbruch“. „So habe ich ihn eingelassen, und wir haben uns ein wenig umgeschaut. Wir haben meine Großtante nicht wiedergesehen, und mein Vetter hielt es nicht für richtig, sich ihr aufzudrängen, so habe ich mich schlafen gelegt, und er ist zur hinteren Pforte hinausgegangen. Ich habe nur gehofft, daß er mit seinem Wagen weggekommen ist, bevor jemand ihn entdeckte.“ „Ich habe ihn bestimmt nicht gesehen.“ Obwohl sich Hamid offensichtlich für meinen Bericht interessierte, bemühte er sich doch, mich zu beruhigen. „Es ist ein Porsche, nicht wahr? Ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich kenne den Steinbruch, den Sie meinen, und ich glaube doch, ich hätte den Wagen bemerkt, wenn er noch dagewesen wäre, als ich vorbeifuhr.“ Während wir miteinander redeten, waren wir langsam den Hang hinaufgestiegen. Nun entdeckte ich, wonach ich schon gesucht hatte: einen Schatten unter einem Baum, etwa zehn Meter entfernt, wo einige Ziegen umherstanden, am Boden lagen, wiederkäuten und uns mit hochmütiger Langeweile betrachteten. Unter ihnen der Faun, der mit zerzausten Haaren, lächelnd und mit gekreuzten Beinen im Staub hockte und mit der gleichen Art illusionsloser Gründlichkeit wie seine Ziegen an einem Blatt kaute. „Da bist du ja!“ rief ich. „Ich bin immer hier.“ Das sagte er mit einer gewissen komischen Naivität, die man ihm ohne weiteres glaubte. „Es ist nur der Ziegenhirt“, sagte ich zu Hamid, der ein wenig verwundert aussah. „Den habe ich noch nie gesehen.“ Argwöhnisch betrachtete er den Jungen. „Wenn er Ihren Vetter gesehen hat, Miss Mansel,
weiß inzwischen das ganze Dorf, daß er die Nacht in Dar Ibrahim verbracht hat.“ „Das glaube ich nicht. Ich habe das Gefühl, daß dieser Junge nicht gerade ein redseliger Schwätzer ist. Wenn Nasirulla es gewußt hat, können Sie sich auf jeden Fall darauf verlassen, daß Mr. Lethman heute morgen einiges dazu zu sagen gehabt hätte.“ Ich rief dem Faun zu: „Ahmed, hast du den Engländer heute morgen Dar Ibrahim verlassen sehen?“ „Ja.“ „Um wieviel Uhr?“ „Kurz nach Tagesanbruch.“ „Das wäre ungefähr um vier“, sagte Hamid. „Dann muß er, nachdem wir uns getrennt hatten, noch eine Weile geblieben sein. Warum nur? Jedoch...“ Ich wandte mich wieder an den Jungen. „Ist er diesen Weg zum Dorf hinaufgegangen?“ „Ja. Er hat sich den weißen Wagen geholt, der im Steinbruch neben der Straße stand.“ Hamid sah mich an. Ich lachte auf; er zuckte die Achseln und zog die Mundwinkel herunter. „Hast du ihn abfahren hören?“ fragte ich. Der Junge antwortete mit einem kurzen Kopfnicken und deutete mit der Hand nach Beirut. Ich war von dem Gefühl der Erleichterung, das mich ergriff, selber überrascht. „Hat er mit dir gesprochen?“ „Nein. Ich war dort drüben.“ Mit einer heftigen Kopfbewegung deutete er auf ein unzugängliches Gewirr von Felsen etwa eine Viertelmeile entfernt. „Er kam aus der Pforte auf der Rückseite des Palastes.“ In seiner Stimme verriet sich keinerlei Neugier, aber er beobachtete mich aufmerksam. Nachdenklich sah ich ihn an. „Und es war sehr früh? Bevor irgend jemand sonst auf war?“ Ein Nicken. „Hat sonst niemand ihn gesehen?“
„Keiner, nur ich.“ „Und ich bin sicher, daß du bereits vergessen hast, ihn gesehen zu haben, Ahmed? Oder daß es überhaupt einen Wagen gegeben hat?“ Ein kurzes Aufblitzen der weißen Zähne, die sich über einem zerkauten grünen Blatt schlossen. „Ich habe alles vergessen.“ Ich holte einige Scheine aus meiner Handtasche, aber obwohl mich die dunklen Augen unablässig beobachteten, rührte sich der Junge doch nicht von der Stelle. Ich zögerte, denn ich wollte ihn in seiner Würde nicht verletzen. Ich legte die Scheine auf den Felsen neben mir und einen Stein darauf, um sie festzuhalten. „Ich danke dir vielmals“, sagte ich. „Möge Allah mit dir sein.“ Bevor ich mich mehr als zwei Schritte entfernt hatte, wirbelte ein Paar brauner Beine durch die Luft, Staub stieg auf, und die Scheine waren in dem schmutzigen Kaftan verschwunden. Wie es schien, stand die Würde erst an zweiter Stelle hinter dem Sinn für das Praktische. „Die Ziegen würden sie fressen“, erklärte der Junge bedächtig, und dann folgte eine Flut arabischer Worte, die mir Hamid lachend übersetzte, während wir den Pfad weiter entlanggingen: „Und der Segen Allahs sei auf dir und deinen Kindern und auf den Kindern deiner Kinder und auf den Kindern der Kinder deiner Kinder und auf allen Abkömmlingen deines Hauses...“ Es kam mir seltsam vor, daß sich das Hotel nicht verändert hatte: Ich hatte das Gefühl, eine Ewigkeit weggewesen zu sein, wie Dornröschen in einer Welt des Märchens. Es war sogar der gleiche Portier, der Dienst tat. Er lächelte, hob eine Hand und sagte etwas, aber ich erwiderte: „Bitte später“, und ging an ihm vorbei zum Fahrstuhl. Ich hatte nur zwei Gedanken: heraus aus diesen Kleidern und hinein in ein wohliges Bad, bevor ich mit einem einzigen Menschen spräche oder auch nur einmal an Charles dachte.
Es war das Paradies, wieder in meinem luftigen, modernen, charakterlosen und doch so wunderbar behaglichen Zimmer zu sein, meine scheußlichen Kleider auf den Boden des Badezimmers zu werfen und ins Bad zu steigen. Das Telefon klingelte zweimal, während ich dort war, und einmal klopfte es auch an der Außentür der Diele, aber ich überhörte ohne jede Mühe die Anrufe, laugte mich glücklich eine gefährlich lange Zeit in einer konzentrierten Lösung von Badeölen, stieg dann träge hinaus, trocknete mich ab und zog mit Vorbedacht das kühlste Kleid an, das ich besaß – weiß und gelb und ziemlich ausgefallen. Dann klingelte ich, um mir Kaffee kommen zu lassen, und ließ mich mit meinem Vetter verbinden. Aber hier erwischte mich endlich der Portier, ein wenig gekränkt und infolgedessen auch ein wenig erfreut, daß er mich enttäuschen konnte. Mr. Mansel sei nicht da. Ja, selbstverständlich habe er Appartement 50, aber er sei nicht im Hotel. Er, der Portier, habe versucht, es mir zu sagen; er habe auch versucht, mir Mr. Mansels Brief zu geben, aber ich hätte nicht gewartet... Dann hätte er zweimal angerufen, aber ich hätte mich nicht gemeldet. Ein Brief? Ja, Mr. Mansel hätte mir einen Brief hinterlassen, er hätte ihn heute morgen bei ihm abgegeben mit dem Auftrag, ihn mir gleich nach meiner Ankunft zu überreichen... Ja, selbstverständlich, Miss Mansel, er sei bereits zu mir hinaufgeschickt worden; als ich mich nicht am Telefon gemeldet hätte, wäre ein Page mit dem Brief hinaufgeeilt. Ich wäre auch nicht an die Tür gegangen, und so hätte der Page den Brief unter der Tür hindurchgeschoben... Er lag draußen in der Diele, weiß auf dem blauen Teppich und erschreckend wie ein Alarmsignal. Ich stürzte mich auf ihn und trug ihn ans Licht. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet hatte. Selbst nach der letzten Nacht vermochte ich die ganze Angelegenheit um Großtante Harriet herum nur als etwas höchst
Außergewöhnliches zu betrachten, aber meine Enttäuschung darüber, meinen Vetter nicht sofort zu sehen, war so groß, daß ich den Umschlag in wilder Gereiztheit aufriß und den Brief musterte, als erwartete ich eine anonyme Unzüchtigkeit oder zumindest eine Fälschung. Aber es war unverkennbar die Handschrift meines Vetters. Und der Brief war über jeden Zweifel hinaus belanglos, langweilig und dennoch ärgerlich. Er lautete: Liebe Kus, es tut mir alles sehr leid, da ich nichts lieber getan hätte, als mich heute morgen mit Dir zu treffen, nachdem Du aus dem Harem entwichen warst, um noch Näheres darüber zu hören. Besonders interessiert mich zu erfahren, ob J. L. Dich Tante H. wieder hat besuchen lassen. Nachdem ich Dich verlassen hatte, wäre ich beinah erwischt worden. Tante H. kam mit dem Mädchen den unterirdischen Gang gerade in dem Augenblick entlang, als ich am Fuß der Wendeltreppe hinaustreten wollte. Ich zog mich noch rechtzeitig zurück, und es gelang mir, einen flüchtigen Blick auf sie zu gewinnen. Wie Du sagst, heute ist sie eine sehr extravagant aussehende Person, aber sie wirkte ziemlich aktiv und redete das Mädchen an die Wand. Ich fühlte mich schon versucht, vorzuschießen und gleich dort ein paar Worte mit ihr zu sprechen, aber die beiden hätte der Schlag treffen können, so blieb ich, wo ich war, bis sie durch die Prinzentür verschwunden waren. Dann erst ging ich hinaus. Keine Schwierigkeit. Ich holte mir meinen Wagen und fuhr hierher zurück, ohne einen Menschen gesehen zu haben. Ich wollte nicht gerade bei Tagesanbruch ins Hotel hineinspazieren, und so habe ich in einem Cafe gefrühstückt und Aleppo angerufen, um, wenn möglich, Bens Vater zu erreichen. Dort erfuhr ich, daß er nach Homs abgereist sei und
heute zu Hause erwartet werde. Jetzt kommt der Punkt, an dem Du vor Zorn gegen mich kochen wirst, vor allem nach allen meinen dunklen Andeutungen gestern nacht. Darin mag ich mich geirrt haben – etwas, was ich Tante H. zu Halide sagen hörte, hat mir einiges klargemacht. Das erzähle ich Dir, sobald wir uns sehen. Aber es gibt da noch immer ein größeres Problem, und der einzige Mensch, dem ich die Sache mit Hoffnung auf Erfolg unterbreiten kann, ist Bens Vater, und ich nehme an, daß er fast sofort von zu Hause wieder nach Medina aufbricht. So bin ich nach Damaskus gefahren, um ihn abzufangen. Es tut mir leid, ich weiß, Du wirst wütend auf mich sein, aber nur mit der Ruhe, ich komme sobald wie möglich zurück, vielleicht morgen oder Donnerstag früh. Warte bis dahin auf mich und wetze Deine Krallen. Aber ich bitte Dich inständig, unternimm nichts anderes, außer daß Du Deine Abreise verschiebst, und sei brav. Sobald ich wieder da bin, werden wir uns amüsieren. Wenn mein Plan sich verwirklicht, glaube ich, daß ich Tante H. doch noch sehen werde. Alles Liebe und einen Kuß C. Zweimal las ich den Brief und gelangte zu dem Schluß, daß meine Krallen, so wie sie waren, völlig ausreichten. Charles hatte Glück, daß er sich in diesem Augenblick auf halbem Weg nach Damaskus befand. Dann schenkte ich mir Kaffee ein, setzte mich hin und griff nach dem Telefon. Man war selbstverständlich ganz unabhängig und hatte seine Angelegenheiten seit Jahren selber in die Hand genommen. Man war zweiundzwanzig und entstammte einer Familie, die sich als uninteressiert erklärte. Man brauchte ganz gewiß keine Hilfe und keinen Rat, und Großtante Harriet liebte man auch nicht besonders...
Aber es wäre nett, Daddy von alldem zu erzählen. Natürlich nur, um etwas zum Lachen zu haben. Ich meldete ein Gespräch mit Christopher Mansel bei Mansel & Co. in London an und wartete; ich trank meinen Kaffee, tat so, als läse ich Hachettes Moyen-Orient, und betrachtete den unverändert blauen Himmel über den Betonwolkenkratzern des sich verändernden Orients. Daddys Rat war kurz und sachlich. „Warte auf Charles.“ „Aber Daddy...“ „Was hattest du denn vor?“ „Ich weiß nicht. Darum geht es wahrscheinlich gar nicht, ich bin nur wütend auf ihn. Er hätte doch auf mich warten können! Es sieht ihm so ähnlich, immer wieder sein alter Egoismus!“ „Sicher, sicher“, antwortete mein Vater. „Aber wenn ihm so viel daran lag, mit Bens Vater in Verbindung zu treten, konnte er es sich doch kaum leisten, auf dich zu warten, oder?“ „Aber warum sollte ihm so viel daran liegen? Was nützt ihm denn Bens Vater ? Ich hätte mir vorstellen können, daß er auch einige Leute in Beirut gefunden hätte, falls er brauchbare Verbindungen suchte.“ Es folgte eine kurze Pause. „Zweifellos hatte er seine Gründe“, erwiderte mein Vater. „Hast du eine Ahnung, ob er dort schon an jemanden herangetreten ist?“ „Nur wenn er heute morgen noch in aller Eile einige Telefongespräche geführt hat. Er hätte auch gestern mit jemand sprechen können, nachdem er seine erste Fahrt, um mich zu sehen, hinter sich hatte. Aber er hat nichts davon erwähnt.“ „Soso.“ „Soll ich mich mit unseren Leuten hier in Verbindung setzen?“ „Ganz wie du willst... Aber an deiner Stelle würde ich die Familienangelegenheiten Charles überlassen.“ „Gut, na schön“, antwortete ich. „Aber ich habe wirklich keine Ahnung, warum er so abgebraust ist, um so mehr, als sich seine dunklen Andeutungen von gestern nacht nicht bewahrheitet haben.“
„Hast du mir auch alles gesagt, was er in seinem Brief geschrieben hat?“ „Ja.“ „Dann würde ich meinen, es sei das Vernünftigste, nicht mehr über die Sache nachzudenken. Charles scheint zu wissen, was er tut, und bestimmt ist er in einem Punkt völlig unmißverständlich.“ „Und das bedeutet?“ „Das bedeutet, mein Kind, daß du dich nicht in irgendeine grobe Dummheit stürzt, nur weil dir Charles auf den Wecker fällt“, erklärte mein Vater rundheraus. „Denk nicht mehr an ihn, sieh dir lieber die Sehenswürdigkeiten an und setz dich heute abend telefonisch mit ihm in Verbindung, um festzustellen, was er beabsichtigt. Und laß dir ja nicht einfallen, ohne ihn in den Palast zurückzukehren... Christy?“ „Ja, ich bin noch da.“ „Hast du mich verstanden?“ „Ich habe verstanden“, antwortete ich. „Hol dich der Teufel, Daddy, ihr Männer seid alle gleich, ihr lebt noch immer in der Steinzeit. Ich kann sehr gut selber auf mich aufpassen, und du weißt es. Was ist überhaupt los? Warum sollte ich nicht wieder hingehen, wenn ich es möchte?“ „Möchtest du es denn?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Dann versuch, kein größerer Idiot zu sein, als die Natur ohnehin schon aus dir gemacht hat“, erklärte mein Vater energisch. „Wie steht es bei dir mit Geld?“ „In Ordnung, danke. Aber Daddy, du glaubst doch nicht wirklich...?“ Das Fräulein vom Amt mischte sich mit der üblichen höflichen, unpersönlichen Stimme ein. „Ihre Zeit ist abgelaufen. Wünschen Sie eine Verlängerung?“ „Ja“, rief ich sofort.
„Nein“, sagte mein Vater dagegen. „Amüsier dich gut, mein Kind, und warte auf deinen Vetter. Soweit ich es beurteilen kann, scheint mir alles in Ordnung zu sein, aber mir wäre lieber, du wärst mit Charles zusammen. Er ist sehr vernünftig.“ „Ich habe geglaubt, er sei entsetzlich verwöhnt und lebte nur seinem Vergnügen.“ „Wenn das nicht ein hohes Maß an Vernunft verrät, dann weiß ich nicht, was sonst.“ „Und tu ich es nicht auch?“ „Du lieber Himmel, nein, du schlägst nach deiner Mutter“, erwiderte mein Vater. „Gott sei dafür gedankt“, entgegnete ich scharf. Er lachte und legte auf. Aus einem eigentlich nicht ganz verständlichen Grund fühlte ich mich erleichtert und ungemein aufgemuntert. Ich stand auf und wandte mich der ernsthaften Tätigkeit zu, mein Gesicht und meine Haare zurechtzumachen und über das Mittagessen nachzudenken. Ursprünglich hatte ich die Absicht, mir Beirut in aller Ruhe und allein anzusehen, und es war wahrhaftig idiotisch, mich jetzt darüber zu ärgern, daß ich nun allein war, um es zu tun. Auf jeden Fall blieb mir für diesen Nachmittag nichts anderes übrig. So ging ich weg, um mich umzusehen. Die Souks von Beirut sind schmutzig, es wimmelt auf ihnen von Menschen, und sie sind etwa ebenso abenteuerlich wie Woolworth. Obwohl ich durch meinen Aufenthalt in Dar Ibrahim und durch vieles, was ich über Beirut gelesen hatte, völlig darauf eingestellt war, dort romantischen und erregenden Erlebnissen zu begegnen, muß ich doch berichten, daß nichts weiter geschah: Ich trat in einen Haufen verfaulter Fische und ruinierte mir eine Sandale für immer, und als ich nach dem Namen eines exotisch aussehenden blauen Pulvers in einem Beutel fragte und schon erwartete, es sei zumindest Haschisch oder Rohopium, wurde mir erklärt, es sei Omo. Der Souk der
Goldschmiede war der schönste; ich verliebte mich in ein Halsband aus großen Türkisen und war schon fast entschlossen, mir auch so ein Bankkonto anzulegen wie Halide – denn so hübsch und so billig waren die schmalen, goldenen Armreifen, die zu Hunderten an den hinter den Fenstern befestigten Stäben klimperten und glitzerten. Aber ich widerstand meinem Verlangen, trat schließlich aus dem Souk auf den Platz der Märtyrer hinaus und hatte als Beute dieses Nachmittags nichts weiter vorzuweisen als eine Tube Handcreme und eine in Gold gefaßte, türkisfarbene Glasperle, die ich als Talisman für Charles’ Porsche gekauft hatte, bevor mir einfiel, daß ich ihm böse war und je früher der böse Blick ihn erwischte, desto glücklicher ich wäre, und wenn ich niemals mehr von ihm hörte, auch dies nicht einen Augenblick zu früh käme. Die Dämmerung sank bereits herab, und bald würde es dunkel sein. Vielleicht war er schon in Damaskus eingetroffen. Vielleicht hatte er auch schon angerufen... Ich nahm mir ein Taxi und wurde schon bald ein paar Schritte von meinem Hotel entfernt abgesetzt. Der erste Bekannte, den ich erblickte, war Hamid, der lässig an die Loge des Portiers gelehnt stand und sich mit diesem unterhielt. Es war ein anderer Portier, aber Hamid lächelte mich durch die Halle hindurch an und sagte etwas zu dem Mann. Bevor ich bis zur Portierloge gelangt war, hatte der Portier in meinem Postfach nachgesehen und schüttelte den Kopf. Keinerlei Nachrichten. Wahrscheinlich muß mich mein Gesicht verraten haben, denn Hamid fragte sofort: „Haben Sie etwas Wichtiges erwartet?“ „Nur meinen Vetter. Seit gestern nacht habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ „Ach! War er denn nicht hier, als Sie am Morgen zurückkamen?“ „Da war er schon nach Damaskus abgereist.“
„Nach Damaskus?“ Ich nickte. „Als ich heute morgen zurückkam, erwartete mich hier ein Brief. Er hatte schon früh wegfahren müssen. Ich dachte, er könnte inzwischen dort eingetroffen sein und mich angerufen haben... Bitte?“ Dies sagte ich zum Portier, der inzwischen die Frage eines arabischen Herrn mit rotem Fes und melancholischem Gesicht beantwortet hatte und sich nun mir wieder zuwandte. „Es tut mir leid, Miss Mansel, ich habe gehört, was Sie eben sagten, und vielleicht ist hier ein Versehen vorgekommen. Vorhin ist aus Damaskus angerufen worden. Ich hatte verstanden, es sei ein Gespräch für Mr. Mansel, aber es könnte auch für ›Miss Mansel‹ gewesen sein.“ Er spreizte die Hände. „Es tut mir leid.“ „Ach! Macht nichts, selbst wenn es für mich gewesen wäre“, erklärte ich resigniert, „wäre ich ohnehin nicht dagewesen. Ich komme ja gerade erst herein. Um wieviel Uhr war es denn?“ „Nicht lange her, vielleicht vor einer Stunde. Ich hatte eben meinen Dienst angetreten.“ „Aha. Vielen Dank, das ist er vielleicht gewesen. Es macht nichts, es ist nicht so wichtig – und sollte es wichtig sein, ruft er noch einmal an. Wahrscheinlich hat er keine Nummer hinterlassen?“ „Ich glaube es nicht, aber ich kann es feststellen.“ Er nahm einen Zettel aus Charles’ Postfach und reichte ihn mir. Auf ihm stand nichts weiter, als daß um 5 Uhr 05 ein Anruf aus Damaskus gekommen sei. Kein Name. Keine Nummer. Ich gab den Zettel zurück. „Ich werde heute abend das Hotel nicht mehr verlassen. Sollte er also wieder anrufen, lasen Sie mich bitte suchen.“ „Selbstverständlich. Ich gebe bei der Vermittlung sofort Bescheid.“ Er griff zum Telefon und begann, etwas auf
arabisch zu sagen. „Wenn Sie wüßten, wo er wohnt“, meinte Hamid, „könnten Sie ihn ja jetzt selber anrufen.“ „Das ist es ja gerade, leider weiß ich es nicht. Er sucht dort einen Freund auf, und soeben fällt mir ein, daß ich den Nachnamen völlig vergessen habe – ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ihn jemals gehört zu haben, aber wahrscheinlich war es der Fall. Ich bin sogar in seinem Haus gewesen, aber habe keine Ahnung, wo es war.“ Ich lachte auf. „Ich könnte es allerdings ziemlich leicht feststellen, wenn ich ein bißchen herumtelefoniere..., denn diese Leute haben gute Beziehungen zu Beirut; ein Schwager von ihnen sitzt im Kabinett – Innenminister, was immer das bedeuten mag.“ „Unter anderem die Polizei“, erklärte Hamid lächelnd, „und damit wäre er sehr leicht aufzufinden. Soll ich mich einmal erkundigen?“ „Nein, nein, bemühen Sie sich nicht. Ich möchte diese Leute lieber nicht stören. Mein Vetter wird ja wieder anrufen.“ „Kommt er nach Beirut zurück?“ „Am Mittwoch oder Donnerstag, er war nicht sicher.“ „Miss Mansel!“ Es war der Portier. „Wir haben Glück. Während ich noch mit der Vermittlung sprach, ist das Gespräch wiedergekommen. Es ist für Mr. Mansel, aber als der Teilnehmer hörte, er sei nicht hier, hat er nach Ihnen gefragt. Er ist jetzt auf der Leitung.“ „Also nicht mein Vetter? Na gut, wo kann ich sprechen?“ „Dort drüben in der Zelle, bitte.“ Die Zelle war eine jener offenen Nischen, die schalldicht sein sollen, wenn man sich in ihnen weit genug vorbeugt; tatsächlich aber strahlen sie die Worte ebenso aus wie die Flüstergalerie in der St.-Pauls-Kathedrale. Gleich daneben redeten zwei Engländerinnen über die Ruinen von Byblos, eine Gruppe von Amerikanern unterhielt sich übers Essen, ein französischer Jugendlicher drehte an den Knöpfen eines
Transistorgeräts, und in der Zelle neben der meinen mißlang es offensichtlich dem melancholischen Araber in seinem schwermütigen Arabisch die Verbindung zu bekommen, die er wünschte. Ich legte eine Hand auf mein freies Ohr und versuchte, der Aufgabe Herr zu werden. Am anderen Ende war Ben, und in dem allgemeinen Stimmengewirr brauchten wir einige Zeit, bevor wir einander gefunden hatten. Was er zu sagen hatte, war eindeutig, und er war ein wenig überrascht. „Charles? Hier? Bis jetzt noch nicht. Um wieviel Uhr ist er abgefahren?“ „Ich habe keine Ahnung, aber früh. Hat er nicht angerufen?“ „Nein. Ich würde mich sehr freuen, ihn wiederzusehen, aber hätte er Sie nicht mitbringen können?“ „Das wäre reizend gewesen, aber ich nehme an, daß er etwas sehr Dringendes mit Ihrem Vater besprechen wollte, und er wollte ganz sicher sein, ihn auch anzutreffen.“ „Deswegen rufe ich auch an. Mein Vater soll morgen aus Homs zurückkommen. Wir erwarten ihn zum Abendessen. Ich hatte Charles versprochen, es ihm mitzuteilen.“ Verwundert antwortete ich: „Aber er sagte, er hat bestimmt gesagt... Ach, er muß es mißverstanden haben.“ „Bitte?“ „Nichts weiter, entschuldigen Sie, aber ich stehe hier in der Halle des Hotels, und unmittelbar hinter mir ist ein solcher Tumult. Charles scheint ganz einfach die Tage durcheinandergebracht zu haben – er glaubt, daß Ihr Vater heute zurückerwartet wird. Sonst hätte er ja auch warten können, anstatt mich hier sitzenzulassen! Hören Sie, es tut mir zwar leid, Sie damit zu belästigen, aber könnten Sie ihm bitte sagen, er soll mich nach seinem Eintreffen gleich anrufen?“ „Selbstverständlich werde ich es ihm sagen. Sie machen sich doch um ihn keine Sorgen?“
„Nicht die geringsten“, erwiderte ich, „ich bin nur in Weißglut.“ Er lachte auf. „Hören Sie, ich habe eine Idee. Ich habe Sie schon so lange kennenlernen wollen, und ich weiß, daß mein Vater es gleichfalls möchte. Warum kommen Sie also nicht her und treffen sich mit Charles – beteiligen sich an der Konferenz, oder was es auch ist? Bleiben Sie zwei oder drei Tage hier, und ich werde Ihnen Damaskus zeigen. Und wenn Charles überhaupt nicht mehr aufkreuzt, um so besser. Was halten Sie davon?“ „Es klingt sehr verlockend.“ „Also, warum nicht? Eine Verlockung ist ohne jeden Wert, wenn man ihr widersteht. Kommen Sie. Haben Sie einen Wagen?“ „Ich? Nein, ich habe keinen. Ich habe immer einen gemietet...“ Ich zögerte. „Aber wissen Sie“, fuhr ich nachdenklich fort, „ich würde sehr gern kommen. Wenn Sie bestimmt meinen...?“ „Aber natürlich, ganz bestimmt.“ Es klang wirklich so, als ob er es ernst meinte, und er war sehr herzlich. „Wir würden uns so freuen, Sie hier zu sehen. Es hat mir wirklich leid getan, daß ich Sie neulich verpaßt habe, und ich weiß, auch mein Vater würde Sie gern kennenlernen. Das wäre also abgemacht! Wir erwarten Sie hier. Haben Sie inzwischen die Lady vom Libanon schon gesprochen?“ „Die...? Ach, ich hatte ganz vergessen, daß Sie davon wissen. Ja, allerdings, aber Charles noch nicht. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es ärgert ihn etwas, und es gibt da ein paar Schwierigkeiten. Ich glaube, daß er aus diesem Grund mit Ihrem Vater sprechen möchte. Er macht das Ganze ein bißchen geheimnisvoll. Dort oben haben wir einiges erlebt, Charles und ich, aber es ist besser, nicht am Telefon darüber zu reden.“ „Sie spannen mich auf die Folter. Hoffentlich wollen Sie damit nicht sagen, daß Sie Unannehmlichkeiten hatten?“
„Nein, das nicht, aber Charles schien der Ansicht zu sein, es sei etwas nicht ganz sauber. Er schweigt sich aus und ist jetzt abgebraust, ohne mir ein Wort darüber zu sagen. Deswegen bin ich auch so wütend auf ihn.“ Er lachte auf. „Ich werde ihn warnen.“ „Als ob er sich daraus etwas machte!“ „Wir beide zusammen werden es schon aus ihm herausquetschen. Ich brenne darauf, Genaueres über Dar Ibrahim zu erfahren! Ich sehe Sie also morgen? Haben Sie die Adresse?“ „Guter Gott, nein! Was müssen Sie von mir denken? Einen Augenblick, ich habe einen Bleistift hier, wenn Sie es bitte buchstabieren würden... ? Mr. Wer? Danke... Und die Telefonnummer für alle Fälle? Ja, habe ich. Ich lese noch einmal vor... richtig? Sehr schön, mein Fahrer wird es finden. Es ist wirklich reizend von Ihnen, ich freue mich schon sehr. Ist es Ihnen gleich, wann ich komme?“ „Vollkommen. Wir freuen uns sehr darauf, Sie bei uns zu haben, und diesmal zeigen wir Ihnen das echte Damaskus.“ Es brauste, knatterte und hatte sich bestimmt an der Grenze verheddert – die Leitung war jedenfalls tot. Hinter mir hatten sich inzwischen die englischen Damen den Ruinen vom Krak des Chevaliers zugewandt, die Amerikaner redeten noch immer über das Essen, und der Araber in der nächsten Zelle betrachtete mich, noch immer an seinen Hörer sich klammernd, mit Verbissenheit und Neid. Ich sah ihn mitleidig an und trat aus meiner Zelle hinaus. Hamid stand noch immer an der Portierloge. Der Portier blickte auf. „War es nicht der richtige Anruf?“ „In gewisser Weise doch. Es waren die Leute, die mein Vetter in Damaskus aufsuchen wollte. Sie haben mir gesagt, daß er noch nicht eingetroffen ist. Vielleicht wird er später, sobald er da ist, hier anrufen.“
„Ich werde Sie rufen lassen“, versprach er. „Danke.“ Ich drehte mich zu Hamid um. „Sind Sie morgen besetzt?“ „Noch nicht. Brauchen Sie mich?“ „Würden Sie mich nach Damaskus fahren? Ich will selber die Leute aufsuchen. Sie heißen Sifara, und das ist die Adresse. Werden Sie sie finden?“ „Bestimmt.“ „Ich werde nicht am gleichen Tag zurückkehren, aber selbstverständlich bezahle ich Ihnen die Rückfahrt.“ „Sie haben mich bereits für vieles bezahlt, was ich nicht getan habe. Nein, machen Sie sich darum keine Gedanken, ich werde mir schon einen Fahrgast besorgen. Das kommt immer wieder vor, und wir tun es eigentlich jede Woche. Um wieviel Uhr soll ich Sie morgen früh abholen?“ „Um zehn, bitte.“ „Und wenn Ihr Vetter Sie anruft?“ „Lassen Sie ihn anrufen“, erwiderte ich. „Wir fahren trotzdem nach Damaskus.“ An diesem Abend aber rief Charles nicht mehr an.
Zwölftes Kapitel Er sei jedoch nichtsahnend überrascht. E. FitzGerald: The Rubáiyát of Omar Khayyám
Und auch kein Anruf am Morgen. Dreimal griff ich zu dem Zettel, auf den ich die Nummer gekritzelt hatte, und dreimal legte ich eine Hand auf den Hörer. Und dreimal ließ ich sie sinken. Wenn er mich anrufen wollte, würde er anrufen. Wollte er es nicht, würde ich ihn bestimmt nicht belästigen. Die Zeiten, in denen ich meinem Vetter Charles nachgelaufen war, waren vorbei. Wirklich endgültig vorbei. Außerdem würde ich auf jeden Fall nach Damaskus fahren. Ich überließ das stumme Telefon sich selber und ging in die Halle. Es war ein heißer, wolkenloser Morgen. Um zehn Uhr fuhr der mir vertraute große Wagen vor dem Hotelportal vor, und ich setzte mich auf den Sitz neben dem Fahrer. Hamid, wie üblich in seinem Hemd, das weißer war als weiß, wie aus dem Ei gepellt, begrüßte mich fröhlich, brauste mit dem Wagen vom Rinnstein weg, durch den Verkehr von Bab-Edriss und die engen Straßen hinter der Großen Moschee hindurch, um auf die langgestreckte Kurve der Route de Damas zu gelangen und von der Küste bergauf, durch die Sommergärten der Reichen in die Vorberge des Libanon zu fahren. Kurz hinter Bar Elias teilt sich die Straße, nach Norden zu nach Baalbek und nach Südosten zu der Kreuzung, deren linke Abzweigung zum Wadi el Harrir und dem Paß zwischen den Hermonbergen und dem Dschebel Ech Scheich Mandour, wo der Grenzübergang liegt, führt. Ich hatte diese Grenze schon einmal, allerdings in umgekehrter Richtung, überquert, als ich mit der Reisegesellschaft von
Damaskus nach Beirut fuhr. Ich war daher auf eine lange Wartezeit vorbereitet, auf das Schleichen von einer Stelle zur anderen, auf das viermalige ermüdende Haltmachen und diese Orgie des Mißtrauens, die sich dort an der Grenze, die doch fast nur eine Binnengrenze arabischer Länder darstellt, austobte. Wir waren der vierte Wagen auf der libanesischen Seite, aber nur zweihundert Schritt von uns entfernt konnte ich eine ziemlich lange Schlange von Fahrzeugen, die nach Norden unterwegs waren, erkennen, darunter auch einen Bus. Sie warteten in der staubigen Hitze auf das Überqueren der syrischen Grenze. Hamid nahm die Wagenpapiere und meinen Paß und verschwand in der Barackenanlage aus Beton, aus der der Grenzposten bestand. Die Zeit schien zu kriechen. Der erste Wagen fuhr durch die Schranke und blieb erneut zur Überprüfung und zur Überreichung des Schmiergeldes für den Posten am Schlagbaum stehen; dann rollte er langsam weiter, um dieselbe Vorstellung auf der anderen Seite zu wiederholen. Fünfzehn Minuten später folgte der zweite Wagen. Jetzt war nur noch einer vor uns. Im stehenden Wagen wurde es heiß. Ich stieg aus, ging die Böschung an der Straße hinauf, fand einen großen Stein, der etwas weniger staubig war als die übrigen, und setzte mich. Das Hotel hatte mir ein Picknick mitgegeben, und ich kaute an einem Sandwich, als ich einen mageren Hund erblickte, der unterhalb von mir bis an den Straßenrand geschlichen war und mich von dort aus sehnsüchtig anstarrte – knapp außerhalb der Reichweite eines Stockes. Ich hielt ihm den Rest des Sandwiches hin. Er sah es an, und seine ganze Seele quoll ihm in die Augen, aber er kam nicht näher. Ich machte eine Bewegung, um ihm das Stück zuzuwerfen, aber schon wich er hastig zurück. Vorsichtig stand ich auf, ging ein paar Schritte zur Straße hinunter, beugte mich nieder und legte das Brot mit dem Fleisch behutsam in den
Staub. Dann begab ich mich zum Wagen zurück. Der Hund beobachtete mich, schlich sich langsam näher, wobei jeder Knochen durch sein schmutziges Fell hindurch zu erkennen war, und holte sich seine Beute. Er dankte mir mit einem kaum angedeuteten Wedeln seines Schwanzes. „War das gut?“ fragte ich freundlich und drängte meinen Ärger zurück. Der Hund verdrehte die Augen, bis fast nur noch das Weiße sichtbar war, und wieder wedelte er ein wenig mit seinem Schwanz. Er hielt ihn jedoch so fest zwischen die Beine geklemmt, daß sich nur seine äußerste Spitze bewegte. Ich hatte das Gefühl, daß er seit Jahren zum erstenmal wieder gewedelt hatte. Das nächste Sandwich war, wie ich sah, mit Hühnerfleisch belegt, ein frisches Brötchen mit einer Menge saftigen Fleisches. Ich legte es in den Staub der Straße. Diesmal schnappte er es sich ein wenig zutraulicher, aber noch während er es verschlang, drehte er sich um und flüchtete. Ich blickte hinter mich. Hamid hatte die Grenzgebäude verlassen und näherte sich dem Wagen. Ich hatte die Tür schon halb geöffnet, als ich bemerkte, daß er seinen Kopf schüttelte. „Leider ist etwas nicht in Ordnung. Sie sagen, wir könnten nicht hindurch.“ „Wir können nicht hindurch? Warum in aller Welt denn nicht?“ „Offenbar ist Ihr Paß nicht in Ordnung.“ „Aber das ist doch Unsinn! Selbstverständlich ist er in Ordnung! Was soll denn daran nicht stimmen?“ Er war verlegen und niedergeschlagen. „Er enthält keinen Einreisestempel für den Libanon – ja, nicht einmal einen Ausreisestempel für Syrien, wie der Posten sagt, so daß Sie sich offiziell gar nicht im Land befinden. So kann er Ihnen jetzt auch keinen Ausreisestempel geben.“ Ich starrte ihn an, denn ich hatte es im Grunde noch nicht begriffen. „Offiziell gar
nicht im Land... wie, zum Teufel, glaubt er denn, bin ich hineingelangt? Durch einen unterirdischen Gang?“ „Ich glaube kaum, daß er sich darüber den Kopf zerbrochen hat. Natürlich ist er sich darüber im klaren, daß dabei irgendein Versehen unterlaufen ist, aber er selber kann von hier aus nicht viel unternehmen.“ „Ist das nicht eine reizende Überraschung?“ rief ich wütend. „Haben Sie den Paß da? Darf ich ihn mal sehen? Verdammt, ich bin doch am Freitag genau über diese Grenze gekommen, und es muß doch ein Stempel drin sein... Ach, Hamid, warum habt ihr ein so entsetzliches Alphabet? Haben Sie auch schon den Paß durchgesehen?“ „Ja, das habe ich, und ich fürchte, er hat leider recht, Miss Mansel. Es ist kein Stempel drin.“ So viele Stempel waren gar nicht in meinem Paß, und so dauerte mein hastiges Durchsehen auch nicht lange. Es sah wirklich so aus, als hätte er recht. Ich blickte auf und vermochte mir nicht einmal in diesem Augenblick einzugestehen, daß dieses Versehen, was auch der Grund dafür sein mochte, mich daran hindern konnte, nach Damaskus zu reisen. „Aber ich sage Ihnen doch, daß ich am Freitag hier durchgereist bin. Man muß doch damals den Paß gestempelt haben? Dann haben die Leute hier den Fehler gemacht, wenn sie ihn nicht gestempelt haben! Ganz bestimmt habe ich den Paß übergeben, und man hat mich durchgelassen... Haben Sie dem Mann gesagt, daß ich am Freitag hier durchgekommen bin?“ „Ich habe ihm erklärt, Sie wären kürzlich aus Damaskus gekommen. Ich war nicht ganz sicher, an welchem Tag.“ „Ich kam mit einer Reisegesellschaft, fünf Wagen – zweiundzwanzig Menschen und ein englischer Reisebegleiter. Es war am Freitag, etwa gegen Mittag. Wenn derselbe Mann jetzt Dienst tut, könnte er sich daran erinnern, wie er uns alle
durchgelassen hat, außerdem wird man hier doch wohl Listen darüber führen, oder etwa nicht? Auch der Reiseleiter hatte eine Liste; auf ihr müßte mein Name stehen. Würden Sie bitte noch einmal zurückgehen und es ihm sagen?“ „Natürlich werde ich es ihm sagen. Aber wissen Sie, ich könnte mir denken, das ist der Haken bei der Geschichte. Wenn Sie mit einer Reisegesellschaft hier durchgekommen sind, hat Ihr Name bestimmt auf dem Gruppenpaß gestanden – auf der ›Liste‹, die Ihr Reiseleiter vorgelegt hat. Nicht immer werden die Pässe der einzelnen Angehörigen dieser Reisegesellschaften gestempelt, nur auf besonderen Wunsch. Sie haben die Beamten nicht um einen Stempel gebeten, nicht wahr?“ „Natürlich nicht, auf den Gedanken bin ich nie gekommen. Wahrscheinlich hätte unser Reiseleiter daran denken sollen – er wußte doch, daß ich noch im Libanon bleiben wollte... Aber hören Sie, Hamid, das ist doch alles Unsinn! Die Leute müssen sich doch darüber im klaren sein, daß ich mich nicht illegal hier aufhalten kann! Bestimmt kennen sie doch Sie und Ihren Wagen! Sie fahren doch diese Strecke.“ „Jede Woche. Natürlich kennen sie mich... Ich kann auch hindurch, ich und mein Wagen; unsere Papiere sind in Ordnung. Sie können aber nicht rüber. Die Bestimmungen sind sehr streng.“ Ein anderer Wagen ließ, wie zum Hohn, seinen Motor aufheulen und fuhr an uns vorbei durch die Schranke. Von der anderen Seite her näherte sich der Bus, schwankend, dröhnend und Staub aufwirbelnd. Ich zog mich aus der Wolke bis an den Straßenrand zurück. Leute blickten hinaus, schienen aber nicht sehr interessiert. So etwas mußte hier jeden Tag vorkommen. Die Bestimmungen waren, wie Hamid gesagt hatte, sehr streng. „Es scheint mir alles so idiotisch!“ rief ich zornig. „Es kommt mir vor wie das Tamtam zwischen England und Schottland.
