Andrew Miller
Die Gabe des Schmerzes Roman
Deutsch von Nikolaus Stingl
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Für meine Famili...
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Andrew Miller
Die Gabe des Schmerzes Roman
Deutsch von Nikolaus Stingl
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Für meine Familie Hast du trotzdem bekommen, was du von diesem Leben wolltest? Ja. Und was wolltest du? Mich auf Erden geliebt nennen und geliebt fühlen. Raymond Carver
3. Auflage August 2000 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Februar 2000 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Paul Zsolnay Verlages, Wien Copyright © 1998 by Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m.b.H., Wien Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Ingenious Pain« bei Hodder and Stoughton, London Copyright © 1997 by Andrew Miller Umschlaggestaltung C. Günther/W. Hellmann unter Verwendung eines Ausschnitts aus dem Gemälde »Vorlesung über das Planetensystem« von Joseph Wright of Derby, 1766 / Giraudon, Paris Satz Meridien PostScript (PageOne) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 22485 2
Erster Teil 1772 1 An einem heißen, wolkengesäumten Nachmittag im August überqueren drei Männer einen Wirtschaftshof in der Nähe des Dorfes Cow in Devon. Ihre Gruppierung hat etwas sonderbar Förmliches: wie Herolde oder Wärter schreiten die beiden jüngeren Männer ihrem Gastgeber feierlich voran oder, noch phantastischere Vorstellung, ziehen ihn - die schwarzgewandete, massige Gestalt mit dem roten Gesicht - an den Zügeln eines unsichtbaren Geschirrs mit sich. Einer der Gäste trägt eine Ledertasche in der Hand, aus der ein gedämpftes Klirren dringt, während er auf die Stalltür zugeht. Es ist der ältere Mann, der nach kurzem Innehalten die Tür öffnet und zur Seite tritt, um die anderen vorzulassen. Der Dunkelheit wegen gehen sie langsam hinein. Der Stall ist ausgefegt worden. In den Geruch nach Pferden, Heu, Mist und Leder mischt sich der Duft von verbranntem Lavendel. Trotz der Jahreszeit geht von der Leiche kein unangenehmer Geruch aus. Der Reverend fragt sich, ob Mary das Geheimnis kennt, wie man Fleisch konserviert. In alten Zeiten 4
hielten die Götter tote Helden frisch, bis die Leichenspiele vorüber und die Scheiterhaufen entzündet waren. Fraglos gibt es auch heute noch bestimmte Methoden. Salben, Zauberformeln, Gebete. Sie hat auf einem Melkhocker am Tisch gesessen. Als die Männer eintreten, steht sie auf, eine adrette, untersetzte Gestalt, mit Schatten gefiedert. »Tja«, sagt der Reverend, »ich habe ja gesagt, dass wir kommen würden. Diese Herren hier« - er deutet auf die jüngeren Männer - »sind Dr. Ross und Dr. Burke. Ärzte, Mary.« Sie schaut am Reverend vorbei, doch nicht auf Burke und Ross, sondern auf die Tasche in Dr. Ross' Hand. »Ärzte«, wiederholt er mit gedämpfter Stimme. Er möchte sie »Mädchen« nennen, doch obwohl sie, nach ihrem Äußeren zu urteilen, weniger Jahre zählt als er, kommt sie ihm unermeßlich viel älter vor, und zwar nicht einfach nur älter, sondern so, als gehöre sie einem anderen Zeitalter, einer anderen Ordnung an; eine Verwandte von Felsen, ehrwürdigen Bäumen. Sie geht nicht bloß leise, sondern ohne jedes hörbare Geräusch hinaus. Burke sieht Ross an, formt mit den Lippen das Wort »Hexe«. Sie bekreuzigen sich diskret, als rückten sie Westenknöpfe zurecht. Dann sagt Burke: »Wir sollten anfangen, sonst fahren wir noch bei Gewitter zurück. Haben Sie eine Lampe da, Reverend?« Es ist eine Lampe da: sie wurde mitgebracht, als 5
man den Leichnam hierher geschafft hat. Der Reverend entzündet sie mit Hilfe seiner Zunderbüchse tack, tack, Feuerstein auf Stahl - und reicht sie Ross. Ross und Burke treten an den Tisch, auf dem James aufgebahrt liegt, den Körper in ein wollenes Nachthemd gehüllt. Sein Haar, das bei seiner Ankunft im Pfarrhaus fast weiß war, hat im letzten Jahr zu dunkeln begonnen. Mary hat es gewaschen, mit Pomade eingerieben, gebürstet und mit einem schwarzen Band zusammengebunden. Er sieht nicht so aus, als ob er schlafe. »Eine ansehnliche Leiche«, sagt Burke. »O ja, das nenne ich ein Gesicht.« Unter James' gekreuzten Händen liegt ein Buch mit abgewetztem Ledereinband. Burke greift danach, wirft einen Blick auf den Rücken, feixt und reicht es dem Reverend, der es bereits erkannt hat: Gullivers Reisen. James hat es sich erst vor ein, zwei Wochen aus dem Studierzimmer geborgt. Wer hat es hierher gelegt? Sam? Mary? Sam soll das Buch bekommen, wenn er es will. Der Junge muss irgend etwas bekommen. Ross entkleidet die Leiche und lässt das Nachthemd auf den Boden fallen. Er entnimmt der Tasche ein Messer und reicht es Burke, der an der Schneide entlangvisiert und nickt. Burke legt eine Hand auf James' Kinn und schlitzt den Rumpf vom Ansatz des Brustbeins bis zu einer Stelle knapp oberhalb des Schamhaars auf. Dann führt er einen Schnitt quer 6
unterhalb der Rippen, so dass ein umgekehrtes Kreuz entsteht, feucht und mit blutigen Rändern. Er hält inne, um ein Brillenetui aus seiner Westentasche zu ziehen, und setzt sich blinzelnd die Brille auf. Er murmelt etwas vor sich hin, packt einen Haut- und Fettlappen und zieht ihn ab. Er benutzt das Messer, um ihn zu lösen, ihn vom darunterliegenden Gewebe zu trennen. Seine Hände sind muskulös wie die eines Seemanns. Ross hält die Lampe hoch. Er hat ein kurzes Stöckchen, das er auf dem Weg vom Haus herüber aufgelesen hat. Er stochert damit in James' Eingeweiden. »Möchten Sie nicht näher treten, Reverend? Von dort aus können Sie, glaube ich, wenig sehen.« Der Reverend schlurft vorwärts. Burke widert ihn an. Dr. Ross sagt: »Der Reverend interessiert sich eher für den unsichtbaren Mieter des Hauses als für das Haus selbst. Wie?« »Ganz recht, Sir«, erwidert Reverend Lestrade. »Nun zum Herzen«, sagt Burke. Sie beginnen an der Brust zu zerren, arbeiten mit einer Handsäge an den Rippen und werkeln sich dann mit dem Messer durch die großen Gefäße. Die Doktoren sind sichtlich erregt, aufgeräumt. Die Sache wird sich zu einer Abhandlung verwerten lassen, zu Vorträgen vor wissenschaftlichen Gesellschaften und gelehrten Zirkeln: »Einige Gedanken, hm, betreffend den Fall des verstorbenen James. Dyer. Eine Untersu7
chung ... des merkwürdigen und außerordentlichen ... der bis zu seinem soundsovielten Jahre unempfindlich war ... ahnungslos ... gänzlich ohne jede Empfindung ... jedes Gefühl ... jede Kenntnis von ... Schmerz. Nebst Beweisen, Abbildungen, Urkunden et cetera.« Der Reverend wendet sich ab und blickt auf den Hof hinaus, wo zwei Vögel Körner aus einem Pferdeapfel picken. Dahinter, in der Mauer, an der er Bartnelken zieht, führt eine grüne Tür in den Garten. Er verbindet diese Tür mit James; James, wie er herauskommt und die Birnen mustert oder einfach nur im Hof steht und die Stirn runzelt, als wäre ihm entfallen, was er eigentlich wollte. Geräusche wie von einem in Schlamm tretenden Stiefel stören ihn. Ross hält ihn in den Händen, den zerstörten Muskel, der einmal James Dyers Herz war. Ross, findet der Reverend, sieht aus, als würde er es gern essen und nur ein ganz kleiner Rest von Scham hindere ihn daran. Burke wischt sich die Hände an einem Lappen ab und zieht eine zusammengefaltete Zeitung aus seiner Rocktasche. Er schlägt sie auf, breitet sie über James' Oberschenkel, nimmt Ross dann das Herz aus den Händen und legt es auf die Zeitung. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Reverend...« Er schlägt das Herz ein, verstaut es in der Instrumententasche. »Nein, Sir.« Tote Herzen sind nicht heilig. Sollen sie es ruhig untersuchen. Und dann fällt ihm, wie so oft, jene andere Untersuchung in James' Kammer in 8
dem Haus an der Millionaja ein, als sich Mary, über James gebeugt, beim Atemgeräusch des Reverend umdrehte, der mit dem Hausmädchen reglos in der Tür stand. Und wie sich Mary, weil sie wußte, dass er sich nicht einmischen würde, nicht einmischen konnte, dann wieder dem schlafenden - betäubten? James zuwandte, ihm das Hemd aufknöpfte und die Brust frei machte. Im Zimmer war es recht dunkel, nur eine kleine Kerze brannte am Fenster. Und dennoch sah er etwas: ihre Hand, die James zu verwunden schien, ohne jedoch eine Spur zu hinterlassen, nicht anders, als wenn Sie sie durch die Haut auf heißer Milch eingetaucht hätte. »Reverend?« »Sir?« »Ihnen entgeht da einiges an Feinheiten. Das hier ist die Gallenblase.« »Bitte um Verzeihung. Ich war ... in Erinnerungen versunken. Eine Erinnerung an Dr. Dyer. Wir waren zusammen in Rußland.« »Das haben Sie bereits gesagt, Sir. Mehrmals. Es ist ganz natürlich, dass Sie an ihn denken, Sir, obwohl die Erinnerung einen Menschen zu Gefühlsseligkeit verleitet, und Gefühlsseligkeit, wiewohl bei einem Menschen Ihres Berufes bewunderungswürdig, ist in unserem ein Luxus. Sie müssen sich diese sterblichen Überreste nicht als Ihren früheren ... nicht als einen Mann vorstellen, den Sie einmal gekannt haben, sondern als Rohmaterial einer legitimen philosophi9
schen Untersuchung.« »Als eine fleischliche Schatulle«, schaltet sich Ross ein, dessen Atem, erstaunlich bei all den anderen Gerüchen im Raum, unverkennbar ein Odeur von Portwein und Zwiebeln verströmt, »voller Rätsel.« Der Reverend starrt die beiden an. Sie haben ihre Röcke abgelegt, die Ärmel aufgekrempelt und sind bis zu den Ellbogen blutverschmiert, wie Gestalten in einer absurden Senecaschen Tragödie. Ross nimmt Burke das Messer aus der Hand, stellt sich neben James' Kopf, schneidet im Nacken behende am Haaransatz entlang, reißt, ehe der Reverend seine Absicht erraten kann, die Kopfhaut von den Schädelknochen ab und legt sie, ein obszönes, blutiges Häufchen, dem Leichnam übers Gesicht. Eine heiße, saure Flüssigkeit steigt dem Reverend in die Kehle. Er schluckt sie hinunter, geht rasch aus dem Stall hinaus, über den Hof und durch die grüne Tür in den Garten. Er schließt die Tür hinter sich. Vor ihm zieht sich das Terrain in sanfter Steigung bis an den Rand alter Waldungen hin. Schafe weiden dort, und am kühlen Saum des Waldes geht ein Junge entlang. In seiner augenblicklichen Stimmung erscheint das dem Reverend wie eine liebliche Lüge, aber er ist dankbar dafür. Sie erfüllt für ihn den gleichen Zweck wie die kleinen, bemalten Schirme, die italienische Priester Verurteilten angeblich vor die Augen halten, um das Schafott zu verdecken. Er fragt sich, wie sie ihn so übertölpeln konnten, Burke und 10
Ross, doch sie wirkten so glaubwürdig, Männer von Reputation, mit Empfehlungsschreiben. Und er selbst war auch neugierig darauf, ob James' Körper dazu gebracht werden könnte, etwas von dem Geheimnis seines Lebens preiszugeben. Er hatte sich etwas Nüchternes, Respektvolles vorgestellt. Statt dessen hat er seinen Freund Schlächtern, Wahnsinnigen ausgeliefert. Und wenn sie es sähe? Sie ist irgendwo im Haus, geht Gott weiß welcher Beschäftigung nach, er ist sich nie sicher, womit sie ihre Zeit verbringt. Die übrigen Diener, die zunächst Angst vor ihr hatten, sind mittlerweile stolz darauf, sie in ihrer Mitte zu haben. Sie hilft ihnen bei Beschwerden. Sie besitzt beispielsweise die Fähigkeit, Kopfschmerzen durch bloßen Druck auf das Gesicht des Leidenden zu heilen. Die Tür knarrt in den Angeln. Er blickt sich um. Mary ist da, steht unter dem Wetterstein und hält ihm eine Holzkassette hin. Dass sie gerade jetzt kommt, wie vom Geruch seiner Gedanken an sie angezogen, beunruhigt ihn. Schlimmer noch, er bemerkt, dass er Blut an den Fingern hat, verschränkt die Hände hinter dem Rücken und fragt: »Was gibt es? Ist etwas passiert?« Sie öffnet den Verschluss der Kassette und klappt den Deckel auf. »Ja, richtig, das Gerät«, sagt er. Er hätte es gern selbst. Schließlich hat er es zusammen mit James' übrigem Gepäck aus Petersburg nach Hause gebracht, als James verschwand. Sie haben ihn 11
damals für tot gehalten. »Das gehört jetzt dir, Mary.« Sie sieht ihn eine Zeitlang an, nickt langsam, klappt den Deckel zu und geht ins Haus zurück. Man hört ein schwaches Sägegeräusch. Als es verstummt, kehrt der Reverend in den Stall zurück und hofft dabei inständig, dass es vorbei ist und man Burke und Ross ihrer Wege schicken kann. Ins Haus wird er sie auf keinen Fall lassen. Sie können sich mit einem Eimer aus einer der Regentonnen Wasser schöpfen und sich im Hof waschen. Und James müssen sie wieder zusammenflicken, so anständig sie können - Vandalen! Killick wird ihn einsargen. Morgen Mittag werden sie ihn beerdigen. Clarke schaufelt vielleicht gerade das Grab, eine Stelle an der Mauer neben Makins' Obstgarten. »Haben Sie etwas entdeckt, meine Herren? Irgend etwas?« Er versucht, seine Stimme mit Verachtung zu erfüllen, aber sie klingt schwach. Ein Unterton von Pikiertheit. Burke blickt zu ihm auf. Ein Dutzend Fliegen umschwirren den Rand eines Eimers am Ende des Tischs, unter James' geöffnetem Schädel. »Nichts«, sagt Burke, »was ich jemandem erklären könnte, der in der Kunst der Anatomie nicht bewandert ist.« »Aber die Hitze und das Ungeziefer... Er gehörte Ihrem Berufsstand an. Sie sind doch bestimmt fertig?« »Sie erregen sich, mein lieber Reverend«, sagt 12
Burke. »Gemach, gemach. Die stickige Luft macht Ihnen zu schaffen. Sie sind unwohl. Es wäre besser, Sie zögen sich zurück, jawohl, und machten von einem gelinde abführenden Mittel Gebrauch. Rhabarber, zum Beispiel.« »Oder das Fruchtfleisch der Kolonquintengurke«, sagt Ross, sichtbar belustigt. »Kolonquintengurke ist gut«, sagt Burke. »Oder ein wenig Wurzelrinde - euonymus atropurpureus. Falls Sie welche zur Hand haben. Ein Mann von Ihrer Physiognomie kann gar nicht oft genug purgieren. Meinen Sie nicht auch, Dr. Ross?« »Eine sehr reinigende Maßnahme, Dr. Burke. Der arme Dyer hätte gewiss auch dazu geraten.« »Wir werden Sie von unseren Befunden unterrichten.« Ein Lichtfleck auf Burkes Brille zittert in der Luft wie ein zorniger Funke. Der Reverend zögert und sagt dann: »Sie finden mich in meinem Studierzimmer.« Er schlurft hinaus, zu ermattet, um viel Scham zu verspüren.
2 Der Hof schimmert: Sternenlicht auf dem Rücken der nach dem Unwetter zurückgebliebenen Pfützen. Der Reverend schließt die Stalltür, überquert den Hof. Im Stall hält Mary bei James Wache. Burke und Ross 13
haben den Leichnam leidlich verschlossen, und in der Abenddämmerung hat ihn der Reverend zusammen mit Mr. Killick in den billigen Sarg gelegt und den Deckel festgenagelt. Killick, ein braver Mann, hat geholfen, den Stall auszuschwemmen und zu schrubben, frisches Stroh und mehrere Handvoll getrocknete Kräuter zu streuen. Bis Mary erschien, konnte man die Luft wieder atmen, war das Grauen des Nachmittags bis auf ein paar teebraune Flecken auf dem Tisch ausgelöscht. Diese haben sie mit einem Tuch kaschiert. Müde, doch zum erstenmal an diesem Tag entspannt, verweilt der Reverend in seinem Garten. Es ist nichts weiter als ein Bauerngarten, nichts, dessen man sich brüsten könnte, und dennoch gehört er zu den Dingen in seinem Leben, die er liebt, unverbrüchlich und rückhaltlos. Wovon kann er das sonst noch sagen? Von seiner Schwester Dido vielleicht, wenn sie ihn nicht gerade damit belästigt, er solle die Täfelung durch etwas Moderneres ersetzen, oder ihn wegen seiner Kleidung und seiner Gewohnheiten zurechtweist, die sie gern mit denen eines armen Landkuraten vergleicht, der eine Schenke betreibt. Von seiner Gönnerin, Lady Hallam? Sie ist gealtert. Wie riesig ihr Busen geworden ist, welches Gewicht für sie! Doch nach wie vor die einnehmendste Gemütsart, der einnehmendste Verstand. Jedes Sonett wert, das er für sie zusammengeschmiert hat, all die Stunden, die er über fleckigen Blättern gebrütet hat, 14
um die Sachen in das richtige Versmaß zu bringen, um ihnen einen Reim abzuzwingen, der nicht vollkommen sinnlos war. Ein halbes Dutzend mochte gut sein, und das von mehr als hundert, zweihundert. Er muss sie natürlich verbrennen, entweder nächstes Jahr oder das Jahr darauf, oder schon vorher, falls seine Gesundheit nachlässt. Unerträglicher Gedanke, dass sie womöglich von Fremden gelesen werden - von dem dicken Vikar aus Cow der bei Lady H. gern den Stier machen würde. Niemals! Er geht zu seinem Teich, klatscht in die Hände, und die Wasseroberfläche kräuselt sich dutzendfach, Kreislinien aus Licht, die sich zu den Ufern hin ausdehnen. Gute Geschöpfe mit reinem Fleisch. Von Mrs. Cole mit Tunke angerichtet, würde man auch in einem Bischofspalast auf einer goldenen Platte vergeblich nach besserem Essen suchen. Er muss damit rechnen, in Kürze in den Palast von Exeter zitiert zu werden. Die höfliche Nötigung, Mary an die Luft zu setzen. Dass sie zu James' Lebzeiten hier war, gehört für den Reverend zu der gegen den Doktor geübten Nächstenliebe. Aber so ein Frauenzimmer, so ein überaus zwielichtiges Frauenzimmer im Hause eines unverheirateten Dieners der Kirche... Er beugt sich vor und taucht die Finger ins Wasser, fasziniert von der dunklen Schale seines gespiegelten Kopfes. Im Wohnzimmerfenster bewegt sich ein Licht. Er richtet sich auf und tritt näher. Die Vorhänge 15
sind zur Seite gezogen. Tabitha ist dabei, die Kerzen in den Wandleuchtern zu entzünden. Ein großes, kräftiges, fülliges Mädchen, eine Range, nicht hübsch, mit einem Gesicht, das sich nur durch Jugend und Gesundheit auszeichnet. In ihrem ersten Monat im Haus hat sie unter Alpträumen gelitten, ins Bett gepisst und mit roten Augen Trübsal geblasen, Gläser fallen lassen und sich unfähig gezeigt, die einfachsten Anordnungen zu befolgen. Es ist zu einem schwierigen Gespräch zwischen dem Reverend und seiner Haushälterin Mrs. Cole gekommen, in dessen Verlauf Mrs. Cole damit drohte, zu ihrer Schwester nach Taunton zu ziehen, falls Tabitha im Haus bleibe. Sie hat es mehrfach wiederholt - »Taunton, Reverend, Taunton« -, als liege die Stadt auf der anderen Seite des Bosporus. Aber die Alpträume haben sich gelegt, das Mädchen hat sich gemacht, und im Winter teilen sich Tabitha und Mrs. Cole ein Bett, die Haushälterin von hinten an Tabitha geschmiegt wie Moos an einen warmen Stein. Es ist dem Reverend in den Sinn gekommen, dass ihm das auch gefallen könnte. Er nimmt einen letzten Zug von der Nachtluft, geht ins Haus, legt die Riegel vor und begibt sich ins Wohnzimmer. Tabitha, in den Händen ein Tablett mit seinen zweitbesten langstieligen Gläsern, fährt zusammen, als sei er der Teufel und wolle sie fressen. Das ist ein nervöser Zug, der ihn stets aufs neue irritiert. Sie starren sich einen Moment lang an, dann fällt ihm ein, wie sie ganz selbstverständlich über 16
James' Tod geweint hat. Ein großmütiges Herz. »Gehst du jetzt zu Bett, Tabitha?« fragt er. »Bist du müde?« »Einigermaßen, Sir, außer Sie wollen noch einen Molkentrank oder so was. Großvater hat vor dem Zubettgehen immer einen Molkentrank getrunken.« »Und befindet er sich noch wohl?« »Nein, Sir.« Sie lächelt glücklich. »Er ist mal ins Kaminfeuer gefallen und daran gestorben. Er war allerdings ein fröhlicher Mensch. Davor jedenfalls.« Der Reverend sieht es vor sich: ein alter Mann im Feuer, zwei krumme Beine, richtig krumm, wie die Backen der Metallzange, mit der man die Spitze eines Eis kappt. Wie aus einem Bild von Bosch. »Ich möchte jetzt nichts, meine Liebe. Ich bleibe noch eine Weile auf. Vielleicht lese ich.« Sie knickst; er kann ihren Brustansatz erkennen, fürchtet erneut um seine Gläser. An der Tür sagt sie: »Ich kann doch morgen zur Beerdigung kommen, oder? Mrs. Cole hat gesagt, ich soll fragen.« »Gewiss. Ich würde dich gern dort sehen. Hast du ihn gemocht?« »Herrgott, ich vermisse ihn jetzt schon. Sie nicht, Sir?« »Doch, sehr.« »Ich vermisse ihn.« Sie hält inne, befeuchtet sich die Lippen. »Ich wollte Sie was fragen, aber Mrs. Cole hat gesagt, lieber nicht.« »Dann musst du jetzt fragen.« 17
»Ob das ein Wunder war, als Dr. James ... Dr. Dyer, meine ich, Sir, als er den Neger gerettet hat?« »Ich fürchte, Tabitha, wir leben nicht im Zeitalter der Wunder.« Sie glotzt ihn an, als habe er etwas ungeheuer Wichtiges, Unerhörtes gesagt. »Was war's denn dann, wenn es kein Wunder war?« »Die Kunst des Doktors.« »Er nennt sich jetzt Lazarus, Sir, der Schwarze.« »Und wie hat er sich vorher genannt?« »John Amazement.« »Das gefällt mir besser.« Endlich allein, schält er sich die Perücke ab und kratzt sich kräftig die Kopfhaut. Eine Motte, die seiner vagen Erinnerung nach am Abend zuvor hereingekommen ist, beginnt eine der Kerzen zu umflattern und setzt sich dann auf den Spiegel. Ihre Flügel ähneln in der Farbe der Maserung von Holz, und jeder trägt eine Zeichnung wie ein starrendes Auge. Die Natur ist listig. Aus einem Schrank nimmt er eine Karaffe und ein Glas, füllt das Glas mit geschmuggeltem Brandy, leert es in einem Zug. Er stellt das Glas auf den Kaminsims, nimmt eine der dort stehenden Kerzen und geht, die Flamme mit der Hand beschirmend, in den Flur hinaus. Sein Studierzimmer, ein kleiner, beengter Raum, der nach der anderen Seite des Hauses geht, enthält Düfte nach Tinte, süßem Tabak, Büchern. Er 18
stellt die Kerze auf den Rand seines Schreibtisches, seines »secrétaire«, wie Dido ihn nennt. Die Platte ist vollständig von Papieren bedeckt. Förmliche und weniger förmliche Briefe, Rechnungen: ein Pfund achtzehn Shilling an den Stellmacher; exorbitante zehn Pfund für Silberlöffel aus London. An eingehendem Geld nur eine Anweisung des Gemeindevorstehers über zehn Shilling sechs Pence für die Verheiratung eines in Gewahrsam Befindlichen mit einer Frau, die sein Kind trägt. Außerdem einige Notizen für eine Predigt, drei Gänsefederkiele, eine Sandbüchse, ein Messer, ein verstöpseltes Tintenfläschchen. Er hält die Kerze hoch, lässt ihr Licht über die Bücher wandern und hält zuweilen inne, um alten Lieblingen sanft den Rücken zu tätscheln. Sein zerfledderter Homer aus der Schulzeit, die von seinem Vater stammende Collier-Ausgabe von Mark Aurel. Die Pilgerreise, illustriert, bei seiner ersten Fahrt nach London in der Bow Lane gekauft. Ovid, herrlich anrüchig, das Geschenk eines Freundes von der Universität, der sich im Jahr darauf erhängte. Zwei Bände Milton in steifem schwarzem Leder, auch sie ein Geschenk, und zwar von Lady Hallam anlässlich seiner Einsetzung in seine Pfarre, von ihm eher der wunderschönen Schnörkel ihrer Widmung als irgendwelcher Verse Miltons wegen geschätzt. Voltaires Candide, ein Band, der dem Reverend sofort das schmale, dunkle, intelligente Gesicht von Monsieur About in Erinnerung ruft. Fielding, Defoe. Eine wenig 19
gelesene Ausgabe von Allestrees Des Menschen ganze Pflicht. Tillotsons Predigten. Er wendet sich von den Regalen ab, öffnet einen Kasten neben seinem Schreibtisch, zieht einen Leinensack daraus hervor, klemmt ihn sich unter den Arm und eilt ins Wohnzimmer zurück, als die Uhr gerade schulternd zehn schlägt. Er setzt den Sack ab, zieht seinen Rock aus und hängt ihn achtlos über einen Stuhl. Den Rücken dem ungeheizten Kamin zugewandt, sieht er sich wie üblich von Angesicht zu Angesicht seinem Vater, dem Reverend John Lestrade aus Lune in Lancashire, gegenüber. Eine sehr mittelmäßige Art von Porträt, das Gesicht seines Vaters ein glänzendes, eindimensionales Oval vor einem Hintergrund von braunem Firnis, wie das Spiegelbild des Mondes in einem schlammigen Teich. Vater und Sohn tauschen einen stummen nächtlichen Gruß. Der Reverend versucht sich zu erinnern, was er von James' Vater weiß. Ein Bauer, dessen ist er sich leidlich sicher, doch ob groß oder klein, weiß er nicht. Von der Mutter weiß er womöglich noch weniger. Ein magerer Hinweis darauf, dass sie jung gestorben sei. Was verbarg sich hinter solcher Verschwiegenheit? Das ausweichende Verhalten eines Menschen, der sich selbst erfunden hatte? Irgendein Zweifel, ein Argwohn hinsichtlich seines wahren Erzeugers? Ach, welche Fragen er dem armen, zerschnittenen Kopf im Stall gern stellen würde! Mary weiß wohl sehr vieles. Er erwägt schon lange, die Ereignisse von Petersburg 20
niederzuschreiben. Alles andere mag sonst wie ans Licht kommen. Er geht leicht in die Knie und lässt eine Blähung in den Kamin abgehen. Sofort spürt er den angenehmen Drang zu scheißen, und nachdem er das Gefühl eine Weile genossen hat, gibt er ihm nach und zieht seinen Nachtstuhl heran, ein vornehmes Möbelstück, solide wie eine Kanzel, das er mit der Rückenlehne zu den Kerzen aufstellt. Mit schwungvoller Bewegung entledigt er sich seiner Hosen, nimmt den gepolsterten Deckel ab und lässt sich auf dem hölzernen O nieder. Der Leinensack ist greifbar; der Reverend beugt sich vor und zieht ihn sich vor die Füße. Der Sack ist mit einem Stück Kordel verschlossen. Er schnürt sie auf, fährt mit der Hand hinein. Das erste, worauf er stößt, ist ein kleinerer Beutel, ebenfalls aus gewachster Leinwand und auf die Größe eines kleinen Holzscheits zusammengerollt. Er zieht ihn hervor und legt ihn sich auf die unbehaarten Oberschenkel. Beim Aufrollen scheinen die Instrumente zu erwachen, als sich das Licht darin fängt. Messer, Scheren, eine Handsäge, Nadeln und andere Gegenstände, deren Namen und Zweck er nur erraten kann und die eigens dazu gemacht sein könnten, einem Patienten noch gründlicher Angst einzujagen. Er zieht das längste Messer hervor, zweischneidig und noch immer ungeheuer scharf. Bestimmt ist es das Messer, das James bei dem unglücklichen Postillion benutzt hat, doch ohne es, ohne seinen überaus zweckdienlichen 21
Schnitt, hätten sie den Burschen im Kloster beerdigt. Und diesen gebogenen Spiegel, ungefähr so groß wie der Handteller eines Kindes, hat er zum erstenmal in der Nacht gesehen, als sie im Kloster eintrafen und James ihn, an einer Kerze befestigt, dazu verwendete, sich selbst am Kopf zu nähen. Keines der Instrumente ist seither benutzt worden, doch als James ins Pfarrhaus kam und es so schien, als sei er wieder einigermaßen zu Verstand gekommen, hat der Reverend angeboten, sie ihm zurückzugeben. James hat sie nicht gewollt. Der Reverend rollt den Beutel ordentlich zusammen und legt ihn aus der Hand. Er greift erneut in den Sack und zieht ein Bündel Dokumente daraus hervor, die er ungeordnet darin verstaut hat, nachdem er sie das letztemal durchgesehen hat. Er hat den Sack sogar schon mehrmals durchsucht, aber mit James' Tod hat der Inhalt eine ganz neue, wichtige Bedeutung gewonnen. Morgen, wenn der Leichnam unter der Erde liegt, werden diese Gegenstände zu den ganz wenigen Beweisen für James' Existenz zählen. Bei den Papieren, die er nun durchsieht, indem er sich jedes Dokument fünfzehn Zentimeter vors Gesicht hält - seine Brille steckt in seiner Rocktasche, und er hasst es, das delikate Geschäft des Zu-Stuhle-Gehens zu unterbrechen -, handelt es sich hauptsächlich um Zeugnisse, von denen einige, vielleicht sogar alle, gefälscht sind. Das erste und stattlichste stammt angeblich vom Hotel Dieu in Paris. Drei schwarze Siegel darauf, eine 22
halbe Elle Band und eine ungestüme, unleserliche Unterschrift. Der Reverend ist sich leidlich sicher, dass James niemals in Frankreich studiert hat. Als nächstes folgt ein etwas glaubwürdigeres Zeugnis des St. George Hospital in London, aus dem hervorgeht, dass James Dyer an Kursen in Anatomie und materia medica teilgenommen hat. Ein drittes stammt von der Surgeon's Hall und erklärt James für tauglich, als Unterwundarzt auf einem Schiff sechster Klasse der Kriegsmarine Seiner Majestät zu dienen. Datiert 1756. James kann damals kaum mehr als ein Junge gewesen sein. Dazu gehört ein Begleitstück; der Reverend fischt es aus dem Sack. Eine Schnupftabaksdose mit Elfenbeindeckel und einer Inschrift auf der Unterseite: A MUNRO H. M. S. Aquilon. Er klappt sie auf, schnuppert. Obwohl schon so viele Jahre leer, birgt sie noch immer eine Würze, die dem Reverend durch die Nase ins Gehirn steigt und es so stimuliert, dass Munro einen Moment lang zaudernd und ektoplasmisch in den Schatten neben dem Fenster sichtbar wird. Er lässt die Dose zuschnappen und in den Sack fallen, furzt blechern in den emaillierten Topf. Ein weiteres Blatt; kein Zeugnis, sondern eine Referenz, und zwar eine höchst eindrucksvolle, denn auf ihr ist die Unterschrift lesbar - John Hunter, jener Alexander der Wundärzte, der James »ganz ausgezeichnet in der Behandlung einfacher und komplizierter Frakturen, der Versorgung von Quetschungen, der Vornahme 23
von Amputationen und dem richtigen Gebrauch von Bandagen« findet. Das ist genauso, denkt der Reverend, als würde der Erzbischof von York schreiben, er halte mich für besonders fromm, für einen beispielhaften Hirten meiner Schäflein. Das letzte, ein schönes, wenngleich arg mitgenommenes Pergament, ist französisch geschrieben. Eine ordentliche, gleichmäßige Handschrift; ihre sorgfältig geschnörkelten F und Y sind das Werk eines Sekretärs an der russischen Gesandtschaft. Es ist vom Gesandten unterschrieben und trägt den Stempel mit dem kaiserlichen Doppeladler. Es ist James' Geleitbrief, der ihn als »un membre distingué de la fraternité de médecine anglaise« ausweist. Nun bleibt nur noch das kleine Buch. Das Buch, das so viel verhieß, als er es zum erstenmal gesehen hat, und das ihn mittlerweile mehr denn je foppt. Es ist doch bestimmt eine Art Tagebuch? Aber das ganze Buch ist in einer Geheim- oder einer Kurzschrift geschrieben, die der Reverend trotz wiederholten Bemühens nicht entziffern kann. Selbst die Diagramme sind rätselhaft; unmöglich, zu sagen, ob es sich um Landkarten, visuelle Anleitungen für ein ärztliches Verfahren oder um gar nichts, um bloße Linien ohne jede Bedeutung handelt. Das einzige lesbare Wort steht auf der allerletzten Seite - »Liza«. Eine alte Liebe? Hatte er alte Lieben? Liza. Auch das muss ein Geheimnis bleiben. Schläfrig fragt sich der Reverend, ob sich sein Leben dereinst auch so darstellen wird, 24
als Buch in einer Sprache, die niemand verstehen kann. Er denkt: Wer wird für mich am Kamin sitzen und es enträtseln? Seine Entleerung geht nicht gut vonstatten. Die Materie, wiewohl geräuschvoll angekündigt, will nicht heraus. Die damit verbundene Anstrengung ermüdet ihn, und er befürchtet, sich zu überfordern. Wie der unbetrauerte George Secundus zu enden würde sich nicht schicken. Schlaf bedrängt ihn; flüchtig bilden sich die Gesichter von Burke und Ross, wie Gesichter in einer Tabakwolke. Andere folgen: Mary, Tabitha, Dido; nicht James. Das Pochen der Uhr markiert den Fortgang der Nacht. Er fragt sich: Was werde ich morgen sagen, was werde ich sagen, was werde ich sagen...? Aus seiner sich öffnenden Faust, von der glatten, unsicheren Unterlage seiner Oberschenkel, fallen die Papiere von James Dyer auf den Boden. Die Motte versengt sich die Flügel; der Reverend schnarcht sanft. Aus dem Stall kommt gerade so laut, dass sie durch das geöffnete Fenster in Didos Zimmer dringt, wo Dido tränenüberströmt steht, eine Stimme, ein Lied, heiser und eintönig, ganz und gar fremdartig und undurchdringlich traurig.
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Zweiter Teil 1771 1 Dreimal im Jahr lassen der Reverend Lestrade und seine Schwester einen Aderlaß vornehmen. Das ist ein Ritual wie die Vorbereitung der Erdbeerbeete im Oktober oder die zunehmend lästige Reise nach Bath im Mai, Gepflogenheiten, die dazu dienen, das Jahr zu interpunktieren, und die zu versäumen ein deutliches Unbehagen hervorriefe. »Ein Aderlaß«, so hat der Vater des Reverend oft erklärt - und so erklärt seinerseits nun auch der Reverend, freilich eher aus Freude daran, seinen Vater zu zitieren, als aus irgendeiner tiefen Überzeugung -, »tut Männern und Pferden gut. Und umtriebigen Frauen mit Mutterpflichten ebenso.« Gewöhnlich ist Dr. Thorne ihr Operateur, ein fähiger Mann, doch dieses Jahr ist sein Pferd wegen eines Kaninchenbaus gestrauchelt und hat ihn abgeworfen, so dass er nicht kommen kann. »Warum dann nicht James Dyer?« fragt Dido, klappt ihr Buch zu und streckt die Hände zum Abendfeuer aus. Der Reverend klopft sich mit dem Pfeifenstiel gegen die Zähne. »Nein, Schwester, das halte ich nicht 26
für ratsam.« »Bestimmt hat er schon einmal Blut gesehen.« »Gewiß«, sagt der Reverend, »und vielleicht genug.« »Wenn wir Thorne nicht bekommen können und du dich davor fürchtest, Dr. Dyer zu fragen - wo er doch gewissermaßen vom Fett unserer Gastfreundschaft zehrt -, lasse ich mich selbst zur Ader. Und wenn ich es nicht fertig bringe, bitte ich vielleicht Tabitha darum.« Mit einer Miene bemühter Unschuld fragt der Reverend: »Hat Dr. Dyer deine Gastfreundschaft überbeansprucht, Schwester?« »Ach was. Nein, gar nicht. Du missverstehst mich wie immer, Julius. Das ist sehr ärgerlich. Und weil du mich so ärgerst, brauche ich einen Aderlass.« »Inwiefern ärgere ich dich, Schwester?« »Indem du mir in allem widersprichst, was ich mir wünsche.« »Wie zum Beispiel die Löffel?« »Ach, zum Kuckuck mit den Löffeln. Ja, die Löffel. Und jetzt das.« »Du könntest ihn ja vielleicht selbst fragen.« »Vielleicht. Und vielleicht gehe ich auch in Caxtons Schenke und trinke eine Flasche von seinem Rum.« Dido steht auf, und ihr Kleid raschelt wie etwas Lebendiges. »Gute Nacht, Bruder.« »Ja, gute Nacht, Schwester.« Kerzengerade verlässt sie das Wohnzimmer. Es ist, denkt der Reverend, gut zwanzig Jahre her, dass er bei 27
einer Auseinandersetzung mit ihr die Oberhand behalten hat. Der im letzten Viertel stehende Mond geht um halb elf auf. Der Reverend schläft, träumt von seinem Garten, erwacht und kleidet sich an, betet auf Knien, offenen Auges, am Fenster und starrt hinaus in die goldene Schale eines Novembermorgens. Speck und Kohl zum Frühstück, heißen Punsch, dann in seinem Studierzimmer eine Pfeife Virginia-Tabak, bei der er seine Sonntagspredigt durchgeht. Er hört die Hunde. Der Laut lässt ihn erbeben, wie Glockengeläut. Er öffnet das Fenster des Studierzimmers, lehnt sich hinaus. George Pace, sein Diener, ist mit den Hunden zur morgendlichen Jagd da, dazu Mr. Astick aus Totleigh, der an seinem Fläschchen nippt und mit Pace über Hunde fachsimpelt. »Morgen, Astick. Selten schöner Morgen, wie?« »Ob es solche Morgen auch im Himmel gibt, Reverend?« »Ganz gewiss. Die Hunde sind jagdscharf, George?« »Übermütig, aber das wird sich schon legen.« Die Hunde mit ihren glatten Fellen tanzen, beißen einander sanft in die Hälse. Der Reverend freut sich, fühlt sich wie Zwanzig. »Ich muss noch ein paar Worte mit dem Doktor reden. Dann gehöre ich euch.« Er findet James in dessen Zimmer beim Ankleiden. »Verzeihen Sie, dass ich zu einer solchen Zeit bei 28
Ihnen hereinplatze.« »Ich habe die Hunde gehört«, sagt James. »Sie sind fröhlich.« »Sie sind für Morgen wie den heutigen geschaffen. Ich habe ein Anliegen, und zwar möchte ich Sie um einen Gefallen bitten. Sie wissen, dass wir die Gewohnheit haben, von Dr. Thorne am Tage des Zehntmahls einen Aderlaß vornehmen zu lassen; und nun ist der Ärmste vom Pferd gefallen, hat sich den Kopf angestoßen und kann nicht kommen, und da wollte ich fragen, wären Sie uns gefällig? Ich selbst bin geneigt zu verzichten, aber meine Schwester...« Kurzes Schweigen tritt ein, während James seine Hosenbeine zuknöpft. Unter dem Fenster veranstalten die Hunde plötzlich ein Getöse. Der Reverend wird unruhig und bewegt sich rückwärts zur Tür. »Schon gut, nichts für ungut.« »Nicht doch«, sagt James. »Wir dürfen Ihre Schwester nicht enttäuschen.« Sie feixen einander an. »Ich wünsche viel Vergnügen bei der Jagd.« »Möchten Sie sich nicht anschließen?« »Ich bin ein schlechter Jäger und empfinde außerdem eine unerklärliche Zuneigung für Hasen. Und das Bein hier« - er tätschelt sich das rechte Knie - »würde Sie nur aufhalten.« »Schön, wie Sie möchten. Wir sehen uns dann beim Mittagessen.« Der Reverend eilt davon, nimmt auf der Treppe jeweils zwei Stufen auf einmal. Von seinem Zimmer aus hört James die Jagdgesellschaft aufbre29
chen, das unablässige, gleichsam am Himmel kratzende Gebell der Hunde, das immer schwächer wird. An einem Becken mit entsetzlich kaltem Wasser wäscht er sich das Gesicht, glättet sich das Haar und untersucht seine Hände. Wie eine winzige, wunde Brustwarze sticht an der Linken eine kleine Narbe hervor, aus der eine Flüssigkeit sickert. Die anderen Narben, fünfzehn bis zwanzig an jeder Hand, verursachen bis auf ein lästiges Jucken keine Beschwerden. Kein Grund zum Missvergnügen. Er nimmt sein Rasiermesser, streckt die Hand aus und betrachtet prüfend die Klinge. Zunächst ist eine deutlich wahrnehmbare Bewegung, ein Zittern an der Spitze, festzustellen, doch das lässt nach und hört dann fast ganz auf. Er rasiert sich vor seinem kleinen, wackligen Spiegel. Seine Bartstoppeln sind dunkler als sein Haupthaar und wachsen insgesamt dichter, als entsprängen sie einem gesünderen Teil seiner selbst, einem Teil, der eher mit seinen zweiunddreißig Jahren in Einklang steht als die verwitterte Maske seines Gesichts und das graue Haar auf seinem Kopf. Er lächelt sein Spiegelbild an. Der erste richtige Frühlingstag kommt mitten im Winter. Wer sagt dass ich nicht wieder vollständig genese? Er zieht die weichen Handschuhe aus Hundehaut an, mit denen er seine Hände schützt, und begibt sich auf der Suche nach Essen in die Küche, wo Mrs. Cole, Tabitha, Mary und ein Mädchen mit Namen Winifred 30
Dade damit beschäftigt sind, das Zehntmahl zuzubereiten. »Ha, wir haben ja Kostgänger!« ruft Mrs. Cole, als sie James sieht. Sie unterbricht die Vorbereitung der Pastete, um ihm aus dem Fliegenschrank kaltes Fleisch zu holen. »Möchten Sie ein paar schöne Eier, Herr Doktor? Winny hat welche mitgebracht.« »Ein wenig falsche Gans und eine Scheibe Brot wären das reinste Festessen, danke, Mrs. Cole. Morgen, Tabitha, Winny, Mary.« Die Gesichter rot von der Hitze des Feuers, wechseln die Mädchen einfältige Blicke und beißen sich auf die Lippen. James sieht es nicht. Er betrachtet Mary, die an dem großen Tisch sitzt und Zwiebeln schneidet. »Bringen die Zwiebeln dich nicht zum Weinen?« Im Gegensatz zu den anderen veranstaltet er keine Pantomime, um sich verständlich zu machen. Obwohl er sie nie ein Wort Englisch hat sprechen hören, weiß er, wie genau sie ihn versteht, und zwar sowohl, wenn er spricht, als auch, wenn er schweigt. Nun gibt sie ihm dadurch Antwort, dass sie zwei hübsche, perlfarbene Ringe von den Zwiebeln abschneidet, sie behutsam mit dem Messer aufnimmt und neben dem Fleisch auf seinem Teller ablegt. Er bedankt sich leise. Zufrieden ißt er inmitten des Gewusels der Frauen. Wenn er sich ruhig verhält, werden sie ihn vergessen, und er kann sie in ihrer Frauenwelt betrachten, sie beinahe so sehen, als sei er eine Frau unter ihnen. Das 31
weckt blasse und doch machtvolle Erinnerungen an seine Mutter, seine Schwestern und das Hausmädchen, eine Sängerin von Unsinnsliedern, deren Name ihm völlig entfallen ist. Er ergötzt sich an der Geschicklichkeit der Frauen. Was für ausgezeichnete Wundärzte sie abgäben! Und wäre er nicht vielleicht ein ganz passabler Koch? Er würde sie gern fragen, ob er mithelfen, ob er Gemüse schneiden oder das süße Gemisch eines Nachtischs zusammenrühren darf, aber das würde die Mädchen stören, und ihre Konzentration würde nachlassen. Als er fertig ist, schlüpft er, einen kleinen Topf warmes Wasser in der Hand, aus der Küche und begibt sich in den Garten. Er hält inne, lauscht auf Geräusche der Hetzjagd und meint sie zu hören, ein schwaches Echo wilden Gebells. An der Seitenwand des Pfarrhauses steht das Treibhaus des Reverend. Es ist ein kleiner Bau, zu niedrig, als dass man darin ganz aufrecht stehen könnte, und voller Töpfe, Kübel, Geranienduft. Hier hat er sich eine Ecke für seine Experimente angeeignet und stellt zu seiner Befriedigung fest, dass seine Cannabispflanzen, deren Erdreich mit Stroh abgedeckt ist, die kalten Nächte überstehen. Er überprüft seine Schwämme auf ihrem Lattengestell, wischt die ersten Fäden einer Spinnwebe weg, nimmt einen der kleineren Schwämme und steckt ihn ein. Die Schwämme sind seine ganze Freude, der greifbarste Erfolg - obgleich weiß Gott ein sehr unvollkommener - seiner Forschungen auf dem 32
Gebiet der Schmerzmittel. Er hat vor sechs Monaten damit begonnen, indem er an John Cazotte in Dover schrieb, dessen Name ihm aus heiterem Himmel eingefallen war, nachdem er in den Tagen seiner Praxis in Bath einmal mit ihm zu tun gehabt hatte. Drei Wochen nach Absendung seines Briefs ist das erste säuberliche, duftende Päckchen eingetroffen, das erste von vielen mit Kräutern, Samen und Mischungen, dazu Cazottes Ratschläge und in seiner ordentlichen Handschrift Seitenweise Exzerpte aus gelehrten Büchern, zu denen James keinen Zugang hat. So hat James von Plinius die Eigenschaften der Alraunwurzel gelernt, wie sie sich in Wein einlegen lässt und wie sie in früheren Zeiten, ob aus Barmherzigkeit oder Zynismus, häufig dazu verwendet wurde, die Qualen von Gefangenen unter der Folter leichter zu machen. Aus Essig und asiatischer Myrrhe - und mit merkwürdig erregten Gefühlen - hat er den Trank zusammengebraut, der Christus am Kreuz angeboten wurde; angeboten und von ihm abgelehnt. Das Rezept für die Schwämme stammt von einem Manuskript aus der Zeit der Eroberer: jeder Schwamm wird in einem Gebräu aus Opium, frischem Bilsenkraut, unreifen Brombeeren, Lattichsamen, Schierlingssaft, Mandragora und Efeu eingeweicht. Von ihrer kostbaren Fracht durchdrungen, werden sie in der Sonne getrocknet und lassen sich vor Gebrauch Rehhydrieren. Außer Mary weiß niemand, was es mit diesen Experimenten auf sich hat. Sie ist ihm mit der Nase auf 33
die Schliche gekommen, als sie eines Abends sein Zimmer betrat, schnupperte und dann ganz leicht die Augenbrauen hob, als wollte sie sagen: »Ist das alles, was Sie gelernt haben?« Der Reverend und seine Schwester platzen schier vor Neugier, stellen aber keine Fragen. Dafür ist er ihnen dankbar. Vom Treibhaus begibt er sich in die Scheune. Das Scheunentor ist offen. Urbane Davis sitzt auf einem Holzklotz und isst eine Faustvoll Käse. Er hat Hafer gedroschen, und die Luft ist noch trübe von der Spreu. »Morgen, Davis.« »Morgen, Dr. Dyer.« Davis hebt zum Gruß seinen Käse. »Ich hoffe, Sie haben Sissy mit Ihrem Dreschflegel nicht erschreckt.« »Nein. Ich habe gerade nach ihr gesehen. War ganz ruhig.« »Das freut mich. Ich will ihr nämlich einen Besuch abstatten.« »Sissy? Sissy?« Am Ende des Futtergangs, an einer geschützten, trockenen Stelle etwa eine Mannshöhe unter den Dachbalken, ist im Schatten eine Bewegung wahrzunehmen, ein zartes Miauen, halb verschreckt, halb flehend. Das Tier hat sich mittlerweile an ihn gewöhnt, erkennt seinen Schritt und ist ohnehin zu schwach, um vor ihm zu fliehen. Sie ist in der zweiten Septemberwoche gefunden worden; eine gelblichbraune Katze, keuchend in einer 34
Art Nest, das sie sich im Geißblattstrauch des Reverend gemacht hatte. Sam hat sie als erster erspäht und es James erzählt, der neben dem Strauch im Gras lag, bis sein Arm taub wurde, und sotto voce mit dem Tier redete, das ihn unverwandt fragend anstarrte. Es war eine Bauernkatze, eine wachsame alte Kämpferin, an Zärtlichkeiten nicht gewöhnt. Mit Geduld und kleinen Leckerbissen aus der Küche hat er sich eingeschmeichelt. Nach drei Tagen hat er sie herausheben können, ein überraschend leichtes Bündel, als sei sie eine kleinere Katze, die in das Fell einer größeren gekrochen ist. Er hat sie in die Scheune gebracht, sie in eine mit Lumpen und Stroh ausgepolsterte Kiste gelegt und beim Licht der Laterne untersucht. Bei der Untersuchung hat er einen Tumor in der Lebergegend festgestellt. Die Katze war alt, und ihr stand ein schmerzhafter Tod bevor. Was also sollte er tun? Es gab nur drei Möglichkeiten: sie sterben lassen; sie töten; sie behandeln. Davon erschienen ihm nur die beiden letzteren annehmbar. Immerhin hatte er schon in das Dasein des Geschöpfs eingegriffen und damit eine Verantwortung erlangt, die es ihm verbot, das Tier einfach im Stich zu lassen. Und was das Töten anging, so brächte ein rasch verabreichter Tod am sichersten Erlösung, und George Pace war ein sehr geschickter Tiertöter, auf du und du mit den Göttern der Finsternis. Tüchtige, kräftige Schläge waren sein Handwerkszeug. Aber war denn einer Katze ihr Leben weniger lieb 35
als einem Menschen, lieb selbst bei Krankheit, selbst in extremis, ja in diesem Falle lieber denn je? Und wenn sich die Schmerzen lindern, spürbar lindern ließen, wenn er möglicherweise das Mittel dazu besaß, war es dann nicht am besten so? War er nicht dazu verpflichtet? Oder war das Geschöpf nur der ahnungslose Gegenstand seines Experimentierens? Dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Er scheute davor zurück. Er zieht den Schwamm aus der Tasche, reißt ein Stück davon ab und taucht es in das warme Wasser des Teetopfs. »Alsdann, Sissy, da hast du etwas, was dir schmeckt.« Das Tier hat aus seinem Leiden gelernt, und als er ihm den aufgequollenen Schwamm vors Gesicht hält, schnuppert und knabbert es daran und reibt sich so den Saft in die empfindliche Haut der Nüstern und des Zahnfleischs; ein erbarmungswürdiges, komisches Verhalten. Der Tumor frisst die Katze von innen. Die Dosis wird täglich erhöht. Mittlerweile rechnet James jedesmal, wenn er in die Scheune kommt, damit, die Katze tot vorzufinden. Er hat fast den Eindruck, dass sie sich hauptsächlich deshalb zum Weiterleben zwingt, um die Drogen konsumieren zu können. Er streichelt das stumpfe Fell, sieht zu, wie sie in sanfte Dumpfheit versinkt. Unten hat Urbane Davis seinen Dreschflegel aufgenommen und summt unter rhythmischen Schlägen ein Kirchenlied vor sich hin. Was ist es? »Komm, o du Wand'rer unbekannt«. James nimmt seine Sachen an 36
sich, steigt die Leiter hinab, hält sich einen Handschuh vors Gesicht, um nicht den Staub einzuatmen.
2 Der Reverend, seine Schwester, Mr. Astick und James essen an einem Tisch im Wohnzimmer zu Mittag, wo der Reverend am Abend die Gutsbesitzer bewirten wird. Die anderen werden dem Brauch entsprechend in der Küche essen. Der seit Michaelis ungenutzte große Speiseraum muss im Winter zwei Tage vorgeheizt werden und ist für die eine Gesellschaft zu groß und für die andere zu elegant. »Noch ein Stück von diesem guten fetten Hammel, Mr. Astick?« Dem Reverend hat seine morgendliche Jagd gutgetan. Sie hat ihm zwei große Hasen eingebracht. James hat ihre zerfetzten Kadaver in der Küche gesehen. »Nell - das ist die silberweiße Petze, Doktor - war heute die reinste Leopardin. Wie toll davon, das Tier. Konnte auf dem Heimweg kaum noch gehen. Hat gezittert und die Zunge heraushängen lassen.« »Lassen Sie mich Ihr Glas nachfüllen, Herr Doktor«, sagt Dido, die neben James sitzt. »Mach mir den Doktor ja nicht betrunken, Dido«, sagt der Reverend, der von dem Punsch vor dem Essen selbst leicht betrunken ist. »Wir kommen heute Nachmittag unter sein Messer.« »Ich habe mir sagen lassen, Herr Doktor«, meint 37
Mr. Astick, »dass Wundärzte dazu neigen, vor einer Operation ebensoviel zu trinken wie ihre Patienten. Weil es auf beiden Seiten gleich viel Mut braucht.« »Vorgekommen ist mir das auch schon«, sagt James, der ein Stück Fleisch auf seinem Teller hin und her schiebt. »Doktor Dyer gehört nicht zu dieser Sorte«, sagt der Reverend. »Ich wollte damit sagen«, meint Mr. Astick, »dass eine Operation vorzunehmen ebenso großer Stärke bedarf, wie sich einer Operation zu unterziehen. Ist es nicht so?« »Ich habe selbst miterlebt«, sagt James, »wie ein sehr angesehener Wundarzt sich vor dem Betreten des Operationssaals erbrochen hat. Ich habe einen Arzt mit einem Jahreseinkommen von tausend Pfund mitten in einer Operation davonlaufen sehen.« »Ich muss doch bitten, meine Herren«, sagt Dido und klopft mit ihrer Gabel auf den Tisch. »Wir haben unseren Nachtisch noch nicht gegessen.« »Sehr richtig, meine Liebe«, sagt der Reverend, »und mich gelüstet es schon seit dem Frühstück nach einer von Mrs. Coles Süßspeisen. Ha, ha!« »Du gräbst dir noch das Grab mit den Zähnen, Bruder.« »Da du nichts isst, Schwester, muss ich für zwei essen. Wann werden Sie uns brauchen, Herr Doktor?« »Wann es Ihnen genehm ist.« »Dann werde ich Sie zuerst beim Zwicken ausrau38
ben, und Sie bekommen es dann später in Blut zurück«, sagt der Reverend. Darüber muss sogar Dido lachen. Ein seltsames, erregtes Lachen.
3 Er ist im Wohnzimmer und liest, als man Tabitha nach ihm schickt. Er hat vier- bis fünfmal dieselbe Stelle in Roderick Random gelesen - die Szene, in der Roderick sich an die altersschwache Miss Sparkle heranmacht -, jedoch weder ihre Komik noch ihre Grausamkeit wahrgenommen. Er überlegt selbst jetzt noch, wie er sich herausreden könnte, und lauscht dem Gepolter der Schritte des Reverend im Zimmer über ihm. Auf dem Kartentisch am Kamin, neben den Karten seines letzten, aussichtslosen Blattes, liegt ein hübsches Schildpattkästchen, das die Lanzetten enthält. Es gehört dem Reverend und gehörte vor ihm seinem Vater, James weiß nicht, was aus seinem Besteck geworden ist. Mittlerweile hat es jemand anders in der Tasche. Tabitha betritt das Wohnzimmer. »Miss Lestrade ist jetzt für Sie bereit.« »Miss Lestrade?« »In ihrem Zimmer, Sir.« Sie deutet vage nach oben. Er fragt: »Was hast du denn da?« Sie tritt auf ihn zu und reicht es ihm: eine irdene Schale mit Zinnglasur. »Der Herr Reverend hat 39
gesagt, das soll ich Ihnen geben.« »Danke, Tabitha.« James nimmt die Schale und das Schildpattkästchen, steigt die Treppe hinauf, wendet sich nach links und bleibt stehen, um leicht an die erste Tür rechts zu klopfen. Dido Lestrade sitzt an dem Tisch am Fenster ihres Zimmers. Sie hat sich nach dem Essen umgezogen und trägt nun ein Gewand von blassem Gelbgrün und ein gestepptes weißes Unterkleid. Ihr Gesicht wird vom Nachmittagslicht, dem Licht der Maler, erleuchtet. Sie ist, glaubt James, etwa so alt wie er selbst. Ihre Augen sind gut, sehr menschlich, aber sie hat sich die Augenbrauen zuschanden gezupft. Er ist noch nie in diesem Zimmer gewesen. Ihm ist bewusst, dass es für ihn zur Schau gestellt wird und dass er es bewundern soll. Er wirft einen flüchtigen Blick in die Runde, bemerkt das Chelsea-Porzellan, die Fächer aus Pfauenfedern, den Petit-pointWandschirm, die lackierte Kommode, den Bettvorhang aus indischer Baumwolle, verziert mit dem Lebensbaum. Kinkerlitzchen und Schnickschnack ohne Zahl, und das alles in einem Raum, der älter ist als die Kirche, eine Kammer, besser geeignet für solide, rustikale Möbelklötze, wie sie, grabmalhaft und geradezu nach Zeit stinkend, im übrigen Haus herumstehen. Das hier ist Didos Protest, ihr diskretes Aufbegehren: ein nach Bath gehörendes Boudoir im Bauch von North Devon. Das bewegt ihn, und auf 40
irgendeine unbestimmte Weise hätte er sie gern getröstet. Ihm ist bewusst, dass es irgendwo in dem entsprechenden Lexikon eine Geste gibt, die seine Empfindungen exakt vermittelt, aber er kann sie nicht finden. Barscher als beabsichtigt fragt er: »Haben Sie ein Tuch für Ihren Arm?« Sie hat es auf dem Tisch bereitgelegt, ein Seidentuch, kräftig gefärbt. Ihr Gewand ist kurzärmelig, doch James schiebt den Ärmel noch weiter hinauf, ehe er das Tuch anlegt. Ihm ist bewusst, dass er ihr körperlich näher ist denn je. Ihr Duft ist ihm bewusst, die Textur ihrer Haut. Das Blauweiß in ihrer Armbeuge ist rührend. »Nicht zu eng?« fragt er. Sie hat den Blick von ihm abgewandt, schüttelt den Kopf. Er zieht das Kästchen aus der Westentasche, nimmt den Deckel ab, wählt eines der kleinen Messerchen, holt es heraus, lässt es fallen, tastet auf dem türkischen Teppich danach, hebt es auf, räuspert sich, nimmt ihren Arm, der sich kühl anfühlt, macht eine Vene ausfindig, bringt die Schale in Position und sieht zu, wie das Blut von ihrem Arm in die Schale läuft. Als er nach seiner Schätzung sechs Unzen gesammelt hat, drückt er den Daumen auf die Wunde, entfernt das Tuch, atmet. Ein Wollbausch dient als Verband. Sie winkelt den Arm an und drückt ihn an ihre Brust wie Blumen oder ein kränkelndes Schoßtier. »Ich bin sicher, Dr. Thorne nimmt zweimal soviel ab«, sagt sie mit einem Blick in die Schale. »Im Körper nützt es Ihnen mehr als außerhalb.« 41
»Für meinen Vater war der Aderlass die größte Wohltat für umtriebige Frauen.« »War Ihre Mutter denn so?« »Man hat sie dafür gehalten. Mich hält man übrigens auch dafür.« »Ich habe Sie nie dafür gehalten«, sagt James, beinahe beflissen. »Das glaube ich.« »Wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet, danke.« »Ich bin bei Ihrem Bruder, falls Sie mich brauchen.« Der Reverend starrt aus seinem Fenster; ein Blick auf den Garten, die ansteigenden Felder, den Wald. Er begrüßt James, ohne sich umzudrehen. Er ist düsterer Stimmung, plötzlich ernüchtert nach der Jagd, der Fröhlichkeit des Morgens. Im Freien mit den Hunden hat er sich in der ersten Stunde wie in seine Jugend zurückversetzt gefühlt, sein Körper ein robustes, starkes Werkzeug, angenehm zu benutzen, und selbst im Eifer der Jagd hat sein Verstand eine herrliche Kühle, eine Klarheit bewahrt, um die er sich bei anderer Gelegenheit vergeblich bemüht hat... Nun ja, er muss dankbar dafür sein, für diese Stunde. James, dem der Reverend einmal in einem Anfall von Vertrauensseligkeit gestanden hat, dass er Verse macht - obwohl aller Portwein in der Christenheit ihn nicht dazu hätte bewegen können, zu verraten, was für 42
Verse, und noch viel weniger, an wen sie sich richteten -, fragt nun, nur um etwas zu sagen, und von der den Reverend umgebenden Aura von Melancholie auf schwer erklärliche Weise beeindruckt, ob er im Kopf Zeilen wende. In Verlegenheit gebracht, antwortet der Reverend hastig: »Nein, keineswegs. Ganz und gar nicht. Die Muse wird mir abtrünnig wie alles andere Haare, Zähne, Atem. Nein, ich habe daran gedacht, auf ... auf dem kleinen Feld Weizen und Steckrüben zu säen. Was halten Sie davon? Haben Sie nicht einmal gesagt, Sie seien auf dem Lande groß geworden? Bestimmt haben Sie das gesagt.« »Ich habe mich nicht näher damit befaßt. Von Rüben weiß ich nur, dass ich sie, wenn überhaupt, gedünstet mag.« »Wenn ich doch nur ein bißchen mehr wüßte«, sagt der Reverend. »Davon, was sinnigerweise zu tun ist, meine ich. Ich würde gern ein Beispiel geben. Wissen Sie, sie machen sich insgeheim über mich lustig, die Gutsbesitzer. Heute abend werden sie wieder über mich herfallen, warten Sie's nur ab. Werden Sie im Wohnzimmer essen?« »Ich dachte, ich spiele lieber den König der Küche. Letztes Jahr haben wir dort schön gesungen.« »Wie Sie wünschen.« Der Grund ist natürlich, dass er mit Mary Zusammensein will, aber man hat es ihm wenigstens angeboten. Ein Jammer, überlegt der Reverend mit dem Anflug eines Feixens, dass James nicht mehr Interesse 43
an Dido zeigt. Sie gäben ein interessantes Paar ab, aber die kleine Fremde hat ihn in der Gewalt, und große, tiefe Kabel verbinden die beiden. Einander anfassen sieht man sie freilich nie. Ob sie geschlechtlichen Umgang miteinander haben? Er späht in die Schale in James' Hand. »Wie ich sehe, haben Sie sie schon drangenommen. Meine Schwester.« »Ich wollte es eigentlich wegschütten«, sagt James errötend. »Ich weiß gar nicht, wie ich das versäumen konnte. Verzeihen Sie.« »Gemach, Herr Doktor. Schließlich ist es der gleiche Stoff, der auch mich belebt - wenngleich meiner keine solche Wassersuppe ist wie der meiner Schwester. Alsdann, Sir, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie hier ein Gefäß öffnen würden.« Er tippt sich an die rechte Schläfe. »Thorne hat das auch schon gemacht, und ich habe das Gefühl, es würde mich erleichtern. Und zwar sehr.« James starrt ihn an, sucht nach einem Zeichen, an dem sich erkennen lässt, ob der andere es wirklich ernst meint. Er sagt: »Das Blut zirkuliert durch den ganzen Körper. Ob man es an der oder jener Stelle entnimmt, ist völlig unerheblich.« »Zugegeben, das mag die Theorie sein, aber ich leide nun einmal an einer Überfülle, einem Blutandrang, der sich ganz auf den Kopf beschränkt.« »Es wäre gefährlich. Und das ohne Not.« »Aber doch nicht für jemanden von Ihren Fertigkei44
ten.« »Sie bringen mich durcheinander ... mit meinem früheren Ich.« »Ach was. Ich setze mich hierher und halte so still wie eine Wand.« Um es zu beweisen, setzt er sich auf einem Hocker so steif und reglos in Positur, als sitze er für sein Porträt. James denkt: Ich werde mich weigern. Aber warum soll ich es eigentlich nicht tun? Früher hätte ich es mit verbundenen Augen gekonnt. Der Teufel soll uns beide holen. Ich tue es. Er legt dem Reverend ein großes Taschentuch auf die Schulter, wählt eine Lanzette aus, neigt sich zur Schläfe des Reverend hinab und mustert die Haut unter dem stoppeligen, graublonden Haar. Für einen Augenblick fällt alle Unsicherheit von ihm ab, er sticht die Lanzettenspitze ein, spürt das unwillkürliche Zusammenzucken, fängt es ab, stößt tiefer. Er wird das Geräusch raschen Atmens gewahr; glaubt, es gehe vom Reverend aus, und bemerkt dann, dass es von ihm selbst kommt. Ein Blutfaden schlängelt sich über die Hängebacke des Reverend. Der Reverend sagt mit zusammengebissenen Zähnen: »Tiefer, Doktor, tiefer.« Und dann geht etwas schief, geht schief wie in einem Traum, wo der stetige Bilderfluss ohne Vorwarnung zu etwas Elementarem, Grauenhaftem zusammenschießt, vor dem der Schläfer aus dem Schlaf flieht. Ein Krampf - als wäre seine Hand mit Elektrizität in Berührung gekommen; ein krampfarti45
ges Zusammenziehen der Muskeln, Gott weiß was. Sofort ist das Gesicht des Reverend auf einer Seite blutüberströmt. Die Lanzette fällt, ebenso die Schale, die das Hemd des Reverend mit Blut bespritzt. Der Reverend stöhnt, schwankt hin und her wie ein angeschlagenes Schiff, hält sich mit beiden Händen den Kopf. Er sagt mit ganz ruhiger Stimme: »Helfen Sie mir, James.« Und James läuft hinaus. Aus dem Zimmer des Reverend in sein eigenes. Sekunden vergehen, vielleicht Minuten, ehe er den Mut findet, zurückzukehren; Minuten, in denen er wütend seinen Rock anstarrt, der an einem Nagel auf der Rückseite der Tür hängt. Dann rafft er alles an Leinen zusammen, was er sehen kann - ein Hemd, eine Nachtmütze, ein viereckiges Stück Tuch, das er dazu benutzt, sich das Gesicht zu trocknen -, und läuft wie der ertappte Liebhaber in einer Farce in das Zimmer des Reverend zurück. Der Reverend liegt auf seinem Bett, eine Hand auf die Wunde gepresst. James fällt neben dem Bett auf die Knie, hebt sanft die Hand des Reverend an. Der Blutfluss ist so stark, dass James die Wunde zunächst nicht ausmachen kann. Er wischt, faltet das Tuch zu einer Kompresse und befestigt sie mit der Nachtmütze. Er eilt auf den Treppenabsatz hinaus, brüllt: »Tabitha!« Ihr mit Mehl bestäubtes Gesicht erscheint im Treppenschacht. Er schickt sie nach heißem Wasser und Rotwein. Seine Brust wogt, als wäre er in höchster 46
Eile hergerannt. Dido tritt vor die Tür, hält noch immer ihren angewinkelten Arm, starrt James verblüfft an. »Was ist denn?« fragt sie. »Sind Sie verletzt?« Er gafft sie an, kann nicht antworten, läuft ins Zimmer zurück und beugt sich über den ausgestreckt daliegenden Reverend, wie um ihn vor Regen zu schützen. Dido folgt unter leisen Schreckensrufen, funkelt ihren Bruder wütend an. »Herrgott, Bruder ... hat er sich erschossen?« Man hört ein zunächst ominöses Geräusch, ein wässeriges Röcheln in der Kehle des Reverend. »Stirbt er?« fragt Dido, das Gesicht ohne alle natürliche Farbe, doch vorderhand noch bewundernswert gefasst. »Nein, er stirbt nicht«, sagt James. Er kennt das Geräusch besser als die meisten. Er sagt: »Ich glaube, er lacht.« Aus dem zusammengekrümmten Mann auf dem Bett dringt eine näselnde, ungeheuer belustigte Stimme: »›Hat er sich erschossen! Ah, sehr gut ... sehr gut, Schwester...« Eine Minute später, und Tabitha kommt mit dem Tablett, dem Wein, dem Wasser. Ihr folgt Mrs. Cole, alarmiert von Tabithas Schilderung des am oberen Treppenabsatz wie ein Wahnsinniger mit den Armen fuchtelnden Doktors. Was sie sehen, ist der Reverend, der bleich, aber feixend auf der Bettkante sitzt, den Kopf mit einer blutdurchtränkten Nachtmütze umwikkelt, neben ihm Dido, den Mund so fest geschlossen 47
wie eine Muschel, und auf der anderen Seite des Reverend der wie ein Kind schluchzende Doktor; vielleicht stimmt ja alles, was man sich so von ihm erzählt. »Was macht das Abendessen, Mrs. Cole?« fragt der Reverend. Welcher Heldenmut! Jawohl, der Nachmittag war ein unerwarteter Erfolg.