Mir scheint, daß heutzutage ein Land, je kleiner es ist, desto größeres Theater macht... Entschuldigen Sie, Hamid, ich wollte Sie nicht verletzen. Es macht mich nur so wütend – und es ist so scheußlich heiß. Entschuldigen Sie.“ „Das macht doch nichts“, sagte Hamid und meinte es wirklich. Er sah mich besorgt und mitleidig an. „Aber morgen wird er doch zurückkommen, nicht wahr?“ „Wer?“ „Der Vetter.“ „Ich habe nicht einmal an meinen Vetter gedacht“, stieß ich hervor. Aber natürlich hatte ich das, und Hamid hatte es noch vor mir bemerkt. Ich fühlte mich irgendwie verwundbar, ein Gefühl, das mir neu und sehr unangenehm war. „Ich weiß, daß diese Grenzen für Ausländer sehr ärgerlich sind“, sagte er beschwichtigend, „aber wir haben hier mit gewissen Problemen zu kämpfen, leider mit sehr großen Problemen. Unter anderem gibt es hier einen sehr schwunghaften Schmuggel... Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe damit nicht behauptet, daß jemand glaubt, Sie seien daran beteiligt, aber die Bestimmungen müssen nun einmal eingehalten werden, und Sie hatten das Pech, in ihr Getriebe zu geraten.“ „Schmuggel? Was für ein Schmuggel denn? Sehen wir etwa so aus, als wären wir mit Waffen, Alkohol oder sonst was beladen?“ „Nein, Alkohol nicht, hier nicht. Aber Sie könnten ja leicht Rauschgift mit sich führen.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Rauschgift? Das könnte ich wohl. Ich hatte völlig vergessen, wo ich mich befinde. In einem der Bücher meines Vetters wird diese Straße als ›Die Haschischbahn‹ bezeichnet.“ Er lachte. „Nennt man sie so? Ja, ich fürchte, Beirut hat – sagen wir – einen gewissen Ruf. Und es geht nicht nur um Haschisch, leider – in der Türkei und im
Iran wird noch immer Opium angebaut und ans Meer geschmuggelt. Ich habe Ihnen schon erzählt, daß die Kontrollen jetzt sehr streng sind und immer strenger werden. Das Parlament der Vereinigten Arabischen Republik ist bei den einzelnen Regierungen vorstellig geworden, und die Strafen werden immer härter. Wie Sie sehen, nimmt man es an den Grenzen auch ziemlich genau.“ „Ich sehe ja ein, daß es wahrscheinlich sein muß. Aber bestimmt brauchte man doch deswegen Touristen nicht zu belästigen?“ „Ein paar Touristen haben sich bereits strafbar gemacht. Erst vor kurzem wurden zwei englische Studenten verhaftet und für schuldig befunden. Haben Sie es nicht in den Zeitungen gelesen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Was ist mit ihnen geschehen? Worin besteht die Strafe?“ „Für sie in Gefängnis. Sie sind noch immer in Beirut. Früher waren es nur ungefähr drei Jahre, aber heute bekommen sie eine lange Haftstrafe mit Schwerarbeit. Für einen libanesischen Staatsangehörigen würde es außer der Freiheitsstrafe bedeuten, daß er seine bürgerlichen Ehrenrechte verliert und von der Polizei als Rauschgiftschmuggler in der Kartei geführt wird. In der Türkei zum Beispiel gibt es dafür die Todesstrafe – in Ägypten jetzt auch, und ich glaube, ebenfalls im Iran. Da sehen Sie, wie ernst man die Sache nimmt.“ „Aber haben Sie nicht neulich gesagt, im Mittleren Osten würden diese Dinge nicht so ernst genommen? Zumindest haben Sie zu verstehen gegeben, daß niemand es als etwas besonders Schlimmes ansieht, Haschisch zu rauchen.“ „Sobald eine Regierung etwas ernst nimmt, werden Sie immer feststellen können, daß es sich dabei nicht um ein moralisches, sondern um ein wirtschaftliches Problem handelt“, meinte Hamid zynisch. „In Ägypten zum Beispiel ist es ein sehr ernstes Problem – der Rauschgiftsüchtige ist als Arbeitskraft
kaum noch zu gebrauchen –, und der dortigen Regierung haben die illegalen Einfuhren aus dem Libanon große Sorgen bereitet; daher ist sie bei unserer Regierung vorstellig geworden, und leider müssen wir alles, was Ägypten denkt und wünscht, beachten.“ Er lächelte. „Verstehen Sie nun, warum alles so schwierig ist? Es ist auch für die Leute vom Zoll schwierig. Sehen Sie dort drüben den Bus?“ Dieser hatte glücklicherweise seinen Motor abgestellt und stand nun an der libanesischen Grenze. Die Fahrgäste waren ausgestiegen und standen herum, während ihre Papiere überprüft wurden. Alle hatten sie den fatalistischen Ausdruck von Leuten, die sich völlig damit abgefunden haben, den ganzen Tag zu warten; der Grund dafür war auch leicht zu erkennen, denn auf dem Dach des Busses, bepackt wie der Karren eines Flüchtlings oder der Umzugswagen eines armen Mannes, waren Lasten verstaut, die wie der gesamte Hausrat jedes einzelnen dieser Fahrgäste aussahen. Es schienen sogar dick gepolsterte Sessel und Matratzen zu dieser Fracht zu gehören, dazu Decken, Kleiderbündel, verdreckte Leinwandsäcke, auf denen früher einmal Air France oder BOAC gestanden hatte, und sogar ein Käfig aus Rohrgeflecht voll trübselig dreinblickender Hühner. „Das alles müssen sie durchsuchen“, erklärte Hamid. „Nur auf ein paar Päckchen mit Pulver hin?“ stieß ich aus. „Das ist doch nicht Ihr Ernst?“ Er lachte auf. „Aber natürlich. Manchmal sind es auch mehr als ein paar Päckchen. Und es gibt unzählige Möglichkeiten, den Haschisch zu tarnen und mit sich zu führen. Erst in der vergangenen Woche wurde ein Mann verhaftet, der sich als Schuhmacher bezeichnete; zu seinem Handwerkszeug als Schuhmacher gehörte auch ein großer Koffer voll mit Ledersohlen. Aber sie bestanden aus Haschisch, zu feinem Pulver verrieben und dann in diese Form gepreßt. Manchmal
sieht das Zeug wie Gummi, Marmelade oder wie Schafmist aus.“ „Ich würde vorschlagen, daß jeder Mensch, der mit einem Koffer voller Schafmist durch eine Grenze geht, auf alle Fälle eingesperrt werden sollte.“ „Da haben Sie ganz recht“, meinte Hamid ernst. „Aber wenn Sie es wünschen, gehe ich noch einmal hinein und erkläre die Sache mit dem Gruppenpaß. Wollen Sie hier warten?“ „Wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich selber hinein und rede mit den Leuten. Spricht hier jemand Englisch?“ „Ich bezweifle es, aber ich werde für Sie dolmetschen.“ Der Raum in der Baracke war klein und erstickend heiß; es herrschte ein Gedränge kräftiger Männer mit olivfarbenen Gesichtern, die alle gleichzeitig redeten. Das Stimmengewirr verstummte, als ich mit Hamid eintrat, und der uniformierte Mann – ebenfalls kräftig und olivfarben –, der hinter der Schranke saß, hob verzweifelt die Augen und schüttelte den Kopf. Ich erklärte ihm alles, und Hamid dolmetschte. Der Beamte hörte so aufmerksam wie möglich zu, während draußen noch mehr Wagen vorfuhren und sich die Fahrer mit ihren zerknitterten Papieren zur Schranke vordrängten, die Fliegen in der Hitze summten und der Geruch von Schweiß, Tinte und türkischem Tabak fast sichtbar in der Luft lagerte. Aber es nützte nichts. Der Beamte war zwar höflich, aber unerbittlich. Er nickte verständnisvoll, als ich ihm alles erklärte, er bemitleidete mich sogar, aber weiter wollte er nicht gehen. Die Sache war auch völlig klar: Es gab keinen Einreisestempel; wie also könnte er einen Ausreisestempel in den Paß drücken? Es tue ihm leid, aber es sei nicht möglich; er habe seine Anweisungen. Es tue ihm sogar sehr leid, aber Bestimmungen seien nun einmal Bestimmungen. Ganz offensichtlich war es keine Schikane, und er war trotz der widrigen Umstände sehr geduldig und höflich geblieben. So
gab ich es schließlich auf, bevor meine eigene Geduld in dieser stickigen Hitze riß, dankte ihm und drängte mich aus der Baracke wieder hinaus. Nach dem von Menschen überfüllten, nach Schweiß stinkenden Raum empfand ich die heiße Luft draußen fast als erfrischend. Ich ging zum Wagen und fragte mich verdrossen, was nun zu tun sei. Natürlich zurückfahren, etwas anderes blieb mir nicht übrig; ich konnte nun nichts anderes mehr tun, als diesen verunglückten Tag irgendwie retten und mich von Hamid herumfahren lassen. Vielleicht nach Baalbek... Ich hatte Baalbek bereits mit der Reisegesellschaft besichtigt, aber es war ein sehr gehetzter Tag gewesen. Vielleicht sollten wir das Bk’aa-Tal entlangfahren, uns Zeit nehmen, Baalbek noch einmal ansehen und dann auf der Straße durch die Berge wieder nach Beirut zurückkehren... Nach meiner Rückkehr könnte ich Ben anrufen, das eilte nun nicht mehr, und ihm sagen, was geschehen sei. Es war enttäuschend, sogar höchst ärgerlich, aber es war wirklich ohne Bedeutung. jedoch das Prickeln in meinem Daumen verriet das Gegenteil. Ich begegnete Hamids Blick und sagte unvermittelt: „Ich weiß, daß ich ihn wahrscheinlich morgen sehen werde, aber ich wollte ihn heute schon sehen, jetzt und so bald wie möglich. Ich kann es nicht erklären... Hamid, mein Vetter ist nicht etwa ein gewöhnlicher Vetter, wir sind fast Zwillinge. Ich weiß, daß über Zwillinge viel Unsinn verzapft wird, aber es gibt da doch viel Seltsames. Man ist sich, wie soll ich sagen, jedenfalls ziemlich nah. Ich weiß nur, daß ich heute mit Charles sprechen muß. Ich möchte hören, was er zu sagen hat. Und ich will mit ihm zusammentreffen. Ach, nein, nicht so, wie Sie vielleicht denken. Ich kann es gar nicht richtig erklären, aber...“ Ich zuckte die Achseln und spreizte auf sehr unenglische Weise meine Hände, aber es war eine Geste, die dem Araber sehr vertraut sein mußte.
„Wollen Sie damit sagen, daß er vielleicht in Gefahr ist?“ rief er aufgeregt. „Aber nein, nein, nichts dergleichen. Wieso sollte er? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich kann es nicht erklären. Aber wenn wir nicht hinüber kommen können, geht es eben nicht, und es ist ziemlich sinnlos, noch weiter hierzubleiben und darüber zu reden, finden Sie nicht? Wir müssen ganz einfach zurückfahren, und ich werde Damaskus anrufen, sobald ich wieder im Hotel bin. Ich danke Ihnen, daß Sie so viel Geduld mit mir hatten, Hamid – und es ist wirklich sehr nett von Ihnen, sich meinetwegen solche Mühe zu geben. Ach, mein Gott, warten Sie mal – das hatte ich völlig vergessen! Haben Sie in Damaskus schon eine Rückfahrt vereinbart? Was wird geschehen, wenn sie nicht rechtzeitig hinkommen, um Ihre Fahrgäste abzuholen?“ „Das ist unwichtig. Ich sollte ja auf jeden Fall nicht vor morgen zurückfahren. Ich kann anrufen, und ein anderer springt für mich ein.“ Er öffnete die Wagentür. „Darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Der heutige Tag gehört Ihnen. Wohin kann ich Sie noch bringen? Baalbek haben Sie schon gesehen?“ Ich zögerte. „Wahrscheinlich ist es schon zu spät, um jetzt noch nach Homs zu fahren?“ „Eigentlich nicht, aber auch das liegt jenseits der Grenze.“ „Hol’s der Teufel, daran hatte ich nicht gedacht. Wir sitzen also schön fest. Wenn Sie aber meinen, daß ihre Sache in Damaskus in Ordnung geht, hätte ich nichts dagegen, mir Baalbek noch einmal anzusehen und mir genügend Zeit dazu zu nehmen.“ Als ich in den Wagen steigen wollte, kam mir plötzlich noch ein Gedanke, und ich zögerte. „Wissen Sie, ich glaube, am besten ziehen wir jetzt schon einen Strich unter diesen Tag und kehren nach Beirut zurück. Mir ist gerade der Gedanke gekommen – was wird geschehen, wenn ich nach
London abreisen möchte? Muß ich mir dazu ein neues Visum besorgen oder zu meinem Konsul gehen und mich wegen dieses verdammten Ausreisestempels erkundigen, oder was soll ich tun? Sollte es deswegen Scherereien geben, könnte es einige Zeit dauern. Es wäre am besten, wenn ich gleich etwas unternähme.“ „Ich glaube, Sie haben recht, aber es ist kaum die Sache Ihres Konsuls. Meiner Ansicht nach müssen wir den Chef der Sûreté in Beirut aufsuchen und uns ein anderes Visum besorgen. Wenn Sie noch einen Augenblick warten wollen, gehe ich noch einmal zurück und frage den Beamten hier, was wir tun sollten. Wer weiß, vielleicht wird das gar nicht so lange dauern. Es ist durchaus möglich, daß wir wieder umdrehen und bis zum Abend in Damaskus sein können.“ Ein solches Aufwallen von Freude und Erleichterung bei dieser Vorstellung hatte nicht einmal ich erwartet. Ich lächelte ihn an. „Ach ja, das wäre herrlich, und Sie könnten auch Ihre Verpflichtungen einhalten! Tausend Dank, Hamid, Sie sind sehr gut zu mir!“ „Für ein solches Lächeln“, erwiderte Hamid, „wäre ich bereit, sogar etwas sehr Böses zu tun. Ihr Vetter ist ein glücklicher Mann.“ Damit verschwand er wieder in dem Gebäude. Der Wagen war wie ein Backofen, und so wartete ich draußen auf der Straße. Der Bus – er trug das Schild Baalbek – war inzwischen entladen worden. Das schmutzige Gepäck lag im Staub und wurde von schwitzenden, mürrisch aussehenden Männern durchsucht. Die Menschen standen umher, sahen zu, rauchten und spuckten. Ein paar Jungen kamen etwas näher herangeschlichen und musterten mich. Ich blickte zum Grenzgebäude hinüber. Durch die offene Tür konnte ich die sich drängende, laute Menge sehen, die die Schranke umlagerte. Hamid würde einige Zeit brauchen. Ich entfernte mich vom Wagen und stieg wieder die Böschung
neben der Straße hinauf. Diesmal ging ich höher hinauf, aus dem Staub und den Benzindämpfen heraus, aber ich behielt den Wagen, der direkt unterhalb von mir stand, im Auge. Die Straße verlief hier in einem niedrigen Einschnitt, und kaum war ich ein Stück hinaufgestiegen, als ich mich schon in kühlerer Luft befand und über Gras und Blumen ging. Hier gab es nicht die Fülle von Blumen, die ich entlang der Straße nach Afka gesehen hatte, aber der Berghang war doch ziemlich grün; das spärliche Gras bewegte sich im Wind, die grauen Wirtel der Disteln schimmerten silbrig, und es gab Flecken von kleinen weißen Blüten, die auf Entfernung wie Reif aussahen. Darüber flutete in prächtigem Gegensatz, blendend über grauem Fels, das leuchtende Gold der Ginsterkaskaden hin; und überall aus den Rauhreifschleiern der weißen Blüten ragten kühn Malven empor – die einfachen, anheimelnden Malven englischer Bauerngärten, rot, gelb und weiß wucherten sie hier wild zwischen den Felsen eines Berghangs im Libanon. Nur ein paar hundert Schritt entfernt, wo die gleichen Malven und derselbe Ginster über ganz ähnlichen Felsen blühten, lag Syrien. Ich war, glaube ich, etwa dreißig, vierzig Schritte emporgestiegen. Von dieser Höhe aus konnte ich über das Niemandsland, über den syrischen Grenzposten bis zu einer Stelle hinwegblicken, wo die Straße unterhalb eines steilen Felsens eine Biegung machte und stark abfiel, um weiter unten auf der Talsohle einen Wasserlauf zu überqueren. Wie stets in diesem durstigen Land folgte das Grün der Bäume und der bestellten Felder dem Wasser; der Fluß wand sich in einem breiten Band von Bäumen, Getreide und Weinstöcken, die das Tal bedeckten, nach Süden. Hier und dort, ähnlich den grünen Adern, die ein trockenes Blatt durchziehen, liefen die kleinen Nebenflüsse in schmalen Tälern auf den größeren Fluß zu, um in ihm einzumünden. Ich konnte – vielleicht ein paar hundert
Schritt jenseits der syrischen Grenze – einen solchen kleinen Nebenfluß deutlich erkennen, der sich mit seinem grünen Band, mit seinen paar Feldern mit Getreideanbau und den knochenweißen Stämmen von Pappeln mit jungen Blättern, die im Wind silberig schimmerten, durch das kahle Bergland schlängelte. Ich erkannte auch einen staubigen Pfad, auf dem ein Esel entlangtrottete, neben ihm eine Frau, die einen Krug auf ihrem Kopf trug. Ich blickte ihr gedankenlos nach, als ich plötzlich erstarrte und hellwach auf jenen Punkt sah, wo der ferne, staubige Pfad auf die Hauptstraße traf. Unmittelbar neben der Straße lag ein kleines Gehölz. Zwischen den Bäumen sah ich etwas Weißes, Metallisches. Einen Wagen. Einen mir vertrauten Wagen, der dort, mit dem Gesicht nach Süden, im Schatten parkte. Ich glaube, schon früher erwähnt zu haben, daß ich sehr gute Augen habe. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, um mich davon zu überzeugen, daß es sich tatsächlich um Charles’ Porsche handelte. Der Laubvorhang hinderte mich daran festzustellen, ob er im Wagen saß, aber bald war ich fast dessen sicher, jenseits der Büsche eine flüchtige Bewegung bemerkt zu haben. Ich drehte mich um und stieg eilig wieder zur Straße hinab. Ich landete mit einem Sprung im Staub gleich neben dem Wagen, gerade als Hamid aus dem Gebäude trat. „Es wird ganz leicht gehen“, begann er ohne jede Einleitung. „Wir müssen zur Sûreté. Wenn wir also jetzt zurückfahren... Ist etwas geschehen?“ Die Erregung und der steile Abstieg hatten mich außer Atem gebracht. „Ich habe eben seinen Wagen gesehen – Charles’, meines Vetters Wagen! Er parkt ein paar hundert Schritt jenseits der Grenze. Ich bin eben dort oben gewesen“, ich deutete hinauf, „und von dort aus kann man über diesen Felshang bis zum Fluß hinabsehen. Dort steht er, hinter einigen
Bäumen geparkt. Meinen Sie nicht, daß Ben ihm gesagt hat, ich käme, und er nun auf mich wartet?“ „Vielleicht, aber mir erscheint es nicht sehr sinnvoll“, meinte Hamid. „Sind Sie sicher, es ist sein Wagen?“ „Ziemlich sicher. Auf jeden Fall ist es ein weißer Porsche, und in dieser Gegend wimmelt es ja nicht gerade von solchen Wagen. Es muß sein Wagen sein!“ „In welche Richtung blickt er?“ „Nach Süden.“ In unserer Nähe senkte sich krachend der Schlagbaum hinter einem nach Süden fahrenden Wagen, und der Araber, der den Schlagbaum bewachte, kauerte sich am Straßenrand neben ihm nieder und zündete sich eine Zigarette an. Jenseits der Grenze glänzte die Sonne auf den Windschutzscheiben der wartenden Wagen. Ich blickte mit gefurchter Stirn in dieses Leuchten hinein. „Aber Sie haben recht, es erscheint völlig sinnlos. Wenn er solchen Wert darauf legte, mich zu sehen, hätte er gestern auf mich gewartet oder aber mich angerufen, ohne es einer solchen, sehr vom Zufall abhängigen Begegnung zu überlassen. Aber was tut er dann hier? Wenn er gestern nacht in Damaskus eingetroffen ist, wäre er kaum sofort wieder hierher gekommen, bevor Mr. Sifara nach Hause zurückgekehrt wäre. Auch würde Ben ihm sicher gesagt haben, daß man mich erwartet. Auf jeden Fall steht er mit dem Gesicht nach Süden.“ „Lassen Sie mich nachdenken“, sagte Hamid langsam. „Von Homs aus könnte er nach Süden fahren. Sagten Sie nicht vorhin, daß sein Freund, dieser Mr. Sifara, von Homs aus nach Hause führe? Es ist doch möglich, daß Ihr Vetter in Damaskus angerufen und dies festgestellt hat. Daraufhin ist er entgegen seiner früheren Absicht nach Homs gefahren.“ „Und hat die letzte Nacht dort verbracht? Das könnte sein... Aber warum ist er dann heute morgen nicht nach Beirut zurückgefahren? Selbst wenn er noch geschäftlich in
Damaskus zu tun hätte, könnte man doch annehmen, er würde mich holen kommen oder zumindest anrufen.“ „Das hat er wahrscheinlich auch getan. Aber wenn er heute morgen aus Homs angerufen und festgestellt hat, Sie wären abgereist, hat er vielleicht beschlossen, diese Straße und nicht die Wüstenstraße entlangzufahren, um Sie an der Grenze abzufangen. Wenn man ihm gesagt hat, Sie wären hier noch nicht durchgekommen, würde er vielleicht zu Fuß über die Grenze gehen, um am Grenzübergang auf Sie zu warten.“ „Das könnte sein... Oder es ist ein reiner Zufall, und er hat sich für diese Straße entschieden, nur um die Straße durch die Wüste zu vermeiden.“ Ich starrte in dem Bewußtsein meiner völligen Ohnmacht die staubige Straße entlang. „Jetzt kann nämlich folgendes geschehen: Er kann jeden Augenblick wegfahren, und ich komme nicht einmal durch, um mit ihm zu sprechen!“ „Richtig“, rief Hamid, „aber ich komme durch.“ Er lächelte beruhigend. „Seien Sie nicht so niedergeschlagen, Miss Mansel. Die Sache ist ganz einfach. Ich fahre jetzt hinüber und spreche mit Ihrem Vetter.“ „Sie? Würden Sie das tun?“ „Selbstverständlich. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier sind und nicht über die Grenze können. Vielleicht will er Sie selber zur Sûreté nach Beirut bringen, und wenn er das tut, fahre ich gleich nach Damaskus weiter und hole dort meinen Fahrgast ab. Andernfalls komme ich zu Ihnen wieder zurück. Es macht Ihnen doch nichts aus hierzubleiben?“ „Natürlich nicht. Ich bin Ihnen im Gegenteil sehr dankbar. Ja, Sie haben recht, beeilen wir uns lieber, bevor er abfährt. Ich gehe mit dem Rest meines Picknicks wieder auf den Berg hinauf und warte.“ „Und nehmen Sie auch Ihre Tasche – und die Jacke, für den Fall, daß Sie sie brauchen...“ Er griff bereits nach den Sachen
im Wagen. „Der Kaffee, ja? Und das Obst... bitte. Wenn an der Grenze viel Betrieb ist, kann es eine lange Wartezeit werden.“ „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich werde von dort oben aus alles beobachten können.“ „Fährt er sehr schnell?“ „Manchmal“, antwortete ich. „Warum?“ „Falls er nicht weiß, daß Sie hier sind, falls er nur zufällig dort angehalten hat, könnte er inzwischen schon abgefahren sein.“ „Würden Sie dann versuchen, ihn einzuholen?“ „Wenn es mir möglich ist. Können Sie diese Sachen selber tragen? Ich sollte jetzt am besten gleich fahren.“ „Natürlich kann ich das. Warten Sie nicht auf mich, fahren Sie.“ Er setzte sich in seinen Wagen und startete. „Sie sagten vorhin, er habe hinter Bäumen geparkt. Glauben Sie, daß ich ihn von der Straße aus sehen kann? Wo ist es denn genau?“ „Etwa vierhundert Meter hinter der syrischen Grenze; dort stehen einige Bäume auf der rechten Seite, und gleich hinter ihnen liegt eine kleine Brücke mit steiler Auffahrt. Sie können die Stelle nicht verfehlen. So, der Schlagbaum ist hoch, Sie können durchfahren. Und vielen Dank, Hamid, vielen Dank...“ „Ganz zu Ihren Diensten...“ Ein Lächeln, eine rasche, abwehrende Handbewegung, und schon war er weg. Ich kehrte heftig atmend zu meinem Aussichtspunkt oberhalb der Straße zurück. Der Porsche war noch immer da. Ich legte meine Sachen zwischen den Blumen ab und beschattete meine Augen, um besser zu sehen. Da er noch nicht verschwunden war, schien meine Furcht, es handele sich nur um eine kurze Rast, unbegründet. Entweder hatte er eine Pause gemacht, oder er wartete auf mich. Ich starrte auf das Straßenstück unmittelbar unterhalb von mir hinab. Auch der zweite libanesische Schlagbaum hob sich nach Empfang von Hamids Schmiergeld, und der große Wagen jagte
mit blitzenden Fenstern durch das Niemandsland. Am syrischen Schlagbaum blieb er stehen, und ich sah Hamid hinausspringen und zu den Gebäuden hinübereilen, um seine Papiere zu zeigen. Da er allein war und häufig diese Strecke fuhr, würde man ihn bestimmt nach kurzer Kontrolle fahren lassen. Nun blickte ich wieder in die andere Richtung, zum Porsche hinunter. Ich sah gerade noch den weißen Wagen wie einen losgelassenen Windhund zwischen den Bäumen herausschießen, in einem Aufwirbeln von Staub nach rechts abbiegen und die Straße nach Damaskus entlangjagen. Einige Sekunden später vernahm ich das scharfe Schalten der Sportwagengänge, als er über die Brücke schaukelte. Bis der Laut mich erreicht hatte, war der Wagen meinen Blicken bereits entschwunden.
Dreizehntes Kapitel So sicher, wie Gott mich retten wird, Ahn’ ich doch nicht, wes Geistes Kind sie sind... S. T. Coleridge: Christabel
Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem vom Wind bestrichenen Berghang gestanden und auf das leere Stück Straße gestarrt habe, wo der weiße Wagen gewesen war. Es war, als sei ich in das Vakuum seines Sogs gerissen worden, um dann, benommen, dort in den Staub hinabzustürzen. Ich riß mich zusammen und blickte hinunter, um festzustellen, wie weit es Hamid inzwischen gebracht hatte. Er befand sich bereits am zweiten syrischen Schlagbaum und zeigte seine Papiere – wahrscheinlich die Wagenpapiere – am Wagenfenster vor. Der Beamte nahm sie entgegen, warf einen Blick auf sie und gab sie zurück. Ein Schmiergeld wechselte seinen Besitzer. Einige Augenblicke später ging der Schlagbaum hoch. Der Wagen fuhr hindurch und legte die Straße hinunter an Geschwindigkeit zu, bis er von dem vorspringenden Felshang meinem Blick entzogen wurde. Ich glaube, daß er den Porsche nicht um viel mehr als vier Minuten verpaßt haben konnte. Es waren nur Sekunden, bis er wieder auf dem Straßenstück auftauchte, das zur Brücke führt, und ich sah den Staub in einer Wolke aufsteigen, als er scharf bremste und den großen Wagen an den Rand des kleinen Gehölzes heranfuhr. Er stieg aus und mußte sofort bemerkt haben, daß dieses Gehölz nicht dicht genug war, um ihm den Porsche zu verbergen. Da drehte er sich um, legte die Hand über die Augen und starrte das Tal entlang nach Süden. Nur ein paar Sekunden blieb er so stehen, bevor er sich wieder in seinen Wagen warf, die Tür hinter sich zuschlug, nun ebenfalls
über die Brücke fuhr und auf der gewundenen Straße meinen Blicken entschwand. Ich konnte mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß er den weißen Wagen auf der Straße vor sich entdeckt hatte. Es war natürlich schwer zu schätzen, wie lange er brauchen würde, um ihn einzuholen. Ich überlegte mir, daß ein Berufsfahrer, der diese Strecke wie seine Hosentasche kannte, es durchaus schaffen konnte, Charles’ Vorsprung wieder einzuholen. Sogar der Unterschied in der Leistungsfähigkeit zwischen dem Stadtwagen und dem Porsche war nicht entscheidend. Vier Minuten auf einer Straße sind zwar eine lange Zeit, aber falls Charles es wirklich eilig gehabt haben sollte, hätte er nicht so viel Zeit dort im Gehölz vergeudet. Sein Rennstart war vielleicht lediglich seiner guten Stimmung zuzuschreiben; inzwischen würde Charles wahrscheinlich in eine gemütliche Fahrweise verfallen sein und die wilden Malven an den Hängen des Dschebel Ech Scheich Mandour bewundern. Ich ließ mich neben einem Ginstergebüsch nieder, wo es nach wildem Honig duftete, und begann zu essen. Außer den mit Fleisch belegten Brötchen hatte man mir eine Tüte mit schwarzen Oliven, einen sahnigen weißen Käse und eine Art mit Wurst und Kräutern gefüllter Ravioli mitgegeben. Nachdem ich meinen Hunger gestillt und angefangen hatte, einen Pfirsich zu essen, war auf der Straße unter mir bis auf einen Bus – diesmal nach Süden – kein Verkehr mehr zu sehen. Auch der Posten am Schlagbaum hatte sich offenbar zu einem Nachmittagsschlaf zurückgezogen. Ich blickte auf meine Uhr. Halb zwei. Die Straße war noch immer leer, und weder von Charles noch vom zurückkehrenden Hamid war auch nur eine Spur zu sehen. Um zwei Uhr war die Straße noch immer leer. Auch um halb drei. Selbst an diesem glühenden Berghang war für mich an
eine friedliche Siesta nicht zu denken. Zwei arabischen Jungen, die an einer Ecke der Zollgebäude herumgelungert hatten, war offenbar nach längerer Überlegung der Gedanke gekommen, nach einer von Grinsen und Ellbogenstößen begleiteten Besprechung, bei der ich so tat, als habe ich sie nicht bemerkt, zu mir heraufzusteigen und mit mir zu reden. Wahrscheinlich wurden sie nur von Neugier getrieben, aber sie hatten nicht mehr als drei oder vier Wörter in amerikanischem Englisch, und ich hatte überhaupt kein Arabisch zur Verfügung, so daß sie lächelnd um mich herumgingen und mich anstarrten, bis ich es nicht mehr aushalten konnte, aufstand und meine Sachen einzusammeln begann. Ich glaubte zu wissen, was geschehen war. Hamid, von dem Ausbruch meiner Erbitterung über die Verzögerung irregeführt, hatte diesen als tiefe Sorge um Charles gedeutet und dort Schwierigkeiten geahnt, wo ich nichts weiter als etwas Ärgerliches sah. Entweder verfolgte er noch immer voller Entschlossenheit den Porsche, oder es hatte einen Unfall gegeben, durch den einer der beiden Wagen, der sich auf dem Rückweg befand, aufgehalten wurde. Wenn ich nun noch viel länger hier wartete und keiner von beiden einträfe, würde es für mich keine Möglichkeit mehr geben, rechtzeitig nach Beirut zurückzukehren, um das Büro der Sûreté wegen des Visums aufzusuchen. Damit wäre auch das verpatzt. Als sich einer der arabischen Jungen einen Schritt von mir entfernt mit einem verschmitzten Lächeln auf einem staubigen Stein niederließ und zum soundsovielten Male fragte: „New York? London? Miss?“ und dann eine Bemerkung auf arabisch machte, die bei seinem Gefährten einen Anfall von Heiterkeit auslöste, und als zur gleichen Zeit ein Bus mit dem Schild Baalbek unten auf der Straße kreischend zum Stehen kam, sammelte ich meine letzten Sachen ein, sagte höflich und endgültig „auf Wiedersehen“ und ging den Hang zur Straße hinunter. Der magere Hund lag im
Schatten eines geparkten Wagens. Er beobachtete mich, offenbar mich wiedererkennend, jedoch, wie ich dachte, ohne große Hoffnung. Ich ließ im Vorbeigehen das letzte Brötchen mit Fleisch neben ihm fallen und sah ihn danach schnappen und vor den Jungen davonschießen, die mir den Hang hinunter gefolgt waren. Die Fahrgäste des Busses standen in der Hitze herum und sahen apathisch zu, wie die Leute vom Zoll ihren Hausrat durchstöberten, der den Eindruck erweckte, als handelte es sich hier um einen Exodus. Ein Beamter prüfte gleichgültig ihre Papiere. Der Mann am Schlagbaum ließ wieder einen Wagen durch und sank dann in Schlaf zurück. Es gab niemand, der sich viel um irgend etwas gekümmert hätte. Sogar die beiden Jungen hatten ihre Verfolgung aufgegeben. Ich betrat das Gebäude und begegnete dort dem etwas glasigen und höchst ablehnenden Blick des olivfarbenen Herrn hinter der Schranke. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich in der Menge jemanden gefunden hatte, der genügend Englisch beherrschte, um das wiederzugeben, was ich fragen wollte, aber schließlich gelang mir auch das. „Der Bus“, sagte ich, „um wieviel Uhr fährt der Bus nach Baalbek?“ „Halb vier.“ „Gibt es einen, der von hier nach Beirut fährt?“ „O ja.“ „Um wieviel Uhr?“ „Um fünf.“ Ein Achselzucken. „Vielleicht ein bißchen später. Er trifft dort um sechs ein.“ Ich dachte einen Augenblick nach. Baalbek lag ein weites Stück von der direkten Straße nach Beirut entfernt, aber es bestand gute Aussicht, dort einen Wagen zu bekommen, und man konnte die kürzere Strecke durch die Berge nach Beirut fahren. Auf diese Weise würde ich lange vor dem fragwürdigen Fünf-Uhr-Bus dort eintreffen. Jedenfalls hatte ich keine Lust,
noch weitere zwei Stunden hier herumzusitzen. Sogar ein Bus erschien mir da verlockender. „Wird man dort in Baalbek ein Taxi oder einen Mietwagen finden?“ „Bestimmt.“ Er ließ ein Achselzucken folgen. „Aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß es schon spät am Tag ist, jedoch könnten Sie möglicherweise...“ „Wo finde ich die Taxis?“ „Bei den Tempeln oder in der Hauptstraße. Sie können auch im Adonishotel fragen, dort hält auch der Bus.“ Ich entsann mich des Adonishotels. Dort war die Reisegesellschaft am Freitag zum Mittagessen gewesen, und wie ich mich entsann, hatte der Geschäftsführer einigermaßen Englisch gesprochen. „Wo ist in Beirut die Sûreté?“ „In der Rue Badaro.“ „Um wieviel Uhr schließt sie?“ Aber da begannen die Schwierigkeiten. „Ein Uhr“, lautete die erste, entmutigende Antwort. Dann sagte ein anderer: „Fünf Uhr.“ Dann wieder: „Sie öffnet erneut um fünf und ist bis acht geöffnet.“ – „Nein, nein, bis sieben.“ Dann unter allgemeinem Achselzucken: „Wer weiß?“ Da mir die letzte Feststellung als die beste von allen erschien, gab ich alle weiteren Fragen auf und fügte nur noch hinzu: „Wenn mein Fahrer oder sonst jemand zurückkommt und nach mir fragt, sagen Sie ihm, ich sei ins Büro der Sûreté in der Rue Badaro in Beirut gefahren, um dann in mein Hotel, das Phoenicia, zurückzukehren. Dort werde ich warten. Compris?“ Sie erklärten, es sei compris, und so beließ ich es dabei, dankte allen und ging hinaus. Der Motor des Busses dröhnte, und eine Wolke schwarzen Rauchs brodelte aus dem Auspuff heraus. Es blieb nur noch die Zeit, die Straße auf der Suche nach einem weißen Porsche oder
einem schwarzen Taxi rasch entlangzublicken und einzusteigen. Sechs Sekunden später waren wir, nach einem alles durchrüttelnden, entsetzlichen Aufbrüllen des Motors und von Rußgestank verfolgt, unterwegs nach Bar Elias und fuhren schließlich die Bk’aa-Straße nach Baalbek entlang. Es war eine scheußliche Fahrt, und sie endete, wie nicht anders zu erwarten, an der Endhaltestelle des Busses, in einer schmutzigen, heißen Straße, etwa in Rufweite der Tempelruinen und genau vor dem Portal des Adonishotels. Ich stieg aus dem Bus, strich die Falten meines Rockes glatt und hatte dabei das feste Gefühl, gleichzeitig Wolken von Flöhen abzuschütteln. Der Bus fuhr weiter, um zu wenden, die anderen Fahrgäste zerstreuten sich, und die dreckigen schwarzen Auspuffgase trieben allmählich davon. Die Straße war leer bis auf einen großen, glänzenden, schwarzen Wagen am Rinnstein und, ein Stückchen weiter und kaum zu diesem Bild passend, ein weißes Kamel mit einem zerlumpten Araber, der es an seinem Halfterstrick hielt. Mit einem schrillen Gekreisch von Arabisch, vermischt mit einigen englischen Brocken, stürzte er auf mich zu. Soviel ich verstand, bot er mir einen Ritt auf seinem Kamel für die lächerliche Summe von fünf englischen Pfunden oder mehr an. Ich wehrte ihn mit einiger Mühe ab, lehnte auch sein Angebot, für nur zehn Schilling für eine Aufnahme zu posieren, ab und lief die Stufen zum Hotel hinauf. Ich hatte das Glück, den Geschäftsführer noch anzutreffen, der nicht etwa, wie man es hätte erwarten können, aufgrund der Siesta durch Abwesenheit glänzte. Ich traf ihn in dem kleinen, mit Kies bedeckten Innenhof an, der als Gartenrestaurant diente, wo er in Gesellschaft eines anderen Mannes an einem der kleinen Tische unter den Kiefern saß und Bier trank. Er war ein eher schmächtiger Araber mit rundem Gesicht, dem dünnen Strich eines Schnurrbarts und mehreren Batzen Beiruter Goldes
an seiner Person. Sein Gefährte, den ich zunächst kaum bemerkt hatte, sah aus wie ein Engländer. Der Geschäftsführer erhob sich und eilte auf mich zu. „Madame... Mademoiselle? Sind Sie wieder zurück? Ich hatte doch gedacht, Ihre Reisegesellschaft hätte den Libanon bereits verlassen?“ „Mein Gott, haben Sie mich erkannt?“ rief ich. Er beugte sich mit dem Ausdruck unverkennbarer Freude über meine Hand. Man hätte meinen sollen, ich hätte einen Monat in der besten Zimmerflucht des Hotels und mit voller Verpflegung verbracht, und nicht vor einigen Tagen nur etwas zum Trinken zum mitgebrachten Essen der Reisegesellschaft bestellt. „Was für ein Gedächtnis Sie haben! Ich hatte geglaubt, Sie hätten so viele Touristen hier, daß Sie sie überhaupt nicht mehr sähen!“ „Wie könnte ich Sie vergessen, Mademoiselle?“ Die Verbeugung, der galante Blick versicherten mir, ohne daß es auch nur im geringsten verletzend wirkte, er habe es aufrichtig gemeint. „Im übrigen“, fuhr er ehrlich fort, „bin ich erst seit dem Beginn der Saison hier. So entsinne ich mich bisher aller meiner Gäste. Bitte, wollen Sie sich nicht setzen? Wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten, es wäre uns ein Vergnügen?“ Aber ich wehrte ab. „Nein, ich danke Ihnen sehr – aber ich hätte Sie gern etwas gefragt. Ich bin heute auf eigene Faust hier und brauche Hilfe, und so habe ich gedacht, ich wende mich vielleicht am besten an Sie.“ „Selbstverständlich. Sagen Sie es mir. Alles. Selbstverständlich.“ Offensichtlich meinte er es, aber sobald ich ihm meine Lage auseinandersetzte und einen Wagen erwähnte, verzog er zu seinem Bedauern zweifelnd das Gesicht und spreizte seine Hände. „Natürlich werde ich alles tun, was ich nur kann... Aber zu dieser Zeit des Tages sind die meisten hiesigen Wagen bereits
gemietet und unterwegs. Es wäre natürlich möglich, daß Sie einen bei den Tempeln finden – sprechen Sie Arabisch?“ „Nein.“ „Dann schicke ich jemanden mit, um Ihnen zu helfen. Dort könnte ein Wagen sein. Wenn nicht, könnte ich vielleicht einen finden, vielleicht sogar einen meiner Freunde... Ist es dringend?“ „Ich würde recht gern so bald wie möglich nach Beirut gelangen.“ „Dann machen Sie sich bitte keine Sorgen, Mademoiselle. Selbstverständlich werde ich alles mir nur Mögliche für Sie tun. Es freut mich sehr, daß Sie sich an mich gewandt haben, um Hilfe zu finden. Ich würde für Sie jetzt telefonieren, aber zufällig habe ich vor nur zehn Minuten einen Wagen für einen meiner Gäste besorgen müssen, und da war es schon schwer. Aber nach weiteren zwanzig Minuten oder vielleicht nach einer halben Stunde kann man es erneut versuchen.“ „Verzeihen Sie.“ Der andere Mann mischte sich ein. Ich hatte ihn völlig vergessen und wandte mich überrascht um, als er sein Bierglas hinstellte und sich erhob. „Ich konnte es nicht vermeiden, alles mitanzuhören. Wenn Ihnen wirklich so viel daran liegt, nach Beirut zu gelangen, und Sie Schwierigkeiten haben, ich fahre ebenfalls hin und würde Sie gern mitnehmen.“ „Ja, vielen Dank...“ Ich war ein wenig verblüfft, aber der Geschäftsführer mischte sich sofort ein, und seine Stimme klang erleichtert und erfreut. „Natürlich, das wäre ausgezeichnet! Eine großartige Idee! Darf ich Sie vorstellen? Mr. Lovell, Mademoiselle. Leider aber kenne ich Ihren Namen nicht.“ „Mansel. Miss Mansel. Guten Tag, Mr. Lovell.“ „Guten Tag.“ Seine Stimme klang englisch und kultiviert. Er war mittelgroß, mochte in den Vierzigern sein, hatte ein Gesicht, das von der Sonne eine arabische Olivenfärbung
bekommen hatte, und dunkles Haar, das über einer hohen Stirn zurückwich. Er war gut gekleidet, trug einen leichten, grauen Anzug, ein Seidenhemd und eine Sonnenbrille mit breitem Rand. Etwas an ihm erschien mir bekannt, und ich hatte das Gefühl, ihn schon früher irgendwo getroffen zu haben. Noch während dieser Gedanke in mir auftauchte, bestätigte er ihn mit einem Lächeln. „Wir sind einander schon früher begegnet. Allerdings ohne vorgestellt zu werden, und ich nehme nicht an, daß Sie sich dessen erinnern.“ „Leider nicht. Aber ich hatte auch das Gefühl, Ihnen schon begegnet zu sein. Wo?“ „Vergangene Woche in Damaskus. War es Mittwoch – oder vielleicht Donnerstag? Ja, es war Donnerstag, am Vormittag in der Großen Moschee. Waren Sie nicht damals mit einer Reisegesellschaft zusammen. Ich hatte mit Ihrem Reiseleiter gesprochen, während die Damen die Teppiche bewunderten, und dann hatte er sich in einen kleineren internationalen Zwischenfall einmischen müssen. Wir wechselten, während dieser Disput dauerte, ein paar Worte. Sie werden sich dessen nicht mehr entsinnen, warum sollten Sie? Aber sagen Sie mir eins: Hat sich die dicke Dame am Ende doch bereit gefunden, sich von ihren Schuhen zu trennen?“ Ich lachte auf. „Ach, haben Sie das mit dem internationalen Zwischenfall gemeint? Ja, das hat sie. Sie hat sogar zugegeben, daß sie diese Menschenmenge bestimmt nicht mit Schuhen ihre Teppiche betreten lassen würde. Es war ein ganz spaßiger Auftritt, nicht wahr? Ich dachte gleich, daß ich Ihre Stimme kenne. Das war es also.“ „Sie sind heute allein unterwegs?“ „Ja. Ich will jetzt keine große Geschichte daraus machen, aber aus diesem Grund bin ich heute hier gestrandet und suche einen Wagen. Fahren Sie wirklich nach Beirut?“
„Natürlich.“ Er deutete mit seiner kräftigen, gepflegten Hand auf den Wagen, der auf der Straße unterhalb der Gartenmauer parkte. Jetzt sah ich, daß es ein schwarzer Renault war, an dessen Steuer ein teilnahmsloser Araber in einheimischer Tracht und mit weißem Kaffijeh saß. „Es ist mir eine Freude, Ihnen helfen zu dürfen. Ich hatte ohnehin die Absicht, in einigen Minuten aufzubrechen. Wenn Sie aber noch bleiben und sich etwas ansehen wollen, dann werden Sie später bestimmt Gelegenheit erhalten, ein Taxi zu finden, und Mr. Najjar wird Ihnen dabei helfen können.“ Er lächelte. „An jedem anderen Tag wäre es mir ein Vergnügen gewesen, Sie hier persönlich herumzuführen, aber zufällig habe ich heute eine Verabredung in der Stadt, die ich nicht abzusagen wage, und daher fahre ich jetzt sofort.“ „Das ist sehr nett von Ihnen, und ich komme gern mit“, sagte ich. „Ich habe mir Baalbek schon früher angesehen – ich war am Freitag mit der Reisegesellschaft hier –, aber es liegt mir sehr viel daran, so bald wie möglich in die Stadt zu kommen.“ „Wollen wir dann fahren?“ Der Geschäftsführer begleitete uns bis zum Wagen, der arabische Fahrer eilte um den Wagen herum, um die hintere Tür zu öffnen, Mr. Lovell half mir hinein, sagte etwas auf arabisch zu dem Fahrer und setzte sich neben mich. Wir verabschiedeten uns vom Geschäftsführer, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Der Fahrer schlängelte sich schnell und geschickt durch die engen Gassen und erhöhte dann auf der Straße nach Beirut seine Geschwindigkeit. Nach ein paar Minuten hatten wir die letzten Häuser, die sich in ihre Gärten duckten, hinter uns, und zu unserer Rechten lagen der große Höhenzug und das Tal grell in der Nachmittagssonne. Die Luft, die durch das offene Fenster einströmte, war frisch und kühl. Dankbar lehnte ich mich zurück.
„Nach dem Bus fühle ich mich hier wie im Himmel. Sind Sie jemals in einem der hiesigen Busse gefahren?“ Er lachte auf. „Nein, Allah sei gedankt.“ „Ich hätte Sie warnen sollen, sich von mir fernzuhalten, bis ich gebadet habe.“ „Dieses Risiko nehme ich auf mich. Wo wohnen Sie in Beirut?“ „Im Phoenicia. Aber das soll nicht Ihre Sorge sein. Ich kann mir überall, wo Sie mich absetzen wollen, ein Taxi nehmen.“ „Das ist überhaupt keine Schwierigkeit, wir fahren daran vorbei.“ „Trotzdem vielen Dank, aber ich muß nämlich zunächst einmal in die Rue Badaro, wo ich etwas zu erledigen habe. Ich weiß aber nicht, wo sie liegt, vielleicht wissen Sie es?“ „Ja natürlich. Das ist sogar noch einfacher, sie liegt ganz auf unserem Weg. Die Rue Badaro trifft kurz vor dem Platz, wo das Nationalmuseum liegt, auf diese Straße. Bei der Einfahrt in die Stadt fahren wir durch Nebenstraßen, ich setze Sie dort ab.“ „Vielen Dank.“ Seine Stimme verriet keinerlei Neugier. Sein Blick hatte mich kurz gestreift – wegen der dunklen Brille unergründlich –, als ich die Rue Badaro erwähnte, und ich dachte, bestimmt wüßte er, daß sich die Sûreté Generale dort befände, aber er war entweder zu gleichgültig oder zu gut erzogen, um mich nach meinen Angelegenheiten zu fragen. So erkundigte er sich nun lediglich: „Was ist aus Ihrer Reisegesellschaft geworden?“ „Ach, ich habe mich nicht erst heute von ihr getrennt. Ich bin nur gestrandet und Ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert worden, weil ich nicht das richtige Visum hatte und mein eigener Wagen weiterfuhr – das heißt, ich hatte meine Gründe, meinen Fahrer nach Damaskus zu schicken, selbst wenn es bedeutete, daß ich mich auf eigene Faust wieder nach Beirut durchschlagen mußte. Die Reisegesellschaft ist schon am
Samstag abgeflogen, und in gewisser Weise ist das die Ursache meiner Schwierigkeiten.“ Ich erklärte ihm kurz, was im Zusammenhang mit diesem Visum geschehen war. „Ich verstehe. Aber das ist ja sehr unangenehm. Wahrscheinlich müssen Sie sich ein neues Visum besorgen? Dann wollen Sie wohl in der Rue Badaro zur Sûreté?“ „Ja.“ Ohne es zu wollen, warf ich einen besorgten Blick auf meine Uhr. „Haben Sie eine Ahnung, wie die Dienststunden dort sind?“ Er antwortete mir nicht sofort, aber ich bemerkte, wie er einen raschen Blick auf seine eigene Armbanduhr warf. Dann beugte er sich vor und sagte etwas auf arabisch zum Fahrer. Der große Wagen schoß mit erhöhter Geschwindigkeit dahin. Mr. Lovell lächelte mich an. „Sie sollten es eigentlich noch schaffen können. Vielleicht aber kann ich Ihnen helfen. Machen Sie sich keine Sorgen mehr.“ „Sie? Sie kennen dort jemand?“ „Das kann man wohl sagen. Es ist mir jedenfalls klar, wie dieses Mißgeschick zustande kam. Niemand ist schuld, und ich bezweifle, daß es schwierig sein sollte, Ihnen zu einem neuen Visum zu verhelfen. Sie werden nur leider wieder etwas Geld auf den Tisch legen und warten müssen, bis die Beamten ein paar Formulare in dreifacher Ausfertigung ausgefüllt haben, aber mehr ist es auch nicht. Sie können also einstweilen Ihre Sorgen vergessen. Ich kann Ihnen versichern, es wird alles glattgehen. Wenn Sie wollen, komme ich mit hinein und regle die Geschichte für Sie.“ „Würden Sie das wirklich tun? Ich meine – wenn Sie die Zeit dazu haben. Das wäre furchtbar nett von Ihnen!“ Ich war etwas verwirrt und fühlte mich so erleichtert, daß ich fast stotterte. „Das hat doch nichts zu bedeuten“, antwortete er ruhig. „Rauchen Sie?“ „Nein, das heißt, manchmal rauche ich doch. Vielen Dank, ich nehme eine. Ach, sind es türkische?“
„Nein, Latakia – das ist der beste syrische Tabak. Versuchen Sie mal.“ Ich nahm eine Zigarette, und er gab mir Feuer. Der Fahrer, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte, rauchte bereits. Mr. Lovell zündete sich nun selber eine Zigarette an und lehnte sich neben mir zurück. Sein Feuerzeug war, wie ich bemerkte, aus Gold, ebenso wie das Zigarettenetui. Seine Manschettenknöpfe waren gleichfalls aus massivem Gold und wiesen eine schön bearbeitete, gehämmerte Oberfläche auf. Ein Mann, der etwas darstellte, und ganz gewiß ein Mann mit großer Selbstsicherheit. Vielleicht eine einflußreiche Persönlichkeit? So trat er auf. Ich begann mich zu fragen, ob ich vielleicht zufällig die „brauchbaren Verbindungen“ in Beirut gefunden hatte, von denen im Gespräch mit meinem Vater die Rede gewesen war. Es sah wirklich so aus, als brauchte ich mir um die Sûreté und das Visum keine Sorgen mehr zu machen. Er schwieg und blickte, halb von mir abgewandt, zum Fenster hinaus. Eine Weile rauchten wir, ohne zu sprechen, während der große Wagen lautlos nach Süden und Westen fuhr, dann den Paß über den Hohen Libanon hinter sich ließ und bergab auf das in der Ferne sichtbare, weit ausgedehnte Beirut zujagte. Ich war froh, nur still dazusitzen und nicht mehr denken zu brauchen. Dies war eine Pause, ein Intervall in der Zeit, ein Augenblick, in dem ich mich, bevor die nächsten Schwierigkeiten an mich herantraten, gehenlassen konnte. Und diese nächsten Schwierigkeiten würden durch den liebenswürdigen, selbstsicheren Mr. Lovell für mich gemildert werden. Da erst, als ich mich nun gehenlassen konnte, als die ganze spröde Gespanntheit nachließ, mein ganzer Körper, meine Nerven in eine Art Schläfrigkeit zurücksanken, wurde mir bewußt, wie angespannt, wie überreizt ich gewesen sein mußte, wie sinnlos und nutzlos aufgedreht, um etwas zu begegnen, das im Grunde nur meiner eigenen Phantasie
entsprungen war. Ich hatte Hamid etwas zu verstehen gegeben, was ich dann, weil er es falsch gedeutet hatte, ganz auf mich gestellt, hatte in Ordnung bringen müssen. Jetzt schien ich auf dem besten Weg zu meinem Ziel zu sein. Inzwischen jagte der Wagen mit hoher Geschwindigkeit dahin, die Sonne schien warm und stark zum Fenster hinein; der Wind trieb die Asche als grauen Staub von meiner Zigarette weg und zerriß den Rauch zu durchsichtigen, blauen Schleiern. Ich war zufrieden damit, eine träge Hand zu heben, um ihn von meinen Augen zu entfernen; dann ließ ich die Hand, die Handfläche nach oben, in meinen Schoß sinken und lehnte mich ruhig und ohne einen Gedanken zurück. Mein Begleiter, wie es schien, ebenso entspannt wie ich, saß immer noch von mir abgewandt und blickte auf seiner Seite des Wagens auf die Landschaft hinaus. Hier stürzte der Steilhang jäh von der Straße weg in eine tiefe Schlucht, die sich grün und von Felsen übersät bis zu einem dunklen Wald und einem fließenden, schimmernden Gewässer erstreckte. Jenseits von Wald und Fluß stieg das Land erneut in Terrassenfeldern von Gold, Grün und dunklem Gold zu noch steinigeren Höhen und den grauen Säumen von Schnee an. Die Pappeln am Straßenrand rasten und blinkten vorbei wie Telegrafenmasten; kahl und dünn zeichneten sie sich gegen den Schnee in der Ferne und den heißen, blauen Himmel ab. „Guter Gott!“ Mr. Lovell, der fast träumerisch hinausgeblickt hatte, richtete sich plötzlich aufmerksam auf, riß sich die dunkle Brille herunter, drehte seinen Hals noch mehr herum und beschattete seine Augen. Er blickte interessiert den Hang hinab. „Was ist?“ „Eigentlich nichts weiter – nur ein schöner Anblick, das ist alles. Und hier nicht einmal so fehl am Platz, wie man meinen sollte.“ Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Hier lebt die Romantik noch immer fort – Harun al Raschid, die Düfte Arabiens und Blut auf Rosen. Da reitet ein Araber mit einem Paar persischer
Windhunde, kennen Sie sie? – Salukis, schöne Tiere. Nein, wie aufregend!“ Im ersten Augenblick erfaßte ich nicht, was er sagte. Ich mühte mich mit dem Aschenbecher an der Rückenlehne des Vordersitzes ab und versuchte, meine Zigarette zu zerdrücken. Er fügte hinzu: „Er sollte auch noch einen Falken auf seinem Handgelenk tragen; wahrscheinlich hat er auch einen, aber ich kann es auf diese Entfernung nicht erkennen.“ Ich blickte rasch auf. „Sagten Sie, ein Reiter mit zwei Salukis? Hier?“ Natürlich konnte es sich nur um einen reinen Zufall handeln. Wir mußten uns, viele Meilen entfernt, auf der falschen Seite von Beirut befinden, und Dar Ibrahim lag weit weg. Es konnten also nicht John Lethman und seine Salukis sein. Aber dieser seltsame Zufall veranlaßte mich doch, mich aufzusetzen und zu sagen: „Wo? Kann ich sie sehen?“ Ich mußte mich an ihm vorbei vorbeugen, um den Hang hinunterzublicken. Er lehnte sich zurück und deutete auf einen Punkt weit unterhalb von uns und ein gutes Stück entfernt. Der Wagen jagte die Außenseite einer Kurve entlang. Die Straße war hier weder durch eine Mauer noch durch ein Geländer geschützt, und das Bankett bestand nur aus einem Meter ausgetrockneten Lehms, auf dem Disteln zwischen Pappeln wuchsen. Dahinter fiel der Hang ab. Ich schaute hinunter. „Ich kann nichts sehen. Welche Farbe hat denn das Pferd?“ „Helles Kastanienbraun.“ Wieder deutete er hinunter. „Dort, sehen Sie mal, er reitet gerade in das Gehölz hinein. Schnell! Der Mann ist weiß gekleidet. Sehen Sie?“ Ich bemühte mich, etwas dort zu sehen, wohin seine rechte Hand deutete. Als ich mich dicht an ihm vorbeibeugte, legte er ruhig seinen linken Arm um mich und hielt mich fest. Einen Augenblick glaubte ich, er wollte mich festhalten, da der Wagen noch immer durch die Kurve fuhr. Dann wurde mir
klar, daß es sich hier um eine bewußte Annäherung handelte; ich zog mich abwehrend zusammen und versuchte, mich ihm zu entziehen. Aber er hielt mich fest, sein Arm war wie Eisen, seine Hand packte jetzt meinen linken Arm, und ich war hilflos. Mein Körper war fest an den seinen gepreßt, und mein rechter Arm war dadurch eingeklemmt. „Wenn Sie sich still verhalten, wird es Ihnen nicht weh tun.“ Die Stimme schien mir bekannt. Auch die Augen, die jetzt ohne Brille in die meinen starrten. Die lange Nase, das olivfarbene Gesicht, die im Lampenschein bleich aussehen mußten... Aber das war ja Wahnsinn. Wenn es schon Wahnsinn war, anzunehmen, daß John Lethman hier draußen, vierzig Meilen von Dar Ibrahim entfernt, umherritt, war es noch wahnsinniger, sich einzubilden, daß meine Großtante Harriet, verkleidet als ein Mann von rund vierzig Jahren, mich mit dieser ungestümen Kraft und mit einer Hand festhielt, während die andere emporschoß und etwas Glänzendes hoch hielt... Ich schrie auf. Der arabische Fahrer fuhr ruhig weiter, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Er nahm eine Hand vom Steuer, um Asche in den Aschenbecher abzustreifen. „Was tun Sie? Wer sind Sie?“ Keuchend und mich in seiner Umklammerung windend, setzte ich mich, so gut ich konnte, zur Wehr. Der Wagen schwankte und fuhr in der nächsten Kurve weit in die andere Fahrbahn hinein. Aber es kam nichts entgegen. Das scharfe Anschneiden der Kurven, der Steilabfall auf der einen Seite, der offene Himmel auf der anderen, waren wie der Flug eines Eissturmvogels durch einen leeren, hellen Nachmittagshimmel; der rhythmische Einfall der Schatten, wenn die Pappeln vorbeijagten; das sorglose Schweigen des arabischen Fahrers – dies alles traf auf seltsam barmherzige Weise zusammen, um mich von dem Angsttraum zu isolieren, hier geschähe etwas, was ganz unmöglich geschehen konnte.
Er lächelte mich grausam an. Auf die kurze Entfernung wirkten seine Zähne abstoßend, wie ein Erlebnis in einem Gruselfilm. Großtante Harriets Augen blinzelten und funkelten, während er mich mit aller Kraft niederhielt. „Wer sind Sie?“ Es war ein letztes Keuchen kurz vor jenem Punkt, an dem die Nerven nachgeben, und ich merkte, daß er sich über diese Tatsache im klaren war. Seine Stimme war sanft. Ich war jetzt ganz still, kraftlos und wie benommen. „Jetzt erinnern Sie sich natürlich. Ich habe Ihnen gesagt, wir wären einander schon früher begegnet, aber wir wurden einander nicht richtig vorgestellt. Henry Lovell Grafton, wenn Sie den ganzen Namen wissen wollen... Bedeutet er Ihnen etwas? Ja, das habe ich mir schon gedacht. Und jetzt halten Sie still, oder es tut weh.“ Bei diesen Worten stieß seine rechte Hand auf meinen nackten Arm zu. Etwas stach, blieb stecken, brannte und wurde wieder zurückgezogen. Er ließ die Spritze in seine Tasche gleiten, lächelte wieder und hielt mich fest. „Pentothai“, sagte er. „Arzt zu sein hat seine Vorteile. Sie haben noch zehn Sekunden, Miss Mansel.“
Vierzehntes Kapitel ... Noch erinnere ich mich, wie lange es währte (Denn ich lag überwältigt, ich weiß es wohl). S. T. Coleridge: Christabel
Ich mußte feststellen, daß Dr. Henry Grafton zur Überschätzung neigte. Es waren nur etwa sieben Sekunden nötig, um mich einzuschläfern, und als ich erwachte, war ich fast von Dunkelheit umgeben, von der bedrückenden Dumpfheit eines geschlossenen, fensterlosen Raums, der nur vom schwachen Licht einer kleinen, vergitterten Öffnung hoch oben in der Mauer über der Tür erhellt wurde. Zunächst einmal empfand ich das Erwachen natürlich als normal. Mein Blick fiel verschwommen auf eine dunkle Wand, auf der sich Schatten leicht bewegten, Fetzen in einem Luftzug ähnlich. Es war warm und sehr still, eine lastende, stickige Stille, die langsam das Gefühl in mir aufsteigen ließ, eingesperrt zu sein. Durch die Schichten eines tiefen Betäubungsschlafes drang leichtes Geflatter, wie das eines Insekts an einer Scheibe, langsam bis in mein Bewußtsein. Es beunruhigte mich. Ich mußte aufstehen und das arme Geschöpf hinauslassen. Ich mußte das Fenster öffnen und Luft hereinlassen... Aber noch nicht; ich wollte mich jetzt noch nicht bewegen. Mein Körper fühlte sich schlaff und schwer an, ich hatte Kopfschmerzen und ich fror. Letzteres hatte auch eine gute Seite, denn als ich eine Hand auf meine dröhnende Stirn legte, war diese Hand feucht, kühl und lindernd. Ich lag, wie ich feststellte, auf Decken. Ich versuchte, mich mit ihnen zu bedecken, drehte mich um und drückte meine kalten Hände gegen Wangen und Stirn. Ich war noch immer von der
schweren Mattigkeit als Folge des Betäubungsmittels erfüllt, und in verschwommener Weise – es gab überhaupt nichts anderes als Verschwommenheit – war ich dankbar dafür. Ich hatte das Gefühl, daß etwas Großes, Dunkles und Erschreckendes gerade außerhalb meiner Reichweite lauerte und raunte; aber etwas in mir weigerte sich, diesem Fremdartigen entgegenzutreten. Ich hielt mein tastendes Denken zurück, schloß meine Augen, verkroch mich unter die Decken und dachte nur noch an Schlaf... Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis ich das zweitemal wieder zu Bewußtsein kam: Ich könnte mir vorstellen, daß nicht so viel Zeit vergangen war. Diesmal war die Rückkehr endgültig, übergangslos und zutiefst erschreckend. Plötzlich war ich hellwach und mir aller Ereignisse klar bewußt. Ich erkannte sogar, wo ich mich befand. Ich war wieder in Dar Ibrahim. Der Geruch verriet es mir, noch Sekunden bevor mein Gehirn meine Sinne einholte – stickige Luft, Staub, Petroleum und der undefinierbare scharfe Duft von Großtante Harriets Tabak. Ich lag in einem der Lagerräume unter dem See des Serails, - hinter einer jener verschlossenen Türen, die auf den unterirdischen Gang hinausführten, den Charles und ich gegangen waren, um den Diwan des Prinzen zu finden... Das war es. Das war der raunende Gedanke, der mir nach meiner Rückkehr aus dem Reich der Toten aufgelauert hatte; das war der Gedanke, dem ich mich nicht hatte stellen wollen. Das Gespräch im Diwan des Prinzen. Großtante Harriet. Henry Grafton ... Ich konnte mir nur einen Grund für Henry Graftons groteske Kleidung denken, um mich in meiner Hartnäckigkeit abzuwimmeln, für die Tatsache, die chinesischen Kostbarkeiten und die geliebten Bücher im Staub verkommen zu lassen, und sogar für den Rubinring, den ich so flüchtig an Halides Hand erblickt hatte. Etwas war meiner Großtante
Harriet zugestoßen, was diese Bande um jeden Preis verbergen wollte. Nicht etwa nur krank oder auch nur verrückt – sie mußten gewußt haben, daß sie ihre Familie, wenn es sich um das Testament handelte, nicht zu fürchten brauchten, und wo immer Lethman und Halide stehen mochten, so konnte ich mir doch nicht vorstellen, daß dies zu Henry Graftons Sorgen gehörte. Und gewiß waren doch die Risiken für das, was als Entgelt zu erwarten war, viel zu hoch. Auch konnte sie keine Gefangene sein wie ich; man hatte nicht versucht, mich daran zu hindern, den Palast bei Tageslicht nach Belieben zu durchstreifen. Dann mußte sie also tot sein. Und aus irgendeinem Grund mußte dieser Tod geheimgehalten werden. Im Augenblick konnte ich mir, während mir in diesem warmen, von der Luft abgeschlossenen Verlies kalte Schauer über die Haut rieselten, nur einen Grund dafür denken. Aber was auch immer diese Maskerade, das mitternächtliche Umherstreifen und nun dieses wohldurchdachte Unternehmen notwendig gemacht hatte, das mich in dieses Netz zurückgebracht hatte, ich würde es bald genug erfahren – und zwar auf höchst unangenehme Weise. Charles, der Gott weiß wie Verdacht gefaßt und einiges vermutet hatte, war weit weg und fuhr, Hamid auf den Fersen, auf Damaskus zu. Selbst wenn Hamid ihn einholen und ihn dazu überreden sollte, umzudrehen und mich zu holen, würde es einige Zeit dauern, bis sie meine Spur fänden. Im Phoenicia würde mich niemand vermissen. Und Ben hatte gesagte, ich sollte kommen, falls ich könnte... Christy Mansel, spurlos verschwunden. Ebenso wie Großtante Harriet und ihr kleiner Hund Samson oder wie die Geisterhunde, die für alle Zeit im Staub des verfallenden Palastes weggestellt waren... Es war unvorstellbar, daß mich das Medikament in einem Augenblick, in dem ich es mir am allerwenigsten leisten
konnte, in ein unbrauchbares Häufchen abgestumpfter Nerven und kraftloser Muskeln verwandelt hatte. Ich gab jedoch meinen Nerven einen Ruck, richtete mich auf und sah mich um. Ganz allmählich begann der Raum Gestalt anzunehmen. Ein kurzes Stück staubigen Fußbodens neben dem Bett, wohin das trübe Licht fiel, eine niedrige, mit Spinnweben überzogene Decke, ein Stück unverputzter Steinmauer, wo ein Wirrwarr von Leder und Metall – vielleicht Pferdegeschirre? – von rostigen Haken herabhing. Der schwache, raschelnde Laut drang von draußen herein, das Flackern eines niedriggedrehten Dochtes in einer Petroleumlampe. Das trübe Licht fiel unruhig durch das kleine Gitter und versank nach ein paar Schritten in der tiefen Dunkelheit, in der sich Stapel von Kisten, Kartons und Büchsen, die kleinen Benzinbehältern ähnelten, verschwommen abzeichneten... Zweifellos hatte ich mit meiner Annahme, wo ich mich befand, recht behalten. Das Luftloch mußte auf eine Lampe im unterirdischen Gang hinausgehen, und darunter war eine der massiven, versperrten Türen, die so abweisend aussahen und die Charles und ich miteinander entdeckt hatten. An dieser Tür war nicht zu rütteln. Und selbstverständlich gab es kein Fenster. Die Stille war überwältigend; sie war greifbar und erstickend, wie es die Stille in Kellern ist, die Stille einer unterirdischen Welt. Ich rührte mich nicht und lauschte. Mein Körper war noch steif, und hier und dort tat es mir weh, wie von Schlägen, aber die Kopfschmerzen waren verschwunden, und an ihre Stelle war ein Wachsein getreten, das in diesem Augenblick noch schlimmer und noch schmerzlicher war, ein Gefühl der Aufgewecktheit, eine schwerelose Lebendigkeit und eine höchst empfindliche Verletzbarkeit, einer Schnecke ähnlich, die aus ihrem Haus gerissen wurde und nichts mehr ersehnt, als
wieder zurückkriechen zu dürfen. Die Stille war vollkommen. Man konnte unmöglich sagen, ob sich noch ein Mensch im Palast befand. Ich hätte meinen können, man habe mich dort lebendig begraben. Diese abgegriffene Vorstellung tauchte, ohne daß ich mich ihrer eigentlichen Tragweite bewußt wurde, in meinem Denken auf und traf mich dann wie ein vergifteter Pfeil, als ich mir jäh der vielen Tonnen Fels und Erde über mir bewußt wurde, der schweren Wassermenge, die noch darüber lagerte. Von Menschenhand erschaffen, trügerisch, wahrscheinlich ebenso morsch wie der ganze Palast. Dieses Gewicht mußte gewaltig sein. Wenn das Gestein über mir auch nur eine schwache Stelle hatte, wenn sich die Erde auch nur im geringsten bewegte... Dann hörte ich, während ein Kälteschauer meine Haut prickelnd überlief, durch die tiefe Stille hindurch das leise Rieseln sich bewegender Erde. Ich war aufgesprungen, stand wie erstarrt da, der Schweiß brach mir aus, bevor kühle Überlegung wie ein Hauch frischer Luft mich traf. Das Rieseln war nichts weiter als das Ticken meiner Uhr. Ich stellte mich an der Tür auf die Zehenspitzen und hielt mein Handgelenk so dicht wie möglich an das Luftloch. Das kleine, vertraute Zifferblatt war wie ein Freund, das bekannte Ticken brachte mich wieder zur Vernunft, und außerdem konnte ich erkennen, daß es ein paar Minuten vor sechs war. Als ich am Nachmittag die Einladung Henry Graftons angenommen hatte, war es etwa vier Uhr gewesen. Ich war also länger als zwölf Stunden nicht bei Bewußtsein gewesen. Ich ließ meine Hand sinken, näherte sie der Tür und versuchte, sie zu öffnen. Die Klinke ließ sich ganz leicht herunterdrücken, aber die Tür gab auch nicht um einen Millimeter nach. Ich hatte es im Grunde von vornherein angenommen, so daß ich es ohne jede Erregung zur Kenntnis nahm. Ich war mir aber die
ganze Zeit über des Wertes solcher Bemühungen bewußt, denn sie hielten solche Vorstellungen wie die von Tonnen Gestein und Wasser, die auf mich herabstürzen würden, etwas in Schach. Das Geräusch, das ich vor kurzem noch gefürchtet hatte, näherte sich nun – es war so, als ob ein Angsttraum sich verflüchtigte. Ein Schlüssel im Schloß. Als sich die Tür leise öffnete, mit jener mir schon wohlbekannten, gutgeölten Lautlosigkeit, saß ich, wie ich hoffte, gefaßt auf dem Bett und versuchte, durch geraden Rücken und undurchdringliches Gesicht die Tatsache zu verbergen, daß ich mir nicht einmal zutrauen konnte, auf meinen Beinen zu stehen. Meine Lippen waren trocken, und mein Herz klopfte heftig. Ich ahnte nicht, was ich eigentlich erwartete. Aber ich hatte Angst. Es war John Lethman, der eine Lampe trug, und hinter ihm Halide, wie immer mit einem Tablett. Kaum hatte sich die Tür geöffnet, als ich Suppe und Kaffee roch. Hätte ich überhaupt daran gedacht, hätte ich erwartet, ausgehungert zu sein, aber ich war es nicht. Er stellte die Lampe in eine Wandnische, und Halide ging an ihm vorbei, um das Tablett auf einer Kiste abzusetzen. Sie sah mich mit ihren großen, schwarzgeränderten Augen verstohlen an, und ich erkannte die Genugtuung in ihnen. Das Lächeln verbreitete sich bis zu ihren Mundwinkeln; Boshaftigkeit spielte um diesen Mund. Die Seide ihres mit Gold gesäumten Kleides schimmerte, und ich wurde bei ihrem Anblick unangenehm daran erinnert, wie ich wohl aussehen mochte, meine Sachen vom Liegen unter den Decken verknittert und meine Haare in wer weiß welchem Zustand. Ich übersah sie mit eisiger Kälte und sagte zu Lethman gewandt ohne jede Einleitung: „Was ist mit ihr geschehen?“ „Mit wem?“
„Mit Großtante Harriet, natürlich. Versuchen Sie nur nicht, mir gegenüber dieses Theater weiterzuspielen. Ich weiß ganz genau, daß sich Ihr elender Komplice nur verkleidet hatte. Wo ist meine Tante?“ „Sie ist gestorben.“ „Gestorben?“ entgegnete ich scharf. „Ermordet wurde sie, wollen Sie wohl sagen!“ Am Rand meines Blickfeldes sah ich Halides Seide aufschimmern, als sie zusammenzuckte, und Lethman drehte sich rasch um und sah mich an. Er stand mit dem Rücken zur Lampe, und so konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen, aber seine Stimme klang aufs höchste erregt. „Werden Sie mir jetzt nur nicht theatralisch. Selbstverständlich habe ich nichts dergleichen gemeint. Sie ist eines natürlichen Todes gestorben.“ „Theatralisch! Was Sie nicht sagen! Und was bedeuten Ihre unterirdischen Gefängnisse, und welche Rolle spielt Ihre dunkeläugige Schönheit, und was hat Ihr kleiner Schauspieler dort oben mit seinen Methoden eines weißen Sklavenhändlers mit der Sache zu tun? Eines natürlichen Todes, daß ich nicht lache!“ rief ich zornig. „Drücken Sie sich lieber etwas genauer aus. Woran ist sie gestorben und wann?“ „Ich habe nicht die Absicht, Fragen zu beantworten“, erklärte er abweisend. „Dr. Grafton war ihr Arzt, er kann Ihnen alles erklären.“ „Bei Gott, und ob er das wird!“ rief ich. Er ging auf die Tür zu, aber mein Tonfall veranlaßte ihn, sich umzudrehen und mich anzusehen. Das Licht fiel jetzt voll auf ihn. Sein Gesicht verriet Verwunderung, sogar eine Art Beunruhigung, als sähe er mich plötzlich mit anderen Augen; er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloß ihn dann wieder ohne ein Wort. Ich fand, daß er ebenso gereizt aussah, wie seine Stimme klang; es lag in seinem Gesicht auch ein
Ausdruck der Niedergeschlagenheit, die Säcke unter den Augen verrieten Mangel an Schlaf, da waren Falten, die ich früher nicht bemerkt hatte, und für die er eigentlich zu jung war. Ganz bestimmt hatte es früher auch nicht die geschwollenen, blutunterlaufene Stelle an dem einen Mundwinkel gegeben, auch nicht den bös aussehenden Striemen von dem einen Backenknochen bis zum Ohr. Ich nahm dies alles gerade zur Kenntnis, als Halide heftig und gehässig rief: „Laß dir nichts von ihr gefallen. Du bist hier der Herr!“ Ich lachte auf. „Sieht wirklich ganz danach aus. Zunächst einmal: Wer hat Sie denn so zugerichtet? Und Sie glauben, ich sei diejenige, die hier in der Klemme sitzt? Täuschen Sie sich nur nicht! Und ich kann Ihnen versichern, Sie wären gut beraten, auf mich zu hören und mich hier herauszuholen. Ich möchte jetzt gehen. Und zwar sofort.“ Er atmete kurz und heftig ein – aus Zorn oder weil ihm das Atmen Mühe machte. Seine Stimme klang bewußt forsch. „Das kann ich mir denken. Aber sie werden trotzdem hierbleiben. Dr. Grafton wird nachher zu Ihnen kommen.“ „Er wird jetzt zu mir kommen. Nachdem ich mich gewaschen habe. Außerdem möchte ich meine Tasche wiederhaben.“ „Sie steht dort neben dem Bett. Seien Sie aber jetzt nicht so dumm; Sie müssen doch einsehen, daß Sie das tun müssen, was Ihnen hier befohlen wird. Wir haben Ihnen etwas zu essen gebracht und lassen Sie jetzt allein. Seien Sie vernünftig und betrachten Sie die Dinge in Ruhe. Wenn Sie sich richtig verhalten, wird Ihnen nichts geschehen. Gehen wir, Halide.“ „Ich will das verdammte Essen nicht!“ rief ich zornig. „Wollen Sie endlich aufhören, sich hier so komisch zu benehmen, und mich ins Badezimmer führen?“
„Später.“ Halide ging auf die Tür zu und drängte sich mit einem letzten Blick auf mich an ihm vorbei; wegen dieses Blicks hätte ich ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen. Auch John Lethman trat hinaus und schloß die Tür. Ich stand auf und rief laut: „Seien Sie kein solcher Idiot, Mr. Lethman. Ich will aufs Klo. Sie verstehen doch – Klo, Toilette, WC... Muß ich es wirklich buchstabieren?“ „Ach so.“ Er blieb stehen, und ich stellte mit Vergnügen fest, daß er wieder beunruhigt aussah. Offensichtlich hatte er sich eine ganz bestimmte Vorstellung von dieser Szene gemacht, Empörung und vielleicht Furcht erwartet, möglicherweise hatte er sich sogar innerlich darauf vorbereitet, und nun hatte die nüchterne Wirklichkeit seine Traumwelt zerstört. Nach einer Weile antwortete er ein wenig verlegen: „Na gut, vielleicht kommen Sie am besten gleich mit. Aber nehmen Sie sich nichts heraus! Es wird Ihnen auch nichts nützen...“ „›Es wird Ihnen auch nichts nützen, um Hilfe zu rufen, denn ich habe hundert nubische Wächter auf Rufweite!‹“ Ich beendete diesen Satz in so spöttischem Ton, daß es ihm die Stimme verschlug, während meine Selbstsicherheit gewaltig zunahm. „Los, bringen Sie mich auf die Toilette, Beherrscher der Gläubigen.“ Er antwortete mir nicht. Wieder lachte ich auf und ging an ihm vorbei hinaus. Mein Abgang wurde durch den Umstand ein wenig beeinträchtigt, daß ich in dem trüben Licht über eine zerbrochene Steinplatte stolperte. Es war mir unter der Nachwirkung des Betäubungsmittels noch immer etwas schwindlig. Er ergriff meinen Arm, und ich unterdrückte das jähe Verlangen, ihn abzuschütteln. Zunächst einmal brauchte ich diese Hilfe; und dann war er wahrscheinlich entschlossen, mich festzuhalten, so daß ich diese Situation insofern zu meinen Gunsten wandte, als ich dieses Festhalten als ein Zeichen seiner Sorge um mich auffaßte.