4 Die beiden, ein Mann und ein Junge, gehen unter dem Novembermond Holz holen. Der Mann, leicht gebeugt, humpelt wegen eines Gebrechens am rechten Bein, sein Kopf ruckt auf und nieder wie der eines Schwimmers. Der Junge, die Hände wärmesuchend unter die Achseln gesteckt, geht zwei Schritte hinter ihm her. Es bildet sich Frost, glitzert um die Lichter des Hauses. Sie kommen zu dem Holzstoß. James streckt die Arme aus, damit der Junge ihm auflädt. Den Scheiten entströmt ein Gestank nach Erde, Pilzen, verfaulender Rinde. »Nimm sie von dahinten weg, Sam. Sind sie dort trockener?« »Sie sind alle ein bisschen feucht.« »Hol die da an der Seite heraus - das Buchenholz.« Der Sommer ist heiß gewesen, der Herbst feucht und mild, die Ernte schlecht. Der Weizen steht bei fünfzig Shilling acht Pence für den Viertelzentner, 48
drei Shilling mehr als im Vorjahr. »Wir nehmen, was wir haben, Sam, und trocknen sie am Feuer.« Sie marschieren zu den Lichtern zurück. Ein junger Hund, der sich unruhig am Ende seiner Kette bewegt, beginnt zu kläffen. »Pst, junger Freund!« macht James. Das Tier weicht zurück in den Schatten, die Ohren gespitzt, um auf die Bewegungen, die leisen Geräusche der Umgebung zu horchen. James drückt mit dem Ellbogen den Riegel auf und öffnet die Küchentür. Von den Männern am Tisch kommen plötzliche, gutmütige Klagen über die Kälte, bis Sam die Tür mit dem Absatz zustößt. Sie legen die Scheite ab und wischen sich die Erde vom Rock. Am Tisch geben zwölf Männer, dicke und dünne, ihr Bestes, um wieder in sich hineinzuessen, was sie durch den Zehnten verloren haben. Es mit so etwas wie ausgelassener Entschlossenheit in sich hineinzuessen und hineinzutrinken. James kennt die meisten, die meisten kennen ihn - kennen ihn, ohne genau zu wissen, was sie von ihm halten sollen. Tabitha lässt einen Krug fallen, einen von den großen. Er zerplatzt eindrucksvoll vor ihren Füßen, tränkt ihre Strümpfe mit Apfelmostwolken. Sie weint eher vor Erschöpfung als vor Entsetzen oder Angst vor Mrs. Cole, die im Wohnzimmer bedient. Die Bauern grölen. James geht zu ihr, sagt: »Geh zu Bett, Tabitha. Sam und ich werden hier bedienen.« Das Zehntmahl, ein niemandem ganz angenehmes 49
Ereignis, nähert sich seinem Ende. Der Tisch ist überhäuft mit Bechern und Gläsern, fettigen Tellern aus zerbeultem Zinn; mit den blankgelutschten, zerschmetterten Skeletten von Ente, Huhn und Hase, den gebräunten, knubbeligen Knochen des Rindes, spitzen Hammelknochen. »Was meinst du wohl, Sam«, sagt James, »wie all die Tiere am Jüngsten Tag ihre Teile wiederfinden?« »Gibt's denn dann nicht bloß noch Menschen?« »Aber woher denn, nein. Hühner, Katzen, Jonas Wal.« Er blickt auf Sam hinab: ein agiler, dürrer, unwahrscheinlich hässlicher Junge von elf Jahren. Mit fünfzehn wird man ihn von keinem rotgesichtigen, in irgendeinem Marktflecken herumkrakeelenden Sohn des Pfluges mit fleckigem Halstuch und Lederhosen mehr unterscheiden können. Mit dreißig wird er einer von denen am Tisch sein; noch immer voller Leben, doch von Arbeit und Sorge schon halb gebrochen und dem Suff ergeben, um zu vergessen. Sie setzen sich nebeneinander auf die Bank am Feuer. James spürt die Hitze auf seinem Gesicht. Sam sagt: »Sie haben gesagt, Sie würden die Geschichte erzählen, Doktor James.« Doktor James: eine nur von Sam öffentlich, von anderen unter vier Augen gebrauchte Anrede. »Was für eine Geschichte denn, Sam?« Er weiß genau, was für eine Geschichte. »Von dem Wettrennen.« »Ach so.« 50
»Und der Königin und so.« »Eine Kaiserin, Sam. Das ist mehr als eine Königin.« »Und von Mary.« »Kannst du bei diesem Krawall denn etwas hören?« Sam nickt. Für James ist dies ein Experiment; die Verwandlung seines Lebens in Anekdoten für ein Kind. Eine Reihe kleiner, ungefährlicher Explosionen, die ihn, wie er zuversichtlich hofft, daran hindern, einem Fremden oder - schlimmer noch - jemandem, der ihn kennt, einen Schwall fürchterlicher, unverdauter Enthüllungen zuzuplärren. Und Sam ist ein guter, gegen Revisionen nachsichtiger Zuhörer, der der Geschichte folgt, wie er einer Pflugschar auf dem Feld folgt. »Und bis wohin sind wir beim letztenmal gekommen?« »Bis zu Ihrem Freund Mr. Gummer«, sagt Sann. Ein Erinnerungsbild: Gummers Gesicht, das heißt die Augen, denn der Rest ist gegen die Kälte mit einem Tuch verhüllt. Kann es wirklich sein, dass er Gummer als Freund bezeichnet hat? James trinkt aus seinem Becher, zieht einen Handschuh aus, wischt sich mit dem Handrücken die Lippen; spürt das Gesprenkel der Narben. »Dann weißt du, wie ich Mr. Gummer zum erstenmal begegnet bin, als ich noch ein Junge war, wie er sich an mich herangeschlichen hat, als ich am Tag der 51
Hochzeit auf dem alten Festungshügel auf dem Bauch im Gras lag, und wie ich nach meinem Sturz vom Kirschbaum...« »Wo Sie sich das Bein gebrochen haben.« »Richtig...« »Und der Kerl es gerichtet hat...« »Amos Gate, der Schmied. Schön. Also, nachdem mein Bein wieder heil war - es ist seither noch einmal entzweigegangen -, ging eine ... eine Krankheit im Haus um. Eine sehr heftige Krankheit, so dass meine Mutter, meine Brüder und Schwestern allesamt weggerafft wurden...« »Alle?« »Jawohl, alle«, bekräftigt er die Lüge. »So war ich denn allein und machte mich zu Fuß nach Bristol auf, um Mr. Gummer zu suchen, weil ich glaubte, er, der so etwas wie Interesse an mir gezeigt hatte, werde mich vielleicht bei sich aufnehmen. Ich war damals jünger als du heute, Sam, und bin trotzdem den ganzen Weg zu Fuß gegangen, meistens bei Regen, wenn ich mich recht entsinne. Warst du schon einmal in der Stadt, Sam, in irgendeiner großen Stadt?« Sam schüttelt den Kopf. »Genauso wenig wie ich damals. Welch ungeheure Anzahl von Menschen! Soldaten, Matrosen, dicke Kaufleute; schöne Damen, die ihre Röcke rafften, damit sie nicht im Kot schleiften - denn in der Stadt ist es viel schmutziger als auf dem Land. Es war das erste Mal, dass ich einen Schwarzen oder einen 52
Chinesen zu Gesicht bekam. Und es waren Schiffe aus aller Herren Länder da, eines neben dem anderen, wie Vieh in einem Pferch. Und Läden, Sam, erleuchtet wie an Weihnachten, und ein gewaltiges Hin und Her, ein gewaltiger Tumult von Menschen und Tieren. Nun war es zwar, wie du dir vorstellen kannst, alles andere als einfach, inmitten dieser, hmm, dieser Entropie Mr. Gummer zu finden, trotzdem habe ich ihn gefunden, als ich immer der Nase nach ging, und er war sehr überrascht und in gewisser Weise auch erfreut, mich zu sehen, obwohl ich dir sagen muss, dass er kein sehr freundlicher Mensch war. Aber da ich auch kein sehr freundlicher Junge war, passten wir irgendwie zueinander. Das war am...« »Heda! Hier drüben verdursten welche!« Mehrere von den Gästen schwenken zum Beweis ihre Becher, während die anderen mit den Fäusten auf den Tisch zu trommeln beginnen. Der Rhythmus gewinnt an Wucht, dröhnt wie der Marschtritt von Soldaten. »Komm, Sam.« James steht auf, lächelt, entschuldigt sich mit einer leichten Verbeugung bei den Bauern. Er nimmt die Krüge, zwei in jede Hand, und geht durch die Tür in der hinteren Küchenwand in einen kühlen, fensterlosen Raum mit einem Kupferkessel, Maischtrögen und Fässern, wo der Reverend alle Vierteljahre das Brauen seines Tafelbiers beaufsichtigt und wo Mrs. Cole ihre Beerenweine macht, die Flaschen an zwei Wänden übereinandergestapelt. Trotz der Kälte sitzt dort Mary, ohne erkennbare 53
Beschäftigung, ganz still auf einem Stuhl mit geflochtenem Sitz. Eine Kerze brennt zu ihren Füßen, die aneinandergeschmiegt sind wie zwei Kätzchen. James zapft das Bier. Als er fertig ist, sagt er: »Komm mit. Es ist kalt hier drin, sogar für dich.« Sie beobachtet ihn, ihre Augen zwei blankgeleckte schwarze Kiesel. »Es sind bloß Kleinbauern«, sagt er. »Schall und Wahn. Es hat nichts zu bedeuten. Nichts als das hier.« Er hebt einen der Krüge. »Setz dich zu Sam und mir ans Feuer.« James trägt das Bier in die Küche und stellt es auf den Tisch. Er wünscht sich sehr, er könnte sicher sein, dass sie glücklich oder wenigstens zufrieden ist. »Ah, Ihr Lebenselixier, Herr Doktor. Sie haben uns vor einem trockenen Grab bewahrt.« »Ein langes Leben wünsche ich Ihnen, meine Herren. Gesundheit und Glück.« »Sie trinken nicht mit uns?« »Nur wenn es den Herren genehm ist.« »Gut gesprochen, Mann.« Der Krug macht die Runde, bei jedem Einschenken schwappt Bier auf den Tisch. »Ein Toast, ihr Männer!« »Auf den König!« »Bauer George und die alte Snuffy.« »Auf die beste Möse in der Christenheit!« »Nein, Jungs.« Ween Tull hat sich zu Wort gemeldet. »Auf unseren Doktor Dyer. Kein sehr glücklicher 54
Name, das geb ich zu...« - Gejohle für diesen Witz -, »...aber da er weder Mann noch Weib irgendwelche Arzneien verabreicht und auch das Messer nur in die Hand nimmt, um sein Brot damit zu schneiden, rettet er mehr Leben als jeder andere im Königreich!« Der Toast wird ausgebracht. »Großzügig von Ihnen, meine Herren«, sagt James. »Überaus großzügig.« Eine Stimme ruft: »Wo ist Will Caggershot? Sing uns eins von deinen Liedern vor, Will. ›Sally Salisbury‹!« Caggershot schraubt sich von der Bank hoch. »›Grabspruch für die arme Sally Salisbury‹.« Die Zecher starren ihn an wie glückliche Schuljungen. Caggershot räuspert sich. »Hier, platt auf dem Rücken, doch tugendsam Liegt Sally unter Hans Mors; Was Wunder, dass ihr's den Atem nahm, denn sie ritt immer nur par force. Auf der Bahn ihrer Laster in flottem Galopp Ist jäh sie vom Hengst gefallen. Allen dünkte ihr Leben ein Hopplahopp...« Er hält inne, glotzt über die Köpfe der anderen hinweg zur Tür des Brauzimmers. Nun verdreht der Rest den Kopf, um etwas sehen zu können. James steht von der Herdbank auf, mit ausgebreiteten Armen, wie um die Gesellschaft mit Gewalt wieder zusammenzubringen. »Das ist nur Mary, meine 55
Herren. Nicht nötig, dass Sie mit Ihren Liedern aufhören.« »Wir wissen, wer das ist, Herr Doktor.« Caggershot setzt sich. Die Bauern bündeln ihre Blicke in der Mitte des Tischs. James zuckt die Achseln, geht zu Mary, bugsiert sie zur Bank, neben Sam. Langsam, wie eine alte, vorübergehend verstopfte Pumpe, kommt das Gespräch wieder in Gang. Sie trinken; die Becher werden nachgefüllt. Mary ist vergessen. Caggershot singt seine Lieder, eines schlüpfriger als das andere. Dann zeigt Een Tull, Bruder von Ween und unbestritten der armseligste Narr der ganzen Gesellschaft, mit zitterndem Finger auf Mary und ruft: »Wie war's, Herr Doktor, wenn die da mal ihre Zähne zeigt und alles.« Die Forderung wird von anderen im Chor unterstützt, und so wird rasch deutlich, dass Een nur ausgesprochen hat, was andere denken. James hat einen solchen Verlauf halb befürchtet, doch gehofft, sie würden sich aus Achtung vor ihm als dem »Doktor«, Freund des Reverend und Marys offenkundigem Beschützer zurückhalten. Es kränkt ihn, dieser augenscheinliche Verrat. Dabei ist er selbst daran schuld, er selbst hat Mary exponiert. Er holt tief Luft und steht auf. »KEINE MONSTROSITÄTENSCHAU, MEINE HERREN!« Es ist keiner im Raum, nicht einmal Mary, der James als den makellosen jungen Mann gekannt hat, der 56
sich im Herbst 1767 nach Russland aufmachte. Keiner, der ihn in seinem Staat, seinem Mantel aus dunkelgrauem Tuch gesehen hat, wie er dem kaiserlichen Gesandten die Hand reichte, als wäre es der Gesandte, der sich von der Berührung geehrt fühlen müsste. Keiner auch, der sich dergleichen hätte vorstellen können, außer vielleicht Sam, der in Gedanken prächtige Puppen zu einer Art Historie aufmarschieren lässt. Für einen Moment sind die Bauern vollkommen verblüfft. Die Stille wird von einem Geräusch wie aufkommender Regen unterbrochen. Mary begibt sich ans Kopfende des Tisches, die Hände ordentlich vor dem Leib zusammengelegt, als wolle sie ihnen etwas vorsingen. Sie wartet - ihr sicheres Gespür für Theatereffekte -, dann teilen sich ihre Lippen zu einem Knurren, so dass die spitz zugefeilten Vorderzähne bis zum Zahnfleisch entblößt werden. Vom Tisch kommt ein leises, überraschtes Stöhnen. Wieviel besser das doch ist als ein Schaf mit zwei Köpfen oder ein Fisch, der rechnen kann, in einer stinkenden Bude auf einem Jahrmarkt. Ihre Gesichter sind, da einige sogar Marys Knurren unwillkürlich nachahmen, so grotesk, dass James' Wut sich in Gelächter verwandelt, ein lautes, befreiendes Gelächter, das ein paar zornige Worte hätte hervorrufen können, wäre in diesem Moment nicht der Reverend in die Küche gekommen, das Gesicht trotz des Aderlasses nach fünf Stunden Essen, Trinken und Kartenspielen gefährlich gerötet. Er sieht 57
James fragend an und wendet sich dann an die Bauern. »Meine Herren, ich fürchte, ich darf Sie nicht länger aufhalten. Ich bin selbst Landmann genug, um zu wissen, dass Sie darauf bedacht sein werden, nach Hause zu kommen.« Das Erscheinen eines Höherstehenden, und sei er so bar allen Glanzes wie ein Pfarrer, hat etwas unerfreulich Ernüchterndes. Pfeifen werden ausgeklopft, der letzte Rest Bier in den Bechern hinuntergeschüttet. Ihre Gesichter scheinen schon die Kältegefühle vorwegzunehmen, die das nächste Morgengrauen bringen wird; das Wiederaufnehmen des Kampfes mit widerspenstigen Tieren, das Gestapfe über stille, dunkle Felder, wie der erste oder der letzte Mensch auf Erden. James, dem es inzwischen leid tut, dass er gelacht hat, schafft Hüte und Überzieher, Halstücher und Handschuhe herbei. Der Hof füllt sich mit dem Manövrieren, dem Schlurren und Stampfen von Männern und Pferden. Der Hund, der sich bei ihrem Erscheinen in rasendes Gekläff hineingesteigert hat, hat vom Reverend einen derben Schlag auf die Schnauze bekommen und liegt nun, vor Geducktheit ganz außer sich, auf dem Bauch. Hufe auf dem Pflaster klingen wie Geprassel von Feuersteinen. Die Bauern brechen auf, ihre Pferde suchen sich den Weg zur Straße, bis schließlich nur noch James, Sam und der Reverend übrigbleiben, in der eintretenden Stille 58
nach Art eines Chiaroscuro um die Laterne des Reverend gruppiert. Der Junge erschauert. Der Reverend blickt auf ihn hinab, als sei er überrascht, ihn da zu sehen. »Hättest du deine fünf Sinne beisammengehabt, Sam, hättest du mit einem unserer Gäste nach Hause fahren können.« »Ich gehe mit ihm«, sagt James. »Ich habe ihn mit alten Geschichten wach gehalten.« »Ach, Geschichten...« Der Reverend nickt, als habe das Wort eine besondere Bedeutung für ihn. »Tja, Sie haben ja auch einige zu erzählen.« »Und einige haben wir gemeinsam erlebt.« Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Reverend. »Ganz recht.« Er schnuppert. »Seien Sie auf dem Eis vorsichtig, Doktor. Wollen Sie die Laterne mitnehmen?« »Nein. Sam und ich lernen gerade die Sterne. Ohne Laterne sieht man sie besser.« Sam ist zum Haus zurückgelaufen, um ihre Jacken und James' Stock zu holen. Während die beiden im Hof warten, beäugt James den Rand des unter der Perücke des Reverend hervorlugenden Verbands. Er möchte fragen, wie es ihm damit ergeht, aber die Sache mit dem Aderlass macht ihm noch immer zu schaffen. Er ist erleichtert, als der Reverend eine Kopfbewegung zur offenen Tür hin macht, in der, zwischen den verbliebenen Lichtern sichtbar, Sam neben Mary steht und sich von ihr verabschiedet. 59
»Er mag sie«, sagt der Reverend. »Ja. Zwischen ihnen ist etwas.« »Spricht sie je mit ihm?« James zuckt die Achseln. »Er versteht, dass sie es gut mit ihm meint.« Sam bringt seine Jacke, den dicken Überrock, dessen Taschen tief genug sind für Bücher, Äpfel und Zeichenpapier. »Alsdann.« »Gott befohlen.« »Gute Nacht.« »Gute Nacht, gute Nacht, Sam.« Sie gehen auseinander. Der Reverend wendet sich zum Haus, kratzt den Hund hinterm Ohr und seufzt, seufzt so tief, dass es ihn selbst überrascht, als ob sein Körper ein geheimes Wissen besitze, das noch bis ins Bewusstsein dringen muss. Seine Schläfe pocht; er berührt sie sachte mit zwei Fingern. Eigenartig, dass James einfach so der Mut verlässt. Eigenartig, wie sich ein Mensch verändern kann. Als Arzt ist er natürlich erledigt. Diese ganze Begabung! Gewiss, vorher war er ein harter, wenig liebenswerter Mann. Aber nützlich; bei Gott, das war er. Was braucht die Welt eher - einen guten, gewöhnlichen Menschen oder einen, der herausragt, wenngleich mit einem Herzen aus Eis, aus Stein? Knifflige Frage. Der Hund ist zu mager. Muss entwurmt werden. Zeit, schlafen zu gehen. Etwas Gutes zu träumen.
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5 Vom Haus aus ist es auf einem mit Löchern übersäten Fahrweg fast eine Meile bis zu der Brücke und der Straße, die hügelan ins Dorf führt. Hier, im Schatten von Bäumen und hohen Hecken, ist es dunkler, aber noch führt sie der Mond, der tiefe, mit Frost paillettierte Furchen und über diffuse Lichtstreifen vom Unsichtbaren zum Unsichtbaren reichendes Astgeschlängel zeigt. Wo sie den Himmel unverstellt finden, bleiben sie stehen, und Sam folgt dem Bogen von James' Hand, während dieser die Sterne nennt, und beide starren zu den Weiten des Himmels empor, bis sie meinen, zu spüren, wie die Erde unter ihren Füßen nachgibt, und den Blick senken müssen, um nicht ins Wanken zu geraten. Ihre Schritte stören ein Tier auf, Augen in einem erdbraunen Körper, ein Geschöpf, so wesenlos wie das rasche, trockene Rascheln, mit dem es durch die Hecke flüchtet. Sam erklärt es zum Fuchs, sagt, er wird George Pace davon erzählen und sich einen Penny verdienen. Irgendwann überredet James ihn, ihm etwas vorzusingen. Sam schweigt eine Zeitlang, überdenkt sein Repertoire, stimmt dann »John Barleycorn« an. Zunächst ist seine Stimme zu leise, dann plötzlich kommt er in Schwung, ein heller, in den höheren Tönen heiserer Sopran: »Es kamen drei Männer von Westen her, 61
Haben feierlich geschwor'n, dass sie ihr Glück versuchen woll'n und töten John Barleycorn...« Drei oder vier Minuten lang drückt der Gesang für James mehr von der natürlichen Melodie des Lebens aus als alles, was er je in Kathedrale, Konzertsaal oder Irrenhaus gehört hat. »Sie karrten ihn übers weite Feld, haben ihn zur Scheuer gebracht, Und dort dem armen John Barleycorn den Garaus dann gemacht...« Sie gelangen zur Brücke, einem Steinbuckel mit niedriger Brüstung, und nehmen die Steigung nach Cow in Angriff. Von einem Haus auf der Hügelkuppe ist schwach ein einziges Licht auszumachen - Caxtons Schenke. Im Vorbeigehen gucken sie zu dem halb verhängten Fenster hinein, auf die Rücken von Männern, die sich mit ihren Getränken beschäftigen. Dann gelangen sie in Schattenzonen, steuern zwischen den verschlossenen Steingesichtern von Bauernhäusern, den dunklen Gärten, den Ställen hindurch, wo man hört, wie die Tiere atmen und sich rühren. Von weit weg und dennoch ganz klar kommt der Ruf einer Eule und die Antwort darauf, ebenso klar, ebenso fern. Das Haus des Kirchners und Totengräbers kennzeichnet ein Schimmer, der durch das Glas eines 62
Fensters im Erdgeschoss sickert. Als ihre Schritte sich nähern, bewegt sich das Licht, und die Tür wird geöffnet, ehe sie geklopft haben. Die Mutter des Jungen steht mit ihrer Kerze im Eingang. »Ich hoffe, er war Ihnen nicht lästig, Herr Doktor.« Dann, zu dem Jungen: »Was fällt dir ein, dem Doktor solche Umstände zu machen, dass er mitten in der Nacht den ganzen Weg hierher laufen muss?« In ihrer Stimme liegt eher Erleichterung als Zorn. »Bitte seien Sie nicht zu streng mit ihm«, sagt James. »Es ist meine Schuld. Und in einer solchen Nacht macht das Gehen keine Mühe. Sam hat für mich gesungen. Er hat eine schöne Stimme. Ich finde, dass er in den Chor gehört. Mit guten Stimmen ist man dort nicht gerade reich gesegnet... Ihr trefflicher Gatte bildet natürlich eine denkwürdige Ausnahme.« »Sehr freundlich von Ihnen.« Sie macht einen angedeuteten Knicks, der eigentlich nur an der Bewegung der Kerze wahrzunehmen ist. Trotz der gegenwärtigen Lage des Doktors - praktisch ein Schmarotzer im Haushalt des Reverend - umgibt ihn eine unbestimmte Aura von Ruhm und eine gewisse Vornehmheit, durch die er, zumindest in ihren Augen, zu den wichtigen Leuten zählt. Außerdem rührt sie seine Freundschaft mit ihrem Sohn. Es ist ein gutes Licht, in dem der Junge da steht; ein gutes, warmes Licht. »Möchten Sie nicht hereinkommen und etwas zu sich nehmen? Gegen die kalte Nachtluft?« 63
»Ich will mich so spät nicht aufdrängen, Mrs. Clarke...« Aber er folgt ihr und ihrem Licht bereits ins Haus, vorbei an dem von Schatten verlängerten Hut des Totengräbers, dessen Geschnarche eben noch zu hören ist, als sie sich in der Küche versammeln. Hier strahlt die geschichtete Glut ihre gleichmäßige Hitze ab. Das Haus ist nur geringfügig kleiner als das, in dem James ein Kind war, das Haus in Blind Yeo, und vieles daran, das blankgescheuerte, bescheidene Aussehen der Gegenstände, das komplizierte Gemisch von Düften, das Spiel des Lichts auf polierten Oberflächen, ist ihm so vertraut wie sein eigenes Gesicht. Mrs. Clarke bringt den mit Ale gefüllten Becher ihres Mannes und stellt ihn vor ihren Gast. Für sich selbst hat sie ein kleines Glas Ingwerwein. Sam, der wie ein Lakai neben James' Schultern steht, trinkt Milch aus einer Holzschale. »Ihrem Mann geht es gut?« »Danke, Sir, ja. Allerdings braucht er sein Quantum Schlaf. Er sagt, die Arbeit mit so vielen ewigen Schläfern macht ihm Lust darauf« »Lust worauf, Madam?« Die plötzliche Wärme nach der kalten Luft hat ihn schläfrig gemacht. Mrs. Clarke errötet. »Aufs Schlafen, Herr Doktor. Nur aufs Schlafen.« Sie wirft einen flüchtigen Blick auf ihren Sohn und lacht dann unversehens. »Das ist sein stehender Witz, Herr Doktor.« 64
»Es gibt keinen Beruf auf der Welt, der nicht seinen speziellen Humor hätte. Ich bedaure nur, dass die Mediziner von allen vielleicht den gröbsten besitzen. Die Nähe zum Leiden anderer bringt eine Spaßhaftigkeit hervor, die eher grausam als wirklich komisch ist. Sie beginnt als Abwehr gegen den Schrecken, wird jedoch bald zur bloßen Art des Umgangs damit.« »Bei Ihnen war das bestimmt nicht so«, sagt Mrs. Clarke. Bei Gesprächen mit dem Doktor hat man stets den erfreulichen Eindruck, es stünden Indiskretionen unmittelbar bevor. »Nein, Madam, das war es wirklich nicht, denn das Leiden anderer hat mich nicht im geringsten bekümmert. Ich habe es nur insofern verstanden, als es einen Zusammenhang zwischen der Heftigkeit des Schmerzes und dem für seine Linderung zu erzielenden Honorar gab.« James, dessen Blick beim Reden auf den Tisch gerichtet war, schaut nun auf, um die Wirkung dieses Bekenntnisses zu ermessen. Einen Moment lang liegt Verwirrung in ihren Augen, aber die legt sich rasch. Mrs. Clarke zeigt, dass sie entschlossen ist, ihm wohlwollend zu begegnen. »Bestimmt haben Sie am besten verstanden, worum es bei Ihrer Arbeit ging, Herr Doktor.« »Wie man's nimmt, Madam. Ich war - und das ist keine Aufschneiderei - der einzige Wundarzt meiner Bekanntschaft, dessen guter Ruf nicht auf reiner Erfindung beruhte. Die meisten hatten ein Mundwerk und eine Phantasie, die eine Wirtshausrauferei in die 65
Belagerung von Troja hätten verwandeln können, aber was das eigentliche Geschäft des Heilens anging, so hätte man sich ebenso gut von einer Gans behandeln lassen können. Goldene Schwerter und Herzen von billigstem Messing.« Er lächelt, um den Zorn abzumildern, der sich in seine Stimme geschlichen hat. »Sie sehen, ich lasse kein gutes Haar an meinem alten Berufsstand. Dabei gab es ein paar gute Männer darunter und gute Frauen auch. Die sich darauf verstanden, Trost zu spenden, ohne Hoffnung vorzugaukeln, wo es keine mehr gab. In Wirklichkeit, Mrs. Clarke, gibt es wenig genug, was wir tun können, sehr wenig. Wir sind zu spät und zu früh geboren - zwischen den geheimen Künsten der alten Welt und den Entdeckungen der kommenden Zeit. Ich habe eine gewisse Begabung besessen, Madam, und zwar hauptsächlich im Umgang mit dem Messer. Aber ich habe nie diesen ganz bestimmten Blick gehabt« - er macht eine vage Geste in der Luft über seinem Ale -, »diese spezielle Aufmerksamkeit gegenüber dem Leiden eines anderen, die den wahren Heiler ausmacht.« »Also, ich glaube, da sind Sie zu streng mit sich, Herr Doktor.« James schüttelt den Kopf. »Nein, Madam, ich bin bloß gerecht. Ich war gut im eingeschränktesten Sinn des Wortes. Wunderbar fingerfertig, aber kein Mensch ist jemals zu mir gekommen, weil er Freundlichkeit von mir erwartete.« 66
Es liegt ein Gewicht in seinen Worten und etwas Eisernes in seinem Ton, auf das sich nichts mehr erwidern lässt. Langes Schweigen tritt ein, dann fragt Mrs. Clarke: »Sie haben eine Schwester, glaube ich?« »Ich hatte zwei.« »Sind sie...?« »Ja, die hübsche, Sarah. Ist als Kind zusammen mit meinem Bruder gestorben. Die andere lebt wohl noch, meine Liza. Das heißt, mir ist nichts Gegenteiliges bekannt. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich ein Junge war.« »Mir haben Sie erzählt, sie wären alle gestorben«, sagt Sam. »Sie wären als einziger übriggeblieben.« »Pst«, sagt seine Mutter, die Angst hat, eine so zerbrechliche Stimmung zu stören. »So, habe ich das, Sam? Tja, es war von der Wahrheit nicht weit entfernt.« Er verstummt. Mrs. Clarke wartet und meint dann: »Vielleicht sehen Sie sie ja wieder.« »Sie würde sich nicht darüber freuen, denke ich. Sie hat keinen Grund, mich zu lieben.« »Eine Schwester braucht keinen Grund, um ihren Bruder zu lieben, Herr Doktor. Es ist ihre Pflicht.« »Von Pflicht kann keine Rede sein. Ich habe ihr unrecht getan.« »Als Junge. Und Jungen tun ihren Schwestern oft unrecht. Mein Gott, wenn ich da an meine eigenen Brüder denke. Trotzdem sind wir heute durchaus Freunde.« 67
James schüttelt den Kopf. »Ich könnte ihr nicht ins Gesicht sehen.« »Vielleicht möchte sie Ihnen aber ins Gesicht sehen, ihrem eigenen Fleisch und Blut.« »Unmöglich.« »Vergebung ist etwas Großartiges«, sagt sie, »für die, die das Herz dazu haben.« Die Hand auf Sams Schulter, hievt James sich vom Tisch hoch. Mit ruhiger Stimme sagt er: »Sie ist blind. War blind. Die Blattern.« Sam wird zu Bett geschickt. Mrs. Clarke, wie zuvor die Kerze in der Hand, bringt James zur Tür. Beim Hinausgehen fragt er: »Habe ich seltsam geredet?« »Bei uns sind Sie immer willkommen, Herr Doktor.« »Danke. Das spüre ich. Meine Empfehlungen an Ihren Mann.« Wieder bemerkt er den linkischen Knicks. Die Tür schließt sich, ein Riegel gleitet vor, und die Schritte der Frau verklingen ins Innere des Hauses. Blinzelnd, um das seinem Gesichtssinn eingeprägte Bild der Kerzenflamme loszuwerden, geht James den Pfad hinauf. Mittlerweile kommt es ihm kälter vor. Die Steine knirschen wie Glas unter seinen Schuhen. Er hat die Straße erreicht, als ein leise vom Haus heranschwebendes »Tssst!« ihn innehalten lässt. »Sie erzählen mir die Geschichten doch noch, Doktor James?« Die Stimme dringt aus einem kleinen Fensterflügel unter dem Dachvorsprung. Sam selbst 68
ist vollkommen unsichtbar. »Ja.« »Von der Kaiserin?« »Ja, Sam.« »Und warum Mary spitze Zähne hat?« »Geh schlafen, Sam.« Er hebt den Arm, winkt. So hell und zuträglich das Ale des Totengräbers auch ist, es bietet keinen ganz hinreichenden Schutz gegen den Frost, der sich nun durch die Falten von James' Jacke fingert. Auch verspürt er nach seinem Gespräch mit Mrs. Clarke wenig Lust, geradewegs heimwärts - heimwärts! - zum Hause des Reverend und zu einem kalten, höchstwahrscheinlich leeren Bett zu trotten. Eine halbe Stunde menschlicher Gesellschaft, ein Glas Rum mit Wasser, ein bisschen unwesentliches Geplauder - das wird ihn wieder aufmuntern. Was hat er sich eigentlich dabei gedacht, einfach so zu Mrs. Clarke zu gehen? Bei Caxtons Schenke angelangt, tritt er mit gebeugtem Kopf durch die niedrige Tür, bleibt im unbeständigen Licht stehen und atmet die scheußliche Luft des Lokals ein. Ein kleines Vorderzimmer mit kleinem Kamin, die Bänke von zahllosen Beinkleidern rabenschwarz poliert, und vier Tische, auf denen jeweils eine Kerze einen groben Rußfaden spinnt. Caxton selbst steht mit verschränkten Armen am Kamin und blickt einem halben Dutzend Männern über die Schultern, die gerade eben noch Gäste des Reverend 69
waren und nun, vor Erschöpfung und Betrunkenheit halb verblödet, Domino spielen. Beim Anblick von James setzt Caxton eine bemüht freundliche Miene auf, und die beiden Männer wechseln Grüße. Weil James monatelang keinen Fuß in das Lokal gesetzt hat, war ihm entfallen, wie sehr er Caxton verabscheut; nicht wegen der Verbindungen des Schankwirts zu einheimischen Wilderern - Wilderer sind im großen und ganzen ehrenwerte Männer - und auch nicht wegen der sehr fundierten Gerüchte, er habe den Constables Beweise verkauft, aufgrund deren ein Junge des Diebstahls einer Taschenuhr beschuldigt und gehenkt worden ist. Sein Unbehagen betrifft das Mädchen, Caxtons Tochter, die, hochschwanger und an ihren bis zum Fleisch abgekauten Nägeln knabbernd, eine Armlänge neben ihrem Vater steht. Als sie James' Blick auf sich spürt, bemüht sie sich um ein Lächeln, bringt jedoch nur einen Ausdruck tiefer Verlegenheit zustande. Caxton ruft: »Was darf's denn sein, Herr Doktor? Was soll die Kleine Ihnen bringen?« James bestellt seinen Rum, lehnt ein Angebot ab, beim Domino mitzuspielen, und setzt sich allein an einen der anderen Tische. Das Mädchen - denn mit ihren vierzehn oder fünfzehn Jahren kann man sie trotz ihres Zustands kaum anders nennen - bringt ihm sein Glas, wischt den Tisch mit einem bierfeuchten Lappen und stellt das Glas vor ihn hin. Er fragt, wie es ihr gehe, und schaut dabei auf ihren dicken Bauch, der 70
kurz davor scheint, sie zu überwältigen. Sie weicht seinem Blick aus und sagt: »Recht gut.« »Du wirst bald niederkommen, Sally. Hast du keine Angst?« »Ich bin froh, wenn ich es los bin, Sir.« »Wer kümmert sich denn um dich?« »Mutter Grayley.« »Sie hat viel Erfahrung«, sagt James, insgeheim entsetzt, dass eine als schwere Trinkerin bekannte Frau, auf deren Konto ein ganzes Regiment toter Kinder geht, von jemand anders als dem Teufel beigezogen wird. Das muss Caxtons Wunsch sein. »Das Einfache ist das Beste, Sally. Du bist jung. Nicht nötig, dass du Geheimmittel und dergleichen schluckst.« Das Mädchen flüstert ihren Dank, hastet davon. James greift nach seinem Glas und trinkt. Das kurze Gespräch mit Sally und der Anblick ihres gewieften, rüpelhaften Vaters, ja selbst der Bauern, die sich, einen Stapel schmieriger Münzen mitten auf dem Tisch, über ihre kleinen Rechtecke beugen, das alles deprimiert ihn. Hier herrscht kein wirkliches Glück; nicht einmal viel Hoffnung. In der Verletzlichkeit des Mädchens und der Härte der Männer liegt das gleiche Maß an verbissenem Leiden; und obwohl manches Leiden verdient, mancher Schmerz zweifellos eine Art Nemesis ist, welcher Trost, welche Genugtuung liegt in dieser Erkenntnis? Für diejenigen, die ihn empfinden, ist jeder Schmerz durchaus wirklich; alle brau71
chen gleichermaßen Mitgefühl. Er selbst sehnt sich ja, weiß Gott, auch danach. Die Tür öffnet sich; er blickt auf. Ein Mann von solcher Größe, dass es scheint, als wäre er aus dem Stoff für zwei Männer gemacht, ein Mann mit schwarzer Haut - oder ist sie braun oder gar beinahe grau wie Nacht über Schnee? - betritt den kleinen Raum, wie ein Erwachsener ein Kinderhaus betritt. Unter den Balken gebeugt, schlurft er in zerschlissenen, purpurroten Pantoffeln auf Caxton zu. Er hält ihm einen kleinen Krug, einen Rahmkrug, hin und flüstert mit einer Stimme wie das Kratzen eines Schüreisens ein einziges Wort: »Gin.« »Gin?« Der Schwarze nickt, deutet zaghaft auf den Krug. Caxton nimmt den Krug und reicht ihn seiner Tochter, die damit ins Hinterzimmer geht, um ihn zu füllen. Der Schwarze langt in die Tasche seiner kurzen Jacke, zückt einen Geldbeutel und schüttelt sich ein Sixpence-Stück auf den Handteller. James denkt: In einer solchen Hand könntest du einen Kricketball verstekken. Wie steif die Finger sind, wie die eines alten Mannes. Trotzdem noch kräftig. Der Neger bekommt von Sally seinen Krug, dankt ihr und wartet auf sein Wechselgeld von Caxton, bis ihm schließlich aufgeht, dass er keines bekommt, worauf er müde nickt und zur Tür zurückschlurft. Die Tür schwingt zu. Zwei, drei Sekunden lang ist nichts 72
als der ungleichmäßige Rhythmus des Feuers zu hören, dann setzt aufgeregtes Geplapper der Bauern ein, und jeder erzählt dem anderen, was er gesehen hat, als wäre jeder der einzige Zeuge dieser wundersamen Begegnung. Man beglückwünscht Caxton dazu, dass er den Fremden übers Ohr gehauen hat. Ein Bauer kündigt ihm an, der Schwarze werde ihn in seinen Kochtopf stecken. Brüllendes Gelächter. Ein anderer wendet sich an James und fragt, ob Neger genauso gemacht seien wie Weiße, ob vielleicht ihre Knochen so schwarz seien wie ihre Haut. »Nein«, antwortet James, der mittlerweile ein überwältigendes Bedürfnis verspürt, das Lokal zu verlassen, »sie sind genauso gemacht wie wir.« »Ich habe gehört, ihr Samen wäre schwarz - bitte um Verzeihung, Sally.« »Das weiß ich nicht.« »Und was ist mit ihren Herzen«, will Caxton wissen. »Sind die schwarz?« »Nicht schwärzer als Ihres, Sir, oder meins.« Zu James' Verärgerung wird die Bemerkung fälschlich als Scherz aufgefasst, und er ist gezwungen, das Lokal unter einem Chor fröhlicher Abschiedsgrüße zu verlassen. Nicht einmal meine Verachtung, denkt er, als er vorsichtig auf den vereisten Weg hinaustritt, vermag ich zu vermitteln. Mit einem Dutzend tiefer Züge von der kalten Luft schafft er sich einen klaren Kopf, denkt an den kommenden Tag, hofft, dass er wieder so strahlend 73
und feurig sein, wieder eine Luft wie Champagner haben wird. Er feixt, als ihm die plötzliche morgendliche Spannkraft des Reverend einfällt. Man muss sich einen stillen Vorrat solcher Morgen anlegen, sie für hoffnungslosere Zeiten horten. Wenn es morgen schön ist, gehe ich vielleicht mit Tusche und Papier zu Lady Hallam hinüber und zeichne dort den kleinen Tempel am Wasser. Er hat begonnen, ihn im Kopf zu skizzieren, als das Geräusch eisenbeschlagener, auf dem Weg entlangholpernder Räder hinter ihm ihn veranlasst, auf das Gras auszuweichen. Einige Minuten lang existiert der Karren nur als Ansammlung von Geräuschen; das Ächzen der Achsen, das toll gewordene Paukenspiel klappernder Töpfe und Pfannen; quäkender, betrunkener Gesang. Schließlich kann er die Form des Gefährts ausmachen, es ist ein Einspänner mit Verdeck, der den Hügel von Cow herunterschwankt. Auf James' Höhe angelangt, hört die Stimme zu singen auf und ruft: »Wer da? Sind Sie ein Christ, oder was sind Sie sonst?« »Sie haben nichts von mir zu befürchten«, sagt James. Mittlerweile kann er im sanften Schein des Sternenlichts zwei Gestalten erkennen, die eine klein, nicht größer als ein Kind, doch nach ihrem Ton und den Ginwolken zu urteilen, die ihre Worte einhüllen, eindeutig erwachsen. Die andere ist der Neger aus Caxtons Schenke. 74
»Gehört sich nicht, so spät in der Hecke rumzuschleichen«, sagt die Frau, dann, im Zeitraum eines Atemzuges, füllt sich ihre Stimme mit Honig. »Sie wissen also nicht, wohin? Armer Kerl. Kann er bei uns bleiben, John? Er hat nichts, wo er schlafen kann.« »Pst«, sagt der Neger. »Ihr Angebot ist sehr freundlich«, sagt James, »aber ich habe nur ein kurzes Stück von hier ein Dach über dem Kopf und ein Bett.« »Na, dann ist es ja gut. Mach vorwärts, John.« Der Neger schnalzt mit der Zunge, das Pferd zieht an, und der Wagen rollt, seine dünne Schleppe von Gesang hinter sich herziehend, weiter. »Schmeckst du nicht die Abendluft ... in der Laube lindem Duft ... wo Traube sich in Pappel schlingt ... ihr Mantel schützend dich umringt...« James schläft mit Mary, findet sie zwischen seinen Laken, als er sich ohne Kerze in sein Zimmer tastet. Er steigt hinter ihr ins Bett, seine Brust an ihrem Rücken. Sein Bein schmerzt wie der Teufel, aber das macht ihm keine Sorgen. Er weiß, dass er schlafen wird, als er den Duft ihrer Haut einatmet, als wäre sie einer seiner narkotischen Schwämme. Er küsst sie zur Begrüßung und auch zum Abschied auf die Schulter, denn sie wird in ihr eigenes Zimmer zurückgekehrt sein, wenn er noch schläft und lange bevor sich im Hause irgendwer rührt. 75
In der Kammer nebenan sitzt der Reverend in seinen Träumen nackt und vollkommen gesittet mit Lady Hallam beim Kartenspiel. Dido träumt von einem Mann, der ihr zärtlich das Blut aus der Armbeuge saugt. James träumt von einem Kirschbaum, so groß wie ein Haus, und wie er durch die grünen Schnipsel seiner Blätter zu dem in kirschrote Samt- und Seidengewänder gekleideten Neger hinunterschaut, der die Arme hochhält, um ihn aufzufangen.
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Dritter Teil 1 Der Winter von 1739 ist der schlimmste seit Menschengedenken: eine bittere, alles versteinernde Jahreszeit, die wie ein biblischer Fluch das Land heimsucht, schön und mörderisch. An der Ouse in York und an der zugefrorenen Themse schleppt man Druckerpressen auf das Eis, um Neuigkeiten aus der Eiswelt zu drucken, als handele es sich um ein frisch erstandenes Königreich, das jäh und auf wundersame Weise das alte überlagert. In den Kellern verstopfen Wein und Bier die Fässer; im Morgengrauen findet man Rinder starr in den Ställen; seltsame Lichter werden gesehen. Die Dunkelheit knistert. Steif wie Ornamente fallen Krähen und andere Vögel vom offenen Himmel. Quälende, bis auf die Knochen gehende Kälte rafft die Armen, die ganz Jungen, die Alten, die Kranken dahin. Säuglinge werden neben Großmüttern in Reifröcken und Veteranen von Blenheim beerdigt. Die herzförmige Schaufel des Totengräbers klingt wie eine Axt auf Eisen, und die Gräber sind so flach, dass in Dörfern im Westen von Grabräubern geredet wird, bis der Nachtwächter auf ein Rudel Hunde schießt, die auf dem Friedhof von Kenn an den Brettern eines Armensarges zerren. 77
In Blind Yeo, einem Dorf, das sich mählich von den grauen Mauern einer mittelalterlichen Priorei entfernt hat und nun, im dreizehnten Jahr der Herrschaft von König Georg II., beiderseits der Straße von Bristol nach Coverton sitzt wie zwei Reihen schlechter Zähne, zwischen denen ein Lederriemen klemmt, rührt sich wenig außer blauem Rauch, der sich von stroh- oder schiefergedeckten Dächern emporwindet, und ein paar Gestalten im Freien, die, in lange Mäntel gemummelt, über Furchen stolpern, jeder Schritt in der glasigen Luft hörbar, jeder Atemzug sichtbar. Kurz vor dem zweiten Melken senkt sich die Dämmerung herab, und Licht sickert aus den Fenstern von Bauernhäusern und Katen. Hinter dem Dorf erhebt sich inselgleich ein Festungshügel über den Mooren. Von dort aus könnte ein gegen die Kälte mit den Füßen stampfender Beobachter annehmen, der Tag sei ganz und gar aufgebraucht und das Dorf werde in die lange Nacht hineingleiten, wie eine Barkasse in schwarzes Wasser schwimmt. Doch am Flussufer zeigt sich ein Lichtschimmer, dann noch zwei, dann ein Dutzend, und zugleich hört man Stimmen, »Platz da!«-Rufe und das schabende, sausende, unverkennbare Zischen von Schlittschuhen. Die Schlittschuhläufer hängen ihre Laternen in die niedrigen Äste der Bäume. Schwarz und glänzend überwölben die Bäume den zugefrorenen Fluss. Eine 78
aus fünfzehn bis zwanzig Leuten bestehende Gesellschaft schlittert über das beleuchtete Eis. Manche treiben sich anmutig mit kurzen Stößen des hinteren Schlittschuhs vorwärts, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Körper in die Eistunnel ihrer eigenen Fahrt vorgebeugt. Andere krümmen sich, als machten sie sich darauf gefasst, einen riesigen Ball zu fangen, oder schwenken die Arme wie Frauen, die an einem windigen Morgen Laken zusammenfalten. Bestimmte Köpfe kommen regelmäßig außer Sicht. Man hört Rufe, freundlich und gutnachbarlich, »Verdammt noch mal John!« und »Halt dich fest Alice!« - und Gelächter, schrill und betrunken. Im Westen, über der Flussmündung, steht ein Mond wie eine geballte Faust. Überall im Moor, auf Bauernhöfen, wo der Mist wie Diamanten glitzert, bellen Hunde sein Strahlen an. Selbst die Beagles von Coverton Hall drücken sich, eine samtige Masse, in ihren Zwingern blind aneinander und heulen. Auch die Schlittschuhläufer werden davon ergriffen: Mitt-winter-Tollheit; verführerischer Nullpunkt des Jahres. Auf dem Eis zerklirrt eine Flasche. Eine Gestalt schleppt sich ans Ufer. »Bist du das, Joshua?« Der Angesprochene lehnt sich an den Stamm einer Erle, nickt und erbricht einen Strom warmen Apfelwein zwischen seine Knie. Eine junge Frau mit eng um die Schultern gezogenem Umhängetuch hält auf dem Eis neben ihm. Sie sagt: »Wenn du glaubst, dass ich dich nach Hause trage, irrst du dich. Nichtsnutz!« 79
Er ignoriert sie. Trotz des scheltenden Tons hat die Stimme einen Anflug von Übermut, und als eine zweite Frau vorbeihuscht und die Sprecherin am Arm fasst, lässt diese sich mitziehen. Der einzelne hohe Ton einer Fiedel bringt die Luft zum Klingen. Ein Jubelruf steigt auf, und der Fiedler, ein alter Mann mit um den Schädel gewickelter Wollbinde, stimmt ein Potpourri von Tanzweisen an, eine Musik, die ihnen so vertraut ist wie der Klang ihrer eigenen Namen - »Get Her Bo«, »Jumping John«, »Joyful Days Are Coming«. Die in der eisigen Luft schwitzenden Schlittschuhläufer tanzen, stürzen und klammern sich mit neuer Kraft aneinander. Es kommen noch mehr, die sich vom Ufer auf das Eis gleiten lassen. Keiner hat Angst, dass es brechen wird. Es ist knochenhart. Die Fiedel verstummt. Die Tänzer halten inne, ihr Atem im Aufblicken wie Gazemasken. Sternschnuppen! Über Pigs' Green, über Ladyfield; ein erstes, dann ein zweites Aufglühen. Ein Dutzend Arme recken sich, zeigen nach oben. Die Hunde, misstrauisch gegenüber der plötzlichen Stille, verstummen. Elizabeth Dyer steht in einem Klumpen von Dunkelheit zehn Ellen jenseits des Rands von Laternenlicht auf ihren Schlittschuhen am Ufer. Sie ist neunundzwanzig, Mutter von drei Kindern, Frau des Freibauern Joshua Dyer. Die Schlittschuhe, die sie trägt, besitzt sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Seit kurzem leidet sie unter unbestimmbaren Küm80
mernissen. Heute Abend zieht der Mond eine Gezeit von Blut durch sie, so stark, dass sie sich in Gefahr wähnt, emporzuschweben und über den Dächern des Dorfes zu verschwinden. Hinter ihr ist ein leiser, knirschender Schritt zu hören; sie dreht sich nicht um, um nachzusehen, wer es ist, und als eine Hand - nicht die ihres Mannes, überhaupt keine Bauernhand, sondern eine lange, leichte und weiche Hand - sich unter ihr Umhängetuch schiebt und ihre Brust drückt, blickt sie weiterhin auf, obwohl die Schnuppen verglüht sind und der Himmel seine Unbewegtheit zurückgewonnen hat. In seiner Hast verliert der Fremde das Gleichgewicht; er rutscht aus und zieht sie mit sich aufs Eis, sein Gewicht auf ihr nimmt ihr den Atem. Ein wirrer Haufen, winden sie sich am Boden, doch keiner versucht aufzustehen. Elizabeths Röcke sind hochgeschlagen. Sie weiß, dass sie die Kraft hat, sich gegen ihn zu wehren, ihn von sich abzuwerfen. Statt dessen robbt sie aufs Ufer zu, kriecht vorwärts, bis sie eine Wurzel, so kalt wie Messing, zu fassen bekommt, umklammert sie mit beiden Händen und verankert so den Fremden und sich selbst wie ein vor schwarzer Küste sich wälzendes, schwerfälliges Schiff. Er hängt an ihren Hüftknochen, stößt mehrmals zu, ehe es ihm gelingt, in sie einzudringen. Es ist in Sekunden vorbei: ein halbes Dutzend Stöße; seine Nägel, die sich in ihre Haut bohren; sein zwischen den Zähnen zischender Atem. 81
Dann entfernt er sich von ihr, und ihre Hemden, ihre Röcke und ihr Übergewand fallen wie Vorhänge. Mit tauben Knöcheln an die Baumwurzel geklammert, bleibt sie lange genug liegen, um sicher zu sein, dass er verschwunden ist. Ihr Körper zittert leicht; sie hat deutlich das Bild eines Mannes vor Augen, der zwischen Hecken aus feiner Spitze, über harte, leere Felder flieht. Sie ist von ihrer Gelassenheit verblüfft. Das Risiko war gewaltig und sinnlos. Sie kann es nicht erklären. Sie richtet sich auf, berührt die Rückseite ihres Kleides, zieht sich ihr Tuch eng um die Schultern und läuft zu den Lichtern zurück. Der Fiedler spielt wieder und tanzt dazu unbeholfen auf dem Ufer. Eine Freundin nimmt sie beim Arm, läuft einen Moment neben ihr her. »Tut dir von der Luft nicht die Haut weh, Mädchen?« »Doch, Martha, weiß Gott.« »Dein Joshua wird dich heute nacht bestimmt zufrieden lassen.« »Ja, Martha, das glaube ich auch«, und Elizabeth macht sich los und spürt im Wegfahren eine Schliere vom Samen des Mannes, schon kalt, auf der Innenseite ihres Oberschenkels.
2 Das Kind wird im September geboren, in einem von Feuer und Frauenatem heißen Zimmer. Die Frauen drängen sich um das Bett. Mrs. Llewelyn, Mrs. 82
Phillips, Mrs. Rivers, Mrs. Martha Bell. Mrs. Collins aus Yatton, Mrs. Gwyny Jones aus Failand und Joshuas Mutter, die Witwe Dyer, die sich die Nasenlöcher mit Virginia-Schnupftabak füllt und der Hebamme über die Schulter schaut. Die Hebamme schwitzt ihren Gin aus. Seit fast einem Jahr ist ihr keine Mutter mehr gestorben, aber für die hier möchte sie sich nicht verbürgen. Das Kind will nicht heraus. Es dauert jetzt schon Stunden, obwohl sie die Schädeldecke, die klitschnassen, Schlingpflanzen im Fluss gleichenden Haarsträhnchen ertasten kann. Elizabeth Dyer wird immer schwächer. Ihre Lippen sind fahl, die Haut um die Augen grau. Die Hebamme hat es oft genug erlebt, wie sie hinüberschlafen, wie das Schreien aufhört und sie das Gesicht zur Wand drehen. Noch ein, zwei Stunden, dann wird, so Gott will, Mutter oder Kind tot sein; von ihr wird dann nichts mehr verlangt. Vielleicht ist das Kind schon tot. Die neunjährige Liza Dyer steht zwischen den Wölbungen der Frauenkleider gefangen und sieht zu. Sie umschließt die Finger der einen Hand mit denen der anderen. Ihr Gesicht verrät normales Entsetzen. Die anderen bemerken es und erinnern sich ihrer eigenen Initiation an Wochen- und Totenbetten. Mrs. Gwyny Jones flüstert: »Sollte man nicht Mr. Viney holen?« »Wir brauchen hier drin keinen Mann«, sagt die Witwe Dyer. Solche Erschöpfung! Elizabeth kann sie mit nichts 83
vergleichen, findet keine Worte dafür. Ihr Bauch ist gefroren. Das Kind, ein Eiszapfen, bringt sie um. Kalter, salziger Schweiß brennt ihr in den Augen, strömt von ihrer straffen Haut und durchnässt die Matratze. Wie wird Joshua ohne sie überleben? Wer wird die Kinder so lieben wie sie? Wer wird die gute Butter machen? Wer wird die Lämmer toter Mutterschafe aufziehen oder Hemden nähen, bis Augen und Finger schmerzen? Ihr fallen keine Gebete ein, nicht ein einziges. Eine Stimme setzt ihr zu, sagt ihr, sie soll pressen, um ihr Leben pressen. Wie grausam sie sind, dass sie sie so leiden lassen! Sie schreit; ein gewaltiger Laut, der die Frauen durchrüttelt, sie ins Wanken bringt, alle bis auf die Witwe, die am stärksten verwurzelte. Liza wird zu Boden gefegt, gefällt, wie von einem Schürhaken zwischen den Augen getroffen. Mrs. Collins zieht sie hoch. Niemand schlägt vor, das Kind solle gehen. Die Hebamme ruft: »Es kommt!« »Gottlob«, sagt Gwyny Jones. Sie streicht sich über das Herz; ein Reflex der Freude. Die Hebamme holt das Kind heraus, packt seine schlüpfrigen Knöchel in ihrer Faust und hält es hoch. Es ist von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt und hängt schlaff von der Hand der Frau herab. »Lebt es?« fragt die Witwe Dyer. Die Hebamme schüttelt es; das Kind bewegt Arme und Hände, ein blinder Schwimmer, ein blinder alter Mann, der nach der Tür tastet. Es schreit nicht. Es 84
bleibt stumm. Die Frauen legen die Köpfe schräg. Stumm. Liza streckt die Hand aus. Die Hebamme schneidet mit einer riesigen rostigen Schere die Nabelschnur durch.
3 Es wird drei Tage später getauft. Joshua, die Witwe, Liza und Farmer Moody, der Pate steht, wohnen der Zeremonie bei. Elizabeth ist zu schwach, um das Bett zu verlassen. Aus ihren Brustwarzen sickert Milch, die ungetrunken bleibt. Eine Amme stillt das Kind, eine Frau mit einer Haut wie ein Hai. Obwohl Nachmittag, ist es in der Kirche so dunkel, dass sie einander kaum sehen können. Man rechnet nicht damit, dass das Kind überlebt. Davon hat die Witwe Dyer sie überzeugt. Kein gesundes Kind kann so unnormal sein, dass es in drei Tagen keinen Laut von sich gibt. Schläft, wacht auf, wird gefüttert; weint nicht, nicht ein einziges Mal. Es hat ein Dutzend seidenschwarze Löckchen auf dem Kopf. Seine Augen sind babyblau. Die Witwe Dyer sagt, es ist das beste, wenn es stirbt. Der Priester kommt spät vom Mittagessen, lässt, so diskret er kann, das Gas aus seinem Magen entweichen, nimmt das Kind, fragt Moody, ob er dem Satan und allen seinen Werken widersagt, und gibt dem Kind seinen Namen: James Dyer. Ein Vorname reicht völlig für so ein kränkliches Ding und bedeutet 85
weniger Arbeit für den Steinmetzen. Im Taufbecken ist kein Wasser. Der Priester spuckt in die Hand, macht dem Kind das Kreuz auf die Stirn, spürt, wie es sich regt, und gibt es dem Mädchen. Joshua Dyer wühlt in seinem Geldbeutel, legt dem Priester das Geld in die Hände, nickt feierlich, verlegen. Das Baby fest an Lizas Rippen gedrückt, trotten sie über die kahlen Felder nach Hause.