So dankte ich ihm und ließ mich von ihm aus dem Zimmer führen. Ich weiß nicht, ob Halide uns folgte; sie hatte ich völlig unbeachtet gelassen. Ich hatte recht gehabt. Es war der unterirdische Gang unter dem See, und meine Tür gehörte zu einem der verschlossenen Vorratsräume. Draußen lagen immer noch die Büchsen. John Lethman führte mich die Treppe hinauf bis zu Großtante Harriets Zimmer. Als wir an den schweren Vorhang gelangten, er ihn zur Seite schlug und damit das Bett sichtbar wurde, stieß ich einen Ruf der Verwunderung aus. „Tun Sie nur nicht so, als ob Sie diesen Weg nicht kennen“, erklärte er mürrisch. „Ich tue gar nicht so“, entgegnete ich. Es stimmte sogar: mich hatte das Licht überrascht. Es war gar nicht Morgen, wie ich erwartet hatte, sondern goldener Nachmittag, es war sechs Uhr, und das Ende eines heißen Tages war nah. Es mußte noch der gleiche heiße Tag sein, an dem ich nach Damaskus aufgebrochen war, wenn nicht meine Uhr vielleicht inzwischen stehengeblieben war. Das Pentothai hatte mich für nur knapp zwei Stunden lahmgelegt. John Lethman trat vorsichtig auf die Estrade und zog mich hinter sich her. „Ich bin nur überrascht, daß es noch hell ist“, fügte ich hinzu. „Ich habe das Gefühl, als sei ich seit einem Monat nicht mehr an frischer Luft und in angenehmer Gesellschaft gewesen. Sagen Sie mir eins, Mr. Lethman, wie haben Sie mich hergeschafft? Erzählen Sie mir nur nicht, daß Sie mich am hellichten Tag vom Dorf hinaufgetragen haben.“ „Der Wagen hat weder Beirut noch Sal’q berührt. Hinter Zahle biegt eine Straße ab, und danach führt eine ganz gut befahrbare Piste hinter dem Talschluß weiter. Sie brauchten nur ein paar Kilometer vom Wagen bis hierher getragen werden.“ „Den Pfad hinter dem Palast entlang? Deswegen fühle ich mich wohl so steif. Wie haben Sie mich denn hergeschafft, auf dem
Maultier?“ So töricht es scheinen mag, war ich doch in diesem Augenblick wütender als während der ganzen vorangegangenen Zeit. Ich war wütend und schämte mich. Es lag eine Demütigung in der Vorstellung, wie diese Männer mit meinem bewußtlosen, hilflosen Körper umgegangen sein mochten. In diesem Augenblick wäre ich am liebsten weggelaufen und hätte mich versteckt; aber später würde dieser Zorn mir vielleicht helfen. „Das Badezimmer ist hier“, sagte er. Es war die nächste Tür, die auf den Garten des Prinzen hinausging. Ich flüchtete in den weiträumigen Hammam wie ein Kaninchen, das in seinen sicheren Bau hineinschlüpft. Es mußte in früherer Zeit ein prächtigerer Hammam gewesen sein als der im Flügel der Frauen. Die Mauern waren aus Alabaster, und das Licht fiel in allen Räumen aus rautenförmig unterteilten Fenstern aus buntem Glas von der Decke her ein, die ein Geflimmer von Bernstein, Jade und Lapislazuli auf die rosig getönten Böden warfen. Der dadurch gedämpfte Sonnenschein glühte in diesem Labyrinth pfirsichfarbener Säulen wie Licht, das durch eine durchscheinende Muschel einfällt, und das Wasser, das in den seichten Rinnen rann und in Marmorbecken rieselte, fand hier einen Widerhall wie das Meer in den Gängen einer Höhle. Das kühle Wasser, das Licht und der blendende, flüchtige Anblick des kleinen Gartens auf meinem Weg in den Hammam vertrieben sofort die bedrückende Angst, die sich in der Enge des Gefängnisses meiner bemächtigt hatte. Ich suchte mir meinen Weg durch das Gewirr von Räumen bis in die Mitte dieses steinernen Irrgartens. Dort sprudelte schimmerndes Wasser in eine schwärzlich verfärbte silberne Muschel, und ein Faun aus Stein beugte sich mit einer Schale aus hauchdünnem Alabaster vor. Ich nahm sie von ihm entgegen, füllte sie und trank; dann zog ich mich bis auf mein Höschen und meinen Büstenhalter aus, wusch mich in dem kühlen Wasser und trocknete mich mit
meinem Unterkleid ab. Der Sonnenschein, der in bernsteinund amethystfarbenen Strahlen einfiel, schien wie Öl meinen Körper zu durchdringen und linderte die Steifheit meiner Glieder. Ich schüttelte mein Kleid aus und zog es wieder an; ich machte mir die Haare und das Gesicht zurecht; und ganz zum Schluß trocknete ich mir die Füße ab und zog die Sandalen wieder an. Ich warf das durchnäßte Unterkleid in eine Ecke, trank noch einen Schluck Wasser, spülte die Schale für den Faun aus und ging wieder zu John Lethman hinaus. Er saß auf dem Rand des ausgetrockneten Springbrunnens. Ich hatte diesen Garten nur einmal zuvor – in der Nacht – gesehen, und nun erhielt ich mehr als nur einen flüchtigen Blick auf eine Fülle gelber Rosen und zerbrochene, von üppigem Geißblatt überwucherte Säulen. John Lethman sprang rasch auf und wollte etwas sagen, aber ich schnitt ihm das Wort ab. „Sie brauchen nicht zu glauben, daß Sie mich in diesem ekelhaften kleinen Raum wieder einsperren können. Wenn dieser Dr. Grafton mich sprechen möchte, kann er es hier tun. Außerdem kann er schon jetzt, bei Tage, mit mir sprechen. Er braucht nicht mehr vorzugeben, daß er gern die halbe Nacht aufbleibt, also kann er auch auf seinen Turban und sein Nachtgewand verzichten.“ Ich ging an ihm vorbei in Großtante Harriets Schlafzimmer und rief ihm über die Schulter hinweg zu: „Wenn Sie wollen, daß ich etwas esse, brauchen Sie nur das Mädchen das Essen hierher bringen zu lassen.“ Er zögerte, und ich dachte schon, er würde auf seinem Willen beharren. Aber er antwortete lediglich: „Sie müssen sich nur darüber im klaren sein, daß dieser Teil des Palastes völlig abgesperrt ist. Sollten Sie versuchen auszureißen, werden Sie nicht sehr weit kommen, und selbst wenn Sie sich versteckten, würden die Hunde Sie finden.“ Ich lachte auf. „Und mich zerfleischen? Daß ich nicht lache!“ Ich näherte mich dem rotlackierten Stuhl und ließ mich mit so
viel majestätischer Überlegenheit auf ihm nieder, wie ich nur aufzubringen vermochte, während Lethman mit einem Blick tiefer Abneigung auf mich die Stufen hinaufging, um die Glocke zu läuten. Das vertraute Klingeln schrillte durch die Stille, widerhallte, und gleich darauf zerriß das Gebell der Hunde den Frieden des Nachmittags. Ich empfand dieses Getöse als tröstlich; die Geisterhunde waren auf meiner Seite, Tante Harriets Hunde, die meine Stimme und den Schritt meines Vetters erkannt hatten und die (ich sah es jetzt ganz klar, als dieser Gedanke plötzlich in mir zündete) vielleicht „den Dr.“ ebensosehr gehaßt hatten wie Samson und deshalb eingesperrt blieben, nur nicht in der Nacht, um dann eine allzu neugierige Miss Mansel in ihre Schranken zu verweisen. Bevor noch der Widerhall der Glocke verklungen war, wurden die Bettvorhänge heftig zurückgerissen. Henry Grafton trat durch die kleine Tür ein, wie ein Geist, der aus der Lampe hervorschoß, und rief wütend: „Wo, zum Teufel, ist denn das Mädchen? Die Tür steht offen, und wenn sie bis zum Haupttor gelangt, wird der Idiot wahrscheinlich inzwischen seine Anweisungen vergessen haben und sie noch mit Segenswünschen auf den Weg schicken.“ „Alles in Ordnung“, antwortete Lethman, „sie ist hier.“ Dr. Grafton blieb jäh stehen, wie ein Mensch, der in einen Draht gelaufen ist. Er wandte sich zu mir um. Einen unangenehmen Augenblick lang, während ich dort auf dem hochlehnigen Stuhl saß, dachte ich, er würde sich auf mich stürzen und mich packen, aber er schien sich, wenn auch mit Mühe, zu beherrschen und bedachte mich dafür mit einem langen prüfenden Blick, der mir ganz und gar nicht gefiel. „Was tut sie denn hier?“ Er sprach mit John Lethman, ohne seine Augen auch nur für Sekundenbruchteile von mir abzuwenden.
„Sie hat gebeten, ins Badezimmer geführt zu werden.“ „Ach so.“ Dieses einfache, natürliche Bedürfnis schien Grafton ebenso wie zuvor Lethman zu verwirren. Er stand dort wippend, am Rand der Estrade, offenbar unschlüssig, während ich mit sehr steifem Rücken auf meinem Stuhl saß und mich bemühte, um einige Grade kälter zu wirken als ein Eiswürfel, entschlossen, mich auf dem ganzen Weg zur Wehr zu setzen, sollten sie die Absicht haben, mich mit Gewalt wieder in mein Verlies zu schaffen. „Haben Sie geklingelt?“ fragte Halide an der Tür zum Garten. Wenigstens nehme ich an, daß sie das sagte, denn es war arabisch. Wieder trug sie Großtante Harriets Ring. Sie sah zwar Grafton an, aber ich antwortete auf englisch. „Ja, wir haben geklingelt. Nicht nach dir, aber da du einmal hier bist, kannst du mir ebensogut das Tablett holen. Auf die Suppe verzichte ich, aber ich werde Brot und Käse essen und habe auch nichts gegen eine Tasse Kaffee, während ich mit dem da rede.“ Sie fauchte mir etwas entgegen – inzwischen hatte sie jede Verstellung aufgegeben – und fuhr dann wütend die Männer an: „Ihr werdet sie doch nicht etwa hier draußen lassen? Warum führt ihr sie nicht wieder in das Zimmer zurück und sperrt sie ein? Warum laßt ihr sie dort sitzen und Befehle geben? Für wen hält sie sich eigentlich? Sie ist ein Niemand, das sage ich euch, ein Niemand, und schon sehr bald wird sie es wissen! Wenn wir sie erst einmal...“ „Hör mal zu, Halide...“ John Lethman versuchte, sie zu beschwichtigen, aber sie beachtete ihn gar nicht, sondern ließ ihren Zorn an Grafton aus. „Sie haben ja auch Angst vor ihr! Warum? Wagen Sie es nicht, sie dort hineinzuwerfen? Dann geben Sie ihr doch noch mehr von der Droge und sperren sie in das andere Verlies! Oder warum fesseln Sie sie nicht? Ich würde es schon tun, ich!“
„Ach, halt den Mund!“ rief ich, denn sie fiel mir auf die Nerven. „Laß das mit dem Tablett, ich halte noch durch, hör nur auf zu schreien, sonst glaube ich, eine Statistin in einem arabischen Film zu spielen! Aber Kaffee möchte ich trotz allem haben. Mach ihn noch einmal heiß, bevor du ihn bringst. Lauwarmen Kaffee kann ich nicht leiden.“ Der Blick, mit dem sie mich diesmal bedachte, war die reinste Prügelstrafe und siedendes Öl obendrein, und ich war froh, mir einen solchen Blick zugezogen zu haben. Sie fuhr wieder zu Grafton herum, kochend vor Zorn, aber er ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. „Halt’s Maul und tu, was man dir befiehlt. John, kannst du nicht etwas Vernunft in sie hineinprügeln? Es dauert jetzt nicht mehr lange.“ Er fügte noch etwas auf arabisch zu Halide gewandt hinzu, etwas freundlicher im Ton, und es folgten noch ein paar Worte zwischen ihnen, die sie zu besänftigen schienen. Nach einer Weile entfernte sie sich mit finsterem Gesicht. John Lethman stieß halb erleichtert und halb erschöpft einen Seufzer aus. „Entschuldige. Seit Tagen ist sie wie eine Schlange, der man auf den Schwanz getreten hat. Sie wird schon wieder zur Vernunft kommen.“ Er tupfte die wunde Stelle an seinem Gesicht ab, zuckte zusammen und tupfte noch einmal. „Soll ich Miss Mansel zurückführen?“ „Noch nicht gleich. Mach du nur weiter. Ich werde hier mit ihr reden. Und danach...“ Er beendete seinen Satz auf arabisch, und John Lethman nickte. Seine Antwort war wortlos und nicht sonderlich ermutigend. Er fuhr sich mit einer mörderischen, kurzen Bewegung mit der Kante seiner Hand über die Kehle, und Henry Grafton lachte auf. „Wenn du es kannst“, sagte er auf englisch. „Also gut.“ Lethman ging hinaus. Was mir an jämmerlicher Initiative noch geblieben war, wollte ich mir bewahren, und so begann ich als erste zu sprechen. Meine
Stimme klang scharf, hoch vor Erregung und überraschend kräftig „Wie wär’s, wenn Sie anfingen, Dr. Grafton? Gibt es hier nicht sehr viel, was einer Erklärung bedarf?“
Fünfzehntes Kapitel Dann beerdigt mich In einem lieblichen Winkel des Gartens. E. FitzGerald: The Rubáiyát of Omar Khayyám
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. Er betrachtete mich unter gesenkten Augenlidern hervor, noch immer mit jenem prüfenden, fast klinischen Blick. Seine Augen waren dunkel und schimmerten wie Sirup; im Gegensatz dazu wirkten die schweren Lider dick und wächsern. Die Haut um die Augen herum wies jenes gewisse Braun überreifer Pflaumen auf. „Nun?“ fragte ich scharf. Er lächelte. „Sie sind eine streitbare Person, was ? Ich könnte Sie deswegen bewundern.“ „Sie erregen mich unbeschreiblich. Setzen Sie sich und fangen Sie an.“ Er trat von der Estrade herunter und durchquerte das Zimmer, um sich einen Stuhl zu holen, der an der Wand stand. Er trug nun nicht mehr den Anzug eines seriösen Geschäftsmanns, sondern dunkle Hosen und ein olivgrünes, am Kragen hochgeschlossenes russisches Hemd, wodurch er noch blasser wirkte und die Gedrungenheit seiner Gestalt stärker hervorgehoben wurde. Er sah sehr kräftig aus, und diese Kraft saß bei ihm vor allem im Rücken und im Hals wie bei einem Stier. Meine Grobheit schien ihm nicht das geringste auszumachen. Er war weiterhin sehr höflich, sogar freundlich, als er sich mit seinem Stuhl näherte und sich mir gegenüber niederließ. „Zigarette?“ „Nein, danke.“ „Es würde Ihnen helfen, Ihre Nerven zu beruhigen.“ „Wer behauptet, daß sie Beruhigung nötig haben?“
„Aber ich bitte Sie, Miss Mansel, ich habe Sie bisher für einen Realisten gehalten.“ „Ich hoffe es noch immer zu sein. Schon gut. Bitte, meine Hand zittert. Sind Sie jetzt zufrieden?“ „Ganz und gar nicht.“ Er zündete meine Zigarette an und löschte das Streichholz mit einer schlenkernden Handbewegung. „Es tut mir leid, daß ich habe tun müssen, was ich getan habe. Bitte, seien Sie davon überzeugt, daß ich Ihnen nichts Böses zufügen möchte. Ich hatte Sie nur hierher zurückbringen müssen, um mit Ihnen zu reden.“ „Müssen...?“ Ich sah ihm gerade in die Augen. „Ich bitte Sie, Dr. Graf ton! Sie hätten mit mir doch im Wagen reden können. Oder bevor ich Dar Ibrahim verließ, wenn Sie die Maskerade ohnehin aufgeben wollten.“ Ich lehnte mich zurück und zog an meiner Zigarette. Diese Geste half mir, das bißchen Zuversicht zu gewinnen, das mir noch fehlte, und meine Nerven begannen sich zu entspannen. „Ich muß schon sagen, Sie haben mir in der hübschen Verkleidung, die Sie neulich in der Nacht angelegt hatten, weit besser gefallen. Ich verstehe sehr gut, warum Sie Ihre Gäste nur um Mitternacht empfangen. Sie und dieser Raum wirkten in der Dunkelheit erheblich besser.“ Was den Raum betraf, so war dies bestimmt wahr. Was man im Schein der Lampe noch als romantische Schmuddeligkeit gelten lassen konnte, erwies sich nun bei Tageslicht lediglich als Dreck und Verwahrlosung. Die Bettvorhänge waren zerschlissen und schmutzig; der Tisch neben mir bot mit seinen benutzten Tassen und Tellern und mit der von Zigarettenstummeln halb gefüllten Untertasse einen äußerst widerwärtigen Anblick. „Na schön“, sagte ich noch immer aggressiv, „schießen Sie los. Und fangen Sie bitte ganz von vorn an. Was ist Tante Harriet zugestoßen?“ Er sah mir offen ins Gesicht und hob abwehrend die Hand. „Sie müssen mir glauben, daß ich Ihnen nur zu
bereitwillig von allem berichte. Ich gebe zu, daß Sie allen Anlaß zu Mißtrauen und Verärgerung haben, aber glauben Sie mir, es geht dabei nur um Sie, und ich werde das gleich näher erklären. Was Ihre Großtante betrifft, so liegt keinerlei Anlaß zur Sorge vor, nicht der geringste! Sie ist ganz friedlich gestorben. Sie wissen natürlich, daß ich ihr Arzt war: ich bin die ganze Zeit über bei ihr gewesen, und das trifft auch für John zu.“ „Wann ist sie gestorben?“ „Vor zwei Wochen.“ „Woran?“ „Miss Mansel, sie war über achtzig.“ „Kein Zweifel daran, aber es muß doch eine unmittelbare Ursache gegeben haben. Was war es? Das Herz? Ihr Asthma? Oder ganz einfach Vernachlässigung?“ Ich sah, wie er die Lippen leicht zusammenpreßte, aber er antwortete mir mit der gleichen Freimütigkeit, mochte sie auch gespielt sein. „Das Asthma war nur Erfindung, Miss Mansel. Für mich war das schwierigste, meine Stimme zu verstellen. Als John mir berichtete, wie hartnäckig sie wären, und es uns klar wurde, es sei wohl unmöglich, Sie abzuwimmeln, brauten wir eine Geschichte zusammen, die es mir erlauben würde, nur im Flüsterton zu sprechen. Und wie Ihnen inzwischen wahrscheinlich klargeworden ist, entsprach das Bild, das ich Ihnen von einer vergeßlichen und sehr sonderbaren alten Dame bot, keineswegs der Wahrheit. Ihre Tante war bis zu ihrer Todesstunde durchaus im Besitz aller ihrer geistigen Kräfte.“ „Was war es denn dann?“ „In erster Linie ihr Herz. Sie hatte im vergangenen Herbst eine leichte Koronarthrombose und eine zweite im Februar – danach mußte ich hier bei ihr wohnen. Außerdem war sie, wie Sie vielleicht wissen, schwierig im Essen und litt in letzter Zeit unter wiederholter Übelkeit und unter Magenbeschwerden, die
zu der körperlichen Belastung beitrugen. Vor drei Wochen hatte sie dann eine ihrer Magenstörungen, eine schlimme, und ihr Herz war ihr nicht gewachsen. Das ist die ganze Geschichte auf eine einfache Formel gebracht. Sie war, ich wiederhole es, über achtzig. Man hätte kaum erwarten können, daß sie es übersteht.“ Eine Weile sagte ich nichts. Ich zog an meiner Zigarette und sah ihn an. Dann sagte ich unvermittelt: „Haben Sie einen Totenschein? Haben Sie ihn hier?“ „Ja, ich habe einen hier. Er ist unterzeichnet. Für die Akten. Sie können ihn jederzeit sehen, wenn Sie das wünschen.“ „Ich würde nicht ein Wort davon glauben. Sie haben Tante Harriets Tod geheimgehalten, Sie, John Lethman und das Mädchen. Man könnte sogar behaupten, daß Sie sich erhebliche Mühe gegeben haben, ihn geheimzuhalten. Warum?“ Er hob eine Hand! „Weiß Gott, ich nehme Ihnen das nicht übel, unter solchen Umständen würde ich selber kein Wort davon glauben; aber die einfache Tatsache bleibt bestehen, daß ich, weit davon entfernt, Ihre Großtante aus dem Weg räumen zu wollen, viel getan habe – ich habe wirklich viel getan –, um sie am Leben zu halten. Ich erwarte von Ihnen nicht, es mir zu glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich sie gemocht habe, aber vielleicht werden Sie mir glauben, daß ihr Tod gerade zu diesem Zeitpunkt mir äußerst ungelegen kam und mich ein Vermögen hätte kosten können. So hatte ich einen sehr stichhaltigen Grund, sie am Leben zu halten.“ Er klopfte Asche ab und ließ sie auf den Boden fallen. „Daher die Geheimhaltung und die Verkleidung, die ich Ihnen sogleich erklären werde. Es paßte mir nicht, daß Anwälte oder Verwandte sich im ganzen Palast breitmachten, und so habe ich ihren Tod nicht gemeldet; wir haben die Einheimischen im Glauben belassen, sie sei noch immer am Leben.“
„Und da tauchten mein Vetter und ich auf – gerade im falschen Augenblick. Ich verstehe. Aber in welcher Hinsicht im falschen Augenblick, Dr. Graf ton? Sollten Sie doch nicht lieber ganz von vorn anfangen?“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Gut. Ich war also seit etwa sechs Jahren der Arzt ihrer Großtante, und während der letzten drei oder vier Jahre bin ich alle vierzehn Tage einmal hierhergekommen, zuweilen auch noch öfter. Sie war zwar für ihr Alter sehr rüstig und aktiv, aber sie war so etwas wie eine malade imaginaire, außerdem war sie alt und fühlte sich, glaube ich, trotz ihres fanatischen Unabhängigkeitswillens ein wenig einsam. Da sie nun so allein mit ihren arabischen Bediensteten lebte, hat sie meiner Ansicht nach eine Krankheit oder einen Unfall befürchtet, durch die sie ihnen... durch die sie ganz ihrer Fürsorge überantwortet wäre.“ Ich dachte, er hatte sagen wollen: „Ihnen auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert.“ Ich mußte an Halide denken, die den großen Rubin an ihrem Finger getragen hatte, an den untersetzten, groben, mürrischen Nasirulla und den schwachsinnig vor sich hin faselnden Jassim. „Und was weiter?“ fragte ich. „So habe ich sie regelmäßig besucht, und das hat sie beruhigt – außerdem genoß sie die Gesellschaft eines Landsmanns. Ich muß gestehen, auch mir waren diese Besuche ein Vergnügen. Wenn sie sich wohl fühlte, konnte sie sehr unterhaltend sein.“ „Und John Lethman? Er hat mir zwar erzählt, wie es dazu gekommen ist, daß er hier aufgenommen wurde, aber ich weiß nicht, ob es stimmt.“ „O doch, einer der seltenen Fälle, in dem es John gelungen ist, blitzschnell zu denken. Sie haben vielleicht inzwischen schon erraten, daß er von Psychotherapie etwa ebensoviel versteht wie Sie. Er ist Archäologe.“ „Ich... ich verstehe. Daher das Interesse meiner Großtante. Ja, ich erinnere mich, daß ich ein wenig überrascht war, als er von
einer ›Klapsmühle‹ sprach... Im allgemeinen tun es Leute vom Fach nicht, denn sie wissen, wovon sie reden. Aber die Adonisgärten?“ „Die sind schon echter. Da könnte man sagen, daß er sich auf seinem ureigenen Gebiet bewegte. Die wissenschaftliche Arbeit, mit der er sich befaßte, bezog sich auf den Adoniskult, und ich nehme an, daß dort der Vorstoß auf das Gebiet der Psychologie des Krankhaften seinen Ursprung hat – dieser Unsinn über die ›ekstatischen Religionen‹ den er Ihnen verzapft hat, als Sie ihn stellten. Nicht so übel, was? Abgesehen davon hat er Ihnen, glaube ich, die Wahrheit erzählt. Er reiste umher, um Material für seine wissenschaftliche Arbeit zu sammeln; er hatte sein Lager in der Nähe des kleinen Tempels oberhalb des Palastes aufgeschlagen und wurde dort eines Tages von einem Unwetter überrascht – ähnlich wie Sie es erlebt haben –, und so ist er nach Dar Ibrahim gekommen. Ihre Großtante faßte Zuneigung zu ihm und forderte ihn auf, für die Dauer seiner Arbeit zu bleiben, und ohne daß von der einen oder anderen Seite viel darüber gesprochen worden wäre, ließ er sich hier nieder und begann, sich an ihrer Stelle um die Besitzung zu kümmern. Ich muß schon sagen, daß ich froh war, als er beschloß hierzubleiben. Es erleichterte meine Arbeit ganz erheblich.“ Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht hin, und es gefiel mir nicht. Wieder klopfte er behutsam Asche von seiner Zigarette. „Ein netter junger Mann.“ „Und so gut zu gebrauchen?“ „ Bestimmt. Er hat hier so manches in die Hand genommen. Die alte Dame hat sehr viel von ihm gehalten.“ „Dessen bin ich sicher. Aber ich meinte – für Sie. Für Sie gut zu gebrauchen.“
Die schweren Lider hoben sich ein wenig, und er zuckte leicht mit den Achseln. „Ach ja, für mich auch. Er hat einen ausgezeichneten Partner bei meinen – Geschäften abgegeben.“ „Ja, befassen wir uns doch einmal damit. Ihre Geschäfte. Sie leben, seitdem Sie Beirut verlassen haben, in Dar Ibrahim? Ja, das stimmt mit dem anderen überein. Sie waren der ›Leibarzt‹ und nicht etwa John Lethman. Sie waren ›der Arzt‹, von dem Jassim sprach, als Hamid und ich das erstemal ans Tor kamen... John Lethman hat sich bestimmt schnell aus der Sache herausgeredet! Aber mich hat eins gewundert: die Gei... die Hunde mochten ihn.“ „Die Hunde?“ „Ach, nichts weiter von Bedeutung. Nur hat sie im Februar einen Brief nach England geschickt, haben Sie das gewußt? Darin schrieb sie, ihr Hund könne den Doktor nicht leiden.“ „Richtig, das war dieser ekelhafte kleine Köter, den ich... der gestorben ist... Ja, so ist es, ich war der sogenannte ›Leibarzt‹. Das gehörte mit zu der Stanhope-Legende, wie Sie wahrscheinlich wissen; Ihrer Großtante machte es Spaß, ihren eigenen ›Dr. Meryon‹ zur Verfügung zu haben.“ Er sah mich ein wenig belustigt an. „Es schien mir wenig, was da von mir verlangt wurde. Sie hatte Anspruch auf ihre eigene Legende, obwohl ich mich selber kaum in der Rolle dieses unglücklichen Mannes sehen konnte, der sich Tag und Nacht in den Dienst dieses ungeheuerlichen Egoismus stellen mußte.“ „Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß die arme Tante Harriet Sie Tag und Nacht ihrem ungeheuerlichen Egoismus unterworfen hat? Und selbst wenn sie es getan haben sollte, was einigermaßen wahrscheinlich klingt, denn sie war ja immerhin eine Mansel, so hatte sie andererseits doch auch viel Sinn für Humor.“ „Sie brauchen sich nicht die Mühe zu geben, Motive für mich zu finden, denn ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich sie
mochte.“ Ein leichtes, schiefes Lächeln spielte über sein Gesicht hin. „Ich muß allerdings zugeben, daß sie es in den letzten paar Jahren ein wenig übertrieben hat. Gelegentlich wurde diese Rolle etwas anstrengend.“ Ich sah auf die Stelle an der Wand über dem Bett, wo Stock und Gewehr hingen. „Meine Hoffnungen wären wohl ein wenig zu hoch geschraubt, wenn ich davon ausginge, daß sie die beiden ein bißchen bei Halide ausprobiert hat?“ Er lachte auf, und dieses Lachen kam offenbar von Herzen. „Gelegentlich hat sie mit Gegenständen nach Jassim geworfen, aber weiter ist sie nie gegangen. Und Halide dürfen Sie nicht zu streng beurteilen. Sie gibt sich alle Mühe, das zu bekommen, was sie haben möchte.“ „John Lethman? Oder Dar Ibrahim? Beide sind für sie gleich unantastbar, das kann ich Ihnen versichern.“ Ich beugte mich vor, um meine Zigarette auf der Untertasse zu zerdrücken. Dann sah ich ihn einen Augenblick an. „Was meine Großtante betrifft, so könnte ich Ihnen wohl Glauben schenken ... Ich meine damit, ich bezweifle, daß Sie ihr etwas Böses haben antun wollen. Zunächst einmal scheint es Sie gleichgültig zu lassen, wie sie möglicherweise in ihren Briefen geschrieben hat..., es sei denn, daß Sie alle ihre Briefe zensiert hätten, und das nehme ich nicht an, da sie, soweit ich das zu beurteilen vermag, ungehindert mit den Leuten im Dorf und mit den Lieferanten sprechen konnte, die ihre Waren hier ablieferten. Ganz offensichtlich haben Sie ihren letzten Brief nicht gesehen, in dem sie Charles einlud, sie zu besuchen – auch Humphrey Fords Brief nicht.“ Ich erwartete fast, er würde fragen, wovon ich eigentlich redete, aber er tat es nicht. Statt dessen beobachtete er mich scharf. „Und ich neige auch eher dazu, John Lethman zu übergehen“, fuhr ich fort, „aber wie steht es mit den Bediensteten? Sind Sie ganz sicher, daß Halide
nicht ihre guten Gründe dafür hatte, sich zu wünschen, die alte Dame möge verschwinden?“ „Nein, nein, das ist Unsinn. Ihre Tante konnte den Bediensteten gegenüber zuweilen recht streng sein – diese Leute neigen dazu, überhaupt nichts zu tun, wenn man nicht ständig hinter ihnen her ist –, aber Ihre Tante mochte das Mädchen.“ „Das ist nicht ganz das, was ich gemeint hatte.“ „Und Halide hat sich rührend um sie gekümmert. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß Ihre Tante schwierig sein konnte, und diese Sitzungen in später Nacht sind wirklich eine Tatsache. Das Mädchen war manchmal völlig erschöpft.“ Er machte eine weit ausholende Handbewegung. „Diese Räume sind erst seit ihrem Tod so vernachlässigt worden, darüber müssen Sie sich im klaren sein. Wir haben zunächst einmal einen Teil des schlimmsten Gerumpels hinausgeschafft, weil wir sie benutzen wollten – sie befanden sich selbstverständlich im besten Zustand von allen und lagen am zentralsten –, aber es blieb ganz einfach nicht mehr die Zeit, sie richtig sauberzumachen, bevor Sie sie sahen.“ Wieder ein Blick. „Es gab für uns mehr als nur einen Grund, für die Dunkelheit dankbar zu sein. Gewiß, diese Gebäude sind schon die ganze Zeit verwahrlost gewesen, und sie lebte gern inmitten von allem möglichen Tand, aber auf jeden Fall wurden, solange sie lebte, die Räume saubergehalten... Mein Gott, es blieb gar nichts anderes übrig! Aber nun anzunehmen, Halide hätte Ihre Großtante so sehr gehaßt, daß... Nein, Miss Mansel.“ Er unterbrach sich, da Halide mit dem Tablett hereinkam. Sie stellte es neben mir auf den Tisch, diesmal mit einem Minimum an Kraft, und ging sofort aus dem Zimmer. Sie hatte mich beim Wort genommen und nichts weiter als Kaffee gebracht. Er war ein bißchen schwach, aber er war heiß und frisch aufgebrüht. Ich schenkte mir eine Tasse ein, trank ein paar Schluck und fühlte mich schon munterer.
„Darüber hinaus“, fuhr Henry Graf ton fort, „für John und Halide gilt das gleiche wie für mich. Sie hatten sogar noch mehr Veranlassung, sich zu wünschen, die alte Dame sei am Leben.“ „Bedeutet das, daß sie mit Ihnen in Ihre dunklen Geschäfte verwickelt sind ?“ „Man könnte es so nennen.“ „Hat meine Großtante ein Testament hinterlassen?“ fragte ich nun rundheraus. Er lächelte. „Jede Woche setzte sie eins auf. Abgesehen von Kreuzworträtseln war das ihr schönster Zeitvertreib.“ „Das war mir bekannt. Hin und wieder erhielten wir Zeitschriften. Was ist aus allen geworden?“ „Sie müssen irgendwo herumliegen.“ Seine Stimme klang gleichgültig. – „Sie hat sie immer wieder an den seltsamsten Stellen versteckt. Ich muß allerdings sagen, daß in diesem Palast nicht leicht etwas zu finden ist, aber Sie dürfen es versuchen.“ Ich muß ihn verwundert angesehen haben. „Wollen Sie damit sagen, daß Sie mich hier herumstöbern lassen?“ „Selbstverständlich. Tatsächlich ist es ja möglich, daß dieser ganze Besitz jetzt Ihnen gehört – oder noch wahrscheinlicher Ihrem Vetter.“ „Oder John Lethman?“ Er streifte mich mit einem Blick. „Nicht ganz unmöglich. Sie mochte ihn sehr gern.“ „Noch einer ihrer exzentrischen Einfälle?“ „Etwas, das sehr häufig vorkommt. Aber ich fürchte, daß nur noch sehr wenig übrig ist, was wirklich Wert hat. Es könnte ein paar persönliche Erinnerungsstücke geben, die Sie gern aus dem allgemeinen Chaos ausgraben möchten, und wie gesagt, es steht Ihnen völlig frei, es zu versuchen.“ „Zum Beispiel der Ring, den Halide trägt?“
Er sah mich überrascht an. „Der Rubin? Hätten Sie den gern gehabt? Gewiß war er das Lieblingsstück Ihrer Tante, sie hat ihn immer getragen, aber soviel ich weiß, hat sie ihn Halide geschenkt... Ja, natürlich... wahrscheinlich hätte Halide nichts dagegen...“ „Dr. Graf ton, denken Sie bitte nicht, daß ich hier Leichenfledderei betreibe, aber der Ring besitzt gefühlsbedingten Wert. Und ich bin ziemlich fest davon überzeugt, daß die Familie Himmel und Hölle in Bewegung setzen wird, um ihn zurückzubekommen. Außerdem hatte Tante Harriet die Absicht, ihn mir zu vermachen. Sollte sie ihn wirklich Halide geschenkt haben, muß sie schon ziemlich stark gesponnen haben, und kein Gericht wird ihn Halide zusprechen.“ „Ist er denn so viel wert?“ „Ich habe vom Wert von Rubinen keine Ahnung“, antwortete ich der Wahrheit entsprechend, „aber Sie können sich darauf verlassen, daß es sich dabei nicht etwa um ein kleines Andenken für das Mädchen handelt, und mag es noch so anhänglich gewesen sein. Dieser Ring hat meiner Urgroßmutter gehört, und ich will ihn zurückhaben.“ „Dann müssen Sie ihn auch bestimmt bekommen. Ich werde mit Halide sprechen.“ „Sagen Sie ihr, ich werde ihr statt dessen etwas anderes geben, oder aber, es findet sich hier noch etwas anderes, was sie gerne hätte.“ Ich stellte meine Tasse hin. Es folgte eine Pause. Ein großes Insekt, ein Käfer, summte durch den hellen Eingang herein, schwirrte ein paarmal im Raum umher und schoß wieder hinaus. Ich fühlte mich plötzlich sehr müde, als ob das Gespräch mir entglitte. Ich glaubte ihm... Und wenn ich ihm glaubte, war alles andere doch reiner Unsinn.
„Gut“, erklärte ich schließlich, „so kommen wir also zu dem, was seit ihrem Tod geschehen ist. Aber würden Sie mir bitte, bevor wir fortfahren, zeigen, wo sie liegt?“ Er stand auf. „Natürlich. Sie liegt draußen im Garten des Prinzen, so wie sie es sich gewünscht hat.“ Er ging mir voraus in den kleinen Hof, vorbei an dem ausgetrockneten Springbrunnen, durch schräge Streifen von Sonne und Schatten und zwischen Beeten verdorrter Erde, wo zu Anfang des Frühlings Iris und persische Tulpen blühten. Über die hohe Außenmauer drang ein Gewirr von Ästen weißen Jasmins, und daneben bildeten Ranken gelber Kletterrosen einen leuchtenden Vorhang. Es konnte kaum einen schöneren Rahmen geben. In dem von den Blumen geworfenen Schatten erhob sich ein flacher weißer Stein ohne jede eingemeißelte Inschrift. Obenauf der steinerne Turban eines verstorbenen Mohammedaners. Schweigend betrachtete ich eine Weile den Stein. „Ist das ihr Grab?“ „Ja.“ „Kein Name?“ „Es blieb keine Zeit mehr.“ „Sie müssen doch ebensogut wissen wie ich, daß dies das Grab eines Mannes ist.“ Er machte eine jähe Bewegung, unterdrückte sie aber rasch, und ich verspürte plötzlich Furcht in mir aufsteigen, als sich mein Körper abwehrend zusammenzog. Das war noch immer der gleiche Mann, der mich im Auto brutal überfallen hatte und der ein übles Spiel trieb, in dem er einen hohen Einsatz gewagt hatte... Irgendwo, nicht sehr tief unter der Oberfläche - gerade unterhalb der schweiß nassen Haut und hinter den öligschwarzen Augen – lauerte etwas, das keinesfalls so ruhig, so freundlich war, wie Dr. Henry Grafton nach außen gern erscheinen wollte. Aber nun erwiderte er, und es klang ein wenig nachsichtig und ein wenig belustigt: „Nein, Sie können
mich doch nicht in dieser Weise verdächtigen! Sie wissen doch – natürlich wissen Sie es! –, daß sie sich gern als Mann kleidete und sich auch wie ein solcher benahm. Wahrscheinlich genoß sie dadurch in arabischen Ländern eine Freiheit, die man normalerweise einer Frau nicht zugebilligt hätte. Als sie noch jünger war, nannten die Araber sie wegen ihrer Art zu reiten, wegen ihrer Pferde und ihres Aufwands, den sie gern entfaltete, ›den Prinzen‹. Dies hier hat sie“ – eine Handbewegung auf den Grabstein hin – „einige Zeit vor ihrem Tod selber entworfen. Bestimmt entsprang es der gleichen Vorstellung.“ Schweigend betrachtete ich die schlanke Säule mit dem ausgemeißelten Turban. Von allem, was ich bis dahin gesehen hatte, war dies für mich das fremdartigste Symbol. Ich mußte an die schiefen, von Flechten überwachsenen Steine auf dem alten Friedhof zu Hause denken, an die großen Ulmen, die Eiben neben dem Friedhofstor und an die Saatkrähen, die im Abendwind am Turm vorbeitrieben. Ein Schauer gelber Blütenblätter schwebte auf die glatten, heißen Steine herab, und eine Eidechse flitzte heraus, verharrte einen Augenblick zitternd, beobachtete uns und verschwand wieder. „›Ich habe mir hier in der Gegend einen ausgezeichneten Grabstein besorgt‹.“ „Bitte?“ fragte Henry Graf ton. „Entschuldigen Sie, ich war mir nicht dessen bewußt, daß ich laut dachte. Sie haben recht, genau das hat sie haben wollen. Und zumindest ist sie mit Freunden zusammen.“ „Mit Freunden?“ „Im nächsten Garten. Die Hunde, ich habe ihre Gräber gesehen.“ Ich wandte mich zum Gehen. Das Gefühl der Müdigkeit war noch immer nicht überwunden. Die bedrückende, von Düften erfüllte Hitze, das Summen der Bienen, vielleicht auch die Nachwirkungen der Injektion und der Aufregungen lasteten auf mir.