4 Vom Haus aus hören sie sein Pferd auf der Gasse. Liza stürzt ans Fenster. Die Witwe Dyer blickt von ihrer Flickarbeit auf, hievt ihren massigen Körper hoch und eilt zum Kamin. Inmitten des Feuers steckt ein Schürhaken. Elizabeth sagt: »Nein, lass mich, Willa«, aber die ältere Frau ignoriert sie und zieht, die Hand mit einem Stück versengten Tuchs schützend, den Schürhaken heraus. Am Kamin steht eine Schüssel Punsch bereit. Die Witwe hält die Spitze des Schürhakens in die Flüssigkeit, so dass es heftig zischt. Das Geräusch weckt den Säugling. Er hat auf einer Steppdecke im Backtrog geschlafen. Er sieht die dicke Frau am Kamin an, sieht zu, wie sie den Finger in den Punsch steckt, dann von einem Zuckerhut ein Stück abbricht und es einrührt. Die Witwe sagt: »Süßes hat er schon immer gemocht. Ist sein Essen fertig? Er wird ganz ausgehungert sein nach dem langen Tag auf dem Markt.« 86
Die älteren Kinder sind zur Vorderseite des Hauses gelaufen, um ihren Vater die Gasse entlangkommen zu sehen. Jetzt laufen sie in die Küche zurück, zur Hintertür, wo er gleich eintreten wird, wenn er das Pferd eingestallt hat. Nach einer Weile hören sie seine Schritte und stoßen einander mit dem Ellbogen, um der Tür am nächsten zu sein. Man vernimmt das Geräusch des eisernen Riegels, dann geht die Tür auf, und eine Welle von Winterluft überschwemmt die Küche. Er lässt sich einen Moment lang von den Kindern umdrängen, dann schließt er die Tür und schiebt sich ins Zimmer. Die Witwe Dyer schöpft Punsch in einen Becher, den sie ihm reicht. Sie sagt: »Komm an den Kamin, Sohn«, und bugsiert ihn darauf zu. Sie fragt ihn nicht nach dem Paket unter seinem Arm. Er stellt es mit übertriebener Vorsicht auf dem Küchentisch ab und trinkt dann so rasch, wie er es aushalten kann, den Punsch. Die anderen umstehen ihn im Halbkreis und sehen ihm zu. Er ist ein Splitter der Außenwelt. Aus den tiefen, halb gefrorenen Falten seines Mantels dringen Düfte nach Pferd, Leder, Tabak. Sogar der frostige, aufregende Geruch der Nacht selbst. Sarah, die seit der Geburt des Babys nicht mehr die Kleinste ist, stellt sich auf die Zehenspitzen und legt neugierig die Hand auf das Paket. Liza zerrt sie weg, schilt sie. Joshua lächelt das ältere Mädchen breit an. Mit neckender Stimme fragt er: »Na, möchtest du nicht mal reinschauen?« 87
»Du hast die Gänse also verkauft, Vater«, sagt Liza. Er lacht und hält ihr seinen Becher hin. »Bei dir geht's immer ums Geschäft, Liza. Füll mir mal nach. Grüß dich, Frau.« Elizabeth nickt ihm zu. Sie hat das Baby hochgenommen und in ihren Armen eingewindelt. Joshua wendet den Blick davon ab und sieht seine Mutter an. »Ich habe einen guten Preis für die Vögel bekommen.« Elizabeth fragt sich, ob Joshua auf dem Markt viel getrunken hat. Sie erinnert sich noch an den Abend vor sechs Monaten, als er auf dem Nachhauseweg vom Pferd gefallen ist und an der Seite über und über mit pflaumenblauen Blutergüssen bedeckt war. Sie weiß noch, wie er stöhnend auf dem Tisch gelegen und nicht einen Moment Ruhe gegeben hat, bis Viney mit Umschlägen und Aufgüssen kam. Dieses Jahr scheint er vernünftiger zu sein, aber das Paket - dem Aussehen nach schwer und teuer - macht ihr Sorgen. Sie weiß, was in Männern wie Joshua vorgeht. Ihr Vater war genauso; konnte ohne weiteres die ganze Nacht um den Preis für ein Mutterschaf oder einen Scheffel Äpfel feilschen, aber man brauchte ihm nur etwas Neues, etwas Neuartiges zu zeigen, und er gab sein Geld weg, als wäre er Erbe eines Herzogtums. Kein Wunder, dass die Quacksalber und Schausteller auf nichts verzichten mußten. Schöne Pferde und schöne Kleider am Leibe. Sie sagt: »Du hast also etwas gekauft. Etwas Nützliches.« 88
Aus dem Augenwinkel kann sie sehen, dass die Witwe sie böse anfunkelt. »Ja«, sagt sie, als sie ihren Mann rot werden sieht. Er wirft ihr einen halb gekränkten, halb wütenden Blick zu, der in den Anfangstagen ihrer Ehe zu Handgreiflichkeiten und darauf folgendem Gebalge in ihrem neuen Bett hätte führen können. Damals regten Elizabeths Sticheleien ihrer beider Lust an, doch Arbeit, Krankheit, Kinder, das fonwährende Ringen mit dem Wetter, mit Tieren, die anscheinend nur zu sterben verstehen, das alles hat an ihnen gezehrt, so dass sie mittlerweile nur noch anfallartig, sporadisch leben. Einen Moment lang fixieren sie sich gegenseitig, dann wendet Joshua ihr den Rücken zu, hält die Hände dicht an die Flammen. »Essen«, sagt er. Die Kinder entfernen sich leise von ihm. Er isst. Das Essen dämpft seine Wut. Als er fertig ist, wischt er sich das Fett vom Gesicht und entzündet an einer dünnen Kerze seine Pfeife. Er greift über den Tisch und zieht das Paket zu sich heran, so dass es zwischen ihm und Liza liegt. Es ist in grobes Sacktuch eingeschlagen und verströmt einen schwachen, unverkennbaren Duft nach ölgetränkter Wolle. Er durchschneidet die Schnur mit dem Messer, mit dem er auch gegessen hat, schiebt das Paket näher an Liza heran. Er sagt: »Es ist für euch alle, aber die Kleine ist vernünftiger und älter, und deswegen bewahrt sie es auf, und es bleibt ihr überlassen, wann und wie oft sie's euch zeigt.« Zu dem Jungen sagt er: »Bring die 89
Kerze her, Charlie. Da. Stell sie neben sie.« Mit dem Ernst einer Infantin, die das Geschenk eines fremdländischen Hofes prüft, faltet Liza das Sacktuch auseinander, bis sie einen polierten Holzkasten, etwa so groß wie die Familienbibel, freigelegt hat. Vorn befindet sich ein Messinghaken. Sie schaut zu ihrem Vater hinüber. Er sagt: »Mach ruhig auf, Mädchen. Von alleine geht das nicht.« Sie müht sich mit dem Haken ab, löst ihn, öffnet den Kasten, starrt den Inhalt an und blickt dann in die Runde. Alle Gesichter, ausgenommen das ihres Vaters, zeigen die gleiche erregte Verblüffung wie ihres. In dem Kasten befindet sich eine runde weiße Holzscheibe, auf die feine Drähte und Kugeln unterschiedlichen Umfangs und unterschiedlicher Farbe montiert sind; rot und blau, eine schwarz und weiß, eine golden und größer als die anderen. Auf dem Rand der weißen Scheibe stehen die Namen der Monate neben Bildern aus dem Tierkreis. An der Seite ist eine Kurbel wie die einer kleinen Kaffeemühle befestigt. Sie lässt den Finger über die goldene Kugel gleiten. Joshua sagt: »Heiß, wie?« Sein Gesicht glüht vor Vergnügen. »Gar nicht heiß«, sagt sie. »Im Sommer heiß, im Winter kalt. Den ganzen Tag sieht man sie, aber nachts ist sie fort.« Er hat sich das Rätsel auf dem Heimritt ausgedacht und ist sehr zufrieden damit. 90
»Ich sehe sie!« Einen Moment lang denkt Elizabeth nicht mehr an die wahrscheinlichen Kosten. Sie klatscht in die Hände. »Das da ist die Sonne, und das ist unsere Welt ... und das ist der Mond?« Joshua sagt: »Und das ist der Merkur und das die Venus. Venus für die Liebe und Merkur für was anderes. Dreh mal die Kurbel, Liza. Pass auf, so.« Er legt seine Hand um die des Mädchens. »Siehst du?« Zahnräder, der geheime Mechanismus des Apparats, greifen ineinander und drehen sich. Die Kugeln beginnen sich zu bewegen, jede auf ihrer eigenen Bahn, langsam und würdevoll wie Bischöfe beim Tanzen eines Menuetts. Die Kinder sind wie verhext, atmen kaum. »Das nennt man Orrery-Planetarium«, sagt Joshua, die Stimme beinahe ein Flüstern. »Orrery ist griechisch und heißt alles.« Die Witwe Dyer nickt weise; Sarah und Charlie reißen sich darum, auch dranzukommen, und im Glanz des Säuglingsauges dreht sich mählich das Spielzeuguniversum - Krebs, Löwe, Jungfrau - Monat um Monat, Jahr um Jahr. Es ist James Dyers früheste Erinnerung.
5 Die Küche ist seine erste Welt. Das nach den Eisen zuckende Feuer, in den Böden von Kupferpfannen zitterndes Licht. Ein gemütliches Schlachthaus, wo 91
Geschöpfe der Luft, des Feldes und des Flusses für die Flammen gerupft, ausgenommen und umsorgt werden. Die Magd, Jenny Scurl, ist eine Alchimistin des Fleisches, die mit Fingern, dick wie Flaschenhälse, die Leiche eines Kaninchens oder den schlaffen, formlosen Rumpf einer Gans verwandelt; sie zerrt, kratzt, schneidet, reißt mit Stumpf und Stiel Eingeweide heraus und stopft die zarten Höhlungen mit Zwiebeln, gekochten Eiern, Salbei, Petersilie, Rosmarin, gehacktem Apfel, Kastanien. Zur Unterhaltung der Kinder häutet sie Aale bei lebendigem Leibe. James lebt in den unteren Regionen, krabbelt auf dem Steinboden unterm Küchentisch, wo in den Schatten magere, namenlose, entschlossene Katzen hausen, die neben ihm sitzen und zusehen, wie Federn herabschweben und Mehl herabrieselt, Feinde, die im Krieg um Brosamen gegen ihn kämpfen und in ihm einen kühneren Gegner finden, als es seine Vorgänger waren. Unbemerkt verbringt er oft halbe Tage dort und folgt den Holzpantinen und den in Wolle stekkenden Knöcheln der Frauen unterm Meeresrand ihrer Röcke - hin und her, hin und her; niemals still. Später, nach einer Vielzahl klaglos ertragener Stürze, lernt er, die Küchenstühle zu erklettern, wo er, dessen Füße kaum bis zum Rand der Sitzfläche reichen, ohne einen Laut die Püffe und Zärtlichkeiten, die Brot- und Kuchenstücke hinnimmt, die man ihm zukommen lässt. Seine Stummheit erregt zunehmend die Aufmerksamkeit der Erwachsenenwelt. Manche 92
halten ihn für ein Mondkalb, für blödsinnig, schaukeln ihn auf ihren Knien und reden mit ihm wie mit dem Hund. Die Frauen verhätscheln ihn wegen seiner blauen Augen, wegen der komischen Ernsthaftigkeit seines starren Blicks. Wenn Liza ihn für sich selbst hat, macht sie ihm mit ihren Küssen das Gesicht klebrig. Er sitzt still auf ihrem Schoß, unnahbar wie eine Spinne oder ein Stern. Elizabeth sagt: »Er wird sich schon noch ändern. Lasst dem Kind Zeit. War nicht auch Sarah ein ziemlich zurückgebliebenes, leises Ding? Trotzdem spricht sie heute gut und nicht gerade wenig.« Sie behält James im Auge, als würden seine ersten Worte eine Denunziation sein. Sie hat dir Hörner aufgesetzt, Joshua Dyer! Wenn sie im Dorf irgendeinen Lärm hört, fürchtet sie, dass es das Charivari ist, der Hasskarneval, der unter den Fenstern der Ehebrecherinnen veranstaltet wird. Gott verzeih ihr, sie hat ein Dutzend Mal versucht, das Kind loszuwerden, und es ist nicht so, als wäre sie nicht auch schon andere vor der Zeit losgeworden. Die letzten beiden sind nicht über den vierten Monat hinausgekommen. Aber der hier war zäh und hat sich in ihrem Bauch festgeklammert. Und nun ist er mit seinen blauen Augen und seinem wie ein Jagdhorn gellenden Schweigen gekommen, um sie zu beschämen. Die alte Frau, die Witwe mit dem derben roten Gesicht und den Frettchenaugen, deren untrüglichem Gespür schier gar nichts entgeht, traut sich nicht recht, sie offen zu beschuldigen. Sie beo93
bachtet den Jungen und richtet dann einen Blick auf Elizabeth, der keiner Erklärung bedarf. In dem Maße, wie das Kind wächst, verdüstert sich ihr Gemüt. Sie spürt die Gegenwart von etwas Dunklem; ein tückischer Ausdruck im Auge eines Widders, ein Zweig, der sie ohrfeigt, eine über die Innenseite ihres Handgelenks krabbelnde Fliege. Sie erinnert sich an die Hand des Fremden, lang und leicht, und an die Verse eines Liedes, das sie als kleines Mädchen gesungen hat: »Der Teufel ist ein feiner Herr, er tanzt gar elegant...« Eines Nachmittags im dritten Lebensjahr des Knaben, als sie mit ihm allein ist und ihm zusieht, wie er sich mit jenem stillen, leeren Blick umschaut, als verstünde er alles oder gar nichts, kneift sie ihn heftig in den Oberarm, bearbeitet ihn mit den Nägeln, bis er beinahe blutet. Als er sie lediglich fragend ansieht und dann gelassen den Blick auf den schmalen wunden Rubin an seinem Arm senkt, erfüllt sie ein Grauen vor ihm, eine Übelkeit. Aber die Panik legt sich, und Wellen von Zärtlichkeit überschwemmen sie. Wie hübsch er ist! Wie unsinnig traurig, so in seinem Schweigen eingesperrt. Sie umarmt ihn und saugt an dem Mal, das sie seinem Arm beigebracht hat, aber sie bringt es nicht weg und sieht es noch lange danach, Mahnzeichen ihrer Scham, ihres Entsetzens, ihrer Liebe. Manchmal hat sie Angst, dass die Witwe mit Jo94
shua reden wird, doch sie wissen beide, dass Joshua nur das glaubt, was er glauben will, was am bequemsten zu glauben ist: dass seine Frau treu ist und ihn so liebt, wie er sie liebt. Einmal am Tag fragt er pflichtschuldig: »Wie geht's dem Jungen?«, aber er wartet weder die Antwort ab, noch schnitzt er abends Holzpuppen und Kreisel, wie er es für die anderen getan hat. Während James unter diesem Baldachin von Erwachsenenängsten stumm bleibt, erweitert sich seine Welt. Sein Geist, ein mit Feuern, Katzen und gemalten Sonnen ausgestatteter Raum, füllt sich nun mit dem Leben auf dem Bauernhof. In abgelegten Kaninchenfellhosen wird er in den Schlamm des Hofes geführt, sieht zu, wie die Hühner sich zanken und Spinnen um die Scharniere verkeilter, nicht mehr zu schließender Türen ihre Netze weben. Er lernt den Geruch von Kalk auf den Feldern kennen, sieht Hasenfährten im Schnee und hört den Dreschern zu, ihre Stimmen geisterhaft im Staub und in den Schatten der Scheune, an ihren Füßen alte Hüte, damit sie das Dachstroh nicht zerspleißen. Er lernt Tom Purely kennen, den »Erdbeermann«, so genannt wegen einer rosafarbenen Geschwulst an seinem Hals. Tom nimmt den Jungen mit, um ihm das Schwein zu zeigen, und sie finden es im Obstgarten, ein mächtiges weißes Schwein mit großen Ohren, dessen Atem nach Äpfeln, Kohl und saurer Milch von der Schlempe aus der Milchkammer riecht. Er sieht 95
zu, wie es geschlachtet wird, wie die Männer die Hände biegen und strecken und mit Strohfackeln die Borsten des Tiers absengen. Jenny Scurl nimmt ihn auf Spaziergänge in den Obstgarten mit. An der hinteren Hecke küsst sie Bob Ketch oder Dan Miller oder Dick Shutter. Bob Ketch drückt ihr die Brüste, und sie seufzt, als ob sie das traurig mache. Im Mai steckt sie sich Blumen ins Haar und auch in das des Kindes. Sein Haar ist heller, mit goldenen Lichtem im Sommer. Seine Augen, von denen jeder gehofft hat, sie würden wie die der anderen Kinder braun werden, bleiben blau. Mr. Viney, der eines Tages hereinschaut, sagt Joshua, es sei keineswegs so ungewöhnlich, ein einziges blauäugiges Kind in einer Brut, keineswegs ungewöhnlich. Sobald er alt genug ist, muss er aus dem Zimmer seiner Eltern in die Kammer nebenan ziehen. Der Raum ist klein. Zwei Wollmatratzen und zwei Holzkommoden für die Sachen der Kinder. In der Ecke befindet sich ein kleiner Kamin, und an der Wand über dem Bett des Mädchens hängt Sarahs Bild von einer Kuh, stumpf und rot vor einem stumpfen blauen Himmel. Und so ist es in seiner Kindheit morgens beim Aufwachen, beim Wachwerden, wenn die Welt draußen noch eher Nacht als Tag ist: das Klopfen und Scharren eines Hufeisens, die Jenny zugezischten Bemerkungen eines Pflügers oder Pferdeknechts, wenn sie aus 96
wenn sie aus der Milchkammer kommt, um mit dem Melken anzufangen. Später hört er seine Eltern. Die das Haus erschütternden Stiefel seines Vaters, das Flüstern seiner Mutter. Dann Kerzenlicht, das unter der Tür hindurchblinzelt, das leise Aufgehen der Tür und die älteren Kinder, Charles und Liza, die in zerknitterten Nachthemden die Beine aus dem Bett schwingen, sich ganz schnell etwas anziehen und, ohne dass ein Wort fällt, der Kerze die Treppe hinunter folgen. Später kommt Liza zurück, an den Händen den Duft von Rahm und Rauch und den kotigen Moschusgeruch der Tiere. Sie schrubbt sie - James und Sarah mit einem Lappen und mit Wasser, das sie vom Brunnen herangeschafft hat, und fährt dabei mit halb zärtlichen, halb gewalttätigen Bewegungen über die kleinen Falten in ihren Gesichtern. Damit hat der Tag begonnen. Aus Höfen und Feldern erheben sich ein Dutzend vertrauter Stimmen, die Hunde rufen, Vieh zusammentreiben, Nachbarn begrüßen. Sägen, Hämmer und Äxte beginnen ihr Werk; aus dem Taubenschlag von Coverton Hall fliegt ein Schwarm aus, und die Armen, ein Dutzend Witwen, Waisen und Männer, die zu krank zum Arbeiten sind, kriechen von Strohbetten und trotten zum Haus des Armenpflegers oder stehen gesenkten Kopfes vor dem Haus eines Nachbarn und warten auf eine Gabe warmer Milch, ein barsches Wort, einen Bissen altbackenes Brot.
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6 Zur Zeit der Regentschaft von Königin Anne hat Lady Denbeigh dem Dorf Yeo ein bescheidenes Schulhaus geschenkt. Die Lehrer sind im allgemeinen sehr jung oder sehr alt oder auf irgendeine Weise heruntergekommen. Der derzeitige Amtsinhaber, Septimus Kite, bewohnt zwei kleine Räume im hinteren Teil der Schule. Hier, zwischen einem schmalen Bett und einem schmalen Tisch, schläft er und isst er und schluckt er Laudanum. Er hat eine Assistentin, eine lahme Jungfer aus dem Dorf, Miss Lucket. Das Geld, das sie bekommt, und das Geld aus dem Verkauf ihrer Gelees verhindern vorderhand, dass sie der Gemeinde zur Last fällt. Alle Kinder der Dyers haben die Schule besucht, sofern und soweit man auf dem Hof ohne sie hat auskommen können. Als James an seinem ersten Tag hingeht, begleitet ihn Liza, obwohl Liza schon lange mit der Schule fertig ist. Sie gehen den Feldweg an der Weißdornhecke entlang, wo die Kinder im Frühling das zarte Grün kauen. Das Schulhaus, die Ziegel noch roh neben den verwitterten Grautönen der Prioreinmauern, steht am Rand des Weges. Liza stellt Mr. Kite den Jungen vor. Dieser starrt ihn von oben herab an, grunzt, sagt: »Ist das der, der nicht spricht?« »Noch nicht, Sir«, sagt Liza, »aber er versteht sehr gut.« »Setz ihn dahin«, befiehlt Mr. Kite. »Hätte ich doch 98
bloß mehr von seiner Sorte.« James sitzt auf einer Bank am Fenster. Liza steckt ihm eine blutwarme gebackene Kartoffel in die Tasche. Sie sagt: »Tu, was man dir sagt, Jem.« Er sieht sich nicht nach ihr um, als sie geht. Miss Lucket, ein Bein drei Zoll kürzer als das andere, ihr Gang ein groteskes Schaukeln, das die Kinder, wenn sie ihr den Weg entlang zur Schule folgen, hinter ihrem Rücken nachäffen, ist eine freundliche Lehrerin, mit Leib und Seele bei der Sache. Oft bleiben junge Männer und Frauen mit Säuglingen im Arm schüchtern stehen, reden mit ihr und erinnern sie an ihre Namen, obwohl Sie sie nicht vergessen hat. Von ihr lernt James, seine Buchstaben zu formen, mit Kreide auf Schiefer. Er ist, auf seine Weise, ein begabter und tüchtiger Schüler, und doch hat er etwas, was Miss Lucket Unbehagen bereitet. Sie rühmt sich, ein Kind, das zu ihr kommt, binnen einem Monat einschätzen zu können, erkennen zu können, wie es mit den anderen auskommen, wie es sich machen wird. Aber James' wahrer Charakter ist ihr sechs Monate nach seinem Eintritt noch immer so unbekannt wie an dem Morgen, an dem er zum erstenmal gekommen ist. Er ist nicht sehr beliebt, das weiß sie, aber die Kinder hänseln ihn nicht. Die älteren Jungen überlegen es sich zweimal, ehe sie sich mit ihm anlegen. Er zeigt eine Eigenständigkeit, eine Arroganz, die bei einem Jungen von sechs deplaziert sind und die sie weder bei seinem Bruder noch seinen 99
Schwestern, launischen, ungestümen, gewöhnlichen Kindern, festgestellt hat. Sie hat natürlich die Gerüchte gehört, den Klatsch, der Elizabeth Dyer seit der Geburt des Kindes anhängt. Sie fragt sich, ob der Junge unglücklich ist, und versucht, weil selbst so etwas wie eine Expertin für Unglück, ihn mit Blicken und kleinen Gesten des Mitgefühls aus sich herauszulocken, die er offenbar allesamt nicht versteht. Seine praktischen Fähigkeiten sind ausgezeichnet. Er näht ordentlicher als die Mädchen, Stiche, so klein wie Mücken. Er zeichnet gut, das heißt, er kann sehr ordentlich kopieren, zeichnet aber niemals etwas, was nicht vor ihm liegt. Und Geschichten langweilen ihn, ein Phänomen, das sie noch nie erlebt hat. Er weiß offenbar nichts damit anzufangen, so dass, wenn sie an den Nachmittagen, die wie riesige graue oder blaue Seen über dem Moor liegen, aus Gullivers Reisen vorliest oder die Geschichte von den Mondfischern oder vom kleinen Däumling erzählt, sein Gesicht als einziges unaufmerksam ist: ausdruckslos, beinahe schwachsinnig. Es gibt in der Schule einen Jungen - Peter Poundsett, ein Jahr älter als James -, den jedes Kind mit Vergnügen quält. Auf den ersten Blick unterscheidet er sich in nichts von den anderen. Er ist weder dick noch dünn; seine Züge sind regelmäßig. Er ist durchaus kräftig für sein Alter, kann so gut wie jeder andere einen Ball werfen oder einen Graben überspringen. Sein Vater ist Zimmermann, seine Mutter backt 100
ausgezeichnete Kuchen, und das Haus der Familie ist keineswegs das ärmlichste im Dorf. Aber die Kinder verballhornen seinen Namen, verdrehen ihn zu kindlichen Obszönitäten, als nähmen sie an ihm bestimmte Markierungen wahr, wie Bienen sie an bestimmten Blumen erkennen, Markierungen, die Erwachsenenaugen verborgen bleiben. Sein Mittagessen wird stibitzt und in den Fluß geschleudert. Sein Rücken mit Tierkot beworfen. Er wird beschuldigt, mit Haustieren Unzucht zu treiben, den anderen Kindern Murmeln und Pennies zu stehlen, Flüche von sich zu geben, die sie krank machen. Die ihn am erbarmungslosesten triezen, sind dieselben, die ihn am heftigsten beschuldigen. Die notorischsten Diebe beschuldigen ihn des Diebstahls, die Treter, er habe sie getreten; und die ihn in die Enge treiben und ihm die Hose ausziehen - was jeden Winter mindestens zweimal vorkommt -, beschuldigen ihn auch am ehesten genau dieser Missetat gegen sie. Sie schmeicheln sich bei Miss Lucket oder, wagemutiger, bei Mr. Kite ein, um zu erreichen, dass ihr Opfer Prügel bekommt. Oft haben sie damit Erfolg, und Peter Poundsett wird über einen Stuhl gelegt, während Mr. Kite sich mit dem Riemen an die Arbeit macht, der halben Elle erprobten Leders, die an einem Nagel neben dem Porträt Lady Denbeighs hängt. James beteiligt sich nicht an diesen Spielen, sieht ihnen allerdings, ein leichtes, fragendes Stirnrunzeln 101
im Gesicht, aus der Entfernung zu; und das fasst Miss Lucket als Beweis für ein weicheres Herz auf, genau wie Peter Poundsett, der, weil er dringend einen Verbündeten braucht, James schöne Augen macht und aus Liebe tut, was er aus Gier oder Angst niemals getan hat; er stiehlt kleine Leckerbissen und Pennies aus dem Kasten unter dem Bett seiner Eltern, Geschenke, die James einzig unter dem Gesichtspunkt annimmt oder ablehnt, ob er das jeweils Angebotene will oder nicht. Peter Poundsett bebt vor Hoffnung. Seine Peiniger ziehen sich zurück. Ein Monat vergeht. Die Kinder sehen nur zu. Ein zweiter Monat, und sie zögern immer noch. Es ist, als habe James einen Kreis um den Jungen gezogen, und obwohl die Kinder mit den Zehen gegen den Rand drücken, wagt keines, den Kreis zu betreten. Bis sie es endlich doch tun. Es ist ein Freitag in der Vormittagspause, eine Woche ehe die Schule wegen der Heuernte schließt. Kitty Gate, die Tochter des Grobschmieds, zehn Jahre alt und stämmig, wirft Peter Poundsett einen Stein gegen das Bein, als dieser beim Murmelspiel neben James an der Prioreimauer kauert. James hört das Geräusch, hört, wie Peter scharf den Atem einzieht, sieht ihn an, sieht Kitty an. Den Blick unverwandt auf James gerichtet, bückt sie sich langsam nach einem zweiten Stein. James wendet den Blick ab. Er ist mit Schussern an der Reihe. Peter flüstert: »Jem?« Dann, lauter: »Jem!« Es kommt keine Antwort. Kitty begreift, wenn schon nicht alles, so 102
doch genug. Sie stößt einen Freudenschrei aus, holt schwungvoll aus, trifft ihr Opfer direkt ins Gesicht und reißt ihm die Unterlippe auf, die sofort zu einer Blutrose erblüht, deren samtige Blätter herabfallen und auf sein Hemd klatschen. Miss Lucket hat die gesamte Szene vom Fenster des Klassenzimmers aus verfolgt. Nun kommt sie wie eine lahme Furie aus der Schulhaustür gehumpelt, der Riemen baumelt von ihrer Hand. Sie hat Angst, dass die Kinder auseinanderlaufen, ehe sie bei ihnen ist, aber Kitty ist vom Anblick von Peter Poundsetts Gesicht wie gebannt, und das erste, was sie von Miss Luckets Annäherung bemerkt, ist das Sengen des Riemens auf ihrem Rücken, so dass sie vor Schreck zu Boden stürzt. Aber Kitty ist gar nicht Miss Luckets eigentliches Ziel. Um das Gelenk ihres gesunden Beins drehend und schwenkend, eilt die Lehrerin weiter auf die Stelle an der Mauer zu, wo Peter Poundsett steht und sein Verräter ihr ruhig entgegensieht. Mehr als alles andere will sie ihm den Riemen quer übers Gesicht ziehen, etwas, was sie noch nie getan oder auch nur erwogen hat. Atemlos bleibt sie vor ihm stehen und hebt den Riemen, doch als ihre Blicke sich treffen, verraucht ihre Wut. Seine Augen, blau wie die Kornblumen in den Feldern hinter ihnen, sind ohne jede Bosheit. Was sie zuvor darin gesehen hat, war nicht Güte, es ist aber auch nicht das Gegenteil. Sie starren einander mehrere Sekunden lang an. Dann wendet sie sich von ihm ab, nimmt Peter 103
Poundsett beim Kragen und führt ihn, der wie ein unsachgemäß geschlachtetes Tier neben ihr blutet und heult, ins Schulhaus.
7 Ernte. Das Dorf rüstet sich wie ein Heer am Vorabend eines Feldzugs. Joshua Dyer stellt an Hilfskräften ein, was er sich leisten kann; neun Pence am Tag plus Kost für einen Mann, ein Penny für Jungen und Frauen. In den meisten Jahren decken die ortsansässigen Häusler seinen Bedarf, sobald sie ihren Anteil von dem eingebracht haben, was noch auf der Gemeindewiese steht. Ab und zu bringt die Straße Fremde: Soldaten, auch Seeleute, nach Dettingham, Fontenoy, Culloden verkrüppelt, desertiert oder aus der Armee verabschiedet. Während der Ernte von 1749 erleidet die Witwe Dyer, als sie Brot und Apfelwein zu den Arbeitern hinausbringt, einen Schlaganfall, und es ist James, der ausgeschickt wird, nach dem Verbleib der Mahlzeit zu forschen, und sie entdeckt, auf dem Weg liegend wie ein Haufen Wäsche. Der Anblick ist faszinierend. Er geht zweimal um sie herum, bemerkt ihre dicken Waden, ihr wirr unter der Leinenhaube hervorschauendes Haar und den großen, vom Blutandrang roten Mond ihres Gesichts. Auf ihrem Wangenknochen paradiert eine Schmeißfliege. Er wartet ab, ob sie irgend etwas tun, ob sie zum 104
Beispiel sterben wird. Ihr Mund arbeitet, formt stumme Bitten. Er trinkt aus einer der auf dem Boden liegenden Flaschen und kleckert sich dabei etwas von dem trüben Alkohol übers Kinn. Dann geht er seine Mutter holen. Es braucht acht schwer schnaufende und in ihren Stiefeln schlurfende Männer, um die Witwe zum Bauernhaus zurückzuschaffen. Sie legen sie auf das Rollbett in der Stube, schicken dann nach dem Pfarrer, der nach dem Kuraten schickt, der schwitzend vom Feld kommt, um das Sterbegebet zu sprechen. Die Familie steht um das Bett herum und wartet auf den Moment des Hinscheidens. Der Atem der Witwe gleicht dem Geräusch eines Kohlensacks, der über einen Steinboden geschleift wird, aber bis es Abend wird, hat er sich etwas beruhigt. Charlie wird nach Madderditch geschickt, um Mr. Viney zu holen. Viney kommt, seine graue Stute schimmert im Dunkeln wie Milch. Er untersucht die Witwe beim Schein einer Kerze, die Joshua seiner Mutter vors Gesicht hält. Viney lässt die Witwe zur Ader und sagt dann: »Lasst sie liegen, wo sie ist. Wenn sie die Nacht überlebt, holt ihr mich wieder. Beten ist vorläufig die beste Arznei für sie.« Er trinkt ein Glas Apfelwein mit Joshua, schwingt sich auf sein Pferd und reitet die dunkle Gasse hinauf. Joshua und Elizabeth wachen im Wohnzimmer. Elizabeth arbeitet mit ihrer Nadel. Das Haus kommt zur Ruhe, ächzt; die Witwe röchelt und schnarcht. In 105
der Morgendämmerung ist sie immer noch am Leben. Charles wird auf dem Feld gebraucht. Man schickt James, den Apotheker holen. Nach Madderditch ist es eine Stunde zu Fuß, ohne dass man sich anstrengt. Vineys Haus, in Efeu gehüllt, steht am Rand des Dorfes. Die Vordertür wird von Vineys Tante geöffnet, die immer mit der Witwe tratscht und nun das von Liza geschriebene Briefchen liest, in dem der Auftrag des Jungen erklärt wird, und ihn ins Haus führt. Sie schickt einen Bedienten nach dem Apotheker, dann beäugt sie das Kind mit einigem Interesse. Das also ist Elizabeth Dyers Bankert, ihre Schande. Es heißt, das Kind sei stumm. Der Junge gefällt ihr überhaupt nicht. Ein Bankert sollte das demütigste Geschöpf auf Gottes Erdboden sein. Der hier betrachtet sie, als sei sie die Köchin. Sie sagt: »Weißt du denn nicht, was du bist? Weißt du nicht, was deine Mutter ist? Soll ich's dir sagen, Kind? Soll ich?« Viney kommt herein; sein Gesicht - klug, besorgt, freundlich - glüht vor Hitze. Seine Tante gibt ihm das Briefchen und geht aus dem Zimmer. Er liest es durch eine Klappbrille, nickt mit dem Kopf. »Dann haben wir wohl doch einige Hoffnung, sie zu retten«, sagt er. »Sollen wir sie wieder gesund machen, Kind, wie?« Er bedeutet dem Jungen, ihm zu folgen. Sie gelangen zu einem Durchgang, dann zu einer Tür. Der Raum dahinter ist warm von der Sonne, die durch die halbgeöffneten Läden fällt. Ein geräumiges Zimmer, 106
doch unter dem Wirrwarr von Apothekerutensilien beinahe verschüttet. James schnuppert. Hier gibt es Gerüche, wie er sie noch nie erlebt hat. Bitter und metallisch, aber auch süß, als habe der Apotheker Blumen und Stockschlacke, Schießpulver und verfaulte Eier miteinander vermischt, um einen einzigartigen, strengen Duft zu schaffen. Mitten im Raum steht der Arbeitstisch, übersät mit Mörsern, Salbentöpfen, rauchgeschwärzten Messern. Es gibt ein Rollbrett zum Pillenmachen, ein Häufchen Krebsscheren, einen Menschenschädel und mehrere Bücher mit zerknitterten gelben Seiten, als hätten sie einmal im Wasser gelegen. An der Decke hängen Bündel getrockneter Pflanzen. »Nun denn, Kind«, sagt Viney, »wir werden etwas finden, damit es der Witwe besser geht. Einen Aufguss von Gurkenkraut vielleicht.« Er langt nach oben und greift eine Faustvoll blauer, sternförmiger Blüten. »Und etwas, um sie zu purgieren. Wenn das Böse sich in einem Körper zu schaffen macht, müssen wir es austreiben.« Er nimmt Sennesblätter und Ingwer. »Meine Kunst - fass das nicht an! - ist die Vermittlung zwischen Mensch und Natur. Diese Kunst ist unseren Vorvätern von Gott geschenkt worden - ja, gib mir den Topf da -, deshalb ist jede Heilkunde göttlich stell ihn aufs Feuer. Die Arroganz der heutigen Ärzte ist ihr Verderben. Ohne Demut können wir weder heilen - das ist die Lunge eines Fuchses - noch geheilt werden. So, nun zieht das Wasser das Heilsame aus 107
den Pflanzen. Du bist ein tüchtiger Assistent, James. Das werde ich auch deinem Vater sagen.« Als sie nach Blind Yeo zurückreiten, sitzt James vor dem Apotheker, die Finger in die grobe Mähne der Stute geflochten. Die Landleute sagen: »Gott befohlen, Mr. Viney«, »Wünsche einen guten Morgen, Sir!«, »Ist das nicht der kleine Dyer, der da bei Ihnen so hoch zu Roß sitzt?« Der Gang nach Madderditch, um Arznei zu holen, ist James' besondere Aufgabe. Er verbringt immer mehr Zeit in der Höhle des Apothekers, sieht zunächst bei der Herstellung von Mixturen, Salben und Mundwässern zu und hilft dann dabei. Er lernt, Pillen zu drehen, aus Eidotter eine Emulsion zu verfertigen, aus Lavendel, Klee und Ingwer Öl zuzubereiten. Viney beschäftigt sich mehr mit seinen Metallen, seinem Schmelztiegel und seinem Ofen, seinen Zahlenpyramiden. Mehr als einmal sind sie gezwungen, vor schädlichen Rauchwolken Hals über Kopf in den Garten zu flüchten, um in tiefen Zügen Luft zu holen, während die Tante ihnen zornig mit ihrem Fächer droht. Doch die Witwe erholt sich, obwohl sie nun so stumm ist wie der Junge, auf den Sommerfeldern für immer ihre Stimme verloren hat. An Weihnachten verlässt sie das Bett, den Rücken mit wunden Stellen übersät, das Gesicht bis auf die Knochen des Schädels eingesunken. Die Gänge nach Madderditch hören auf. Der Junge bleibt mehr denn je für sich, kommt und 108
geht leise. Sein Schweigen, seine stumme Gleichgültigkeit werden als Aufsässigkeit, als Unverschämtheit aufgefasst. Joshua schlägt ihn, bekommt Wutanfälle. Sogar Elizabeth behandelt ihn mit Kälte, wütend darüber, dass er soviel Aufmerksamkeit auf sich und damit auf sie und die Vergangenheit zieht. Eines Morgens sieht sie ihm zu, wie er, einem winzigen, grimmigen primitiven Krieger gleich, die Flanke des Festungshügels hinaufsteigt, und sie denkt: Wenn er doch bloß nicht aufhören würde. Wenn er doch bloß immer weiterklettern würde. Wenn das doch bloß sein Abschied wäre. Aber zugleich zerreißt ihr der Gedanke das Herz.
8 Es ist der Sommer 1750. Das Jahr der Londoner Erdbeben. Der heißeste Sommer im Leben des Jungen, heißer noch als der von 48, als die Heuschrecken kamen. Er liegt bäuchlings auf der Flanke des Hügels und sieht den Hochzeitsvorbereitungen im Obstgarten unter sich zu. Kleine Gestalten, eben noch erkennbar, schaffen emsig Sachen aus dem Haus. Er hört nicht, wie sich der Fremde durch das die Schritte dämpfende Gras nähert, bis eine Hand ihn am Genick packt und hochzieht. Der Fremde beäugt ihn; lockert seinen Griff, sagt: »Na, das ist doch mal ein hübscher Vogel für die Jagdtasche. Versteckst du dich, Kind, oder spionierst du? Bist du von hier?« 109
James windet sich los, reibt sich den Nacken, nickt. »Dann, Robin Goodfellow, bist du gedungen. Welches ist der Hof der Dyers?« James deutet den Hügel hinunter. Der Fremde kneift die Augen zusammen, fächelt sich mit seinem Hut, spuckt nach einer Biene. Eine Zeitlang scheint er zu überlegen, ob es klug ist, hinunterzusteigen. Schließlich sagt er: »Geh voran, Junge«, und sie bewegen sich im Krebsgang auf ein Knäuel Schafe zu, das im Schatten einer Ulme an dem zur Straße führenden Tor grast. Im Gehen wirft James verstohlene Blicke auf den Mann: das fromme Blau seiner Augen, die pockennarbige Haut, die Ziegenhaarperücke, die die Schultern seines Rocks mit ihrem Puder bestäubt. Der Fremde trägt Schmuckbänder an seinem Rock, dennoch fällt es schwer, ihn sich als Bekannten von Joshua oder gar von Jenny Scurl oder Bob Ketch vorzustellen. Ein Bauer ist er ganz bestimmt keiner; Hausierer scheint er auch nicht zu sein, denn er hat kein Hausiererbündel. Ein Herr aus besseren Kreisen auch nicht. Am ehesten erinnert er James an die Schauspieler, die vor zwei Sommern auf Moodys Bauernhof aufgetreten sind und denen er durch ein Astloch dabei zugesehen hat, wie sie sich im Rattendunkel von Moodys Scheune umzogen, tanzten und einander anbrüllten. Als sie die Straße erreichen, beginnt der Fremde, lauter zu reden, als ob er seiner Umgebung misstraue, aber nicht den Anschein erwecken wolle, er sei auf der Hut. 110
»...eine Hochzeit, Junge, also das ist mit das Schönste, was man sich vorstellen kann, und am wunderbarsten natürlich dann, wenn man mit keinem der Beteiligten verwandt ist. Warst du schon mal bei einer? Bei der deiner Eltern vielleicht?« James schüttelt den Kopf. »Trotzdem ist eine Beerdigung vorzuziehen. Ein Mensch mit einem anständigen Anzug kann jahrelang von wenig mehr als der Eitelkeit der Toten leben. Ich war mal bei einer in Bath. Beim Begräbnis eines notorischen Spielers, der...« Der Fremde bleibt an der Abzweigung zum Hof auf der Straße stehen. Er beugt sich hinab. Besieht sich den Jungen. »Du machst mir nicht den Eindruck, Kind, als bestehst du aus Lehm und Stroh wie die anderen Einwohner dieses Ortes. Tatsächlich erinnerst du mich an jemand. Du bist nie in Newgate gewesen? Am Fleet? Bridewell? Nein ... nun ja, das sollte auch nur ein Scherz sein. Sag, hast du Geld in der Tasche? Einen Penny vielleicht?« James schüttelt den Kopf. Der Fremde zuckt die Achseln. »Dann sind wir schon zu zweit, denn das haben wir gemein. Gehst du hier zur Schule?« Ein Nicken. »Kannst du lesen?« Ein Nicken. »Gerechter Gott, Kind, mit meinem Hut könnte ich 111
mich besser unterhalten. Sprichst du denn gar nicht...? Aha, das Geschöpf schüttelt den Kopf. Und ist das Geschöpf froh darüber, stumm zu sein...? Das weiß es nicht. Und wo wohnt das Geschöpf...? Sieh da! Es zeigt... Dahin? Dahin! Ist Dyer dein Vater?« Ehe James mit einer Kopfbewegung antworten kann, nimmt der Fremde das Gesicht des Jungen zwischen die Hände, studiert es wie ein Porträt. Seine Hände riechen nach Tabaksaft. Er lacht, eher ein Bellen als ein Lachen, und flüstert dann: »Donnerwetter ... Donnerwetter...« Von weiter vorn kommt ein plötzliches Stimmengewirr. Es ist der aus der Church Lane biegende, frisch mit gelber Farbe bepinselte Hochzeitskarren mit Jenny Scurl, Bob Ketch und einem halben Dutzend Hochzeitsgästen, die singen, krakeelen und die Flasche kreisen lassen. Der Fremde sieht den Jungen noch einen Moment lang an und eilt dann mit einer beim Gehen flappenden Schuhsohle in Richtung Obstgarten davon. James läuft ins Haus. Die Frauen schwitzen in der Küche. Er geht unbemerkt nach oben. Sarah, Liza und Charles haben sich längst umgezogen. Ihre Alltagskleider liegen verstreut auf den Betten. Nun, da sie älter sind, unterteilt ein Vorhang das Zimmer. James befingert den Wollstoff der Kleider seiner Schwestern und die Holzkämme, auf denen sich das Licht in Strähnen von Sarahs rotgoldenem Haar fängt. Sie ist 112
die Schöne. Das halbe Dorf ist in sie verliebt, ihr Name ist in die Rinde von einem Dutzend Bäumen geschnitzt, und obwohl Joshua laut von seiner Donnerbüchse und ihrer Ladung von rostigen Nägeln spricht, kommen sie auch weiterhin, Männer und Jungen, von Wollust umnebelt. Auch Liza hat Verehrer, behandelt sie jedoch so rabiat, dass die meisten sich nach leichteren Eroberungen und weicheren Herzen umsehen. In Wahrheit ist ihre Zuneigung schon vergeben und richtet sich wie die beiden Enden einer Wünschelrute zu gleichen Teilen auf ihren Vater und ihren jüngsten Bruder. James entkleidet sich, zieht eine Lederhose und ein Leinenhemd an. Er betrachtet sich im Spiegel. Er ist groß für sein Alter, feinknochig, die Haut von der Sonne leicht brüniert. So ein rätselhafter Blick; so ein stummes, wissendes Gesicht. Es gibt Momente, in denen er glaubt, dass sein Gesicht zu ihm sprechen und ihm Geheimnisse, außergewöhnliche Geheimnisse, verraten wird. Er sieht in den Spiegel, bis ihm schwindlig wird. Auf der Treppe hört er das Klappern und Stampfen von Holzsohlen, dann Jenny Scurl und seine Mutter, die lachen und einander schelten. Er geht auf den schmalen Treppenabsatz hinaus. Jenny Scurls Gesicht ist rund und fahl wie ein geschälter Apfel. Sie hat schon eine ganze Menge getrunken, und beim Anblick des Jungen scheint etwas in ihrem Herzen zu schmelzen. Sie bückt sich und gibt ihm einen dicken 113
Schmatz auf die Wange. Elizabeth sagt: »Nun geh nach draußen, Jem.« Die Hochzeitsgesellschaft im Obstgarten veranstaltet bereits einen gewaltigen Radau. Die Gäste sitzen an einem langen, mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch und tun sich an Joshua Dyers Speisen und Getränken gütlich. Eingezwängt in den Rock, den er bei seiner eigenen Hochzeit getragen hat, sitzt Joshua neben der Witwe Scurl, einer fadendünnen, nervösen Frau mit einem großen, wenig kleidsamen Hut, dessen Krempe jedes Mal die Nase des Pfarrers streift, wenn sie sich ihm zuwendet, um mit ihm zu reden. Der Pfarrer bemerkt es kaum. Er schwitzt und erzählt gerade eine Geschichte, der zuzuhören keiner Lust hat. Im Gras hinter ihm blinkt eine leere Portweinflasche. Neben dem Pfarrer sitzt, eine dichte, finstere Wolke, die Witwe Dyer. Neben ihr sitzen Bob Ketch und seine Schwester Amelda, die etwas betrachtet, was der Fremde ihr auf dem Handteller zeigt, und zu dem, was er sagt, mit dem erhitzten hübschen Kopf nickt. Unter dem Tisch ist ein Hund, schwarz, mit dickem Hals, der von Fuß zu Fuß nach Nahrung stöbert. Es sieht so aus, als ob die Ernte erneut gut würde. Joshua, der seine Rolle als Ersatz für Jennys auf dem Meer gebliebenen Vater ungemein genießt, hat dafür gesorgt, dass die Tafel reich gedeckt ist. Als er James sieht, ruft er ihn zu sich und zieht ihn in einem peinlichen Moment auf seinen Schoß. Die Braut 114
wankt an ihren Platz, auf dem Gesicht ein breites Grinsen. Die Witwe Scurl zeigt ihr Zahnfleisch, reißt ein Stück weißes Fleisch vom Huhn ab und steckt es dem Jungen zwischen die Lippen. Er behält es dort, auf der Zunge, bis Joshua nach dem Messer greift, um das Fleisch aufzuschneiden. Dann rutscht er dem Bauern vom Schoß, schleicht sich hinter die ersten Bäume und spuckt das Fleisch ins Gras. Er spaziert zwischen den Gassen aus Obstbäumen hin und her, kommt schließlich zu einem alten Kirschbaum, dem größten Baum im Garten, umschreitet, während er sich die Jacke auszieht, den Stamm, bis er eine Verwachsung in der Rinde findet, die ihm als Halt dienen kann. Er klettert los und beschmiert sich die Hemdbrust mit Flechten, als er sich nach dem niedrigsten Ast streckt, dann die Beine hochschwingt und den Körper dreht, bis er wie eine dösende Katze auf dem Ast liegt. Er setzt sich auf, sieht in erreichbarer Nähe einen weiteren Ast und erkennt, wie er vom einen zum anderen klettern kann, als ersteige er eine Wendeltreppe. Vögel, die von den Kirschen stibitzen, schießen wie kleine Explosionen davon, wenn er auf sie zuklettert. Ab und zu hält er im heißen Schatten inne, um von den Früchten zu essen, und spuckt die Steine aus, die dann von den Ästen unter ihm abprallen. Während er ihnen nachschaut, sieht er, wie sich am Fuß des Baums eine schwarze Gestalt bewegt. Das Tier entdeckt ihn im selben Moment, hebt die Schnauze und blickt sehnsüchtig zu ihm auf. James 115
klettert weiter, nun aber vorsichtiger, da er spürt, wie die Zweige sich unter ihm biegen. Das Laubwerk wird dünner, dann, in einem Gewirr aus zartem Holz, stößt sein Kopf plötzlich, als wäre er aus einem Jadeei geschlüpft, zum Himmel durch, und James atmet die würzige Luft und kneift zum Schutz gegen die Sonne die Augen zu. Er dreht sich behutsam im Kreis herum, orientiert sich. Der Festungshügel, Moodys Hof, der Kirchturm, das Moor. Immer im Kreis herum, bis er den weiß leuchtenden Tisch sieht, wo die meisten Gäste noch immer essen, obwohl sich eine kleine Gruppe um Amelda Ketch geschart hat, deren Halstuch geöffnet ist und die von Elizabeth Luft zugefächelt bekommt. Joshua und der Pfarrer stoßen mit ihren Krügen an, brüllen Trinksprüche auf die Tories. Sarah und Charles necken den Hund, laufen zwischen den Bäumen hindurch, während das Tier in großen Sätzen entschlossen hinter ihnen herspringt. Eine Stimme fordert einen Tanz, und der Alte, derselbe, der während der großen Kälte am Fluß gespielt hat, krumm wie eine Wurzel, entlockt seiner Fiedel einen langen, zitternden Ton. Der Bräutigam, die Braut in seinen Armen heiser, führt die Tänzer an. Bald drehen sich alle im Kreis, neigen sich, hüpfen, wirbeln herum. Sogar die Witwe Scurl, die sich wie ein auf rätselhafte Weise angetriebenes Sofa über das Gras bewegt. Die Musik endet, und die atemlosen Tänzer klat116
schen sich Beifall und bereiten sich auf den nächsten Tanz vor, als Liza, die mit der Hand die Augen beschattet, mit dem Finger zeigt und Elizabeth ruft, die Joshua ruft, der Mühe hat, etwas zu sehen, und, als er endlich sieht, brüllt: »Runter da, James. Bist du von Sinnen, Junge!« James, der sich ungeheuer hoch und fern vorkommt, fällt es schwer, zu glauben, dass sie auf ihn zeigen und dazu winken, heftige Abwärtsbewegungen mit den Händen, als wollten sie die Luft behauen. Er klettert höher, in das V zweier zerbrechlicher Zweige. Das Winken wird nachdrücklicher. Joshua brüllt wie eine ferne Kanone. James lehnt sich weit hinaus. Das Gebrüll verstummt. Selbst ihre Hände erstarren vor ihren Gesichtern. Ihm ist, als falle es ihm, wenn er einen Schritt nach vorn machte, nicht schwer, zu fliegen. Er streckt die Arme aus, blickt in die Fernen des Nachmittags. Sein Gewicht passiert eine Linie, fein wie ein Menschenhaar, und dann fliegt er, fliegt erstaunlich schnell in den grünen Himmel, und dann nichts, nichts als die schwache und verblassende Erinnerung an den Flug und der Eisengeschmack von Blut im Mund.
9 »Wie geht's dir, Jem?« Die ganze Gesellschaft hat sich in das kleine, vom Flur abgehende Zimmer gedrängt, in dem die Witwe 117
Dyer während ihrer Krankheit gelegen hat. Der Raum riecht immer noch nach ihr und den Arzneien, die James von Madderditch gebracht hat. Groß wie eine Wolke, beugt sich Amos Gate über den verletzten Jungen und betrachtet stirnrunzelnd dessen Bein. Der Fuß hängt schlaff herab wie ein lose sitzender Strumpf, man könnte ihn mit bloßen Händen abziehen. Amos dreht sich um, wendet sich an die Versammelten: »Wer hier nichts zu suchen hat, verschwindet jetzt am besten. Das hier ist kein Hundekampf.« Beim Hinausgehen sehen sie sich mit der leicht verschreckten Miene von Menschen um, die zu schnell nüchtern geworden sind. Joshua, Elizabeth, Amos und der Fremde bleiben zurück. »Marley Gummer«, sagt der Fremde, »zu Ihren Diensten, Ma'am. Ich habe eine gewisse Erfahrung mit chirurgischen Verfahren.« Amos legt Joshua eine Hand auf die Schulter. »Geh jetzt mit deiner Frau raus. Ich arbeite schneller und sauberer, wenn bloß Mr. Gumly hier dabei ist.« »Gummer, Sir. Marley Gummer.« Joshua sieht seine Frau an. Sie sitzt auf der Bettkante. Sie starrt dem Jungen mehrere Sekunden lang ins Gesicht, dann küsst sie ihn auf die Stirn. »Wie tapfer er ist«, sagt sie. »Siehst du, wie tapfer er ist?« Als Joshua und Elizabeth gegangen sind, ziehen die beiden Männer ihre Röcke aus, so dass Amos in seinem letzten guten Hemd und Gummer in einer 118
schönen, wenn auch verblichenen Weste in Meeresfarben dasteht. Über das Bett hinweg halten sie eine hastige Beratung ab. Der Schmied mahnt den Jungen mehrmals, ruhig zu liegen. Gummer bemerkt, dass der Junge die Aufforderung befolgt, und zwar anscheinend ganz ohne Mühe. Amos untersucht mit derben Fingern den Bruch. Er hat zu seiner Zeit vielleicht zwanzig gebrochene Glieder eingerichtet. Ein derart vollständiger Bruch ist ihm noch nie untergekommen. Je länger er zögert, desto weniger Hoffnung besteht, das Bein zu retten. Vielleicht ist es schon zu spät. »Dumme Sache, auf Bäume zu klettern, wie, Jem?« »Die Torheit«, sagt Gummer, »liegt wohl eher im Herunterfallen als im Hinaufklettern.« »Aber wer nicht hinaufklettert... Verdammt, mir wäre wohler zumute, wenn er ein bisschen schreien würde. Es ist nicht natürlich, dass er einfach nur daliegt.« »Er spricht überhaupt nicht?« »Nein.« »Trotzdem scheint er zu verstehen. James Dyer, begreifst du, dass du dir das Bein gebrochen hast?« James senkt den Blick, sieht zuerst sein Bein und dann Gummer an. Er nickt. Gummer hält dem Blick des Jungen stand und sieht dann den Schmied an. Gate sagt: »Wir fangen wohl besser an.« Gummer hält eine Hand hoch. »Einen Moment noch, Sir. Allmählich werde ich neugierig. James, 119
spürst du da etwas? Eine Art Feuer?« Gummer klopft kräftig gegen den geschwollenen Fuß. Die Miene des Jungen ist nachdenklich, als ob er auf das Geräusch horche, mit dem ein Stein auf dem Grund eines Brunnens aufschlägt. Er schüttelt den Kopf. Die Männer wechseln verblüffte Blicke. Gummer springt vom Bett auf, sieht sich rasch im Zimmer um und nimmt von dem Tisch am Fenster eine Kerze und eine Zunderbüchse. Er entzündet die Kerze und tritt damit ans Bett. »Mach die Augen zu, Junge, und gib mir die Hand.« Sein Ton hat etwas Onkelhaftes, das den Jungen zum erstenmal misstrauisch macht. Nach kurzem Zögern schließt James die Augen. Er spürt, wie Gummer mit festem Griff seine Hand nimmt; dann eine Empfindung, als ob Gummer ihm mit einer Feder über die Fingerspitzen streiche. Er riecht etwas, verbranntes Fleisch. Der Schmied sagt: »Das reicht jetzt, Gumly.« Als James die Augen aufmacht, zieht sich eine rote, rauchgeschwärzte Strieme über seine Fingerspitzen. Gummer bläst die Kerze aus. »Hochinteressant, Mr. Gate, nicht wahr?« Amos kratzt sich mit den Fingern die Stoppeln in seinem Nacken. »Sie glauben, der Sturz hat seine Sinne zerstört?« »Das Eigenartige in diesem Fall, Sir, ist nicht so sehr, dass er keinen Schmerz spürt, sondern dass er gar nicht damit rechnet. Was halten Sie davon, Sir?« 120
»Unglaublich.« »Nicht ganz, Gott sei Dank, nicht ganz. Das wahrhaft Unglaubliche ist wertlos, und ich zweifle nicht, dass sich das hier besser verkaufen ließe als die Kaninchenfrau von Godalming - natürlich nur, wenn man es richtig anpackt. Der richtige Mann müsste sich der Sache annehmen...« »Welcher Sache?« »Aber ich bitte Sie, mein lieber Mr. Gate, Sie wirken ja ganz verwirrt. Sehen Sie das denn nicht? Wenn meine Vermutung zutrifft, dann haben wir es hier mit einer Merkwürdigkeit der subtilsten Art zu tun. Wie, Junge? Eine Abweichung von der Natur. Eine echte rara avis. Eine...« - er senkt die Stimme -, »...eine Goldgrube.« Er lacht, wirft mit einer merkwürdig ruckenden Bewegung den Kopf zurück. »Meine Güte, was hat der heutige Tag an Überraschungen gebracht. Das Leben, Mr. Gate. Finden Sie es nicht auch opulent?« Das Gesicht des Schmieds ist ernst; es ist das Gesicht, das er aufsetzt, wenn er Hufeisen geradebiegt. »Josh Dyers Sohn ist nicht zu verkaufen und wird es auch nie sein. Soviel kann ich Ihnen sagen, Mister. Und wir haben ein gebrochenes Bein einzurichten. Also los. Halten Sie ihn fest.« Amos stellt sich ans Ende des Bettes und ergreift den Fuß des Jungen. Gummer zuckt die Achseln und nimmt seine Perücke ab, unter der unregelmäßig gestutztes Haar zum Vorschein kommt. »Wie Sie 121
wünschen, Mr. Gate. Obwohl ich kaum glaube, dass wir uns die Mühe machen müssen, ihn zu bändigen.« Er umschlingt das Kind mit den Armen. »Dann ziehen Sie mal! Ha!« Zwei Wochen lang liegt James auf dem Rollbett und sieht den Gezeiten des Lichts auf den gekalkten Wänden zu. Bienen, Fliegen, Schmetterlinge kommen neugierig zum offenen Fenster herein. Sein Bein ist mit zwei Brettern geschient, die vom Bau des Kuhstalls übrig waren. Irgendwann haben die Hühner die Bretter verkotet, so wie sie alles verkoten. James kratzt an der harten, schwarzweißen Substanz und schnickt sie auf Ziele an der gegenüberliegenden Wand. Drei Tage lang hat er Fieber, dann lässt es nach. In der Erinnerung, in Träumen und Wachphantasien ist der Sturz die Achse, um die er sich langsam dreht. Zweimal, als man ihn abends mit der Kerze allein lässt, wiederholt er Marley Gummers Experiment. Einmal tut er es in Lizas Gegenwart. Sie reißt ihm entsetzt die Hand weg. So sammelt er die Beweise. Sein Bein heilt mit einer für alle außer ihm selbst verblüffenden Geschwindigkeit. Viney schaut herein, untersucht den Jungen eine halbe Stunde lang, sagt, er habe dergleichen noch nie gesehen. Miss Lucket kommt mit einem Korb Erdbeeren aus ihrem Garten. Elizabeth bringt ihm sein Essen, sieht ihm beim Essen zu, mustert ihn, als wollte sie ihn ertappen. Eines 122
Morgens kommt die Witwe Dyer hereingestapft, taucht den Finger in das Wasser seines Nachttopfs, schnüffelt daran, sieht James finster an. Gummer kommt nicht. Er wünscht, Gummer käme. Seine häufigste Besucherin ist Liza. Sie bringt kurze Artikel mit, die sie aus den Lokalzeitungen abgeschrieben hat. Am Fußende des Bettes sitzend, liest Sie sie ihm vor und gibt sich dabei alle Mühe, den plaudernden oder sensationslüsternen Ton zu treffen, dem Kommen und Gehen von Schiffen und Lords Leben einzuhauchen. Die Rinderpest ist wieder ausgebrochen; auf Phillips Green hat man mit vorgehaltener Pistole einen Quäker ausgeraubt; eine alte Frau, die eine Kerze bei den Vorhängen hat stehen lassen, ist verbrannt. Ihre Gnaden, der Herzog und die Herzogin von St. Albans, sind im Hot Well in Bristol eingetroffen. Man zeigt den Tod des Iren John Falls an, der sich zu Lebzeiten dadurch auszeichnete, dass er einmal zwei Liter Whisky auf einen Sitz trank und hinterher dennoch imstande war, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie spürt, dass er ihr zuhört und durch diese Ritzen von Information auf die Außenwelt hinauslugt. Wenn sie nichts mehr vorzulesen hat, schwatzt sie, erzählt ihm, wen sie im Laufe des Tages gesehen und wer was zu wem gesagt hat. Sie stellt ihm Fragen und beantwortet sie selbst. Das ist eine im Laufe der Jahre entwickelte Form, die Art und Weise, wie man mit James spricht. Sie findet das geruhsam, und die 123
Familie erwartet schon lange nicht mehr, dass er spricht. Als er ihr daher eines Abends - sie sitzt am Fußende des Bettes und massiert sein Bein - Antwort gibt, sieht sie sich um nach der Tür, um festzustellen, wer hereingekommen ist. Er hat nur »ja« oder »nein« gesagt, hinterher kann sich keiner mehr an sein erstes Wort erinnern, aber es genügt. Sein Schweigen ist wie eine riesige Glasscheibe zersplittert. Binnen einer Minute ist alles um sein Bett versammelt. Liza sagt: »Fragt ihn etwas!« Niemandem fällt eine Frage ein. Elizabeth sagt: »Was macht dein Bein heute, mein Sohn?« Er gibt eine ganze Weile keine Antwort. Dann sagt er: »Ich möchte jetzt schlafen.« Joshua nimmt den Hut ab, schüttelt voller Staunen den Kopf. Es ist wie die Aufhebung eines Fluchs. Er lächelt seine Frau breit an. »Sachen gibt's!« sagt er. »Sachen gibt's!« Eine Brise zieht durchs Zimmer. Liza tritt ans Fenster, schnuppert. »Sieht nach Regen aus«, sagt sie mit tränenerstickter Stimme. Sie schließt das Fenster, zieht den Vorhang zu.