„Kommen Sie wieder herein und aus der Sonne heraus.“ Seine dunklen Augen bohrten sich in die meinen. Sie ließen mich nicht mehr los. „Ist Ihnen nicht gut?“ „Doch. Ich habe nur ein bißchen das Gefühl, als ob ich schwebe, aber es ist nicht unangenehm. War das nur Pentothai?“ „Ja, das war alles. Sie sind nicht lange bewußtlos gewesen, und es ist ganz harmlos. Kommen Sie mit.“ Im Zimmer schien es nach der im Garten sich stauenden Hitze verhältnismäßig kühl zu sein. Ich setzte mich erleichtert auf den Lackstuhl und lehnte mich zurück. Die Ecken des Zimmers verschwammen in Schatten. Henry Grafton nahm ein Glas vom Tisch und goß Wasser hinein. „Trinken Sie dies. Geht es besser? Bitte, rauchen Sie noch eine Zigarette. Sie wird Ihnen helfen.“ Ich nahm sie, ohne zu danken. Er gab mir Feuer und entfernte sich ein Stück, um seinen Stuhl aus dem Sonnenstrahl zu rücken, der jetzt durch ein Fenster schräg einfiel. Dann setzte er sich wieder. Ich legte meine Hände flach auf die geschnitzten Seitenlehnen des lackierten Stuhls. Dieser Anflug professioneller Besorgtheit hatte die Atmosphäre dieses Gesprächs verändert; dadurch, daß er den Arzt hervorkehrte, hatte er wieder unversehens Oberwasser bekommen. Ich versuchte, der Müdigkeit entgegenzuwirken und wieder den kühlen Ton des Anklägers und Angreifers anzuschlagen. „Gut, Dr. Grafton, damit wäre der erste Teil des Verhörs überstanden. Ich will vorläufig gelten lassen, daß meine Großtante eines natürlichen Todes gestorben ist und Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht stand. Nun kommen wir zu der Frage, warum Sie das getan haben, was Sie vorhin als ›Geheimhaltung und Verkleidung‹ bezeichnet haben... und was Sie mit mir angestellt haben. Sie haben noch sehr viel zu erklären. Fahren Sie fort.“
Er betrachtete eine Weile seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Dann blickte er auf. „Hat man Ihnen etwas über mich erzählt, als Sie in meinem alten Haus anriefen und erfuhren, ich sei abgereist?“ „Eigentlich nicht, aber die Pausen des Schweigens waren so vielsagend. Ich nehme an, daß Sie Schwierigkeiten irgendwelcher Art haben.“ „Stimmt. Ich war in Schwierigkeiten, und so habe ich mich aus dem Staub gemacht, solange es noch möglich war. Ich kann mir viele andere Orte vorstellen, an denen ich mich lieber aufhalte als ausgerechnet ein libanesisches Gefängnis.“ „Ist es so schlimm?“ „Ja, ziemlich schlimm. Es handelt sich um den illegalen Erwerb und Verkauf von Medikamenten. Hier ist es leichter, mit einem Mord davonzukommen.“ „Hätte man Sie nicht einfach deportiert?“ „Das hätte mir kaum etwas geholfen. Ich bin nämlich zufällig türkischer Staatsangehöriger, und die Strafen sind dort sogar noch strenger. Sie können es mir glauben, ich mußte verschwinden, bevor man mich schnappte, und sogar schnell. Aber ich besaß Vermögenswerte in diesem Land, und der Teufel sollte mich holen, wenn ich sie zurückließ, ohne sie zu Geld zu machen. Selbstverständlich hatte ich schon immer befürchtet, dies könnte eines Tages eintreten, und so hatte ich entsprechende Vorkehrungen getroffen. Dar Ibrahim war schon seit einiger Zeit mein Hauptquartier, und man kann es wohl auch als mein Vorratslager bezeichnen. Im Verlauf der letzten Monate war es mir auch gelungen“ – ein Zucken der braunen Augenlider und eine kleine Pause – „Johns Interesse zu wecken. Die eigentliche Flucht verlief ganz glatt. Ich wurde zum Flugplatz gefahren, ließ mich auf die Passagierliste setzen, dann aber übernahm jemand anders meine Flugkarte und bestieg das Flugzeug. Wenn Sie den Flugplatz hier kennen,
werden Sie wissen, daß es sich machen läßt. Draußen vor dem Flugplatz erwartete mich John und fuhr mich auf der Nebenstraße hierher – auf dem gleichen Weg, auf dem ich Sie heute hergebracht habe –, und das letzte Stück bin ich zu Fuß nach Dar Ibrahim gegangen. Ihre Großtante erwartete mich. Natürlich hatte ich ihr nicht die Wahrheit gestanden; dafür erfand ich für sie eine Geschichte von einer Abtreibung und von der Versorgung einiger Patienten aus den ärmlichen Schichten mit Drogen. Ebenso wie Lady Stanhope hatte sie für die Gesetze dieses Landes nur die größte Geringschätzung übrig, und so nahm sie mich auf und hielt die Sache geheim. Sie war viel zu erfreut, ihren Arzt als dauernde Einrichtung hier im Haus zu haben, um viele Fragen zu stellen; außerdem redete sie selber viel zuviel, um anderen Menschen gegenüber noch neugierig zu sein. Was nun die Bediensteten betraf, so hatte Halide schon längst ihr Auge auf John als Erlösung von Sal’q geworfen, und ihr Bruder stand ohnehin schon in meinen Diensten. Jassims Schweigen brauchte man sich kaum zu erkaufen; es gehört schon einige Übung dazu, mehr als ein Wort unter zwölf zu verstehen, im übrigen ist er zu dumm, um zu begreifen, was eigentlich vorgeht. So war ich also hier, hatte mich gut eingenistet, hatte eine sichere Basis, von der aus ich arbeiten konnte, und Johns Unterstützung als mein Vertreter draußen, um allmählich meine Vermögenswerte zu realisieren. Alles ging reibungslos, wie ein gutgeöltes Uhrwerk, es kam kein Verdacht auf, dafür floß Bargeld herein, und ich selber konnte daran denken, am Ende des Sommers endgültig zu verschwinden...“ Er hielt inne. Ich beugte mich vor, um Asche in die Untertasse zu klopfen, aber ich verfehlte sie, und die Asche fiel auf den Tisch, wo sie zur staubigen Patina beitrug. „Dann trat vor genau vierzehn Tagen der Tod Ihrer Großtante ein“, fuhr er fort. „Mein Gott, und Sie denken auch noch, ich
hätte sie getötet! Ganze neun Stunden habe ich an ihrem Bett verbracht – dort drüben – und habe wie eine Tigerin um ihr Leben gekämpft...“ Er wischte sich die Oberlippe ab. „Sie ist aber trotzdem gestorben – und ihr Tod hätte alles ans Licht bringen können; dadurch geriet ich in Gefahr, den Löwen vorgeworfen zu werden. Schließlich beschlossen wir, es darauf ankommen zu lassen und ihren Tod geheimzuhalten. Wir dachten, ein paar Wochen würden wir damit durchkommen, denn die brauchten wir noch, um das zur Zeit laufende Unternehmen abzuschließen. Ich konnte nicht hoffen, die Sache sehr viel länger vertuschen zu können, dazu war das Risiko auch zu groß. Wir mußten nur unsere Verluste so gering wie möglich halten und in aller Eile einen völligen Rückzug antreten – auf jeden Fall machten wir es so. Womit wir nicht gerechnet hatten, das waren Sie. Ihre Großtante hatte niemals etwas gesagt, was uns auf den Gedanken gebracht hätte, daß ein paar Tage später eine anhängliche Verwandtschaft ans Tor hämmern würde. Aber da tauchten Sie auf – und gerade im falschen Augenblick.“ Die Sonne war nun fast untergegangen, und ihr letztes Licht fiel in einem schrägen, hellen Strahl über meine Füße. Sonnenstäubchen wirbelten in ihm umher. Ich beobachtete sie ein wenig benommen. Der Mann auf dem anderen Stuhl jenseits dieses quirlenden Spiels schimmernder Stäubchen schien seltsam weit entfernt. „Anfänglich dachten wir, Sie wären leicht abzuwimmeln“, fuhr er fort, „aber Sie sind eine hartnäckige junge Dame, Sie sind zäh. Es gelang Ihnen, John Angst einzujagen, und wir fürchteten, Sie wären, wenn Sie wirklich anfingen, sich Sorgen zu machen, in der Lage, Hilfe von allen Seiten heranzuführen und mit einer Armee von Anwälten, mit einstweiligen Verfügungen und Gott weiß was sonst noch hier zu erscheinen; so dachten wir, wir hätten nicht viel zu verlieren, wenn wir es
mit dieser Maskerade versuchten, und falls Sie sich damit zufriedengeben sollten, würden Sie sich vielleicht während der paar Tage, die wir als Gnadenfrist noch brauchten, still verhalten. Es war ein verwegener Gedanke, aber ich glaubte, ein paar Minuten würde ich es im Halbdunkel schon durchhalten können, insbesondere auf Grund der Tatsache, daß Ihre Tante sich wie ein Mann gekleidet hatte. Gerade diese Gewohnheit war es, die mich auf diesen Gedanken gebracht hat. Hätten wir es abgelehnt, Sie überhaupt mit Ihrer Tante sprechen zu lassen, wären Sie überzeugt davon gewesen, sie sei krank oder John habe Sie aus selbstsüchtigen Gründen fernhalten wollen. Wäre Ihr Verdacht so stark gewesen, daß Sie einen Arzt oder einen Anwalt aus Beirut hergebracht hätten, wären wir verloren gewesen. So versuchten wir es, und es klappte.“ Ich nickte und dachte wieder an das Gespräch: das heisere Geflüster, das die Stimme des Mannes verbarg, der seltsame Anblick des kahlen Schädels, der eingeschrumpfte Mund, aus dem er wahrscheinlich zuvor seine untere Prothese herausgenommen hatte, und die wachsamen, dunklen Augen. Halides Nervosität und John Lethmans aufmerksame, scharfe Blicke hatten sicher ganz andere Ursachen als die, die ich mir eingebildet hatte. „Jetzt sehe ich klarer“, sagte ich. „Dieses ganze Geplauder John Lethmans beim Abendessen – da hatte er nur soviel wie möglich über die Familie feststellen wollen, um Sie von Dingen zu unterrichten, von denen Ihnen Tante H. nichts erzählt hatte. Sie wußten, daß ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, und so glaubten Sie, Sie könnten mich ziemlich leicht hinters Licht führen. Aber Charles war noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit mit ihr zusammen gewesen, und so war es nur verständlich, daß ›Großtante Harriet‹ ihn nicht empfangen wollte. O ja, ziemlich gut ausgeklügelt, Dr.
Grafton.“ Ich blies eine große Rauchwolke zwischen uns in die Luft. „Und im Grunde hat Ihnen die ganze Sache sogar recht großen Spaß gemacht, nicht wahr? John Lethman versuchte zwar, mich schleunigst wieder hinauszuführen, und bestimmt wäre ich auch gegangen, aber Sie wollten nicht, es machte Ihnen zu großen Spaß, mich so zu täuschen.“ Er lächelte. So grotesk es mir auch erschien, war es doch Großtante Harriets Gesicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, das mich jetzt durch den Rauch und durch den von Staub erfüllten Sonnenstrahl ansah, weit entfernt wie etwas, das man durch ein umgekehrtes Fernrohr betrachtet. „Ja, die Sache hat also geklappt“, sagte ich. „Mich hatten Sie hinters Licht geführt und Charles mit gutem Erfolg abgewimmelt. Nachdem ich den Palast verlassen hatte, war für Sie die Strecke frei, warum haben Sie mich dann wieder zurückgeschleppt? Ich war doch ganz beruhigt abgezogen? Warum also holen Sie mich jetzt so zurück?“ „Weil wir Ihren Vetter noch nicht los waren, und das wissen Sie. Ach, sehen Sie mich nur nicht mit so großen, unschuldigen Augen an, das paßt nicht zu Ihnen. Soll ich Ihnen erzählen, was sich hier abgespielt hat? Als Sie das erstemal von hier weggegangen sind, war es nicht Ihr Fahrer, der Ihnen entgegengekommen ist, es war Ihr Vetter. Miteinander haben Sie dann den Plan ausgeheckt, ihn am Montagabend einzulassen. Er kam auch, und zusammen haben Sie sich hier umgesehen. Ja, meine Liebe, jetzt wird Ihr Blick schon etwas echter.“ „Wie haben Sie das alles erfahren?“ „Ihr geliebter Vetter hat mir alles selber erzählt.“ Ich glaube nicht, daß ich etwas gesagt habe. Ich starrte ihn nur an. Ich vermochte nicht ganz zu erfassen, was er mir da sagte. Es war mir, als ob der ganze Raum sich um mich drehte, Rauch und staubdurchwogter Sonnenschein waren wie schimmernde
Nebelschwaden. „Nachdem Sie an jenem Abend in Ihr Zimmer zurückgekehrt waren, hatte er durch die hintere Pforte hinausgehen sollen – die Ausfallpforte, nicht wahr?“ Graftons Stimme klang ungemein sanft und einschmeichelnd. „Nun, das ist ihm nicht gelungen. John und ich sind ihm in dem Gang, der unter uns liegt, begegnet, wie er gerade damit beschäftigt war, eine der mit einem Vorhängeschloß versperrten Türen zu sprengen. Es war für ihn ziemlich sinnlos zu leugnen, wer er war – Sie beide sind einander ja sehr ähnlich, finden Sie nicht? So haben wir – wir haben ihn ganz einfach eingesperrt. Seitdem sitzt er im Gefängnis des Palastes. Es wird Sie wohl nicht überraschen zu erfahren, daß der Palast sein eigenes Gefängnis hat. Leider gab es nur eine brauchbare Zelle, und so mußten wir, als wir Sie erwischten, Sie in den einen Vorratsraum stecken.“ „Hier? Charles ist hier? Das glaube ich Ihnen nicht. Das kann nicht sein!“ Mein Denken schien sich vorzutasten, einem Menschen ähnlich, der sich durch einen von Rauch erfüllten Raum vortappt, nicht sicher, wo die Tür liegen mag oder wie weit es bis zum Fenster ist. Ich glaube, daß ich eine Hand an meine Stirn legte. „Sie lügen. Sie wissen ganz genau, daß Sie lügen. Er hat mir einen Brief geschrieben und ihn für mich in Beirut zurückgelassen. Er ist nach Damaskus gefahren, um Bens Vater aufzusuchen – nein, nach Aleppo. Und wir haben ihn gesehen – ja, wir haben ihn auf der Straße gesehen...“ „Gewiß hat er Ihnen einen Brief geschrieben. Er hat es selber vorgeschlagen. Falls er es nicht getan hätte, um sicherzustellen, daß Sie sich von Dar Ibrahim fernhielten und nicht anfingen, nach ihm zu suchen, wenn er im Phoenicia nicht auftauchte, hätten wir Sie am Morgen nicht weggehen lassen können.“ „Und warum haben Sie es getan?“ „Ihr Fahrer“, antwortete er ohne Zögern, „und Ihr Hotel. Ihr Vetter hat darauf hingewiesen, es sei einfacher, Sie
laufenzulassen, als daß jemand anfinge, unangenehme Fragen zu stellen. Außerdem berichtete er uns, Sie seien überzeugt davon, Ihre Großtante am Leben und wohlauf gesehen zu haben. Damit würden Sie nur zu der Überzeugung beitragen, alles sei in bester Ordnung.“ „So hat er den Brief geschrieben – diesen ganzen, aufgelegten Schwindel –, er hat sogar behauptet, er hätte Tante Harriet selber gesehen und sie erkannt... Das hat mir schon zu schaffen gemacht, ich hatte mir gedacht, er müßte Sie gesehen haben und dem gleichen Irrtum verfallen sein wie ich... Und Sie sagen, daß er diesen Brief mit der Absicht geschrieben hat, mich fernzuhalten?“ „Ganz richtig.“ Ich sagte nichts. Dieses Gespräch schien mit mir nicht mehr viel zu tun zu haben. Ich sah ihn noch immer lächeln, und während ich ihn verwirrt anstarrte, bemerkte ich, wie sein Lächeln breiter wurde. Oben hatte er keine falschen Zähne; die Schneidezähne waren gelblich und lang. Wieder begann er zu reden, bruchstückhafte Informationen, die wie Papierfetzen dahintrieben, um schließlich ein wirres Muster zu bilden: John Lethman – zweifellos der „Engländer“, den der Faun in der Ferne gesehen hatte – hatte den Porsche früh am Morgen nach Beirut gefahren, ihn irgendwo auf einem Innenhof versteckt, einen Mann, dessen Name Jusuf zu sein schien, geweckt und ihm den Brief gegeben. Dann war er von Jusuf zurückgefahren worden, der später den Brief im Hotel abgab und dann mich von da an beschattete. „Aber Sie, meine Liebe, haben sich nicht aus der Feuerlinie zurückgezogen. Ihr ganzes Verhalten ließ darauf schließen, daß Sie einige verdammt unangenehme Fragen stellen und einige recht unerfreuliche Beziehungen anknüpfen würden. Sie telefonierten sogar mit England. Nach allem, was unser Mann schließlich von Ihrem Telefongespräch
mit Damaskus hörte, beschlossen wir, Sie unschädlich zu machen.“ „Der Araber mit dem roten Fes. Er stand in der nächsten Zelle.“ Ich sagte es nur zu mir und nicht zu ihm. „Richtig. Da Sie nun einmal Ihre Pläne bekanntgegeben hatten, dieser verdammte Fahrer schon mit Ihnen zusammen war und wir kein Interesse daran hatten, daß man auf Dar Ibrahim aufmerksam würde, hatten wir die Absicht, Sie auf der anderen Seite der Grenze zu stellen und Sie dann verschwinden zu lassen. Alles sehr einfach, ohne daß jemand ein Haar gekrümmt würde – Ihr Wagen zum Stehen gebracht, Sie selber ausgeraubt, Ihre Papiere kassiert und der Wagen zertrümmert... irgendwo jenseits des Antilibanon, dachten wir, oder sogar in Richtung auf Qatana. Jusuf war überzeugt, er würde Sie lange genug lahmlegen. So fuhr er mit dem Porsche aus dem Hof hinaus und über die Grenze hinüber, um zu warten. Das war natürlich der Köder. Sie wären ihm gefolgt...“ „Hamid! Wenn Sie Hamid etwas angetan haben...!“ „Wenn er vernünftig ist, geschieht ihm nichts. Die meisten Araber sind es, wenn es sich für sie nur lohnt.“ Er lachte auf. „Zunächst glaubte ich, dadurch, daß Sie an der Grenze festgehalten wurden, wären alle unsere Pläne im Eimer, aber alles ging trotz allem wie geschmiert. Sie haben mich nicht gesehen, aber ich war dort, und ich beobachtete, was geschah. Mein Fahrer folgte dem Ihren in das Grenzgebäude hinein und hörte sich die ganze Sache mit an; da schickte ich ihn hinüber, um Jusuf zu sagen, er solle nach Süden fahren und den Wagen Ihres Vetters stehenlassen, aber ein glücklicher Zufall wollte, daß Sie selber ihn von einem Punkt oberhalb der Straße entdeckt haben. Da kamen Sie herunter, um Ihrem Fahrer zu sagen, zu ihm hinüberzufahren. Mein eigener Wagen kehrte sofort wieder zurück, und man berichtete mir, er wäre dem Ihren an der Grenze begegnet. Da weder Ihr Fahrer noch der
Porsche zurückkamen, ist anzunehmen, daß es Jusuf gelungen ist, ihn dazu zu überreden, sich vernünftig zu verhalten; oder aber, er hat ganz einfach den ursprünglichen Plan durchgeführt und ihn irgendwo zurückgelassen, wo er bis morgen abkühlen kann. Wir können es uns nicht leisten, ihn in der Nähe eines Telefons zu lassen, das müssen Sie einsehen.“ Ein leises, belustigtes Brummen der Befriedigung. „Danach war alles so einfach, daß es kaum zu glauben ist. Sie erklärten allen, die es nur hören wollten, Sie würden jetzt zum Adonishotel fahren, um sich dort einen Wagen nach Beirut zu besorgen. So bin ich als erstes dorthin gefahren und habe auf Sie gewartet. Der Geschäftsführer ist neu, so daß ich nicht zu befürchten brauchte, er könnte mich erkennen; aber ich bin überzeugt, daß er, als Sie schließlich kamen, steif und fest glaubte, mich schon sein ganzes Leben gekannt zu haben. Niemals hätten Sie sich von jemand, der Sie am Straßenrand auflas, im Wagen mitnehmen lassen, aber bei einem Mann, dem Sie im Hotel begegneten und der Ihnen vorgestellt wurde, war es eine ganz andere Sache ...“ Wieder dieses Lächeln. „Ich hoffe, daß Sie den kleinen Trick mit der Großen Moschee genossen haben. Erinnern Sie sich, daß Sie Ihrer ›Großtante‹ alles Nähere erzählt hatten?“ „Sehr schlau. Sie sind wirklich unwahrscheinlich schlau. Sie regieren ja tatsächlich mit all diesen Spionen, Fahrern und Autos über ein eigenes kleines Reich. Grinsen Sie mich nur nicht so an, Sie gemeiner, kleiner Halunke. Was haben Sie mit Charles angestellt?“ „Ich habe es Ihnen doch gesagt. Er ist eingesperrt.“ Das Lächeln war verschwunden. „Haben Sie ihm etwas angetan?“ „In der vergangenen Nacht ist es ein bißchen wild zugegangen.“
„Sie haben versucht, Charles zusammenzuschlagen? Kein Wunder, daß John Lethman heute so übel zugerichtet ist. Ich dachte schon, daß ihm sein Gesicht weh tat, und wenn ich nun darüber nachdenke, hat er es immer von mir abgewandt. Jetzt ist alles schön ans Licht gekommen, was? Charles ist doch ein feiner Kerl! Ach, und Sie, meine arme Tante! Hat er Ihnen sehr weh getan?“ Das Lächeln war verschwunden. Sein Gesicht war rot angelaufen, ich bemerkte, wie das Blut durch die Ader an seiner Schläfe pulste. „Mich hat er nicht angerührt. Ich hatte eine Pistole. Zugegeben, John taugt nicht viel, aber er ist dem Rauschgift verfallen.“ „Dem Rauschgift?“ Ich glaube, ich habe die Frage gar nicht ausgesprochen, sondern man hat sie mir am Gesicht ansehen können. Er hatte sich wieder weit von mir entfernt. Der Raum lag nun ganz im Schatten. Ich merkte, wie ich mich mühsam vorbeugte und in diese Dunkelheit hineinblickte, um zu sehen, wohin er verschwunden war. Verschwommen war mir bewußt, daß ich mir um Charles ernste Sorgen machen müßte, auch um mich selber. Aber ich vermochte meiner Gedanken nicht mehr Herr zu werden. Sie gehorchten mir nicht mehr. Alles drehte sich, wurde hoch und hell. Alles schwebte, hob mich aus dem Stuhl und den hohen, düsteren Winkeln des Raums entgegen. Plötzlich stand er neben mir, und er war riesig. Er war von seinem Stuhl aufgestanden und beugte sich über mich. Seine Stimme klang tückisch. „Jawohl, Rauschgift, Sie verwöhntes, dummes, kleines Luder. Rauschgift. Habe ich nicht von ›Medikamenten‹ gesprochen? Hier in den Kellern liegt ein Vermögen an indischem Hanf, das nur darauf wartet, heute nacht abgeholt zu werden; ein weiteres Vermögen wächst auf den Feldern oberhalb von Laklouk, wenn Ihre Großtante nicht gestorben wäre und ich bis zur Ernte hätte warten können.“ Er holte tief Atem. „Und nicht nur Hanf.
In der Türkei und im Iran wird Opium angebaut, wußten Sie das nicht? Das ist erst das Richtige! Opium, Morphium und Heroin – und ich habe Verbindungen in ganz Syrien, die immer hervorragend funktioniert haben; man braucht für die Verarbeitung nichts weiter als ein bißchen Zeit und eine Einsamkeit, wie man sie hier auf Dar Ibrahim findet...“ Ich hatte meine Zigarette in der Untertasse zerdrücken wollen, aber sie war zu weit entfernt, und die Anstrengung war einfach zu groß. Der Stummel fiel durch meine Finger hindurch zu Boden. Ich hatte den Eindruck, als fiele er wie mit Zeitlupe betrachtet, und ich machte nicht einmal den Versuch, ihn wieder aufzuheben, sondern saß nur da und blickte auf meine Hand, die weit weg und nicht mehr mit meinem Körper verbunden zu sein schien. „.. .Und die hatten wir bis zu Ihrem Erscheinen. Der Raum neben dem Vorratsraum, in den wir Sie gelegt hatten, ist unser Laboratorium. Wir haben, seitdem der letzte Posten eintraf, wie Zwangsarbeiter geschuftet. Gewiß, wir hätten noch in diesem Jahr hier aufhören müssen, kein Zweifel ! Es wäre uns nichts anderes übriggeblieben, als unser Tätigkeitsfeld woandershin zu verlegen – diese Schweine von der Rauschgiftabteilung der UNO haben hier ordentlich eingeheizt, und das Parlament hat versprochen, im nächsten Jahr noch schärfer durchzugreifen... Und da die alte Dame das Zeitliche gesegnet hat, hätten wir Dar Ibrahim ohnehin aufgeben müssen. Planmäßiger Rückzug, nennt man es nicht so? Die Karawane kommt heute nacht hier durch...“ Seine Stimme wurde immer leiser, und dann hörte ich ihn auflachen. Er beugte sich nieder, hob den Stummel auf und ließ ihn in die Untertasse fallen. Sein Gesicht schwebte dicht vor mir. „Sie fühlen sich ein wenig weit weg, nicht wahr? Nicht ganz imstande, mit allem fertig zu werden? Im Wagen habe ich Ihnen eine Marihuanazigarette gegeben, ein Stäbchen, und jetzt haben Sie zwei weitere Stäbchen geraucht, meine
Liebe. Nun gehen Sie zurück in Ihr hübsches kleines Zimmer, um Ihren Rausch auszuschlafen... bis die Nacht vorbei ist.“ Wenn mir nur nicht alles so gleichgültig gewesen wäre! Das durfte nicht sein! In der rauchigen Dunkelheit tauchten Fragmente von Bildern auf, Träumen ähnlich, die von Licht gesäumt waren. John Lethmans schlaffer Körper und sein mutloses junges Gesicht mit den tief in ihren Höhlen liegenden grauen Augen. Die junge Araberin, die ihn mit brennenden Augen beobachtete. Das Hanffeld mit dem Windhundzeichen. Die Kisten im Keller. Aber sie verblaßten, und das leichte Klopfen in einem stetigen widerhallenden Rhythmus war mein eigenes Herzklopfen, und in der pulsierenden Luft, die wie das Dröhnen einer Trommel war, näherte sich eine Stimme, um wieder zu verschwinden, sie kam und ging, und ich war aus allem heraus, ich war sicher und schwebte hoch oben, unversehrt, schön und mächtig wie ein Engel, ich schwebte dort zwischen den Spinnweben an der Decke, während dort unten in dem in immer tieferes Dunkel getauchten Raum ein Mädchen auf einem roten Lackstuhl saß, der Körper schlaff und träge in dem schlichten, teuren Kleid. Das Gesicht war blaß, die Backenknochen schimmerten unter einem Hauch von Feuchtigkeit, und um den Mund spielte ein verschwommenes Lächeln. Das Haar war dunkel, seidig und nach der Mode frisiert. Die Arme waren von der Sonne gebräunt, die Hände lang und schmal, ein Handgelenk von einem goldenen Armreifen herabgezogen, der seine achtzig Pfund gekostet hatte... Ein verwöhntes, dummes, kleines Luder, hatte er sie genannt. Jetzt blinzelte sie ihn an. Sie hatte sehr große Augen mit dunklen Wimpern, durch das Make-up, das sie benutzte, noch vergrößert, und jetzt noch von der Droge... Armes, dummes Luder! Sie war in Gefahr, und ich konnte nichts für sie tun, dabei war es ihr auch gleichgültig. Sie sah auch gar nicht verängstigt aus...
Nicht einmal, als John Lethman leise eintrat und wie ein weiterer Schatten in Zeitlupentempo über den düsteren Boden schwebte, neben ihr stehenblieb und Henry Grafton fragte, als sei es kaum von Bedeutung. „Sie ist hinüber, nicht wahr?“ „Zwei Stäbchen. Für die ist gesorgt. Und der junge Mann?“ „Stillgelegt. Seine Zelle ist blau vor Rauch, und er selber ist völlig hinüber. Von dort sind keine Schwierigkeiten zu erwarten.“ Henry Grafton lachte auf. „Nirgends sind noch Schwierigkeiten. Die sind sicher in unserer Hand, bis alles vorbei ist. Und du, mein lieber John, du hältst dich jetzt an deine Ration und bleibst dabei. So wie du aussiehst, hast du gerade deine Dosis weg. Wenn du rauchen willst, meinetwegen, aber bitte mich nicht um mehr von dem schweren Zeug, denn du wirst es erst dann bekommen, wenn die Ladung sicher durch Beirut geschleust ist.“ Der jüngere der beiden beugte sich über den Stuhl. Das Mädchen bewegte den Kopf und lächelte ihn mit verschleierten Augen an. Es schien sprechen zu wollen, brachte aber kein Wort hervor. „So ist sie mir viel lieber“, meinte John Lethman. „Das bedeutet, sie ist zu hübsch, als daß sie einen Stachel wie eine Wespe haben könnte? Da gebe ich dir recht. Mein Gott, was für eine Familie! Sie erinnert mich an die alte Dame während ihrer schlimmen Tage. Nun, sie hat das alles ja herausgefordert. Führ sie weg. Ich fürchte, du wirst sie tragen müssen.“ Lethman beugte sich über den Lackstuhl. Als er mich berührte, müssen sich einige Nebel der Droge eine Sekunde lang gehoben haben. Ich kam aus der Höhe herunter, in der ich geschwebt hatte, hinein in den Körper auf dem Stuhl, gerade als er mich nach vorn zog, um einen Arm um mich zu legen und mich hochzuheben. Es gelang mir, langsam und, wie mir schien, mit Würde hervorzubringen: „Schaffe es allein, danke.“
Ungeduldig erwiderte er: „Natürlich schaffen Sie das nicht allein. Lassen Sie das, ich werde Ihnen nicht weh tun. Keine Angst.“ „Vor Ihnen?“ entgegnete ich. „Daß ich nicht lache.“ Er zerrte mich aus dem Stuhl hoch und warf mich über seine Schulter. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, daß ich diesen heroischen Auftritt verdarb, indem ich auf dem ganzen Weg zurück in mein Verlies wie ein Idiot lachte.
Sechzehntes Kapitel Wahrhaftig, so hoch der Aufwand war, Blieb doch die Ernte uns versagt. Der Koran: Sure LVI
Ich hatte es ein Reich genannt, und das war nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Bei Gott, genug hatte darauf hingedeutet, hätte ich nur das Wissen gehabt, um diese Andeutungen auch auszuwerten, jetzt fügte sich eins zum andern. Stunden waren verstrichen. Auf meiner Uhr war es kurz vor elf. Die Zeit war wie ein Traum dahingegangen, buchstäblich wie ein Traum, verweht wie der Rauch der Zigaretten, die mich in den Schwebezustand versetzt hatten, jetzt fühlte ich mich wieder ganz auf festem Boden – auf viel zu festem Boden. Ich saß auf meinem Bett in meinem Verlies, auf den zerwühlten Decken, und hielt mir den schmerzenden Kopf, nicht länger mehr das schlaffe Ding, dem nichts mehr wichtig erschien, sondern ein Mädchen mit einem scheußlichen Kater, noch immer einigermaßen im Besitz der fünf Sinne. Aber jeder dieser fünf Sinne war von Angst erfüllt, denn ich hatte die Ursache dieser Angst greifbar vor Augen. Diesmal hatte man mir ein Licht gelassen. Oben in der Nische ließ die dreiarmige Lampe ihre kleinen Flammen züngeln. Neben dem Bett standen ein Krug mit Wasser und ein Glas. Ich trank, und mein Mund fühlte sich nicht mehr ganz so an, als hätte ihn jemand mit einer Lauge gespült. Ich versuchte, meine Beine vom Bett zu nehmen und meine Füße auf dem Boden aufzusetzen. Ich konnte auch den Boden fühlen, und das war schon immerhin etwas. Ich versuchte nichts Gewaltsames – so stand ich zum Beispiel nicht auf, sondern blieb dort sitzen, hielt meinen Kopf an meinem Körper fest und erlaubte ganz sacht, so sacht wie
möglich, meinen Augen, in dem verschwimmenden Licht hierhin und dorthin zu blicken... Der Raum war viel größer, als ich gedacht hatte, und erstreckte sich tief hinein in die Schatten. Hinter dem Gerumpel zerbrochener Möbelstücke und den aufgehäuften Decken und Pferdegeschirren, die man vom Gang aus erblicken konnte, war, wie ich nun sah, dieser Raum mit hölzernen Kisten, Kartons und kleinen Dosen buchstäblich vollgestopft. Einige von ihnen, dachte ich, waren wahrscheinlich Attrappen – echte Sendungen jener Waren, die zum Tarnen der Drogen benutzt wurden (zum Beispiel das Speiseöl) –, aber selbst wenn auch nur in einem Bruchteil dieser Verpackungen Haschisch oder Opiumerzeugnisse enthalten waren, so hätte man mit diesem Raum Aladins Höhle viermal aufkaufen können. Ich mußte an Hamids Schafmist denken, aber in dieser Situation erschien auch er mir nicht mehr komisch. Auf den Kartons, die mir am nächsten standen, war das Etikett des laufenden Hundes klar und deutlich zu erkennen; darunter die groteske Warnung: Beste Qualität, vor Nachahmungen wird gewarnt. Damit war mir alles klar, und Henry Graftons flüchtiger Bericht mit all seinen Lücken, seinen Ausflüchten hatte für mich, nachdem auch dieses Beweisstück hinzugekommen war, nichts Rätselhaftes mehr. Das Haschisch, das so reichlich im höheren Bergland angebaut wurde; John Lethman, der die Felder inspizierte, mit den Bauern feilschte oder die Anlieferung der Droge durch die Bauern in kleineren Mengen regelte – einer von ihnen war vielleicht jener Mann, den Charles und ich auf dem Weg zur hinteren Pforte des Palastes beobachtet hatten. Dar Ibrahim mußte seit einiger Zeit das Zentrum dieses schmutzigen Handels gewesen sein; möglicherweise hatte es schon lange vor dem Einzug der alten Dame diese Rolle gespielt. Es war der ideale Umschlagplatz und auch ein ebenso vollkommener Zufluchtsort für jeden, der
sich in Henry Graftons Lage befand – die einsame Bergfestung, die von der eigenwilligen alten Frau gehalten wurde, von einer Frau, die es ablehnte, Besucher zu empfangen und die (ebenso wie ihr Vorbild Lady Hester) ein paarmal dem Gesetz getrotzt hatte und dies wahrscheinlich im Interesse eines Freundes nochmals tun würde. Ich konnte zwar nicht glauben, daß meine Großtante Henry Grafton bei sich versteckt hätte, wäre ihr bekannt gewesen, mit welchem Handel er sich befaßte, aber zweifellos hatte seine Darstellung ihr eingeleuchtet, und ebenso verständlich erschien ihr wohl auch die Schilderung von „Experimenten“, die er und John Lethman in dem unterirdischen Vorratsraum durchführten. Auch John Lethmans Rolle in dieser Angelegenheit wurde mir völlig klar: ein bemitleidenswerter Fall. Wahrscheinlich hatte es bei ihm ziemlich harmlos begonnen. Der skrupellose Grafton hatte ihm eingeredet, daß gelegentliches „Rauchen“ ihm nicht schaden würde; dann war er ganz allmählich und unvermeidlich den stärkeren Drogen verfallen, die seine Abhängigkeit und seine weitere Hilfe sicherten. Nicht meine Großtante Harriet war das Opfer in dieser Sache – denn ich war nun völlig davon überzeugt, daß Grafton niemals den Wunsch gehabt haben konnte, sie zu beseitigen –, sondern das Opfer war John Lethman. Nun fürchtete ich, es könnte noch zwei weitere Opfer geben. Mochte Henry Grafton auch behaupten, er wolle weder mir noch meinem Vetter etwas Böses antun, so waren Menschen doch schon aus sehr viel nichtigeren Gründen ermordet worden, als ein Vermögen in Drogen und ein mögliches Todesurteil (denn Grafton war türkischer Staatsangehöriger) es darstellten, falls die beiden nämlich entwischten. Er konnte kaum davon ausgehen, daß Charles oder ich in dem Augenblick, in dem wir dazu imstande waren, nicht alles melden würden, was wir erfahren hatten, und dennoch hatte man mir – und wahrscheinlich meinem Vetter
ebenfalls - Informationen und Beweismaterial mit einer Sorglosigkeit zukommen lassen, die mich erschreckte. Ob sich Grafton darüber klar war oder nicht, so würde er doch, wenn er seine eigene Haut retten wollte, uns beide umbringen müssen. Die Tür mußte sehr stark sein. Ich hatte draußen auf dem Gang keinen Laut vernommen, aber die Tür öffnete sich plötzlich, und da stand Halide wie üblich mit einem Tablett in ihren Händen. Sie war von niemand begleitet und hielt das Tablett mit einer Hand, während sie die Tür öffnete, und so nahm ich an, daß sich meine Entführer über den Zustand, in den die Drogen mich versetzt hatten, im klaren sein mußten. Halide stand jetzt da, hielt die Tür mit einer Schulter auf und betrachtete mich mit der bei ihr üblichen Verachtung und Feindseligkeit. „So, Sie sind wach. Hier ist Ihr Essen. Und glauben Sie nur nicht, daß Sie sich an mir vorbeidrängen und davonlaufen können, denn es gibt nur einen Weg zur hinteren Pforte, und die ist jetzt versperrt; der Schlüssel steckt auch nicht, Jassim ist im äußeren Hof, und die beiden Männer befinden sich im Zimmer der alten Dame.“ Ich sah sie böse an. Als sie in ihrem hübschen Kleid vor mir stand – sie trug wieder das grünseidene –, kam ich mir entsetzlich vor. Ich glaubte auch nicht, daß der Trick mit dem Badezimmer noch einmal gelingen würde. Ich unternahm nicht den geringsten Versuch aufzustehen, aber ich beobachtete sie aufmerksam, wie sie sich mit geschmeidigen Schritten von der Tür her näherte, um dann das Tablett so heftig auf einer der Kisten abzustellen, daß das ganze Geschirr klirrte. „Halide...“ „Ja?“ „Ich nehme an, du weißt, was sie – ich meine die Männer – tun; warum sie mich und meinen Vetter eingesperrt haben?“ „O ja, John“ – sie sprach diesen Namen aus, als wäre er etwas Besonderes - „erzählt mir alles.“
„Glückliches Mädchen. Hat er dir auch erzählt, welche Strafen auf Rauschgiftschmuggel in diesem Teil der Welt stehen?“ „Bitte?“ „Sogar in diesem dreckigen Winkel unserer dreckigen Welt? Sogar in Beirut? Hat dich John nicht davor gewarnt, was die Polizei dir und deinem Bruder antun würde, falls sie entdeckte, was hier gespielt wird?“ „O ja.“ Sie lächelte. „Das wissen doch alle. Und hier im Libanon tun es auch alle. Schon seit vielen Jahren, bevor der Doktor herkam, hat mein Bruder Haschisch von den Bergen hinuntergebracht. Nur die Tapferen bringen es von den Bergen an die Küste hinunter.“ Wahrscheinlich war es zuviel verlangt, daß dieses primitive Geschöpf in der ganzen Sache etwas anderes sehen könnte als die Tapferkeit des armen Mannes, der sich seinen Lebensunterhalt auf diese gefährliche Weise verdiente. Dem Bauern brachte das Haschisch Freude und Geld. Wenn eine unvernünftige Regierung es für richtig hielt, den Anbau zu privaten Zwecken zu verbieten, dann mußte man eine solche Regierung auch übers Ohr hauen. Die Sache lag also ganz einfach. Es war die gleiche Mentalität, die in einer zivilisierten Gesellschaft davon ausgeht, die Steuergesetze und die Geschwindigkeitsvorschriften seien im Grunde nur dazu da, übertreten zu werden. „Sie brauchen keine solche Angst zu haben“, sagte Halide verächtlich zu mir. „Ich glaube nicht, daß sie die Absicht haben, Sie zu töten.“ „Ich habe auch keine Angst.“ Ich begegnete ihrem spöttischen Blick so ruhig wie möglich. „Aber du solltest Angst haben, Halide. Nein, hör mir zu, ich glaube, daß du dir nicht ganz im klaren darüber bist, was hier geschieht, und ich bin nicht einmal ganz sicher, ob John Lethman weiß, worauf er sich hier eingelassen hat. Es handelt sich hier nicht ganz einfach darum,
daß ihr und eure Freunde ab und zu in aller Stille Stäbchen raucht und sich dein Bruder auf seinem Weg zur Küste mit der Polizei gelegentlich in eine kleine Schießerei einläßt. Darum geht es nicht mehr. Hier geht es um das ganz große Geschäft, und jede verantwortungsbewußte Regierung setzt alles ein, um den Leuten dieses Handwerk zu legen. Hoffst du denn, mit deinem John von hier verschwinden zu können, sobald dieser Posten weggeschafft ist und er seinen Anteil am Geld bekommen hat? Wohin kannst du denn mit ihm gehen? Doch nicht nach Syrien – dort würde man euch im Handumdrehen schnappen. Nicht in die Türkei – dort gibt es dafür die Todesstrafe. Das gleiche gilt für den Iran, für Ägypten, für jedes beliebige Land. Glaub mir, Halide, für dich oder für John liegt darin keine Zukunft. Glaub auch nur nicht, daß er dich nach England bringen könnte, denn dort werdet ihr verhaftet, kaum daß ich oder mein Vetter den Mund öffnen.“ „Vielleicht werden Sie lange Zeit hierbleiben.“ „Dummes Geschwätz“, entgegnete ich. „Du weißt genausogut wie ich, daß die Polizei in Damaskus jetzt jederzeit anfangen wird, nach uns zu suchen. Wohin sollte die Spur sie zu allererst führen, wenn nicht nach Dar Ibrahim ? Dr. Graf ton kann von Glück sagen, wenn er das Zeug überhaupt noch wegschaffen kann.“ „Er wird es wegschaffen. Ich glaube, es ist Ihnen nicht klar, wie spät es ist oder welchen Tag wir haben? Es ist fast Mitternacht, Mittwoch. Die Karawane ist bereits unterwegs hierher. Vor Tagesanbruch wird der Palast geräumt sein.“ „Das kann schon sein“, antwortete ich nachdenklich. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Ich legte eine Hand auf meine Stirn und drückte mit dem Handballen gegen meine Schläfe, als ob dies zur Klärung meiner Gedanken beitragen könnte. Die Kopfschmerzen waren wenigstens vergangen. „Hör mir gut zu, Halide. Und mach ein anderes Gesicht, denn hier handelt es
sich nicht darum, daß ich um etwas bitte, sondern ganz im Gegenteil biete ich dir und John Lethman etwas an, denn er ist nichts weiter als schwach und dumm, schlimmer ist er nicht, und von dir kann man nicht verlangen, daß du die Sache überblickst. Meine Familie und die meines Vetters sind reich; sie sind das, was man einflußreiche Menschen nennt. Selbstverständlich kann ich dir nicht das Geld geben, das du bekommen wirst, wenn du Grafton bei diesem Unternehmen hilfst, aber ich kann dir eine Hilfe anbieten, die du, das kannst du mir glauben, dringend nötig haben wirst. Ich kenne eure Gesetze hier nicht, aber wenn du mich und meinen Vetter jetzt gehen läßt und wenn ihr, du und dein John, als Zeugen gegen Dr. Grafton auftreten würdet und wenn es der Polizei gelänge, diesen Posten Rauschgift zu beschlagnahmen, werden wahrscheinlich weder du noch dein Bruder und nicht einmal John Lethman unter Anklage gestellt.“ Während meiner Worte hatte ich sie beobachtet, aber sie hielt ihr Gesicht vom Lampenschirm abgewandt, und so konnte ich nicht erkennen, ob meine Worte die geringste Wirkung hatten. Ich zögerte. Bestimmt war es nutzlos, nun auch noch über die moralische Seite der Angelegenheit zu reden oder warum ich über alles Persönliche hinaus daran interessiert sein könnte, das Eintreffen dieser Fracht an der Küste zu verhindern. So fügte ich nur noch sachlich hinzu: „Ich weiß nicht, ob deine Regierung eine Belohnung für solche Informationen aussetzt, aber auf jeden Fall würde ich dafür sorgen, daß meine Familie dir Geld gibt.“ „Sie!“ Die lodernde Verachtung in ihrer Stimme ließ diesen Ausruf wie einen Fluch klingen. „Auf Sie höre ich nicht! Dieses ganze Gerede von Polizei, Regierung und Gesetzen. Sie sind nichts weiter als eine dumme Frau, zu dumm, um einen Mann zu bekommen! Wer sind Sie denn?“ Damit spuckte sie vor mir auf den Boden.
Mehr war nicht nötig. Wie durch ein Wunder wurde mein Kopf klar, während das Adrenalin aus den Förderpumpen in den Körper gepreßt wurde. Ich lachte auf. „Tatsache ist, daß ich einen Mann habe. Und den habe ich schon seit zweiundzwanzig Jahren. Und wer bin ich? Ich bin die Großnichte und die Blutsverwandte von Lady Harriet, deiner Herrin. Wahrscheinlich bin ich in diesem Augenblick auch die Eigentümerin oder Miteigentümerin dieses Palastes und von allem, was darin ist. Um anzufangen, meine bösartige, kleine Araberin – denn trotz aller deiner Bemühungen würde ich keine Wetten auf deinen John Lethman abschließen –, kannst du mir erst einmal den Ring meiner Großtante übergeben. Und ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß dein verehrter Dr. Grafton dich zwingen wird, ihn herzugeben, selbst wenn es mir nicht gelingen sollte. Raus damit, meine Kleine.“ Offensichtlich hatte Grafton bereits mit ihr gesprochen. Ihr Gesicht verdüsterte sich, und einen Augenblick sah ich, wie sich ihre Hand verkrampfte und sich in die Falten ihres Seidenkleides verbarg. Dann zog sie mit einer heftigen Bewegung den Ring vom Finger. „Nehmen Sie ihn. Aber nur, weil es mein eigener Wille ist. Mir bedeutet er nichts. Nehmen Sie ihn, Tochter einer Hündin.“ Sie warf ihn mir mit der Geste einer Kaiserin zu, die einem Bettler eine Münze schenkt. Er landete mit einer Genauigkeit, die sie auch in vielen Jahren nicht hätte erlangen können, in der Suppenschüssel. „Nicht schlecht“, rief ich fröhlich, „das sollte zum Sterilisieren genügen. Oder ist das ein Irrtum? Ich habe die Küche hier niemals gesehen, aber als Gast mußte ich gute Miene zum bösen Spiel machen. Jetzt bin ich nur noch eine Gefangene und brauche nicht zu essen, was man mir vorsetzt, nicht wahr?“ Ich beugte mich vor, nahm die Gabel vom Tablett, fischte Großtante Harriets Rubin aus der Suppe, tauchte ihn in das
Glas Wasser und trocknete ihn an der Serviette ab. Dann bemerkte ich das Schweigen und blickte auf. Als sie wieder sprach, wußte ich, daß irgend etwas sie erheblich aus der Fassung gebracht hatte. „Wollen Sie nichts essen?“ „Doch, auf etwas habe ich schon Lust, und ein alter Gewohnheitsverbrecher wird nicht so ohne weiteres auf alles verzichten. Ich werde Brot und Käse essen. Vielen Dank für den Ring.“ Ich streifte ihn auf meinen Finger. „Nicht die Suppe? Der Ring war sauber... Er...“ „Bestimmt war er das. Ich wäre auch nicht so unhöflich gewesen, stolze Schönheit, hättest du mich nicht gerade die Tochter einer Hündin genannt. Mir ist das an sich gleichgültig, denn ich mag Hunde, aber meine Mutter wäre vielleicht doch ein bißchen verärgert. Nein, Halide, keine Suppe.“ Offenbar hatte sie meinen Ausführungen nicht folgen können und nur die ersten und letzten Worte verstanden. „Soll ich Ihnen andere bringen – bitte?“ Ich sah sie überrascht an, aber dann verwandelte sich die Überraschung in Argwohn, und ich starrte sie an. Zunächst war es mir nur seltsam erschienen, daß sie mir überhaupt zureden wollte, aber in ihren letzten Worten hatte fast ein Flehen gelegen. „Natürlich bringe ich Ihnen noch etwas, das ist keine Mühe. Man wird jetzt jeden Augenblick kommen, um die Kisten aufzuladen, und da wird man Sie hier herausführen und mit dem Mann zusammentun, also müssen Sie essen, solange es Zeit ist. Bitte, erlauben Sie es mir!“ In diesem Eifer lag etwas Unterwürfiges, in diesem plötzlichen Einfallen der Schultern, in dem Vorstoßen des Kinns und in dem Öffnen der Hände, die Handflächen nach oben gekehrt. Diese Bewegungen verrieten deutlicher als alles andere Generationen der Sklaverei und der Peitsche. „Sehr nett von dir, aber es liegt nicht die geringste
Veranlassung vor.“ Auch meine eigene Reaktion war, wie ich mit bitterer Selbstverachtung feststellte, voraussagbar gewesen. Solange sie sich frech verhielt, war ich zornig und unfreundlich; sobald sie aber auf den ihr zukommenden Platz zurückkroch, glaubte ich mir kalte Höflichkeit leisten zu können. Ich gab mir einen Ruck. „Ich mag keine Suppe, vielen Dank. Brot und Käse genügen mir vollkommen.“ „Dann nehme ich sie mit zurück, nur für den Fall...“ „Nein, nein, nur keine Umstände. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du direkt zu Dr. Grafton gingst...“ Ich konnte den Satz nicht mehr beenden. Beide hatten wir gleichzeitig die Hände ausgestreckt, sie, um die Schüssel vom Tablett zu nehmen, und ich, um sie daran zu hindern. Eine Sekunde lang starrten wir einander aus geringer Entfernung in die Augen. Dann griff ich zu und packte ihr Handgelenk, bevor sie die Schüssel erreichen konnte. Ihr Avisdruck und ihr heftiges Atmen verrieten mir, daß ich – so unglaublich es mir auch erscheinen mochte – recht gehabt hatte. „Was ist drin?“ fragte ich. „Lassen Sie mich los!“ „Was ist drin?“ „Nichts! Es ist gute Suppe, ich habe sie selber gekocht...“ „Davon bin ich überzeugt. Aber was hast du hineingetan? Noch mehr von eurer cannabis indica, um mich einzuschläfern, oder etwas Schlimmeres?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden! Ich habe nichts hineingetan, ich sage es Ihnen doch! Huhn, Kräuter, Gemüse, ein bißchen Safran und...“ „Und obendrein ein paar Tropfen Gift?“ Sie fuhr zurück. Ich ließ sie los und stand auf. Wir waren ungefähr gleich groß, aber ich fühlte mich jetzt erheblich größer und eiskalt vor Zorn und Verachtung. Anschläge dieser Art versetzen einen eher in Zorn, als daß sie einem Furcht
einjagen. Man reagiert mit aller Kraft auf den verfehlten Versuch und die überstandene Gefahr. Ich glaube, man fühlt sich so erleichtert, daß man die Verachtung dem Giftmischer gegenüber nicht zu beherrschen vermag und den lodernden Zorn über ein so gemeines Vorgehen nicht unterdrückt. „Nun?“ fragte ich ziemlich sanft. „Nein, sie war nicht vergiftet! Wie können Sie etwas so Dummes glauben? Gift? Wo könnte ich Gift herhaben?“ Die Worte endeten jäh mit einem erschrockenen Keuchen, als Henry Graf ton von der Tür her sprach: „Was ist hier los? Wer spricht von Gift?“ Sie drehte sich zu ihm herum, die Hände ausgestreckt, als wollte sie ihn zurückstoßen, ihr Körper noch immer in dieser anmutigen Haltung, wie man sie auch von Elfenbeinschnitzereien japanischer Frauen her kennt. Sie öffnete den Mund, ihre Zunge fuhr über ihre Lippen hin, aber sie sagte nichts. Er richtete seine Augen an ihr vorbei auf mich. „Ich“, sagte ich. „Dieses liebe Kind scheint etwas in meine Suppe getan zu haben, worüber es lieber nicht redet. Sollte es zufällig auf Ihre Anweisungen hin geschehen sein?“ „Seien Sie nicht albern.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Drogen wohl, aber Gift niemals ? Sie und Ihr heuchlerischer Eid... Vielleicht wird sie Ihnen sagen, was es ist und warum? Oder möchten Sie es lieber wegnehmen und es in Ihrem kleinen Laboratorium nebenan analysieren?“ Er starrte mich kurz an, dann wandten sich seine Blicke dem Tablett zu. „Haben Sie von dieser Suppe gegessen?“ fragte er schließlich. „Nein, oder ich würde mich jetzt zweifellos am Boden winden.“ „Woher wissen Sie, daß in dieser Suppe etwas drin ist?“ „Ich weiß es zwar nicht, aber ich habe so meine Ahnungen. Ihr lag viel zuviel daran, daß ich von der Suppe aß, und bisher hat
ihr doch an meinem Wohlergehen nicht allzuviel gelegen. Versehentlich hat sie den Ring hineingeworfen, und als ich danach sagte, ich wollte die Suppe nicht mehr essen, fing sie an, sich aufzuregen. Da wußte ich Bescheid. Fragen Sie nicht, wieso. Aber ich würde jetzt zwanzig zu eins wetten, daß meine Ahnungen stimmen, und erklären Sie mir nur nicht, Sie wären da anderer Ansicht. Sehen Sie sie nur an! Und wo sie das Zeug her hat? Hat sie nicht ein ganzes Zimmer zu ihrer Verfügung, all die Sachen von Großtante Harriet? Fragen Sie sie mal“, ich nickte dem Mädchen zu, das sich still verhielt, „fragen Sie doch unsere kleine Miss Borgia. Vielleicht wird sie es Ihnen gegenüber zugeben.“ Noch ehe ich fertig war, hatte er seine Aufmerksamkeit Halide zugewandt – seine dunklen Augen schimmerten wie eine Öllache. Sie sahen gefährlich aus. Ich verspürte jäh ein Gefühl der Erleichterung, daß er trotz der verschiedenen Aufregungen, die diese Nacht ihm brachte, noch die Zeit fand, sich mit dieser Angelegenheit so ernsthaft zu befassen: Das konnte nichts anderes bedeuten, als daß er nicht die Absicht hatte, Charles oder mir wirklich gefährlich zu werden. Aber der Ausdruck seiner Augen, als er sie ansah, und Halides offensichtliches tiefes Entsetzen überraschten mich. Sie hatte ihre Hände fest um ihren Hals geschlossen und drückte die Seide ihres schönen Kleides zusammen, als ob ihr kalt sei. „Ist das wahr?“ Sie schüttelte den Kopf und fand dann ihre Stimme wieder. „Alles gelogen, nichts als gelogen. Warum sollte ich sie vergiften? Es ist nichts in der Suppe – nur das Fleisch, die Kräuter, die Zwiebeln und Safran...“ „Dann hättest du wohl nichts dagegen, sie selber zu essen“, sagte Henry Graf ton. Bevor ich noch wußte, was er beabsichtigte, hatte er schon die Schüssel vom Tablett genommen, war auf Halide zugetreten und hielt sie in Höhe ihres Mundes.
Ich glaube, daß es mir einen Augenblick den Atem verschlug, und dann sagte ich leise abwehrend: „Aber nein!“ Das war einfach zuviel! Es war die typische Situation aus Tausendundeiner Nacht, ein orientalisches Melodrama, das hier auf groteske Weise erneut zum Leben erweckt wurde. „Um Himmels willen!“ rief ich. „Wäre es nicht besser, die Hunde hereinzuholen und es an ihnen auszuprobieren. Ist das nicht die übliche Methode? Nehmen Sie doch Vernunft an und verzichten Sie auf diesen Auftritt. Ich ziehe meine Beschwerde zurück!“ Dann hielt ich inne, als mir, ohne daß es mir das geringste Vergnügen bereitete, bewußt wurde, wie sich Dr. Grafton von der Zwangsläufigkeit der Ereignisse mitreißen ließ. Das Mädchen wich vor ihm zurück, während er sich von der Tür her Halide immer mehr näherte... Und oben an der Wand über dem Bett des Prinzen hing ein Gewehr, wenn ich es mir holen könnte, bevor es für mich zu spät war... Die beiden achteten nicht mehr auf mich. Halide war zurückgewichen, bis sie auf der anderen Seite des Bettes mit dem Rücken an den Kisten stand. Sie hob die Hände, um die Suppenschüssel wegzustoßen. Er zog sie hastig zurück, damit die Suppe nicht verschüttet wurde. „Warum ißt du nichts davon? Soll ich etwa glauben, daß dieser Unsinn doch auf Wahrheit beruht?“ „Nein, nein, natürlich ist es nicht wahr! Sie sagt es nur, weil sie mich haßt! Ich schwöre es. Ich werde beim Haupt meines Vaters, wenn Sie wollen, darauf schwören! Wo könnte ich denn das Gift herbekommen haben?“ „Wenn man bedenkt, daß es im Schlafzimmer meiner Großtante aussieht wie bei der Inventur beim Apotheker“, erwiderte ich spöttisch, „könnte ich mir vorstellen, daß man da einiges fände.“ Während meiner Worte hatte er sich nicht umgedreht; er hatte seine ganze Aufmerksamkeit Halide zugewandt, die ihn wie
ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrte, das sich jeden Augenblick zwischen den aufgestapelten Kisten verkriechen könnte. Ich schlich mich ein wenig näher an die Tür heran. „Warum nehmen Sie sie nicht beim Wort?“ fragte ich. Ich bemerkte keinerlei Bewegung, aber sie mußte gespürt haben, daß er es wirklich vorhatte, denn plötzlich gab sie nach. „Also gut, wenn Sie es mir nicht glauben wollen! Ich habe etwas hineingetan, und sie sollte es auch trinken, aber es ist kein Gift, es ist nur ein Abführmittel, damit sie Schmerzen bekommt und sie sich nicht rühren kann. Ein Luder ist sie und die Tochter einer Hündin, und Sie haben mich gezwungen, den Ring zurückzugeben, obwohl sie schon so reich ist. Natürlich habe ich sie nicht töten wollen, aber ich hasse sie, und ich habe ihr Öl in die Suppe getan, damit sie ein bißchen leidet..., nur ein bißchen...“ Die Stimme versagte ihr, die Erregung schien ihr fast die Kehle zusammenzuschnüren, vielleicht unter dem Eindruck der beklemmenden Stille in dem dumpfen unterirdischen Raum. „Reizend, wirklich reizend!“ Nur zwei Sprünge trennten mich jetzt noch von der Tür. „Und dann sperrst du mich mit Charles zusammen ein und überläßt mich meiner Not?“ Beide beachteten mich nicht. Fast atemlos fuhr sie fort: „Und wenn ich sie essen muß, werde ich es tun, nur um Ihnen zu beweisen, daß ich die Wahrheit gesagt habe... Aber heute nacht brauchen Sie und John noch meine Hilfe, und so geben wir das Zeug einem der Hunde oder Jassim oder irgend jemand, bei dem es nicht darauf ankommt, nur damit Sie sehen. ..“ Graftons Gesicht war hochrot, und wieder pulste das Blut heftig durch die geschwollene Ader an der Schläfe. Keiner kümmerte sich noch um mich; was immer zwischen ihnen vorgehen mochte, auf jeden Fall schloß es mich völlig aus ihrem Bewußtsein aus. Wie angewurzelt stand ich da,
beobachtete sie und hütete mich davor, mich zu rühren und ihren Zorn wieder auf mich zu lenken. „Wo hast du es her?“ Seine Stimme klang jetzt ziemlich ruhig. „Ich habe es vergessen. Vielleicht aus ihrem Zimmer... Ich habe es schon seit langem ... Alle diese Fläschchen...“ „In ihrem Zimmer gab es keine Abführmittel, das weiß ich. Komm mir nur nicht mit so etwas, von dort hast du es bestimmt nicht. Ich habe schon darauf geachtet, daß nichts, was schädlich sein konnte, herumlag, und nachdem sie ihre wiederholten Anfälle hatte, habe ich alles noch einmal überprüft, damit sie nicht selber zu Medikamenten griff. Heraus mit der Sprache, was war es? Hast du es aus dem Dorf, oder war es ein übles Gebräu, das du selber zusammengestellt hast?“ „Nein – ich sage Ihnen doch, es war nichts weiter. Es war etwas, was John hatte. Ich habe es aus seinem Zimmer geholt.“ „Von John? Warum sollte er so etwas haben? Du hast vorhin etwas von ›Ö1‹ gesagt. Meinst du vielleicht Rhizinusöl?“ „Nein, nein, nein, ich sage Ihnen doch, ich weiß nicht, was es war! Es war in einer schwarzen Flasche. Warum fragen Sie nicht John? Er wird Ihnen bestätigen, daß es harmlos war! Er sagte, es schmeckt etwas stark, und so habe ich immer viel Kräuter und Pfeffer hinzugetan...“ „Wann hast du es denn das erstemal verwendet? Als ich damals in der Gegend von Schibam war?“ „Ja, ja, aber warum sehen Sie mich so an? Es war gar nicht viel, nur ein paar Tropfen, und dann ein wenig Übelkeit – der Schmerz war nicht so schlimm –, und hinterher war sie immer so still und freundlich...“ Um nichts in der Welt wäre ich jetzt weggegangen, mochte die Tür noch so weit offenstehen. Die Schüssel begann in seinen Händen zu zittern, und seine Stimme hatte jenen hohlen, gleichmäßig scharfen Ton eines zu stark gespannten Drahtes, der jeden Augenblick reißen konnte, aber
das Mädchen bemerkte diese Gefahrensignale nicht. Halide sah nun auch gar nicht mehr beruhigt aus, sondern hatte ihre Hände sinken lassen, deren Finger sich nervös in den Falten ihres Kleides verkrampften. Sie begegnete wütend seinem finsteren Blick und sah böse und trotzig aus. Ich weiß nicht, an welchem Punkt dieser temperamentvollen Auseinandersetzung mir bewußt geworden war, daß die beiden gar nicht mehr von mir, sondern von Großtante Harriet sprachen. „Still und freundlich!“ Er wiederholte die Worte ohne jede Betonung. „Ich verstehe. Mein Gott, es war mir ein Rätsel. Jetzt beginne ich alles deutlicher zu sehen... Ist das immer so gewesen, wenn ich wegging?“ „Nicht immer, nur manchmal, wenn sie allzu schwierig war. Wozu denn die ganze Aufregung, es hat ihr ja nicht geschadet! Sie wissen doch, wie gut ich sie gepflegt habe! Sie wissen, wie ich gearbeitet und sie all die Monate hindurch versorgt habe. Wie sie Tag und Nacht mit ihrer Glocke geläutet hat, und niemals durften wir müde sein, stets bereit, mal dieses, mal jenes zu holen und besondere Speisen für sie zuzubereiten... Aber niemals hätte ich ihr etwas Böses angetan, das wissen Sie. Ich habe ihr nur ein paar Tropfen gegeben, und dann pflegte ich sie, bis sie ihre Übelkeit überwunden hatte. Danach war ein paar Tage Friede.“ „Und sie war dankbar. Ja, natürlich. Kluges Mädchen, unsere Halide. Hat sie dir bei dieser Gelegenheit den Ring gegeben ? Ja ? Was hat sie dir sonst noch geschenkt?“ „Noch viel! Und ich sollte die Sachen auch behalten, das war ihr Wille! Das hat sie gesagt! Sie selber hat mir diese Sachen gegeben, weil ich sie gepflegt hatte! Sie dürfen sie mir nicht wieder wegnehmen... das werden Sie auch gar nicht wagen, denn ich habe sie meinem Vater und Bruder zur Aufbewahrung gegeben. Wenn ich dann eine englische Lady werde...“
„Du hast die alte Frau umgebracht!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Ist dir das nicht einmal jetzt klar, du dummes Scheusal?“ „Das habe ich nicht!“ Ihre Stimme war schrill vor Zorn. „Wie können Sie so etwas sagen? Es war nur eine Medizin, das sage ich Ihnen doch, und ich habe sie mir aus dem Kasten geholt, den John in seinem Zimmer stehen hat – Sie wissen doch, aus dem alten Arzneikasten, den der Mann der Lady immer auf seine Expeditionen mitgenommen hat...“ „Aus dieser prähistorischen Sammlung etwa? Weiß Gott, was alles darin war! Willst du mir etwa einreden, John hätte davon gewußt?“ „Nein, ich sage Ihnen doch, ich habe es bei ihm herausgeholt. Aber bevor ich es benutzte, habe ich ihn gefragt, was es ist. Niemals hätte ich es genommen, hätte ich nicht gewußt, es sei gefahrlos. Es war kein Gift! Er hat mir gesagt, es sei ein Abführmittel, aus dem Samen einer Pflanze hergestellt. .. ja, aus dem Seidelbast...“ Er hatte inzwischen in die Schüssel, die er hielt, hineingerochen. Jetzt atmete er heftig, als brauchte er Luft. „Das ist also die Erklärung! Seidelbast, mein Gott! Also Daphnin, und ich bezweifle, daß der alte Boyd das Zeug während der letzten fünfzig Jahre für jemand anders als Kamele angewendet hat. ›Ein paar Tropfen‹, auch das noch! Mit zwanzig Tropfen könnte man ein gesundes Pferd umbringen! Das Zeug hast du einer alten Frau, einer kranken Frau gegeben...“ „Es hat ihr nicht geschadet! Sie wissen genau, daß es ihr nicht geschadet hat! Dreimal habe ich es ihr gegeben, und jedesmal hat sie sich hinterher besser gefühlt...“ „Und das letztemal“, sagte Henry Grafton sehr leise, und der überspannte Draht in seiner Stimme begann zu vibrieren, „hatte sie gerade drei Wochen vorher eine Koronarthrombose
überstanden. Und so ist sie gestorben ... Wenn du deine dummen Finger aus diesem Brei herausgehalten hättest, wäre sie jetzt noch am Leben, und wir hätten diese verdammten Leute nicht am Hals. Unsere ganze Arbeit hätte mit der Leichtigkeit eines Handkusses abgefertigt werden können. Wir hätten mit einem Vermögen hier abziehen können und Zeit genug gehabt, während der Ernte noch eins zu machen. Aber du... du...“ In einem Anfall blinder Wut warf er ihr die Suppe zusammen mit der Schüssel ins Gesicht. Sie konnte nicht mehr heiß sein, aber sie war fettig und traf sie gerade oberhalb der Augen. Die Schüssel zerbrach. Sie mußte aus feinstem Porzellan gewesen sein, denn sie zerschellte nicht etwa an den Kisten hinter ihr, sondern direkt auf ihrem Backenknochen. Es folgte eine Sekunde der Stille, bevor sie aufschrie, aber auch dieser Schrei erstickte, weil ihr etwas von der sämigen Suppe in den Mund und in den Hals floß. Sie würgte, beugte sich dann vor, hustend und halb erstickt, das Blut strömte ihr in einem schmierigen Streifen über die Wange und vermischte sich mit dem eklig grünen Schleim der Suppe. Grafton holte mit der Hand aus, als wollte er sie schlagen. Ich stieß einen Schrei aus, sprang vor und packte seinen Arm. „Das genügt!“ protestierte ich. „Nehmen Sie doch Vernunft an!“ Er fuchtelte herum, um sich von mir zu befreien. Es war eine heftige Bewegung, und von seiner Schulter gerammt, taumelte ich rückwärts, riß das Tablett zu Boden und fiel fast gegen die Tür. Sein Gesicht war seltsam dunkelrot, und sein Atem gurgelte in der Kehle. Ich weiß nicht, ob er sie noch einmal geschlagen hätte, aber da blitzte etwas in ihrer Hand auf. Sie löste sich von der Kistenwand und sah aus wie eine zum Sprung geduckte Katze. Mit ihren Nägeln und dem Messer in der Hand hatte sie es offenbar auf sein Gesicht abgesehen.
Er war behende, wie es viele untersetzte Männer sind, und ich glaube, daß es nur eine Reflexbewegung war, zu schnell, als daß er noch aus Überlegung gehandelt haben könnte, die ihn zurückspringen ließ, weg aus dem Bereich der scharfen Nägel und des Messers, das sie von irgendwoher gezückt hatte – schimmernder Damaszenerstahl. Dann hatte sie ihn erreicht. Das Messer blitzte auf. Er hatte keine Waffe – wer hätte sie gegen mich nötig gehabt? Und da riß er aus dem Gerumpel den ersten Gegenstand heraus, der ihm unter die Hand kam. Sogar in diesem Augenblick dachte ich noch, daß er nach der Peitsche gegriffen hatte, die oben auf dem Stapel von Kamelgeschirren lag, aber seine Hand hatte um ein paar Zentimeter daneben gefaßt, und womit er nun ausholte und zuschlug, war nicht etwa die biegsame Peitsche, sondern ein schwerer, gefährlicher Stachelstock. Er traf Halide genau auf die Schläfe. Die Kraft schien sie mitten in ihrem Sprung zu verlassen, als sei eine Feder bei ihr gebrochen. Sie taumelte vorwärts, aber ihre Finger glitten schlaff und ohne Schaden anzurichten am Hals des Mannes entlang, und der Stoß des Messers verfehlte seinen Hals um eine Handbreit, als ihr Körper auf ihn zustürzte und sie in einem hilflosen, zuckenden Häufchen vor seinen Füßen zusammensank. Das Messer schlug mit einem klirrenden, leisen Laut auf dem Boden auf, kurz bevor auch ihr Körper nachgab. Dann kippte der Oberkörper zur Seite, und ihr Kopf prallte mit einem dumpfen Laut, der etwas unheimlich Endgültiges an sich hatte, auf den Steinen auf. In der Stille hörte ich die Lampe wieder wie einen gefangenen Nachtschmetterling rascheln. Es war, als ob meine Knie mir nicht mehr gehörten. Ich war in den Rauch zurückgekehrt und schwebte hilflos dahin. Ich erinnere mich noch, daß ich mich mit Gewalt von der Tür abdrücken mußte, um zu Halide zu gehen.
Ich hatte vergessen, daß er hier der Arzt war. Bevor ich jedoch mehr getan hatte, als nur den Entschluß zu fassen, mich in Bewegung zu setzen, kniete er schon neben ihr nieder. Ich trat einen Schritt vor und stieß heiser hervor: „Ist sie tot?“ Er sagte kein Wort. Es war auch nicht nötig. Niemals zuvor hatte ich einen Toten gesehen, nur Leute, die auf der Bühne oder im Film einen Toten darstellten, und doch wußte ich, daß sie tot war. Was immer ich zu sagen versuchte, wurde niemals ausgesprochen. Henry Grafton wandte sich jetzt zu mir um. Noch immer hielt er den Stachelstock in seiner Hand. Natürlich hatte er nie die Absicht gehabt, sie umzubringen. Aber sie war tot, und ich hatte es miterlebt. Und etwas anderes dämmerte mir nun - wie, das weiß ich nicht, nur daß in diesem Augenblick in dem entsetzlichen kleinen Raum, wo es nach Suppe, Petroleumlampe und anderem roch, das der Tod sein mochte, alle meine Nerven bloßgelegt waren und ich das Gefühl hatte, als bildeten sie ein Geflecht weißer Wurzelfasern, das von keiner Haut mehr geschützt wurde. Niemals zuvor hatte er getötet, und vielleicht konnte er es sogar jetzt noch nicht ganz glauben oder nicht begreifen, wie einfach es gewesen war. Mit was für Lügen er sich auch in bezug auf Charles und mich beschwichtigt hatte, jetzt wußte er Bescheid. Jetzt war die Entscheidung von ganz allein gefallen. Er hatte den ersten Schritt auf einer schiefen Ebene getan, die alles weitere erleichterte... Und hinter diesen geweiteten, dunklen Augen konnte nun ein Mann stehen, der sich unter dem Einfluß der verdammten Droge befand, und in dem der Mörder erwacht war. Niemals werde ich mit Sicherheit erfahren, ob das, was ich dann tat, das Dümmste war, was ich hätte tun können. Vielleicht hätte ich bleiben sollen, wo ich war, um ruhig auf ihn einzureden, bis die dunkle Röte aus seinem Gesicht
gewichen und die blutunterlaufenen Augen klar geworden waren. Aber ich sah nichts anderes, als daß die Tür offenstand und ich ihr näher war als er. Ich ließ mich nicht erst auf Argumente ein, sondern drehte mich um und rannte davon.
Siebzehntes Kapitel Die Sterne verbleichen, und die Karawane Bricht in die Morgenröte des Nichts auf – Oh, beeilt euch! E. FitzGerald: The Rubáiyát of Omar Khayyám
Der Gang war ziemlich hell erleuchtet; jemand hatte Petroleumlampen an einigen der alten Fackelhalter befestigt – wahrscheinlich als Vorbereitung für die nächtliche Arbeit –, und sie zeigten mir die Treppe zum Diwan des Prinzen. Es war der einzige Ausweg. Es wäre sinnlos gewesen, in das Serail zu flüchten, denn ich konnte nicht hoffen, allein aus dem Fenster zu entkommen; die Ausfallpforte war versperrt, und Jassim bewachte das Haupttor. Außerdem mußte ich auch noch an Charles denken. Meine einzige Hoffnung waren der Diwan des Prinzen und das Gewehr. Ich war etwa ein Drittel des Weges die Treppe hinaufgestürzt, als der Vorhang oben auseinandergeschlagen wurde, John Lethman, wie eine Erbse von einem Katapult, angeschossen kam und schrie: „Grafton! Grafton!“ Er jagte, indem er drei Stufen auf einmal nahm, die Treppe hinunter. Bevor ich selber zum Stehen kam, war ich gegen ihn geprallt. Er stieß einen dumpfen Laut der Überraschung aus und hielt mich fest. Noch mehr muß ihn überrascht haben, daß ich keinen Versuch einer Flucht unternahm. Hätte ich mich in einem normalen Zustand befunden, noch fähig nachzudenken, so hätte ich vielleicht erwartet, ich könnte ihn wegen Halides Ermordung auf meine Seite gegen Grafton ziehen, aber ich war unfähig zu denken. Nur der Instinkt ließ mich ihn fast wie einen Retter betrachten, wohl verführbar, jedoch noch nicht völlig verderbt, ein Mann, der bestimmt nicht ruhig zusehen konnte, wie ich ermordet wurde.
„Wie sind Sie herausgekommen?“ stieß er hervor. Und dann: „Was ist geschehen?“ Ich konnte nicht reden, aber ich klammerte mich an ihn und deutete zurück auf die Tür des Vorratsraums, aus der in diesem Augenblick Henry Grafton mit dem Stachelstock in der Hand auf den Gang hinausstürzte. Als er uns erblickte, blieb er wie erstarrt stehen, und der Stachelstock senkte sich langsam, bis seine eiserne Spitze den Boden berührte. Es folgte eine kleine Pause, in der niemand etwas sagte. Dann packte mich Lethman am Arm, zog mich hinter sich die Treppe hinunter und wieder auf die Tür Ich sah nicht hin. Ich habe, glaube ich, meine Augen geschlossen. Lethman ging nicht hinein, sondern blieb ein Stück vor dem Eingang stehen. Henry Grafton räusperte sich. „Es war ein unglücklicher Zufall“, sagte er. „Sie hat mich angegriffen.“ Als niemand antwortete, wandte er sich plötzlich wütend an mich: „Sagen Sie, es war ein Unglücksfall, Sie dummes Ding! Sagen Sie, was geschehen ist!“ Ich sah keinen von beiden an. „Ja, es war ein Unglücksfall. Er hatte nicht die Absicht, sie zu töten, dessen bin ich sicher. In seinem Zorn hat er ihr die Suppe ins Gesicht geschüttet. Da hat sie sich auf ihn gestürzt, er hat nach etwas gegriffen – ich glaube, nach der Peitsche –, und da hat er das Ding zu fassen bekommen.“ Mit gepreßter Stimme, die sogar mir fremd vorkam, fügte ich hinzu: „Im übrigen kann ich nicht einmal so tun, als sei ich traurig. Aus dem, was hier gesagt wurde, schließe ich, daß sie Großtante Harriet umgebracht hat.“ Da fuhr Lethman heftig zusammen. Noch immer hielt er mein Handgelenk fest umschlossen, schien mich jedoch vergessen zu haben. Jäh wandte er sich Grafton zu. „Was hat sie? Sie hat die alte Dame umgebracht? Was soll das?“
„Es ist wahr.“ Graf ton starrte das Ding in seiner Hand an, als habe er es niemals zuvor gesehen. „Offensichtlich hat sie ihr hin und wieder eine Dosis Daphnin eingegeben.“ „Daphnin... Guter Gott, das war es also! Ich erinnere mich, wie sie sich mal bei mir nach dem Zeug erkundigt hat.“ Er hob seine Hand zum Kopf und sah elend und erschüttert aus. „Aber warum? Das verstehe ich nicht. Daphnin – du lieber Himmel –, was hat sie damit zu erreichen gehofft ?“ „Eine Mitgift“, antwortete Grafton sarkastisch. „Sie hat bestimmt nicht die Absicht gehabt, sie zu töten, das war reine Unwissenheit. Sie war nur schlau genug, es an den Tagen zu tun, an denen ich nicht hier war. Ich muß zugeben, daß mir niemals ein solcher Gedanke gekommen ist – es war einer jener einfachen, phantasielosen Pläne, die man bei ihrer Mentalität erwarten durfte: Sie hatte sich gewünscht, die alte Dame sollte periodisch krank und hilflos sein, so daß sie sie in dieser Zeit pflegen und jene Art von Anhänglichkeit beweisen könnte, die nicht zu übersehen ist und entsprechend belohnt wird. So war es auch gekommen.“ Während er das sagte, beobachtete er Lethman. Dieser schwieg. Man sieht einem Menschen immer an, wenn er in seine Erinnerungen zurücktaucht. Mit einem noch immer von Entsetzen gezeichneten Gesicht biß er sich auf die Unterlippe. Hinter den schlaffen Gesichtszügen und den kleinen stechenden Pupillen des Süchtigen glaubte ich das Gesicht des harmlosen jungen Mannes zu erkennen, der in Henry Graftons Bahn gezogen worden war. Es war nur noch ein schwacher Abglanz dieses Gesichts. Auch glaubte ich, ebenfalls nur schattenhaft und flüchtig und dann voller Scham hastig unterdrückt, das Gesicht eines jungen Mannes zu erkennen, der plötzlich von einer schweren Last befreit wird. Auch Grafton hatte es gesehen. „Ja, die Belohnungen hat es ebenfalls gegeben. Du weißt, wie großzügig die alte Dame zuweilen sein konnte. Ich nehme an, daß der größte Teil ihrer
Beute von ihrer Familie im Dorf für sie aufbewahrt wird. Wie gesagt, eine Mitgift.“ „Mein Gott“, unterbrach ich ihn jetzt, „bedecken Sie doch ihr Gesicht und verschwinden wir von hier, bevor mir übel wird.“ Grafton streifte mich mit einem Blick. Dann gehorchte er mir, beugte sich über den leblosen Körper und legte ein Stück des fettigen, hübschen Seidenkleides über das Gesicht des Mädchens. John Lethman wandte sich jäh ab und zog mich mit sich zur Treppe. Ich folgte ihm nur zu bereitwillig. Als wir nach oben gelangten und den Vorhang zurückschlugen, trat Grafton unten aus dem Vorratsraum und schloß die Tür hinter sich. Dann aber schien ihm noch ein Gedanke gekommen zu sein: er stieß sie wieder auf und warf den Stachelstock hinein. Ich hörte, wie er klirrend auf dem Boden aufschlug; dann schloß sich endgültig die Tür zu dem entsetzlichen Raum. Der Diwan des Prinzen war an diesem Abend hell erleuchtet. Die übliche Lampe stand auf dem abgedeckten Springbrunnen, der in der Mitte des unteren Teils des Raumes als Tisch diente; andere Lampen brannten in Nischen an der Tür, und eine Doppelfackel in einem Halter hoch an der Wand verbreitete ein rauchiges, rötliches Licht. Als Grafton hinter uns den Raum betrat und sich der Vorhang hinter ihm wieder schloß, loderte und prasselte die Fackel im Luftzug und warf ein eigenartiges Schattenspiel auf die Wände. „Zum Teufel, halt das Mädchen fest!“ Seine Stimme war rauh, aber beherrscht. Wie es schien, hatte er das Kommando wieder an sich gerissen. „Wenn du sie laufenläßt, landen wir beide im Kittchen. Du kannst es mir glauben, John, ich bedauere, was geschehen ist – es trifft durchaus zu, daß Halide die alte Frau umgebracht und uns beide in diese Sache hineingeritten hat, aber glaubst du ernsthaft, ich hätte nach ihr geschlagen, wäre sie nicht mit einem Messer auf mich losgegangen? So wie ich die Sache sehe, sollten wir lieber versuchen, aus dieser Lage
herauszukommen, in der wir uns jetzt befinden, bevor wir uns auf die Einzelheiten einlassen. Reiß dich also zusammen, und wenden wir uns dem Nächstliegenden zu. Dir ist wohl klar, was geschehen wird, wenn Nasirulla Wind davon bekommt? Wir müssen den Leichnam woanders hinbringen, und denk dir etwas aus, womit du ihn hinhältst, wenn er dich fragt, wo sie ist. Mein Gott!“ – plötzlich klang seine Stimme aufs äußerste gereizt –, „starr mich doch nicht so an! Was geschehen ist, ist geschehen, und tu nur nicht so, als ob du mir nicht sehr dankbar sein wirst, wenn du erst einmal frei bist wie ein Vogel, Geld hast, mit dem du um dich werfen kannst, und keine dunkle Schönheit mehr dir nachläuft, die sich wie eine Schlange um deinen Hals windet! Und um anzufangen, bringst du diese hier erst einmal hinter Schloß und Riegel – beeil dich, sie sieht aus, als könnte sie uns unter den Händen ohnmächtig werden. Sperr sie zusammen mit dem Mann ein, da hast du keinen weiten Weg.“ Es traf durchaus zu, daß ich mich nicht allzu wohl fühlte. Noch immer von John Lethman festgehalten, war ich bis zum roten Lackstuhl gelangt; kaum aber gab er meinen Arm frei, als ich spürte, wie meine Knie unter mir nachgaben. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und kämpfte die eisige Übelkeit nieder, die immer wieder in mir aufwallte, abgelöst von siedender Hitze. Durch die Schauer des Fröstelns und der Übelkeit hindurch wurde ich mir eines scharfen, hastigen Wortwechsels bewußt, der über mich hinwegging. Ich verstand nicht, was John Lethman gesagt hatte, aber Graftons Reaktion darauf war heftig. „Was? Was, zum Teufel, meinst du damit?“ „Das wollte ich dir gerade berichten. Der Mann ist ausgebrochen.“ „Das ist doch nicht möglich!“
„Es ist aber so. Er ist draußen. Verschwunden. Keine Spur.“ Einen Augenblick tauchte ich an die Oberfläche zurück. „Bully für Charles“, sagte ich. „Er wird in ein paar Stunden mit allen verdammten Polizisten, die er nur zusammentrommeln kann, wieder hier erscheinen!“ fuhr John Lethman fort. „Wieder hier?“ Grafton hatte blitzschnell begriffen. „Du meinst, er ist draußen – ganz richtig draußen?“ „Es kann nicht anders sein. Ich habe Jassim gefunden, zu Boden geschlagen, und das Haupttor stand offen. Natürlich hat er nicht gewußt, daß wir auch sie hier haben oder...“ „Du Idiot! Und da verlierst du noch so viel Zeit!“ Auf diese Weise konnte, wie es schien, Halides Tod nun zu den Akten gelegt werden. „Wie lange ist er denn schon verschwunden?“ „Wahrscheinlich nicht lange. Er hatte seinen Wasserkrug umgestoßen, und die Fußspuren, die er hinterließ, nachdem er ins Wasser getreten war, waren noch immer feucht, als ich hierher kam, um dich zu suchen.“ „Laß die Hunde los!“ stieß Grafton hervor. „Los, geh sie gleich holen! Er wird unterwegs zum Dorf sein und ist noch nicht weit gekommen. Sie können ihn leicht einholen, und Nasirulla kannst du sagen, es macht nichts, wie sie ihn zu Boden bringen, solange sie es nur tun.“ „Sie werden ihn nicht anrühren. Erinnerst du dich nicht, daß ich dir erzählt habe...?“ „Was macht denn das aus? Siehst du nicht, worauf es hier ankommt? Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – Nasirulla ist uns nicht im Weg, während wir unten Ordnung schaffen, wenn er mit den Hunden ihm nachjagt. Die Hunde werden ihn schon aufspüren, und wenn Nasirulla ein Gewehr mitnimmt... Er muß um jeden Preis aufgehalten werden, hast du mich verstanden? Ich nehme an, daß Jassim inzwischen wieder auf den Beinen steht. Mensch, beeil dich, und überlaß mir dieses
Weibsbild, ich werde schon mit ihr fertig. Dann komm so schnell zurück wie möglich und hilf mir unten.“ Als sich John Lethman zum Gehen wandte, packte ich ihn am Ärmel. „Lassen Sie mich nicht mit diesem kleinen Lumpen allein! Sehen Sie denn nicht, daß er bereits durchgedreht ist? Erst Halide und jetzt Charles... Und verstehen Sie denn nicht, daß Sie keine Chance mehr haben?“ Ich umklammerte seinen Arm und schüttelte ihn. Es war, als ob ich einen Traumwandler anflehte. „Sie haben immer nur das getan, wozu er Sie gezwungen hat! Sie sind unschuldig an Halides Tod! Wenn Sie Charles laufenlassen und mich hier herausholen, schwöre ich, daß ich für Sie eintreten und für Sie aussagen werde.“ „Ab mit dir!“ rief Grafton. John Lethman riß sich los und verschwand. Grafton forderte mich durch eine Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. „Kommen Sie, und ein bißchen schnell.“ „Wohin?“ „Zurück in den Käfig, mein Kleines.“ Ich umschloß fest die Armlehne des Stuhls, bis die Hände schmerzten. „Doch nicht etwa zurück zu ihr?“ „Aber nein, dort werden wir genug zu tun haben, das haben Sie doch gehört ! Diesmal können Sie in das offizielle Gefängnis einziehen, aber glauben Sie nur nicht, daß Sie dort wieder herauskommen, selbst wenn es Ihrem Vetter gelungen ist.“ Langsam erhob ich mich und stützte mich dabei auf den Armlehnen auf. Das Gefühl der Übelkeit hatte nachgelassen, und ich stand einigermaßen fest auf meinen Beinen, aber ich kann trotzdem nicht so ausgesehen haben, als sei mit mir ernsthaft zu rechnen, denn er hatte mich ganz offensichtlich schon aus seinen Gedanken gestrichen, während er sich bereits der nächsten – wichtigeren Aufgabe zuwandte. „Los, verlieren wir keine Zeit. Ein bißchen schneller.“ Ich machte auch schnell. Plötzlich richtete ich mich auf und stieß den schweren Stuhl unter mir weg, so daß er auf dem Marmorboden
zwischen mich und Graf ton schoß. Ich rannte in der entgegengesetzten Richtung davon auf das Bett zu. Die Stufen hinauf, über die Estrade, sprang auf das Bettende und riß das Gewehr von der Wand. Ich fuhr herum, auf dem weichen Bett ohne festen Halt, lehnte eine Schulter an die Wand und richtete die Waffe auf seinen Bauch, bevor er auch nur drei Schritte auf mich zu getan hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob das Gewehr geladen war. Ich dachte, wahrscheinlich nicht, aber Henry Grafton mochte seiner Sache nicht sicher sein. Und man muß schon sehr sicher sein, um es mit einem Gewehr aufzunehmen. Ein Gewehr kann man nur ein einziges Mal mit einem Pokergesicht herausfordern. Er blieb, wie erwartet, stehen. „Stellen Sie das dumme Ding weg, es ist nicht geladen.“ „Sind Sie sicher?“ „Ganz sicher.“ Draußen war plötzlich das wilde Gebell der Hunde zu hören, aus dem Hof herauf, wo Nasirulla sie wahrscheinlich in der freundlichen Hoffnung, sie würden Charles zu Boden reißen, losgelassen hatte. Ich lachte Henry Grafton ins Gesicht. „Dann kommen Sie doch und holen mich!“ forderte ich ihn auf. Er rührte sich nicht von der Stelle. Wieder lachte ich, hielt das Gewehr weiter auf ihn gerichtet und streckte eine Hand aus, um mich zu stützen, als ich vom Bett herunterstieg. Und da überkam es mich wieder: eine Hitzewelle, die erstickende Übelkeit, der Schweiß und das stoßweise Atmen. Ich tastete nach dem Vorhang, klammerte mich daran fest, bevor mir verschwommen bewußt wurde, wie das Gewehr herabsank und Grafton einen Augenblick zögerte, ehe er einen Schritt auf mich zu tat. Ich hörte das wilde, laute Gebell der Hunde und jemand etwas brüllen.