10 Vier Tage nach der Hochzeit entdeckt Amelda Ketch abends einen roten Ausschlag an ihrer Stirn, der bis zum anderen Morgen fast ihren ganzen Körper 124
bedeckt. Mr. Viney wird gerufen, stellt vorläufig die Diagnose Masern. Sechs Stunden später wird er abermals gerufen, von Silas Ketch, der wie rasend gegen die Haustür hämmert. Als Viney das Mädchen ein zweites Mal untersucht und sieht, wie sich die Pickel zu dicht gruppierten Quaddeln formiert haben, mahnt er die Angehörigen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Auf dem Heimweg macht er auf einer Anhöhe halt und schaut auf das stille Land hinaus, wo sich der Tod über die Felder stiehlt. Er betet im Sattel, reitet nach Hause, geht, weil er weiß, dass er auf Wochen hinaus an dem einen oder anderen Krankenbett sein wird, geradewegs zu Bett und schläft. Am folgenden Tag sieht er, dass sich die Papeln bereits zu wässrigen Blasen umgebildet haben, die Ameldas Gesicht binnen kurzem so sehr entstellen werden, dass es nicht mehr als das ihre erkennbar sein wird. Er tut, was er kann, um ihr Beistand zu leisten, sowohl gegen die körperlichen Schmerzen als auch gegen den tödlichen Schrecken, der sie ergriffen hat, aber er kann wenig tun, und er weiß, dass sie das spürt. Er befiehlt der Familie, die Kohlen hoch aufzuhäufen und der Patientin soviel Wasser zu geben, wie sie will, dazu etwas Wein, um sie zu kräftigen. Noch wichtiger ist, dass sie nur von den Bedienten und Familienangehörigen gepflegt werden darf, die bereits selbst die Pocken gehabt haben. Kinder dürfen sie nicht besuchen. Sämtliche Spiegel sollten aus ihrem Zimmer entfernt werden. Ja, er hat 125
schon schlimmer Erkrankte durchkommen sehen. Es ist unverzeihlich, die Hoffnung zu verlieren. Am selben Abend bilden sich die Pusteln, um Mitternacht phantasiert sie, und zwei Tage später, eine Stunde vor Sonnenaufgang, stirbt sie zur entsetzensstarren Erleichterung derer, die bei ihr wachen. Viney ist nicht da, als das Mädchen stirbt. Er hat bereits fünf neue Fälle, drei davon Kinder. Sie bilden gleichsam das Anmachholz; er kann nur mutmaßen, wie sehr das Feuer wüten, wie sehr es sich ausbreiten wird. Er reitet von einer betroffenen Familie zur anderen, nimmt seine Mahlzeiten im Sattel oder im Stehen in der Küche ein, während eine schluchzende Frau eine Scheibe vom Braten abschneidet. Wäre er ein herzloser Mensch, hätte es ihn vielleicht belustigt, wie seine Ohnmacht sie zu noch größerem Vertrauen in ihn anspornt, als reiche schon seine Gestalt auf der grauen Stute aus, die Katastrophe abzuwehren. Er ist einsamer als je zuvor in seinem Leben. Der erste Todesfall. Die Neuigkeit hat sich binnen Stunden überall herumgesprochen. Elizabeth erfährt es von Dan Millers Frau Ruth, die hat es von Biddy Bidewell, die es wiederum von jemand anders erfahren hat. Die Dyer-Kinder sitzen um den Tisch in der Küche, alle außer James, der noch in der kleinen Stube liegt. Sie sagt nichts zu ihnen, aber ihr Gesicht verrät sie. Liza wirft ihr einen besorgten, fragenden Blick zu. »Wer war denn da an der Tür, Mutter?« »Bloß Ruth Miller mit einem Haufen Klatsch.« Sie 126
weiß, dass sie es bald genug erfahren werden. Von der Familie haben nur Joshua und die Witwe schon die Blattern gehabt. Elizabeth geht mit einem Korb in die Milchkammer, füllt ihn mit Käse, Butter und Rahm, um ihn am anderen Morgen zur Familie Ketch zu bringen, und begibt sich dann nach oben in ihr Zimmer. Als Joshua kommt, setzen sich die beiden Hand in Hand auf den Rand des alten Fensterbettes, wortlos und bleich, und bis auf ihr Ein- und Ausatmen gibt es kaum ein Geräusch auf der Welt. Als sie von Ameldas Tod hören, weinen Sarah und Liza eine Stunde lang; dann sind Arbeiten in der Milchkammer zu verrichten, die Hühner zu füttern, ein Hemd zu stopfen. Sie fühlen sich nicht sonderlich bedroht; sie sind voller Kraft und Jugend, und obwohl sie die Pockennarben in den Gesichtern von Älteren kennen, haben sie die Krankheit nie am Werk gesehen. Das Leben geht weiter. In Coverton werden ein halbes Dutzend Fälle gemeldet. Es heißt, eines von Lady Denbeighs Küchenmädchen stehe auf der Kippe. Elizabeth klammert sich an jeden Strohhalm und sagt sich, dass die Seuche sich nicht so schnell wie befürchtet ausbreitet, dass es nicht viele Todesfälle gegeben hat. Vielleicht handelt es sich um eine milde Form der Krankheit, und Amelda ist eher ihrer Konstitution als dem Leiden zum Opfer gefallen. Außerdem sind keine unmittelbaren Nachbarn betrof127
fen. Am schlimmsten scheint es in Richtung Kenn und zum Meer hin zu sein. Ein, zwei Tage lässt sie in ihrer Wachsamkeit nach. Dann, als habe die Krankheit auf einen Moment der Unaufmerksamkeit gelauert, kommt sie. Sarah klagt über hartnäckige Kopfschmerzen. Ihre Glieder schmerzen. Sie fühlt sich fiebrig. Als die Flecken auftreten, findet sich Elizabeth damit ab, zu retten, was zu retten ist. Auf Sarah folgt Liza. Dann Charles. Sie pflegt sie ohne Tränen oder Seufzer. Sie stemmt sich gegen die Macht der Krankheit, versucht dem Angriff unter unermüdlicher Aufbietung ihrer Liebe zu widerstehen. James bleibt von Ansteckung frei. Sie hält ihn von sich und von den anderen Kindern fern. Das Haus teilt sich in zwei Lager. Elizabeth, Sarah, Liza und Charles. Joshua, die Witwe und James. Aus dem einen Lager kommen seltsame, jämmerliche Schreie, Fieberluft. Aus dem anderen angespanntes, ohnmächtiges Schweigen. Elizabeth schafft ihr Bettzeug ins Zimmer der Kinder und wohnt dort mit ihnen, flößt, von einem zum anderen gehend, Honigwasser ein, wechselt schweißgetränkte Kleider, murmelt Gebete. Sie fühlt sich merkwürdig ruhig, wie in der Nacht auf dem zugefrorenen Fluss, doch nun ist das Eis dünn und brüchig, und die Stimmen ihrer Kinder, die zwischen den geschwollenen Schleimhäuten ihrer Münder hervordringen, sind das Geräusch des dunklen, kalt strömenden Flusses darunter. 128
Unter der Voraussetzung, dass er hinterher nicht zu James geht, besucht Joshua das Krankenzimmer, steht gleich einem Planeten ohne Einfluss vor seinen Kindern und berührt sie mit hoffnungsloser Zärtlichkeit. Die Veränderung Sarahs, deren Schönheit ihn mit so großem, stillem Stolz erfüllt hat, nimmt ihn am schwersten mit. Die Krankheit hat ihr Gesicht in eine Maske aus bläulichen Blasen verwandelt, so dass er beinahe froh ist, als sie stirbt, obwohl er sich in ihrer Todesstunde vorkommt wie in einen Mantel von Wahnsinn gehüllt. Viney kommt und hilft das Mädchen aufbahren und in das Leichentuch hüllen. Er erkennt an Elizabeth einen zähen, gehärteten Willen. Er weiß, dass sie sich mindestens so lange halten wird wie der Sturm. Joshua überzeugt er, sich an seine Arbeit zu halten, erzählt ihm von anderen, ebenfalls trauernden Familien. Joshua hört ihn kaum. Beim Hinausgehen spricht Viney durch die Tür des Wohnzimmers hindurch mit seinem früheren Assistenten. »Deine Schwester Sarah ist bei Gott, Jem, aber deine Mutter ist eine gute Pflegerin. Ich habe große Hoffnungen, dass die anderen wieder gesund werden.« Die Stimme des Jungen dringt gedämpft durch das Holz: »Werde ich auch sterben?« Die Frage klingt gelassen, keineswegs verzweifelt. »Wir müssen alle eines Tages sterben, Jem.« »Aber werde ich jetzt sterben? Wie Sarah?« »Das glaube ich nicht, Kind.« 129
»Ich auch nicht«, sagt die Stimme. Am nächsten Morgen kommt ein Karren, die Räder mit Sackleinen umwickelt. Joshua geht mit, um seiner Tochter das letzte Geleit zu geben. Elizabeth bleibt bei Liza und Charlie. Im Fieberwahn trudeln und beben ihre Stimmen in der Luft. Charlie stirbt am Tag nach der Beerdigung seiner Schwester. Das letzte, was er tut, ist nach oben greifen, wie um einen Apfel zu pflücken. Liza hat die eine Hand bei ihrer Mutter, die andere beim Tod. Im Flur ist die Uhr nicht aufgezogen worden. Die Zeiger stehen auf halb vier. In der Küche brennt kein Feuer. Selbst die Katzen sind verschwunden. James wird zum Deuter von Geräuschen, erkennt das Gemurmel Peggs, des Leichenbestatters, Vineys und des Pfarrers. Manchmal kommt ein Nachbar, dessen Freundlichkeit seine Vorsicht überwindet. Oft hört er Joshua, das Pfeifen in dessen Brust, die plötzlichen, donnernden Flüche. Die Witwe Dyer bringt James das Essen, ein frugales, kaltes Mahl, doch er ißt es mit großem Appetit, leckt den Teller sauber. Er wartet darauf, dass Liza wie die anderen heruntergetragen wird, aber die Pusteln in ihrem Gesicht trocknen und vernarben. Elizabeth hält dem Mädchen die Hände fest, damit es nicht an den Narben kratzt. Am Morgen des zwölften Tages setzt sich Liza im Bett auf und ruft mit matter Stimme nach ihrer 130
Mutter. Elizabeth, die Sarahs Kleider immer wieder neu zusammenlegt, sieht das blinde Starren des Mädchens, die verklebten Augen, und geht zu ihr, umarmt sie, presst dem Mädchen den letzten Rest ihrer Kraft in die Rippen. Eines ist gerettet worden, ein gewaltiger Sieg, und sie bemerkt mit so etwas wie Gleichgültigkeit die roten Male, die sich auf ihren Händen gebildet haben.
11 Kitty Gate ist die letzte, die sich ansteckt; ein Junge namens Slight der letzte, der stirbt. Die Dörfler begraben ihre Toten, und der Friedhof ist schwärig von frisch ausgehobener Erde. Der Steinmetz hat einen neuen Lehrling. Manche finden Trost in der Kirche, manche in der Flasche. Viney stallt sein Pferd ein, schläft am Tage und wacht in der Nacht, trinkt dabei Brandy und spricht murmelnd mit denen, die an ihm vorbei in die Ewigkeit gerannt sind; an ihm vorbeigerannt wie Kinder bei einem Spiel, leichtfüßig, ohne Mühe seinen ungeschickten Händen ausweichend. Es gibt viele, hauptsächlich Junge, deren Gesichter die Spuren der Krankheit zeigen. Wenn sie einander im Dorf begegnen, nicken sie vorsichtig und blicken sich um, wie auf der Suche nach ihrem früheren Leben. Aber die alten Rhythmen setzen sich wieder durch. Das erste Lachen, die ersten vergesslichen 131
Kinder, die auf einer Steinplatte ihren Kreisel treiben; die ersten Liebespaare, die auf den Pfaden gehen, auf denen schon ihre Mütter und Großmütter gegangen sind. Die Frucht ist reif und muss eingebracht werden. In diesem Jahr gibt es weniger Arme, weniger flinke Hände. Durch den Mangel sind die anderen wie erschlagen, zu müde zum Nachdenken, zu erschöpft zum Trauern. Äpfel kosten sieben Shilling sechs Pence den Scheffel; der Winter wird ihre Trauerzeit nicht abwarten. So treibt die Zeit, das schiere Gewicht der Tage, sie an wie Wasser ein Mühlrad. Der Bauer Dyer, seine blinde Tochter und sein lahmer Sohn werden bemitleidet. In der Aristokratie des Leidens ist der Bauer Dyer ein Herr. Kein großer Herr, aber doch so bedeutend, dass man ihn meidet, mit ernster Stimme von ihm spricht. Er scheint den Verstand zu verlieren, zu verwildern. Die Gevatterin Kelly, die auf der Straße nach Madderditch der Gevatterin Coles begegnet, meint, Dyer werde noch vor Ostern der Gemeinde zur Last fallen. Ihr Gegenüber erwidert mit einem Kopfschütteln, Josh Dyer werde schon vorher unter der Erde liegen und das seien schlechte Aussichten für die Kinder und seine alte Mutter. Wer nähme sie denn jetzt noch auf, und sei es nur als Bediente? Unausgesprochen schwebt ein Wort zwischen ihnen. Armenhaus. Der Hof, einst das unverwandt strahlende Auge des 132
Anwesens, verkommt, wächst zu, wird unbrauchbar. Das Schwein wird verkauft, die Schafe ebenso, und im Obstgarten sprießt das Gras. Christian Vogue, der Gutsverwalter der Denbeighs, kommt geritten und spricht vom Sattel aus mit Joshua. Als Liza fragt, was Vogue gewollt habe, gibt Joshua keine Antwort, starrt sie an, schämt sich zu sehr, um etwas zu sagen. James nimmt er gar nicht mehr wahr. Wenn er betrunken ist, ruft der Bauer nach Liza, damit sie ihm vorsingt; Wiegenlieder. In Nächten, in denen er in ihrer Stimme keinen Trost findet, torkelt er auf den Hof und wütet gegen den Himmel, bis die Erschöpfung ihn wieder ins Haus treibt. An Neujahr kommt Joshua in die Stube, wo James seit seinem Sturz schläft. Er weckt den Jungen, schüttelt ihn, zerrt ihn aus dem Bett. Er sagt: »Ich habe sie gesehen! In der Scheune! Sie ist jetzt ein Engel, Charlie.« Einen Umhang um die Schultern, steht Liza an der Hintertür. Sie greift nach dem Arm ihres Bruders. Die drei überqueren den reifbedeckten Hof, an Joshuas Hand baumelt eine Laterne. Sie betreten die Scheune. An den Wänden hängen Geräte und duftendes Sackleinen; Getreidesaat knirscht unter ihren Füßen. Joshua hält die Laterne hoch. »Da!« Liza sagt: »Was ist da, Jem?« Sie zupft ihn am Ärmel. James starrt angestrengt nach vorn zu der Stelle, wo 133
das Licht der Schwärze am hinteren Ende der Scheune beizukommen sucht. Dort bewegt sich etwas, weiß und schwach leuchtend. Erst nach mehreren Sekunden kann er es erkennen, das sanft geschwungene S des Halses, den schlanken Kopf, in dem wie ein Diamant das Auge sitzt. »Es ist ein Schwan«, sagt Jem. »Ein Schwan? Vater, Jem sagt, es ist ein Schwan.« »Gottlob«, sagt der Bauer. »Sie ist zurückgekommen.« Der Vogel bleibt mehrere Nächte und verschwindet dann, von Joshuas häufigen Besuchen gestört, ebenso plötzlich, wie er gekommen ist. Joshua scheint das nicht zu bekümmern. Seine Verwandlung, die seltsame, vom Auftauchen des Vogels ausgelöste Umkehrung seines Verfalls, setzt sich fort. Er trinkt nicht mehr, er rasiert sich und trägt seine Sonntagskleidung. Häufig sitzt er allein in seinem Zimmer, im Gebet oder in stiller Einkehr. Am Hof hat er kein Interesse. Seine Gedanken sind auf Höheres gerichtet, und wenn Liza ihn sanft schilt, lächelt er sie an, streicht ihr übers Gesicht und sagt: »Bald, mein Mädchen. Sehr bald.« James weiß, dass bald niemals heißt. Er ist neugierig, ein wenig gespannt darauf, wie alles enden wird. Er vermutet, dass Joshua eines Tages verschwinden wird, ohne Ankündigung und ohne einen Hinweis darauf, wohin er gegangen ist. 134
Es ist Frühling und Tauwetter, als der Tag schließlich kommt. Auf den Böschungen am Straßenrand wachsen Veilchen, und die ersten Zitronenfalter flattern über die Hecken. Joshua ist seit dem Vorabend nicht mehr gesehen worden. Bei Einbruch der Dunkelheit schickt Liza, vom Rufen heiser, James nach Tom Purley. Tom kommt mit James zurück. Die Witwe hat schon rote Augen, hält stumme Totenklage. Tom nimmt eine Laterne und macht sich zu einem Rundgang über das Anwesen auf. James begleitet ihn, aber Tom ist weniger freundlich als früher. Er steht nicht allein mit seiner Meinung, dass der Junge irgendwie die Wurzel allen Unglücks der Familie ist. Sie müssen nicht lange suchen. Joshua ist in der Scheune, ganz hinten, wo noch Federn von dem Schwan liegen. Zunächst sehen sie ihn nicht, dann aber fängt sich das Licht in den Nagelköpfen seiner Stiefelsohlen. Er liegt in seinem dunklen Anzug mit dem Gesicht nach unten, das Messer fest von seiner rechten Hand umklammert. Es ist Blut zu sehen, eine schwarze Lache, die seinen Kopf umrahmt. Tom schiebt sich näher heran; das Licht in seiner Hand zittert. Er greift nach unten, packt Joshua an der Schulter und dreht ihn langsam auf den Rücken. Der Mund über der durchgeschnittenen Kehle scheint noch immer zu lächeln, und die Augen starren nach oben, als habe Joshua Dyer in seinem Todeskampf etwas Wunderbares in der Luft über sich schweben sehen. Tom läuft schreiend aus der Scheune. James 135
bleibt noch einen Moment im Dunkeln stehen, stupst die Leiche mit dem Fuß an, wie um sich zu vergewissern, dass der Bauer wirklich tot ist, dreht sich um, tastet sich auf den Hof hinaus, hält inne, wirft einen letzten Blick auf das darin herrschende, sternenerleuchtete Durcheinander und holt dann aus seinem Zimmer die Winterjacke des toten Charlie. In der Dämmerung befindet er sich, ein Bündel unter den Arm geklemmt, stetigen Schrittes auf der Straße nach Bristol. In Blind Yeo, in einem Totenhaus, schreit ein Mädchen unentwegt seinen Namen. Niemand kommt.
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Vierter Teil 1 »Der Schmerz, Freunde, ist ein Ding des Teufels. Er ist seine Berührung, seine Liebkosung. Seine tückische Umarmung! Wer von den Anwesenden hat nicht schon erlebt, wie ein Mensch qualvoll schrie und seinen Gott verfluchte... Oder eine Frau im Kindbett mit ihrem Stöhnen und Kreischen den Ohren des ungeborenen Kindes weh tat... Die liebende Mutter verwandelt sich in ein Ungeheuer. Der Schmerz trennt das Kind von ihren Gebeten, den guten Menschen von seiner Güte. Der Schmerz ist die Hölle auf Erden! Er schleudert uns in die Feuerlohe, während wir noch leben... Und Doktoren! Wir wissen, wieviel sie vermögen! Wir wissen, wie ihre Fürsorge unsere Leiden zuweilen noch verdoppelt. Und dann rauben sie uns aus, wenn wir zu schwach, zu sehr von Sinnen sind, um sie die Treppe vor unserem Haus hinunterzuwerfen. Der Tod ist sanfte Erlösung. Und nun denkt, so bitte ich euch, an unser schlimmstes Leiden, denkt an einen Tag, eine Nacht, da ein rasender Schmerz in Zahn oder Eingeweiden, Schädel oder Bein ... eine Verbrennung, ein Sturz vom Pferd oder eine der tausend verderblichen Krankheiten, die uns von innen zerreißen. Besinnt euch darauf, wie jeder einzelne von euch in seiner Pein mit Freuden in die 137
Haut des Elendesten im ganzen Reiche geschlüpft wäre, nur um eine Minute, ach was, eine halbe Minute lang Linderung zu finden. Ja, ich sage euch: Der Schmerz wird euch wieder heimsuchen, und zwar schlimmer, als ihr es je erlebt habt, zehnmal schlimmer. Ihr seid die Kerze; euer Leiden ist die Flamme. Sie nährt sich von euch! Was gäbe einer in diesem Moment nicht dafür, wenn er ein wohlfeiles Heilmittel zur Hand hätte, das er selbst anwenden kann? Überlegt einmal, Freunde. Überlegt, was ihr für eine solche Wohltat nicht alles geben würdet...« Gummer hält inne, um die Worte wirken zu lassen. Er ist heute gut bei Stimme, und es haben sich nicht wenige eingefunden, um ihm zuzuhören, annähernd fünfzig vielleicht, die sich in der abgestandenen, grasigen, schnapsgeschwängerten Luft zusammendrängen. James, der die Rede schon zigmal gehört hat, verdreht den Hals, um die Leute, vor denen er gleich auftreten wird, besser zu sehen. Bauern in warmem schwarzem Tuch, die wie Vieh dampfen; Lehrlinge in kräftiger Baumwolle, begierig auf jede Ablenkung, auf alles, was man im Gedächtnis horten und wovon man in der Ödnis der Woche zehren kann. Marktweiber in Leinenhauben und -kleidern, die aufgesprungene Hand so mancher im Griff eines einheimischen Beaus mit Lederweste. Mindestens zwei Gesichter kennt James von anderen Jahrmärkten; berufsmäßige Schausteller. Der eine geht auf dem Hochseil, der 138
andere verkauft Amulette zum Schutz vor Schusswunden, vor dem Tripper oder vor Zahnweh. Sie werden ihn natürlich auch erkennen, aber es wird keinen Ärger geben. Die Schausteller bilden eine inoffizielle Zunft. Eine neue Attraktion ist eher von Vorteil als eine Bedrohung. Mehr Schaulustige, mehr Erregung. Die Börsen sitzen lockerer. Die Frau neben James versetzt ihm einen unauffälligen Rippenstoß. Er bedeutet: »Sitz still. Mach nicht auf dich aufmerksam.« Die Frau heißt Grace Boylan, eine frühere Prostituierte, wenngleich noch immer für die verfügbar, die einen üppigeren, mütterlichen Typ von Hure bevorzugen. Gummer sagt, sie hat ein gutes Gesicht, das heißt ein Gesicht, das fast nichts von ihrem wahren Charakter verrät. Auch überzieht sie ihre Rolle nicht allzu sehr wie die Dirne, deren sie sich in Devizes bedienten und die wie eine DorfThisbe mit den Armen fuchtelte und heulte. Das Publikum lachte sie aus, und die Vorstellung misslang auf gefährliche Weise. Grace benimmt sich; sie ist glaubwürdig. Und vor allem, sie ist sonderbar unauffällig. Gummer zieht ein Taschentuch aus seinem Ärmel und wischt sich die Stirn. Er trägt einen gediegenen schwarzen Rock, halb Pfarrer, halb Arzt. Der Schweiß ist durchaus echt; ebenso wie die Hitze, die Ausdünstungen und das mit offenem Mund zu ihm aufglotzende, hundertäugige Geschöpf. Das Täuschungsmanöver erfordert großen Körpereinsatz; es ist die 139
mühsame, aber vornehme Seite des Marktes. Etwas, worauf man stolz sein kann, und Gummer ist stolz. Schon als kleiner Balg in irgendeinem unsäglichen Viertel einer englischen Stadt war es sein einziger Ehrgeiz, Marley Gummer zu werden, und aufgrund nie erlahmender Anstrengung und eines unfehlbaren Auges für die Schwäche anderer hat er dieses Ziel schließlich erreicht. Im Geiste durchschreitet er Felder von Goldzeug. Nur dann und wann, in mürrischer Stimmung an dunklen, unfreundlichen Tagen, blickt er sich nach den jungen Wölfen um, die hinter ihm näher kommen; blickt sich um und schaudert. »Freunde! Ich bin ein christlicher Gentleman. Als solcher trete ich heute unter euch. Ich strebe nicht nach persönlichem Gewinn« - er wartet auf die Hohnschreie; es kommen ein halbes Dutzend; er schließt die Augen wie einer, der solche Ungerechtigkeit schon lange gewöhnt ist -, »ich strebe nicht nach persönlichem Gewinn, sondern verlange nur das, was mir die Fortsetzung meines Kreuzzuges ermöglicht. Denn wenn der Schmerz ein Ding des Teufels ist, dann heißt gegen den Schmerz kämpfen mit Engeln kämpfen!« Hinter Gummer steht eine eisenbeschlagene Kiste. Er klappt sie auf und entnimmt ihr eine Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit. Bis zum Ende seines Vortrags hält er sich die Flasche mit beiden Händen vor das Herz. »In meiner Jugend war ich mit einem Mädchen von 140
unendlichem Liebreiz verlobt. Einem Mädchen von solcher Schönheit und Tugend...« Eine Stimme ruft: »Entweder oder. Beides zusammen gibt's nicht!« »...von solch christlicher Tugend, dass ich dergleichen nie wieder zu Gesicht bekommen werde. Sie war nur ein kurzes Jahr lang meine Braut und wurde dann von einer Krankheit befallen, welche die hervorragendsten Köpfe vor ein Rätsel stellte. Der Anblick ihres Leidens« - er schluckt; von einigen Frauen kommen mitfühlende Seufzer - »brachte mich an den Rand des Wahnsinns. Ich betete darum, ihren Platz einnehmen und sterben zu dürfen, damit sie lebte. Es hat nicht sollen sein.« Seine Augen werden feucht; eine dicke Träne schlängelt sich über seine Wange. Einen Moment lang scheint es, als könne er nicht weitersprechen. Er stöhnt. »Warum, so fragte ich, blieb ich verschont? Wozu? Ohne meine Braut gab es kein Glück auf der Welt. Und dann wurde mir in einem Traum bedeutet, dass ich, Marley Gummer, zu dem Werkzeug erkoren worden war, durch welches die Last menschlichen Leidens erleichtert werden könnte. Schwere Aufgabe! Jahrelang durchforschte ich die Gelehrsamkeit der alten Welt. Ich verschlang ganze Bibliotheken. Ich studierte Galen. Ich korrespondierte mit dem großen Boerhaave. Alles ohne Erfolg. Ich war, ich gestehe es, kurz davor, meine Suche aufzugeben, als mich in der großen Bibliothek von Alexandria ein dort ansässiger 141
Gelehrter, ein Mann von altem Schlag, zu einem mit dem Staub von Jahrhunderten überzogenen Folianten führte und sagte -« »In welcher Zunge hat er sich denn geäußert?« Der Zwischenrufer besitzt eine beunruhigend kultivierte Stimme. Gummers Gesicht verrät ein flüchtiges Unbehagen, eine momentane Einbuße an Selbstsicherheit. Er kann nicht sehen, wer da gerufen hat. Er schickt seine Antwort in die ungefähre Richtung. »Er hat, Sir, mit seiner eigenen Zunge gesprochen, und ich mit meiner. Wir hatten jeder nur jeweils eine. ›Das da‹, sprach der Alte, ›ist, was du suchst.‹ Ich schlug den Folianten auf und begann zu lesen, jawohl, und las immer noch, als der Hahn krähte und die Sonne am Himmel aufstieg. Dieses Buch, Freunde, wurde von dem nämlichen Arzt verfasst, der den Bogenschützen Philoktet vom Biss der Schlange heilte -« »Heilt es auch Warzen?« »Wieviel kostet' s denn?« »Gemach, gemach. Auf jenen Seiten entdeckte ich das Rezept, das ich euch - mit bestimmten Veränderungen, um es für Christenmenschen genießbar zu machen - heute Nachmittag vorstelle.« Gummer hält die Flasche hoch wie einen Abendmahlskelch. »Dennoch möchte ich nicht, dass ihr mein Wort zum Pfände dafür nehmt. Ja, ich verbiete euch, auch nur eine Flasche zu kaufen, bis ihre Wirksamkeit über allen Zweifel hinaus erwiesen ist.« 142
»Wie wollen Sie das denn anstellen?« Grace bearbeitet abermals James' Rippen. Diesmal bedeutet es: Mach dich bereit. »Ich gedenke, vor euren Augen, hier auf diesem Podium« - ein Dutzend Teekisten, mit einer schmutzigen Leinwandplane abgedeckt - »auf die denkbar klarste Weise die Wunderkraft der Droge zu demonstrieren. Ich habe keine Atteste bei mir, obwohl ich die Straße von hier bis Schottland damit pflastern könnte, wenn ich wollte. Ich ziehe das Zeugnis eurer Augen vor. Thomas war schließlich kein geringerer Heiliger, nur weil er seine Finger in die Male unseres Erlösers legen wollte.« »Sie lästern, Sir!« Wieder diese Stimme. Gummer sagt: »Das steht im Evangelium, mein Bester, falls Sie es nachlesen möchten.« Er stellt die Flasche auf einen kleinen Tisch, auf dem außerdem ein Kerzenstummel und irgendein Gerät, in dem sich das Licht fängt, stehen. »Im Streben nach dem verum« - seine Stimme dröhnt - »wird es natürlich erforderlich sein, Schmerz zuzufügen, ehe ich ihn lindern kann. Das Leiden wird nicht von langer Dauer sein, doch je schärfer die Klauen, desto angenehmer die darauf folgende Linderung. Wer von euch möchte hier heraufkommen? Wer möchte für seine Mitmenschen ein wenig Blut opfern? Das Risiko, das versichere ich euch, ist so gut wie unerheblich.« Er nimmt das Gerät in die Hand. Es handelt sich um 143
eine erkennbar spitz zugeschliffene Stahlnadel. »Wer fasst sich ein Herz...« Er sucht sich die unwahrscheinlichsten Kandidaten aus, sammelt ihre Ablehnungen, ihr hastiges »Ich nicht, bei Gott«. Sein Blick heftet sich auf James, dann auf Grace. »Madam, sind Sie die Mutter dieses prächtigen Knaben?« »Ja, Sir. Der einzige Mensch, den er noch hat, seit sein Vater in den Franzosenkriegen gefallen ist.« Beifälliges und interessiertes Gemurmel. »Er hat sein Leben für sein Vaterland gegeben«, sagt Gummer. »Edel. Und könnte der Knabe, Madam, einen Tropfen vom Kriegerblut seines Vaters für etwas geben, was größer ist als jede Nation? Ich spreche, Madam, von der Wahrheit!« »Mein Billy! Niemals! Wo er doch eine Haut wie Seide hat. Er braucht sich nur das Knie aufzuschürfen, und schon wird er weiß wie ein Hühnerei.« »Ein empfindliches Kind?« »O ja, sehr, Sir, mit Verlaub.« »Aber sehen Sie denn nicht, dass er dann genau die Person ist, die ich brauche? Madam, wenn Sie ihn mir überlassen« - vereinzelte »Laß ihn!«-Rufe -, »dann, das verspreche ich Ihnen, wird es Ihr größter Stolz sein, dass Ihr Billy diesen« - eine weit ausholende Armbewegung - »aufrechten Menschen das Licht der Aufklärung, das Leuchtfeuer der Hoffnung, den Balsam der Erleichterung gebracht hat. Kommen Sie, Madam, das Leiden wird nur einen Augenblick 144
währen. Einen Lidschlag lang. Zum Gedenken an seinen Vater.« James sagt: »Lass mich gehen, Mutter. Lass mich tapfer sein wie mein Vater.« Gummer hat die Erfahrung gemacht, dass man in diesen Dingen gar nicht deutlich genug werden kann. Er streckt den Arm über die Köpfe der Menge aus, leidenschaftlich erregt wie ein Methodist. »Her mit dem Jungen! Gebt ihn mir.« James wird nach vorn gereicht. Ein ortsansässiger Schlachter, unter den Nägeln getrocknetes schwarzes Blut, hebt den Jungen auf das Podium. »Brav«, sagt Gummer, »recht so. Das ist ein großer Tag für dich, Billy. Ein großer Tag.« James wendet sich der Menge zu. Niemals hat er auch nur einen Moment lang Lampenfieber verspürt. Gummers Hand liegt auf seiner Schulter. James blickt auf die törichten, offenen Gesichter hinab. Im hinteren Teil der Bude, beim Einlass, erblickt er eine große Perücke, die Hälfte eines Gesichts, ein kluges Auge, einen Kragen und eine Schulter von gutem Tuch. Einen Moment lang hält das Auge ihn fest, prüft ihn, dann dreht Gummer ihn zur Seite, und die Vorstellung beginnt. Gummer bittet den Schlachter auf das Podium, damit er den Jungen festhält. Der Schlachter grinst, erfreut, befangen. Gummer hält die Stahlnadel hoch, damit das Publikum sie bewundern kann. Er fordert den Schlachter auf, ihre Spitze zu berühren. Der 145
Schlachter tippt die Spitze mit dem Finger an. Ein Blutstropfen erscheint. Der Schlachter betrachtet stirnrunzelnd seinen Finger, grinst dann erneut und hält ihn für das Publikum hoch. Gummer ergreift James' Finger und dreht die Hand, so dass die Innenseite nach oben zeigt. Als ringe er mit einem zarten Gewissen, hält er die Nadel mehrere Sekunden lang über der gespannten Haut des Handtellers in Schwebe. Dann sticht er zu, und die Nadelspitze macht eine winzige, nicht tiefe Wunde. James schreit und wird in den Armen des Schlachters ohnmächtig. Das Publikum fängt an, aufgeregt zu plappern. Gummer wedelt mit den Armen, um es zum Schweigen zu bringen. Er legt die Nadel auf den Tisch und entzündet die Kerze. Man schwenkt Riechsalz unter der Nase des Jungen hin und her. Er kommt zu sich. Der Schlachter tätschelt ihm wie ein besorgter Onkel die Schulter, dann schlingt er, auf Gummers Geheiß, die Arme um ihn. Diesmal packt Gummer den Jungen am Handgelenk und fährt rasch mit der Flamme über die zarte Haut. James windet sich im Griff des Schlachters; er schreit, heult, fleht; er lacht. Er wird abermals ohnmächtig; er wird wiederbelebt. Die Kerze wird auf den Tisch zurückgestellt. Nun wird die Flasche mit der Arznei entkorkt und dem Jungen an die Lippen gehalten. James trinkt sowenig wie möglich. Er kennt den Geschmack zur Genüge; Essig, Laudanum, Honig. Die Flasche wird verschlossen. Das Publikum lässt sich keine Bewe146
gung entgehen. Nach nur wenigen Sekunden scheint der Knabe wieder zu Kräften zu kommen. Erneut greift Gummer nach der Nadel. Der Schlachter schickt sich an, den Jungen zu packen, doch Gummer schüttelt den Kopf. Wieder schwebt die Nadelspitze über dem Handteller des Jungen, dann treibt Gummer sie langsam, ganz langsam durch das Fleisch, bis auf James' Handrücken ein halber Zoll Stahl sichtbar wird. Der Schlachter sperrt den Mund auf. Es ist ein Moment, den Gummer über alles liebt. Keine Seele unter den Anwesenden, die er nun nicht in seiner Gewalt hätte. Er zieht die Nadel heraus, wischt sie an einem weißen Tuch ab und hält das Tuch hoch wie das Laken eines Brautbetts. Er holt die Kerze und verbrennt dem Jungen die Haut. Das Kind seufzt nicht einmal. Noch ehe Gummer die Flamme gelöscht hat, schreien die ersten Stimmen nach dem Trank. James springt vom Podium und begibt sich wieder zu Grace Boylan. Einige Zuschauer berühren ihn wie einen Glücksbringer. Gummer kommt zum Geschäft, verhandelt mit mehreren Kunden gleichzeitig - Geld von diesem, Wechselgeld für jenen, Bestellungen von einem dritten, lächelnde Ermutigung für einen vierten. Es dauert eine Stunde. Leute, die die Vorstellung versäumt haben, aber einen stetigen Strom von Menschen mit Flaschen in den Händen aus der Bude kommen sehen, gehen hinein, um auch zu kaufen. Etwas derart Beliebtes muss gut sein. Bei den letzten 147
zwanzig Flaschen verdoppelt Gummer den Preis. Das ist gewagt, aber niemand beschwert sich. Die letzte Flasche wird von einem Gentleman mit grünen Augen gekauft. James und Grace haben den Jahrmarkt verlassen. Sie sitzen unter einem Baum und essen Brot und kalten Speck. Es ist nicht gut, wenn man zu oft gesehen wird. Bei Einbruch der Nacht kehren sie zu der Bude zurück. Die Eingangsklappen sind zusammengeschnürt, bis auf eine Öffnung am Boden, durch die James und die Frau auf Händen und Knien in die Stille der Bude kriechen. Ein Diener, Adam Later, schläft unter einem Sack. Gummer sitzt auf den Kisten. Zu seiner Rechten brennt die Kerze und wirft wässrige Schatten auf die Leinwand. Neben der Kerze liegt, mit gespanntem Hahn, eine verzierte langläufige Pistole. »Aha!« Schon ein wenig betrunken, strahlt er die beiden an. »Der Wechselbalg und die Dirne! Komm her, Junge. Hol dir deinen Lohn ab.« James nähert sich. Der Schlag schleudert ihn rücklings auf den zertrampelten Boden. »Lass dir das eine Lehre sein«, sagt Gummer, »deine Belustigung für dich zu behalten. Gelächter, bei Gott! Es war schwer genug, dir das Schreien beizubringen.« James steht auf, wischt sich das Gras von der Jacke. Gummer schüttelt den Kopf. »Ach, es ist im Grunde 148
sinnlos, ihn zu schlagen. Was für eine Missgeburt! Was für ein hochgefährliches Kind. Komm her, ich schlage dich nicht noch einmal.« Er legt James eine Hand auf die Schulter. Ein paar Sekunden lang sehen sie sich in die Augen. »Schlaf«, sagt Gummer. »Mistress Boylan und ich trinken noch die Flasche aus.« Er zieht eine Uhr aus seiner Tasche. »Ihr beide macht euch zwei Stunden vor Sonnenaufgang auf den Weg. Wir treffen uns in Lavington.« »Aber zuerst begleichen wir die Rechnung«, sagt Grace. Gummer nickt. »Du sollst Gold bekommen, liebe Grace. Gold und Silber.« »Ich auch?« James steht unmittelbar außerhalb des ersten Lichtrings der Kerze. »Der Junge ist mir nicht geheuer«, sagt Grace und greift nach der Flasche. Gummer zuckt die Achseln. »Du brauchst ihn ja nicht zu lieben. Er könnte dich schließlich genauso wenig lieben, wie das hier dich lieben kann.« Er tippt den Lauf der Pistole an. »Ja«, sagt Grace. »Gott bewahre, dass er je erwachsen wird.«
2 Eine Stunde lang liegt James unter seinem Rock wach und lauscht ihrem Stimmengemurmel. Gestalten kommen an der Bude vorbei, manche singen mit betrunkener Stimme Liedfetzen, manche streiten; ein 149
Hund fängt zu bellen an. Wie vertraut ihm diese Geräusche des Menschenwaldes geworden sind. Anfangs haben sie ihn vom Schlafen abgehalten, und er hat gelauscht und jeden Schrei taxiert. Er ist auf der Hut gewesen und hat sich, obwohl niemals ängstlich, fluchtbereit gehalten. Dass Gummer ihn beschützen könnte, ist ihm nicht in den Sinn gekommen. Er hatte Gummer in Bristol gefunden, in einem Haus in der Denmark Street, dicht beim Gewühl der Docks. Ihn zu finden war nicht schwer; er brauchte sich lediglich bei denen zu erkundigen, die Gummer am ähnlichsten sahen. So ist er auf einer Fährte von Bauernfängern, Schaustellern und Zuhältern vor die Tür des Hauses gelangt. Eine Frau mittleren Alters hat ihn eingelassen und an eine jüngere Frau weitergereicht, die ihn in eine Kammer führte, einen kahlen Raum mit auf dem Feldbett und dem Boden verstreuten Kleidern, einem Tisch mit den Überresten einer Mahlzeit, einem Glas mit einem Sprung am Stiel. Gummer kniete vor einer Wand, anscheinend im Gebet. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür drehte er sich um. Er schien nicht überrascht davon, den Jungen zu sehen. Er sah ihn und wieder die Wand an und winkte den Jungen dann zu sich. In der Wand war ein kleines Astloch. Gummer rückte zur Seite. James legte das Auge an das Loch, spürte den kühlen Luftzug daran. Das Zimmer, in das er schaute, war größer als das von Gummer, und es gab darin Bilder an den Wänden und ein Himmelbett mit einer Katze 150
und einem Nachttopf darunter. Auf den Dielen ein alter Mann, nackt, auf Händen und Knien, geritten von einer Frau, die seinen schlaffen Hintern mit einer Reitgerte schlug und sich von dem Alten durchs Zimmer tragen ließ, obwohl sein Atem pfiff und ihm der Schweiß über die Flanken lief. Jedesmal wenn sie ihn schlug, zuckte das Gesicht des Mannes vor Lust. Die Frau blickte zu dem Loch in der Wand hin, streckte die Zunge heraus, grinste. »Die Abarten«, flüsterte Gummer, »menschlicher Lust.« In den ersten Wochen ihres neuen Bündnisses begleitete James ihn durch die ganze Stadt: ein Rattengehege aus Schenken, Badehäusern, Spielhöllen, Hahnenkampfplätzen. Männer beäugten den Jungen scharf, taxierten ihn wie das Pferd, das Glück eines anderen. Die Frauen, von seinem hübschen Gesicht verführt, näherten sich ihm mit vorsichtiger, matter Freundlichkeit. Ende Juni, sie saßen in dem Zimmer in der Denmark Street, das Sonnenlicht breitete sich als orangefarbene Flagge über die schwarzen Dielen, und eine Fliege klopfte träge gegen das Rautenmuster des Fensters, deutete Gummer an, wie er - nein, sie beide, ihr Glück machen könnten. Er hatte sich bereits mehrfach überzeugt, dass das, was er in der Stube in Blind Yeo miterlebt hatte, kein Zufall war. Nadeln, Kerzen und Ohrfeigen hatten ebensowenig Reaktio151
nen hervorgerufen, wie wenn er den Tisch misshandelt hätte. Um ganz sicherzugehen, hatte er sich von einem Baumeister ein Werkzeug geliehen und James einen Zahn gezogen. Das Ergebnis war so überzeugend, so überwältigend, dass er sich gebückt und den Jungen umarmt hatte, das Hemd vom Blut des Kindes verschmiert. Der Junge war leidensunfähig! Der Junge hatte noch nie im Leben gelitten! Mehr noch, jede Wunde, die er empfing, heilte mit solcher Geschwindigkeit, dass man beinahe daneben sitzen und zusehen konnte, wie das Fleisch sich zusammenzog, sich verband, weiß wurde, verschmolz. Eine Verbrennung war, schon drei Tage nachdem man sie ihm zugefügt hatte, nicht mehr zu sehen, und obwohl die Hände des Kindes ein Dutzend Mal durchstochen worden waren, war die Haut glatt und unversehrt. Der Plan war einfach. Wenn sie ihn kühn ausführten, würden sie in einem Sommer mehr verdienen, als Gummer in zehn Jahren mühsamen Schwindeins und Beutelschneidens ergattert hatte. Natürlich war das Ganze mit gewissen Risiken verbunden. Die Leute waren nicht gerade erbaut, wenn sie betrogen und zum Narren gehalten wurden. Die größte Gefahr lag darin, dass James wiedererkannt wurde. Um das zu vermeiden, würden sie auf Jahrmärkten auftreten, die in einer gewissen Entfernung voneinander lagen, und sich rasch von einem Landesteil zum anderen bewegen. Entscheidend war jedoch, dass der Knabe überzeugte. Er mußte lernen, das Leiden zu imitieren, er mußte 152
das Leiden und wie es sich auswirkte, studieren. Er mußte es studieren wie eine fremde Sprache, und dafür brauchte er einen Lehrer. Gummer hatte auch schon einen Mann im Auge und spürte ihn in einem Wirtshaus bei Christmas Steps auf, wo Cato Leigh, heruntergekommener Schauspieler, die Beine von der Wassersucht geschwollen, das Gesicht ein Dutzend rot aufeinandergeklatschter Gesichter, inmitten der krummen Rücken, des unsinnigen Lärms und des muffigen Gestanks das gewohnte Inferno seiner Nächte erlebte. Er deklamierte gerade für den Preis eines Getränks Verse aus dem Faustus, als er aus dem Winkel eines großen Auges und durch das Prisma einer Träne die hagere Gestalt von Marley Gummer - ein Jagdhund auf den Hinterläufen - sah, mit dem zusammen er sich im Jahre siebzehnsoundsoviel, im Zuge eines ausgeklügelten Plans zur Übervorteilung eines Kartells von Sherryhändlern, als spanischer Grande ausgegeben hatte. Und neben Gummer einen Jungen mit Augen wie blaue Sterne. »Dieser Bursche, James«, sagte Gummer, als sie Leigh mit dem Versprechen starker Getränke in die Denmark Street gelockt hatten, »wird dein Lehrer sein.« Leigh blickte auf den Jungen hinab. In Gegenwart von Kindern fühlte er sich unwohl. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass er selbst einmal eines gewesen war. Er sagte: »Und was, bitte, Mr. Gummer, 153
soll ich dem Jungen beibringen?« »Sie sollen ihm beibringen, wie man leidet.« »Das, Sir« - Leigh schwenkte seinen Arm durch die Luft -, »wird das Leben rasch genug besorgen.« »Aber Sie sollen es ihm noch rascher beibringen, Mr. Leigh. Fangen Sie noch heute nacht an. Er muss wissen, wie man schreit, wie man sich krümmt, die üblichen Schrecken eben. Er muss gut sein. Er muss überzeugen. Sie haben eine Woche Zeit.« »Was für ein Kind haben Sie denn da entdeckt?« »Eines, das ich auf dem Land herbeigezaubert habe, Mr. Leigh. Ein allerliebstes, kaltblütiges Ungeheuer von einem Jungen. Also, womit wollen Sie anfangen?« Zunächst verstand James nicht, was man von ihm verlangte. Die Fratzen des Mannes waren ihm völlig rätselhaft, doch Leigh blieb hartnäckig, und der Junge begriff. Die Kupplerin, die das Haus führte, beklagte sich bald darüber, dass er ihr die Kundschaft vertrieb. Ein Constable schlug mit der Eisenspitze seiner Stange gegen die Tür und musste von Zimmer zu Zimmer geführt werden, ehe er glauben mochte, dass er es weder mit Mord noch mit Hexerei zu tun hatte. Von alltäglichen Nöten gingen sie zur Nachahmung spektakulärerer Unglücksfälle über; zu den von Giften hervorgerufenen Verrenkungen und sämtlichen denkbaren Verletzungen durch Dolch, Pistole und Degen. Am Ende der Woche prüfte Gummer den Jungen, ließ sich zeigen, wie er stürzte und sich das 154
Knie hielt, nach einer Ohrfeige erschrocken aufheulte oder nach einer Verbrühung brüllend herumhüpfte. Die ersten Versuche gerieten zu übertrieben oder zu schwach. Zuschauer waren verwirrt, misstrauisch. Aber James war kein Faulenzer. Was er von Cato Leigh nicht lernte, übernahm er von anderen: er folgte einem Mann, den man durch die Straßen peitschte, er kauerte sich nieder, um die Qual einer Marktschreierin zu betrachten, der ein Wagenrad das Bein zerquetscht hatte. Und eines strahlenden Nachmittags saß er auf Gummers Schultern und sah über die Köpfe der Menge hinweg zu, wie vor dem Tor des Gefängnisses von Bristol ein Verbrecher gehenkt wurde. Es war überall, dieses Ding, das Leiden hieß. Und in so unendlicher Vielfalt! Den Menschen graute davor, sie beteten zu ihrem Gott, dass er sie verschone, und doch blieb offenbar niemand verschont; das heißt niemand außer ihm selbst. Selbst Gummer war nicht dagegen gefeit und wie alle anderen einem faulen Zahn, einer losen Dachschindel, einer verdorbenen Auster ausgeliefert. Im Juli brachen sie auf, durch die grüne Enge einer Landstraße. Die Stadt endete ganz plötzlich; ein Haus war zu sehen, ein Ziegelhaufen, Rauch, hässliche Kinder. Dann nur noch Felder und die geschnörkelten Baldachine der Bäume, Bauernhäuser, wo alte Hunde, die Augen einen Spaltbreit geöffnet, in der Sonne dösten und eine Frau in Eisenpantinen vor einer offenen Tür stehenblieb, sich die Hand über die 155
Augen hielt und zusah, wie sie vorbeifuhren: Marley Gummer, Adam Later, James Dyer und Molly Wright - die erste der »Mütter« -, die sich Schulter an Schulter auf einem mit Kisten, Stangen und Leinwandrollen beladenen, hochwandigen Wagen durchrütteln ließen. Der erste Jahrmarkt fand in einem Marktflecken in Gloucester statt. Die Darbietung war ein uneingeschränkter Erfolg und ging beinahe zu reibungslos vonstatten, so dass Gummer sich schon sorgte, sie würden ein solches Wunder nicht wiederholen können. Drei Tage später, in Somerset, gelang es ihnen, und ebenso eine Woche später jenseits der Grenze, in Wales. Von dort aus fuhren sie ostwärts, durch die Erntezeit nach Oxford, und dann abermals ostwärts, durch flaches Land, wo sie von Kirchturm zu Kirchturm nach Norwich reisten, die Stadt noch unsichtbar, während der Wind schon das gewaltige Dröhnen ihrer Kathedralenglocken herantrug. »Mütter« kamen und gingen. Das Getränk selbst war kaum einmal das gleiche, die Zutaten wurden bei ortsansässigen Apothekern gekauft, die gut dafür bezahlt wurden, ihre Neugier zu bezähmen. Nur das Publikum war immer das gleiche, das Publikum und die Darbietung, obwohl Gummer gelegentlich extemporierte und seine Geschichte von Geheimrezepten, bärtigen Magiern und magischen Zutaten noch ausbaute. Nach seinen eigenen Maßstäben behandelte Gummer den Jungen gut; neue Kleider und Schuhe, Zuckermandeln, ein Halstuch, so grün und dunkel wie 156
das Meer, an dem sie in Cromer entlangspaziert waren. Er weihte James in die Geheimnisse der Unterwelt ein: wie man einen Beutel schneidet, wie man beim Kartenspiel betrügt, wie man eine Klinge so verbirgt, dass sie bei Bedarf rasch in die Hand gleitet. Und vereinzelte unerbetene Ratschläge über Frauen, was sie mögen und wie sie es mögen. Auf dem Lande außerhalb von Lincoln, nach einem am Spieß gebratenen Kaninchen als Mittagessen, zeigte Gummer James ein Stück Lammdarm, das er als Londoner Überzieher bezeichnete. Schutz, sagte er, vor Signor Gonorrea, und er zwinkerte und schlenkerte das Ding lachend durch die Luft. Nur einmal hielt er es für nötig, den Jungen zu züchtigen. Nicht weil der etwas ausgefressen oder etwas gesagt hätte. Nein, sondern wegen eines Blickes, eines ziemlich schockierenden Blickes, wie ihn Gummer bislang nur einmal gesehen hatte, und zwar bei einem Richter am Ende einer langen Gerichtssitzung in Dorchester, als einer zum Galgen verurteilt worden war. Für diese Unbotmäßigkeit fesselte er James stramm an das Wagenrad und ließ ihn die ganze Nacht dort. Grace Boylan, mittlerweile James' »Mutter«, schwor, sie finde eine Methode, ihm weh zu tun, sie mit ihrer Erfahrung, ihren Gaben, und ein, zwei Minuten lang ließ Gummer sie es versuchen. Dann stieß er sie weg, band den Jungen los und führte ihn behutsam umher, damit er wieder Gefühl in den Beinen bekam. »James«, seufzte er, »was täten wir nur ohne einander, wie?« Und während sie im Schat157
ten der Bäume zum Wagen zurückgingen, sang er: »Im Sommer, wenn die Bäume prangen Von Blättern grün und lang, Erfreut man sich im schönen Wald An munt'rer Vögel Sang...«
3 Grace weckt ihn mit der Stiefelspitze. Es wird Zeit zu gehen. James wird mühelos wach, schüttelt seine Träume ab, atmet die frühe Morgenluft ein. Er nimmt sein Bündel auf, zieht die Jacke an, unter der er geschlafen hat, und wartet an der Eingangsklappe. Fröstelnd kommt Grace, reibt sich mit den Handballen das Gesicht. Zu dieser Tageszeit ist sie am unleidlichsten, voller sprachloser Wut auf die Dunkelheit, die Kälte, den langen Fußmarsch, der vor ihnen liegt. Und auch auf das Schicksal, die vielen, zu vielen Jahre, die sie auf dem Buckel hat, und diesen seltsamen, unantastbaren Jungen, der neben ihr die Straße entlanggeht. Eine alte Seele hat er, oder überhaupt keine. Man sollte doch meinen, er würde pfeifen oder fragen, wie weit es noch ist oder wann es etwas zu essen gibt. Aber nein, der nicht. Schwarz; schwarz und golden. Die Nacht löst sich auf. Licht hängt in Fetzen von den Bäumen. Wolken, so groß wie Dörfer, treiben westwärts. Fünf Minuten lang fängt sich die Sonne in den Spitzen der Getreide158
stoppeln. Schon sind Nachleser bei der Arbeit, Frauen, die das Übriggebliebene ernten, die zweite Frucht. Sie sammeln ein Büschel, binden es zusammen und geben es einem der Kinder, die zum Tor laufen, wo ein Junge Schmiere steht. Grace und James frühstücken am Rande einer Weide. Als sie gegessen haben, legt Grace sich rücklings ins Gras, rülpst, senkt die Augenlider. Der Atem pfeift in ihrer Nase, eine Bremse setzt sich auf ihren Bauch. James öffnet sein Bündel. Das Orrery-Planetarium ist in eine alte Jacke eingeschlagen. Er stellt den Kasten auf die Jacke, löst den Haken. Das Morgenlicht spiegelt sich in den Planeten. Die Zahnräder sind etwas angerostet, nur ein wenig, aber er muss deswegen mehr Kraft aufwenden, um sie in Bewegung zu setzen. Die Drähte zittern, die Planeten vibrieren. Als Grace sich aufsetzt, ist er immer noch damit beschäftigt, mit Lizas altem Spielzeug. Grace kennt es noch nicht. Sie kommt ganz dicht heran, kniet sich schwerfällig ins Gras und sieht zu. Ein Lächeln breitet sich über ihr Gesicht; sie berührt die Messingsonne. James lässt die Kurbel los, klappt den Kasten zu, schlägt ihn in die Jacke ein. Sie gehen. Die Straße ist lang und menschenleer.
4 »Der Schmerz, Freunde, ist ein Ding des Teufels. Er ist seine Berührung, seine Liebkosung...« Salisbury, 10. Oktober 1752. 159
Die Wände der Bude werden vom Wind geknufft; riesige, weiche Fäuste schlagen auf die Leinwand ein. Gummer muss die Stimme heben, um das Geräusch zu übertönen. Der Wind macht die Zuschauer unruhig. Er lenkt sie ab. Sie denken an Dächer, Wäsche, die Heimfahrt. Erst als Gummer seine Unterhaltung mit Grace Boylan beginnt, verstummen sie und beugen sich zu der Frau und dem bleichen, hübschen Knaben hin, der in seinem blauen Rock neben ihr steht. »Lass mich gehen, Mama. Lass mich tapfer sein wie Vater.« »Gut gesprochen, Junge! Her mit ihm! Her mit ihm!« Wieder auf der Bühne. Diesmal ist es ein junger Mann mit Unterarmen, so dick wie Schinken, und einem Schielen im linken Auge, der beim Schmerzzufügen hilft. Die Nadel, die Flamme, der Trank, abermals die Nadel. Es sind Male zu sehen, rote Flecken, wo die Nadel früher eingestochen wurde, jedoch nichts, was Argwohn erregen könnte. Sein Fleisch hat kein Gedächtnis. Als Gummer die Kerze bringt, sieht James im hinteren Teil der Bude erneut dieselben grünen Augen, die er nun schon in vier Vorstellungen gesehen hat. Er hat Gummer nichts davon gesagt. Er wartet ab, was der Mann tut. Die Flamme leckt an seiner Hand. Das grüne Auge mustert ihn. Die Zuschauer raunen, eine Stimme ruft: »Ich nehme zwei!« Tumult, ein Durcheinander von Gestalten, der Wind schlägt zwei-, dreimal gegen die Leinwand, und der Grünäugige ist verschwunden. Gummer reibt sich die Hände, geht 160
zum Geschäftlichen über. Draußen schleudert der Wind Vögel um die Schornsteinkästen. Ein Mann jagt seiner Perücke zum Fluss hin nach. Der Hand eines Advokaten entrissen, wickelt eine Zeitung plötzlich den Kopf eines Bettlers ein. Grace und James steuern auf die Kathedrale zu. Drinnen findet der Wind ein feierliches Echo. Grace lässt sich auf eine Bank plumpsen, wühlt eine Flasche unter ihren Röcken hervor, trinkt sie leer und lässt sie unter die Bank kullern. »Jesusmaria, schon besser.« Sie schaut sich nach dem Jungen um, sieht ihn nicht mehr. Sie schließt die Augen. In ihr ist eine Müdigkeit, ein schwarzes Wasser in ihren Knochen, das mittlerweile kein Schlaf mehr zum Verschwinden bringt. Auf dem Chor singen ein Dutzend Stimmen die ersten Verse des Tedeums. Hoch über ihrem gebeugten Kopf schweben Fledermäuse im Gewölbe umher, verschwinden in die Schatten. James geht auf den Altar zu, besieht sich die Jungen auf dem Chor. Sie sind etwa in seinem Alter, die Gesichter kerzenfahl, die Augen auf die Hände des Musiklehrers gerichtet. Ein Junge hat ein Gesicht wie Charlie. James denkt an seinen toten Bruder, dann an seine Mutter; er erinnert sich, wie sie ihn hochhob ganz deutlich! Und er erinnert sich an ihren Geruch. Fleisch, Milch, der warme Apfelatem. Das Blut dröhnt ihm in den Ohren. Er führt die Hand an seine Brust, dann an sein Gesicht, berührt sein heißes 161
Gesicht. Er hat etwas an der Hand - Wasser. Er leckt daran. Salzwasser. Die Jungen singen; ihre Stimmen steigen auf wie eine Fontäne, fallen wie Regen. Er geht auf eine Seitentür zu. Ein Mann steht an der Tür, den Hut in der Hand. Er nickt James zu, zieht den Vorhang vor der Tür zur Seite. James bleibt stehen, blickt sich um, schaut nach Grace Boylan. Weit weg in einer Bank kann er eine Gestalt erkennen, die vielleicht die ihre ist, eine im Schlaf oder im Gebet gebeugte Figur. Als er sich wieder umdreht, ist der Mann verschwunden. Von verschiedenen Stellen in der Kathedrale kommt Stimmengemurmel, gedämpft und unverständlich. James tritt vor. Hinter dem Vorhang wartet jemand auf ihn. Auf der anderen Seite des Hauptschiffes blinkt ein Licht auf, langen Schritts kommt Gummer herein, winzig zwischen den Pfeilern, den großen Grabmalen, den grauen Steinklippen. Er sieht James, winkt ihm. James bewegt sich auf die Seitentür zu, durchschreitet sie. Er sieht den Mann nicht, spürt jedoch den Griff an seinem Arm. Eine Stimme sagt: »Beeil dich!«, und schiebt ihn vorwärts, durch in Aufruhr gebrachte Luft. Eine vierspännige Kutsche wartet. James und der Mann laufen jetzt, eine Gasse entlang, über eine Brücke. Der Fluss blitzt auf, ein leeres Boot schlingert wie toll darüber hin. Als sie die Kutsche erreichen, beugt sich ein anderer Mann heraus, zerrt James hoch, knallt den Schlag zu. Die Kutsche ruckt rückwärts, dann vorwärts. Plötzlich erscheint Gummers Gesicht am Fenster, ein Arm 162
schlingt sich um seinen Hals, zieht ihn weg. James schaut sich um und sieht am Straßenrand zwei Männer, die Gummer niederschlagen. Einer hat einen Stock. Sie fangen an, auf ihn einzuprügeln. Vom Wind abgesehen ist kein Geräusch zu hören. Der Mann mit den grünen Augen schubst James sanft auf dessen Platz, zieht das Fensterrouleau herunter, hakt es fest. Aus der Dunkelheit heraus sagt er: »Du bist jetzt in Sicherheit, Kind.« Eine Hand streckt sich aus, tätschelt dem Jungen das Knie. »In Sicherheit.«
5 Eine Landschaft, so glatt wie Flaschenglas. Schmucke goldene Wälder, die grüne und stahlgraue Schlange eines Flusses. Ein See von handlicher Größe, aus dem gerade noch die Turmspitze einer untergegangenen Kirche ragt. Eine mit den Schatten junger Bäume getüpfelte Auffahrt; italienische Parkanlagen; Alleen; Ausblicke; meilenlang Ziegelsteinmauern, Eisenspitzen. James schlägt die Augen auf. Er weiß nicht, was ihn geweckt hat. Von einem Busch aus starrt ihn ein Vogel an, legt den Kopf von einer Seite auf die andere. James besieht sich die Schatten, um festzustellen, wie lange er geschlafen hat. Mindestens zwei Stunden. Das Sonnenlicht überrascht ihn. Er hat von Schnee geträumt, einer Welt aus Schnee, und einer Stimme, die ihn ruft und immer näher kommt. Er rappelt sich hoch. Mittlerweile schläft er so viel, 163
so tief, als bereite sein Körper sich auf ein anderes Leben vor. Er klatscht in die Hände; der Vogel fliegt weg, nimmt den Traum mit sich. In der Abendluft ist das Haus herrlich. Der fahle Stein saugt das Blassrot und Honiggelb des Lichts auf, jedes Fenster trägt seine eigene, einzigartige Sonne. Zu beiden Seiten des Haupthauses erstrecken sich großzügige palladianische Flügel. Im Näherkommen knirschen James' Füße auf dem geharkten Kies. Über eine Treppe mit flachen Stufen gelangt er zu einer zweiflügeligen Tür. Er braucht nicht zu klopfen. Unsichtbare Augen haben ihn bereits gesehen. Hände in engen Handschuhen lassen ihn ein. Diener in gelben Livreen. Das ist die Tür, durch die er bei seiner Ankunft eintrat, neben sich den Grünäugigen, der ihm zuweilen mit der Hand über die Schulter strich, wie um ihn zu beruhigen. Der Gentleman hatte James der Obhut eines Bedienten übergeben, und James war dem Mann gefolgt, an einem verschnörkelten Geländer entlang und über Flure, so breit wie Straßen, von denen Türen abgingen, so weit das Auge reichte. Die Luft hallte von Stimmen wider, einer Sprache, die er noch nie gehört hatte, einem müßigen, ausdrucksvollen Geplapper, und im Aufblicken sah er Männer auf Gerüsten, dunkelhaarig, mit eleganten Gesichtern und langen Pinseln in den Händen. Sie arbeiteten an einem Fries über einem der großen Fenster. Sie hielten in 164
ihrer Arbeit inne, blickten feixend auf James herunter, schüttelten den Kopf. »Ah, povero ragazzo!« Das Zimmer, in das man ihn führte, hatte ein Bett mit Vorhang und einen Kamin, in dem ein gemütliches Feuer brannte. Und dann sah der Diener den Jungen mit gar nicht mehr ehrerbietiger Miene an, wie ein Schauspieler, der plötzlich eine Rolle ablegt. »Wenn du etwas zu essen willst, ziehst du an dem Draht da.« Und James hatte gefragt: »Wird der Mann kommen? Der Mann, der mich hierher gebracht hat?« »Mr. Canning?« Der Diener schüttelte den Kopf. »Er wird dich holen lassen, wenn er dich braucht. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Du bist nämlich nicht der einzige, weißt du.« Die Tür war schon zu, als es James einfiel zu fragen: »›Der einzige‹ wovon?« Niemand außer Bedienten kommt zu ihm, und es sind andere als der, der ihn am ersten Tag in sein Zimmer geführt hat; nicht so verschlagen, leutselig und mitteilsam. Sie räumen das Zimmer auf und bringen auf Tabletts Essen. Nach dem Gemüse, dem Speck und dem billigen Brot, das er unterwegs mit Grace und Gummer gegessen hat, ist die Kost hier wildreich und wohlschmeckend. Eine üppige Kost, die ihn unruhig macht. Er kann nicht entscheiden, ob er ein Gefangener oder ein Gast ist. Immerhin dreht sich in seiner Tür niemals ein Schlüssel, und auf den Fluren steht auch niemand, der den Wärter macht. Er 165
begibt sich mit der Kerze in der Hand auf Entdekkungsreise, verlässt das Zimmer, wenn es im Haus still ist, seine Schritte verschluckt vom Plüsch des Teppichs, ein cremefarbener Lichtstrom das einzige, was ihn verraten könnte. Beim erstenmal begegnet er niemandem, das Haus ist auffällig leer. Nach einer Stunde verirrt er sich, von Symmetrien getäuscht, und findet sein Zimmer erst kurz vor dem Morgengrauen wieder, als seine Kerze längst niedergebrannt ist und plötzlich seine Tür vor ihm auftaucht, während er sich noch immer im falschen Stockwerk, auf dem falschen Flur wähnt. In der nächsten Nacht traut er sich weiter. Zwei Diener, das Licht ihrer Kerzen über ihre gelben Livreen drapiert, durchschreiten vor ihm einen großen, prunkvollen Raum, verhalten einen Augenblick, um zu dem Finger von James' Flamme hinzusehen, und verschwinden dann. Was für ein verstohlenes Leben die Leute hier führen, verstohlen wie die Diebe. Als James ihnen zu folgen versucht, lässt nichts, kein verräterischer Schimmer, erkennen, wohin sie gegangen sind. Erst in der dritten oder vierten Nacht begegnet er jemandem, mit dem er sprechen kann, einer Nacht, die der Mond so hell erleuchtet, dass sein Licht sogar bis in die fensterlosen Flure dringt und wie neue Papierbogen unter den Türen liegt. Er ist schon fast eine Stunde unterwegs, als die Uhren aus hundert Zimmern Mitternacht schlagen und er eine sanfte und zugleich 166
nörgelnde Stimme hört, die er bis zu einer großen Tür verfolgt, die gerade so weit offensteht, dass er hindurchschlüpfen kann. Dies getan, sieht er im Mondlicht einen Mann, die silberne Gestalt eines Mannes, der auf einer Art Kanzel neben einem Bücherregal steht. Der Mann, der gerade nach oben langt, um ein Buch zurückzustellen, dreht sich um und beäugt den Jungen. »Was bist du denn für einer? Und was willst du hier? Das ist eine Bibliothek. Jungen machen sich nach meiner Erfahrung nichts aus Bibliotheken. Vielleicht suchst du ja die Küche.« Mit angestrengtem Ächzen stellt der Mann das Buch an seinen Platz und klettert dann herunter. Eben hat er noch sehr groß gewirkt. Nun wird deutlich, dass er nicht größer ist als James. »Na, dann komm, wo du schon einmal hier bist. Ich zeige dir alles. Ich bin Collins, Mr. Cannings Bibliothekar. Ich war mit ihm in Spanien und Italien. O ja, wir waren viele Jahre in Italien. Er spricht die Sprache wie ein Einheimischer. Kann stundenlang Dante zitieren. In diesen Regalen stehen die Geschichtsbücher. Herodot, Plinius, Tacitus. Homer. Hier ist die Philosophie. Aristoteles, Bacon, Newton, Erasmus ... Hobbes, Locke... Und in diesem Schrank, für den nur Mr. Canning und ich den Schlüssel haben, stehen bestimmte seltene und ... spezielle Werke. Wie alt bist du, Junge?« »Dreizehn.« »Hast du amouröse Gedanken?« »Amouröse?« 167
»Ja. Heiße Gedanken. Schlüpfrige. Guckst du gern durch Schlüssellöcher? Entflammt dich ein schwellender Busen?« James bedenkt einen Moment lang die Busen, die er schon gesehen hat. Einmal den von Liza, weiße Puppenköpfchen, als sie eines Nachts im Sommer ihr Hemd hochzog. Die Schauspielerinnen in der Scheune von Moody. Die Brüste von Grace Boylan, wenn Gummer sie drücken durfte. Er schüttelt den Kopf. Der Bibliothekar zuckt die Achseln. »Dann wirst du mich also nicht wegen des Schlüssels plagen. Wie weit waren wir gekommen? Bis zur Philosophie. In diesem Regal steht die Dichtkunst, die Mr. Canning besonders am Herzen liegt.« Er bleibt stehen. Hebt die Hand. Er lauscht und blickt über James' Schulter hinweg zur Tür. Er sagt: »Hast du sie gehört?« James zählt die Finger an der Hand des Bibliothekars, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. »Es sind die Zwillinge«, sagt Collins, und einen Moment lang zeigt sein Gesicht ein ganz eigenartiges Lächeln. James dreht sich um. Zwei Köpfe schauen zur Tür herein. Vier Augen mustern ihn, dann ziehen sich die Köpfe zurück, und er hört das Gewischel ihrer Pantoffeln, als sie weglaufen. »Hinterher!« Der Bibliothekar versetzt James einen Stoß zwischen die Schulterblätter. »Beeil dich, sonst entwischen sie dir!« James macht sich an die Verfolgung, bleibt dann und wann lauschend stehen und 168
läuft dann weiter. Er erblickt sie flüchtig auf der Treppe, dann am anderen Ende einer Galerie, wo sie durch eine Tür in den Dämmer eines weiteren Gangs schlüpfen. Eine halbe Minute lang verliert er jede Spur; dann ist ein gedämpftes Klirren und ein lautes »Verdammt! Verdammt!« zu hören. Er folgt, findet Porzellanscherben, aber keine Spur von den Mädchen, hört kein Pantoffelgeräusch. Die Mädchen sind in einem Raum, den er später »Statuensaal« nennen lernt. Der Mond ist zwischen zwei Zypressen vor dem Fenster eingekeilt, und die Statuen werfen lange, scharf konturierte Schatten auf den Marmorboden. Männer mit gelocktem Haar, die nackten Körper von muskulöser Schlaffheit, stützen sich auf Speere oder vollführen müde Gesten mit abgebrochenen Armen. Frauen, Göttinnen, die Hände auf Brüste gelegt, Köpfe ohne Nasen, mit ausdruckslosen, nach innen gekehrten Augen. Die Mädchen sitzen auf einer Bank am Fenster und schlafen. Er tritt näher heran, um sie sich anzusehen. Sie schmiegen sich aneinander; ihre Köpfe mit den hohen weißen Stirnen stützen sich gegenseitig. Die Augen unter den blutlosen Lidern wirken ungewöhnlich groß. Ihre Münder sind klein; die Lippen kleinkindhaft aufgeworfen. Eines von den Mädchen schlägt plötzlich die Augen auf, als sei ihr Schlaf nur eine List gewesen. Sie lächelt. »Ich habe von dir geträumt«, sagt sie. »Und jetzt bist du da.« »Woher kennst du mich?« 169
»Mr. Canning hat gesagt, dass du kommst. Und dann habe ich dich von meinem Fenster aus gesehen. Mr. Canning hat gesagt, du sähst wie ein ganz gewöhnlicher Junge aus, aber du seist anders, ganz anders. Sonst hätte er dich auch nicht hierher gebracht.« »Ich habe Mr. Canning noch gar nicht gesehen. Jedenfalls nicht, seit ich hier bin.« »Ach, rechne bloß nicht damit, dass du ihn siehst. Jedenfalls nicht allzu oft. Er lässt dich holen, wenn er dich braucht. Ich heiße Ann. Das ist meine Schwester Anna. Wir waren im Zirkus, ehe Mr. Canning uns gefunden hat. Dort hat es uns nicht gefallen. Du warst auch im Zirkus.« James schüttelt den Kopf. »Ich war bei einem Schausteller. Um zu helfen, eine Arznei zu verkaufen.« »War es eine gute Arznei?« »Es war nichts. Nichts Gutes.« »Mr. Canning gibt uns gute Arznei. Er macht sie selbst.« »Was fehlt euch denn?« »Eigentlich gar nichts, außer dass uns manchmal der Kopf weh tut und wir so müde sind, dass wir mitten im Satz einschlafen.« »Bist du immer mit deiner Schwester zusammen?« Sie lacht, ein Schnauben, als habe er etwas Amüsantes, wenngleich nicht sonderlich Geschmackvolles gesagt. »Natürlich, dabei ist sie oft so eine dürftige Gesellschaft. Aber wir werden bald getrennt sein, und dann werde ich sie eine ganze Woche, vielleicht sogar einen Monat lang nicht sehen, und wenn wir uns dann 170
Wiederbegegnen, können wir uns vielleicht wie ganz gewöhnliche Menschen unterhalten.« Da begreift er. Irgend etwas an der Art, wie sie sich, den beiden Hälften eines Tintenkleckses gleich, auf der Bank aneinander drängen. Er fragt: »Wann werdet ihr denn getrennt?« »Wenn wir sechzehn sind. Mr. Canning hat es uns versprochen.« »Und wie alt seid ihr jetzt?« Sie ist eingeschlafen. Die andere Schwester sieht ihn an. »Du machst uns müde mit deinem ganzen Gerede. Warum bist du nicht im Bett?« »Warum seid ihr denn nicht im Bett, wenn ihr so müde seid?« »Es gefällt uns hier. Wir sehen uns gern die Statuen an. Die eine da mögen wir ganz besonders.« Sie deutet in die Ecke des Saals. Eine gedrungene Gestalt mit großem, geschwollenem, zum Himmel gerecktem Schwanz. »Mr. Canning sagt, das ist der Gott der Gärten. Priapus. Wir nennen ihn...« Sie flüstert einen Namen, den James nicht versteht, und kichert dann, ein greller, hysterischer Laut. Die andere Schwester wacht nicht auf. Ihr großer Kopf ruht auf ihrer Brust. »Wie lange seid ihr denn schon hier?« fragt James. Sie zuckt mit einer Schulter. »Seit Mr. Canning uns gefunden hat... Wir werden porträtiert. Von Mr. Molina. Vielleicht malt er dich auch, wenn du mitkommst?« »Wo malt er euch denn?« 171
Sie zeigt nach oben, eine Geste, die es an matter Eleganz mit allen Statuen aufnehmen kann. Dann ist auch sie eingeschlafen. Lange Zeit steht er da, beobachtet die beiden Schlafenden und wartet ab, ob eine von ihnen aufwacht. Er verspürt ihnen gegenüber so etwas wie eine verwandtschaftliche Verbundenheit; keine warme Empfindung, keine Freundschaft. Mr. Canning ist also ein Sammler, und er, James Dyer, ist wie die Zwillinge und Mr. Collins gesammelt worden. Oder vielmehr gestohlen. Das stört ihn keineswegs. Canning wird ihm dienlich sein, so wie Gummer ihm dienlich war. Und es gibt Dinge in diesem Haus, Dinge, von denen er mehr wissen will. Ein Bibliothekar mit sechs Fingern; zwei Mädchen in einem. Wie hat Gummer ihn einmal genannt? Rara avis. Wie viele davon wohl hier sind, in Mr. Cannings goldenem Käfig?
6 Es verstreichen viele Tage, bis er wieder mit ihnen spricht obwohl er sie mehrmals unter zwei weißen Parasols im Park Spazierengehen sieht, Ann und Anna, die auf ihren sechzehnten Geburtstag warten. Zweimal hat er sie einen der Bedienten zu dem kleinen Haus begleiten sehen, das auf einer Erhebung am See steht. Der Bediente hat stets einen Eimer dabei; voll, wenn er hingeht, leer - nach der Art zu 172
urteilen, wie der Eimer am Griff baumelt - bei seiner Rückkehr. Was Mr. Molinas Atelier angeht, so kann James es nicht finden. Er fragt sich allmählich, ob der Maler nur in der Phantasie der Zwillinge existiert. Wann immer er sich langweilt oder Lust auf Gesellschaft hat, geht er in die Bibliothek. Mr. Collins, der - wie vor ihm schon Viney - rasch die Fähigkeit des Jungen, Wissen aufzunehmen, gewahr wird, überredet ihn, die Lederbände von den Regalen zu nehmen und zu lesen. Natürlich keine Gedichte oder Erzählungen - dafür hat der Junge keinen Sinn -, sondern Bücher über Anatomie, Bücher mit Landkarten, Bücher über wissenschaftliche Experimente; Bücher mit komplizierten, verführerischen Diagrammen, Bücher über Astronomie, Geometrie... Mr. Collins neben sich, Dezemberregen hinter den Fenstern und flackernde Kerzen gegen das lange Nachmittagszwielicht davor, stolpert James durch einige Seiten Latein in Harveys De Motu Gordis. Doch was ihn gefangennimmt, sind die Bilder: die Welt unter der Haut; der Strang der Eingeweide, die Knollen und Wülste der großen Organe; die auf das Spalier der Knochen gezogenen Muskelschichten; das komplizierte Haus des Herzens mit dem davon ausstrahlenden Geschlängel der Venen und Arterien, die sich zu winzigen Nebenarmen verzweigen. Während der trüben Zeit des Jahres füttert Mr. Collins den Jungen mit Borelli, Malpighi (»Ich habe fast die gesamte Art der Frösche geopfert...«) und 173
Fabricius von Padua; und der Bibliothekar reckt sich in seiner mobilen Kanzel auf die Zehenspitzen und holt von weit oben Vesalius' Anatomie De Humani Corporis Fabrica herunter, deren Titelseite den großen Mann im Saal der öffentlichen Anatomie zu Padua zeigt, die Finger bis zu den Knöcheln im Bauch einer Frauenleiche. James lernt sogar ein Dutzend Worte Griechisch. Molinas Atelier, das James so entdeckt, wie er alles in diesem Haus entdeckt - beim zufälligen Betätigen einer Klinke, beim Öffnen einer noch nicht erforschten Tür -, liegt hoch droben im Labyrinth der Dienstbotenquartiere, noch über den Wipfeln der Bäume und fast auf einer Höhe mit den übers Dach fliegenden Krähen. Es ist vollgestopft mit dem häuslichen Krimskrams des Malers; farbverschmierte Hemden, Tassen und Kessel, leere Weinflaschen, eine große, defekte Uhr, Pinsel in Gläsern voller Flüssigkeit. Vor einem Teller mit Fischköpfen hockt eine graue Katze, von der Anwesenheit des Jungen nicht gestört. Molina hat ihm den Rücken zugekehrt, wendet sich nicht von seiner Leinwand ab, sondern langt mit einer Hand nach hinten, um James zu einem Sitzplatz zu scheuchen, einem aufgeplatzten orientalischen Diwan nicht weit von da, wo die Mädchen sitzen. Die Zwillinge scheinen wie betäubt von der Starrheit der Pose, ihre Kleider funkeln, und in dem Licht, das ein Dutzend Kandelaber spenden, wirken ihre Gesichter fiebrig. 174
»Ya está... Ihr könnt euch jetzt ausruhen.« Er tritt hinter die Leinwand, lässt den Pinsel in eine Champagnerflöte fallen, räkelt sich ausgiebig. »Das ist also der Junge, von dem man mir erzählt hat«, sagt er. Sie halten einander mit Blicken fest, und der Maler nickt: ein hochgewachsener, hagerer Mann mit dichten Augenbrauen und einem dichten braunen Haarschopf, den ein schwarzes Band zusammenfasst. »Und du willst dich malen lassen, mein Freund?« »Sie müssen zuerst uns fertigmalen!« sagen die Zwillinge. »Keine Angst«, erwidert Molina. »Ihr seid schon so gut wie unsterblich.« Die Zwillinge springen von ihrer Couch auf, stellen sich vor die Leinwand und klatschen entzückt in die Hände. »Malen Sie uns auch hinterher? Ja? James, du errätst nie im Leben, was passiert ist! Mr. Canning sagt, er wird uns bei Hofe vorstellen! Denk nur!« Molina lacht. »Vielleicht kann James mitgehen und auf einem Ball mit euch tanzen. Zuerst mit der einen, dann mit der anderen. Du musst sie jetzt darum bitten, James. Sie werden sehr begehrt sein. Meine Lieben, ihr müsst euch wieder hinsetzen, nur noch ein Weilchen...« »Aber wir langweilen uns! Wir möchten mit James reden.« »James setzt sich hierher zu uns und hört eurem Geplauder zu. So, und nun genau wie eben, ja... Deine 175
Hand, Ann, ein bisschen mehr nach ... exakt. Jetzt male ich.« Molina arbeitet. Als die Zwillinge verstummt sind, abermals in die Trance ihrer Pose verfallen, sagt er zu James: »Die Größe eines Künstlers bemisst sich nach dem Grad seiner Aufmerksamkeit. Verstehst du? Der Art und Weise, wie er seinen Gegenstand ansieht. Vielleicht bemisst sich danach überhaupt die Größe eines Menschen, wie? Sag, James, gefällt dir dein neues Zuhause?« »Ja, recht gut.« »So, so. Wie ich höre, hast du eine besondere, hm, Fähigkeit. Kein Gefühl, keine ... Empfindung. So etwas kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« »Was ist denn Ihre ›Fähigkeit‹?« »Das, was ich hier tue, mein Freund. Nur dieses bescheidene Gepinsel. Schau, sie schlafen. Das kommt von ihrem Zustand. Sie teilen sich dasselbe Blut. Die Menge reicht nicht. Findest du sie hübsch? Ich zeige dir etwas. Wenn sie so schlafen, kannst du eine Pistole abfeuern, und sie wachen nicht auf.« Molina geht zu den Mädchen, greift nach unten und fasst den Saum ihres Kleides. »Komm, James.« Er zieht den Stoff hoch. Vier stämmige Beine in roten, mit Bändern über den Knien befestigten Strümpfen. Vier weiße Oberschenkel, sehr nackt, und zwei zierliche Barte aus dichten, kupferroten Locken. Die Verbindungsstelle befindet sich an der Hüfte. Molina nimmt James' Hand, legt sie dahin, wo das 176
Fleisch miteinander verwachsen ist; auf den Zusammenfluß von Blut und Knochen. Er hat Tränen in den Augen. »Es ist so weich, nicht? So... No sé cómo se dice... Es fühlt sich an, als brauchte es nur ein wenig Druck, und die Hand wäre drin. In meiner Heimat, in Granada, habe ich das einmal gesehen, James... Ein Mann, ein Maure, ein Heiler ... er greift in das Fleisch eines Jungen und holt ein Stück heraus, das schlecht ist. Ohne Messer, ohne Blut. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Der Junge verspürte dabei zwar Schmerzen, aber nur wenig. Der Maure hat hineingegriffen ... als zöge er einen Fisch aus einem Teich. Ich würde sie gern ohne ihre Kleider malen, aber sie sind schüchtern. Ich denke, wenn ich ihnen ein bisschen Wein gebe, tun sie es vielleicht.« Behutsam tastet James das Fleisch ab. Er überlegt, auf welche Weise sich die Zwillinge die Hauptorgane teilen: Dünn- und Dickdarm, Galle, Nieren, Bauchspeicheldrüse ... und wenn es nun nicht genug davon gäbe und sie sich, zum Beispiel, eine einzige Leber teilten? Gab es eine Methode, das vorher herauszufinden, oder wußte man das erst, wenn sie auf dem Tisch lagen? Wusste es Mr. Canning? Molina nimmt die Hand des Jungen weg, bedeckt die Mädchen mit ihrem Kleid. »Hast du je gemalt, James?« »In der Schule habe ich Sachen gezeichnet. Es fiel mir leicht.« »Das will ich meinen. Du hast Malerhände. Künst177
lerhände.« Er sieht den Jungen an, lächelt. Es ist ein freundliches, ein mitleidiges Lächeln. »Und du spürst wirklich gar nichts, mein Freund?« James schüttelt den Kopf. Er mag nicht bemitleidet werden. »Keinen Schmerz?« »Niemals.« »Und Freude? Verspürst du Freude?« Das hat ihn noch nie jemand gefragt. Er schaut zu der Katze hinüber, die graziös an den Resten der Fischköpfe nagt. »Freude?« Gewiss gibt es Dinge, die er mag: das Wissen in Mr. Collins' Büchern, bestimmte Gerichte, das OrreryPlanetarium, Cannings Reichtum. Ist das alles Freude? Oder hat Molina etwas anderes gemeint, etwas Körperliches, eine Empfindung? In irgendeiner entlegenen, jungfräulichen Welt in seinem Innern weiß er die Antwort. Schmerz, Freude. Er hat flüchtig ihre Küste, ihre hohen Klippen erblickt, in Träumen ihre würzigen, ablandigen Winde gerochen. Dennoch umgibt ihn eine ruhige, leblose See; sein Schiff ist hochbordig, unverletzlich, seine großen grauen Wimpel fliegen. Wie könnte es anders sein? Das ist ein Gedanke, den er sich vom Leibe hält. Molina steht wieder an der Leinwand und mischt auf einem alten Teller, der ihm als Palette dient, Weiß zu Blau. James fragt: »Was ist in dem Haus am See? Ich 178
habe einen Diener dorthin gehen sehen. Die Zwillinge auch.« Molina nickt, noch immer in seine Mischerei vertieft. »Das ist eines von Mr. Cannings wunderbarsten ... Dingen. Natürlich erzählt er nicht aller Welt davon. Nur seinen Freunden, den gelehrten Herren.« »Sie haben nicht gesagt, was es ist.« »Weil ich möchte, dass du es...« Molina sucht in der Luft nach dem Wort ... unvoreingenommen siehst.« »Nehmen Sie mich mit.« »Ich nehme dich mit.« »Wann?« »Heute nacht.« »Was hat Mr. Canning sonst noch?« »Vieles. Vieles. Da ist zum Beispiel der Junge vom Mond.« »Das glaube ich nicht.« »Es gibt Leute, James, die auch nicht glauben würden, dass es einen Jungen gibt, der keinen Schmerz verspürt.« »Wie sieht er aus, dieser Junge?« »Sehr merkwürdig, andererseits aber auch gar nicht so merkwürdig. Weder sehr groß noch sehr klein. Keine Hörner. Du wirst ihn schon noch zu Gesicht bekommen. Irgendwann.« James mustert die Seite von Molinas Kopf, aber das bringt ihn auch nicht weiter. Der Maler ist völlig in seine Arbeit versunken. Er malt das Blau der Mädchenaugen und findet auch anderswo Blau. Die Katze hat ihr Mahl beendet. Sie leckt sich sehr 179
gedankenvoll die Pfoten. Die Abenddämmerung bringt eine Stunde Licht; die Welt flammt auf. Plötzlich ist Farbe da, Vogelgesang, das Gras ist mit Silber überzogen. Eine Stunde, dann fegen nachtbringende Wolken über die Hügel, das Dorf, den See herein. Das Licht weicht in einen schlanken goldenen Turm zurück. Im Haus eilen Diener von Zimmer zu Zimmer und entzünden Kerzen. Die Kaminfeuer werden geschürt, Läden verriegelt. James trifft sich auf der Hintertreppe mit Molina. Der Maler zwinkert ihm zu, lässt einen Schlüssel an seiner Hand baumeln. »Fertig?« Sie verlassen das Haus durch eine niedrige Seitentür. Molina hat sich von einem der Diener eine Laterne geborgt, ein schwaches Licht, das jedoch ausreicht, um ein, zwei Schritte weit zu sehen. Sie sprechen erst wieder, als sie bei dem Haus am See angelangt sind. Es ist klein, ein Pseudotempel. Daneben steht die Statue eines schmerbäuchigen, dyspeptischen Neptuns, der finster zum See hinblickt. Molina kratzt mit dem Schlüssel am Schloss. »Was du jetzt gleich zu sehen bekommst, James, hat Mr. Canning bei der Insel Capri gefunden. Es heißt, der Kaiser Tiberius habe auch so eins besessen. Er habe es für sein Vergnügen benutzt.« Das Schloss gibt nach. Molina öffnet die Tür, und zwar vorsichtig, als könne das, was sich auf der 180
anderen Seite befindet, erschrecken. James folgt. Der Fischgestank ist förmlich greifbar. Das Laternenlicht marmoriert die Oberfläche eines Wasserbeckens. Molina kauert sich an dessen Rand nieder. »Komm, mein Freund. Es tut dir nichts.« Aber James hat keine Angst, sondern er ist misstrauisch. Er denkt daran, wie Gummer den staunenden Zuschauern seine Flasche mit wertlosem Zeug entgegenhielt. Will Molina ihn übertölpeln? Auf dem Grund des Beckens ist eine Bewegung, ein sich windender Schatten wahrzunehmen. James kniet sich neben den Maler und starrt ins Wasser. »Hast du's gesehen?« fragt Molina. »Ich habe nichts gesehen«, sagt James. Das Wasser ist nicht sauber. Wo das Licht es durchdringt, kann er Schleimteilchen, strahlend grün, erkennen. Molina taucht die Hand ins Wasser. »Venga, cariña, venga«, flötet er wie ein Verliebter. Das Wasser birst, das Licht fährt in wildem Zickzack darüber hin. Eine Gestalt verdichtet sich, steigt zu ihnen auf, teilt den schlaffen Muskel des Wassers. Eine Form - ein Kopf? - gleitet knapp unter der Oberfläche hin. Ein bronzenes Blinken, ein Schrei, möwenartig, verzweifelt, entsetzlich. Einen Moment lang sieht James das Geschöpf deutlich umrissen im Gebrodel seiner Bewegungen; ein Auge, unverkennbar menschlich, unverkennbar fremdartig; eine mächtige helle Schulter, einen langen, gekrümmten Rücken, einen mit Muscheln überkrusteten Schwanz, 181
der schwarzen Tang hinter sich herzieht; den breiten, ausgefransten Kamm der Flosse. Erneut schreit es auf, dreht den Bauch nach oben, das Weiß und Blassrot seiner Brüste, dann taucht es mit hin und her peitschendem Schwanz unter das flache Netz ihres Lichts. Das Wasser klatscht gegen den steinernen Rand des Beckens und glättet sich langsam, ganz langsam. Molina richtet sich auf. Er bedeutet dem Jungen, vorauszugehen, den Raum zu verlassen, dann zieht er die Tür zu, verschließt sie, steckt den Schlüssel ein. Es hat zu regnen angefangen. Auf dem See sieht der Regen wie ein Feld winziger weißer Blumen aus. Sie laufen zum Haus, und während sie laufen, schwimmt Cannings lädiertes Wunderding tiefer in die Winkel von James' Gehirn, zieht dort seine Kreise und stört Träume auf, Wirbel von Unbehagen.
7 Der Januar lässt alles erstarren. Der Februar bringt plötzliches Tauwetter. Die Flüsse lecken an ihren Ufern, die Straßen verwandeln sich in Schlamm. Am Valentinstag bekommt James eine mit einem Stück Bindfaden zusammengebundene Haarlocke geschenkt. Dazu, in sehr eigenwilliger Orthographie, ein Rätsel. Als er die Zwillinge das nächstemal trifft, versucht er festzustellen, wem von beiden ein Scherenbiß Haar fehlt, aber bei all den Ringeln und Locken, der schieren Fülle, ist das unmöglich auszu182
machen. Vielleicht kommt die Locke ja von beiden. Wenn ihnen die gleichen Gedanken widerfahren, warum dann nicht auch die gleichen Gefühle? Eine Woche lang benutzt er die Locke als Buchzeichen, dann verliert er sie, lässt sie vielleicht in einer Ausgabe von De Revolutionibus stecken oder zwischen den Seiten von Mr. Cannings Erstausgabe der Optik Newtons. Der große Tag der Mädchen rückt näher. Manchmal fallen sie beim bloßen Gedanken daran in Ohnmacht. Besucher. Ein Dutzend Kutschen, die Räder schlammverklebt. An der Tür Diener wie Bienen um den Eingang eines Stocks, Mr. Canning in einem Rock aus dickem grünem Samt, der heitere Gastgeber. Die Herren verbeugen sich, ergreifen Hände, geben ihre Neckereien von sich, und doch scheint ihre Stimmung schwermütig, sie wirken zerstreut, als trügen sie empfindliche Gedankenpyramiden in ihren Köpfen, auf die man unentwegt achtgeben muss. Sie packen ihre Stöcke fester, eilen in die marmorne Vorhalle. Der letzte trifft ein, die Pferde bis zur Trense mit Schlamm bespritzt; ein fetter Gentleman wird unter Grimassen über die Pfützen zur Treppe getragen. »Mein lieber Bentley.« »Grüße, Canning. Scheußliches Wetter.« Durch die Balustrade hoch oben in der Halle spioniert James ihnen nach. Canning blickt auf, sieht ihn und nickt, nichts weiter, und doch ist eine Mitteilung 183
vom einen zum anderen gegangen: Canning wird ihn später empfangen, James wird zu ihm kommen. Alles ist vollkommen unmissverständlich. Die Männer unten reden, die Köpfe Grüppchenweise zusammengesteckt, dann folgen sie Canning zum Westflügel. Das Haus verschluckt sie. Ein Diener wischt ihre Fußabdrücke weg. James wartet in Molinas Atelier. Das achtlos ans Bett des Malers gelehnte Porträt der Zwillinge ist fertig. Molina sagt: »Mir war bang vor dem Moment, wo die Zwillinge es sehen. Die Malerei ist keine freundliche Kunst. Die Kunst ist nicht freundlich, nicht höflich. Sie sind gekommen und haben es sich angesehen, lange Zeit angesehen. Sie waren sehr glücklich. So glücklich, dass sie weinten. Da habe ich auch geweint, weil ich wusste, dass das Bild gelungen ist. Ich habe an dich gedacht, mein Freund, daran, dich zu malen. Ich denke, das ist sehr schwierig, aber ich würde es gern versuchen. Sollen wir es versuchen, wie?« Sie versuchen es. James stellt sich mit dem Rücken zu einer zerschlissenen braunen Draperie. Auf den Tisch neben ihm legt Molina ein aufgeschlagenes Buch, das aus der Bibliothek geschmuggelt wurde, während Mr. Collins einem Ruf der Natur folgte. Es handelt sich um eine seltene Ausgabe von Bartolomeo Eustachio - Tabulae Anatomicae Glarissimi Viri -, die aufgeschlagene Seite zeigt eine Männergestalt, die 184
Füße in die unteren Ecken gestellt, die Hände gegen den Himmel drückend. Der Kopf ist zur Seite gedreht und hat das Aussehen eines zornigen Mondes. Die gesamte Haut ist weggelassen, so dass man die Blutgefäße sieht. Gezeichnet wirken sie wie ein kompliziertes System von Wurzeln. Für eine anatomische Darstellung ist das Bild von unheimlicher Ausdruckskraft. Der Mann scheint seinen Zustand nur allzu deutlich wahrzunehmen und davon gequält und angewidert zu sein, als sei er das Opfer einer abscheulichen, unerklärlichen chirurgischen Prozedur. Das bloßgelegte Herz ist ein ungeschickt eingewickeltes Paket. Selbst die winzigen Gefäße des Schwanzes sind bloßgelegt. Der hängt, eine kleine dunkle Spitze, zwischen der Muskulatur der Oberschenkel. Vor allem aber macht der Mann den Eindruck, als warte er, vor Grauen angespannt, auf die Rückkehr seines Peinigers. In Molinas Augen passt das Bild zu dem Porträt. Er sagt nicht, warum. James vermutet, dass es sein Interesse an solchen Dingen widerspiegeln soll. Molina zeichnet, zuerst bei Tageslicht, dann mit Hilfe der Kerzen. Die ersten Skizzen verwirft er; bei den späteren nickt er vorsichtig. James wirft einen Blick auf die defekte Uhr und sagt: »Ich muss jetzt gehen.« Molina nickt. »Die Herren werden dich schon erwarten.« In seinem Zimmer steht ein Diener bereit. Auf dem Bett sind Kleider ausgebreitet, die er noch nie gesehen 185
hat: ein Anzug aus rotem Satin, Seidenstrümpfe, Schuhe mit silbernen Schnallen. Noch nie hat er Kleider von solcher Qualität getragen. Er sieht in den Spiegel. Der Diener wartet, achtet darauf, ihm nicht mit seinem eigenen Spiegelbild in die Quere zu kommen. Als James sich zu ihm umdreht, geht er voran zu dem Ort, wo die Herren sich versammelt haben, einem Raum im Erdgeschoss, in dem es nach Tabakrauch und Chemikalien riecht. Auf dem Tisch steht eine einzige Lampe, die einen hellen Schein gibt. Daneben, komplizierter Mittelpunkt des Zimmers, ein Gerät mit schlankem Sockel, auf dem eine schimmernde Glasglocke sitzt. Unter der Glasglocke befindet sich eine Taube, manchmal regungslos, dann wieder mit den Flügeln gegen das Glas schlagend. Das Glas ist unten mit den Ausscheidungen des Vogels bespritzt. Die Herren haben sich um den Tisch geschart. Einige tragen Brillen; einer kritzelt Notizen auf ein Stück Pergament. Mr. Canning steht neben der Maschine, in der Hand eine Kurbel, die mit einem Paar lederummantelter Kolben am Sockel verbunden ist. Mittels dieser Kolben lässt sich die Luft aus der Glocke absaugen. Mr. Canning nennt die Glasglocke den »Rezipienten«. Außerhalb des ausgefransten Lichtsaums ist es im Zimmer sehr dunkel. Mag sein, dass in der Dunkelheit noch andere sind. James tritt vor. Köpfe drehen sich, um zu sehen, wer da gekommen ist, ihre Blicke verharren einen Moment und wenden sich dann wieder dem Experiment zu. Sie 186
haben es schon ein dutzendmal gesehen, aber Cannings mit eigener Hand gebaute Maschine ist ein besonders aufwendiges Exemplar. »Aufgepasst, meine Herren«, sagt Canning. Er beginnt die Kurbel zu drehen. Sofort reagiert der Vogel auf die Veränderung seiner Atmosphäre. Ein letzter, wilder Versuch zu fliehen, das Glas zu sprengen. Eine wütende, verkrampfte Energie. Dann legt sich eine unsichtbare Hand auf seinen Rücken, drückt ihn auf den Boden des Rezipienten. Einige von den Herren nicken. Derjenige, der geschrieben hat, blickt durch eine Brille auf, murmelt: »Aha, ja, ja.« Ein anderer wendet die Augen ab, in die Dunkelheit. Mr. Canning dreht die Kurbel; der Vogel wird in Zuckungen versetzt, die halb ausgebreiteten Flügel drücken gegen das Glas. Der Körper verrenkt sich. Die Spasmen werden immer ausgeprägter. Dann schwächen sie sich zu einer Art leichtem Zittern ab. Das einzige Geräusch ist das stetige Klicken der Sperrklinken auf den Kolben. Der Vogel rührt sich nicht mehr. Mr. Canning lässt die Kurbel los. Zunächst herrscht Schweigen, dann hört man ein Schluchzen. Jemand außerhalb des Lichtkreises. Mr. Canning lächelt. Er hat das Gesicht eines klugen Engels. Er greift nach oben und verstellt einen Mechanismus auf dem Rezipienten. Man hört das Zischen der Luft, und der Vogel belebt sich augenblicklich, obwohl seine Bewegungen wie betrunken wirken. Mr. Canning greift in die Glasglocke, nimmt den Vogel vorsichtig 187
heraus, hält ihn zärtlich in den hohlen Händen. Aus den Schatten lösen sich die Zwillinge, die sich, wiewohl nun beruhigt, ihre Tränen abtupfen. Mr. Canning gibt Ann den Vogel. Der wirkt ganz gefügig, als habe er sein Leiden schon vergessen. Die Herren applaudieren, man bringt mehr Kerzen, und hinter den Kerzen tragen Diener Karaffen mit Portwein, Rotwein und Brandy auf. Die Besucher bringen Trinksprüche aus: »Auf die Zukunft!« »Auf die Wissenschaft!« »Auf Newton!« Mr. Canning geht um den Tisch herum zu James. »Du siehst sehr gut aus in deinen neuen Kleidern, mein lieber Junge.« Er zupft den Saum von James' Rock zurecht; eine mütterliche Geste. »Meine Herren! Wenn ich einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf... Ich möchte Sie mit diesem jungen Mann bekannt machen - Master James Dyer -, der nun schon eine ganze Weile in meinem Haus lebt. Ich gedenke, ihn im Frühjahr nach London mitzubringen, um ihn bei einer unserer regelmäßigen Zusammenkünfte ganz offiziell vorzustellen.« Die Männer fassen den Jungen ins Auge; manche machen gut gelaunt eine knappe Verbeugung. Die Zwillinge stellen sich neben ihn. Canning steht hinter ihnen, eine Hand auf James' Schulter, die andere auf der Anns. Er sagt: »Sie sind meine Familie und mir ebenso teuer, als wären sie meine eigenen Kinder. Kommt, ich denke, ihr seid jetzt in einem Alter, in 188
dem ihr ein Glas Rotwein trinken dürft.« Die Zwillinge werden viel bewundert. Der Rotwein färbt ihnen die Wangen, in ihren Augen spiegeln sich sämtliche Kerzenflammen, ihre Naschen zittern. Die Herren, die hemmungslos trinken, werden zunehmend galanter. Sie scheinen an dem speziellen Reiz der Zwillinge Geschmack zu finden. Die Mädchen zeigen James lächelnd ihre Gewogenheit. Sein Verhalten lässt ihn wesentlich älter und verschlossen erscheinen. Wäre nicht sein kostbares Gewand, könnte man ihn für ein Quäker-Kind halten. Einige von den Herren interessieren sich für ihn, fragen ihn vorsichtig aus, werden seiner knappen Antworten jedoch bald überdrüssig. Sie wenden sich den Karaffen, den Zwillingen oder einander zu. Nur der Fette, Bentley, bleibt, sein Kopf krötenhaft auf den Wülsten seines Halses. Er stellt zusammenhanglose Fragen nach James' Ernährung, seinen Schlafgewohnheiten, seinem allgemeinen Gesundheitszustand. Dabei krallen sich die ganze Zeit seine Fingernägel in das Handgelenk des Jungen, bohren sich immer tiefer, bis die Haut aufspringt und Blutstropfen die Seide von James' neuem Hemd verfärben. »Wie ungemein geschickt von Canning, dich zu entdecken«, sagt Bentley. »Wir werden noch einiges voneinander sehen, du und ich.« Er zückt ein großes Taschentuch und tupft sich das Blut des Jungen von den Fingern.
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8 Es geschieht ohne Ankündigung. Eines Morgens weckt man ihn früh, fordert ihn auf, sich warm anzuziehen, gibt ihm zum Frühstück Schokolade zu trinken und einen Teller Eier zu essen. Mr. Canning wartet in der Vorhalle, ein Diener streicht ihm die Schultern des Reisemantels glatt. Canning sagt: »Du bist noch nie in London gewesen, glaube ich. Manche behaupten, es sei die großartigste Stadt seit dem kaiserlichen Rom. Andere, es sei der Salon des Teufels. Beide Beschreibungen stimmen. Hast du die Zwillinge besucht?« »Nein, Sir.« Seit dem Abend des Experiments mit der Luftpumpe liegen die Zwillinge mit Fieber zu Bett: Träume von Rauch, Träume von Feuer. »Sei's drum«, sagt Canning. »Wir werden ihnen aus London etwas mitbringen. Einen Fächer, einen Kamm. Irgend etwas à la mode. Ich überrasche sie so gern.« Sie treten vor die Tür, überqueren einen breiten Streifen Märzsonne und steigen in das kühle, ledrige Innere der Kutsche. Man hört ein lautes »Heda! Bewegt euch!«, und die Räder knirschen über Kies, befördern sie durch die zarten Baumschatten hindurch die Auffahrt entlang und zum schmiedeeisernen Tor hinaus. Canning zieht ein Exemplar des Philosophical Treatise aus der Tasche und beginnt zu lesen, wobei er dann und wann ob irgendeiner gelungenen oder 190
fragwürdigen Stelle nickt oder den Kopf schüttelt. James drückt sich ans Fenster. Es ist dasselbe, aus dem er Gummer zuletzt gesehen hat, wie er in Salisbury auf dem Pflaster lag und die Männer auf ihn einprügelten. Er würde Gummer gern Wiedersehen, sehen, was aus ihm geworden ist. Auf ihre Weise waren sie ein gutes Gespann, und es war amüsant, so viele Leute hereinzulegen. Vielleicht haben Cannings Männer ihn ermordet, oder aber er baumelt irgendwo an einer Wegkreuzung den Körper in Ketten und von Krähen zerhackt. Wer würde einen so unnützen, hinterlistigen Menschen schon betrauern? In der Abenddämmerung fahren sie an Kensington Gardens vorbei. Trotz der Kälte öffnet Canning das Fenster, damit der Junge besser sehen kann, sehen und hören, denn die Stadt mit ihren eleganten, von Lampen erleuchteten Plätzen, ihren Soldaten zu Pferde, ihren Wagen, Karren und Straßenhändlern macht ein höchst eindrucksvolles Getöse. An verschiedenen Stellen verkeilen sich die Kutschen und Tragsessel ineinander. Dann brüllen die Kutscher und die Sänftenträger sich gegenseitig an, bösartig und komisch, ihre unflätigen Wortschwalle merkwürdig formalisiert. Kinder mit riesigen Augen und zerbrechlichen Gliedern schlängeln sich durch den Verkehr. Bettler heben die Hände vor das Fenster, zucken angesichts der Peitsche des Kutschers zusammen. Ein Hauch von Verbranntem, ein Hauch von 191
Gosse, sogar ein Duftschleier, als die Kutsche einer vornehmen Dame dicht an der ihren vorbeifährt. Piccadilly entlang, vorbei an St. James, dann die Horse Guards Parade, Strand, Fleet Street... Die Kutsche hält, der Lakai öffnet den Schlag, James und Canning steigen aus. Sie biegen in eine schmale Gasse zur Linken ein. Am Ende der Gasse steht ein Haus, vor dem eine Lampe brennt. Als sie näher kommen, tritt ihnen aus der Tür ein älterer Mann mit einem Talar und einem Stab entgegen. »Willkommen, Mr. Canning, Sir. Die meisten von den anderen Herren sind schon da.« »Sehr schön, Lute.« Canning drückt dem Mann eine Münze in die Hand. »Gehen Sie voran.« Sie betreten das Gebäude, ersteigen, vorbei an Porträts der Vorsitzenden und Alumnen der Gesellschaft, die Treppe. »Weißt du, wer das ist, James?« Canning ist vor dem imposantesten Porträt stehengeblieben. Ein humorloser Mann mit schmalem Gesicht, offenbar höchst irritiert. »Sir Isaac Newton, James. Ich hatte die Ehre, ihn in jungen Jahren kennenzulernen.« Lute führt sie zu einer Tür im hinteren Teil des Hauses. Über der Tür, auf einer goldenen Schriftrolle: »Nullius in Verba.« Als Lute öffnet, schlägt ihnen ein Meeresrauschen von Stimmen entgegen, das sich dämpft, als die Anwesenden Cannings Kommen bemerken. Mehrere Gesichter - darunter das von 192
Bentley - kennt James von der Zusammenkunft bei Canning. Lute stößt die Spitze seines Stabes auf den Boden, kündigt sie an. Canning nimmt James am Arm und besteigt mit ihm ein Podium. Dort steht ein Tisch mit einem Glas und einer Flasche. »Haben Sie die Sachen für mich besorgt, Lute?« fragt Canning. »Ich habe sie hier, Sir.« Er reicht Canning eine kleine Ledertasche. Sie sieht ganz neu aus. Canning öffnet sie rasch, wirft einen Blick hinein, nickt. Die Uhr schlägt acht. Draußen schlägt es die Stunde über die Stadt hin. James steht neben Canning, blickt über die Köpfe der Männer hinweg auf den Park. Es hat zu regnen begonnen. »Meine Herren! Verehrte Mitglieder... Ich bin - wie ich es versprochen habe - heute Abend hier, um Ihnen mein neuestes Naturwunder vorzustellen. Es handelt sich um einen Jungen, den ich in der Bude eines reisenden Quacksalbers entdeckte, wo er - in aller Unschuld - auftrat. Der Schurke benutzte den Jungen, um die Wirkungskraft eines Analgetikums zu demonstrieren. Die Demonstration war bemerkenswert überzeugend, doch als ich das Mittel untersuchte, stellte ich fest, dass es ein kompletter Schwindel war. Und doch hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie der Junge hier von Schmerzen unbeeindruckt blieb. Wenn das - wie eindeutig der Fall - nicht auf die Arznei zurückzuführen war, wie ließ es sich dann erklären? Ich wohnte einer ganzen Reihe dieser 193
›Demonstrationen‹ bei und ließ andere beobachten. Natürlich vermutete ich irgendeinen Schwindel, irgendeine Taschenspielerei, wie sie Bauernfänger und Betrüger beherrschen. Erst als ich mich davon überzeugt hatte, dass das nicht der Fall war, befreite ich das Kind aus seiner unglücklichen Lage und gewährte ihm den Schutz meines eigenen Hauses. Ich möchte nun mit gütiger Erlaubnis der Anwesenden ein kleines Experiment vorführen, das gewiss auch den Argwöhnischsten davon überzeugen wird, dass wir es hier mit einer außergewöhnlichen, der Aufmerksamkeit unserer Gesellschaft würdigen Erscheinung zu tun haben.« Canning entnimmt der Tasche eine sieben Zoll lange Nadel. Sie hat ein etwas medizinischeres Gepräge als die von Gummer bevorzugte, gleicht dieser jedoch in allen wichtigen Eigenschaften. Canning sticht sich in den Daumen, um zu demonstrieren, dass sie spitz ist. Er wendet sich James zu. James streckt die Hand aus, die Innenfläche nach oben gekehrt. Canning hält die Finger fest, bringt die Nadel in Position und treibt sie dem Jungen durch die Hand. James schreit. Canning starrt ihn an. Im Saal ist es still; jemand kichert. Mit leiser Stimme sagt Canning: »Wir sind hier nicht in einer Jahrmarktsbude, Kind. Wir wollen nichts verkaufen.« Sein Blick ist gar nicht mehr freundlich, hat nichts Mütterliches mehr. Er wendet sich an die Gesellschaft. Hinter seinem Rücken starrt 194
James den fetten Mann an, der fett zurückgrinst. »Ich sollte vielleicht erklären, meine Herren, dass der Junge zunächst Schmerz heucheln musste, um die Zuschauer davon zu überzeugen, dass er ein normal empfindendes Geschöpf, gewissermaßen einer wie sie war. Wenn ich noch einmal um Ihre Nachsicht bitten dürfte, werde ich das Experiment wiederholen.« Er wiederholt es. Diesmal verzieht der Junge keine Miene. Erstauntes Raunen unter den Versammelten. Ein Laut, den der Junge sehr gut kennt. Canning greift in die Tasche, zieht eine Zange hervor, hält sie mit freundlichem Lächeln vor der Gesellschaft hoch und benutzt sie dann dazu, dem Jungen den linken Daumennagel auszureißen. Das erfordert beträchtliche Anstrengung, so dass ihm der Schweiß auf die Oberlippe tritt. Er hält die Zange hoch, zwischen deren stählernen Backen der Nagel klemmt. Applaus brandet auf. Einige von den Herren erheben sich. Canning verbindet den Daumen, tätschelt James den Kopf. »Ich wünschte, meine Herren, ich könnte sagen, ich sei dahintergekommen, wie es zugeht, dass ein Junge, der ansonsten allen anderen Jungen seines Alters gleicht, keinen Schmerz verspürt. Leider ist mir das nicht gelungen. Es ist - wie Sie mit angesehen haben -, als sei die Fähigkeit des Leidens eingefroren, und in der Tat wissen wir ja auch, dass die Anwendung von Kälte bei einer Verletzung oft Linderung bringt. So mag denn in diesem Falle der Ausdruck ›kaltblütig‹ 195
nicht bloß im übertragenen Sinne gelten. Und sollte sich das herausstellen - dass die Sinne auf irgendeine Weise eingefroren sind -, dann ist es verlockend, sich zu überlegen, wie dieses Eis sich auftauen ließe und welchen Effekt es wohl hätte, wenn das Kind zum erstenmal Schmerz erlebte...« Der nächste Sprecher ist der Reverend John Seeper. Er hat eine merkwürdige Wühlmaus aus seinem Garten in Stroud mitgebracht. Weder er noch das Tier scheinen sich wohl zu fühlen. Die Gesellschaft zerstreut sich. Es ist nach Mitternacht, als die Kutsche von der Charles Street in den Grosvenor Square einfährt, wo Mr. Canning eine kleine, aber luxuriöse Wohnung gemietet hat. Er und James sind von ihren Bewunderern aufgehalten worden, den Herren von der Gesellschaft, die sie im oberen Gastraum der Mitre Tavern in der Fleet Street mit Wein und Speisen bewirteten. Einige haben darauf gedrängt, dass Mr. Canning seine Experimente wiederholte, doch dieser hat sich mit der Begründung geweigert, das sei der Würde der Gesellschaft abträglich. Unterdessen hat sich James, weitgehend unbeobachtet, über eine Flasche Wein hergemacht. Er war neugierig darauf, welche Wirkung sie haben, ob er davon so laut wie die anderen werden würde, doch außer einer leisen Empfindung von Wärme und einer leichten Beschleunigung seiner Gedanken hat er nichts gemerkt. Seltsam, dass diesem armseligen Zeug solcher Wert beigemessen wurde. 196
Canning ist guter Stimmung, als sie die Eingangstreppe des Hauses hinaufsteigen. Er singt leise auf italienisch, begrüßt sämtliche Diener mit Namen und lässt sich von ihnen die Hand küssen, als sei er der Bischof. In einem Raum voller Kristallkugeln erneuert er den Verband am Daumen des Jungen. Die Wunde, die von der Nadel herrührt, beginnt bereits zu verheilen. James wird von einem Diener zu einem Zimmer im ersten Stock geführt. Als der Diener geht, setzt sich James ans Fenster und blickt auf den kleinen Park hinaus. Trotz der späten Stunde sind noch immer Leute auf den Beinen, herrscht noch immer ein Hin und Her von Kutschen. Der Nachtwächter kommt »Ein Uhr vorbei. Alles der Ordnung gemäß!« Ein Bursche in zerlumptem Rock wuselt wie eine Schabe über den Platz. James benutzt den Nachttopf und steigt dann ins Bett. Als er aufwacht, ist es draußen noch dunkel, und nichts deutet auf den Morgen hin. Sein Mund und seine Kehle sind trocken wie Tuch. Er weiß nicht, wie lange er geschlafen hat. Er steigt aus dem Bett. Daneben steht eine Kerze, aber nichts, womit er sie entzünden kann. Er tastet sich aus dem Zimmer. Auf dem Flur ist es dunkel bis auf einen einzelnen Lichtbogen aus einer halb geöffneten Tür. Er tappt darauf zu, hört von drinnen gedämpften Gesang. Er lugt hinein; er hat eine ausgezeichnete Sicht. Mr. Canning sitzt nackt am Kamin seines Schlafzimmers und liest den St. James Chronicle. Die Zeitung raschelt, Can197
ning wendet die Seite um, dann, als habe er plötzlich genug davon, faltet er das Blatt energisch und lässt es neben sich auf den Boden fallen. Zunächst wirkt es wie eine optische Täuschung. Canning hat trotz des schlaff zwischen seinen Schenkeln liegenden Schwanzes Brüste. Nicht groß und voll und auch nicht schön, doch unbestreitbar Brüste. Irgendeine Bewegung des Jungen verrät seine Anwesenheit, Canning merkt auf, aufblitzende Augen in einem Steingesicht, dann sieht er, wer es ist, und lächelt, als wolle er sagen: »Hast du dir das denn nicht schon gedacht? Und ob du dir das gedacht hast.«
9 Mitte Juli kommt es zu einem Unwetter mit Hagelschlag, Hagelkörnern so groß wie Taubeneier, groß genug, um Schafe zu betäuben, sie zu erschlagen. Eine Woche lang spricht man davon als von einem Omen, dann wird es im Drang der Erntearbeiten vergessen. Mr. Collins in seinem Sommerrock reißt die Bibliotheksfenster auf. Schmeißfliegen taumeln herein, fliegen im Zickzack durch die vom Bücherstaub geschwängerte Luft. James liest oder döst. Er hat mit Mr. Canning noch zwei Fahrten nach London unternommen und noch zwei Nägel verloren. Vorderhand wird nichts weiter von ihm verlangt. Die Zwillinge kränkeln weiterhin: Brechanfälle im Mai, Fleckfieber im Juni. Als sie 198
im August, auf Molinas Arm gestützt, zum erstenmal seit Wochen wieder an die Luft gehen, wirken sie von den Bibliotheksfenstern aus wie zwei Alte auf einem Bummel mit ihrem Lieblingsneffen. Die Jahreszeit bringt ihnen Genesung; sie gewinnen eine zerbrechliche Lebhaftigkeit. Bald begehrt man James' Gesellschaft für Expeditionen, auf denen wild wachsende Blumen gepflückt werden. Wenn Molina dazukommt, skizziert er sie zusammen, und einige dieser Skizzen arbeitet er in Öl aus: zwei Mädchen und ein Junge, unter Bäumen sitzend, im zersplitterten Sonnenschein leicht verschwommen. Von allen Bildern James Dyers - der Missgeburt, des Modearztes - sind die von Molina vorzuziehen, kaum mehr als farbige Skizzen, die Farbe sehr frei gehandhabt, kaum Details. Die Mädchen sind mitsamt ihrer tragischen Verwachsung dargestellt; der Junge lehnt sehr gerade an einem Baum, sein Ausdruck so unbewegt wie bei einer von Mr. Cannings Statuen. Es ist das Gesicht eines kindlichen Mörders, eines schwachsinnigen Königs. Es verstört noch den flüchtigsten Betrachter. Er steht vor einem Geheimnis. Was veranlasst James schließlich zu gehen? Warum an dem einen und nicht an einem anderen Tag? Er hat sich in etwas verfangen, in den beschlagenen Zahnrädern einer riesigen Maschine. Er weiß nicht, wie er es nennen soll. In seinen Drüsen ist Licht und Heustaub. Seine Träume sind mit Hunden bevölkert. In der 199
vorigen Woche hat er in einem Anatomieband eine Stunde lang die sezierten Genitalien einer Frau angestarrt, sie studiert wie die Karte eines Landes, das er in Kürze bereisen wird. An diesem Morgen wacht er auf, schlüpft in seinen Morgenmantel und geht geradewegs zum Zimmer der Mädchen, als habe er eine Botschaft von ihnen erhalten, eine Einladung, heimlich von Zimmer zu Zimmer durch die Luft befördert. Er findet sie noch im Bett, wo sie sitzen und gekochte Eier schälen. Es ist eine Woche vor ihrem Geburtstag, vierzehn Tage vor seinem eigenen. Jede hat eine Perlenkette um den Hals, ein frühes Geschenk von Mr. Canning. Sie lächeln, und beider Lächeln schneidet sich, wo er steht. Die Mädchen legen ihre gekochten Eier halb geschält aus der Hand. Ann schlägt die Decken zurück. James steigt hinein, legt sich auf den Rücken, blickt zum Betthimmel auf. Später erinnert er sich, wieviel Gekicher es gegeben hat, wieviel die Mädchen zu wissen schienen. Und Jahre später, in Bath, auf einer Fahrt im offenen Wagen mit zwei verheirateten Frauen, die sich auf dem Sitz gegenüber zusammendrängen, wird ihm klar, dass das Wissen der Zwillinge nur die Frucht der Erfahrung gewesen sein kann. Mit wem? Canning? Molina? Waren sie Molinas Geliebte? Zwischen dem Gekicher Phasen eigenartigen, konzentrierten Schweigens. Ganze Minuten harter körperlicher Arbeit. Weil sie miteinander verbunden sind, 200
spürt jeder Zwilling die Lust des anderen. Man streichle eine Brust; beide Schwestern seufzen. Wie lange dauert es? Lange genug, dass er sich langweilt. Die Mädchen keuchen wie Kranke, gurren und schelten ihn, werden zeitweise heftig. Er macht mit, weil er möchte, dass die Erfahrung wohlgeordnet verläuft, ihr gehöriges Ende findet. Nach einer halben Stunde reißt Annas Perlenschnur; die warmen Perlen laufen wie Quecksilber zwischen ihre Körper und in die Falten des Lakens. Die Mädchen quietschen, knien sich hin, fangen an, sie aufzulesen, stecken sich jede gefundene Perle in den Mund. James sieht ihnen eine Weile zu, wie sie, die Münder voller Perlen, zwischen den Laken herumkrabbeln. Dann zieht er seinen Morgenmantel an und geht zurück in sein Zimmer. Ein anderer Tag. Es ist noch dunkel. Der fette Mann sitzt an James' Bett. Er hat eine Kerze in der Hand. Er riecht nach Regen und Brandy. »Wie geht es meinem Wunderknaben?« Er streckt eine kalte Hand aus, berührt die Wange des Jungen. James fragt: »Ist es heute? Das mit den Zwillingen?« »Ja, heute.« »Und darf ich zusehen?« »Aber ja, natürlich.« »Werden sie sterben?« »Und wenn, was kümmert es dich? Du bist derjenige, den ich gern aufschneiden würde. Ich wette, in dir 201
steckt so manches Geheimnis. Was meinst du, Junge sollen wir dich nehmen? Bei dir könnte ich mich darauf verlassen, dass du stillhältst. Den Mund hältst.« Die Tür geht auf, Mr. Canning steckt den Kopf herein. »Bentley?« »Ja, Canning, ich komme sofort.« Sie gehen. Der Junge bleibt noch liegen.
10 Er betritt Mr. Cannings privaten Operationssaal durch eine hoch in der hinteren Wand gelegene Tür, die direkt zu den Bänken auf der Galerie über dem Operationstisch führt. Bei ihm ist Molina, seine Zeichengeräte unter dem Arm. Canning hat ihn gebeten, den Eingriff im Bild festzuhalten. Molina sieht unpässlich aus; sein Atem ist unrein. Als er nach der Zeichenkohle greift, zittert seine Hand. Canning trägt einen Satinrock, weiß und mit silbernen Rosen bestickt, als sei der heutige Tag sein Hochzeitstag. Neben Canning haben bereits mehrere Herren von der Gesellschaft ihre Plätze eingenommen. Sie unterhalten sich angeregt und ziemlich laut miteinander. Durch das Oberlicht dringt gleichmäßig Tageslicht, und um den Tisch, einen kahlen Holztisch, wie man ihn in Küchen sieht, mit Holzblöcken für die Köpfe der Kinder, stehen drei hohe Kandelaber und ein 202
Diener mit einer Lichtschere, um die Dochte zu beschneiden. Kisten mit Sägemehl sind ordentlich unter den Tisch geschoben. Die unteren Türen gehen auf. Ein Quartett von Musikern tritt ein. Sie setzen sich, machen sich an ihren Notenblättern zu schaffen und untersuchen ihre Instrumente, als hätten Sie sie erst kürzlich entdeckt. Sie spielen zögernd ein paar Töne und verstummen dann. Als nächstes kommt Mr. Bentley mit Mr. Hampton, seinem Assistenten, und dessen Assistenten, dem Türhüter Lute, der ein großes, mit einem Tuch bedecktes Tablett trägt. Die Herren auf den Bänken applaudieren. Die Operateure verbeugen sich, gewandt und synchron. Dann löst sich Mr. Bentley aus der Gruppe, geht zur Tür, öffnet sie und geleitet die Zwillinge in den Operationssaal. Abermals Applaus. Die Zwillinge tragen eine Art Hemd, in der Mitte geschlitzt und mit Bändern verschnürt. Der Applaus schwillt an. Mr. Canning steht auf, die anderen folgen. Molina fängt rasch zu skizzieren an, die Kohle fährt zischend übers Papier. Die Skizze mutet wie ein Versuch an, etwas zu verbergen. Die Zwillinge blicken zur Galerie auf, zu den Bänken, den Männern, die sich mit ihrem galanten Lächeln über das Geländer beugen, die Perücken frisch gepudert, frische Hemden, kaum einer, der sich nicht von Cannings Barbier mit einem Rasiermesser übers Gesicht hat schaben lassen. Die Zwillinge blinzeln benommen. Unter Drogen, vielleicht betrun203
ken. Als ihre Blicke James erreichen, scheinen sie ihn kaum zu erkennen. Bentleys Hand hält Annas Ellbogen. Lute bleibt zwischen den Mädchen und der Tür stehen, wie um ihnen den Weg zu verstellen, falls sie versuchen sollten zu fliehen. Die Herren nehmen ihre Plätze wieder ein. Canning gibt mit der Hand ein Zeichen. Bentley nickt, führt die Mädchen zum Tisch, hilft ihnen hinauf, bettet ihre Köpfe auf die Holzblökke. Wie ein Zauberer zieht Lute zwei Taschentücher aus seiner Faust und legt eines über jedes Gesicht. Über den Mündern der Mädchen heben und senken sich die Taschentücher rasch. Das Tablett wird aufgedeckt; unter dem Tuch glitzert es von Messern. Bentley und Hampton sehen sie durch, als wollten sie eines kaufen. Lute murmelt einem Musiker etwas ins Ohr. Der Geiger klopft mit dem Fuß auf den Boden, und die anmutige Ouvertüre eines populären Werkes erfüllt den Saal. Die Operateure nehmen ihre Instrumente zur Hand, man löst die Bänder am Hemd der Zwillinge. Bentley tastet über die Hüften der Mädchen, findet die ihm geeignet erscheinende Stelle und treibt sein Messer hinein. Die Körper der Mädchen fahren vom Tisch hoch. Lute und Hampton drücken sie hinunter. Im Zimmer ist es plötzlich sehr warm. Die Mädchen schreien erst beim vierten Schnitt. Molina lehnt sich mit einem Stöhnen zurück; James beugt sich vor. Das Schreien hält etwa eine Minute an, dann kommt es zu einem plötzlichen Blutandrang, 204
einem roten Schwall, der vom Tisch schwappt. Lute tritt gegen eine der Kisten, um ihn aufzufangen, aber sein Tritt ist zu kräftig, so dass das Blut gegen die Wand der Kiste klatscht. Hampton versucht, die Gefäße abzuklemmen, die Bentley durchgeschnitten hat. Er sieht eines, klemmt es ab, fängt an, es abzubinden, doch der Blutfluss lässt nicht nach. Die Musiker haben einander verloren; jeder spielt, was er noch im Kopf hat. Bentley gleitet das Messer aus der Hand, fällt klappernd auf den Boden. Er flucht und greift sich vom Tablett ein anderes. Seine Schürze ist durchnässt. James wendet sich ab und sieht, wie sich Molina, zusammengesunken und aschgrau, über seine Schuhe erbricht. Mittlerweile bewegen sich die Tücher über den Gesichtern der Mädchen kaum noch. Hampton arbeitet wie rasend; seine Perücke ist ihm über das rechte Auge gerutscht, und als er sie zurückschiebt, hinterlässt er einen scharlachroten Handabdruck. Bentley tritt vom Tisch zurück, bedeutet einem Diener, ihm ein Glas zu bringen. Der Diener gießt den Brandy vorsichtig ein und verschüttet dennoch etwas. Er bringt ihn auf einem kleinen Tablett. Bentley nimmt einen großen Schluck, macht sich wieder an die Arbeit. Die Zwillinge sind nun nur noch durch ein Gewebestück an der Schulter miteinander verbunden. Bentley krümmt die mächtigen Schultern und trennt die Mädchen. Hampton kann nicht Schritt halten. Er brüllt Lute etwas völlig Unverständliches zu. Wieder 205
ein Blutschwall, diesmal von der Kiste aufgefangen. Bentley zu Hampton, mit dem Finger auf das betreffende Gefäß zeigend: »Abklemmen, Mann! Na los.« Der Oboist hat den Raum verlassen. Der Geiger und der Flötist spielen weiter, mittlerweile völlig für sich. Die Taschentücher heben und senken sich nicht mehr. Bentley legt sein Messer aus der Hand, sieht sich nach einem Tuch um, an dem er sich die Hände abwischen kann, und nimmt, als er keines findet, das Taschentuch von Anns Gesicht. Das Gesicht des Mädchens ist der Schwester zugewandt, mit offenem Mund, die Augen bis auf einen Spalt geschlossen. Nicht das kleinste Lebenszeichen ist mehr wahrzunehmen. Molina ist verschwunden. James nimmt Papier und Kohle und beginnt zu zeichnen. Hampton, der sich immer noch mit irgend etwas, irgendeiner Arterie, abmüht, weint. Er sagt, als spreche er mit den Mädchen: »Zu schnell! Einfach viel zu schnell!« Canning hat sich aufgerichtet und sagt ruhig: »Danke, Bentley. Ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes getan.« Er geht hinaus wie ein französischer König, seine Höflinge hinter sich. Bentley macht eine wegwerfende Handbewegung. Als er das nächstemal zu den Bänken aufblickt, ist nur noch James da, der seine Skizze fertigstellt. Als James sich an diesem Abend, bis zur Hüfte entkleidet, wäscht, findet er auf seiner Haut winzige Eierschalensplitter. Sie sind erstaunlich schwer zu 206
entfernen. Die Musiker, nicht mehr dieselben Menschen wie zuvor, bleiben noch, um in der Kapelle, bei der Beerdigung der Zwillinge, ein Trauerstück zu spielen. Mr. Canning weint zehn Minuten lang ausgiebig, wirkt auf seinem Kirchenstuhl gramgebeugt, erholt sich dann und ist, als er bei der Gesellschaft, die er danach gibt, Arm in Arm mit Mr. Bentley die Galerie entlanggeht, wieder ganz der alte. Die Mädchen werden in getrennten Särgen auf einem privaten Friedhof innerhalb des Anwesens bestattet. James ist dabei und schaut über den Rand des Grabes hinweg zu, wie die Särge aufeinandergestapelt werden. Er fragt sich kurz, welcher welcher ist, ob Anna oder Ann oben liegt. Es gibt keine Möglichkeit, das festzustellen. Für September ist es kalt; die Trauernden warten nur das Hinabwerfen der ersten Erdklumpen ab. Er sieht Molina erst wieder in der kommenden Woche, als er ihn dabei ertappt, wie er in eine von Mr. Cannings Amphoren uriniert. Der Maler ist betrunken, aber nicht sehr. »Tja, mein Freund. Alles nimmt einmal ein Ende. Du, ich, Canning. Sogar dieses schöne Haus wird eines Tages zu Staub zerfallen sein. Was mich angeht, so lasse ich meine Gebeine lieber in einem zivilisierten Land. Die englische Grausamkeit ist wie die englischen Spiele. Ich begreife sie nicht. Ich gehe 207
nach Hause. Auf Wiedersehen, James. Sieh zu, dass du von hier wegkommst.« James sagt: »Sie haben mir einmal gesagt, Sie würden mir den Mondjungen zeigen.« Molina blickt sich um, runzelt verständnislos die Stirn und lacht dann, als es ihm wieder einfällt. »Willst du ihn sehen?« Der Junge nickt. »Bueno, vamos...« Durch die weitläufigen Salons, vorbei an den vergoldeten Spiegeln, den Tapisserien, den geraubten Götterbildern; vorbei an riesigen Gemälden, eleganten Möbelstücken... Und nun die Treppe hinauf, Flure, unvermutet auftauchende Fenster, der Rücken eines verschwindenden Dieners, eine Tür, die in der Ferne ins Schloss fällt. »Da drin«, sagt Molina. »In diesem Zimmer.« James blickt den Korridor entlang zurück, hat für einen Moment die Orientierung verloren. Ihm war, als seien sie zur Tür seines eigenen Zimmers gekommen. Jetzt geht ihm auf, dass es tatsächlich so ist. Molina öffnet die Tür. »Komm, James. Nur nicht schüchtern.« Er nimmt den Jungen nicht allzu sanft bei der Hand und zieht ihn ins Zimmer und vor den Spiegel. »Kennt ihr euch schon?« Molina weicht zur Tür zurück. »Adiós, mein Freund. Das hier ist ein gefährlicher Ort. Peligroso. Sogar für dich.« 208
James starrt in den Spiegel. Der Mondjunge starrt zurück. Draußen fällt feiner blauer Regen. Ein Diener mit einem Eimer trottet zu dem Haus am See.