Ich riß mich zusammen und richtete mich auf. Aber es war zu spät. Er hatte sich auf mich gestürzt. Er entriß das Gewehr meinen schlaffen Händen, warf einen Blick in das leere Magazin, beförderte es mit einem Fußtritt unter das Bett, holte mit der Hand zu einem kräftigen Schlag gegen meinen Kopf aus, und ich fiel kraftlos gerade in dem Augenblick auf das Bett, als die graue Katze mit wütendem Fauchen wie eine Rakete aus den Decken hervorschoß. So dicht an mir vorbei, daß jedes Haar ihres Körpers über mein Gesicht hinstrich. Ich schrie auf. Grafton brüllte etwas, ich glaube, daß er nach mir griff, aber ich befand mich bereits jenseits aller Furcht, ja sogar jenseits jedes Gedankens an ihn. Ich fühlte mich nun in meinen eigenen Angsttraum gerissen und kämpfte nicht etwa gegen die Katze, sondern gegen meine eigene Furcht. Mit Händen und Füßen setzte ich mich gegen ihn zur Wehr, als ich mich auf die andere Seite des Bettes zurückzog. Vom Garten her drang lauter Lärm herein: ein heiserer Ruf, das Tappen schneller Pfoten, dann der angstvolle Schrei einer erschreckten Katze, der in dem wilden Tumult der Hunde, die eine Beute erspäht hatten, unterging. Die Katze kam ins Zimmer zurückgejagt, ein fauchender grauer Strich, und hinter ihr her lauthals die Salukis mit einer zerrissenen Leine, die von den Halsbändern herabhing, und hinter ihnen herschleifte. Schließlich ein schimpfender Nasirulla. Die Katze rannte auf die Bettvorhänge zu. Die Hunde hatten es gesehen und sausten hinter ihr her. Der schwere Stuhl flog um, krachte gegen den Tisch, und die Lampe fiel, von einem Schweif sprühenden Öls gefolgt, zu Boden. Die Flamme lief wie ein Kugelblitz an ihm entlang. Grafton schrie etwas, riß eine Decke vom Bett, sprang die Stufen hinab, wich dabei den Hunden aus, glitt in dem brennenden Öl aus und fiel zu Boden, wobei er mit seinem Kopf auf der Steinkante des alten Brunnens aufschlug. Über
meinen Kopf hinweg sprang die Katze wie ein silberner Vogel auf das hohe Fenstersims und war verschwunden. Alles schien in Sekunden geschehen zu sein. Die Flammen breiteten sich aus, züngelten hoch, wogten, ergriffen die Bettvorhänge und leckten mit großen Feuerzungen an ihnen empor. Ich rollte vom Bett herunter, vorbei an den Vorhängen, und stürzte in das stille Halbdunkel des Gangs hinaus. Als letztes sah ich, bevor der Vorhang hinter mir zufiel, wie der Araber niederkniete, um Grafton zur anderen Tür zu zerren. Die Hunde kamen mit mir. Sofi, vor Angst winselnd, wand sich durch den Vorhang hindurch und lief auf gut Glück die Treppe hinunter. Der Rüde stand schon unten. Ich warf die Tür zu und rannte hinter ihnen her. „Hierher!“ rief ich atemlos. „Hierher!“ Wir liefen weiter, die Biegung des Ganges entlang, vorbei an dem Raum, in dem die arme Halide lag, durch die stickige Luft, in der bereits der scharfe Geruch des Rauches lag – und dann gelangten wir vor die Tür des Prinzen. Meine Hände zitterten, und zweimal drängten mich die Hunde, die in ihrer Furcht gegen die Tür sprangen, zur Seite, bevor es mir gelang, die schwere Klinke niederzudrücken. Dann war die Tür offen, und wir gingen hindurch. Leicht und geräuschlos schwang die schwere Tür auf. Vielleicht würde sie die tote Luft des Ganges abschließen und damit dem Feuer Einhalt gebieten. Ich warf sie hinter mir zu und ließ den Schnappriegel fest einrasten. Dann drehte ich mich um und entdeckte, daß es draußen schon brannte... Jedenfalls hatte ich es einen furchtbaren Herzschlag lang geglaubt, als ich auch den Außengang von flackerndem Schein erleuchtet vor mir sah. Dann entdeckte ich den Grund. Hier war ebenfalls alles für die nächtliche Arbeit erhellt. In den alten Haltern auf beiden Seiten der Tür des Prinzen steckten improvisierte Fackeln, die mit düsterem Schein, rot und
rauchend, flackerten. Diesen Rauch mußte ich, als ich den Gang entlanglief, gerochen haben. Unschlüssig und keuchend blieb ich stehen, während die Hunde winselten und sich zitternd an mich drängten. Die Karawane mußte schon bald eintreffen, und wahrscheinlich vor der hinteren Pforte. Aber ich hatte Halide sagen hören, die Ausfallpforte sei verschlossen und der Schlüssel herausgezogen. Also zum Haupttor! Ich mußte es versuchen. Ich lief den Gang zu meiner Rechten entlang und war vielleicht zwanzig Schritt auf dem groben, schlecht beleuchteten Pflaster unsicher und taumelnd vorangekommen, als Sofi wieder zu winseln begann und ich ein Gewirr von Stimmen aus dem großen Hof vernahm. Jäh blieb ich stehen. Selbstverständlich würden alle dort zusammentreffen: Grafton, Lethman, Nasirulla und Jassim – diese Richtung bedeutete, ihnen in die Arme zu laufen. Und noch etwas: Wenn sie überhaupt noch eine Hoffnung hatten, ihre kostbare Ware zu retten, mußten sie mir jeden Augenblick auf diesem Wege entgegenkommen. Und selbst wenn alle Gebäude um sie her wie Zunder aufflammten – morsch genug waren sie ja –, hätte ich Gift darauf nehmen können, daß jeder einzelne von ihnen mich in die Flammen zurücktreiben würde. Ich lief zur Tür zurück, die zur Treppe zum Serail führte. Ich riß sie auf, und wir eilten hindurch. Die Dunkelheit senkte sich erstickend, schweigend und erschreckend wie ein samtener Vorhang über uns herab. Ich schloß die Tür hinter mir und ging zögernd zwei Schritte. Da stolperte ich über die erste Stufe, schlug an mein Schienbein und fiel hin. Einer der Hunde wimmerte und drängte sich dicht an mich. Seine warme Haut unter dem seidigen Fell zitterte. Auch von der anderen Seite her stieß mich ein schmaler Kopf an. Ich tastete nach dem Halsband des Hundes und stand auf. Mit einer Hand im Halsband und mit der anderen mich an der Außenmauer des
Treppenhauses entlangtastend, begann ich mir meinen Weg die Wendeltreppe hinauf zu suchen. „Zeigt mir den Weg, alte Freunde“, flüsterte ich. Die Hunde arbeiteten sich mit einem solchen Eifer nach oben, daß ich das Gefühl hatte, sie könnten sogar in der Finsternis sehen. Ich fragte mich, ob sie wohl Wasser witterten. Ich konnte es fast selber riechen. Der Gedanke an die große Wassermasse über unseren Köpfen konnte mich nicht länger ängstigen: In ihr lag die Hoffnung auf schimmernde Kühle, auf Rettung. Während der eine Hund mich zog und meine andere Hand über unsichtbare Minarette, Zypressen und Singvögel hinwegtastete, taumelte und keuchte ich die Wendeltreppe empor. Dann stieß die Hündin, die vor uns her rannte, die bemalte Tür auf, und wir drei stürzten in die Nachtluft und in Helligkeit hinaus. Aber die Nachtluft war von Rauch erfüllt, und die Helligkeit war rot, golden und flackernd. Ich lief mit den Hunden die Stufen des Lusthäuschens hinunter und blieb am Rand des Wassers stehen. Wie es schien, hatte das Feuer alle Gebäude westlich des Sees erfaßt. Das alte, morsche Holz war knochentrocken und war im Nachtwind wie Zunder aufgeflammt. Während ich noch angstvoll und entsetzt dort stand, trieb ein Funkenregen wie der Schweif eines Kometen über den See hinweg, ging entlang der östlichen Arkade, ganz nah von Charles’ Fenster, nieder, und auch dort züngelten nun die Flammen auf.
Achtzehntes Kapitel Aber nicht gegen die Flammen Sollen sie euch schützen oder euch helfen. Der Koran: Sure LXXVII
Das Feuer hatte eins bewirkt: Alles war taghell erleuchtet. Noch gab es die Möglichkeit, in die Rumpelkammer unter der östlichen Arkade zu gelangen, den Strick zu suchen und ihn am Fenster zu befestigen, bevor die Flammen weiter um sich griffen. Was nun die Hunde betraf – soweit ich überhaupt an sie zu denken vermochte –, konnte ich sie bestimmt nicht, ob mit oder ohne Seil, vom Fenster aus herablassen, aber sie befanden sich am sichersten Ort, den der Palast zu bieten hatte. Sie brauchten sich nur ins Wasser zu werfen. Ich lief zur Brücke, und die Hunde folgten dicht hinter mir – so dicht, daß Sofi, als wir zu dem fehlenden Stück gelangten, als erste sprang, und Star, der sich vorwärts drängte, um ihr zu folgen, gegen meine Beine stieß und mich aus dem Gleichgewicht brachte. Ich rutschte aus, versuchte mich wieder zu fangen, schrie noch auf, als ich auf einen wackligen Stein trat, und stürzte ins Wasser. Es mußte über einen Meter tief sein. Ich fiel ganz hinein und tauchte unter die Seerosen, die schimmernden Lilienpolster und die schwimmenden anderen Gewächse, bevor ich wieder an die Oberfläche kam und aufstehen konnte. Bis zu den Knöcheln stand ich im Schlamm und bis zur Brust im Wasser; mein Haar hing mir naß und in Strähnen ins Gesicht, und die Hunde sahen mich vom Ufer aus neugierig und aufgeregt an. Dann sprang Sofi mit einem leisen kläffenden Laut der Erregung neben mir hinein. Star folgte unweigerlich. Sie schwammen in Kreisen um mich herum, stießen hin und wieder ein winselndes Bellen
aus, spritzten mich an, bearbeiteten mich mit ihren Pfoten, in dem Bemühen, mir nah zu sein, und überhörten völlig meine heiseren, wirren Befehle, während ich versuchte, sie mir inmitten der knirschenden Lilien fernzuhalten und mich aus den verschlungenen Stengeln und Blättern der Seerosen herauszuarbeiten. Aber nicht zur Arkade hinüber. Die wenigen Minuten, die mir durch meinen Sturz verlorengegangen waren, hatten mich den Zugang zur Rumpelkammer gekostet. Lodernde Flocken – Stroh oder was es auch war – flogen über das Wasser und ließen nun das Dach an mehreren Stellen aufflammen. Es war zum größten Teil mit Holzschindeln gedeckt, seit Generationen ausgebleicht und ausgedörrt und überwuchert mit Schlingpflanzen, die von der beginnenden Sommerhitze bereits trocken waren. Das Geißblatt zündete wie Stroh; entlang der Arkade fielen brennende Stücke herab und wurden wie Feuerpfeile in die Luft geschossen, um überall neue Brände zu entfachen. Ein Rauchschleier trieb an der Tür zur Rumpelkammer vorbei. Sogar der Garten brannte jetzt. Hier und dort glommen die trockeneren Büsche, und an der Spitze einer der jungen Zypressen, wo ein Funke gezündet hatte, stand nun eine Flamme, die an ein Elmsfeuer erinnerte. Der Rauch der verbrennenden Pflanzen roch stark und würzig. Die nördliche Arkade war noch immer unberührt, aber ich wußte, daß das Fenster ohne den Strick für mich nutzlos war. Ebenso nutzlos wie das Tor, das zu den anderen Gebäuden führte. Es gab für mich nur eins, wozu die Hunde mich bereits gezwungen hatten: ich mußte im Wasser bleiben. Aber ich glaubte, es noch nicht tun zu müssen. Einstweilen war die Insel noch ziemlich sicher, die meisten ihrer Pflanzen von dem Wasser rings umher zu feucht, um so leicht Feuer zu fangen. Den Hunden verdankte ich es, mich in der gleichen Lage zu befinden. Ich watete bis zu
dem aufgeschütteten Ufer und kletterte hinaus. Triefend krochen die Hunde hinter mir hoch. Selbstverständlich schüttelten sie sich gleich neben mir, und das Wasser stäubte von ihnen weg wie ein Schauer flüssigen Feuers, so hell war jetzt die Nacht erleuchtet. Ich arbeitete mich durch das Gewirr kühler, grüner Büsche hinauf und erreichte die Stufen des Lusthäuschens. Ein jäher Rauchwirbel, der mich erreichte, brachte mich zum Husten, aber er verwehte wieder, und die Luft war wieder erträglich. Ich lief die letzten Stufen in das Lusthäuschen hinein, das einen gewissen Schutz bot. Dann gaben meine Beine nach. Ich setzte mich auf die oberste Stufe, die Hunde in ihrer Unruhe dicht an mich geschmiegt, und dann blieb uns Zeit genug zur Angst. Die Hunde waren jetzt wirklich verängstigt und drängten sich von beiden Seiten zitternd an mich. Ich hatte meine Arme um sie gelegt. Hin und wieder flogen Funkenschauer über den See hinweg. Der Himmel war auf allen Seiten vom Feuer erhellt; Flammenzungen, Spiralen von Feuer und Meteore stiegen in die Luft, so daß die Sterne, die funkelnd über mir standen, mir kalt und unendlich fern erschienen. Durch das lodernde Herz der Flammen schossen blaue, purpurrote und grüne Strahlen, und es erhob sich ein Getöse, als ob wilde Pferde, ihre Mähnen vom Wind zerzaust, über mich hinweggaloppierten. Die Rauchentwicklung war nur schwach, und ich hatte das Glück, daß der Rauch, der hervorquoll, von dem leichten Wind, der den Brand anfachte, von mir weggetrieben wurde. Der See war wie eine Fläche geschmolzenen Kupfers, so gleißend, daß es die Augen schmerzte. Rote, goldene und silbrige Lichter tanzten zwischen den steifen, schwarzen Speeren der Lilien umher, so daß das Wasser lebendig schien, von den Flammen ebenso pulsierend, von ihnen aufgewühlt wie der Himmel über ihm.
Ich rieb meine brennenden Augen, um mich von diesem Trugbild zu befreien. Aber als ich wieder hinblickte, sah ich, daß es stimmte. Das Wasser bewegte sich, jedoch nicht vom Wind. Dieser Garten war eine Oase der Stille, von den Winden übersprungen, aber in ihr bewegte sich das Wasser, aufgerührt von kleinen, keilförmigen Wellen, als die Geschöpfe des Gartens, vom Feuer getrieben, der Insel zustrebten. Als erste kamen die Pfauen. Die beiden Hennen flogen, schwerfällig und verängstigt, von einem Stein der verfallenen Brücke zum anderen, während sich der Pfau, von der Pracht seines Frühlingsgefieders niedergedrückt, über das offene Wasser halb paddelnd und halb im Flug kreischend näherte; seine großen, unbrauchbaren Flügel schlugen das goldene Wasser, seine lange Schleppe von Schlamm und Nässe triefend; dann eilten die drei großen Vögel, ohne mich und die Hunde zu bemerken, das felsige Ufer hinauf, um sich dann gluckend auf den Marmorstufen unruhig niederzulassen. Die kleinen Felsenrebhühner flogen beschwingter. Sieben von ihnen sammelten sich um meine Füße, vor Angst aufgeplustert, und ihre hellen Augen funkelten wie Rubine, als sie in die Flammen starrten, die den Garten umzüngelten. In dem lodernden, rötlichen Licht schimmerten ihre Federn wie gehämmertes Erz. Einer der Vögel drückte sich bebend und warm an meinen Knöchel. Ich hatte nicht einmal die Eichhörnchen bemerkt, bis eins die Stufen neben mir hinaufflitzte und sich schimpfend und aufgeregt nur ein paar Handbreit von Star entfernt aufsetzte. Dann wurde mir bewußt, daß es im Wasser von Köpfen wimmelte, die wie kleine, schwarze Pfeilspitzen auf die Insel zuschossen. Wahrscheinlich waren es Wühlmäuse, Spitz- und Hausmäuse; ich sah zahllose Schatten, die unter den immergrünen Büschen umherhuschten und pfeifende Töne von sich gaben. Ich entdeckte Ratten, große Tiere in verschiedenen
Tönen von Grau, Schwarz und Braun, die uns mit glänzenden, klugen Augen mißtrauisch betrachteten, als sie ans Ufer wackelten und dann auf der Suche nach Sicherheit in den Schatten untertauchten. Eidechsen jagten zwischen den Steinen herauf, schlängelten sich zwischen ihnen wie Geschöpfe in einem trunkenen Traum, und ich erkannte zwei Schlangen nur eine Handbreit von meinen Schuhen entfernt; sie senkten ihre schönen, todbringenden Köpfe und verschwanden wie Rauch, ohne daß sich die Hunde auch nur rührten – und ich auch nicht. Es blieb in mir kein Raum mehr für Furcht, und auch sie hatten alle Furcht vor mir vergessen: Das einzige, das jetzt zählte, war das Feuer. Wir alle – Ratten, Vögel, Schlangen, Hunde und ein Mädchen – erhoben jetzt Anspruch auf diese Insel, bis die Gefahr überstanden war. Die Hunde bewegten sich nicht einmal, als eine Ratte über meine Füße lief und durch Sofis seidigen Schwanz hindurchhuschte. Eine Taube stürzte aus dem Himmel herab. Die Vögel der Luft waren ziemlich sicher, denn der erste heiße Luftschwall hatte sie vertrieben. Aber diese graue Taube fiel mit einem beschädigten oder leicht angesengten Flügel fast in meine Hände. Sie kam wie ein schlecht gebautes Papierflugzeug, seitlich trudelnd, zwischen meine Füße geflattert, und ich beugte mich zwischen den Hunden vor, hob sie auf und hielt sie dann in meinem Schoß. Ich hatte den Eindruck, als ob unterhalb meiner Füße das Wasser am Ufer der Insel von Fischen wimmelte; schließlich löste sich ein Karpfen vom hellen Rand des Sees und strebte der ruhigen Mitte zu. Ich konnte sie dicht unter der Oberfläche sehen, schimmernde Pfeile, goldene Striche und rotglühende Punkte wie von einem Holzkohlenfeuer. Und über das Brausen der dahinjagenden Flammen hinweg waren die Laute der Tiere zu hören. Die Hunde winselten, die Pfauen stießen ihre heiseren, verängstigten Schreie aus, die Rebhühner gluckten leise, die Ratten und Eichhörnchen pfiffen
und quiekten, und ich sagte in beklemmend kurzen Abständen, während ich Sofi und Star an mich drückte: „Oh, Charles... Oh, Charles... Ach, um Himmels willen, Charles, Charles.“ Wir hatten das schwere Platschen an der Nordostseite des Sees kaum bemerkt; wir sahen auch nicht die von Wellen begleitete, aufgewühlte Spur in dem goldflüssigen Wasser, als der schwarze Kopf genau auf die Insel zuschoß. Ich saß nur da, wiegte mich, wie um mich zu beruhigen, hin und her, redete vor mich hin, hielt die graue Taube in meinem Schoß, drückte meine Wange an Stars feuchten Kopf und fragte mich, wann ich wohl bis zum Ufer kriechen und mich zwischen die sich drängenden Fische werfen müßte. Das Geschöpf, was immer es sein mochte, hatte die Insel erreicht. Es tauchte aus dem Wasser auf, warf eine schwarze Haarsträhne zurück und zog sich ans Ufer. Dann stand er aufrecht da und entpuppte sich als mein Vetter, triefend naß und mit Wasserpflanzen behangen. Was er trug, konnte nur eine weite arabische Baumwollhose sein, die von einem goldschimmernden Gürtel zusammengehalten wurde. Außerdem arabische Sandalen und sonst nichts. Er näherte sich den Stufen und betrachtete mich und meine Menagerie. „Eva im Garten Eden. Hallo, mein Liebling. Aber hast du wirklich all diese verdammten Gebäude in Brand setzen müssen, um mich zurückzuholen?“ „Charles!“ Das war alles, was ich hervorbrachte. Die Hunde winselten, wanden sich und drückten sich eng an mich. Sofi wedelte mit ihrem nassen Schwanz. Ein halbes Dutzend Eidechsen schoß vor ihm davon, als er die Stufen hinauflief, und als er vor uns stehenblieb, rückte eine Wachtel ein bißchen beiseite, um sich vor seinen Tropfen zu retten. Ich blickte zu ihm auf. „Ich war es gar nicht“, entgegnete ich ein wenig unsicher, „das waren die Hunde. Sie haben eine Lampe umgeworfen. Und ich hatte geglaubt, du wärst nicht mehr da;
die anderen haben behauptet, du wärst geflüchtet. Sie... sie hatten mich eingesperrt... Ach, Charles, mein Lieber...“ „Christy!“ Ich erinnerte mich nicht daran, daß er sich bewegte, aber soeben noch hatte er dort vor mir gestanden, während der Schein des Feuers rosa und violett über seine nasse Haut hinspielte; im nächsten Augenblick saß er neben mir auf dem Marmorboden, Star wurde mit dem Ellbogen zur Seite gedrängt, Charles legte seine Arme um mich und küßte mich so heftig und leidenschaftlich, daß dieses Küssen irgendwie mit zu diesem Feuer zu gehören schien, was wahrscheinlich auch der Fall war. Man sagt, daß Furcht und das Gefühl der Befreiung einen Menschen auf diese Weise zu ergreifen vermögen. Ich weiß jedenfalls, daß ich wie Wachs in seinen Händen war. Wir wurden von dem nassen, eifersüchtigen Kopf Stars auseinandergedrängt, und dann mußte sich Charles fluchend und lachend vor Sofis stürmischen Pfoten und ihrer Zunge in Sicherheit bringen. „He, das genügt – zum Teufel, willst du nicht deine wilden Hunde zurückpfeifen? Warum mußt du dich denn mit einem ganzen zoologischen Garten hier verschanzen? Du lieber Himmel, wie dreckig dieser Pfau ist, und dabei habe ich mich auf seinem Schwanz gewälzt... Rück ein bißchen weiter, Kamerad, bitte! Ich kenn’ dieses Mädchen erst seit zweiundzwanzig Jahren, und da könntest du mir auch einmal eine Chance einräumen. Wann habe ich dich das letztemal geküßt, Christabel?“ „Du mußt etwa zehn gewesen sein. Seitdem hast du dich verändert.“ „Davon mußt du mir mal mehr erzählen...“ Diesmal war es eine Eidechse, die sich von der Kuppel herabfallen ließ und uns auseinandertrieb. Er fluchte, schlug nach ihr, als sie unverletzt davonschoß, und richtete sich auf.
„Christy, ich liebe dich und könnte den Rest meines Lebens damit verbringen, dich zu lieben, und das werde ich wahrscheinlich tun, aber wenn wir schon gehen, dann je früher, desto besser, nicht wahr?“ „Bitte? Was hast du gesagt?“ „Ich sagte, wir sollten gehen.“ „Ja. Ich liebe dich auch. Habe ich es schon gesagt?“ „Du hast es deutlich zu erkennen gegeben“, antwortete er. „Ach, Christy, mein Liebes... Christy!“ Seine Umarmung fühlte sich plötzlich anders an, und es war nicht mehr mein Geliebter, sondern mein Vetter Charles, der mich an den Schultern packte und mich schüttelte. „Reiß dich zusammen! Sag mal, hat man dir Rauschgift gegeben oder was?“ „Mir fehlt nichts weiter.“ „Wir müssen von hier herauskommen, solange es noch eine Chance gibt!“ „Ach ja, gehen wir!“ Ich setzte mich auf und blinzelte in die züngelnden Flammen hinein. „Aber wie? Oder kannst du fliegen? Nein, was für ein Sadist du bist, fast hättest du meine Taube zerquetscht... Nein, da fliegt sie, Gott sei Dank. Sie muß nur vom Rauch benommen gewesen sein.“ Ich wollte aufstehen. „Paß bitte auf das Eichhörnchen auf.“ Er lachte. „Soll das ein Eichhörnchen sein? Nein, und sieh dir nur all die niedlichen, kleinen Ratten an! Komm jetzt!“ Er sprang auf, zog mich hoch, hielt mich einen Augenblick fest und stützte mich. „Mach kein so verängstigtes Gesicht, wir würden hier wahrscheinlich ziemlich sicher sein, wenn wir bleiben müßten, aber es könnte doch, bevor das Feuer nachläßt, ein bißchen heiß und unangenehm werden, so machen wir lieber einen Versuch, schon jetzt auszubrechen. Es gibt nur einen möglichen Ausweg, und wir sollten uns beeilen.“
„Wie denn? Vom Fenster werden wir jetzt nicht mehr hinunterkommen, denn an den Strick kommen wir nicht heran. Und ohne ihn könnte ich es nicht schaffen, bestimmt nicht...“ „Schon gut, Liebling, ich habe auch nicht an das Fenster gedacht. Ich meinte die Ausfallpforte.“ „Aber der Gang wird wie eine Fackel aufgeflammt sein! Das Feuer ist im Prinzengemach ausgebrochen.“ „Trotzdem bezweifle ich es. Der Schacht dort hinten“ – er nickte auf die bemalte Tür zu – „würde, wenn der unterirdische Gang wirklich in Brand geraten sein sollte, wie ein Kamin wirken, und nichts deutet darauf hin. Komm, sehen wir es uns einmal an.“ Vorsichtig öffnete er die Tür. Der Rauchgeruch war dort nicht stärker, und der Schacht mit der Wendeltreppe war stockfinster. Hinter mir stieß Sofi ein tiefes, kehliges Winseln aus; ich gab einen beruhigenden Laut von mir und streichelte sie. „Du kommst auch mit, keine Angst.“ Mein Vetter drehte sich zu mir um. „War die große Tür geschlossen, ich meine die Bronzetür zum Prinzengang?“ „Ja, ich habe sie geschlossen. Auf diesem Wege bin ich gekommen. Ich hatte gedacht, damit würde der Luftzug unterbrochen.“ „Du hast wahrhaftig deine lichten Momente, nicht wahr? Und die Luft dort drin war so tot, daß es vom Prinzengemach dort hinunter nur langsam brennen kann. Auf jeden Fall müssen wir es versuchen.“ „Aber selbst wenn der Gang begehbar sein sollte, können wir nicht in den großen Hof gelangen – jetzt brennt es auch dort –, das kann man sehen. Und es ist nutzlos, es an der hinteren Pforte zu versuchen, Charles, sie ist verschlossen, und der Schlüssel steckt auch nicht, das haben die anderen gesagt. Bestimmt kannst du in der Dunkelheit auch keine Schlösser aufsprengen.“
„Keine Sorge, den Schlüssel habe ich.“ Er lächelte über mein Gesicht, suchte in den zerlumpten, einst weißen Hosen herum und holte ein schimmerndes, klirrendes Schlüsselbund hervor. „Was meinst du, einer von diesen ist es bestimmt! Ich habe es dem armen, alten Jassim geklaut, als ich an ihm vorbeisauste. Die Schlüssel waren nutzlos, um mit ihnen wieder hereinzukommen, weil sie die Tore auch verriegelt haben, aber wenn einer von diesen zu der Pforte paßt, kommen wir hinaus.“ Eine Hand an der Tür, blieb er plötzlich stehen. „Bevor wir hinuntergehen, solltest du vielleicht besser ein Taschentuch oder etwas Ähnliches in den See tauchen, um es dir vor den Mund zu halten, wenn der Rauch zu schlimm werden sollte. Los, es dauert nur einen Augenblick.“ „Hast du etwas?“ „Mir würde ein halbes Hosenbein genügen, wenn es mir gelingt, das Zeug zu zerreißen.“ Wir liefen die Stufen hinunter. „Wo hast du dieses Kostüm überhaupt her?“ fragte ich. „Ach, das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir später. Wahrscheinlich gehört die Hose Jassim, aber es macht nichts, denn jetzt ist sie etwas gelaugt worden und riecht nur nach Wasserpflanzen, Minze und fettem Schlamm. Ich hoffe nur, daß ich dieses Teufelszeug zerreißen kann, denn es ist noch naß und zäh wie Leder... So, das hätten wir. Das ist die Kleidung, die ein gutangezogener Flüchtling trägt. Wenn wir schon dabei sind, würde ich an deiner Stelle mich auch noch mit etwas mehr Wasser naß machen...“ Ich kniete jetzt am See mit dem flüssigen Feuer, aber das Wasser war kühl und wirkte belebend. Charles’ lachendes Gesicht und seine glänzenden Augen spiegelten sich im flackernden Schein. Ich erwiderte sein Lachen. Mit ihm zusammen konnte man unmöglich Angst haben. Eine beschwingte, fast ungestüme Heiterkeit schien sich meiner zu
bemächtigen, ein fest umrissenes, klares Gefühl der Zuversicht, der Nachwirkung einer weit stärkeren Droge ähnlich, als Grafton mir gegeben hatte. Er sprang auf. „So ist es besser. Wollen wir jetzt gehen?“ Wir liefen die Stufen zum Lusthäuschen wieder hinauf. Die meisten kleinen Vierfüßler und Vögel schienen sich in die kühlen Schatten der Büsche oder zwischen die feuchten Pflanzen am Rand des Wassers verzogen zu haben. „Hier entlang, schöne Lady Christabel; reich mir deine nasse, kleine Hand. Wenn mir jemand das erzählt hätte, als ich vor zwanzig Jahren mit dir zusammen in derselben Badewanne sitzen mußte...“ Ein Pause, während wir über die Schwelle der bemalten Tür stiegen. Dies wurde durch den Umstand nicht erleichtert, daß er mich die ganze Zeit über umschlungen hielt – und ich ihn. „Obwohl ich tatsächlich schon damals nicht den geringsten Zweifel hatte. Es hat sich nur darum gehandelt, ein paar Jahre lang hier und dort andere Luft zu atmen, bis sich die Kompaßnadel auf den wahren Norden einstellte, und da wären wir nun. Denkst du auch so?“ „Das habe ich immer getan. Als ich dich in der Geraden Straße erblickte, begann es zu klingeln wie die Alarmanlage bei einem Einbruch, und ich dachte: ›Wahrhaftig, da ist er endlich‹.“ „Daß etwas wirklich so einfach gehen kann! Wie fühlst du dich? Hier ist übrigens doch etwas Rauch.“ Tatsächlich war es sogar ziemlich rauchig. Wenn es möglich gewesen wäre, überhaupt noch Furcht zu verspüren, wäre dies der Augenblick gewesen. Als wir die Wendeltreppe hinunterstiegen – langsam, denn wir hatten kein Licht, und sogar ein verstauchter Knöchel hätte Unheil bedeutet-, wurde die Hitze fast greifbar; Rauch schlug uns entgegen, unverdünnt, beißend und schwer, der wie eine scharfe Feile in die Lungen drang. Die Hunde an unseren Fersen winselten. Sonst war kein Tier uns gefolgt.
„Können sie es schaffen – die Tiere?“ fragte ich hüstelnd. „Sie sollten es eigentlich. Wenn es zu schlimm wird, bleibt uns noch immer das Wasser. Sobald das Feuer erloschen ist und die Gebäude abkühlen, werden die Vögel in das Tal abziehen können. Und ich muß schon zugeben: Um die Ratten und Mäuse mache ich mir keine solchen besorgten Gedanken. Wart mal, da ist die Tür. Wollen mal sehen, was da draußen gespielt wird.“ Vorsichtig zog er die Tür auf. Mächtig quoll der Rauch herein, und hinter ihm flackerte rotes, düsteres Licht. Rasch drückte er die Tür wieder zu. „Hol’s der Teufel! Sieht ganz so aus, als müßten wir es doch noch am Fenster versuchen. Wir können...“ „Vielleicht sind es nur die Fackeln, die sie zur Feier des großen Ereignisses angezündet hatten“, erwiderte ich hastig. „Als ich das erstemal diesen Weg gegangen bin, haben sie mir einen Mordsschrecken eingejagt. Gleich hinter der Tür ist eine.“ Wieder öffnete er vorsichtig die Tür und streckte den Kopf hinaus. Ich hörte ihn erleichtert brummen. „Du hast recht, Allah sei gepriesen, das ist der Grund. Wir haben Glück. Der Rauch dringt wie Hochwasser unter der Tür hervor ein, aber es brennt nicht.“ Er zog mich hindurch und ließ die Tür hinter den Hunden ins Schloß fallen. „Los, jetzt müssen wir rennen, was das Zeug hält. Gott sei Dank kann man hier etwas sehen. Kannst du es schaffen;“ „Natürlich. Hoffen wir nur, daß wir den Leuten der Karawane nicht genau in die Arme laufen.“ „Die Kamele kommen, joho, joho... Keine Sorge, Geliebte, das Glück ist auf unserer Seite – und da bleibt es auch!“ Das tat es. Zwei Minuten später gelangten wir nach einem entsetzlichen Lauf den Gang entlang, in dem es heiß war, der Rauch uns fast erstickte und in den Augen brannte, so daß wir kaum noch etwas sahen, an die Ausfallpforte, und während sich Charles am Schloß abmühte, tastete ich nach den Riegeln
und zog die schweren Dinger zurück. Dann faßte der Schlüssel mit einem leisen, metallischen Laut im gut geölten Schloß – ein beglückendes Geräusch –, und er riß die Tür auf. Die Hunde stürzten an uns vorbei ins Freie. Frische Luft schlug uns entgegen, und das kühle Rauschen von Bäumen empfing uns. Mein Vetter legte seine Arme um mich, beförderte mich mehr oder weniger sanft das schräge Stück Weg hinauf und setzte mich auf dem kahlen Felsen unter den Bäumen ab. Die Pforte fiel krachend zu, und Dar Ibrahim blieb hinter uns zurück.