11 Ein Junge, zwölf Monate größer, kommt aus dem Wald, in den Armen die leuchtende Kugel eines Bovists, als sei sie der Kopf eines Ungeheuers, das er erschlagen hat. Hinter ihm hoppelt ein Hund, ein grauer, dreibeiniger Mischling. Sie sind so etwas wie Gefährten; der Hund hängt an dem Jungen mit einfältiger Zuneigung, der Junge ist damit zufrieden, ihn als seinen unbeholfenen Schatten bei sich zu haben. Dann und wann wirft er einen Stock und amüsiert sich über seinen komischen Galopp, seine Begeisterung. Er dient ihm auch noch auf andere Weise. Im Frühling ist er ihm zugelaufen, und das linke Ohr hing nur noch an einem roten Fleischfaden. Mit Nadel und Faden hat James, während Mr. Collins das Tier festhielt, das Ohr ordentlich, wenn auch nicht ganz gerade, wieder angenäht. Der Hund war sein erster Patient, und als er sich keine weiteren Verletzungen zuzog, hat James sie ihm selbst mit Messer oder Stock beigebracht, so dass der Hund, der nun an ihm vorbei auf das phantastisch beschnittene Baumwerk des italienischen Gartens zuläuft, ein Dutzend Narben trägt, manche blaugrau, manche fahl, doch jede gekonnter vernäht als die vorige. 209
Er folgt dem Tier in Richtung Garten, verliert es zwischen den gestutzten grünen Wänden aus den Augen, hört sein nervöses Gebell anschwellen und dann jäh aufhören. Er ruft es; es kommt nicht. Er betritt den Garten, sieht den Gärtnerkarren halb voller abgeschnittener Zweige, aber keinen Gärtner und keinen Hund, obwohl die dreipfotige Spur des Tiers im Gras zu sehen ist. Die Hecken glänzen. Plötzlich schleudert es eine Vogelfamilie hoch, die zum Wald hin abschwenkt. Eine Stimme singt, schwach und heiser, ein Diener vielleicht, bei einem verbotenen Ständchen für seine Liebste. Dann spricht die Stimme mit ihm, redet ihn aus einer Immergrünkugel heraus mit Namen an. »James! Hierher.« Man kann dicht am südlichen Pol in die Kugel eindringen. James kriecht hinein. Neben der Leiche des Hundes sitzt kreuzfidel Gummer. James sagt erst einmal gar nichts. Er sieht Gummer an, als sei ihm der als Präparat in einem Glas mit Konservierungsflüssigkeit untergekommen. Und Gummer ist tatsächlich recht gut konserviert, obwohl er graue Haare in den Nasenlöchern hat, seine Zähne braun verfärbt sind und die Haut an seinem Hals faltiger ist. James ist, als habe er diese Begegnung im grünen, tropfenden Dämmer des Gartens bis in alle Einzelheiten geträumt, bis hin zu der großkalibrigen, kurzläufigen Pistole, mit der Gummer ganz beiläufig auf seinen Bauch zielt. 210
»Wann gehen wir?« »Gut gesprochen, Junge! Sobald du möchtest. Kann ich dir so weit trauen, dass ich dich deine Sachen aus dem Haus holen lasse? Ich glaube schon. Und falls du dabei zufällig auch etwas von Mr. Cannings Silber einpackst, dann ist das nur eine Entschädigung, eine Rückzahlung ohne den Umstand, den Schurken vor Gericht zerren zu müssen; denn du warst mein Eigentum, Junge, und der Spitzbube hat dich gestohlen. Noch etwas Käse, wenn du schon dabei bist, und Fleisch und eine gute Flasche Wein. Ich werde genau gegenüber Posten beziehen, damit ich dich kommen und gehen sehe. Irgendwelche Überraschungen, und du schließt dich dem armen Zerebus hier an.« Er tätschelt den Kadaver liebevoll. »Comprendy vouz? Verdammt, was bin ich froh, dich zu sehen, Junge.« James geht ins Haus, spielt flüchtig mit dem Gedanken, die Diener auf Gummers Anwesenheit aufmerksam zu machen, und packt dann rasch den größten Teil seiner Garderobe zusammen. Er geht in die Bibliothek und nimmt sich diejenigen seiner Lieblingsbücher, die er in der Eile zu fassen bekommt. In einer der Galerien steckt er vier silberne Schnupftabakdosen ein, und in der Küche, wo die Köchin auf ihrem Stuhl schnarcht und sich die Füße am Feuer wärmt, versorgt er sich mit zwei kalten gebratenen Tauben und einer halben Flasche vom Schnaps der Köchin. Wegzugehen fällt ihm nicht schwer. Er sitzt hinter 211
Gummer auf dessen Pferd, reitet nach Süden, seine Tasche zwischen ihnen festgeschnallt. Wo immer möglich, meiden sie die Straßen und die Dörfer. Dann und wann bedenkt ein Landmann mit einer Breithacke über der Schulter oder eine Beerensammlerin sie mit einem forschenden Blick, aber meistens sind sie allein und werden nur vom Vieh, von Schafen und jenen Geschöpfen beobachtet, die nachts vom Lichtschein ihres Feuers angezogen werden. Am dritten Tag reiten sie einen gewundenen Feldweg zwischen Hecken hinauf, die blau sind von Beeren. Über ihnen schweben Seevögel, dann, hundert Ellen jenseits der Hügelkuppe, ist die Welt zu Ende, und ein salziger Wind reißt Gummer den Hut vom Kopf und schnipst ihn in gemächlichen Stößen zum Meer hinunter. Sie überqueren Southampton Water mit der Fähre und kommen in der letzten Stunde des Tageslichts, der ersten der Nacht, in Sichtweite von Portsmouth. Auf dem Wasser bleibt es länger hell als an Land. Nicht einmal in Bristol hat James eine solche Ansammlung von Schiffen gesehen, Schiffe im Pool und eine riesige Menge, mehr, als man rasch zählen kann, draußen in Spithead. Zwischen den großen Schiffen alle Arten von kleineren Wasserfahrzeugen - Kähne, Jollen, Gigs -, die hin und her fahren, die Stimmen der Seeleute so klar vernehmbar wie die Schreie der Seevögel. Sie reiten in die Stadt hinab. Überall Seeleute mit ihrem wiegenden Gang, Landgänger im 212
kurzen Wams, jedes Gespräch im Brüllton geführt, an den Armen abgetakelte Huren, ebenso laut wie ihre Begleiter. James und Gummer reiten an den Lichtern eines Bureaus vorbei, in dem Soldaten geworben werden. Am Obergeschoss hängt, groß wie ein Segel, eine weiße Flagge mit rotem Kreuz. Männer in Uniform, dunkle Gesichter, helle taxierende Augen, sehen ihnen nach. Einer ruft. »Heda, ihr Burschen...« Und Gummer drückt dem Pferd die Absätze in die Weichen, treibt es mit leisem Zungenschnalzen an. Das Haus liegt in irgendeiner Seitengasse. Das Pferd muss sich seinen Weg durch Abfall suchen. Im Dunkeln huschen Gestalten an ihnen vorbei. »Hier ist dein Zuhause, Junge - vorläufig jedenfalls. Komm, ich stelle dir deine Stiefmutter vor.« Geht man nach seiner vage schattierten Form, wirkt dieses Zuhause wie das Nebengebäude eines Bauernhofes, was es durchaus einmal gewesen sein mag, ehe die Stadt es geschluckt hat. Im Innern jedoch vermittelt es einen Eindruck von rudimentärer Haushaltung. Im Herd grummelt ein Feuer, es gibt Bilder an den Wänden, Porzellan in der Anrichte, sogar zwei Geranien an dem mit Vorhängen versehenen Fenster und darüber einen großen, tückisch aussehenden Papagei, der unruhig auf seiner Stange schaukelt. An der Tür steht mit einer Kerze Grace Boylan, ein Tuch über dem Haar. Sie wirft einen flüchtigen Blick auf den Jungen, forscht dann über seine Schulter hinweg nach Gummer, streckt die Hand nach ihm aus 213
und führt ihn am Arm ins Warme. Sie setzt ihn auf einen Stuhl, zaubert ein Glas gestockte Milch mit Ale her, streichelt ihm, während er trinkt, die Wange, gurrt und lässt sich mit ihrem massigen Körper auf seinem Knie nieder. Mit einem Seufzer leert Gummer sein Glas, strahlt und sagt: »Ich habe gesagt, ich hole ihn. Sieh mal, wie groß er geworden ist. Potztausend, sie müssen ihn gut gefüttert haben.« Er schiebt die Frau von seinen Knien, zieht eine Grimasse und steht auf. »Aber das Wichtigste zuerst.« Er überwindet die Distanz zwischen ihnen mit bemerkenswerter Gewandtheit und versetzt dem Jungen einen Schlag gegen die Schläfe. Während James taumelt, versetzt ihm Grace einen zweiten, dann einen dritten, gut bemessen, gut aufeinander abgestimmt. James geht zu Boden. Sie beginnen ihn zu treten. »Nicht gegen den Kopf!« schreit Gummer. »Nicht gegen den Kopf!« Sie bearbeiten ihn fünf Minuten lang und lassen sich dann keuchend auf Stühle plumpsen. Boylan wirkt so mitgenommen, als habe man sie getreten, und dennoch ruhig, als habe ihr das Ganze gutgetan, ihr einen gewissen Frieden verschafft. James liegt auf dem Boden. Er fühlt sich nicht unwohl; er bekommt nur nicht richtig Luft. Die Decke pulsiert wie eine Haut. Im Zimmer wird es dunkler. Er sieht, wie Gummer sich die Schuhe auszieht und an den Kohlen die Füße wärmt. »Morgen, Gracie, 214
werden wir feiern. Die Stadt leer saufen. Was meinst du dazu?« Wie ein verkommener Engel schwingt sich der Papagei von seiner Stange und landet auf der Lehne von Gummers Stuhl. »Nicht gegen den Kopf!« schreit er. »Nicht gegen den Kopf! Nicht gegen den Kopf!« Als James aufwacht, liegt er voll bekleidet im Bett. Gegenüber dem Bett befindet sich ein kleines Fenster. Die grauen Anfänge des Tages sickern über das Dach des Hauses auf der anderen Gassenseite. James setzt sich auf, zieht sich das Hemd aus und betrachtet die Striemen auf seiner Brust. Eindrucksvoll. Er steigt aus dem Bett, tritt ans Fenster. Kein Parkgelände, kein Irrgarten, kein purpurroter Wald. Auf der Straße unter ihm, der gepflasterten Gosse, hockt sich, den Arm um den Hals eines Hundes gelegt, ein kleines Mädchen nieder und sieht zu, wie sich die goldene Schnur seines Wassers durch die Spalten zwischen den Pflastersteinen schlängelt. Aus einem Fenster beugt sich ein Mann, reibt sich das Gesicht, blickt prüfend zum Himmel auf. Am Fußende des Bettes liegt ein Paket. James setzt sich auf das Bett und hebt das Paket auf den Schoß. Alte Kleider, die meisten mittlerweile nicht mehr zu gebrauchen, zu klein, zu zerlumpt. Er lässt sie auf den Boden fallen. Zuunterst befindet sich der Kasten, die Wände zerkratzt, stellenweise gesplittert. Er öffnet ihn. Die Venus kullert wie eine Murmel umher. Die 215
Sonne ist verbeult. Der Mond neigt sich wie betrunken von der Erde weg. Geduldig macht er sich daran, sein Universum wiederherzustellen. In der Stadt wirken die drei für den zufälligen Beobachter wie eine Familie. Gummer macht eine Bemerkung darüber; sogar Grace scheint in ihrer Rolle aufzugehen, und als im Schankraum des Anchor ein Zuhälter namens Israel England auf die Ähnlichkeiten hinweist - die Hände vom Vater, die Nase von der Mutter -, wendet sie sich James zu und lässt in der Gegend seiner Wange einen nach Austern und Porter riechenden Kuss platzen. Vom Anchor zum Sailor's Return, dann zum Black Horse, zum Queen Anne, zum Star, zum White Horse, zum Grapes; zurück zum Black Horse; dann grölend und übermütig ins Lobster Pot, wo Gummer sich am Türsturz den Kopf aufschlägt, im Augenblick aber sowenig schmerzempfindlich ist wie der Junge, der junge Bursche, der junge Mann hinter ihm. Grace betupft ihn mit ihrem Taschentuch, bestellt Schnaps und heißes Wasser. Sie trinken, als hätten sie seit Tagen nichts getrunken. Nur James sieht, was geschieht, sieht die wie Spielkarten vor die Münder der Männer gehaltenen Hände, hört das leise Gemurmel, während sie ihr Komplott schmieden, weiß, ohne es völlig zu verstehen, dass Gefahr im Verzug ist. Wenn er jetzt etwas sagt, wird er sie dann retten? 216
Möchte er das überhaupt? Er blickt zu Gummer hinüber. Es hat ihm nicht leid getan, ihn in dem Busch zu sehen, das verschlagene Grinsen, die flinken, belustigten Augen. Aber Gummer hat sich verändert, oder er selbst hat sich verändert. Was hat er eigentlich an Gummer gemocht? Dass Gummer von ihm Notiz genommen hat, während die anderen das nicht taten oder jedenfalls vorgaben, es nicht zu tun. Dafür bestand ein gewisser Vorrat an Wohlwollen, ein magerer Vorrat, der mittlerweile völlig aufgezehrt ist. »Hoch die Tassen, Gracie!« sagt Gummer. Ein Mann in weißen Beinkleidern, die Hände mit blauen Netzen tätowiert, geht hinaus, sieht den Jungen im Vorbeigehen von der Seite an. Den Blick zu erwidern heißt, zum Komplizen zu werden. James erwidert ihn; er sagt nichts. Die anderen trinken ihre Becher leer und wanken hinaus. Mittlerweile ist es dunkel. Gummer tanzt, ganz ausgelassen, dann, auf die Schultern des Jungen gestützt, brüllt er: »Eins wirst du nie erfahren«, und schwenkt den Arm, wie um die Nacht anzukündigen. »Du tust mir leid. Tust mir leid. Herrgott im Himmel!« Er stürzt auf die Knie. Grace zerrt ihn hoch, wuchtet ihn sich auf den Rücken, schlingt sich seine Arme um den Hals, so dass sein Kopf auf ihre Schulter sinkt und seine Fußspitzen hinter ihr über den Boden schleifen. James sieht sich nach dem Matrosen um, meint ihn im Schatten eines vernagelten Kramladens zu sehen; ihn und noch einen. 217
Und nun heimwärts, mit James als Nachhut. Gummer schläft selig auf dem Rücken der Frau. Der Mond lugt hervor, überzieht die Straßen mit einem schwarzen Schimmer. Irgendwo hinter ihnen folgen die Männer. An der Haustür blickt sich James flüchtig um, aber die Straße ist leer. Grace sagt: »Hilf mir mit ihm.« James nimmt die Füße. Die Stiege ist sehr eng und sehr dunkel. Beim fünften Versuch gelingt es Grace, eine Kerze anzuzünden. Mit schlaffem Mund, zwischen den Lidern einen schmalen weißen Streifen, liegt Gummer auf dem Bett. Grace kneift ihn in die Wange. Er kommt zu sich, setzt sich auf und singt: »Schafft her im Sabinerkrug vier Jahre alten Wein, O Tally-arkus...« Dann sinkt er nach hinten, lächelt, ist augenblicklich eingeschlafen. Grace sagt zu James: »Verriegle die Tür.« James geht nach unten. Das Feuer ist noch nicht ganz erloschen. Auf dem Bord findet er einen Kerzenstummel, entzündet ihn an der Glut. Er öffnet die Eingangstür zwei Zoll breit und geht dann nach oben, um seine Tasche zu packen. Das Orrery-Planetarium schlägt er in seinen Samtrock ein und vergräbt es tief in der Tasche, dann trägt er die Tasche nach unten und wartet am Kamin. Er muss nicht lange warten. Man hört ein Geräusch, leise, wie wenn ein Hund im Abfall schnüffelt. James geht zur Tür. Der Mann steht grinsend vor ihm, in der Hand einen Totschläger. Er legt den Finger an die Lippen. James deutet nach 218
oben. Zu einem hinter ihm, einem riesigen Chinesen, sagt der Seemann: »Bleib hier, Ling-ling. Kümmere dich um unseren neuen Schiffskameraden. Warren, Kinnear. Ihr kommt mit mir.« Als sie die Treppe hinaufgehen, sieht James, dass sie barfuss sind. Der Chinese steckt verschiedene Sachen ein. Es sieht gar nicht nach Stehlen aus. James, der Gummer nur drei von Cannings Schnupftabakdosen gegeben hat, gibt die vierte Ling-ling. Der Chinese nimmt sie, streicht mit dem Finger über den Deckel. Er sagt: »Sie nennen mich Ling-ling, wie Glocke. Mein Name Easter Smith. Mein alter Name Li Chian Wu.« Von der Decke ein mächtiges Poltern, als habe jemand das Bett hochgehoben und auf den Boden geschleudert. Einer der Seeleute, Warren oder Kinnear, kommt Zähne spuckend die Treppe heruntergewankt. Von oben kreischt Grace Boylan: »Mörder! Mörder!« Ling-ling geht hinauf. Gepolter, Flüche, das Geräusch von etwas Großem, Leerem, das zusammenkracht. Plötzliche Stille, dann Ling-ling mit Gummer in den Armen, hinter Ling-ling die anderen Seeleute und dann Grace Boylan, die auf Händen und Knien herunterkommt. »Erbarmen«, schreit sie, und ihrem Herzen entringt sich ein gewaltiges Schluchzen. »Er ist krank, seht ihr das denn nicht? Krank. Eine schreckliche ansteckende Krankheit. Grüne Scheiße. Bis Montag seid ihr alle tot.« 219
»Die Krankheit kenne ich, Mutter«, sagt der Seemann mit den Tätowierungen. »Gute Seeluft bringt ihn wieder auf die Beine. Leinen los, Männer!« Sie weicht zurück; er versetzt ihr einen Schlag mit dem Knüttel, und noch einen. Dann gleiten sie in die Nacht hinaus. Passanten schrecken vor ihnen zurück; eine alte Frau droht ihnen mit der Faust. Links, wieder links. Gummer, noch immer schlaff wie eine Stoffpuppe in Ling-lings Armen, murmelt vor sich hin, sträubt sich jedoch nicht. Sie kommen am Hafen heraus. Neben einem Poller steht ein Mann in blauem Rock, an der Seite ein Degengehenk, und sieht ihnen entgegen. Er ruft: »Irgend etwas Brauchbares, Hubbard?« »Zwei Landratten, Sir. Der Junge ist freiwillig mitgekommen.« Der Offizier sieht James ins Gesicht. »Du meldest dich freiwillig?« »Ja.« Der Offizier zieht eine Münze aus der Tasche und gibt sie James. »Willkommen bei der Kriegsmarine König Georgs. Bringt sie an Bord des Leichters. Sagt Mr. Tedder, er soll diesen hier als Freiwilligen in die Bücher eintragen. Beeilung!« Sie fahren übers Wasser. Die Riemen knirschen in den Klampen; die Männer sprechen irgendein Kauderwelsch. Sie werden von anderen Schiffen aus angerufen: »Ihr da, was seid ihr!« 220
»Aquilons!« Wie hoch die Holzwände von Schiffen sind! Einige der Kriegsschiffe haben die Geschütze ausgerannt, und aus den Stückpforten dringen Licht, Musik, Stimmengewirr. Gummer, eng zusammengerollt auf dem Boden des Bootes, schaudert. James stellt die Füße auf ihn, drückt seine Tasche an die Brust, schmeckt die Salzbrise. An einem Schiff genau vor ihnen ist eine Laterne zu sehen, eine Stimme ertönt »Ahoi da!« -, und Ling-ling, Easter Smith, Li Chian Wu zieht sein Ruder durch und flüstert: »Das ist jetzt dein Zuhause.«
12 Kingswear, den 10. Januar 1773 Rev. Dvd. Fisher an Rev. Jh. Lestrade Sir, Mr. Buller von der Admiralität hat mich davon unterrichtet, dass Sie den Wunsch hegen, etwas über die seemännische Laufbahn von James Dyer zu erfahren, der, wie ich höre, ein enger Freund von Ihnen war. Da Mr. Buller weiß, dass ich einen Großteil der fünfziger Jahre hindurch als Kaplan auf der Aquilon gefahren bin, hat er angeregt, dass ich Ihnen einige Erinnerungen liefere, was ich - mit der Bitte um Nachsicht für allfällige, durch das Verstreichen von einigen zwanzig Jahren bedingte Verzerrungen 221
des Gedächtnisses - hiermit zu tun bemüht bin. Vielleicht steht es auch in meiner Macht, Ihnen die Namen anderer ehemaliger »Aquilons« zu nennen, insbesondere Mr. Munro, von dem ich wohl noch eine alte Adresse in Bath habe, anhand deren er möglicherweise aufzufinden wäre. Um mich selbst in den Zusammenhang dieses Berichts zu stellen, möchte ich lediglich sagen, dass ich im Frühjahr 53 an Bord der Aquilon kam, nachdem ich im Jahr davor die Universität - ich war Student am New College - abgeschlossen hatte. Ich hatte mir Hoffnungen gemacht, in Mere leben zu können, aber diese Pfarre fiel jemand anders zu, und weil mir an einer bescheidenen Kuratenstelle nicht gelegen war, bat ich einen Onkel, damals Kapitän der Furious, mir einen Posten zu verschaffen. Ich wusste damals sowenig von der See und vom Leben auf einem Kriegsschiff wie nur je ein Engländer, und hätte ich über die Entbehrungen, das Taedium und die Trostlosigkeit eines solchen Lebens Bescheid gewusst, so hätte ich wohl kaum je den Fuß auf die Laufplanke gesetzt und damit jene Jugendabenteuer versäumt, die zu erzählen mir, fürchte ich, allzu lieb geworden ist - sehr zum Leidwesen meiner armen Frau, Mrs. Nancy Fisher geb. Arbott, von den Arbotts in Exeter: Sie kennen die Familie vielleicht. Doch wenn ein Mensch in die Jahre kommt, blickt er gern auf jene Zeiten in seinem Leben zurück, da er zum tätigen Teil der Welt zählte und seine Kenntnis 222
derselben nicht zur Gänze der Zeitung entnahm. Doch genug. Ich fuhr mit Captain Reynolds - von seinem Charakter sogleich mehr - zunächst nach Gibraltar, sodann nach Port Mahon und von dort nach Santa Lucia in Westindien, wo ich vom schwarzen Erbrechen befallen wurde und, so glaube ich, ohne die Fürsorge Mr. Munros meine Tage vor jener ungesunden Küste beschlossen hätte, wie es denn auch einige zwanzig aus der Mannschaft taten. Wir kehrten im Sommer 54 nach Portsmouth zurück, wo ich das Schiff verließ, um mein Glück auf terra firma zu versuchen, aber da ich meine Lage nicht gebessert fand, heuerte ich abermals bei Captain Reynolds an und war gerade neuerlich in Amt und Würden, als ich zum erstenmal James Dyer zu Gesicht bekam, will sagen, ich muss damals mein Auge auf ihn gerichtet haben, weil zu diesem Zeitpunkt die neuen Leute an Bord kamen. Ich kann mich indes nicht erinnern, dass er oder überhaupt einer von ihnen mir besonders aufgefallen wäre, ausgenommen ein Bursche namens Dabb, der wahnsinnig wurde, über die Heckreling sprang und nimmer gesehen ward. Wie Sie wissen, Sir, wendet die Marine das traurige und schändliche Verfahren an, ihren Bedarf hauptsächlich mit gepressten Männern zu decken, und nie hat man soviel nacktes Elend gesehen wie auf den Gesichtern jener Unglücklichen, wenn sie zum erstenmal an Bord kommen und von einer Welt umgeben sind, die ihnen so fremdartig erscheint wie 223
der Mond. Wenn Sie, Reverend, nie die Ehre gehabt haben, die Deckplanken eines Schiffes Seiner Majestät zu begehen, so wird es Ihnen, fürchte ich, sehr schwer fallen, die Welt zu begreifen, in die Ihr Freund eingetreten war. Schon die Seeleute sind - in ihrem Aussehen, ihrer Sprache und ihrem Charakter - ihren Vettern an Land ganz unähnlich. Fortwährend schlägt einem Gerede von Püttingswanten und Aufholern, Fallen, Bramstengen, Spieren, Gangspills und ich weiß nicht was noch ans Ohr. Und, Sir, es ist eine so ungemein geordnete Welt, so ungemein eigen und auf ihre Sitten bedacht - wer wann auf das Quarterdeck darf und wer nicht, wer als Gentleman gilt und wer nicht -, dass nichts leichter ist, als unwissentlich Anstoß zu erregen. Ich war natürlich ein »Freiwächter«, genau wie der Schulmeister - es waren stets mehrere kleine Kinder an Bord -, der Proviantmeister, der Zimmermann, der Wundarzt und seine Gehilfen; das heißt alle jene, die keine Wache gingen. Das bot mehrere Vorteile, deren nicht geringster darin bestand, dass wir zumeist einen ununterbrochenen Nachtschlaf genießen durften, während kein Matrose jemals länger als vier Stunden am Stück schlief, und selbst diese magere Ration unterlag noch der Willkür des Wetters. Das dürfte auch das Schicksal Ihres Freundes gewesen sein: eingezwängt in ein stinkendes Quartier unter Deck, die Hängematte zwischen denen seiner schmutzigen Schiffskameraden aufgehängt, alles entweder zu heiß 224
oder zu kalt, alles von Pfeifen, Flüchen und dem Tauende reguliert - denn der Bootsmann und seine Gehilfen gaben kaum einmal einen Befehl, der nicht von einem Peitschenhieb begleitet worden wäre -, und das auf einem Schiff, welches, was die Strenge der an Bord herrschenden Disziplin anging, als sehr gemäßigt galt. Nun warten Sie, fürchte ich, Sir, gewiss mit wachsender Ungeduld darauf, endlich zu erfahren, wann ich James Dyer zum erstenmal bemerkte. Ich habe mir, während ich hier am Schreibtisch sitze, die gleiche Frage gestellt und wurde vor gerade zwei Minuten mit einer wahrhaftigen Erinnerung belohnt, geradeso, als hätte sie in Bernstein überdauert. Wir befanden uns im Golf von Biscaya, und ich machte meinen regelmäßigen Morgenspaziergang mit Mr. Shatt, dem Schulmeister, als er mich auf Dyer aufmerksam machte und sagte, Mr. Drake - ein sehr Hebenswürdiger Offizier, wenngleich für einen Seekadetten etwas alt - habe eine Bemerkung über die Gelassenheit des Jungen gemacht und wie er ihn aufrecht die Rahen habe entlanggehen sehen, als sei er schon zwanzig Jahre dabei. Als ich hinschaute, sah ich einen jungen Menschen von ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahren, gekleidet in ein Leinenhemd und ausgebeulte Hosen, gut gebaut, ansehnlich, wenngleich mit recht ernster, ja - wenn ich so sagen darf, ohne Ihre Erinnerung an ihn zu beleidigen einigermaßen hochnäsiger Miene, und das gab 225
zweifellos dem Gerücht Auftrieb, er sei von guter Herkunft. Andere Hinweise schienen das zu bestätigen. So hatte er, als er an Bord kam, eine Tasche mit Kleidern bei sich, die einige vornehme Röcke, Westen etc. enthielt, dazu in einem Kasten ein OrreryPlanetarium, das vorzuführen Mr. Munro ihn schließlich bewegen konnte. Neben diesen - eher indirekten als schlüssigen - Beweisen wurde ständig gemunkelt, einer der gepressten Männer, ein älterer Mensch mit Namen Gunner, der zur gleichen Zeit an Bord gekommen war, sei sein Diener oder sei es jedenfalls gewesen. Wie solche Geschichten aufkommen, kann ich nicht sagen. Ich fand immer, sie gleichen Herodots Bienen, insofern sie sich durch sich selbst fortpflanzen, und selbstverständlich verbreiten sie sich, sobald sie existieren, binnen kürzester Zeit über das ganze Schiff. Zunächst hatte ich die Vorstellung, dass diese Andeutungen von einer edlen Abkunft James Dyer unter den gemeinen Seeleuten überhaupt nicht von Nutzen sein würden, doch wurde er, ob aus natürlicher Ehrerbietung gegenüber einem Höhergeborenen oder dank seiner großen Gelassenheit, recht beliebt bei ihnen - will sagen, sie respektierten ihn, obwohl ich nicht glaube, dass irgendwer ihn liebte. Nun hat, Sir, Mr. Dnl. Tusker, mein Rhetoriklehrer in der Grammar School, mir eingeschärft, niemals eine allgemeine Feststellung zu treffen, ohne sogleich ein spezielles Beispiel zu liefern, durch das sich ihre 226
Wahrheit beweisen lässt. Das will ich denn also in puncto dieser Gelassenheit tun - dieses Gleichmuts, dieser Beherrschtheit, dieser Unerschütterlichkeit oder wie immer wir es nennen wollen. Sie selbst haben ja gewissauch so manches Beispiel dafür erlebt. Bereits erwähnt habe ich, dass er auf den Rahen entlangging - und das bei jedem Wetter. Dann war da die Tatsache, dass er sich von Mr. Cladingbowl, dem Bootsmann, nicht im mindesten einschüchtern ließ, obwohl dieser ein gewaltiger Leuteschinder und großer Verfechter des »Fitzens« war, der unheilvollen Sitte des inoffiziellen Ausprügelns, bei der die höheren Offiziere ein Auge zudrückten. Dyer wurde wegen verschiedener wirklicher oder vermeintlicher Vergehen von Cladingbowl und auch von dessen Gehilfen Dominic und Muddit so heftig geprügelt, dass einmal sogar Mr. Munro gerufen werden musste und den Jungen auf Rücken und Hüfte schwer gezeichnet fand, wofür Dominic und Muddit eine Woche in Eisen gelegt wurden, wenngleich Cladingbowl seiner gerechten Strafe bis Minorca entging, wo er von einer Traubenladung voll getroffen und gleichsam pulverisiert wurde. Was Mr. Munro bei dieser Gelegenheit verblüffte, war, dass der Junge, wiewohl benommen, keinerlei Anzeichen von Schmerz erkennen ließ, wie er mit einer solchen Auspeitschung zwangsläufig verbunden ist. Noch mehr aber verblüffte ihn und uns alle die Geschwindigkeit, mit der die Striemen auf seinem 227
Rücken verschwanden, denn er war, glaube ich, nicht länger als einen einzigen Tag im Krankenrevier, ehe er sich wieder für diensttauglich erklärte. Eine weitere Begebenheit, die ich gern mitgeteilt hätte, kann ich guten Gewissens nicht schildern, denn ich habe nichts davon selbst miterlebt und nur aus zweiter Hand, nämlich von Lt. Williams von den Seesoldaten, davon erfahren. Sie betrifft einen Angriff auf die Siedlung Baracoa auf der Insel Kuba, bei dem Ihr Freund eine denkwürdige Rolle spielte. Ich kann Lt. Williams nicht bitten, Ihnen davon zu berichten, weil der Ärmste leider dem Blutfluss erlag, aber Mr. Drake, der in Brixham lebt, ließe sich wohl dazu bewegen. Kurz nach dem Angriff auf Baracoa wurde James Dyer auf Ersuchen von Mr. Munro zu dessen »Haferbreiträger«, d. h. zu einer Art Gehilfen für ihn und seinen Unterwundarzt, Mr. O'Brien, gemacht. Das befreite den Jungen von den Härten der Wache und versetzte ihn in die Lage, in die Kockpit umzuziehen, die trotz des dort herrschenden Dunkels - sie liegt tief im Bauch des Schiffes - und trotz des Gestanks der gleich nebenan untergebrachten Proviantmeisterei im Vergleich mit seinem alten Quartier ein veritabler Palast gewesen sein muss. Es hatte außerdem den glücklichen Effekt, ihn der Tyrannei von Gladingbowl zu entziehen, und das hatte Mr. Munro mit seinem Ersuchen zweifellos auch bezweckt, denn er war, trotz einiger auf See durchaus verbreiteter Schwächen, ein sehr aufmerksamer Gentleman. 228
Es wurde rasch offenbar, dass der Wundarzt keinen Grund haben würde, seinen Entschluss zu bereuen, zum mindesten, was die Frage der Befähigung des jungen Mannes anging. Dieser zeigte sich seiner Arbeit binnen ganz kurzer Zeit gewachsen, und was er nicht schon zu wissen schien, lernte er ohne Mühe und brachte es so weit, dass er sich Mr. O'Briens Groll zuzog. So häufig waren Mr. Munro und Ihr Freund zusammen, dass sie, wie ich leider berichten muss, Zielscheibe eines hässlichen und infamen Gerüchts wurden, das ursprünglich von Mr. O'Brien in Umlauf gesetzt wurde, dann aber allgemeine Verbreitung fand. Ich würde das nicht erwähnen, Sir, und es riskieren, Sie mit uraltem Geschwätz zu erzürnen, gäbe es nicht gewisse Weiterungen, welche die Schilderung selbst einer so anrüchigen Episode angemessen erscheinen lassen. Zu meiner Bestürzung tat Munro wenig, um seinen wie den Namen Ihres Freundes zu schützen, ja er ließ vielmehr deutlich erkennen, dass er völlig vernarrt in den Jungen war. Ich kann seine Untätigkeit kaum anders erklären als mit der Vermutung, dass: sein Anstandsgefühl durch den Genuss von Laudanum abgestumpft war, das er, wie er mir einmal gestand, in einer Dosis von tausend Tropfen pro Tag nahm, ein Quantum, das völlig ausgereicht hätte, einen der Droge weniger Gewohnten zu zerstören. Rum nahm er ebenfalls in beträchtlichen Mengen zu sich, teils wegen des Zustandes seiner Zähne, die völlig verfault 229
waren und ihn so peinigten, dass der Schmerz nur durch regelmäßiges Spülen mit Branntwein erträglich war. Der Ärmste, er war nie ganz glücklich, und die Gegenwart seines jungen Gehilfen tat ihm ersichtlich so wohl, dass es durchaus hartherzig erschien, die beiden auseinander zubringen. Dessen ungeachtet entschloss ich mich, mit dem jungen Dyer zu reden und diese falschen Anschuldigungen zur Sprache zu bringen. Ich sprach mit einem gewissen Freimut und schlug vor, er solle sich weniger in der Gesellschaft des Wundarztes aufhalten. Er schien zunächst nicht zu verstehen, worauf ich hinauswollte, und als ich deutlicher wurde, lächelte er nur und wies meine Unverschämtheit in den schärfsten Worten zurück, so dass ich, Sir, nachgerade um meine Sicherheit fürchtete, obwohl ich weder ein kleiner noch ein feiger Mensch bin. Was Mr. O'Brien anging, so gelang es ihm schließlich, den Jungen gegen sich aufzubringen, und ich bin sicher, er begriff gar nicht, was für einen gefährlichen Feind er sich da gemacht hatte. Ich denke, ich darf darauf vertrauen, dass Ihre Kenntnis des Temperaments Ihres Freundes dies bestätigt, und so wird es Sie wohl kaum überraschen, zu erfahren, dass O'Brien binnen kurzem zu Schaden kam. Er wurde auf Landgang in Colombo verprügelt, und zwar schwer verprügelt. Niemand war Zeuge des Zusammenstoßes, und O'Brien sagte niemals mehr, als dass er angegriffen worden sei, als er, den Weg zum Hafen abzukürzen, durch einige schmale Gassen 230
ging. Es wurde jedoch allgemein angenommen, dass es sich dabei, ob unmittelbar oder mittelbar, um James Dyers Werk handelte. Was O'Brien anging, so war er eine Woche nicht bei Sinnen, und als wir das nächstemal in Portsmouth festmachten, musterte er ab, und man hörte nie mehr etwas von ihm. Repressalien offizieller Art wurden nicht ergriffen. Es ist, wie Captain Reynolds immer sagt: »Die Marine ist kein Beruf für Muttersöhnchen.« Da er nun ohne Unterwundarzt war, kam Mr. Munro bei der Surgeon 's Hall darum ein, James Dyer als Ersatz für O 'Brien zu examinieren, und dank Munros Einfluss bei einigen Mitgliedern des Kollegiums bekam Ihr Freund rasch Gelegenheit, seine Fähigkeiten zu zeigen, und reiste in Begleitung seines Mentors von Portsmouth nach London, um schon am nächsten Tag vor dem Kollegium zu erscheinen. An das genaue Ergebnis der Prüfung erinnere ich mich nicht mehr, doch es reichte aus, um ihm eine Urkunde zu verschaffen, und ich möchte behaupten, er war einer der Jüngsten, die je einen solchen Posten erhielten, obschon man füglich sagen muss, dass bei der Marine ein Mann - oder Junge -, dessen Stern hell genug strahlt, rascher aufsteigen kann als in jedem anderen Beruf, den man sich vorstellen mag, und man hat schon manchen vor seinem zwanzigsten Jahr zum Kapitän und vor seinem dreißigsten zum Admiral ernannt. Nun, Sir, muss ich zu dem Ereignis kommen, das Sie wohl am meisten interessieren dürfte. Es ist ein 231
Ereignis, das mir bis zu meinem Todestag in lebhaftester Erinnerung bleiben wird. Ja, es spielt bis heute eine bedeutende Rolle im kollektiven Gedächtnis der Nation. Doch gibt es eine Sache, eine merkwürdige Geschichte, die ich zuvor noch erzählen möchte und schon eher hätte erwähnen sollen, hätten nicht andere Erzählungen sie aus meinen Gedanken verdrängt. Sie betrifft James Dyers angeblichen Diener - Gunner - und ereignete sich, etwa zwei Monate nachdem die beiden in Portsmouth an Bord gekommen waren. In eine Hängematte eingenäht, entdeckte man im Brotraum die Leiche einer Frau, einer üppigen Frau, die schon in Verwesung überging und umgehend bestattet werden musste, ehe sie das Brot so verdarb, dass es nicht mehr für den Verzehr geeignet war. Eine Untersuchung ergab, dass es sich um Gunners »Frau« handelte - es war nicht so ungewöhnlich, dass Männer ihre Frauen heimlich mit auf See nahmen -, allerdings kann ich mich an ihren Namen nach so langer Zeit nicht mehr erinnern. Man bat mich, den Bestattungsgottesdienst abzuhalten, dann wurde der Leichnam, mit einer 32-Pfund-Kugel an den Füßen, von Gunner selbst und zwei anderen Männern der Tiefe übergeben, als wir uns einige Grad südlich der Azoren befanden. Gunner war davon überaus betroffen und nannte die Abgeschiedene sein »Lämmchen«, was um so bemerkenswerter ist, als wir den Leichnam der Frau kaum durch die Stückpforte brachten und ihre in die Leinwand gehüllte Gestalt in das Wasser 232
eintauchte wie der weiße Hai, den ich einmal in der Botany Bay sah. Es ist wahrhaft unerklärlich, welche Wege die Zuneigung des Menschen nehmen kann. Ich möchte meinen, dass auch nicht jeder Mann Mrs. Fisher für das Muster an weiblicher Vollkommenheit hält, das sie für mich darstellt. Man braucht Sie, Sir, wohl nicht an jene Ereignisse im Frühjahr 1756 zu erinnern, als die Franzosen unter dem Marquis de la Galissonière und dem Duc de Richelieu auf Minorca landeten, unsere Garnison in die Festung St. Phillip zurückdrängten, um sodann eine Blockade über die Insel zu verhängen und die Festung zu belagern. Die Aquilon gehörte zu den Schiffen, die mit Sir John Byng ins Mittelmeer gesandt wurden, und wir trafen am neunzehnten Mai vor Minorca ein. Hernach bekamen wir Befehl, weiterzufahren und zu versuchen, eine Verbindung mit der Festung herzustellen, ein Vorhaben, das indes vom Auftauchen der französischen HauptStreitmacht südöstlich von uns vereitelt wurde. Obwohl ich schon einige Jahre zur See gefahren und bei zahlreichen Verfolgungsjagden und kleineren Gefechten dabei gewesen war, hatte ich noch nie so viele feindliche Schiffe auf einmal gesehen, und ihr Anblick machte mein Herz derart schaudern, wie ich es weder davor noch danach je erlebt habe. Unsere eigene, aus dreizehn tüchtigen Kriegsschiffen bestehende Flotte formierte sich zu einer Linie, um den 233
Feind abzufangen, aber der Wind flaute ab, und die Dunkelheit brach herein, ehe wir angreifen konnten, und so waren wir gezwungen, eine schlaflose Nacht voll der gespanntesten Erwartung zu verbringen. Einige von der Mannschaft baten mich, Briefe, Abschiedsbriefe, an ihre Lieben zu schreiben, und ich entsprach dieser Bitte, schrieb in der Kuhl bei Sternenlicht nach dem Diktat der Matrosen und hatte nach der Schlacht die traurige Pflicht, mehrere dieser liebevollen Sendschreiben von Gibraltar aus in die Heimat zu schicken. Um vier Glasen herum begab ich mich unter Deck in mein Quartier, um etwas Pökelfleisch aus meinem privaten Vorrat zu essen, und sah zu meinem Kummer Mr. Munro mit einer Flasche Schnaps im Schoß vor der Tür seines Dispensariums zusammengesackt. Ich versuchte, ihn wach zu rütteln, und rief, als es mir nicht gelang, James Dyer, damit er mir helfe, den Wundarzt in seine Koje zu schaffen. Ihr Freund lag in seiner Hängematte, war keineswegs erfreut darüber, geweckt zu werden - ich glaube wahrhaftig, er war zu dieser Zeit der einzige auf dem Schiff, der schlief -, und sagte mir rundheraus, ich solle mich zum T... scheren. Am Ende brachte ich den Wundarzt mit Hilfe von Mr. Hodges, dem Proviantmeister, zu Bett und ging danach wieder auf Deck, denn mich zu einer solchen Zeit darunter aufzuhalten, konnte ich nicht ertragen. Der Morgen fand uns in Nebel eingehüllt, und ich konnte nur ganz schwach die Masten der Intrepid vor 234
uns ausmachen, aber die Sonne verschlang den Nebel, und die französische Flotte wurde zwölf Meilen südöstlich von uns gesichtet. Die Signalkanone erdröhnte, unsere Schiffe, die sich im Laufe der Nacht etwas zerstreut hatten, formierten sich neu, und wir kreuzten in zwei Abteilungen auf den Feind zu, die eine unter dem Oberbefehl von Admiral Byng, die andere, zu der auch die Aquilon gehörte, unter dem Oberbefehl von Konteradmiral West. Man befahl mich mehr als einmal unter Deck, aber ich konnte mich keine Stunde vom Anblick des Feindes losreißen, der sich, mittlerweile klar zu erkennen, mit ausgerannten Geschützen an Backbord beinahe querab befand, so dass die kleinen Gestalten auf den Decks deutlich sichtbar waren. Schließlich ließ ich mich von Mr. Drake überreden und begab mich über die verschiedenen Decks, wo die Geschützmannschaften bei ihren Stücken kauerten, nach unten. Ich entsinne mich noch, dass Lt. Whitney mit mir zusammenstieß, mich dabei fast umrannte und dann in der abstoßendsten Sprache anfuhr, ehe ihm aufging, wer ich war, worauf er mich um Verzeihung bat und von einem riesigen Chinesen hinab zum Orlopdeck eskortieren ließ. Sie können sich meine Bestürzung vorstellen, als Mr. Hodges mich davon unterrichtete, dass der Wundarzt noch immer in seiner Koje lag. Ich begab mich geradewegs dorthin und sah auf einen Blick, dass der Fall hoffnungslos war. Obwohl mich diese 235
offenkundige Pflichtvergessenheit ärgerte, hatte ich doch auch Angst um ihn, denn wäre sie Captain Reynolds zu Ohren gekommen, hätte es durchaus ein Kriegsgerichtsverfahren geben können. Ich sagte: »Was ist da zu tun, Mr. Hodges?« - James Dyer antwortete:«Es ist bereits getan«, oder etwas des Sinnes. Er trug Mr. Munros Operationsschürze und stand an einem Operationstisch aus Seemannskisten, die mit einem Stück Segeltuch abgedeckt waren. Er hatte seine Instrumente - Munros Instrumente - um sich herum ausgebreitet und zeigte das Gebaren eines Mannes, der im Begriff steht, sich zu einem guten Essen niederzulassen. Ich sagte: »Du hast doch nicht etwa vor, dich allein zu behelfen, James?« Worauf er erwiderte, das habe er nicht vor, und mich als Gehilfen in seinen Dienst presste. Mir gefiel dieser Gedanke gar nicht, aber Mr. Hodges schien ihn für gut zu halten und erbot sich so mutig, Verbände anzulegen, dass es mir untunlich erschien, abzulehnen. Ich zog mir eine alte Jacke aus der Kleiderkammer an und setzte mich dann mit den anderen zum Kartenspielen nieder, obwohl ich nicht mehr weiß, wie ich spielte, denn mich verlangte danach, an Deck zu gehen und festzustellen, wie wir mit den Franzosen standen. Kurz vor drei am Nachmittag spürten wir, wie das Schiff über Stag ging. Mr. Hodges, der damals schon einige zwanzig Jahre zur See fuhr, nickte mit dem Kopf und sagte, nun werde es in Kürze losgehen und ob ich nicht ein Gebet für unseren 236
Erfolg und Schutz sprechen könne. Und ginge es um mein Leben, ich könnte nicht wiederholen, was ich damals gesagt habe, ein sehr wirres Gebet, soviel ist gewiss, doch die anderen in der Kockpit - zwei Frauen, zwei kleine Kinder, Mr. Shatt und Stoker, ein Syphilitiker, zu hinfällig zum Kämpfen - neigten die Häupter. Alle, so muss ich leider sagen, mit Ausnahme von Dyer. Mein »Amen« ging in donnerndem Geschützfeuer, nicht unserem, sondern dem des Feindes, unter, und ich spürte, wie die arme alte Aquilon im Wasser unter seiner Gewalt erzitterte. Das war, wie ich hinterher ermitteln konnte, die erste von mehreren Breitseiten, die Admiral Wests Geschwader bestrichen, während wir auf die französische Formation zuhielten. Es folgten zwei weitere in Abständen von vier bis fünf Minuten, ehe wir spürten, wie das Schiff abermals den Kurs wechselte. »Jetzt«, schrie Mr. Hodges, mit einmal sehr kriegerisch, und sprang auf, obwohl er gerade dabei war, einem Mann die Hand zu verbinden. »Jetzt werden sie sich blutige Nasen holen!« Er war ein zuverlässiges Orakel, denn die Worte waren kaum gesprochen, als unsere Geschütze feuerten. Mein Gott, Sir, und wie sie es fortsetzten! Die Laternen trübten und erhellten sich, während die Erschütterungen von den Decks über uns die Luft aus dem Orlopdeck saugten, und nach jeder Breitseite hörte man das mächtige Grollen der Lafetten und ein großes Gepolter von Füßen, die zu den Magazinen und den Kugelkästen rannten. 237
Ich verlor jedes Zeitgefühl. Ich weiß noch, dass ich einen ganz trockenen Mund hatte. Ich will nicht so tun, als hätte ich keine Angst gehabt. Mir war unbegreiflich, wie das Schiff eine solche Züchtigung überstehen, wie auf den oberen Decks überhaupt noch jemand am Leben sein konnte. Viele waren es ja auch nicht mehr, und man brachte in stetigem Strom Verwundete in die Kockpit, von denen manche schrien, manche besinnungslos waren und manche ihre Verletzungen mit vorbildlicher Standhaftigkeit ertrugen. Wegen der Vielzahl von Unglücklichen, die überall auf den Planken lagen, konnte man sich dort sehr bald kaum noch bewegen. »Wundarzt!« schrie es in einem fort, und selbst unter den älteren Männern riefen sehr viele nach ihrer Mutter. Und mittendrin James Dyer. Niemals ließ seine Konzentration auch nur für einen Augenblick nach, niemals hielt er inne, um sich auszuruhen, sich die Stirn zu wischen oder etwas zu trinken. Wir brachten ihm die schlimmsten Fälle - herabbaumelnde Arme, zerschmetterte Beine, klaffende Bäuche -, und er schnitt und nähte und schob Eingeweide in Leibeshöhlen zurück. Ich schwöre Ihnen, Sir, es machte ihm Vergnügen, diese Demonstration seines Genies, und ich kann nicht glauben, dass je ein Mensch mit kühlerem Kopf oder ruhigerer Hand in Menschenfleisch schnitt, jedenfalls nicht, während die Welt um ihn herum derart bebte. Irgendwann wurde ich einen Tumult hinter mir 238
gewahr und sah, dass Mr. Drake da war; er brüllte, der Kapitän sei verwundet, und verlangte, der Wundarzt solle nach oben gehen und sich um ihn kümmern. Mr. Munro allerdings war nicht in der Verfassung, sich um sich selbst, geschweige denn um den Kapitän zu kümmern, und so fiel diese Aufgabe Ihrem Freund zu. Ich hatte eigentlich die Absicht, mit den Männern in der Kockpit weiterzumachen, aber Mr. Drake sagte, auch meine Dienste würden möglicherweise benötigt, und so stieg ich mit einemmal dicht hinter Dyer durch das Schiff nach oben. Die Geschützdecks waren in dichte graue Rauchwolken gehüllt. Sämtliche Geschütze, die des Feindes und unsere eigenen, feuerten so rasch, wie es nur ging, und die Stücke wurden dabei so heiß, dass sie übermütig wie die Füllen waren und mit wahrhaft erschreckender Kraft hochsprangen und zurückstießen. An mehreren Stellen waren wir gezwungen, über die Körper toter Männer und leider auch toter Jungen hinwegzusteigen - ich entsinne mich noch sehr gut, dass ich das Gesicht des armen William Oaks sah, dessen zehnter Geburtstag auf den Tag vor der Schlacht fiel. Wie er ums Leben gekommen war, konnte ich nicht erkennen, denn bis auf eine kleine Prellung über dem Auge wies er keine Verletzung auf. Auf dem Oberdeck war das Gemetzel noch großer, und während wir uns einen Weg auf das Quarterdeck bahnten, bespritzte uns das Blut die Strümpfe. So 239
hageldicht pfiffen die Geschosse, dass ich fest glaubte, ich würde nie mehr unter Deck kommen und mein letztes Stündlein habe geschlagen, denn es erschien unmöglich, dass ein Mensch in derart mörderischer Luft überleben konnte. Ja ich war sogar der unsinnigen Überzeugung, die gesamte französische Kriegsmarine habe ihre Ehre dareingesetzt, mich zu vernichten, obwohl ich inzwischen festgestellt habe, dass diese Überzeugung bei Männern in der Schlacht keineswegs ungewöhnlich ist. Sie ist freilich unangenehm, denn irgendwie muss man, während man auf den Einschlag der Kugel wartet, bemüht sein, sich wie ein Gentleman zu betragen, das heißt, man kann sich nicht verstecken oder auf dem Bauch kriechen, zumal dann nicht, wenn man sich in Gesellschaft eines Menschen befindet, der durch das finstere Tal wandelt, als handele es sich um den Lustgarten von Ranelagh. Der arme Captain Reynolds lag neben einem wirren Haufen toter Männer in Mr. Drakes Armen. Sein linkes Bein war gänzlich abgetrennt, und Mr. Drake sagte, es müsse wohl über Bord gegangen sein, denn er könne es nirgends finden. Der Captain fragte, wo Mr. Munro sei. Ich sagte, er sei unter Deck beschäftigt. Da lächelte der Captain und meinte, er sei froh, Mr. Dyer zu sehen, denn der wisse bestimmt, wie es um ihn stehe. Er sagte: »Werde ich es überleben?« Dyer antwortete mit Ja, da das Bein sauber abgetrennt und die Wunde nicht sehr verunreinigt sei. Der Captain dankte ihm, und wir waren gerade im Begriff, 240
ihn unter Deck zu schaffen, als eine feindliche Kugel den Besanmast traf, so dass ein Schauer von Holzsplittern auf das Quarterdeck niederging, von denen mich einer ins Auge traf. Was die weiteren Ereignisse angeht, kann ich Ihnen nicht sehr viel berichten. Ich wähnte mich zuerst tot und gelangte doch irgendwie unter Deck, genau wie Captain Reynolds, der, wie von Dyer prophezeit, überlebte und als Konteradmiral in den Ruhestand versetzt wurde. Was die Schlacht selbst angeht, Sir, so wissen Sie, wie sie ausging, und Sie kennen die Folgen für den armen Admiral Byng. Der Feind brach das Gefecht ab und wich leewärts zurück, um sich außer Reichweite unserer Geschütze neu zu formieren. Sie waren schneller als wir, und vom Admiral kam kein Signal, die Verfolgung aufzunehmen. Unsere Schiffe waren freilich auch schlimm zugerichtet, und obwohl wir mit einer Anson oder einer Hawke fraglos nachgesetzt hätten, waren wir damals doch froh um die Ruhepause. Gewiss kann niemand den englischen Seeleuten vorwerfen, es fehle ihnen an Kampfesmut. Sie sind unendlich tapfer. Ich glaube nicht, dass ihnen jemals der Gedanke kommt, sie könnten fallen. Sie leben nur im Augenblick. Die Zukunft bedeutet ihnen nichts. Zusammen mit dem Captain und denjenigen unter der Mannschaft, die für die Unbilden der Heimfahrt zu schwach waren, verließ ich das Schiff in Gibraltar. Das letzte mal sah ich Ihren Freund, als man mich am Dispensarium vorbeitrug, wo ich ihn bei einem 241
zufälligen Blick mit meinem gesunden Auge damit beschäftigt sah, eine menschliche Hand zu sezieren. Aber da ich etwas fiebrig war, mag ich mich getäuscht haben. Wenn ich es recht überlege, war es doch nicht das allerletzte Mal, denn ich sah ihn fast zwei Jahre später noch einmal in London, in der Nähe von Temple Bar, in Begleitung eines älteren, etwas grobschlächtigen Herrn, bei dem es sich, wie mir Mrs. Fisher versicherte, um einen der berühmten Brüder Hunter handelte. Nun, Sir, ich hoffe, ich war imstande, Ihre Neugier zu befriedigen. Ihr Freund war ein sehr bemerkenswerter Mensch, und es hat mich keineswegs überrascht, davon zu lesen, dass er nach Russland reiste, um die Kaiserin zu impfen. Es würde mich interessieren, wie es ihm erging, denn ich glaube, ich habe danach nichts mehr von ihm gehört. Seien Sie doch bitte so freundlich, uns aufzusuchen, falls Sie je in diesen Teil des Landes kommen. Wir leben sehr zurückgezogen, doch auf dem Fluss ist gut angeln. Ich bin, Sir, Ihr ergebenster Diener, David Fisher
13 Solomon Drake an Reverend Lestrade April 1774 in Brixham Sir, Rev. Fisher bittet mich, das ich Ihnen wegen James 242
Dier von der Aquilon schraibe, und das Sie sich für die Seemannszeit von diesem Gentlemann interessieren und besonders den Angriff in Cuba. Das andere hat Ihnen glaub ich Rev. Fisher alles erzählt. Der Ort, den wir angegriffen haben, heist Baracoo, und die Sache ist in kurzem die, das wir unsere Leute auf Trapp halten walten und sehen, ob wir nicht was Nützliches oder Wertvolles für uns finden. Wir sint mit fier Booten unter dem Komando von Leutnant Whitney hingerudert und hatten strickten Befel, den Munt zu halten, damit der Feind nicht allarmirt wird. Ich habe das dritte Boot comandiert - Benson MacNamara Johnson Deyer Gummer Parks Austin O'Conner Lower und der Kinese Arthur Easter - alle mit Entermesern Äksten Pistolen oder Knüpeln, ganz nach Lust und Laune. Und noch vor dem ersten Tageslicht sint wir in eine kleine Bucht gekommen und haben ganz hinten ganz undeutlich die Stat sehen können. Grabsstil war es dort, auser einem Hund, der hat Wint von uns gekrikt und zu bellen angefangen. Wir sint an der dunkelsten Stele der Piehr gelandet, an so einer Treppe an der Leeseite von einem Taback-Lagerhaus. Leutnant Whitney ist mit dem ersten Trup losmarschirt, um das Haus des Bürgermeisters zu suchen, und mein Trup gleich hintennach, falls es eine Garnisohn gab. Fünf Minuten hatten wir den Ort für uns, dann hat in einer von den Kirchen die Klocke geleutet, und die Hölle war los. Hätten sie gewust, das wir nur ein Trup von nicht mehr als fünfundreisig Man 243
waren, hätts uns an den Kragen gehen können, aber sie haben gedacht, wir wärn tausend und wolten sie in ihren Betten ermorden. Die Stat war binen einer Stunde menschenlehr. Dann sint unsre Leute in die Häuser gegangen und Leutnant Whitney hat nicht gewagt nein zu sagen, weil er ihre Reitzbarkeit gekannt hat und das sie ihm eher eine Kugel verpasen als auf ihr Vergnügen verzichten. In den Häusern ein und aus gegangen sint sie wie die Bienen an ihrem Stock. Alles Wertvole haben sie genomen, aber am besten ham ihnen die schönen Kleider gefallen, besonders die Damenkleider, und wie sie nix mehr tragen konnten, haben sie sie angezogen und sint darin rumgelaufen wie Frauen aus dem Tolhaus. Sir, Sie können mir glauben, das war der seltsamste Anblik der Welt. Jetzt sint die Kubaner zurükgekommen, um zu kämpfen, manche zu Ferd, manche zu Fus. Ich habe gesehn, wie sie den Volmatrosen Parks erschlagen haben, aber unsere Männer haben, sosehr sie von ihrer Beute behindert waren, dem Feind kräftig zurükgegeben. Wir waren auf der Plasa Major, das ist der Hauptplaz der Stat. Ich hatte grade einen feinen Burschen vom Ferd geholt und dachte, das so ein feines Ferd doch ein brächtiges Geschenk für meine Frau war, wenn ichs nur irgentwie in die Heimat schaffen könnte, da habe ich James Dier auf dem Plaz stehen sehen und in aller Ruhe und Sorgfallt eine Pistole laden, als wäre er alein in einem Zimmer. 244
Einer von den Soldaten des Feindes, ein Bursche ungefär im Alter von James Dier, stant ungefähr zwanzig Fus entfernt und hat wie rasend seine Muskete geladen, und wie er fertig ist reist er sie an die Schulter und schiest und trifft nicht. Ein Feikling war er nicht, dieser Kubaner, anders wie die meisten, denn er hat ein übles Bajonet so lang wie sein Arm und damit rennt er auf Dier zu und schreit dabei aus Laibeskräftn. Hol mich der Teufel, wenn Dier nicht in dem Moment die Pistole hebt und zilt, bis der Kubaner fast bei ihm ist. Ichglaube, der Kubaner hat gedacht, er hats geschafft, weil sein Bajonet war blos noch eine Handbreit von Diers Weste weg. Wenn dann war das jedenfals sein lezter Gedanke, denn Dier hat dem Kerl eine Kugel durch den Prägen gejagt und ihm damit den Garauss gemacht. Das war in seiner Art das Kompleteste was ich je gesehen habe. Was aber noch seltsamer war, und wo ich mich gefragt habe was für ein junger Mann dieser Dier eigendlich ist, war, das er sich den Burschen nicht angesehen hat den er erschosen hatte. Nach meiner Erfahrung sieht sich einer immer den Mann an den er erschosen hat, aber James Dier ist weggegangen als wäre die Erinnerung daran gelöscht wie Kreide von einer Schifertafel. Wir haben uns zu den Booten zurückgekämpft und abgelegt. Die Kubaner haben ein paar Kanonen auf uns gerichtet, aber da ist die Aquilon gekommen und hat ihnen Zunder gegeben. Wir sind an Bord gegan245
gen und hatten nur einen Toten, Parks, und ein paar Verwundete darunter Leutnant Whitney der einen Finger und den Daumen verloren hat. Sie hätten den Kopf geschütelt, Sir, wenn Sie gesehen hätten, wie die Männer mit ganz blutiger Mantua und Spitze und unrasiert die Strickleitern hinauf sint. Ich denke noch manchmal daran und schütle selbst den Kopf. Das war der Angriff auf Baracoo. Ich weis nicht was ich Ihnen noch erzälen kann, auser das ich manchmal geglaubt habe, James Deyer hat Mr. Munro in seiner Liebe zum Schnaps bestärkt. Mr. Munro hat das Schiff 56 verlassen, und Dier ist Wundarzt geworden und zwar ein guter, wie man ehrlich sagen mus, obwol er sehr für sich geblieben ist. Er hat das Schiff 58 verlassen. Ich habe ihn gefragt, wohin er jezt wollte und er hat geantwortet, zu schöneren Dingen als wie Sie sich träumen lassen Mr. Drake, und hat das Geltzeichen gemacht. Eines nachts hat er sich dann in aller Stile mit der Jole davongemacht. Ich glaube, sein alter Diener Gummer ist mitgegangen, denn wir haben ihn nie wiedergesehen. Ich hoffe, dieser Brief endschpricht Ihren Erwartungen und sie verzeihen mir meinen unbeholfenen Stiel. Ich bin mit neun Jahren zur See gegangen und ein Kriegsschiff war meine Unniversität. Ich bin ihr gehorsahmer Diner Sol. Drake
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14 Mrs. Robert Munro an Reverend Lestrade Bath, Juni 1774 Sir - kein Name ist mir widerwärtiger als der von James Dyer. Wenn Sie sagen, er sei gestorben, so freue ich mich darüber, denn er hat meinen Mann so gewiss umgebracht, als hätte er ihn mit eigener Hand ermordet. Mein Mann war ein guter Mensch, dessen einzige Torheit darin bestand, einem, der es nicht verdiente, zuviel Zuneigung und Vertrauen entgegenzubringen. Und obwohl mein Mann sich selbst das Leben genommen hat, bin ich sicher, er ist im Himmel, und ich bin ebenso sicher, dass James Dyer in der Hölle ist. Haben Sie die Güte, mir nie mehr von ihm zu schreiben, denn ich könnte niemals einen Briefwechsel mit jemandem unterhalten, der ihn Freund nennt. Ich bin mit vorzüglicher Hochachtung Agnes Munro, Witwe.
15 Die außen beförderten Reisenden lassen sich vom Dach der Kutsche herabgleiten, ihre Mäntel durchweicht von dem Regen, der auf sie eintrommelt, seit sie durch das Dorf Box gekommen sind. Sie stehen im Hof, während Bediente des Gasthauses ihre Koffer unter dem hinteren Außensitz hervorhieven. Der 247
Kutscher öffnet den Schlag. »Bath!« Die innen beförderten Reisenden, insgesamt sechs, steigen aus, setzen ihre Hüte auf, betrachten stirnrunzelnd den Himmel. Die meisten haben gedöst und zeigen die bleichen, zerknitterten Gesichter von Menschen, die eben erst aufgewacht sind. Nur einer scheint gleichgültig gegen den Regen, unbeschwert von der langen Fahrt von London her. Er steigt leichtfüßig über eine Pfütze hinweg und spricht mit einem älteren Mann, einem der außen beförderten Passagiere. Der Mann nickt, als habe er Anweisungen erhalten. Der Wirt, der sich einen Mantel wie ein Zelt über den Kopf hält, fordert die Reisenden auf einzutreten, und sie patschen hinter ihm in die Gaststube. Es riecht nach Braten, nach feuchten Kleidern und feuchten Hunden. James bestellt ein Zimmer. Ein, zwei Nächte, nicht länger. Ein Mädchen bringt ihn nach oben, hält die Tür auf, drückt sich an die Tür, als er eintritt. Er blickt sich zu ihr um. Sie hebt die Augenbrauen, bietet sich stumm an. »Wieviel?« Sie sagt: »Fünf Shilling. Im voraus. Nichts Ausgefallenes oder Unchristliches.« Er sieht sie an. Der Ausschnitt ihres Kleides ist unsinnig tief. An ihrer rechten Brust lugt der Halbmond einer Narbe aus dem Latz hervor. Er berührt sie. »Was ist das?« 248
»Eine harte Stelle, Sir, die der Wundarzt vor Weihnachten herausgeschnitten hat.« Er tastet die Brust in der Umgebung der Wunde ab. Die Frau zieht seine Hand weg. Sie sieht erschrocken aus, als habe seine Berührung einen alten Alptraum aufgestört. »Im voraus, hab ich gesagt.« Er hat zwei weitere Knoten gefunden. Sie schiebt ihn weg und weicht auf den Gang zurück. In dem dort herrschenden grauen Regenlicht ist sie schon halb Geist und sagt mit Geisterstimme: »Fünf Shilling.« James schüttelt den Kopf. »Für dich würde ich keine sechs Pence geben. Lass Feuer machen. Wenn ein Mann namens Gummer kommt, dann schick ihn zu mir.« Es ist längst dunkel, als Gummer, grämlich und halb betrunken, zurückkehrt. »Haben Sie ihn gefunden?« fragt James. Gummer geht zum Kamin. »Ich habe diese Stadt schon immer gehasst«, sagt er. »Von einem Schweinehirten gegründet, heißt es. Das glaube ich aufs Wort.« »Ich habe gefragt, ob Sie Munro gefunden haben. Antworten Sie gefälligst.« Gummer wirbelt herum. Sein Blick ist sehr direkt, kühl, mörderisch. »Irgendwann gehst du einmal zu weit«, sagt er. »Es gibt hier keine Kinder, denen Sie angst machen 249
können, Mr. Gummer.« »Ich meine es ernst«, sagt Gummer. »Du und dein Gehabe! Du vergißt, dass ich genau weiß, woher du kommst.« »Sie sind betrunkener, als ich dachte. Ich schlage vor, Sie gehen zu Bett. Was murmeln Sie da in Ihren Bart?« »Ich habe gerade gesagt - du Schnösel -, dass du dich noch wundern wirst. Bei Gott, Grace hat recht gehabt, was dich angeht.« »Wenn Sie so kläffen, Sir«, sagt James, »erinnern Sie mich an einen alten Hund, der längst keine Zähne mehr hat und den ganzen Tag in seinem eigenen Gestank sitzt und darauf wartet, dass ihm jemand den Gefallen tut, ihm den Schädel einzuschlagen. Alte Männer sollten keine Drohungen ausstoßen. Haben Sie Munro gesprochen?« »Ich habe sein Haus gefunden.« In Gummers Stimme ist alle Streitlust erloschen. Er starrt in die Flammen. »Und Sie haben den Brief abgegeben?« »Ja.« »Dann werden wir morgen früh bei unserem alten Schiffskameraden vorsprechen.« Das Feuer ist aus. Im Bett schnarcht Gummer. James sitzt am Tisch, schnürt einen Beutel auf, schüttet sich die Münzen auf die Hand, sortiert Gold und Silber zu ordentlichen Stapeln. Knapp fünfundzwan250
zig Pfund. Von einer solchen Summe könnte man mühelos zwei, drei Monate leben, wenn man sich damit zufriedengäbe, zurückgezogen zu leben, in einfachen Speisehäusern zu essen, die Finger von den Karten zu lassen und nur abends ein Feuer zu haben. Aber dafür ist sich James zu schade. Dieses Leben liegt seit London hinter ihm - seine Studentenunterkunft in der Duke Street zu drei Shilling sechs Pence die Woche (Hauswirtin: Mrs. Milk, eine Witwe und Pfarrerstochter); die Gänge zum St. George Hospital in der Hoffnung, John Hunter operieren zu sehen, oder über die neue Brücke an der Westminster Abbey zum St. Thomas, um Dr. Fothergill auf seinem Rundgang hinterherzuzotteln. Im Winter nur wegen des ordentlichen Feuers die Herumhockerei in Batsons Kaffeehaus und der ständige Zwang, jeden Shilling dreimal umzudrehen. Er lässt das Geld in den Beutel zurückgleiten, steckt den Beutel in die Tasche, zieht Rock, Weste und Schuhe aus und legt sich aufs Bett. Gummer schnaubt und keucht etwas Unverständliches. James bläst die Kerze aus. Es hat wieder zu regnen begonnen.
16 »Ach, lieber Junge! Liebster James! Wie schön, dich zu sehen! Du weißt ja nicht, wie oft ich seit unserer Zeit zur See an dich gedacht habe! Unsere Jugendtage! Komm herein, komm, damit ich dir Mrs. Munro 251
vorstelle. Sie brennt schon darauf, den berühmten James Dyer kennenzulernen.« »Berühmt doch wohl kaum, Sir.« »Das wird schon noch, James. Wir wissen es beide. Und diesen Mann kenne ich doch auch. Der Name fällt mir im Augenblick nicht ein.« »Mr. Marley Gummer, Sir. Zu Ihren Diensten.« »Gummer, wie? Ja, jetzt erinnere ich mich langsam wieder. Tja, Sie sind natürlich auch willkommen. Obacht mit dem Hündchen da, Mr. Gummer. Gehört Mrs. Munro. Begrüße meine alten Kameraden, Chowder.« Der Hund stürzt sich auf Gummers Bein, rammelt dessen Strumpf. »Anhänglicher kleiner Teufel... Da sind sie, meine Liebe. Pfeif sie an Bord. Ha, ha. Verdammt.« Munro stolpert über das Ende der Sitzbank, taumelt, hält sich an der Anrichte fest und reißt sie um, so dass sich eine Kaskade von Gläsern und Flaschen aus blauem Bristolglas auf den Boden ergießt. Alles zerspringt. Die vier betrachten den Scherbenhaufen, dann blickt James zu Mrs. Munro auf. Auf ihren Wangen zeigt sich eine zarte Röte. Sie ist jung, Mitte Zwanzig, und hat ein Gesicht, das beinahe schön zu nennen ist. Ihr Blick sagt: Sehen Sie, womit ich verheiratet bin? Sehen Sie, was ich zu erdulden habe? Sie schaut zu ihrem Mann hinüber. »Also wirklich, Robert, du wirst jeden Tag mehr zum Ochsen. Er war ganz aus dem Häuschen vor 252
lauter Freude über Ihren Besuch, Mr. Dyer. Ich schwöre, er hat sich noch niemals so über einen Besuch gefreut.« »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Madam. Er war zu unserer Zeit auf See ein höchst feinfühliger Lehrer. Ich freue mich sehr über die Aussicht, wieder mit ihm zusammenzuarbeiten.« Sie wirft ihrem Mann einen raschen Blick zu. »Du nimmst einen Teilhaber an, Robert?« Munro blickt von seiner Frau zu James. »Einen Teilhaber?« »Aber ja, Robert, dazu habe ich dir doch oft geraten.« James verbeugt sich und sagt: »Gewiss zählen Sie die halbe Stadt zu Ihren Patienten, Sir.« »Die halbe Stadt! Ha! Nein, mein Junge, wir gehen es ganz gemächlich an, aber wir leben. Oder etwa nicht, Agnes?« »Wir haben zu essen, das stimmt schon, obwohl ich manchmal denke, dass du dich zu rasch zufriedengibst.« »Ehefrauen, Sir! Heutzutage muss man ein Herzog sein, um sich eine Heirat leisten zu können. Mit weniger als tausend per annum geben sie sich nicht zufrieden. Es ist kalt heute morgen. Wir wollen einen Halben Glühwein und etwas Zuckerbrot zu uns nehmen, und dann muss ich zu Mr. Leavis. Er ist gestern nacht auf dem Heimweg von einem Ball bei Simpson's gestürzt. Ein Oberschenkelbruch.« 253
»Du musst Mr. Dyer mitnehmen, mein Lieber. Damit du dich nicht zu sehr verausgabst. Muss man in solchen Fällen nicht immer viel und kräftig ziehen? Bestimmt kann er dir dabei helfen.« »Er kann, er kann. Wo logierst du, James? Du musst Gummer nach deinem Koffer schicken. Nein, nein, ich dulde keine Widerrede. Mrs. Munro wird froh sein um die Gesellschaft eines Menschen, der eher in ihrem Alter ist. Wo bleibt denn nun der verwünschte Wein?« Agnes Munro deutet es an; James sieht es mit eigenen Augen: den langsamen Niedergang der Praxis, die, als Munro mit der Energie eines Frischverheirateten und entschlossen, sich zu bessern, in Bath eintraf, so vielversprechend erschienen und in jener ersten Saison auch tatsächlich über alle Erwartung erfolgreich war. Und in nüchternem Zustand ist er nach wie vor ein kompetenter Arzt, bei dem zuweilen sogar etwas mehr aufscheint, aber wer ihn kommen lässt, tut es mittlerweile eher aus Loyalität, aus Sympathie für den Mann als aus großem Vertrauen in seine Fähigkeiten. Er ist höflich und altmodisch, setzt sich auch dann an das Bett einer dahinsiechenden alleinstehenden Dame und streicht ihr beruhigend über die zitternden Hände, wenn er weiß, dass sie ihre Rechnungen nicht bezahlen kann. Er lässt alte Männer und ihre Frauen zur Ader, trinkt dann den halben Nachmittag mit ihnen, diskutiert über Politik und schilt in 254
sanftestem Ton die Narrheiten der Jungen, obwohl er sich dabei mittlerweile seinem neuen Assistenten zuwendet, nickt und sagt: »Anwesende selbstverständlich ausgenommen«, worauf die alten Leute Lachfältchen zeigen und ob Mr. Munros Glück wohlwollend strahlen. In der unerbittlichen Märzkälte - dem Schlehdornwinter - ist Munro zu betrunken, um aus dem Haus zu gehen. Boten, die nach ihm verlangen, werden heimgeschickt, um zu fragen, ob Mr. Dyer behilflich sein kann. Die meisten erklären sich damit einverstanden. Nach dem ersten Besuch wollen sie nur noch ihn, nicht den älteren Mann. In Ballsälen und Salons diskutieren die Lahmen, die Kränklichen und die Gelangweilten mit von Wundermittelchen saurem Atem über den Neuen: erst zwanzig, wenn man das glauben kann. Sehr tüchtig. Wirklich sehr tüchtig. Natürlich nicht so heiter wie der alte Munro. Robert Munro, ein so anständiger Mensch, wie er einem nicht jeden Tag über den Weg läuft, aber... Mrs. Nigella Pratts eingewachsener Zehennagel, den Mr. Crisp vom Beaufort Square verpfuscht hat, wird von James Dyer geheilt. Sie sagt: »Es ist schon beinahe unanständig, wie rasch er arbeitet. Also, ich glaube, er war keine fünf Minuten im Haus, und schon war die Sache erledigt. Im Ernst, er war gerade zur Tür hereingekommen und hatte dem Mädchen seinen 255
Hut gegeben, da stand er auch schon wieder in der Halle und hat von Charles seine Guinee empfangen. Ich glaube nicht, dass er mehr als fünf Worte gesprochen hat, solange er hier war.« Tobias Bone, Friedensrichter in der Grafschaft Middlesex, lässt sich ein großes Muttermal von der Nasenspitze entfernen. Als er in einem Kaffeehaus in der Nähe des Kurbads davon erzählt, klopft er so nachdrücklich auf den Tisch, dass das Porzellan wackelt. »James Dyer ist der einzige fähige Wundarzt in Bath, abgesehen von dem alten Munro natürlich. Erinnert mich an einen Mann, der mir einmal vorgeführt wurde, weil er angeklagt war, seine beiden Eltern vergiftet zu haben.« »Munro?« »Nein, Sir, Dyer. Verdammt gute Hände, wirklich. Damenhände, Adleraugen und was weiß ich was für ein Herz - wie passt das zusammen?« Salvatore Grimaldi, Musiker und enger Freund von Lord B., bekommt den Stein geschnitten. Er hat zu lange zugewartet. Er leidet unter vollständiger Harnverhaltung, und als man ihn ins Haus trägt, ist er schwach und bleich und wird von Krämpfen geschüttelt. Trotz seiner Qualen legt er große Geduld an den Tag; nur einmal, als die Träger beim Hochheben mit ihm an den Tisch stoßen, schreit er, ein kurzer, wütender Schwall neapolitanischer Flüche. Er bittet sofort um Verzeihung und fragt, ob Mr. Munro gleich 256
kommen wird. In Decken eingewickelt und auf dem Kopf eine Seehundsfellmütze, sitzt Mr. Munro in seinem Schlafzimmer und nimmt ein aus Madeira und heißem Wasser bestehendes Frühstück zu sich. Er hat den Lärm gehört, und als seine Frau hereinkommt, fragt er sie, wer es ist. »Irgendein Ausländer, der Schmerzen hat. James kann sich darum kümmern.« Er nickt. »Was täten wir nur ohne ihn?« Sie klopft an James' Tür. Sie wird von Gummer geöffnet, der ein aufgeklapptes Rasiermesser in der Hand hält. Hinter Gummer sitzt James in Hemdsärmeln am Toilettentisch. Sie sagt: »Ein Mr. Grimaldi ist unten. Ein ausländischer Gentleman von einigem Einfluss. Er hat Steinbeschwerden, und Mr. Munro bittet Sie, so freundlich zu sein und -« »Sobald wir hier fertig sind, kommen wir hinunter.« Sie hält inne. »Ich ersuche Sie, sich zu beeilen, denn der Gentleman leidet sehr.« Im Spiegel sieht James sie an. »Das hängt von Mr. Gummer ab. Sie werden ja wohl nicht von mir verlangen, dass ich unrasiert operiere?« »Keineswegs. Das würde sich gewiss nicht schikken.« Es dauert eine halbe Stunde, bis er in dem kühlen Hinterzimmer erscheint, das Munro als Operationssaal 257
benutzt. Sein Gesicht glänzt vom Rasieren, und ein schmeichelnder, teurer Duft umschwebt ihn und vermischt sich mit anderen, weniger angenehmen Gerüchen: dem Schweiß körperlichen Leidens, altem Blut. James untersucht den Patienten. Dessen Augen flackern; über eine trübe, immer breiter werdende Kluft hinweg sieht er den jungen Mann an. Er murmelt etwas von einem Priester. James ignoriert ihn, befiehlt den Trägern, Grimaldi die Hose auszuziehen, und vertauscht dann seinen Rock gegen eine der von Blut steifen Jacken, die an einem hölzernen Haken hinter der Tür hängen. Vom dritten Knopf von Grimaldis Weste führt eine dicke Goldkette zu einer Uhrentasche. James zieht die Uhr hervor, eine goldene mit Doppelgehäuse, Verzierungen in getriebener Arbeit und Emailledeckel, in London hergestellt. Er löst sie vom Westenknopf und reicht sie Agnes Munro, die sich in eine Zimmerecke zurückgezogen hat. Er sagt: »Sie nehmen die Zeit vom ersten Schnitt an und hören auf, sobald der Stein heraus ist.« Er tritt zu Grimaldi, beugt sich zu dessen Ohr hinab: »Mr. Grimaldi, das Honorar für diese Operation ist Ihre Uhr. Sind Sie damit einverstanden, Sir?« Grimaldis Lippen zucken in einem kurzen Lächeln. Er nickt deutlich wahrnehmbar. »Winkelt ihm die Beine an.« Aus einer Schublade nimmt James Messer, Zange und Gorgeret und blickt dann Mrs. Munro an. »Vom ersten Schnitt an, Madam. Und Sie« - er wendet sich an die Träger - »sind 258
Zeugen. Alsdann ... jetzt!« Eine Minute und zwanzig Sekunden. James hält den Stein hoch. Er ist ungefähr so groß wie eine kleine eingelegte Walnuss. Munro kommt herein, blinzelt die um den Tisch Versammelten erstaunt an. Er tritt näher und bewundert die Wunde. »Lateraler Schnitt, was?« »Wie von Mr. Cheselden empfohlen. Aber ich bin mehr als zwanzig Sekunden unter seiner besten Zeit geblieben.« »Cheselden! Das müssen wir feiern, James. Wie geht es dem Herrn? Ist das nicht Mr. Grimaldi? Wie befinden Sie sich, Sir?« Grimaldi flüstert: »Ich habe meine Uhr verloren.« »Die Uhr verloren, aber das Leben behalten«, sagt Munro. »Ich sage Ihnen, Mr. Grimaldi, ich habe es schon erlebt, dass solche Operationen über eine Stunde dauerten.« Grimaldis Blick sucht James. »Caro dottore. Er ist ... ein Werkzeug Gottes.« Er zeichnet ein Kreuz auf sein Herz. Die Träger ziehen ihm die Hose wieder an, heben ihn in den Stuhl, tragen ihn fort. Er winkt schwach durch die Glasscheibe. Munro holt eine Flasche Frontiniac, die letzte aus seinem Prisenanteil an einem französischen Kaperfahrer, den die Aquilon vor Brest aufgebracht hat. Er hat sie für einen solchen Anlass aufgehoben. Im Operationssaal wechselt James die Jacke, streckt sich ausgiebig. 259
»Ich glaube, Sie haben noch mein Honorar, Madam.« Er streckt die Hand nach der Uhr aus. Agnes Munro klappt den Deckel zu, gibt sie ihm, zieht, als er sich zur Tür wendet, ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, stellt sich auf die Zehenspitzen und wischt ihm einen Blutfleck von der Wange. »Sie sind der seltsamste Mann, den ich je kennengelernt habe, James.« James überlegt seine Antwort. Etwas Galantes, etwas aus einem Roman, einem Schauspiel. Aber er liest keine Romane, und die wenigen Schauspiele, die er im Drury Lane oder im Covent Garden gesehen hat, haben ihm herzlich wenig gesagt. Das Spiel ist zu mühsam, und er ist noch immer von seiner Arbeit an Mr. Grimaldis Blase eingenommen; die Geschicklichkeit, mit der er den Blasenhals erweitert hat, das gekonnte Verschonen der Arterie. Für solche Arbeit, für ein Werkzeug Gottes, ist eine goldene Uhr wenig genug. Er wünscht ihr einen guten Tag und geht hinaus. Sie bleibt noch eine Weile und sieht zu, wie das Blut die Bodendielen verdunkelt. Sie lächelt und schaudert dann. Die Glocken der Abtei klöppeln ihre Melodie. Grimaldi erholt sich. Lord B. schickt James einen Diamantring und schickt dann seine Freunde, seinen Zirkel. Bis es Hochsommer wird, hat die Praxis unter ihren Patienten drei Baronets, einen General, einen 260
Admiral, einen Bischof, einen berühmten Maler und zwei Parlamentsabgeordnete aufzuweisen. Die Konkurrenz ist nicht erbaut. Besonders Mr. Crisp streut eifrig Gerüchte, nennt sie Bader und Quacksalber und sagt, der alte Munro komme morgens nicht ohne eine Flasche Portwein hoch und nachts genausowenig. Aber vielleicht könne ja auch da sein junger Protege aushelfen? Er hält sich zwei Finger über den Kopf, wackelt damit, erntet Gelächter. Aber Crisp verliert die reiche Mrs. Davy an sie und dann die Familie Robinson, eine volkreiche Sippe, die James gegen die Blattern impft. Drei Guineen pro Kopf, ein exorbitanter Preis, und doch ist Mr. Robinson davon überzeugt, dass seine Lieben bei diesem Mann, so jung er auch ist, besser aufgehoben sind als bei jedem anderen Operateur in Bath. Mr. Munro ist selbstverständlich anwesend, um alles im Auge zu behalten, um ein Gegengewicht zur Eigenart des jungen Mannes zu bilden und dessen Arbeit mit senatorischem Nicken abzusegnen. Sie inserieren in den Zeitungen: MUNRO UND DYER, CHIRURGEN im ORANGE GROVE BATH, beehren sich anzuzeigen, dass sie aufgrund der ERHOLUNG und VOLLSTÄNDIGEN WIEDERHERSTELLUNG der ehedem ihrer Obhut Anvertrauten bereit sind, eine KLEINE Anzahl NEUER PATIENTEN anzunehmen. Spezialität: 261
IMPFUNGEN, SCHNEIDEN des STEINS, ENTFERNUNG von TUMOREN, WARZEN, FIBRÖSEN GESCHWULSTEN, EINRICHTEN von BRÜCHEN, HEILUNG von SCHUSSWUNDEN. Bevorzugt von STANDESPERSONEN sowie allen, die BESTE Behandlung VERLANGEN. Behandlung von DAMEN mit äußerster DISKRETION. Um derlei - um Anzeigen und Marktschreierei kümmert sich Gummer. Seine hochgewachsene, verwitterte Gestalt ist häufig zu sehen in den Gärten und auf den palladianischen Spazierwegen, eingehakt bei irgendeinem einflussreichen Gentleman, der nickt und lächelt, halb belustigt und halb geschmeichelt davon, sich in Gesellschaft eines derart weltlich gesinnten Schurken aufzuhalten. Gummer führt auch das Rechnungswesen; er kennt Leute, die wissen, wie man dafür sorgt, dass keine Rechnung unbezahlt bleibt. Meister des sanften Anstoßes, der honigsüßen Drohung, und wenn andere Mittel versagen, fehlt es niemals an Schlägern in engen Jacken, die für einen Shilling vor der Tür des Schuldners herumlungern. Und so kommt das Geld herein: Gold, Silber; große, schöne Banknoten. Außerdem Fässer, Tuchballen, Erbstücke. Munros altes Schild wird abgenommen. Ein neues Jms. Dyer&Rbt. Munro, Wundärzte - baumelt an dem Eisenschnörkel über der Tür, und unter seinem Schatten kommen die Bürger der Republik des 262
Schmerzes: die chronisch Leidenden, die jäh von einem blutigen Unheil Niedergestreckten und schwach in den Armen von Freunden Hereingeschafften. Und die meisten kommen auch wieder heraus, wenn nicht direkt geheilt, so doch wenigstens freier von Beschwerden als beim Hereinkommen, und allesamt geblendet von der Geschicklichkeit des jüngeren und besänftigt von der Freundlichkeit des älteren Mannes. Manche sterben sogar dankbar. An James' einundzwanzigstem Geburtstag gibt Munro eine Gesellschaft, bei der er das Speisezimmer im ersten Stock mit Freunden füllt und sie mit Rindfleisch und Austern, Sommerpudding, Zidermolken und Champagner bewirtet. Grimaldi singt für sie, ein wohlklingender Tenor, der über den halberleuchteten Grove trägt, wo eine Schar Passanten stehenbleibt, um zuzuhören. Als die zweite Runde Portwein serviert ist, wirft Munro seine Serviette hin, rappelt sich hoch und hält eine Rede. Er hat dabei Tränen in den Augen, und seine Stimme ist belegt. »Mein Junge«, sagt er mit einer Geste zu James hin, der am anderen Ende des Tisches sitzt, »mein Junge«, und es gibt unter den Gästen einige, die sich fragen, ob Munro es ernst meint, ob James aus einem jugendlichen Abenteuer Munros hervorgegangen sein könnte. Sie blicken von einem zum anderen, versuchen irgendeine Ähnlichkeit auszumachen. Dieser Mund? Das Kinn? Und dann 263
wenden sie den Blick Agnes Munro zu, und noch die Gleichgültigsten sind von der Verwandlung dieses Gesichts betroffen. Sie könnte nicht genau sagen, wann es angefangen hat. Vielleicht an jenem ersten Tag, als er, so grazil neben ihrem täppischen Mann, in ihr Wohnzimmer schlenderte; oder als er durch den Spiegel mit ihr sprach, als sie ihn holen kam, damit er sich um Grimaldi kümmere; oder bei irgendeiner der von ihr so oft wie möglich herbeigeführten Gelegenheiten, da sie ihm bei der Arbeit zugeschaut hat, sein Gesicht klar wie Wasser. Sie sieht sich vor, ist auf der Hut vor der Gewalt ihrer Gefühle, aber ihr Leben hängt bereits zwischen einer Begegnung und der nächsten fest, der bangen Erwartung des Wiedersehens und der bangen Freude seiner Gegenwart. Mit Munro geht sie höflich um, höflicher als je zuvor seit ihrer Hochzeit. Doch je angestrengter sie ihre Rolle spielt - die der guten Ehefrau, der treuen Ehefrau, die nicht in den schönen jungen Wolf verliebt ist, den sie sich unter ihr Dach geholt haben -, desto eifriger scheint er darauf bedacht, sie James geradezu aufzudrängen. Die Einkaufstouren, die Besuche von Bällen, die Abende im Theater, die Sonntagsspaziergänge, alles auf Munros Vorschlag, während er selbst sich zum Haus eines Kumpans - Kent, Thomas oder Osbourne - davonmacht, von wo er betrunken in einem Tragestuhl oder einer Mietkutsche zurückkommt, um dann die ganze 264
Nacht dösend, in alten Büchern stöbernd oder mit dem Hund brabbelnd in seinem Arbeitszimmer herumzusitzen. Es ist, als sei er James dankbar dafür, dass dieser ihm die Last seiner Ehe abnimmt. Will er sie ihm zum Geschenk machen? Sie weiß sehr wohl, was für eine Ehefrau sie ihm ist: eine, die ihn nicht in ihr Bett lässt und ihn in Gesellschaft, besonders in Gesellschaft, herunterputzt. Dennoch zweifelt sie nicht an seiner Zuneigung. Diese Zuneigung ist so groß und unbeholfen wie der Mann selbst. In der lackierten Schatulle in ihrem Schlafzimmer bewahrt sie einen Stapel seiner ihr zugeeigneten Gedichte auf, leidenschaftliche Verse voller Anspielungen, die sie nicht verstehen kann. Sie wartet auf ein Zeichen, ein Wort, eine Szene. Wie kann er keinen Verdacht schöpfen? Wie kann er ahnungslos sein? Und dennoch tut er nichts. Was James angeht, so könnte kein Mensch weniger feurig anmuten, doch seine Beherrschtheit entflammt sie, zieht sie noch tiefer in die Würdelosigkeit ihrer Leidenschaft. Sie kommt nicht dagegen an. Bald ist es ihr gleich, wer es sieht, wer es weiß, wer klatscht. Nie hat sie sich so frei, so ungeheuer verwirrt gefühlt. Sie entdeckt in sich selbst eine Listigkeit, eine Wollust und einen Wagemut, die sie nie vermutet hätte. Sie ist sich selbst fremd. Überall nimmt sie den herrlichen Hauch einer drohenden Katastrophe wahr. Die Stadt amüsiert sich. Nichts zerstreut sie mehr als eine häusliche Farce, und je törichter, je achtbarer 265
die Akteure, desto besser gefällt das Stück. Was hat Munro denn erwartet, ein Mann in seinen Jahren, als er eine blühende, ungestüme Frau wie Agnes Munro heiratete? Und dann noch diesen Menschen Dyer in sein Haus aufzunehmen. Die Hälfte der Frauen von Bath würde sich für ihn hinlegen, besonders die Verheirateten. Erwidert Dyer Agnes' Leidenschaft? Das kann kein Mensch sagen, denn bei genauem Hinsehen ergibt sich, dass er keinen einzigen Vertrauten, keinen einzigen Freund hat, ausgenommen seinen Diener Marley Gummer. Und Munro selbst natürlich. Neujahr 1762. Die Festlichkeiten bewirken ein Wiederauftreten von Munros Gicht. Er muss bei einer Kost aus Eisenwasser und Angosturarinde das Bett hüten. James und Agnes verbringen ihre Abende am Kamin im Empfangszimmer, wo sie Tee trinken und Puff spielen. Sie fragt ihn nach seinem Leben; er erzählt ihr nichts, jedenfalls nichts, was sie tatsächlich glaubt. Sie malt sich ein Leben für sie beide aus. Ein Leben voller Glanz und Reichtümer, mit lockigen Kindern namens George oder Caroline oder Hester, in einem Haus am Grosvenor Square, von den Nachbarn beneidet. Mein Gott, und wenn ihr Mann stürbe? Was dann? James gewinnt ihr eine doppelte Partie ab, nippt an seinem Tee, blickt zu ihr auf. Er begreift, was von ihm verlangt wird. Sie ist dazu da, genommen zu werden, Teil der Freigebigkeit der Welt. Als die Kanne leer und das letzte Spiel beendet ist und als die Kerzen, 266
gute Wachskerzen mit ihrem reinen Geruch, bis auf den letzten Zoll heruntergebrannt sind, geht er zu ihr hinüber, drückt einen Kuss auf ihren heißen Mund und befingert sie, bis sie in Schweiß ausbricht. Sie wirft den Kopf zurück, schaudert, stürzt mit dem Fuß den Kartentisch, das Brett und die Steine auf das üppige Rotschwarz des neuen Teppichs. Sie schluchzt, kann sich nicht enthalten, ihn zu fragen, ob er sie liebt, wirklich liebt, so wie sie ihn liebt, über alle Maßen und für immer und ewig. James baut das Brett wieder auf, setzt die Steine auf die Lederspitzen. Agnes liegt neben ihm auf den Knien. Er weiß nicht, was sie da sagt. Ist sie glücklich, hat sie Angst? Wenn er ehrlich sein soll, kommt sie ihm betrunken vor. Er hilft ihr auf, beantwortet alle ihre Fragen mit Ja, ja, ja, natürlich. Er muss an die Zwillinge denken, an Perlen und gekochte Eier. Die Erinnerung an sie gleicht einem Finger, der ihm gegen die Brust drückt. Er starrt die Miniatur von Munro über dem Kaminsims an, versucht, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Molinas Atelier, das Licht dort, das Licht im Haar der Mädchen, wenn sie schliefen. Der Finger drückt kräftiger. Er gleicht der Spitze eines Spazierstocks, ist aber heiß. James mag dieses Gefühl nicht. Schüttelt den Kopf, damit die Benommenheit weicht. Agnes fragt: »Ist dir nicht wohl, mein Liebster?« Er sagt irgend etwas zu ihr, er weiß nicht, was, und strebt der Tür zu. Die Treppe ist ungeheuer lang. Er zieht sich am Geländer nach oben. 267
Sein Herz schlägt heftig. Er hat Angst, dass er sein Zimmer nicht erreicht. Munro schnarcht. Ist das Cannings Stimme? Canning? »Was hast du denn erwartet, James?« »Das nicht!« »Kein Mensch ist je in Sicherheit, James. Nicht einmal du. Schon gar nicht du.« Er liegt auf dem Bett. Im Zimmer brennt ein kleines Feuer. Seine Hand schmerzt, seine Faust ist geballt. Er öffnet sie. Er hat die Würfel des Puffspiels in der Hand. Er lässt sie auf den Boden kullern. Lange Zeit liegt er da, ohne recht zu wissen, ob er wach ist oder träumt. Manche Wahrnehmungen - das Klappern des Fensters, das Knacken des Feuers - bleiben haften; doch es stellen sich auch Gesichte ein, die wie Rauch von der anderen Welt aufsteigen. Er sagt: »Ich habe Fieber, ich bin krank.« Er spürt, wie er aus seinem Körper heraussickert; das Zimmer leuchtet sehr hell, und als er hinunterblickt, sieht er sich selbst auf dem Bett liegen, sieht Agnes an die Tür zum Zimmer ihres Mannes klopfen und Munros blindes, drogenbetäubtes Gesicht sich aus dem Schlaf lösen. Einen schrecklichen Moment lang scheint er Munros Gefühle zu erleben, die unermesslichen Ressourcen, aus denen sich das Unglück des Mannes speist. Er kämpft dagegen an, arbeitet sich ab, entkommt zu neuen Schrecken. Eine Schlange von Männern und Frauen schlurft durch den Dunst, den Kopf auf die Brust gedrückt, als trügen sie große Lasten. Vor ihnen liegt 268
eine übel riechende, dampfende Grube, wie das Massengrab in einer von der Pest verheerten Stadt. Die an der Spitze der Schlange stolpern hinein, manche schreiend, manche mit tiefem, einem Sterbelaut gleichendem Stöhnen. Andere gehen schweigend. Einer schaut sich mit wildem Blick um, sieht James, zeigt auf ihn und winkt ihn dann zu der Schlange hin. Die Schlange verhält, andere sehen zu ihm her, zwei treten auseinander, um eine Lücke zu öffnen; eine Stimme ruft: »Hier ist dein Platz, James Dyer!« Der Vorfall wiederholt sich nicht. In den folgenden Monaten sind seine Kraft, sein ungeheures Konzentrationsvermögen größer denn je, als habe die Episode ihn geläutert. Trotz Munros Drängen, er solle sich mehr Ruhe gönnen, arbeitet er noch mehr. Sie planen, ein Gebäude in der Grand Parade zu erwerben und als Privatkrankenhaus einzurichten. Sechs Monate später feiert man mit Lampions und Konzerten die Eröffnung. In den oberen Stockwerken werden Impfungen vorgenommen, und im Erdgeschoss befindet sich ein Operationssaal, wie man ihn schöner in keinem Londoner Hospital findet, mit Sitzgelegenheiten für dreißig Gäste, die gegen ein bescheidenes Honorar zusehen dürfen, wie James Dyer mit Lanzette, Messer und Säge seinen Ruhm begründet. Man kann sich, unentgeltlich, auch Munro ansehen, doch der ist viel häufiger am Fluss anzutreffen, wo er an einer Flasche nippt, die Schwäne mit Kuchen 269
füttert oder mit schief sitzender Perücke und den Hut über den Augen in irgendeinem sonnigen Winkel vor sich hin döst. Gelegentlich ist seine Frau bei ihm und blättert, in einiger Entfernung, ungeduldig in einem Roman oder betrachtet stirnrunzelnd die Hügellandschaft, aber die Lösung des Knotens - der Skandal, das Duell, die Flucht - bleibt aus. Mrs. Vaughan, auf deren Meinung in diesen Dingen stets Verlass ist, erklärt, die Munros und James Dyer seien zu einer Übereinkunft gelangt, etwas sehr Ungehöriges bei Leuten ihres Standes, etwa so, wie wenn eine Bauerntochter Spinett spielen lernt. Munro hat sich offensichtlich in das Unvermeidliche gefügt. Was Mrs. Munro angeht, so hat sie sich als ausgesprochen schamloses Weibsstück erwiesen, wofür die Frauen von Bath, so verlangt es der Anstand, sie verachten. James Dyer - nun ja, ihn kann man schlechterdings gar nicht als Menschen bezeichnen. Eine Schneidemaschine. Ein Automat. Gefährlich. »Gefährlich?« fragen die Frauen und unterbrechen ihre Stickerei. Mrs. Vaughan neigt den Kopf. »Er ist offenbar ohne Seele auf die Welt gekommen. Was hat er also zu verlieren?«
17 Patienten kommen aus Bristol, Exeter, London. James und Munro kaufen ein zweites Haus in der Grand 270
Parade. James verfeinert seine Techniken, ersinnt neue Instrumente: Sonden, Zangen und raffinierte Scheren. In den oberen Räumen des neuen Hauses behandelt er Opfer venerischer Krankheiten mit Quecksilber. Sie liegen mit von dem Schwermetall geschwollenem Zahnfleisch in Flanellanzügen auf den kleinen Stationen und lassen ihren Speichel in Töpfe tropfen, pro Tag einen bis anderthalb Liter, bis sie kuriert sind oder die Behandlung nicht mehr aushalten. Diese Speichelflusskuren und die Impfungen im anderen Gebäude bringen James im Jahre 1764 vierhundertfünfzig Pfund ein. Zusammen mit den Lithotomien, den Amputationen, den Aderlässen und dem Einrichten von Brüchen steigt sein Einkommen auf annähernd siebenhundert Pfund. Im Winter 64 kann er den Einwohnern von Bath eine neue und potentiell noch einträglichere Dienstleistung anbieten. Er wird zum Geburtshelfer, zum accoucheur, nachdem man ihn eines Nachts ruft, damit er das Leben einer Wöchnerin rettet. Die Frau, eine Mrs. Porter, liegt unter dem Beistand von Dr. Bax und Mr. Crisp schon seit drei Tagen in den Wehen. Am Abend des dritten Tages reibt sich Bax mit dem goldenen Knauf seines Spazierstocks das Kinn und kommt zu dem Schluss, dass ihr nicht mehr zu helfen ist. Auch wird eine tote Mutter seinen Ruhm als Arzt nicht gerade mehren. Er gibt sie auf. Mr. Crisp, froh darüber, freie Bahn zu haben, macht weiter. Er führt Mr. Porter vor die Tür und rät in 271
einem Flüstern, das im ganzen Haus zu hören ist, zur Tötung des Kindes, dessen Leiche dann noch ein, zwei Tage in der Mutter verbleiben müsse, damit sie sich so weit erweiche, dass sie sich herausziehen lasse. Er habe da einen Stahlhaken, etwa so lang, den er schon mit beträchtlichem Erfolg verwendet habe. So werde das Leben der Mutter gerettet; das heißt, vielleicht werde es gerettet, Garantien könne er keine geben; Gottes Hand, die Konstitution der Dame etc.; sehr unglücklich, sehr ungewiss, solche Fälle, Sir. Mr. Porter ist entsetzt, packt Crisp an der Jacke, schüttelt ihn heftig. »Zum Teufel mit Ihren Haken! Zum Teufel mit Ihrer Unfähigkeit!« Er tritt an den Rand des Treppenabsatzes und brüllt einem der Diener unten zu. »Hol Dyer!« »Dyer?« ruft Mr. Crisp. »Diesen Scharlatan!« Abtritt Mr. Crisp, das Gesicht wutverzerrt, vom Fenster der Kutsche aus schreiend: »Auf Ihre Verantwortung, Sir! Ich will damit nichts zu schaffen haben! Torheit, Sir! Wahnsinnige Torheit!« Als James eintrifft, ist es drei Uhr morgens. Das Wetter, schon die ganze Nacht schlecht, hat sich zu einem regelrechten Sturm ausgewachsen. Bis zum Morgen werden einige Schornsteinkästen herabgestürzt sein, und schon sicheln Dachziegel durch die Dunkelheit. Es sind kein Mond, keine Sterne zu sehen. Sämtliche Häuser sind verrammelt, nur eines nicht. Mr. Porter wartet im Speisezimmer, in der Hand ein 272
Licht, das er ans Fenster hält. Er hat eine halbe Flasche Brandy getrunken, sich jedoch nie im Leben nüchterner, auf entsetzlichere Weise bei Bewusstsein gefühlt. Er erhascht einen Schimmer von der Laterne seines Dieners, dann werden, mit gesenkten Köpfen, die Pferde sichtbar. Sobald James den vertäfelten Flur betritt und man zum Schutz vor dem Wind die Tür zudrückt, beruhigen seine physische Ausstrahlung, die unwillkürliche Präzision seiner Bewegungen das Haus. Seine Tasche aus grünem Boi in der Hand, steigt er die Treppe hinauf. Er lässt sich nicht hetzen. Mr. Porter hat ihn bisher nur von ferne und nur einmal, nämlich von der anderen Seite des Abteihofes aus, gesehen. Damals hat es geregnet, und Dyer hatte sich mit seinem Freund - seinem Diener? - Marley Gummer am Westtor der Abtei untergestellt. Er hat auf jemanden oder etwas gewartet. Mrs. Porter hat auf ihn hingewiesen. »Der Mann da«, hat sie ihn genannt. Sie war damals noch nicht lange schwanger. James macht die Tür auf. Das Wochenzimmer. Das Krankenzimmer. Vielleicht das Sterbezimmer. Im Ofen tost ein Feuer. Die Luft ist zum Schneiden, überhitzt. Um das Bett sitzen drei Frauen. James erkennt die älteste von ihnen als Mrs. Allen, eine Frau, der man Kräfte, Verbindungen zu unsichtbaren Mächten nachsagt. Ihre Anwesenheit verrät deutlich Porters Verzweiflung. Sie psalmodiert über dem Bett, der Gestalt im Bett. Als sie James hört, hält sie inne. 273
Wendet sich ihm zu. »Wollen ihr den Garaus machen, wie?« Zu Mr. Porter sagt James: »Wenn die Hexe hierbleiben soll, hat sie den Mund zu halten.« Er beugt sich über Mrs. Porter. Ihre und seine Augen treffen sich kurz, die ihren mit einem Blick aus dem Brunnen des Leidens heraus, die seinen so einfühlsam wie Monde. Er legt ihr die Hände auf den Bauch. Sie zuckt bei der Berührung seiner kalten Finger zusammen. Es ist ihr erstes Kind. Sie flüstert: »Töten Sie es nicht, Sir.« James wirft die Decken zurück, knufft, drückt, kommt zu einem Schluss. Er geht zu Mr. Porter und sagt: »Das Becken ist schmal, und das Kind hat sich nicht umgedreht. Es gibt eine Möglichkeit, sie und das Kind zu retten. Aber dazu muss ich sie schneiden.« »Sie schneiden?« »So wie Caesars Mutter geschnitten wurde. Ein Einschnitt in den Unterleib.« »Schneiden?« »Jawohl, Sir, schneiden. Wir schneiden ihren Bauch auf, um das Kind herauszuholen. Es muss jetzt geschehen. Wenn nicht, muss ich sie Mrs. Allens Zaubersprüchen überlassen. Es wird natürlich ein Konsultationshonorar fällig.« »Und wenn Sie sie schneiden, können Sie das Kind und sie retten?« James zuckt die Achseln. Er will die Operation, glaubt fest daran, dass er sie zuwege bringt, obwohl er 274
noch nie eine vorgenommen und außer der, die im Rahmen eines Kollegs über Geburtshilfe vor sechs Jahren an Mr. Smellies Lederfrau durchgeführt wurde, auch noch nie eine gesehen hat. Er weiß auch, dass sein Berufsstand den Eingriff allgemein als praktisch gleichbedeutend mit der Ermordung der Mutter verdammt. Er hat noch von keinem Fall gehört, in dem er geglückt wäre. »Habe ich Ihre Erlaubnis?« Porter steigen Tränen in die Augen. »Es gibt keine andere Möglichkeit?« James lässt den Blick zu Mrs. Allen und wieder zurückwandern, hebt die Augenbrauen. Porter erteilt seine Erlaubnis. »Schaffen Sie die Frauen hinaus«, sagt James. »Nein, die hier soll bleiben.« Er deutet auf eine der jüngeren Frauen. Sie macht einen starken, gelassenen Eindruck. Keine Zimperliese. »Und bringen Sie mir Wasser, warmes Wasser und Wein und frisches Bettzeug.« James legt seinen Rock ab, öffnet seine Tasche, wählt ein Messer aus, mustert kurz die rosige Haut und schneidet dann rasch, ein vertikaler Einschnitt vom Bauchnabel bis zum Schamhaar. Mrs. Porter brüllt auf und schlägt ihm mit beträchtlicher Kraft die kleine weiße Faust gegen das linke Ohr. Er lacht, blickt nicht auf. »Ein gutes Zeichen, denke ich«, sagt er. »Und nun halten Sie sie fest. Ich habe hier eine kitzlige Arbeit vor mir. Stoßen Sie mir ans Messer, 275
Mrs. Porter, und Sie verbluten.« Er schneidet durch die Muskeln der Bauchwand, eröffnet die Bauchhöhle und führt dann, von rechts nach links, einen diagonalen Schnitt in den unteren Teil der Gebärmutter. Hinter ihm ist ein Krachen zu hören, als Mr. Porter dem Anblick erliegt, wie ein Fremder sich mit den Händen im aufgeschlitzten Bauch seiner Frau zu schaffen macht. Das Kind scheint entschlossen, sich zu widersetzen, diesen schrecklichen Überfall abzuwehren. Schwach tritt es nach James, zupft mit blumenstengeldünnen Fingern an seinen Händen, klammert sich an den blutigen Balg des Uterus. Endlich kommt es, in einem Strom der Flüssigkeiten seiner Mutter. James gibt es seiner Gehilfin, bindet die Nabelschnur ab, schneidet sie durch, holt die Plazenta heraus und lässt sie auf den Fußboden fallen, wo ein unter dem Bett versteckter Hund sich streckt und sie zögernd zwischen die Zähne nimmt. James näht die Mutter mit jenen Stichen, die Miss Lucket so empfiehlt. Überraschenderweise ist Mrs. Porter noch am Leben. Die junge Frau hüllt das Kind in ein Tuch. Sie fragt: »Was soll ich damit machen? Ihm einen Molkentrank geben?« Er sagt: »Tun Sie, was immer Sie wollen.« Er lässt den Blick durch das Zimmer gehen. Der Vater ächzend auf dem Boden, die Mutter ohnmächtig im Bett, das Kind greinend im unsicheren Griff der jungen Frau. Er packt seine Messer ein. 276
»Sagen Sie ihm, dass ich prompte Bezahlung meiner Rechnungen erwarte.« Sie will etwas entgegnen, aber er ist schon fort.
18 Robert Munro ist ein Mann, der langsam aus einem langen Schlaf erwacht. Oder, so sieht er es manchmal, ein Mann, der sich mitten in einem sonnenlosen Wald selbst auf der Spur ist. Er hat es nicht eilig. Er fürchtet sich vor dem, was kommen muss; fürchtet, dass er nicht die Kraft dazu hat. Seiner Frau gegenüber hat er niemals größere Zärtlichkeit empfunden. Ganz gewiss verurteilt er sie nicht. Sie hat eine Leidenschaft für jemanden entwickelt. Ihr schwächliches Pflichtgefühl konnte dem nicht gewachsen sein. Er hat sich die Schuld selbst zuzuschreiben. Wer anders hat die beiden schließlich zusammengebracht? Schwefel und Zunder. Es liegt eine gewisse Gerechtigkeit, ein erhebliches Maß an Gerechtigkeit darin. Und falls er glaubte, James Dyer liebe seine Frau, liebe sie wahrhaftig, dann wären sie vielleicht wirklich zu einer Übereinkunft gelangt. Aber Dyer liebt sie nicht, er trägt sie wie einen Mantel, legt sie nach Belieben an und ab. Und das ist ungeheuer, schlimmer noch als der Verrat der Freundschaft - denn von seiten Dyers bestand im Grunde niemals eine Freundschaft -, schlimmer sogar als die peinigenden Vorstellungsbilder ihrer Paarungen, deren Geräusche ihn manchmal 277
wecken, schreckliche Laute, die so gar nicht an Lust, sondern eher an die gedämpfte Qual eines Kindes denken lassen. Was also ist zu tun? James umbringen? Sie beide umbringen? Dafür würde er baumeln, aber das Gehenkt werden tut nichts zur Sache. Er hat eher Angst davor, bei dieser größten Prüfung seines Lebens zu enttäuschen. Sich selbst zu enttäuschen. Agnes zu enttäuschen. Alle zu enttäuschen. Stimmen flüstern - »Nimm dein Schwert auf, Munro!« -, aber seine Glieder sind schwer, und das Blut pulsiert so langsam durch seine Adern. Wie gut es tut, in seinem Lieblingssessel im Studierzimmer einfach weiterzuschlafen, bei geschlossenen Läden und als Gesellschaft eine einzige Kerze. Ferne Glocken, ferne Schritte. Einfach schlafen, den Vormittag, alle Vormittage verschlafen. Endloser Schlaf. Die Tür knallt; er rappelt sich auf, tritt ans Fenster und sieht die beiden weggehen. Was ist es heute Abend? Wieder einmal ein Ball, ein Wohltätigkeitskonzert, eine Bootspartie auf dem Fluss? Er geht in sein Zimmer hinauf, steht dort eine Zeitlang gedankenverloren da, wählt dann sorgfältig einen Anzug aus, zieht sich um und kehrt in sein Studierzimmer zurück. Seine Uhr zeigt halb neun. Auf dem Boden hockt Chowder und starrt mit schwarzen, flehenden Augen zu ihm auf. »Guter Hund«, sagt Munro, dann gießt er sich ein letztes Glas ein und hört dabei in seinem Kopf immer wieder, bis sie jeden Sinn einge278
büßt haben, die Worte, die er wird sagen müssen. James und Agnes sind in dem Theater in der Orchard Street. Vom Orange Grove aus ist es bis dahin nicht weit zu gehen. Die neue Kutsche wird nicht gebraucht. Das Haus ist brechend voll und lärmt. Verschlissener Plüsch, gelbe Lichtpilze von den Kronleuchtern. Man macht seine Bekannten auf sich aufmerksam; die Männer bieten einander Schnupftabak an; aus weißen Gesichtern blicken die Frauen um sich, streicheln ihre geliehenen Diamanten, klopfen mit ihren Fächern. Es herrscht eine Atmosphäre enormer Langeweile, als sei auf der Welt außer Mode, außer Lebensart, außer den vorhersagbaren Mechanismen der Intrige nichts geblieben. Nicht einmal ein Krieg ist im Gange. James und Agnes lassen sich in der Loge nieder. Sie steckt ihm mit den Fingern Süßigkeiten in den Mund und fragt ihn das ganze Stück hindurch, warum diese oder jene Figur dies oder das tue, ob das da unten nicht Mrs. Lewis sei und ob er die Schauspielerin im roten Kostüm nicht auch ausnehmend hässlich finde. Noch eine Zuckermandel? James interessiert sich nicht für das Stück. Undeutlich wird er zwischen den gemalten Bäumen herumalbernde Figuren gewahr, bestimmte Stimmen, Worte, das Gelächter oder das Verstummen des Publikums. Es gibt einen Streit, eine Versöhnung. Ein Lied. Einen Witz über die Stadtbehörde. Einen Witz über Wilkes. 279
Noch ein Lied. Die Liebenden sterben und erstehen wieder auf. Jemand wird wiedererkannt. Jemand wird auf einer Wolke vom Schnürboden herabgelassen und wirft Papierblumen ins Publikum. Alles klatscht wie wahnsinnig und stampft mit den Füßen, bis das Gebäude bebt. Es ist alles so sinnlos. Kindisch. Er macht sich überhaupt nichts daraus. Sie essen in der Nähe des Theaters zu Abend - gebratenen Fisch, geschmorten Hammel in Kapernsauce - und gehen in der klammen Luft zum Orange Grove zurück. James ist müde. Morgen früh hat er einer Frau den Fuß abzunehmen, danach ein halbes Dutzend Impfungen, dann eine Fahrt nach Marshfield, um einen Bauern zu untersuchen, dessen Gewehr ihm ins Gesicht losgegangen ist. Agnes plappert etwas von einem Garten, einem Hut, einer Freundin, einem Tag in der vorigen Woche, als etwas passiert ist, was sie völlig oder gar nicht erstaunt oder traurig gemacht oder zum Lachen gebracht hat. Ein Dienstmädchen mit einer Kerze lässt sie ein. Dinah. Sie sieht sie sonderbar an. Die Tür von Munros Studierzimmer geht auf. Munro erscheint, füllt den Türrahmen. Er ist gekleidet, als erwarte er einen bedeutenden Besucher. Er sieht nicht wie ein Hanswurst, ein Hahnrei aus. »Auf ein Wort, James.« »Das hat doch bestimmt bis morgen Zeit.« »Nein, Sir, das hat es nicht.« 280
James hat den Fuß schon auf der ersten Stufe. Munro zu ignorieren war nie sehr schwer. Bis jetzt. Er dreht sich um. Zwischen ihm und Munro steht das Dienstmädchen, umklammert die Kerze. Agnes steht ganz still in dem dunklen Bereich an der Eingangstür. Sie flüstert: »Robert?« Munro sagt: »Gute Nacht, Agnes.« James sagt: »Haben Sie die Güte, sich kurz zu fassen, Sir.« Munro tritt vor ihm zurück. James geht an ihm vorbei, Munro schließt die Tür. Agnes starrt die Tür, dann Dinah an. Dinah beginnt zu weinen. Es ist lange her, dass James in Munros Studierzimmer gewesen ist. Seit mehreren Monaten verbietet Munro den Bedienten hereinzukommen, damit sie die delikate Unordnung seiner Papiere nicht durcheinanderbringen. Auf den diversen Stühlen im Zimmer stapeln sich Bücher, und unter den Stühlen fängt sich das Licht in vergessenen Gläsern, leeren Flaschen. Auf dem Schreibtisch kräftig bekleckste Blätter. Neben der Streubüchse liegt eine Brille, der ein Glas fehlt. »Ich würde Ihnen einen Platz anbieten, James, aber ich fürchte, dieses Gespräch führen wir besser im Stehen.« »Zur Sache, Sir.« Munro holt tief Atem. »Also gut, zur Sache. Es geht um folgendes. Sie haben mich beleidigt. Sie haben mich hintergangen. Und das in meinem eigenen 281
Haus. Und zwar seit Jahren. Ich weiß, dass die Schuld nicht allein bei Ihnen liegt. Ein Teil davon trifft mich, ebenso wie meine Frau. Sie waren stark, wir waren schwach, jämmerlich schwach. Ich habe Ihre Verachtung verdient. Nun gut, Sir, ich weiß, Sie machen sich nichts aus langen Reden. Sie sind ein Mann der Tat. Auf Ihre Weise ein bemerkenswerter Mann, jawohl, und ein sehr beachtlicher Wundarzt -« »Zur Sache, Sir!« Munro schwitzt kräftig; es schlägt durch seinen Rock durch, auf dem sich unterhalb der Schultern dunkle Kontinente ausbreiten. Er sagt: »Ihre Possen hier sind zu Ende, James. Sie werden mir die Genugtuung eines Renkontres zum frühestmöglichen Zeitpunkt geben. Bis dahin werden Sie sich aus meinem Hause entfernen. Ich werde zusehen, dass Sie morgen jemand aufsucht. Es ist gewiss nicht das erste Mal, dass Sie sich auf eine derartige Affäre eingelassen haben, Sie werden die Form also kennen. Das wäre alles.« James verbeugt sich. »Sie werden ein großflächiges Ziel abgeben, Mr. Munro. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Es dämmert schon, als James am folgenden Tag aus Marshfield zurückkehrt. Der Bauer war bereits tot. Als James in die Grand Parade einbiegt, erspäht er Mr. Osbourne, der allein an der Balustrade steht. Er reitet zu ihm hin. Osbourne begrüßt ihn knapp und 282
sagt: »Ich kann ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Dennoch ist es noch immer möglich, dass eine Entschuldigung und das feierliche Versprechen, Mrs. Munro nicht mehr zu sehen, ausreichen.« James sagt: »Ich bin gefordert worden, Sir. Ob ich Mrs. Munro weiterhin sehe oder nicht, gehört nicht hierher.« »Wenn Sie ihn umbringen, wird man Sie verhaften. Seien Sie vernünftig, Mann. Es ist vorbei. Sie sind noch jung. Sie können überallhin gehen und etwas werden. Bei Munro ist das nicht so. Sie haben ihm nichts gelassen, was er verlieren könnte.« »Sollen Sie als sein Sekundant fungieren?« »Ich kann ihm das Ehrenhafterweise nicht abschlagen.« »Und es ist eine Ehrensache, nicht wahr?« »Ja.« »Dann sind Sie gekommen, um mir eine Zeit und einen Ort zu nennen, wo die Ehre wiederhergestellt werden mag.« »Lansdown. Folgen Sie der Straße bis auf die Hügelkuppe. Ich werde dort warten. Morgen früh um sechs. Wenn einer von Ihnen tödlich verletzt wird, bekommt der andere einen Tagesritt Vorsprung.« »Und wie sollen wir einander töten?« »Ich werde ein Paar Pistolen mitbringen.« »Die in meiner Gegenwart geladen werden.« »Natürlich.« »Dann haben wir einander nichts mehr zu sagen.« 283
Er steht um fünf Uhr auf, nimmt ein leichtes Frühstück zu sich und hinterlässt schriftliche Instruktionen für Mr. Timmins, Faktotum und Spitalgehilfe, dass er an diesem Tag keine neuen Patienten empfängt. Die Stadt ist weitgehend leer, als er durch die Straßen reitet. Ein Paar benebelter junger Männer, die von einer durchzechten Nacht heimkehren, zugebracht beim Spiel. Auf dem Queen Square hütet ein Hirte seine Ziegenherde. Ein Milchmädchen sitzt auf ihrem umgestülpten Eimer und flicht sich das Haar. Ein ganz gewöhnlicher Morgen mit einem Hauch von Herbst in der Luft. James hat sich schon zweimal geschlagen, beide Male in London, beide Male mit Kommilitonen, aus Anlässen, die er vergessen hat. Beim erstenmal haben die Pistolen versagt, vielleicht weil sich ein Sekundant daran zu schaffen gemacht hatte. Beim nächstenmal hat sich James' Kugel in die Schulter seines Gegners gebohrt. Ein Dutzend anderer Studenten waren in dem Garten zugegen, und es herrschte kein Mangel an Freiwilligen, die die Kugel herausschneiden wollten. Hinterher gab es kurz Radau, dann ließ man die Sache auf sich beruhen. Niemand interessierte sich sonderlich für zwei junge, unbedeutende Männer, die im Garten einer Schenke aneinander gerieten. Auf Lansdown Hill bietet sich ihm plötzlich ein Blick auf die hinter ihm liegende Stadt, die um die Abtei gescharten Häuser, aus deren Schornsteinen 284
Rauch weht, den Fluss mit seinen stillen Lichtsignalen. Einen ganz kurzen Moment lang kommt ihm der Gedanke, dass er das alles verlieren könnte, dass er Munro umbringen wird und dann fliehen muss - nach Frankreich vielleicht oder Holland. Er zuckt innerlich die Achseln. Ihm liegt nichts daran, Munro zu erschießen, er hegt keinen Groll gegen ihn. Und für Agnes kämpft er ganz bestimmt nicht. Seinetwegen kann Munro sie haben. Wenn er Munro tötet, dann wegen dessen Torheit, dessen Kühnheit, eine Forderung auszusprechen. Was hat er sich nur dabei gedacht? Diese alberne Szene in seinem Studierzimmer! James hätte ihm an Ort und Stelle eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen und es dabei bewenden lassen sollen. Soviel öde Förmlichkeit in diesen Dingen. Vor ihm taucht Osbourne auf der Straße auf und hebt seinen Spazierstock. Als James bei ihm ist, sagt Osbourne: »Sie sind allein?« »Ich bin so gekommen, wie Sie mich sehen, Sir. Wo sind die anderen?« »Hier entlang.« Er führt James durch eine Lücke zwischen den Bäumen und durch ein altes Steintor mit einem zerbrochenen Wappen an einem der Pfeiler. »Was ist das hier?« fragt James. »Es war einmal ein Park.« Am anderen Ende, neben einem Tulpenbaum, warten Munro und ein weiterer Mann. Osbourne geht zu 285
ihnen hin und kehrt dann mit Munro zurück. James steigt vom Pferd. Munro sagt: »Guten Morgen, James.« Er zeigt das gleiche ruhige Gebaren, die gleiche verzweifelte Gelassenheit. Osbourne sagt: »Ich flehe Sie beide an, dieses höchst unchristliche Vorhaben aufzugeben. Sie können selbst jetzt noch irgendeine ... Übereinkunft erzielen. Was meinen Sie?« »Falls Mr. Munro seine Forderung zurückzieht«, sagt James, »begnüge ich mich damit, ihn nicht zu erschießen.« Munro sagt: »Ich kann sie nicht zurückziehen, Sir. Die Beleidigung ist zu schwer.« James zuckt die Achseln. »Ich hoffe um Ihretwillen, Sir, dass Sie mit der Pistole eine ruhigere Hand haben als mit dem Messer.« Osbourne gibt dem anderen Mann ein Zeichen, und dieser tritt mit einem Kasten vor. Osbourne öffnet den Kasten und lädt die Pistolen. Er hält sie beide James hin. James wählt die in der linken Hand des anderen; ein Steinschloss von guter Qualität: brünierter, oktagonaler Lauf, goldenes Zündloch, geriffelter Griff. Am Schlossblech ein Sicherungshebel. In entsicherter Stellung. Munro nimmt die andere Pistole; sie drehen sich um, gehen ein Dutzend Schritte. Munro ruft: »Einen Moment.« 286
Er reicht Osbourne seine Pistole und zieht dann seinen Rock und seine Weste aus. James sagt: »Um Stofffusseln in der Wunde brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Sir. Ich werde auf Ihren Kopf zielen.« Keine Antwort. Munro nimmt die Pistole. Osbourne geht weg. Es ist ganz still. Osbourne sagt: »Sind Sie bereit...? Feuern Sie nach Belieben.« Munros Schuss folgt fast unmittelbar. Ein Blitz, eine Rauchwolke, ein Knall, der meilenweit hallen muss. James hebt seine Pistole. Er fühlt sich an diesem Morgen außerordentlich gut. Erfrischt. Zu allem imstande. Er denkt nicht: »Ich werde Munro töten« oder: »Ich werde ihn nicht töten.« Er richtet seine Pistole auf das Ziel und drückt ab. Munro wirbelt auf den Zehen herum und stürzt ins Gras. Osbourne läuft zu ihm hinüber. James ruft: »Ist er tot?« Osbourne sagt: »Ich glaube nicht.« James geht auf sie zu, neugierig darauf, was für eine Wunde er verursacht hat. Er senkt den Blick. Osbourne hat Munros Kopf auf seine Knie gebettet und wischt dem Liegenden mit einem bereits karminroten Taschentuch das Blut vom Gesicht. Munro hat die Augen geschlossen, atmet jedoch sichtlich. Die Mitte seines Gesichts ist furchtbar zugerichtet. Knochen und zerfetztes Fleisch. James sagt: »Wir werden ihm eine neue Nase be287
schaffen müssen. Bringen Sie ihn zum Haus. Ich werde ihn dort behandeln.« »Ihn behandeln?« »Ja, Sir. Sie haben doch wohl nicht meinen Beruf vergessen?« Er lässt die Pistole neben Mr. Osbourne ins Gras fallen, wünscht einen guten Morgen und führt sein Pferd aus dem Park. Als Agnes Munro sieht, wie man ihren Mann ins Haus trägt, fragt sie: »Ist James verletzt?« Osbourne schüttelt den Kopf, und während sie den Verwundeten die Treppe hinaufmanövrieren, murmelt er: »Auf Sie hätte man schießen sollen.« Die Wunde verheilt gut. James, der sie täglich neu verbindet, lugt dabei in Munros Schädelhöhle und fertigt eine Reihe von Skizzen an, die er später in Kupfer stechen lässt. Keiner von beiden sagt etwas. Munro spricht vierzehn Tage lang mit niemandem, und als er es tut, ist seine Stimme so verstümmelt wie sein Gesicht. Merkwürdigerweise ist der einzige Mensch, der ihn verstehen kann, James Dyer. Munros Freunde sind perplex und ratlos. James' Verhalten verrät keinerlei Reue, das von Munro keinerlei Groll. Zwischen ihnen herrscht eine eigenartige Komplizenschaft, wie sie vielleicht Liebenden eignet oder Menschen, die einander mit dem Tod bedroht haben. Agnes ist davon ausgeschlossen. In einem zerlumpten 288
Kleid irrt sie, vor sich hin murrend, durch das Haus und lebt von Unmengen von Tassen kostspielig gesüßter Schokolade. Die Nase wird von einem Uhrmacher in der Pierrepont Street gefertigt, der nach James' Entwürfen arbeitet. Sie ist leicht, besteht aus poliertem Elfenbein und wird an einer von Munros Brillen befestigt. Es finden mehrere Anproben statt, ehe James zufrieden ist. Munro setzt sich im Bett auf und mustert sich im Spiegel. Als er den Spiegel zurückgibt, hat er Tränen in den Augen. James sagt: »Sie wird Sie um einiges überdauern, Sir. Ihre Nase wird Sie überleben.« »Schoviel schteht fescht«, erwidert Munro. »Eine schehr kunschtreiche Konschtruktion. Isch bin Ihnen dankbar, Schir.« Er meint es nicht ironisch. Er gibt James die Hand.