Neunzehntes Kapitel ... Ein Talisman Für dich, mein ritterlicher Charles... S.T. Coleridge: This Lime-Tree Bower my Prison
Dann erst vernahm ich die Schreie. Nicht den Lärm aus der Richtung des Midan, dessen ich mich die ganze Zeit über bewußt gewesen war, sondern einen neuen Tumult, wie von einer erregten Menge, der nun jedoch von einer Stelle jenseits der westlichen Mauer herüberdrang, wo sich das Haupttor befand. Wir suchten uns unseren Weg durch die tanzenden Schatten der Bäume und an der hinteren Mauer entlang, begleitet von den Hunden, die sich nun wieder beruhigt hatten. Die Schatten waren jetzt von tiefem Schwarz, der Nachthimmel über uns rotglühend wie bei Sonnenaufgang -. An der Ecke des Serails, unterhalb von Charles’ Fenster, blieben wir stehen, um uns erst einmal über die Lage klarzuwerden. Dort schien niemand zu sein. Wir überquerten den Pfad und liefen in das schmale Gehölz hinein, das am Rand des Abgrunds zum Nähr el-Sal’q lag. Hoch über uns hörte ich den Schrei einiger kreischender Vögel, ich glaube, es waren Dohlen, die die Hitze aus den Mauern vertrieben hatte. Tief unten am Fuß der Felswand sah ich durch die Stämme hindurch den Fluß rot schimmern – diesmal vom Feuer verfärbt. Wir blieben in der Dunkelheit der Maulbeerbäume stehen. Schwacher, beißender Rauch trieb durch die Luft, aber der Wind trug auch einen frischen Hauch vom Garten mit sich. Charles hielt mich fest an sich gedrückt. „Du zitterst, frierst du?“
„Nein, gar nicht, noch nicht, dazu war noch keine Zeit – und du mußt zugeben, daß es dort drin ziemlich warm war! Charles, diese Schreie! Sollten wir nicht helfen gehen?“ „Kein Grund“, sagte er abweisend. „Abgesehen von der Tatsache, daß es mich völlig kalt läßt, wenn Grafton und Lethman zu einem Häufchen Asche verbrennen, ist, nach dem Lärm zu urteilen, bereits das halbe Dorf unterwegs, und da der Palast wie eine Fackel brennt, wird man in Beirut schon bald Ausflugsomnibusse einsetzen. Außerdem bleibt auch noch die Tatsache bestehen, daß sich um dich niemand gekümmert hat. Laß sie verbrennen. Aber, um Himmels willen, was hast du eigentlich da drin gesucht? Du solltest doch weit weg sein und mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben. Was ist geschehen?“ „Sie haben mich zurückgebracht.“ So kurz wie möglich berichtete ich ihm von den Ereignissen und schnitt seine empörten Worte mit der Frage ab: „Und du? Was hat dich veranlaßt, mich holen zu kommen? Wie hast du erfahren, daß ich dort war?“ „Mein Liebling, ich habe dich, kurz bevor alles in Flammen aufging, wie eine Diesellok heulen hören.“ „Auch du hättest geschrien, wärst du an meiner Stelle gewesen, das kann ich dir versichern! Aber lassen wir das jetzt – wie bist du hereingekommen? Du sollst durch das Haupttor entkommen sein.“ „Stimmt. Sie versuchten, mich mit ihrem dreckigen Haschisch zu betäuben, und ich habe gewaltig gequalmt und so getan, als sei ich erledigt. Der arme, alte Jassim hat sich täuschen lassen; ich habe ihn niedergeschlagen und bin herausgekommen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, daß sie mir, als sie mich das erstemal niederschlugen und einsperrten, meine Sachen wegnahmen... Ich kann mir nicht vorstellen, wieso Lethman glaubte, es könnte mich daran hindern, auszubrechen, falls ich
eine Möglichkeit dazu fände, aber offenbar hat er diesem Aberglauben gehuldigt.“ „Wahrscheinlich hat er sie anziehen wollen. Er hat nämlich deinen Wagen weggefahren und wollte dir, falls jemand ihn sähe, so ähnlich sein wie möglich.“ „Kann sein. Aber in diesem Fall hätte er mir für diese Zeit etwas anderes bringen können als nur eine alte Decke. Außerdem habe ich dieses Hemd sehr gemocht, verdammter Kerl. Nun, ich habe Jassim die Schlüssel abgenommen und bin so, wie Gott mich geschaffen hatte, aus meiner kleinen Zelle ausgebrochen; dann habe ich mir ein paar Kleidungsstücke, die ziemlich mies aussahen, in der Pförtnerstube gegriffen. Gefallen sie dir nicht? Ich habe mir, was du vielleicht als das äußerste Minimum bezeichnen würdest, genommen und habe gemacht, daß ich wegkam. Ich wußte, daß sie, wenn sie mir folgten, zur Furt hinunterlaufen würden, und so bin ich zur Rückseite des Palastes gerannt, auf den Pfad unterhalb der Fenster des Serails. Ein Anblick für Götter! Da lief nun unser Held, völlig nackt und seine Hose in der Hand, und jedesmal, wenn er auf eine Distel trat, hüpfte er wie eine Heuschrecke.“ „Mein armer Liebling. Immerhin wärst du nicht der erste.“ „Bitte? Du meinst, der das Serail erstürmt? Gewiß nicht... Ich blieb schließlich unter den Bäumen stehen, um die Hose anzuziehen. Es gehörten auch noch ein Hemd und ein Kaffijeh dazu, wenn ich sie nur finden könnte... Dann vernahm ich dein Schreien. Hat dieser Soundso dir weh getan?“ „Eigentlich nicht. Es war die Katze, die ich anschrie, nicht ihn. Aber erzähl weiter. Wie bist du eigentlich wieder da hereingekommen?“ Er hatte, während wir redeten, zwischen den Bäumen herumgesucht und war schließlich mit einem Ausruf der Befriedigung auf etwas gestoßen. „Da wären sie ja... Ich muß wohl für dieses Hemd, bis die Nacht um ist, auch noch dankbar
sein... Wo bin ich stehengeblieben? Richtig, ich befand mich also unter den Fenstern des Serails, ungefähr hier, als ich dich schreien hörte. Ich fuhr in die Hose hinein, in die Sandalen und jagte zum Haupttor zurück, aber das hatten sie inzwischen schon wieder versperrt. Während ich mich noch dort abmühte, brach im Innern des Palastes die Hölle los, und dann roch ich den Rauch. Ich dachte, falls das Feuer stärker um sich griffe, würden sie das Tor öffnen, aber trotzdem wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, sondern rannte hierher zurück. Ich wußte, daß sie, nachdem sie mich erwischt hatten, die Pforte wieder verriegelt hatten, und so verlor ich keine Zeit damit, es dort zu versuchen; ich lief bis vor das Fenster und kletterte hinauf. Das war gar nicht so schwierig.“ „Nicht so schwierig!“ Ich sah das Fenster nun zum erstenmal von außen und starrte die kahle Wand hinauf. „Für mich sieht es unmöglich aus!“ „Aber doch nicht für deinen großen, tapferen Vetter. Auch wußte ich, daß du im Garten bist, denn als ich schon halb oben war, hörte ich dich die Hunde anschreien, und kaum war ich drin, sah ich die Arche Noah auf der Insel versammelt. Das ist die ganze Geschichte... Aber mir wäre lieber, Jassims Garderobe enthielte auch ein paar wollene Socken, denn es gibt nichts Ekelhafteres als nasse Sandalen. Hör mal, warum legst du dir dieses Kopftuch nicht um die Schultern? So sehr dreckig ist es nicht, und zumindest ist es trocken. Ich lege es dir um... Was hast du denn da um den Hals hängen?“ „Ach, das hatte ich ganz vergessen. Ein Talisman für dich gegen den bösen Blick. Du wolltest doch einen für deinen Wagen.“ „Für meine Geliebte, hatte ich gesagt. Du solltest ihn lieber behalten, er scheint zu funktionieren... So. Jetzt entsprichst du meinen Erwartungen.“ „Mit Schmeicheleien wirst du bei mir nicht weit kommen.“
„Ich schmeichle dir nicht, du siehst fabelhaft aus. Du hast einige Wasserpflanzen in deinem Haar, und dieses Kleid hat man dir offenbar aus einem schmutzigen Krug auf den Leib gegossen. Und deine Augen sind so groß wie Mühlräder und so schwarz wie der Weltenraum.“ „Ich habe ihr scheußliches Haschisch geraucht, das ist der Grund.“ „Echtes Haschisch?“ fragte er. „Das habe ich mir gleich gedacht. War’s schön?“ „Teuflisch. Man findet es zuerst ganz angenehm, und man hört auf, sich über irgend etwas Sorgen zu machen, aber plötzlich muß man feststellen, daß die Knochen von innen her verfault sind, das Gehirn nur noch aus alten Lumpen besteht und man überhaupt nicht mehr denken kann. Es war so entsetzlich, Charles, und diese Kerle handeln mit diesem Zeug... Seit Monaten haben sie die Sache geplant.“ „Ich weiß. Lethman hat mir eine Menge erzählt, wahrscheinlich mehr, als ihm selber bewußt geworden ist. Weißt du, daß er süchtig ist?“ „Grafton hat es mir gesagt. Ich hätte es manchmal aus seinem Aussehen schließen sollen, aber ich habe niemals richtig darüber nachgedacht. Hat er dir auch erzählt, daß Großtante H. tot ist?“ „Das habe ich gewußt.“ Ich starrte ihn an. „Willst du damit sagen, daß du es die ganze Zeit über gewußt hast? Warst du deswegen so geheimnisvoll?“ „Ich muß es leider zugeben.“ „Wie bist du darauf gekommen?“ „Zunächst habe ich es nur geahnt. Hast du denn nicht gewußt, daß sie den gleichen Abscheu vor Katzen hatte wie du? Da war sie völlig hilflos.“ „Was du nicht sagst! Das ist mir neu. Zu Hause hatten wir natürlich niemals eine Katze, und wenn sie bei uns wohnte, ist
dieses Thema niemals gestreift worden. Ja, jetzt verstehe ich. Nachdem ich dir gesagt hatte, ›sie‹ habe eine Katze in ihrem Zimmer, wußtest du, da könne etwas nicht stimmen. Aber Grafton hat es doch bestimmt wissen müssen?“ „Vielleicht ist es ihm nicht bewußt gewesen, daß sich die Katze in jener Nacht im Zimmer befand. Noch wahrscheinlicher ist, daß er niemals auch nur daran gedacht hat. Hofkatzen werden sie wohl immer gehabt haben – bestimmt sogar, wen ich mir jetzt diese Rattenbevölkerung des Serails vorstelle –, aber zu Tante Harriets Lebzeiten hätten sie wohl niemals ihr Zimmer betreten.“ „Wegen der Hunde?“ „Das könnte ich mir denken. So wie sich diese gefährlichen Wachhunde dir und mir gegenüber benommen haben“ – er deutete auf Star und Sofi, die ihn liebevoll ansahen und wedelten –, „wurden sie wahrscheinlich wie Schoßhunde behandelt, denen alles offenstand; auch weiß ich, daß Samson immer auf ihrem Bett geschlafen hat, und er hatte es auf Katzen abgesehen. Wenn ›der Doktor‹ Angst vor Hunden hatte und sie einsperrte, mußte das Unvermeidliche seinen Lauf nehmen... Aber gehen wir jetzt irgendwohin, wo wir etwas sehen können. Einverstanden?“ Wir begannen uns durch das dichteste Dickicht des Gehölzes den steinigen Rand des Abgrundes entlang unseren Weg zu suchen. „Ja, aber erzähl weiter.“ „Die Sache mit der Katze löste in mir den Verdacht aus, hier sei etwas ganz faul, und so beschloß ich, einzudringen, mich umzusehen und festzustellen, was eigentlich der richtigen Tante H. zugestoßen sei, falls wirklich etwas geschehen war. Die Tatsache, daß Lethman und Co. dich im ganzen Palast frei umherwandern lassen, deutete an, sie sei nicht irgendwo dort versteckt. So vermutete ich, sie sei tot. Als ich dann drinnen sah, daß ihre persönlichen Habseligkeiten vernachlässigt
herumlagen, zum Beispiel der Koran und die Hunde des Fu, und daß Samson gestorben war, ohne mit geistlichem Beistand neben den anderen Hunden so, wie es sich gehörte, begraben worden zu sein, glaubte ich meiner Sache sicher zu sein. Nachdem du in jener Nacht zu Bett gegangen warst, kehrte ich heimlich zurück, und du weißt wohl, was dann geschehen ist: ich wurde erwischt, zusammengeschlagen und eingesperrt. Damit war das erledigt. Da wären wir jetzt. Vorsicht, halt die Hunde fest und zeig dich nicht. Mein Gott!“ Wir waren an die Ecke gelangt und sahen alles vor uns. Die Szene war wie aus einem Farbfilm von epischen Proportionen. Die Mauern hoben sich schwarz und scharf gegen die lodernden Flammen hinter ihnen ab, und eins der hohen Dächer brannte lichterloh und bestand nur noch aus einer fast völlig verzehrten Sparrenkonstruktion. Hinter den Fenstern bebte das Licht. Mit jedem Windstoß quollen große Wolken bleichen Rauchs, von Funken durchsetzt, hervor und wälzten sich über die Menge, die das Haupttor umlagerte; die Araber wichen schreiend, fluchend und vor Erregung lachend zurück, um sich dann, sobald sich die Wolken etwas verzogen hatten, wieder vor dem Tor zu versammeln. Das Tor stand offen; beide Flügel waren weit geöffnet, und durch das allgemeine Gedränge war ein Kommen und Gehen von Männern zu beobachten, das darauf hindeutete, daß bis zu einem gewissen Grad Rettungsarbeiten im Gang waren. Auch konnte man davon ausgehen, Grafton hätte Glück, wenn er von dem, was da gerettet wurde, noch jemals etwas zu sehen bekäme. Die Bewohner des Palastes hatten sich wohl in Sicherheit bringen können: bestimmt hatte man die Maultiere herausgeholt. Hier und dort sah ich inmitten der Menge ihre heimtückischen Köpfe, die sie hin und her warfen, während der Feuerschein auf ihren Zähnen und in ihren Augen schimmerte. Gleichzeitig türmte sich die Beute auf ihren glänzenden
Rücken, und schreiende Araber balgten sich um die Halfterstricke. Dann bemerkte ich das kastanienbraune Pferd, sein wie Feuer glühendes Fell und jemand neben seinem Kopf, der nur John Lethman sein konnte. Er zog etwas – ein Tuch oder eine Decke – vom Kopf des Tiers herunter. Wahrscheinlich hatte er ihm Augen und Nüstern bedecken müssen, um es aus dem brennenden Stall hinauszuführen. Es widersetzte sich ihm störrisch und verängstigt, als er versuchte, es aus der Menge heraus hinter sich herzuziehen. Ich umklammerte Charles’ Arm. „Dort steht Lethman! Er hat das Pferd herausgeholt. Charles, er steigt auf! Er wird entfliehen!“ „Laß ihn. Wir können ohnehin nichts tun. Grafton ist es, auf den es ankommt – sieh mal, sie halten ihn zurück.“ Lethman, der nun auf dem Braunen saß, mühte sich mit Knien, Peitsche und Zügel ab, das Pferd auf die Ecke zuzutreiben, wo wir uns versteckt hatten, auf den Pfad zu, der an der Mauer des Serails vorbei ins offene Bergland und in die Freiheit führte. Das Tier legte seine Ohren flach an den Kopf, wirbelte mit seinen Hufen den Staub auf, und die Menge wich vor ihm zurück’- alle bis auf einen, der sich vor den gefährlichen Hufen duckte, mit einem Sprung nach dem Zügel griff und ihn festhielt. Er schrie John Lethman etwas zu. Ich sah, wie dieser den Arm ausstreckte, auf das brennende Gebäude deutete und etwas brüllte. Plötzlich hob sich seine Stimme klar und deutlich über das Lärmen der erregten Menge hinweg. Die Gesichter wandten sich ihm zu wie Blätter, wenn der Wind durch sie hindurchfegt. Im gleichen Augenblick ließ er seine Peitsche auf den Mann niedersausen und trieb dann den Braunen in gestrecktem Galopp auf das Gehölz zu, in dem wir standen. Der Araber, von der Schulter des Pferdes gerammt, stürzte zu Boden. Als er sich überkugelte und in einer einzigen raschen, federnden Bewegung wieder auf die Füße kam, erkannte ich,
daß es Nasirulla war. Zwei oder drei andere Männer hatten vergeblich versucht, John Lethman nachzulaufen. Der eine von ihnen, der wie ein Derwisch kreischte, fuchtelte mit einer Schrotflinte herum. Nasirulla entriß sie ihm, drehte sich herum, legte an und schoß. Aber der Braune war bereits an der Mauer des Palastes entlanggerannt und befand sich außerhalb seiner Schußweite. Nun jagte er nur ein paar Schritt von uns entfernt vorbei. John Lethmans Gesicht konnte ich nicht einmal erkennen; er war nichts weiter als ein tief über die helle Mähne geduckter Schatten, der, begleitet von blitzenden Hufen und dem verängstigten Schnaufen des Pferdes, in der Nacht verschwand. Ich bemerkte auch nicht, wann eigentlich Star und Sofi uns verließen. Ich glaubte nur, zwei Schatten zu sehen, die schneller und viel leiser als das Pferd zwischen den Bäumen davonliefen, um in der Staubwolke unterzutauchen, und als ich mich umblickte, waren die beiden Hunde verschwunden. Der Schuß hatte, ohne Schaden anzurichten, nur ein wenig vom Verputz an der Ecke des Palastes weggerissen. Die Männer, die in unsere Richtung liefen, zögerten, sahen ein, daß es zwecklos war, und standen nun ratlos herum. „Ich glaube, das ist für uns das Zeichen, zu verschwinden, meine Geliebte“, flüsterte mir Charles ins Ohr. „Jeden Augenblick werden sie jetzt hier erscheinen und nach einer Möglichkeit suchen, von der Rückseite her einzudringen.“ „Warte mal... sieh nur!“ Was dann geschah, vollzog sich so schnell, daß es kaum zu begreifen war, bestimmt zu schnell, um es beschreiben zu können. Nasirulla war kaum stehengeblieben, um festzustellen, ob sein Schuß getroffen hatte. Während noch Verputz von der Mauer herabrieselte, wandte er sich um und drängte sich durch die Menge auf das Tor zu. Die anderen schlossen sich ihm wieder an.
Dann erblickten wir Henry Grafton. Sein Sturz hatte ihn offenbar nicht lange außer Gefecht gesetzt, und er hatte wohl die Rettungsarbeiten organisiert. Als die Menge vor dem Tor einen Augenblick wie von einem Wirbel erfaßt auseinanderstrebte, sah ich ihn, wie er mit beladenen Armen aus dem Pförtnerhaus trat. Ein paar Männer stürzten auf ihn zu, wohl um ihm zu helfen. Ein anderer zog eins der Maultiere näher heran. Da stieß Nasirulla erneut einen lauten, gellenden Schrei aus, und ich bemerkte, wie die Leute wieder stehenblieben und sich umwandten. Es mußten auch Frauen unter ihnen sein: Ich hörte eine etwas kreischen, das wie ein Schimpfwort klang. Grafton blieb stehen und kam ein wenig ins Schwanken, als der Mann, der ihm einen Teil seiner Last hatte abnehmen wollen, sich jäh umdrehte und sich entfernte. Noch immer schreiend, stürzte Nasirulla auf ihn zu, und als Grafton ihm entgegensah, riß er auf ungefähr nur zehn Schritt Entfernung das Gewehr hoch und schoß nochmals. Grafton brach zusammen. Während er seine Last fallen ließ und erstaunlich langsam mit dem Gesicht nach unten über ihr zusammensank, drehte der Araber das Gewehr um und lief mit erhobenem Kolben auf ihn zu. Die Menge folgte ihm. Charles zog mich unter die Bäume zurück. „Nein. Nein. Da kannst du nichts mehr tun. Er ist bestimmt tot. Und wir machen, daß wir hier wegkommen, Christy, mein geliebtes Mädchen, bevor dieser Haufen von Hollywoodstatisten richtig in Fahrt kommt.“ Ich zitterte so sehr, daß ich mich einen Augenblick nur an ihn klammern konnte und durch meine klappernden Zähne hindurch nichts weiter herausbrachte als: „Es war Nasirulla. War es wegen Halide?“ „Bestimmt. Nasirulla hat vielleicht versucht, etwas von den Vorräten zu retten, bevor Grafton ihn daran hindern konnte,
und dabei hat er den Leichnam gefunden. Oder vielleicht hat er Lethman gefragt, ob sie herausgekommen sei, und wir haben noch miterlebt, wie Lethman den Schwarzen Peter weitergegeben hat. Halt nur durch, ich glaube, wir kommen auf diesem Weg auch zur Furt hinunter. Kannst du es schaffen? Nur weg von hier! Selbst unter den günstigsten Umständen habe ich nicht gerade sehr viel für arabischen Pöbel übrig, und ich bezweifle, daß diese Gesellschaft, wenn sie uns hier fände, meinem eleganten, literarischen Arabisch lange lauschen würde. Für dich mag es ja noch hingehen, dich würden sie nur vergewaltigen, aber ich möchte nicht gerade an dem Tag, an dem ich mich verlobe, kastriert werden.“ „Das ist wieder einmal echt mein großer, tapferer Vetter!“ Das leise Gelächter, das ich ausstieß, klang mehr als nur ein bißchen hysterisch, aber es tat mir gut. Er ergriff meine Hand, und miteinander stiegen wir beim Schein des jetzt nicht mehr so starken Feuers den steilen Pfad hinunter. Überquerten den noch immer zu Adonis’ Ehren roten Fluß und gelangten in die schützende Dunkelheit des Tals am anderen Ufer.
Zwanzigstes Kapitel Mein Hund führte Könige von Saluq heran... Altes arabisches Gedicht
Es war am nächsten Tag um die Mittagszeit. Die Sonne stand hoch und brannte auf die Dorfstraße herab. Wir saßen auf der niedrigen Mauer, die den Friedhof säumte, und warteten auf den Wagen, der uns nach Beirut bringen sollte. Es war schon schwierig, sich deutlich an alles zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen war, nachdem wir die Stätte des Brandes verlassen hatten. Der Anstieg den Pfad entlang zum Dorf war meinem Gedächtnis entschwunden. Ich mußte es in einer hochprozentigen Sondermischung aus Reaktion auf die Ereignisse, aus Liebe und noch verbliebenen Haschischdünsten geschafft haben. Mir ist bis zum heutigen Tag als einzige Erinnerung eine Art seltsamen, von allem anderen losgelösten Angsttraums bohrender Augen und kleiner, scharfer Hufe geblieben, die wie prasselnder Regen klangen, dazu der Geruch von Ziegen, als wir (wie Charles mir erzählte) die schlafende Herde aufscheuchten, der Faun aus einem unsichtbaren Winkel seiner Tribüne heraustrat und sich damit von dem großartigen Blick auf das Feuer, das er wie fasziniert betrachtete, losriß, um uns aus durch und durch geschäftlichen Gründen seine Begleitung zum Dorf hinauf anzubieten. Er war es, der uns schließlich durch die verödeten Gassen zu einem Haus ganz am anderen Ende geleitete, das hinter einer Terrasse mit Apfelbäumen ein wenig abseits lag. Es war kein Lichtschein zu sehen, aber eine Frau war wach und blickte etwas verängstigt aus der Tür auf das Feuer, das auf der anderen Seite des Tals zwischen den rauchenden Ruinen immer wieder aufloderte.
Der Junge rief ein Wort der Begrüßung, dem eine Flut von Erklärungen folgte. Ich war nun viel zu benommen und zu müde, und es war mir völlig gleichgültig, was da gesagt wurde oder was geschah. Ich hatte nur noch einen Gedanken: aus meiner feuchten, schmutzigen Kleidung herauszukommen, mich irgendwo hinzulegen und zu schlafen. Charles hatte mich auf seinen Armen die steilen, holprigen Stufen der Terrasse hinaufgetragen. Er mußte ebenso müde gewesen sein wie ich, denn ich erinnere mich, daß er eine Pause machte, um sich zu sammeln, bevor er versuchte, mit der Frau arabisch zu sprechen. Eine Weile später wurden wir nach einem kurzen Gespräch, in das sich der Faun, wenn auch unsichtbar, immer wieder helfend einmischte, ins Haus geführt. Dort zog ich mich hinter dem Vorhang, der den einzigen Raum des Hauses unterteilte, beim Schein einer kleinen gelblichen Kerze, die beim Brennen zischte, aus, hüllte mich in ein weites, baumwollenes Gewand, das aus einem Kasten in der Ecke geholt wurde und sauber roch, legte mich auf ein Lager von Decken, von denen man es nicht behaupten konnte, und war fast augenblicklich eingeschlafen. Das letzte, woran ich mich erinnere, war die Stimme meines Vetters, der in seinem langsamen Arabisch leise etwas sagte und nun – wie ich später feststellte – auf den Dorfältesten, den Mann der Frau, wartete, der vom Brand nach Hause kommen sollte. Nach und nach kam Licht in die Sache. Henry Grafton war tot – er hatte Glück: der Schuß hatte ihn getötet. Lethman war im Hohen Libanon verschwunden. Niemals mehr hörte ich von ihm, und es war mir auch mehr als gleichgültig, was aus ihm geworden war. Er war verschwunden, ein Mann ohne Gesicht und schattenhaft wie der nächtliche Jäger mit seinem Pferd und seinen Geisterhunden, auch er ebenso ein Opfer von Graftons Habgier und Besessenheit wie die arme Halide. Den Leichnam des Mädchens hatte man gefunden. Einem seltsamen Zufall
war es zu verdanken, daß der Wind und das Feuer den unterirdischen Gang mehr oder weniger unbeschädigt gelassen hatten, und damit auch die Vorräte im Lagerraum, die die Polizei, die bei Tagesanbruch eintraf, in bemerkenswerter Weise ausgeraubt vorfand, aber es war noch immer genug vorhanden, das eine Beschlagnahme und weitere Nachforschungen lohnte. Als nächste kamen wir an die Reihe. Wir hatten das erste Verhör am Morgen hinter uns gebracht, und nun befand sich die Polizei auf dem Plateau, wo die Ruinen des Palastes auf ihrem steilen Felsen wie geschwärzte Zähne emporragten. Es stieg noch immer träger Rauch auf. Von der Höhe, auf der wir saßen, konnten wir gerade den schimmernden See erblicken, der still und wie ein Juwel in seiner vom Brand nicht zerstörten Fassung dalag. Auf dem Plateau und zwischen den verkohlten Ruinen herrschte große Geschäftigkeit, ähnlich wie bei einem von Maden wimmelnden Leichnam. Dort waren jetzt die Plünderer, die wahrscheinlich ohne große Mühe der Polizei aus dem Weg gingen, damit beschäftigt, die Trümmer zu durchwühlen. Nach einer Weile rührte ich mich. „Ich wüßte gern, ob es sie gefreut hätte, zu erfahren, daß wir hier waren?“ „Soweit ich mich der lieben alten Dame erinnere“, antwortete Charles ohne Zögern, „wäre sie entzückt, wenn sie wüßte, daß sie den gesamten Besitz mit sich genommen hat – sie würde wie ein humorvolles Gespenst gelacht haben, wenn sie uns mit den Ratten und Mäusen zusammen im See hätte herumplanschen sehen. Zumindest haben doch ihre Hunde dem Ende ihrer Legende einen letzten, geheimnisvollen Glanz verliehen. Ein schöner Scheiterhaufen als Bestattungszeremonie! Im Libanon wird sie jetzt kein Mensch mehr vergessen.“ „Es sieht auf jeden Fall so aus, als ob die meisten Familien in dieser Gegend ein paar Andenken an sie gesammelt haben“,
antwortete ich spöttisch. „Und was machen nun deine eigenen ›Geisterhunde‹, Charles? Wenn die Vorratsräume nicht eingeäschert sind, könnten sie noch da sein.“ „Das werden sie kaum überstanden haben.“ Er schüttelte in Richtung auf das Schauspiel, das sich unten bot, den Kopf. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich mit diesen Leichenfledderern in Konkurrenz trete und ebenfalls zwischen den Ruinen herumwühle. Eines Tages werde ich wieder ein solches Paar finden und es zur Erinnerung an sie kaufen. Lassen wir das...“ Einige Kinder, zu klein, um in der Schule zu sitzen oder den Plünderern zu helfen, kamen vorbeigelaufen, stießen eine Büchse vor sich her und blieben stehen, um in dem Schmutz unterhalb der Friedhofsmauer zu spielen. Ein paar magere Hunde schlichen vorüber und suchten schnüffelnd nach Abfällen. Ein dreijähriger Junge warf mit einem Stein nach dem kleinsten von ihnen, und dieser wich automatisch aus und brachte sich hinter einem rostigen Ölfaß in Sicherheit. Ein dreckiger weißer Hahn, der es auf eine mausernde braune Henne abgesehen hatte, stolzierte vorbei. „Liebe ist überall zu finden“, sagte Charles. „Und das erinnert mich, geliebte Christy...“ Woran es ihn erinnerte, sollte ich niemals erfahren, und ich habe ihn auch nie danach gefragt. In einer Wolke von Dieselrauch und mit quietschenden Bremsen hielt ein Bus mit Touristen keine fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo wir saßen. Der Fahrer drehte sich auf seinem Sitz herum und deutete zu den Ruinen von Dar Ibrahim hinüber, bevor er den Motor abstellte und von seinem Platz aufstand, um die Tür zu öffnen. Die Fahrgäste quollen heraus, Engländer, Leute, die einander kannten, sich unterhielten und lachten, während sie zu zweit oder dritt bis zum Talrand vorgingen und auf die rauchenden Ruinen hinüberblickten. Apparate klickten. Ich hörte, wie der Fahrer jemand seine eigene Version von den
Geschehnissen der Nacht zum besten gab. Eine neue Legende nahm ihren Anfang. Charles und ich blieben still sitzen. Die Kinder zogen sich vor den Fremden zurück, bis sie neben uns standen. Der kleine Hund, dessen langes Fell verfilzt und zottig war, wodurch er Ähnlichkeit mit einer welkenden Chrysantheme bekam, kroch hinter dem Ölfaß hervor und betrachtete mit glänzenden, gierigen Augen einen Keks, den eine der Frauen aß. Ihre Freundin, eine dicke Dame mit einem Strohhut und einem spießigen Jerseykostüm senkte ihre Kamera und blickte sich um. „Wie schade, daß es kein hübscheres Dorf ist.“ Sie besaß die weittragende Stimme einer Frau des Mittelstandes. „Die Moschee ist allerdings ganz nett. Ob diese Leute wohl was dagegen haben, wenn ich eine Aufnahme mache?“ „Biet ihnen doch etwas an.“ „Ach nein, es lohnt sich nicht. Erinnerst du dich noch, wie ekelhaft der Mann in Baalbek war, der alte Kerl mit dem Kamel? Der da sieht auch so aus, als könnte er recht unangenehm werden. Sieh nur, wie er vor sich hin starrt.“ „Alle miteinander Nichtstuer. Nur ein Wunder, daß sich die Frau nicht auf dem Feld wie eine Sklavin abrackern muß, um die Kinder zu ernähren. Sieh sie dir einmal an, da liegt nicht einmal ein Jahr zwischen ihnen. Doch empörend! Auch er würde ganz gut aussehen, wäre er sauber.“ Erst da, als ich Charles neben mir vor unterdrücktem Lachen beben fühlte, wurde mir klar, über wen die beiden redeten. Tatsächlich war er so sauber, wie kaltes Wasser und eine Portion Omo es nur möglich machten; aber seit zwei Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert, und er trug noch immer die schmierige Baumwollhose mit einem billigen, aber auffälligen goldenen Gürtel und ein Hemd, das von seiner braunen Brust mehr entblößte, als es verdeckte. Mein Kleid war nach dem Trocknen bemerkenswert
dreckig geblieben, meine nackten Beine waren verkratzt und zerschunden und hatten auf Omo nicht sonderlich gut reagiert. Auch das Bad im See hatte meinen Sandalen nicht sehr gut getan. Das rotkarierte Turbantuch, das mir Charles in der vergangenen Nacht gegeben hatte, verbarg die Überreste meiner sehr westlichen Frisur, und Großtante Harriets Rubin an meiner Hand wirkte wie Woolworth’ neuester Schlager. Ich merkte, wie mir der Mund offenstand, aber Charles flüsterte mir zu: „Verdirb ihnen nicht den Spaß!“, und die Frauen wandten sich bereits ab. „Es lohnt sich ohnehin nicht“, erklärte die Magere, „wir finden noch bessere Objekte. Ach, sieh mal, es geht wieder weiter. Wirklich ein Glücksfall, so etwas zu sehen! Wie hieß dieser Ort noch?“ Sie steckte sich das letzte Stück des Kekses in den Mund und wischte sich ihre Finger an einem Taschentuch ab. Die Kinder sahen enttäuscht aus, und der kleine Hund ließ die Ohren hängen, aber sie bemerkte es nicht. Der Bus fuhr ab. Die Kinder warfen ein paar Steine hinterher und stürzten sich wieder auf den kleinen Hund, bis Charles mit den Fingern schnalzte und etwas auf arabisch zu ihm sagte. Da kam er geschlichen und versteckte sich hinter seinen Beinen. „Außerdem haben sie völlig recht“, meinte ich empört. „Nichtstuer ist der richtige Ausdruck. Hier sitzen und lachen! Wenigstens hättest du etwas erbetteln können! Etwas Bargeld in der Kasse würde uns nicht schaden! Wenn uns die Polizei nun doch nicht mitnimmt...“ „Dann gehen wir zu Fuß, und du ein paar Schritte hinter mir her, zusammen mit den Kindern, wie es sich gehört. Hallo, da kommt ja schon wieder ein Wagen. Noch mehr Polizei, meinst du nicht? Für uns kann es nicht sein, ein solcher Wagen ist für höchstes Lametta.“
„Ich finde, es sieht aus wie ein Taxi. Glaubst du, ein Taxifahrer würde uns Kredit geben, wenn wir ihm erzählen würden, daß wir im Phoenicia wohnen?“ „Nicht die geringste Aussicht. So wie wir aussehen, würde man uns niemals einsteigen lassen.“ „Ach, ich weiß nicht, wenn du gesäubert wärst, würdest du ganz gut aussehen.“ „Mein Gott!“ Charles, der sich gerade hatte erheben wollen, ließ sich auf die Mauer zurücksinken. Am anderen Ende der Dorfstraße hatte der große Luxuswagen hinter einem Aufgebot von Polizeifahrzeugen angehalten. Der Fahrer stürzte hinaus, um die hintere Tür zu öffnen. Ein Mann stieg aus, ein großer Mann, nach seinem Maßanzug zu urteilen unverkennbar ein Engländer, und seinem Auftreten nach zu schließen ebenso unverkennbar selbstsicher. „Vater!“ stieß Charles hervor. „Daddy!“ rief ich im gleichen Augenblick. „Mein Vater ist es“, erklärte mein Vetter, „nicht der deine. Nachdem ich aus Damaskus zu Hause angerufen hatte, muß er sich entschlossen haben. ..“ „Es ist der meine. Ich habe aus Beirut angerufen, und er muß noch das Nachtflugzeug erwischt haben. Glaubst du etwa, ich erkenne meinen Vater nicht, wenn ich ihn sehe?“ „Wetten? Hallo, Vater!“ „Hallo, Daddy!“ Auch auf diese Entfernung hatte der Ankömmling uns mit sicherem Blick erkannt. Ohne jede Eile kam er auf uns zu. Wir rührten uns nicht von der Stelle. Er blieb vor uns stehen und betrachtete uns. „Mein Gott!“ Sein Tonfall war dem von Charles so ähnlich, daß ich unsicher wurde und meine Augen zusammenkniff, um ihn in der grellen Sonne besser ansehen zu können. „Wie wär’s, zwanzig zu eins?“ flüsterte mir Charles ins Ohr. „N-nein.“ Wer es auch sein mochte, er war da, Es war töricht,
und sehr unerwachsen, ein solches Gefühl der Erleichterung und der Freude zu verspüren. Er betrachtete uns noch immer. Wenn er das gleiche empfand wie ich, verbarg er es doch sehr gut. „Meine armen Kinder. Ich bin sehr froh, euch zu sehen. Ich möchte nicht behaupten, daß es sehr tröstlich ist festzustellen, wie gut ihr euch durch alles durchgeschlagen habt, denn ich habe euch noch niemals in schlimmerem Zustand angetroffen, aber ich nehme an, es ist nichts, was nicht durch ein Bad behoben werden könnte. Wie?“ Seine Blicke strichen an uns vorbei, auf die andere Seite des Tals und zu Dar Ibrahim hinüber. „Das also wäre der Ort?“ Vielleicht eine halbe Minute lang betrachtete er wortlos die Szene. Dann wandte er sich uns wieder zu. „Ihr könnt mir die ganze Geschichte später erzählen, aber bevor ich irgend etwas anderes unternehme, bringe ich euch jetzt nach Beirut zurück und in das bereits erwähnte Bad. Ich habe es mit der Polizei so besprochen; ihr dürft gleich mitkommen, und sie wird sich später wieder mit euch befassen.“ „Wahrscheinlich weißt du, was geschehen ist?“ fragte Charles. „In großen Zügen. In Beirut ist es das Tagesgespräch. Ich kann mir vorstellen, daß ihr beiden jugendlichen Idioten bis zum Hals in einer bösen Geschichte gesteckt habt. Warum in aller Welt hast du Christy in so etwas hineinschlittern lassen, Charles?“ „Ganz ungerecht!“ rief Charles sehr gelassen. „Das dumme Ding hat sich selber in diese Klemme hineinmanövriert, und ich habe sie gerettet. Wart nur, bis ihr eigener Vater den Bericht zu hören bekommt: Ich verlange, als Held empfangen zu werden, und fordere die Hälfte seines Königreichs. Außerdem könntest du für uns eine Wette zu einem Abschluß bringen und ihr sagen, daß nur du es bist.“ „Ein kluges Kind.“ Er lächelte mich von oben her an und zog eine Augenbraue hoch. „Im Grunde lege ich keinen besonderen
Wert darauf, auch nur auf einen von euch Anspruch zu erheben.“ Mein Vetter ließ sich bedächtig von der Mauer herab. „Du wirst auf uns beide Anspruch erheben müssen. Der eine von uns erbittet dein Einverständnis und der andere einen freundlichen Willkommensgruß oder einen Segen oder etwas Ähnliches, es bleibt deiner Wahl überlassen.“ „So? Das freut mich sehr. Willkommen, mein Liebling.“ Er legte einen Arm um mich, drückte mich an sich und reichte die andere Hand meinem Vetter. „Mein Glückwunsch, Junge, wir dachten schon, du schaffst es nie. Bestimmt weit mehr, als du verdient hast.“ Und er küßte uns beide. Mein Vetter lächelte mich an. „Nun?“ „Du hast natürlich gewonnen. Wie immer. Ach, Onkel Chas, es ist wunderbar, dich zu sehen!“ Wieder umarmte ich ihn. „Danke, daß du gekommen bist! Konnte Daddy sich nicht freimachen?“ „Leider nein. Er hat mich als Vertreter entsandt. Du siehst ein bißchen mitgenommen aus, Kind, fehlt dir auch nichts?“ „Nein, bestimmt nicht! Und Charles hat wirklich gut für mich gesorgt. Echtes Heldentum, warte nur, bis du alles hörst!“ „Es wäre auch der richtige Augenblick, dir zu gestehen, daß ich den Porsche verloren habe“, rief Charles. „Das habe ich angenommen. Er steht vor dem Phoenicia.“ „Du bist doch ein Teufelskerl“, sagte sein Sohn bewundernd. „Wie hast du das geschafft?“ „Christys Fahrer hat ihn zurückgebracht.“ „Hamid!“ stieß ich hervor. „Gott sei Dank! Wie ist es ihm ergangen?“ „Der Mann, der Charles’ Wagen gestohlen hatte, war ein bißchen zu temperamentvoll, und da ist er ihm in einer Kurve von der Straße gerutscht. Nein, Charles, nichts Besonderes, nur ein paar Kratzer, das ist alles; er ist nur einfach tief in den
Lehm hineingefahren und saß fest. Hamid war dicht hinter ihm her, und es gelang ihm, den Mann unschädlich zu machen, bevor ihm ganz klar wurde, was geschehen war. Du kannst dich selber bei ihm bedanken – er ist hier, er hat mich hergefahren.“ „Ist das sein Taxi?“ fragte ich. „Sie sehen alle gleich aus, ich habe es nicht erkannt. Das ist wirklich herrlich. Glaubst du, wir können jetzt fahren ?“ „Warum nicht?“ Er drehte sich um und blickte zu Dar Ibrahim hinüber. Diesmal für längere Zeit. Es folgte eine Pause. Es war sehr still. Die Kinder hatten uns schon seit langem verlassen, um mit Hamid zu sprechen, und nun wagte sich, vielleicht von der Stille ermutigt, auch der kleine Hund aus seinem Versteck heraus und kroch durch den Staub bis zu meinem Onkel hin. Schließlich drehte sich Onkel Chas um. „Naja ... das wäre also das Ende einer langen Geschichte. Sobald ihr beide euch ausgeruht habt, könnt ihr mir alles der Reihe nach erzählen. Wenn sich die Erregung hier erst einmal ein bißchen gelegt hat, kann Charles mit mir zurückkehren. Im Augenblick ist es wohl das beste, wenn ihr beide die ganze Sache einstweilen vergeßt. Überlaßt das alles mir.“ Er streckte eine Hand nach mir aus. „Komm jetzt, Kind, du siehst ganz erschöpft aus... Was in aller Welt...?“ Als er sich zum Gehen wandte, wäre er fast über den kleinen Hund gestolpert, der zerfleddert und formlos aussah wie ein Aufwischlappen. Er kroch vor seinen Füßen im Staub. Unter den schmutzigen Haaren funkelte ein Auge flehend hervor. Eine Art trauriger Schwanz wedelte emsig. „Doch wohl nicht deiner?“ „Um Himmels willen, nein“, antwortete Charles. „Es ist einer von diesen elenden Dorfkötern.“ „Hättest du dann etwas dagegen, das arme kleine Tier zu verscheuchen? Ich fürchte, wir können doch nicht... Was ist?“
Das galt Charles, der sich gehorsam niedergebeugt hatte, um den Hund wegzuziehen, und nun erstaunt ausrief: „Ob ihr es glaubt oder nicht, er hat ein Halsband!“ Ich blickte meinem Vetter über die Schulter, als er das Halsband aus dem schmutzigen Fell herauslöste. „Und ein Schild. Ja, es steht etwas drauf. Auch sein Leben hat einen Anflug von Ehre... Wenn ich jetzt eine Adresse finde, dann ist dieser arme, kleine Kerl bestimmt verlorengegangen, und vielleicht können wir ihn zurückgeben. Jeder Hund, der es in diesem Land bis zu einem Halsband bringt, muß bestimmt der Aristo...“ Er hielt jäh inne. „Muß was?“ Da sah ich den auf dem Halsband eingravierten Namen: Samson. Charles blickte auf. „Er hat unsere Stimmen erkannt.“ Charles’ eigene Stimme klang so heiser, daß ich wußte, er empfand genau wie ich. Wir waren tief bewegt. „Er hat uns erkannt, mich und Vater. Einen Anflug von Ehre, wahrhaftig! Er muß nach ihrem Tod weggelaufen sein, oder noch wahrscheinlicher hat dieser kleine Lump ihn hinausgeworfen, damit er verhungert.“ „Kennst du diesen Hund?“ fragte sein Vater. „Und ob!“ Charles hatte das kleine Tier hochgenommen und schob es jetzt unter einen Arm. „Nach diesem Leben wird ihm jede Quarantäne wie das Phoenicia vorkommen.“ „Quarantäne? Du denkst doch nicht etwa daran, diesen lebenden Bettvorleger mit nach Hause zu nehmen?“ „Nichts von Bettvorleger!“ entgegnete mein Vetter. „Erinnerst du dich nicht an Samson? Das ist Großtante Harriets Hochzeitsgeschenk für mich, Vater. Mein persönlicher Geisterhund. Wir können ihn unmöglich seinem Schicksal überlassen; er gehört mit zur Familie.“ Mit einem strahlenden Lächeln stand Hamid am Wagenschlag. Ich setzte mich auf den hinteren Sitz.
Charles legte einen Arm fest um mich, und mein Kopf sank auf seine Schulter. Bevor der Wagen die erste Meile nach Beirut zurückgelegt hatte, waren der kleine Hund und ich fest eingeschlafen.