19 Drei Monate lang verhalten sich die beiden Wundärzte unter den Augen von Munros Freunden wie ein altes Ehepaar. Nicht, dass einer James im Verdacht hat, er schmeichle sich bei Munro ein. James Dyer ist weiterhin ganz der alte: hart, eigensinnig, ehrgeizig; ungeheuer tüchtig. Und gegenüber Munro ist nicht das leiseste Anzeichen von Zuneigung, von Gewissensbissen zu erkennen. Dennoch sieht man die beiden häufig zusammen Spazierengehen, manchmal im 289
Gespräch, öfter jedoch schweigend. Sie gehen in der Abenddämmerung, durchstreifen ziellos die Stadt. Eine Zeitlang brauchen die beiden nur aufzutauchen, und die Leute treten aus Geschäften oder Kaffeehäusern, um sie anzuglotzen. Kinder und Besucher werden diskret auf Munros Nase aufmerksam gemacht. Es wird viel darüber spekuliert, ob er sie auch zu Hause oder im Bett trägt, ob er sie je verlegt oder ob sie ihm je aus dem Gesicht fällt, wenn er die Schnalle seines Schuhs richtet. Schmerzt sie ihn? Und wenn er sich erkältet? Munro selbst scheint sich damit bemerkenswert wohl zu fühlen und greift dann und wann nach oben, um sich darüberzustreichen. Agnes wird korpulent und leicht irre, zerrt Chowder umher und bedenkt Fremde, die sie verdächtigt, Beleidigungen zu äußern, mit feindseligen Blicken. Ihr Anblick ruft manchmal Mitleid, manchmal Genugtuung hervor. Mehr als ein Prediger spielt von der Kanzel herab auf ihren Fall an. Vorgebeugt fuchteln sie mit ihren Bibeln in der Luft herum. Gottes Gerechtigkeit! Gottes Zorn! Die Hände der Gemeinde schließen sich um unsichtbare Steine. Und dann bekommen die Prediger ihren Festtag. Lichtmess 1767. Die Straßen durchduftet von Kohlenrauch und Frost, der Nachthimmel reich mit Sternen beschlagen. James ist in der Grand Parade gewesen 290
und hat einen jungen Mann trepaniert, den ein Pferd gegen den Kopf getreten hat. Der junge Mann übersteht den Bohrer und wird schwach, verwirrt, aber durchaus lebendig seinen Freunden wiedergegeben. Eine ungemein hübsche Frau küsst James trotz seiner noch blutbespritzten Finger die Hand. James deponiert das Geld in seiner Kassette im Keller, legt seinen Rock an und macht sich auf den Weg in den Orange Grove. Im Empfangszimmer findet er Gummer vor, der gerade eine Semmel von den Zinken einer Toastgabel zupft. Sie sehen einander an, sagen nichts. James klingelt nach dem Dienstmädchen. Sie ist mittlerweile mit einem fahrenden Bäcker aus der Trim Street verlobt. James bestellt das Abendessen, isst es im Empfangszimmer von einem Tablett. Über sich kann er Agnes murmeln, die Leere ihres Zimmers befragen hören. Gummer geht aus, unterwegs in anrüchigen oder krummen Geschäften. Chowder rollt sich zitternd und furzend vor dem Kamin zusammen. Gegen Mitternacht begibt sich James zur Ruhe, geht auf sein Zimmer, zieht Nachtgewand und Nachtmütze an, legt sich zwischen die Laken und wartet auf den Schlaf. Aber der Schlaf stellt sich nicht ein. James wartet, ungeduldig, weil er diese dem Schlaflosen wohlvertrauten Wachphasen sonst nicht kennt; die verstohlenen Halluzinationen, die müden Knochen, die einmal dahin, dann dorthin gebettet werden, den durch das ganze Bett vibrierenden 291
Herzschlag. Er verliert jedes Zeitgefühl, hört die Stimme des Nachtwächters, nicht aber die Stunde. Zwei Uhr, drei? Er hört ein Geräusch. Es ist nicht laut. Irgendwo im Erdgeschoss. Etwas ist umgestürzt. Gummer vielleicht, der im Dunkeln über ein Tischbein stolpert, oder Dinah, die von der Trim Street zurückkehrt und sich voll lärmender Behutsamkeit ins Haus stiehlt. Doch irgendein Instinkt mahnt ihn, dass das Geräusch weniger harmlos, dass es die leise Ankündigung eines Unglücks ist. Er steigt aus dem Bett, steht im Dunkeln da, lauscht. Er tastet nach der Zunderbüchse, die er stets neben dem Bett stehen hat, entzündet eine Kerze, greift zu seinem Schutz nach einem Stock und tritt vor die Tür. Wenn es irgendein elender Hurensohn ist, der sich da unten seinen Sack füllt, so hat er sich das falsche Haus und die falsche Nacht ausgesucht. Aber noch während James schlagbereit die Treppe hinuntersteigt, glaubt er schon nicht mehr daran und ist nicht überrascht, die Zimmer im Erdgeschoss kalt, unangetastet und leer vorzufinden. Alle bis auf Munros Studierzimmer, wo ein trübes Licht unter der Tür hervorsickert. Und es ist ein Geruch wahrzunehmen, als ob Munro - oder sonst wer - Tuch verbrenne. Als James die Tür öffnet, sieht er zweierlei: ein noch nicht besorgniserregendes Feuer, verursacht von einer auf den Teppich hinuntergestoßenen Kerze; und, in einer Ecke des Zimmers in der Luft stehend, 292
Munro, unter seinen Füßen einen umgestürzten Stuhl. Munros Rock liegt gefaltet auf dem Lehnstuhl. James wirft ihn über die Flammen, tritt sie aus, öffnet das Fenster. Als der Rauch sich verzogen hat, untersucht er Munro und überzeugt sich davon, dass der Mann tot ist. Diese Geschichten von Erhängten, die auf dem Tisch des Wundarztes wieder lebendig werden - wie interessant das wäre! Munro freilich wird in dieser Welt nicht mehr lebendig werden. Er erwägt, ihn abzuschneiden, aber der Mann ist von beängstigendem Leibesumfang und das Seil an seinem Hals so straff wie eine Ankertrosse. Munro hat es nicht eilig. Morgen wird es auch noch reichen. James nimmt seine Kerze und bemerkt auf dem Schreibtisch, neben einem halben Dutzend mit schwarzem Wachs versiegelter Umschläge, Munros Brille samt Elfenbeinnase. James nimmt nicht an der Beerdigung teil. Er besucht eine Patientin, eine Frau mit Kindbettfieber. Wenn es nach ihm ginge, würde man die Leute in Kalkgruben werfen oder, wie Grace Boylan, mit einer Kugel an den Füßen durch eine Stückpforte befördern. Eben noch da und gleich darauf unsichtbar; nichts als Meer. Nichts von dieser Ausstaffiererei, diesem kummervollen Getue. Offiziell ist Munro an Herzversagen gestorben, aber bald sickert die Wahrheit durch, und binnen vierzehn Tagen heißt es von Taunton bis Gloucester, Robert 293
Munro habe sich aufgehängt - manche sagen auch, sich erschossen oder Gift geschluckt - und seine Frau und dieser Schurke Dyer hätten ihn dazu getrieben. Wie es scheint, hat jeder es kommen sehen. Drei Tage nach der Beerdigung wird Agnes ausgezischt, als sie mit Dinah durch den Abteihof geht. Danach traut sie sich einen Monat lang nicht aus dem Haus. Eine Woche später findet James bei seinem Eintreffen in der Grand Parade sämtliche Fenster im Erdgeschoss eingeworfen. Mr. Timmins erwartet ihn an der Tür und erklärt, er könne unter solchen Umständen nicht weitermachen und müsse daher bei allem Respekt und mit dem größten Bedauern... James wirft ihn hinaus, fegt das Glas zusammen und hat binnen einer Stunde den Glaser da. Man meidet ihn. Die Praxis erlebt einen Niedergang. Bald kommen nur noch die, denen es gleich ist, was die Leute glauben, die, deren Gedanken nicht weiter als bis zur Linderung ihrer Schmerzen reichen und die den Ruf von James Dyer - nicht als Mensch, sondern als Wundarzt - wie ein kostbares Geheimnis hüten. Wer in weniger bedrohlicher Verfassung ist und noch mit einem Bein im Strom des Lebens steht, geht zu Mr. Crisp, der tüchtig ist, zu Mr. Farbank, Mr. Boas oder sonst einem von dem Dutzend anderer, die eine Urkunde vorweisen und ein Messer schwingen können und die auf James Dyers Verdammnis getrun294
ken haben. Jetzt erfüllt sich ihr Wunsch. Er wird die Not bald genug spüren. Dann wird man schon sehen. März. Ein Steinhagel fliegt James hinterher, als er nach Einbruch der Dunkelheit zu Fuß in den Orange Grove geht. In derselben Nacht werden die neuen Fenster in der Grand Parade eingeworfen. April. Im ganzen Monat nur vier neue Patienten. Dinah und die Köchin kündigen. Ersatz ist schwer aufzutreiben. Agnes wird bettlägerig und liegt, ein Konterfei ihres Mannes umklammernd, zwischen den säuerlich riechenden Leintüchern. James besucht sie nicht. Sie leben wie Fremde in dem Haus. Die Zischer und Steinewerfer werden kühner. Eines Tages kehrt James, im Sattel vor sich hin dösend, von einem Krankenbesuch im Tal von St. Catherine zurück und sieht, als er die Augen aufschlägt, die Straße von vier Männern verstellt, die Stöcke tragen und deren Gesichter mit Tüchern maskiert sind. Einer stürzt vor, um zuzuschlagen. James tritt ihn gegen den Kopf, so dass er zu Boden stürzt. Die anderen kommen heran; einer packt die Zügel; sie zerren James vom Pferd. Der Kampf ist kurz und verläuft beinahe lautlos. Als Kämpfer kennt James keine Skrupel, keine Angst. Er geht auf Augen und Hälse los, aber vier sind zuviel. Sie gewinnen die Oberhand, schlagen mit ihren Stöcken auf ihn ein. Vage wird er ihre Angestrengtheit, ihr Geflüster, ihr schweres Atmen gewahr. Dann hört er sie weglaufen. Dann nichts mehr. 295
Als er zu sich kommt, ist es hell. Gelbe Dämmerung. Nieselregen. Vom Straßenrand aus beobachtet ihn eine Krähe. Als sie sieht, wie er sich rührt, hüpft sie hoch und flattert schwerfällig über das nass glänzende Tal davon. Das Pferd hat sich unter einer Eiche untergestellt, steht ebenso reglos wie der Baum. Ganz langsam hievt James sich in den Sattel. Nicht viele sehen ihn auf dem Heimweg, doch es sind immer noch genug, um die Nachricht zu verbreiten: Der Lump ist grün und blau! Ein Quäntchen Gerechtigkeit für den alten Munro. Als Gummer James am nächsten Morgen in der Grand Parade vorfindet, schüttelt er den Kopf, lacht und bringt später Essen und Wein. Die Striemen, die Kerben, die Stiefelabdrücke auf James' Rücken, Beinen, Armen erblühen und verschmelzen dann wieder mit seiner Haut. Er behandelt seine Wunden selbst; Kompressen, Nadel und Faden. Binnen zwei Tagen ist er imstande, am Stock herumzuhumpeln. Nach vier Tagen ist er völlig wiederhergestellt, visitiert die wenigen Patienten, die noch in den Impfkammern und auf der Syphilisstation liegen, und operiert einem Kind die fauligen Mandeln. Eine Suche nach seinen Angreifern findet nicht statt. Er denkt nicht an sie. Nichts davon spielt eine Rolle. Er ist James Dyer. Sogar seine Feinde bezeichnen ihn als bemerkenswert, brillant. Er leidet nicht. Aber er klappt zum erstenmal seit drei, vier Jahren das alte Orrery-Planetarium wieder auf und tröstet sich mit 296
dem Anblick und mit der Erinnerung an sich selbst in Blind Yeo, einen Jungen, der überzeugt war von seiner Größe. Die Planeten enttäuschen ihn nicht. Am fünfzehnten Mai 1767 erhält er einen Brief Von Dr. Fothergill aus London. Mein lieber James, obwohl Sie es vorziehen, Ihren alten Lehrer zu vergessen, hat er Sie nicht vergessen. Ich finde eines alten Mannes Vergnügen daran, das Fortkommen meiner vielversprechenderen Studenten zu verfolgen, und habe aus verlässlicher Quelle erfahren, dass Sie im West Country guten Gebrauch von Ihren Gaben machen. Wie ich höre, haben Sie die Impfung gegen die Pocken, jene überaus wichtige Maßnahme, zu Ihrer Spezialität gemacht. Mr. Puschin, der russische Gesandte in London, hat bekanntgegeben, dass die Zarin Katharina den Wunsch hat, ihren Untertanen mit gutem Beispiel voranzugehen und sich impfen zu lassen, auf dass die Geißel dieser Krankheit in ihrem Reich ausgerottet werde. Zu diesem Zweck hat sie ihren Gesandten aufgefordert, einen englischen Operateur ausfindig zu machen, da unsere Leute in der ganzen Welt für ihr Geschick und ihre Kenntnisse in diesen Dingen berühmt sind. Es wurden mehrere Namen genannt, und ich habe mir die Freiheit genommen, ihnen den Ihren hinzuzufügen. Ich hoffe, Sie nehmen mir das 297
nicht übel. Wer den Eingriff letztlich vornehmen wird, hängt davon ab, wer als erster in St. Petersburg eintrifft, denn man hat, da alle auf der Liste Befindlichen gleichermaßen für die Aufgabe geeignet sind, beschlossen, dass alle billigerweise die Gelegenheit dazu bekommen sollen. Man wird einen Tag festsetzen, an dem sich alle, die bereit sind, die Reise zu unternehmen, in London einzufinden haben, um dann gemeinsam nach dem Kontinent und von dort, so rasch sie es vermögen, nach Russland zu reisen. Ich kann dieses Vorgehen zwar nicht ganz billigen, aber man glaubt, dass es sowohl hier als auch in Russland einige Kurzweil und Belustigung bieten wird. Falls Sie wünschen, dass ich Ihren Namen bestätige, sollten Sie so rasch wie möglich hier vorsprechen, denn es wird erwartet, dass die Sache noch vor Jahresende stattfindet. Wäre ich jünger, so wäre ich versucht, selbst zu reisen. Die Gefahren sind nicht unbeträchtlich, doch es winkt wohl auch überaus stattlicher Lohn. Ich bin Ihr ergebener Diener etc. Fothergill In der Woche darauf ist James in London, bei Fothergill in dessen Garten. Von der kürzlich erhaltenen Tracht Prügel ist keinerlei Spur mehr zu sehen. Er trägt einen Anzug aus kostbarem Tuch und über dem kurzgeschnittenen Haar eine Perücke, eine neue, teuer 298
und leicht parfümiert. Obwohl es möglich ist, dass Fothergill von der Affäre Munro gehört, seine Kenntnis davon vielleicht sogar in gewisser Weise zum Anlass genommen hat, James zu schreiben, kommen keinerlei dunkle Andeutungen, keinerlei Hinweise auf die fragwürdigen moralischen Referenzen seines Kandidaten. James erklärt seine Impfmethode mit der in Krankheitsmaterial getauchten Lanzette. Fothergill nickt zustimmend. Sie sitzen auf einer Bank unter einem blühenden Kirschbaum und trinken Wein. Sie bringen einen Trinkspruch auf die Kaiserin aus. »Was für ein Abenteuer, Mr. Dyer«, sagt Fothergill. Sie essen mit der Familie zu Abend, schlichte Kost, während vor dem Fenster die Sonne untergeht. Fothergills Tochter errötet angesichts der Art, wie James, dieser schöne Mann, sie beobachtet, als läge sie auf seinem Operationstisch. Nach dem Essen führt Fothergill James in ein Zimmer im oberen Stock des Hauses. Es ist voller ausgestopfter, im Auffliegen an den Wänden erstarrter Vögel, voller Knochen und Fossilien und toter Schmetterlinge mit Flügeln wie ausgeschnittene Seide. »Kommen Sie«, sagt Fothergill. Neben dem Tisch steht ein Faß. Als Fothergill den Deckel abnimmt, erfüllt bittersüßer Tabakduft das Zimmer. Fothergill sagt: »Mein Agent in Nordamerika, Mr. Samms, verpackt seinen Fang stets in Tabakpulver. Das hier ist gestern mit einem Sklavenschiff aus 299
Charleston gekommen. Bitte streifen Sie mir die Ärmel zurück.« Fothergill greift in das Pulver, hebt das Geschöpf ins Zwielicht des Zimmers. »Was ist das, Sir?« fragt James. »Mephitis mephitis«, sagt Fothergill und hält es wie ein Schoßtier hoch. »Die Waldkatze. Das gemeine Stinktier.«
20 Die Häuser in der Grand Parade sind verkauft, das eine an einen Schauspieler, das andere an einen pensionierten Kapitän der Ostindischen Kompanie. Es ist Juli. James' letzte Woche in Bath. Eine Menschenmenge hat sich am Fluss versammelt, wo ein Seil in steilem Anstieg über den Rasen zum Ostturm der Abtei gespannt ist. James geht zu der Menschenmenge hinüber, stellt sich zwischen die hinteren Reihen. Alles starrt zum Turm hinauf. Eine kleine Gestalt schiebt sich, mit der Brust auf einer Art Harnisch liegend, in prekärer Balance auf das Seil. Jemand schreit: »Er kommt! Er kommt!«, und plötzlich fliegt die Gestalt, saust auf dem Seil hinab und zieht dabei einen Rauchschweif von der Reibung des Brettes hinter sich her. Ein Pistolenschuss, ein Trompetenstoß hallen über die Hügel. Die Gestalt fährt herab wie eine Sternschnuppe, ein fallender Engel. Verrückt! Verblüffend! 300
Die Menge jubelt. James wird vorwärts gedrängt, bis er schließlich über die Schultern derer blickt, die der Stelle, wo das untere Ende des Seils an einem Gerüst befestigt ist, am nächsten stehen. Er sieht einen Mann, klein und grau, gekleidet in eine wattierte Jacke, und neben ihm, die Trompete noch in der Hand, die Windtränen noch in den Augen, ein Mädchen, vierzehn oder fünfzehn, höchstwahrscheinlich seine Tochter. Eine Frau neben James sagt: »Die war das. Ein kurzes Leben, wie? Kurz und lustig.« Er mustert das Mädchen. Sie lacht, als könnte das Leben in diesem Moment nicht herrlicher für sie sein. Sie betrachtet die Menge, erwidert eine Sekunde lang James' Blick. Was für ein Gesicht sie hat. Diese wilde Freude in ihren Augen. James bahnt sich einen Weg durch die Menge, lässt sie hinter sich und geht schwer wie ein Leichnam in Richtung Orange Grove. Er kommt nicht darauf, was ihn so verstört hat. Es war eine Zirkusnummer, Teil der Begeisterung für das Fliegen, die das Land gepackt hat. Ein Nervenkitzel für den Pöbel. Er betritt das stille Haus, geht in sein Zimmer hinauf. Es war schon immer kahl, grün und kahl. Nun ist es noch kahler. Er tritt vor den Spiegel, wischt ihn ab. Was für ein Gesicht. Lebt er eigentlich? Was heißt es, zu leben? Was empfindet das Mädchen, was er nicht empfindet? Er rückt seine Halsbinde zurecht. Kalte, gewandte Finger. Er denkt an Rußland, Rußland, Rußland...
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Fünfter Teil 1 Rev. Jh. Lestrade an Lady Hallam Paris, den 22. Oktober 1767 Verehrte Lady Hallam, verzeihen Sie, dass ich nicht eher geschrieben habe. Die Wahrheit ist, dass ich so recht zu gar nichts Lust verspüre und noch die kleinste Aufgabe über die Maßen beschwerlich finde. Das, fürchte ich, macht mich zu einem sehr faden Gesellschafter für Ihren Freund Monsieur About, der seine herzlichsten Grüße übermittelt und nach seinen eigenen Worten mit großer Zuneigung an seinen Aufenthalt in der Hall zurückdenkt. Ich glaube, Sie sind nie in seinem Hause gewesen, das am Quai de Bourbon und nur eine Minute zu Fuß von der Kathedrale Notre-Dame entfernt liegt. Schätzen Sie eigentlich den gotischen Stil? Ich war neulich darin, und die Luft war dermaßen mit Weihrauch geschwängert, dass mir davon ganz schwindelig im Kopf wurde. Die Fenster sind sehr schön. O weh! Die Stadt hat zu viele Paläste, zu viele Kirchen, zu viele Denkmäler. Ein Ausländer, der nach London kommt, empfände das wohl ebenso, aber mir fehlt es an Begeisterung, und ich bin froh, dass Monsieur About mich nicht damit triezt. Wie Sie 302
wissen, ist er Geschäftsmann, obwohl ich nicht recht weiß, in was für Geschäften, nur dass er offenbar für irgendwelche Juden im Faubourg Saint-Germain arbeitet. Ich bin häufig der Obhut seiner Freundin Mme. Duperon überlassen, einer sehr eleganten und geistreichen Dame, mit der ich mein dürftiges Französisch üben kann. Ihr Englisch ist, um das mindeste zu sagen, exzentrisch, und ihr Akzent verleiht noch der harmlosesten Äußerung etwas merkwürdig Unschickliches. Dies indes nur nebenbei, werde ich doch nicht sowohl von der Erinnerung an mein Versprechen, Ihnen zu schreiben, zu diesem verspäteten Brief angespornt, sondern auch von einer höchst sonderbaren Wendung der Ereignisse, insofern es nun so aussieht, als würden wir Paris verlassen und - falls nicht noch ein guter Nachtschlaf diese Absicht zunichte macht - nach Russland aufbrechen! Ich verstehe selbst nicht recht, wie es dahin kommen konnte, und bin mir keineswegs sicher, ob es klug ist, doch About ist Feuer und Flamme und sagt, er sei schon drei- oder viermal in St. Petersburg gewesen und halte sich lieber dort auf als in Venedig, Rom oder sonst einer der großen Städte im Süden. Wir saßen alle beim Abendessen, als er den Vorschlag machte, und waren fraglos etwas entflammt von seiner Gastfreundschaft, die niemals anders denn großzügig zu nennen ist. Ich sage »wir« und sollte Wohlerzogenerweise unsere Gesellschaft vorstellen. Da sind zunächst 303
natürlich About, ich selbst und Mme. Duperon. Dazu ein englisches Paar mit Namen Featherstone, das wir vergangene Woche in den Tuilerien kennenlernten, als About in der Lage war, Mr. Featherstone zu helfen, nachdem dieser Opfer des schändlichen Diebstahls seiner Börse geworden war. Die Sache fand ein so glückliches Ende, dass wir übereinkamen, noch am gleichen Nachmittag Versailles zu besuchen. Den König haben wir nicht gesehen, dafür aber in der Menagerie so manches Seltsame, nämlich: einen kleinen schwarzen Hirsch aus China, einen jungen Elefanten und ein Rhinozeros mit abgebrochenem Horn. Seither sind die Featherstones unsere Begleiter. Mr. Featherstone ist ein Mann von mittleren Jahren, robust, wahrscheinlich reich und jung vermählt. Seine frisch angetraute Gemahlin ist halb so alt wie er, auf kecke Weise hübsch und passt, glaube ich, ausgezeichnet zu ihm. Sie verleben die Flitterwochen in Paris. Er war schon einmal in Geschäften hier. Sie ist zuvor noch nie aus Hereford herausgekommen und von der gallischen Raffmesse erstaunlich unbeeindruckt. Mindestem einmal die Stunde erzählt sie About oder Mme. Duperon - die kein Wort versteht -, die Stadt sei voller schlechter Gerüche und abscheulicher Manieren. Sogar in Modefragen, so scheint es, sind die Frauen von Hereford ihren Pariser Schwestern über. Ich muss gestehen, dass ich sie etwas lästig finde, obwohl es mir in meinem derzeitigen Zustand mit fast jeder Gesellschaft so geht, was 304
umgekehrt MICH ausgesprochen ermüdend und vielleicht auch zu einem etwas wirren Briefschreiber macht. Wollte ich nicht über Russland schreiben? Erlauben Sie mir, mich näher zu erklären. Die ganze Sache wurde durch diesen merkwürdigen Wettlauf zwischen den Doktoren in Gang gebracht. Ew. Ladyschaft werden gewiss davon gelesen oder gehört haben. Ein - wie lautet der Sammelbegriff für Doktoren? -, ein, sagen wir, »Zug« von Ärzten hat sich von London aus auf den Weg gemacht. Sie sollen via Paris und Berlin nach St. Petersburg Weiterreisen, wo einer von ihnen dadurch Unsterblichkeit erlangen wird, dass er die Kaiserin gegen die Pocken impft. Die Regeln - hier ist Mr. F. mein Informant sehen vor, dass, wer als erster in Paris eintrifft, am folgenden Tage auch als erster weiterfährt, wobei er ebenso viele Stunden vor seinen Mitbewerbern abreist, wie er vor ihnen eintraf. Dasselbe gilt in Berlin, und danach geht alles auf gut Glück nach St. P. Sowohl hier als auch in Preußen gibt es einen Empfang beim britischen Gesandten, und als heute der erste der Ärzte auf der Place Royale anlangte, hatte sich zu seiner Begrüßung eine kleine Menschenmenge eingefunden; freilich schien wenigstens die Hälfte der Einheimischen eine der Mätressen des Königs zu erwarten. Wir waren mehr oder weniger zufällig dort. Mr. F. wollte die Bastille sehen, die nicht sehr weit von der Place Royale entfernt liegt. Zehn Minuten nachdem 305
wir den Platz betreten hatten, kam eine sehr staubige Chaise mit einem auf äußerst komische Weise prächtigen Postillion in gelbem Rock herangerollt, welcher die Pferde anjodelte und die Menge beschimpfte. Der Schlag ging auf, wir alle verdrehten die Hälse, und heraus sprang Dr. Dyer samt seinem Gehilfen, der Doktor eine ungemein gepflegte Erscheinung, der andere mit dem Ausdruck eines Menschen, der sich auf dieser Welt nie mehr an irgend etwas freuen wird, was mich ziemlich für ihn einnahm! Der nächste - wir sahen ihn allerdings nicht kommen - war Dr. Dimsdale, der drei Stunden nach Dyer eintraf und die anderen offenbar bereits unlauterer Machenschaften bezichtigte. Was sind wir doch für erbärmliche Geschöpfe! Meine Begleiter indes waren von dem ganzen Abenteuer sehr angetan und immer noch davon erfüllt, als wir uns hier chez About zum Essen versammelten. Wir waren beim Fleischgang, als M. About auf schnurrigste Weise mit seinem Ring an sein Glas klopfte und den Vorschlag zu unserer Reise machte. Er brachte ihn so leichthin vor, dass wohl keiner von uns ihn beim Wort nahm, doch dann fixierte er uns mit derart forschendem Blick, dass zuerst mir und dann Mr. F. zu dämmern begann, dass unser Gastgeber es völlig ernst meinte. Es war Mrs. F., die den Handschuh aufhob, sich an ihren Gatten wandte und Abouts Vorschlag befürwortete. Mr. F. liegt ebensowenig wie sonst einem Jungverheirateten Ehemann daran, den Eindruck zu 306
erwecken, es mangle ihm an männlicher Entschlusskraft, und so begegnete er dem Eifer seiner Frau mit einem noch größeren von seiner Seite. Damit blieb nur noch der Unterfertigte zu verführen. About wandte sich auf französisch an mich, damit wir uns die Es sind dieser Sprache nicht mächtig - gleichsam unter vier Augen unterhalten konnten, und stellte mir vor, dass die Wirkung einer solchen Reise einem Manne in meinem Zustand nur zuträglich sein könne, da sie Körper und Geist mit so vielen herrlichen Eindrücken anrege und aufmuntere, dass ich von meiner derzeitigen Melancholie völlig befreit würde. Er sprach so verständnisvoll und, wie es mir zu dem Zeitpunkt erschien, so klug, dass ich mit Hilfe seines Weinkellers schließlich überzeugt wurde. Mr. F. erkundigte sich sodann, wann an unsere Abreise gedacht sei. Zu unserer Verblüffung erwiderte About, sie habe gleich am nächsten Morgen zu erfolgen, er werde sich um alles kümmern und wir brauchten lediglich unser Gepäck fertigzumachen. Wir sollten uns unterwegs mit allem Notwendigen versorgen. Eine spezielle Vorbereitung sei nicht notwendig. Wir würden derselben Strecke wie die wettfahrenden Doktoren folgen und es vielleicht sogar zustande bringen, vor ihnen in St. Petersburg zu sein! Ich kann nur sagen, dass der Plan sich im Lichte von Abouts Kerzen herrlich ausnahm, und wir bewunderten uns sehr dafür, dass wir den Schneid hatten, ihn mit so offenkundiger Nonchalance ins Werk zu 307
setzen. Inzwischen ist es, nach meiner Uhr, Viertel vor drei morgens. Die Stadt Paris ist ruhig, obwohl ich auf dem Fluss ein Boot dahingleiten sehe und auf der Straße vor dem Haus Laute wahrnehmen kann, die sich wie das Schluchzen einer Frau anhören. Ich bin ein rechter Fachmann für diese wenig bevölkerten Nachtstunden geworden. Die Seeleute nennen sie, glaube ich, die »Friedhofswache«, und es ist eigenartig, hier beim Schreiben an sie zu denken, wie sie, von Wind und Sternen geleitet, über die großen, wüsten Weltmeere steuern. Es ist vielleicht auch die Stunde der phantastischen Gedanken. Ich bitte Ew. Ladyschaft um Nachsicht. Ich glaube, ich habe Ihnen für die mir in dieser Sache erwiesene Güte noch immer nicht richtig gedankt. Der einigermaßen öffentliche Niedergang meines Glaubens muss Ihnen ein Ärgernis, wenn nicht gar ein Affront gegen Ihren eigenen starken Glauben und Ihre christliche Rechtschaffenheit gewesen sein. Dadurch, dass Sie mich so gnädig behandelt haben, stehe ich für immer in Ihrer Schuld. Es ist mein tiefempfundener Wunsch, dass ich dereinst die Mittel besitzen möge, sie zurückzuzahlen. Ich werde mich nun niederlegen, die Augen schließen und einen Schläfer wenigstens mimen. So wird Morpheus vielleicht Mitleid empfinden und zu mir kommen. In den nächsten Tagen werde ich wieder schreiben und Ihnen das Neueste von der Großen Expedition nach St. Petersburg berichten, obwohl ich 308
fürchte - hoffe? -, sie wird, bis wir unsere Morgenschokolade trinken, völlig vergessen sein. Ich bin immerdar, Madam, Ihr untertänigster, dankbarer, wunderlicher Diener, Julius Lestrade Rev. Jls. Lestrade an Miss Dido Lestrade Paris, den 22. Oktober 1767 Meine liebe Dido, ein Wort von Deinem fahrenden Bruder. Ich hoffe, Du bist mir nicht mehr böse. Ich weiß, dass mein Tun Dir viel Verdruss verursacht hat. Ich kann nur um Deine Nachsicht und Geduld bitten und Dich meiner brüderlichen Liebe versichern. Paris ist recht hübsch. Mein Französisch reicht hin, obwohl es weder so elegant noch so korrekt ist wie das Deine. Wie stehen die Dinge in Cow? Sorgt Mrs. Cole gut für Dich? Was ist mit Deinen Kopfschmerzen? Verschafft Dir Dr. Thornes Arznei etwas Linderung? Pass auf, meine Liebe, es ist hier davon die Rede, dass wir vielleicht nach Russland reisen. Beunruhige Dich nicht! Monsieur About, der Dir sehr gefallen würde, hat mich dazu überredet, wenngleich ich nicht sagen kann, ob es wirklich dazu kommt. Höchstwahrscheinlich nicht, denke ich, dabei mag es besser sein, als hier müßig warten zu müssen. Ich habe Lady Hallam geschrieben. Siehst Du sie zuweilen? Was für einen Eindruck macht sie auf Dich? Ich weiß nicht, warum ich Dir alle diese Fragen stelle; der Himmel 309
weiß, wohin Du eine Antwort schicken könntest. Sei mir nicht böse, Diddy. Du und ich sollten stets bestrebt sein, uns gut zu vertragen. Sorge dafür, dass George Pace das Loch im Dach repariert, ehe das Wetter richtig schlecht wird, und bitte widme Dich unbedingt ein wenig dem Garten. Ich bin Dein Dich liebender, närrischer Bruder Julius Rev. Jls. Lestrade an Lady Hallam Berlin, den 31. Oktober Sehr verehrte Lady Hallam, ich schreibe Ihnen vom Hotel Bristol in Berlin aus, wo ich über ein sehr elegantes Zimmer und, für diesen Brief an Sie, einen besseren Schreibtisch als in meiner Studierstube in Cow verfüge. Ich kann es noch gar nicht recht glauben, dass ich hier bin. About ist ein Zauberer, ein gütiger Faustus. Seine Energie ist ungeheuer. Wir sind vor einer Woche von Paris abgereist, nachdem die Diener uns am Morgen unserer Abfahrt vor Tau und Tag geweckt und wir uns allesamt mit vagen Erinnerungen an unser am Vorabend geplantes Unternehmen zu heißer Schokolade und Rosinenkuchen am Frühstückstisch eingefunden hatten. About war bereits da, langte tüchtig zu und sah aus, als habe er zwölf Stunden geschlafen. Mr. und Mrs. F. sowie ich selbst, die wir es geflissentlich vermieden, einander anzusehen, waren 310
gezwungen, einen Eifer an den Tag zu legen, den wir keineswegs empfanden. Doch wer von uns wollte sich schon als bloßer Schwätzer, als Aufschneider bloßstellen? Binnen einer Minute hatte About uns so weit, dass wir auf St. Petersburg, auf die Kaiserin, auf das Reisen tranken. So lässt man sich aus Rücksicht darauf, wie man vor der Welt dasteht, durch die halbe Welt zerren. Es war, das versichere ich Ihnen, eine sehr komische Szene. Ich möchte behaupten, dass sie sich mit gutem Effekt auf das Theater bringen ließe. Nach dem Frühstück wurden eilends unsere Koffer zusammengetragen, und wir bestiegen unser Gefährt. Es ist ein ziemlich altes Vehikel, innen und außen ganz braun, bis auf die Radspeichen, die noch etwas gelbe Farbe aufweisen. Stellenweise quillt die Polsterung der Sitze hervor, eines der Fenster lässt sich nicht vollständig schließen, und von der Hinterachse ist ein beständiges schauriges Klagen zu vernehmen, aber wir haben das Gefährt recht liebgewonnen, denn es ist sehr robust, mit einem guten, trockenen Geruch und reichlich Platz für uns alle, sogar für Mrs. F.s Krinolinen. Bis wir an einem hübschen Gasthof außerhalb der Stadt Compiègne das erstemal Station machten, waren wir alle schon bemerkenswert gelassen, und das um so mehr, als der Wirt uns mit einem ausgezeichneten Ragout von Ente und Speck regulierte und About ihn dazu überredete, sich von einem halben Dutzend Flaschen seines besten Rotweins aus seiner cave zu trennen. Das Wetter, in Paris noch ganz grau, 311
reifte zu einem herrlichen Herbstnachmittag. Unsere Kutsche, die sich, nach einer von Abouts älteren weiblichen Verwandten, des Namens »Mami Sylvie« erfreut, verschlang die Entfernungen regelrecht, raste zwischen den Hecken dahin und schaukelte uns durch Ansiedlungen, die uns trotz ihrer offensichtlichen Armut malerisch erschienen. In jener Nacht tat ich zum erstenmal seit vielen Wochen wieder einen guten Schlaf, mindestens sieben Stunden gesegneten Schlummers. Inzwischen frage ich mich, wieviel von unserem Leiden, unserer geistigen Qual, von dem Mangel daran herrührt. Vielleicht brauchte es, um viele unserer Krankheiten zu heilen, nichts weiter als die Verabreichung eines starken Schlafmittels. Sie mögen uns, Madam, für ein sonderbar zusammengewürfeltes Häuflein von Reisenden halten, aber ich muss berichten, dass wir sehr gut miteinander auskommen. Mr. und Mrs. F. sind ehrliche Leute, leicht um die gute Laune zu bringen, fürchte ich, und Mr. F. braust rasch auf, ist aber im Grunde gutmütig, und mehr kann man nicht verlangen. Ergötzlicherweise verachten sie durchweg alles Unenglische. Alles, was wir sehen - Kühe, Bäume, Gebäude, ja selbst die Männer und Frauen, die wir auf der Landstraße passieren -, hat für das Featherstonesche Gemüt ein schöneres Gegenstück in Albion. About, alles andere als erzürnt, bricht darob vielmehr in schallendes Gelächter aus, und wo ein Feixen Anstoß geben könnte, wird solch offene Belustigung gut aufgenom312
men. Mrs. F. ist schlauer als ihr Mann. Ich ertappe sie zuweilen mit einer sehr scharfsinnigen Miene. Ehe diese Flitterwochen vorüber sind, wird sie Mr. F. gut gezähmt haben. Was unser Oberhaupt, Monsieur About, angeht, so wissen Sie bereits einiges von seinem Charakter und seinen Fähigkeiten. Fanden Sie nicht auch, dass er etwas - wie soll ich sagen? -, etwas Geheimnisvolles an sich hat? Ich habe ihn noch keineswegs ergründet und bringe ihm dennoch vollstes Vertrauen entgegen. Wenn einer uns alle sicher und schnell an den Kaiserhof bringen kann, dann er. In Brüssel haben wir uns Dr. Dimsdale und einen weiteren Mitbewerber, einen gewissen Mr. Selkirk, betrachtet, und in Hannover haben wir Ozias Hampshire gesehen. Wir konnten nicht sagen, wer von ihnen vorn lag, doch bei unserer Ankunft in Berlin stellten wir fest, dass Dr. Dyer immer noch die Führung innehatte und dass die Beschuldigungen gegen ihn und seinen Diener an Heftigkeit immer mehr zunahmen. Es geht sogar das Gerücht, er habe Briganten gedungen, die Dr. Lettsoms Chaise auflauerten; jedenfalls ist Dr. Lettsom offenbar nicht mehr im Rennen. Ich habe den Tag mit einer Stadtbesichtigung zugebracht - die Oper, das alte Schloss und die neue protestantische Kathedrale im Lustgarten, die man wegen ihrer Kuppel die »Teetasse des Alten Fritz« nennt. »Der Alte Fritz« selbst weilt in der Stadt, und About hat sich in der Hoffnung auf eine Audienz ins 313
Schloss begeben. Er wollte sich von niemandem begleiten lassen und behauptete, es handele sich um eine geschäftliche Angelegenheit, die zu langweilig sei. Er nahm, getragen von einem Bedienten des Hotels, eine der soliden Kisten mit, die er in Paris geladen hatte. Ich weiß nicht, was sie enthält, und als ich heute morgen einen scharfen Blick darauf warf, zwinkerte mir About auf höchst merkwürdige Weise zu. Ich kann nicht glauben, dass es irgend etwas Unschickliches ist. Hat Friedrich irgendwelche Schwächen, von denen Ew. Ladyschaft weiß? Große Männer haben das manchmal. Ich glaube, Monsieur About findet Vergnügen daran, uns zu foppen. Mr. und Mrs. F. haben mich auf meiner Besichtigungstour begleitet. Sie sind recht angetan von Berlin, und da die Preußen in den letzten Kriegen unsere Verbündeten waren, haben sie mehr Anspruch auf Mr. F.s Wohlwollen, als die Franzosen sich je erhoffen können. Heute Abend dinieren wir im Bristol und ziehen uns früh zurück, um unsere guten preußischen Betten aufs beste auszunutzen, denn About teilt uns mit, dass unser Quartier um so weniger zuträglich sein wird, je weiter wir nach Osten kommen. So sei es denn. Ich hoffe, Ew. Ladyschaft sind sowohl wohlauf als auch guter Dinge. Werden Sie sich diesen Winter in die Stadt begeben? Jetzt ist Monsieur About an der Tür. Ich bin Ihr untertäniger und gehorsamer Diener Julius Lestrade
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Jls. Lestrade an Miss Dido Lestrade Berlin, den 1. November Liebe Dido, Dein Bruder ist in Berlin! Ja, ich weiß, er hat dort nichts zu schaffen, aber ... er ist nun einmal dort, und damit hat es sich. Geht es Dir gut? Ich habe mich manchmal gefragt, ob Thorne eigentlich weiß, was er tut. Die meisten Doktoren sind unfähig. Nicht wenige von ihnen sind verrückt. Und alle sind gierig. Die Reise von Paris hierher hätte schlimmer sein können, obwohl mir von der verwünschten Kutsche der Rücken schmerzt und mich der schlimmste Fall von Hämorrhoiden plagt, an dem jemals gelitten zu haben ich mich erinnern kann. Ich wünsche mir oft, ich wäre wieder in Cow, aber da ich immer noch nicht imstande bin, den Menschen als geistlicher Hirte zu dienen, müsste ich nur wieder fortgehen und würde denen, die mir teuer sind, noch mehr Kummer bereiten. Vielleicht ist Gott im Osten. Vielleicht werde ich ja Mohammedaner. Würdest Du mich überhaupt wieder ins Haus lassen, Dido, wenn ich Mohammedaner würde? Zu meiner Reisebegleitung gehört neben Monsieur About ein Ehepaar namens Featherstone. Mr. Featherstone, der Anteile an ein paar Bristoler Sklavenschiffen besitzt, ist ein großes, rotgesichtiges Kind. Mrs. F. ist eine Kokette und hat ihn wegen seines Sklavengoldes geheiratet. So unglaublich es auch klingen mag, sie hat mir Augen gemacht! Es 315
heißt, das Reisen bewirke eine Erschlaffung im moralischen Charakter des Mannes; welche Wirkung mag es auf eine Frau haben? Wir werden sehen. Morgen früh sind wir wieder unterwegs. Von jetzt an, denke ich mir, wird es erheblich weniger bequem zugehen. Natürlich hindert mich nichts daran, nach Paris oder gleich nach England zurückzukehren, aber ich beabsichtige, die Reise bis an ihr Ende mitzumachen. Zumindest werde ich dann ein paar Geschichten zu erzählen haben, selbst wenn ich keine Enkel habe, denen ich sie erzählen kann. Ich hatte vergangene Nacht einen Traum, in dem Du vorkamst, und zwar in einem von Mamas alten Kleidern, nämlich dem grauen. Erinnerst Du Dich noch daran? Als ich aufwachte, wurde ich eine Zeitlang von einer starken Gemütsbewegung bestürmt. Ich frage mich, ob Vater in meinem Alter glücklich war. Bist Du glücklich, liebe Schwester? Mein Nächstes aus dem kalten Land der Polen. Bestelle dem alten Askew Grüße. Schließe mich in Deine Gebete ein. Julius Rev. Jls. Lestrade an Mr. Askew, Esq. Bydgoszcz, den 8. November Mein lieber Askew, Dido hat Sie zweifellos über meine Wanderungen auf dem laufenden gehalten. Sie war keineswegs gut auf mich zu sprechen, als ich fortging, und schwor, sie 316
könne überhaupt nicht begreifen, was in meinem Kopf vorgehe. Warf mir vor, ich suchte auf Kosten anderer mein Vergnügen. Ich fürchte, sie hat damit nicht ganz unrecht, hoffe allerdings, dass Sie, alter Freund, nicht so hart mit mir ins Gericht gehen. Wie könnte ich als bewusster Heuchler mein Amt versehen? Ein Anwalt mag vielleicht ohne viel Vertrauen in das Recht seinem Beruf nachgehen oder ein Soldat ohne die Überzeugung, dass sein Krieg ein gerechter sei, seinen Pflichten nachkommen, aber ein Geistlicher kann kaum ohne seinen Glauben fortfahren. Ich weiß, mein Freund, Sie wiegen den Kopf und sagen, dass, wenn dem so wäre, die Hälfte aller Priester von England ihr Amt aufgeben müsste. Am meisten, so denke ich zuweilen, fürchte ich, dass ich auch OHNE Religion ganz zufrieden leben könnte. Ist das der Geist unserer Zeit? Ein anmaßendes Zeitalter. Wie geht es den Hunden? Ihre wunderschöne Petze wird dieses Jahr der Schrecken der Hasen sein. Ich hoffe, Miss Askew gedeiht. Eine sonderbare Geschichte widerfuhr mir neulich - ich geriet mit einer Rotte des hiesigen Militärs aneinander. Ich fürchtete nachgerade um mein Leben, obwohl man es mir, glaube ich, nicht anmerkte. Sie überraschten mich, als ich gerade hinter dem Wirtshaus, in dem wir übernachtet hatten, an eine Wand pisste. Hässliche Teufel. Ich gab ihnen Geld, und sie ließen mich zufrieden. Das Land hier ist sehr arm. Die Bauern tragen als Schuhe Baumrinde an den Füßen. Unsere nächste 317
Station ist Danzig an der Ostsee, und wir hoffen, dort Neues von den fliegenden Doktoren zu erfahren. Ich werde mir einen anständigen Mantel kaufen müssen, denn das Wetter schlägt um. Haben Sie ein Auge auf meine Schwester, denn sie ist das Alleinsein nicht gewöhnt. Ich bin, Sir, Ihr tief verbundener und untertänigster Diener Julius Lestrade Jls. Lestrade an Miss Dido Lestrade Kaschubien, den 12. November Liebe Dido, wir nähern uns der Ostseeküste und der Stadt Danzig, eine, wie About mir sagt, blühende Handelsstadt und stark von Schotten bevölkert. Das Land hier ist zwar fruchtbar, aber dennoch arm, schlimmer als in Frankreich, obwohl die Menschen weniger bedrückt wirken. Es ist außerdem scheußlich kalt, ein Wind, der uns ins Gesicht bläst, denn er kommt aus Rußland. Gestern Abend fuhr es mir plötzlich in den Rücken, als ich im Bett lag und bei Kerzenschein Candide las. Mehrere Minuten lang konnte ich mich überhaupt nicht mehr rühren und bildete mir sogar ein, ich würde hier sterben, ein gottloser Geistlicher in einer elenden Hütte in Polen. Zweifellos eine Strafe für meine Voltaire-Lektüre. Das Buch stammt von About. Er hat es mir geschenkt. Er hat Voltaire in Genf kennengelernt. 318
Es ist ein Fehler, in der Hoffnung zu reisen, man könne damit seine Probleme lösen. Man nimmt sie lediglich mit sich und ist somit gezwungen, sie unter Fremden zu ertragen. Wie findest Du das als pensée? Es wird eine große Erleichterung für uns sein, eine zivilisierte Stadt zu erreichen. Von der Plackerei der letzten beiden Tage ist selbst Abouts Gleichmut etwas strapaziert worden. Ich will nicht sagen, dass er Mr. F. regelrecht anfuhr; es war eher das leise Knurren eines sehr großen Hundes, ziemlich eindrucksvoll und komisch, wenn man bedenkt, dass sich aus Fleisch und Knochen eines einzigen Featherstone drei Abouts machen ließen. Es ist gefährlich für Mrs. F., ihren Gatten fortwährend in Gesellschaft eines überlegenen Mannes zu erleben. Unter seinen Sklavenhändlergefährten leuchtet Mr. Featherstone gewiss wie ein Stern, doch neben About flackert er wie feuchter Schwefel. Ich glaube, ich kann das Meer riechen. Ein kaltes grünes Meer. Ich bin, in Liebe, Dein Bruder Julius Lestrade
2 Königsberg, die erste Stadt des Herzogtums Preußen, sonnt sich fett unter blauem Himmel. Mami Sylvie rattert durch die verschmutzten Straßen, in der kalten Luft lärmt eine Glocke. Mrs. Featherstone möchte 319
Einkäufe machen. Man hakt sich unter und macht sich vom Gasthof aus auf den Weg. Der Reverend kauft Sennesblätter und Tabak. About kauft sich eine schöne Pelzmütze. Beim selben Kürschner erstehen die Featherstones Mäntel mit Pelzbesatz - »Den hier für die Dame, den hier für den Herrn - sehr schön, nicht wahr? Und der andere Herr, braucht er auch einen?« Der Reverend bedenkt seine schwindenden Mittel und entscheidet sich für ein Paar Handschuhe. Draußen bewundern sie sich im Schaufenster. »Jetzt«, sagt About, »sind wir bereit, einer Kaiserin unter die Augen zu treten!« Mit frischen Pferden brechen sie am nächsten Morgen auf, sind in scharfer Fahrt bis tief in die Nacht hinein unterwegs und jagen dem Polarstern in Richtung Riga nach. Der halb getaute Schnee sprenkelt die Landschaft, doch am Nachmittag des zweiten Tages wälzen sich von Osten Wolken heran: blau, grau, weiß. Die ganze Nacht fällt beständig Schnee, schiebt sich verstohlen um die geschlossenen Fensterläden des Wirtshauses und hält am nächsten Morgen gerade so lange inne, dass sie sich zur Weiterfahrt bewegen lassen, dann fällt er wieder, unbarmherzig, ein weißes, alles erdrückendes Gewicht. Zuerst sind sie erheiternd, seine zauberhaften Tänze, seine zauberhafte Schönheit. Dann, ganz plötzlich, als sei ein seelischer Funke zwischen die Reisenden geflogen, sind sie davon beunruhigt. Und wenn die Kutsche nun stek320
kenbliebe? Wo würden sie dann Hilfe finden? War es nicht unbesonnen, so spät im Jahr zu reisen? About hebt die Hände, Gemach! In Riga werden sie Mami Sylvie mit Kufen versehen lassen, in diesem Teil der Welt eine ganz alltägliche Art des Reisens und herrlich angenehm. Sie werden nach St. Petersburg gleiten! Er hat das schon tausendmal gemacht. Was ihn betrifft, so ist er froh um dieses Wetter. Auf Kufen werden sie zweimal so schnell vorankommen. Alles zum Besten in der besten aller möglichen Welten! Er zwinkert dem Reverend zu, doch auf den Reverend wirkt auch About unruhig, wie er so verstohlen auf die unglaublichen Schneevorhänge, das schwindende Licht blickt. Wie langsam die bis zu den Knien in die Schneewehen einsinkenden Pferde gehen! Man einigt sich darauf, im nächsten Dorf, durch das man kommt, Obdach zu suchen. Sinnlos, das Schicksal herauszufordern. Sie müssen schließlich kein Rennen gewinnen! Bang starren sie zum Fenster hinaus, halten Ausschau nach der Silhouette eines Hauses, dem Schimmer eines Lichts. »Da!« »Gut aufgepasst, Mrs. Featherstone!« Es ist kaum mehr als eine Hütte. About springt aus der Kutsche, hämmert gegen die Tür. Die anderen schauen ihm durchs Fenster nach, wischen ihren Atem vom Glas. Die Tür geht auf, About tritt ein. Fünf Minuten später kehrt er zurück, und der Schnee 321
schmilzt ihm von den Stiefeln, als er sich wieder auf seinem Platz niederlässt. »Wir sind gerettet!« Er schmunzelt. »Der entzükkende Mensch hat mir mitgeteilt, dass sich nur eine halbe Stunde Fahrt von hier ein Kloster befindet.« Die halbe Stunde verstreicht. Eine Stunde. Keine Spur von einem Kloster. Keine Spur von irgend etwas. Mrs. Featherstone fragt gereizt, ob Monsieur About die Wegbeschreibung richtig verstanden habe. Monsieur About fixiert sie mit einem harten, unverhohlenen Blick. Der Reverend kalkuliert im stillen ihre Aussichten, falls sie gezwungen sind, draußen in dem Unwetter zu bleiben. Sie haben noch ein paar Biskuits und die letzte halbe Flasche des französischen Weinbrandes. Ließe sich nicht ein Feuer machen? Er hat eine Zunderbüchse, und es muss hier sehr viel Holz umherliegen. Das Wort »Wolf« springt ihm ins Gedächtnis wie die Bestie selbst. Kindergeschichten von Wölfen. Kinderträume von Tieren mit borstigem Fell und eisfarbenen Augen, niedergeduckt und wachsam, die den Schläfer in den Wäldern des Schlafes wittern. Und hier gibt es keine Mama, die das Grauen mit einem Wiegenlied bezwingt. Das, denkt der Reverend mit einem Blick in die Runde seiner Begleiter, dürfte ein guter Moment zur Wiederentdeckung der Tröstungen des Gebets sein, und er hat ein einziges, stummes »Vater unser« geformt, die Worte sperrig und groß wie Eier in seinem Mund, als jedes Gebet, 322
jeder Gedanke mit einmal abbricht. Mrs. Featherstone fragt: »War das...?« Der zweite Schuss ist deutlicher zu hören als der erste. Die Kutsche hält; keiner sagt etwas. Ein Schrei? Alles hält den Atem an. Sie hören nur ihren eigenen Herzschlag, das Brausen des Windes. »Jäger?« fragt der Reverend. »Bei diesem Unwetter?« höhnt Mrs. Featherstone. »Vielleicht war es ja ein Signal?« sagt der Reverend. »Ein Reisender in Not. Sollten wir nicht nachforschen, Monsieur?« Mrs. Featherstone fragt: »Gibt es in dieser Gegend Banditen, Monsieur?« About zuckt die Achseln. Wiederholt die Gebärde. »Bedaure, aber manches weiß nicht einmal About.« »Warum sieht nicht einer von Ihnen nach?« fragt Mrs. Featherstone. »Warum bleiben Sie alle einfach sitzen?« »Ich habe doch wohl in erster Linie die Pflicht, Liebes«, sagt Mr. Featherstone, »dich zu beschützen.« About sagt: »Bravo, Monsieur. Was mich angeht, ich war schon einmal draußen, und es hat mir nicht behagt. Meine Strümpfe sind immer noch ganz nass.« Sie schauen zum Reverend hin. Er hält ihren Blikken einen Moment lang stand, dann knöpft er sich seine Jacke am Hals zu, drückt den Schlag auf seiner Seite auf und lässt sich, so leichtfüßig er kann, in die tosende Welt hinab.
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3 Der Kutscher hält eine Hakenbüchse auf dem Schoß umklammert. Nur seine Augen sind unverhüllt, verraten menschliches Leben. Sein Mantel ist schneeverkrustet, und auch in den Furchen seines Hutes sitzt dick der Schnee. Der Reverend sagt: »Gehen wir gemeinsam los!« Er spricht deutsch und sucht, während der Schnee sich ihm ins Gesicht wirft, nach der richtigen Grammatik. Imperativ oder Konditionalis? Der Kutscher schüttelt den Kopf, eine kleine Geste unerschütterlicher Entschlossenheit. Der Reverend wendet sich ab, tätschelt das nächststehende Pferd, einen Rotfuchs. Er spürt die Wärme durch seine neuen Handschuhe hindurch. Arme Tiere. Wie unglücklich sie dreinschauen. Die Hände schützend vors Gesicht geschlagen, starrt er nach vorn, die Straße nach Riga entlang, dann geht er, gegen den Sturm gestemmt, zwanzig Ellen, ehe ihm bewusst wird, dass er keine Waffe hat. Er bückt sich, hebt einen Ast auf, wischt den Schnee davon ab, hält ihn wie eine Muskete. Bei diesem Wetter könnte man meinen, es sei eine Waffe. Mittlerweile sind keine Schüsse mehr zu hören. Keine Anzeichen von Leben wahrzunehmen. Wie weit soll er eigentlich gehen? Er darf die Kutsche nicht aus den Augen verlieren. Sonst würde er sich im Nu verirren; von der Straße abkommen, jede 324
Orientierung verlieren und dabei immer stärker auskühlen und schwächer werden. Wenn er sich niederlegte, wäre er binnen Minuten zugedeckt. Begraben bis zum nächsten Tauwetter im Frühjahr, wenn irgendein Bauer mit seinem Hund auf den gefrorenen Leichnam stoßen würde. Einsam ist es hier. Das ganze Land gibt beständig ein tiefes Stöhnen der Verlassenheit von sich. Er blickt zurück. Mami Sylvie ist zwar nur sehr undeutlich zu erkennen, aber immer noch sichtbar. Noch zehn Schritte, dann zurück. Er zählt, langt bei sieben an und bleibt stehen. Vor ihm im Sturm bewegt sich etwas. Ein Mann? Zwei Männer. Einer steht, einer liegt im Schnee. Am Straßenrand ein Gefährt, eine Chaise, die Räder tief im Schnee. Ein einziges Pferd. Der Reverend umklammert seinen Ast fester und geht näher heran. Wer immer die beiden sind, wie Halsabschneider sehen sie nicht aus. Eher wie Opfer einer Gewalttat als wie Täter. »HALLOOOOO!« Der Mann hat eine Pistole, richtet sie kurz auf das Gesicht des Reverend und lässt dann den Arm sinken. Der Reverend tritt näher. Er lässt den Ast los. »Dr. Dyer?« Jetzt stehen sie auf der Straße beieinander. Dyers Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar weist eine klaffende Wunde auf, ist blutüberströmt. »Was für eine Kalamität ist das, mein lieber Sir? Hat man Sie ausgeraubt?« 325
»Sie kennen mich, Sir?« »Ich habe Sie in Paris gesehen. Auf der Place Royale.« »Ich habe Sie aber nicht gesehen.« »Reverend Julius Lestrade, Sir. Ist das Ihr Begleiter? Ist er schwer verletzt?« »Das ist der Postillion. Mein ›Begleiter‹ hat ihn angeschossen, als er geflohen ist.« »Angeschossen?« »Nachdem er mich zuerst niedergeschlagen und sich dann die Taschen mit meinem Gold gefüllt hatte.« Der Reverend kniet sich neben dem Postknecht in den Schnee. Dieser ist ein Mann in den Fünfzigern, verschreckt, verängstigt. Die Kugel hat ihn in den Unterarm getroffen und ist am Ellbogen wieder ausgetreten. Als der Reverend aufblickt, beugt sich Dyer gerade in die Kutsche und holt eine Tasche, eine Reisetasche, und dazu noch eine kleinere aus grünem Boi heraus, die leise klirrt, als er sie hochhebt. »Ich nehme an, Sie sind nicht zu Fuß von Paris hierhergekommen, Lestrade.« »Ganz recht. Die Kutsche steht dort hinten.« »Dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich bis zur nächsten Stadt mitnähmen. Wenn Sie von mir wissen, dann wissen Sie ja auch, wohin ich unterwegs bin.« »Ich fürchte, bei diesem Unwetter werden wir alle nicht sehr weit kommen. Aha! Da sind sie ja!« 326
Mami Sylvie kriecht still auf sie zu. Mr. Featherstone sitzt neben dem Kutscher. Er hat die Hakenbüchse im Anschlag. Der Reverend denkt: Wenn ich bei diesem Abenteuer nicht noch erschossen werde, ist es ein Wunder. »HE!« »HEDA!« Der verletzte Postillion wird in die Kutsche gelegt; Dyer folgt, auf dem Gesicht ein bizarres Gespinst aus Blut. Mr. Featherstone beschließt, neben dem Kutscher sitzen zu bleiben. In der Kutsche bemüht sich der Reverend ungeschickt um den stöhnenden Postillion. Mrs. Featherstone bietet Dyer ein Taschentuch an, damit er sich das Gesicht abwischen kann. Er wischt, gibt ihr das Stück Stoff zurück. Mrs. Featherstone nimmt es entgegen, lässt es diskret zu Boden fallen. Der Reverend sagt: »Bei diesem Unwetter wird der Schurke nicht weit kommen.« »Der Teufel kümmert sich um die Seinen«, sagt Dyer. »Wenn man ihn irgendwann aufhängt, wird bestimmt das Seil reißen, da möchte ich wetten. Wohin fahren Sie?« »Wo immer wir, wenn überhaupt, ankommen mögen. Man hat uns gesagt, es gebe ein Kloster...« Von Mrs. Featherstone kommt ein aufgeregter Schrei. About öffnet das Fenster. »Da«, sagt Mrs. Featherstone. »Kann es das sein? Die Ruine dort?« 327
Das Gebäude sieht aus wie der Rumpf eines alten Schiffes. Zwei Mitteltürme, zwei niedrige Flügel, einer davon eindeutig verlassen, mit deutlich sichtbarem Schneefall hinter den klaffenden Fenstern. Der andere Flügel bietet mehr Hoffnung, obwohl kein Licht, keine einladende Rauchfahne zu sehen sind. Man fährt vor. Monsieur About und Mr. Featherstone hämmern an die Holztür zwischen den Türmen. Der Reverend, der zum Kutschenfenster hinaussieht, glaubt nicht, dass sie sich auftun wird. Doch sie tut sich auf, von wem geöffnet, kann er freilich erst sehen, als Mr. Featherstone zur Kutsche zurückgestapft kommt. Selbst dann erkennt man im letzten Tageslicht, zwischen den sich häufenden Schatten, kaum mehr, als dass es sich um einen Mann handelt, einen betagten Mann mit einem winzigen Licht in der Hand, das dem Zupfen des Windes irgendwie standzuhalten vermag. Mr. Featherstone und der Reverend tragen gemeinsam den Postillion. Hinter ihnen kommen wie Trauernde die anderen: Dyer barhäuptig; Mrs. Featherstone, die in ihrem Pelz fröstelt; Monsieur About, der leise vor sich hin summt und ab und zu verkündet: »Alles wird ganz bezaubernd. Warten Sie es nur ab!« Stille Flure. Unbeleuchtete leere Räume. Überall Geruch nach Feuchtigkeit und Katzen. »Ich glaube«, flüstert der Reverend Mrs. Featherstone zu, »dieser Mensch ist allein hier.« 328
Featherstone pflichtet ihm bei und sagt: »Hauptsache, er hat ein Feuer und etwas im Topf. Sind Mönche nicht verpflichtet, zu teilen, was sie haben?« Es gibt tatsächlich ein Feuer, obwohl es sich in dem großen steinernen Herd beinahe verliert. Und einen Topf, in den der alte Mönch hineinlugt, um dann darin zu rühren und ihn an einem Dreibein über die Flammen zu hängen. Sie legen den Postillion auf den Tisch, ein vornehmes Möbelstück, das, so stellt sich der Reverend vor, dereinst dem Abt als Schreibtisch gedient haben könnte. »Ist er tot?« fragt Mrs. Featherstone. »Er lebt«, sagt der Reverend, »doch davon ist nicht mehr viel zu bemerken.« Von Dyer kommt ein Lachen, scharf und humorlos. Der Reverend sagt: »Vielleicht würden Sie ihn untersuchen, Sir. Das heißt, falls Sie sich dazu imstande fühlen.« Dyer tritt an den Tisch heran, wirft einen raschen Blick auf den Verletzten, geht zu seiner grünen Tasche, holt eine Bandage hervor und wirft sie dem Reverend zu. »Die Rolle hat es Ihnen ja offenbar angetan.« Der Reverend, der sich seines Publikums deutlich bewusst ist, verbindet dem Postillion den Arm. Er knüpft gerade den Knoten, als der Mann einen durchdringenden Schrei ausstößt, sich halb aufrichtet und dann die Besinnung verliert, so dass sein Kopf schwer auf den Tisch schlägt. Wie ein Schauspieler, der einen 329
Mörder mimt, tritt der Reverend zurück. Alle bis auf Dyer starren den Mann auf dem Tisch an. »Ist er jetzt tot?« fragt Mrs. Featherstone. Später, der Postillion liegt auf einem aus altem Stroh bereiteten Lager in der Ecke des Raums, essen sie aus dem rauchgeschwärzten Topf des Mönchs. Eine Art Grütze, gewürzt mit Schweinefett. Sie trinken Ziegenmilch aus einem gemeinsamen Napf. Angetan mit der vielfach geflickten, verblichenen Kutte eines Benediktiners, um den Hals ein schweres Holzkreuz, beobachtet der Mönch sie mit seinem dünnen, unaufhörlichen Lächeln. Bei ihm ist ein dicker vierzehn- bis fünfzehnjähriger Junge mit dem breiten, offenen Gesicht eines Schwachsinnigen. About, der Vielsprachige, versucht sie in ein Gespräch zu ziehen. Als er mit Sprachen nichts ausrichtet, verlegt er sich aufs Gebärdenspiel und zeichnet Landkarten auf seinen Handteller. Der Mönch nickt freundlich, murmelt ein Dutzend Worte irgendeines unverständlichen Dialekts, deutet dann auf den Jungen, grinst und sagt: »Ponko.« »Ponko?« »Ponko.« Der Junge sabbert, arbeitet heftig mit der Zunge, deutet auf sich selbst. »Ponko. Ponko.« Mr. Featherstone rülpst. Seine Frau sagt: »Kann man denn hier keine Betten bekommen?« About legt den Kopf auf seine Hände: eine Kinder330
pantomime des Schlafs. Der alte Mönch sagt etwas zu Ponko. Ponko geht hinaus. Die Reisenden starren düster auf die Klötze im Feuer. Dann und wann rieseln Schneeflocken durch den Kamin herab und zischen in der Glut. James Dyer fasst sich an den Kopf und sagt: »Madam, besitzen Sie einen Spiegel?« Mrs. Featherstone besitzt keinen. Monsieur About freilich schon. Einen Reisespiegel in einem Etui aus Schlangenhaut. Dyer entnimmt der grünen Tasche einen Kerzenhalter, an dem eine gekrümmte Platte aus glänzend poliertem Silber befestigt ist. In dem Halter steckt ein Kerzenstummel, den er an der Lampe des Mönchs entzündet. Weiteres Stöbern fördert Nadel und Faden zutage. Er zieht den Faden durch das Öhr. Er sagt: »Monsieur, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Kerze so halten könnten, dass das Licht vom Schirm reflektiert wird. Und den Spiegel so, dass ich sehen kann, was ich tue.« »Was wollen Sie denn tun, Sir?« fragt Mrs. Featherstone. Dyer sieht sie an. »Ich hätte gedacht, das bedürfe keiner Erklärung.« Er beginnt, sich den Kopf zu nähen, zieht die ausgefransten Ränder der klaffenden Wunde zusammen, und das mit solcher Geschwindigkeit und Kaltblütigkeit, dass es - wie der Reverend später Lady Hallam schreibt - einem vorkommt, als nähe er nur den Kopf im Spiegelglas. Mit Ausnahme des alten Mönchs, der zusieht, als handele es sich um einen Zaubertrick, den 331
er längst durchschaut hat, sind alle ungemein beeindruckt. »Bravo!« sagt Monsieur About. Der Reverend meint: »Bemerkenswert.« »Ich glaube nicht«, sagt Mr. Featherstone, »dass ich es so gut durchgestanden hätte.« Dyer ignoriert sie. Ponko kommt zurück. Der Mönch steht von seinem Hocker auf, packt mit ungelenken Fingern eines der Lichter und bringt die Reisenden zu ihren Zimmern, Zellen der früheren Brüder. Der Reverend bleibt bei Ponko und dem Postillion sitzen. Der Mönch kehrt zurück, schlurft zu seinem Hocker, setzt sich. Steif wie altes Holz. Der Reverend lächelt ihn an. Sie nicken einander zu. Dann verschränkt der Reverend die Arme auf dem Tisch, legt seinen Kopf darauf und schläft. Sein letztes bewusstes Bild ist James Dyer, wie er eine gebogene Nadel durch sein eigenes Fleisch sticht. Sein eigenes Fleisch! Bemerkenswert. Als sie sich, nach der Nacht auf kalten Strohlagern etwas schmuddelig, am nächsten Morgen versammeln, sprechen sie über ihre Lage. James Dyer besteht darauf, dass sie umgehend weiterfahren. Zum Teufel mit dem Schnee. Ob sie sich vor Schnee fürchteten? »Haben Sie den Schnee gesehen, Sir?« fragt der Reverend. »Haben Sie vor, nächste Woche noch hierzusein? Oder nächsten Monat?« gibt Dyer zurück. 332
»Besser hier«, sagt Mr. Featherstone, »als das, was uns da draußen passieren könnte.« About sagt: »Ich muss Mr. Featherstone zustimmen. Es wäre töricht, unter solchen Bedingungen den Versuch einer Weiterreise zu unternehmen.« »Ich reise nicht aus nichtigem Grund, Sir«, sagt Dyer. »Ich bin nicht wegen meiner Gesundheit hier.« Mr. Featherstone sagt: »Ich für mein Teil setze keinen Fuß vor die Tür. Wir haben es hier vielleicht nicht sehr bequem, aber wir werden nicht umkommen. Dieses Wetter ist doch bestimmt nicht von Dauer.« Dyer steht auf. »Wenn Sie, Mr. About, so freundlich wären, von dem Mönch etwas Proviant zu erbitten, mache ich mich auf den Weg.« »Sie wollen Weiterreisen, Sir?« fragt der Reverend. »Gewiss.« Er geht hinaus. Die anderen sehen sich mit großen Augen an. »Er ist wahnsinnig«, sagt Mr. Featherstone. »Vollkommen wahnsinnig.« Der Reverend pflichtet ihm bei. »Vielleicht hat er sich bei seinem Unfall schwerer verletzt, als wir gedacht hatten. Ich habe es schon erlebt, dass Menschen mit einer Gehirnerschütterung eine Weile nicht ganz bei Sinnen waren. Ich werde versuchen, vernünftig mit ihm zu reden.« About sagt: »Seien Sie so freundlich und achten Sie darauf, dass er nicht mehr mitnimmt, als ihm zusteht. Was immer er mitnimmt, ist gewiss verloren.« Der Reverend kämpft sich an der Wand des Gebäu333
des entlang zu den Stallungen. Draußen ist Mami Sylvie mit Schnee überhäuft. Drinnen im Stall ist es erstaunlich behaglich. Zwei der Kutsche entnommene Lampen brennen. Es riecht nach Pferdehaut, Pferdemist und dem Heu vom letzten Sommer; der magere Zehnte des Klosters, vielleicht ein Zeichen dafür, dass der alte Mönch mehr Besucher hat, als sie sich gedacht haben. James Dyer ist dabei, die Hufeisen seines Pferdes zu untersuchen. Der Kutscher, der seine Pfeife pafft, kümmert sich um die anderen Pferde. Auch Ponko ist da und kaut an einem Strohhalm. Der Reverend stellt sich hinter Dyer und redet mit leiser, besänftigender Stimme auf ihn ein. Dyer ist wütend, als er feststellt, dass der Reverend ihm keinen Proviant mitgebracht hat. Er geht ins Kloster zurück. Der Reverend wartet im Stall, grinst Ponko an. Der Kutscher deutet zum Dach. Der Reverend kann nicht verstehen, was der Mann zu ihm sagt. Der Kutscher spricht wie ein Kind mit ihm. Der Reverend versteht die deutschen Worte »Rad« und »Schnee«, dann sieht er, worauf der Kutscher zeigt. Lange Holzstücke mit aufgebogenem Ende. Abouts famose Kufen. Als Dyer zurückkehrt, erzählt ihm der Reverend von den Kufen. Heute sei natürlich nichts mehr zu machen, aber vielleicht morgen oder übermorgen. Dyer sagt: »Sie waren mir gestern von einigem Nutzen. Dafür danke ich Ihnen.« »Danken Sie mir dadurch Sir, dass Sie noch vier334
undzwanzig Stunden hierbleiben. Sie sind nicht imstande zu reisen. Und was wird aus dem Postillion? Sie allein besitzen die Fertigkeit, die ihn retten könnte.« Dyer führt das Pferd aus dem Stall. Der Reverend beschirmt mit den Händen die Augen und sieht ihm nach, dem Pferd, das sich vorsichtig seinen Weg sucht, dem Reiter, der es antreibt. »Ich hätte ihn aufhalten sollen«, sagt sich der Reverend. »Da geht ein Mann in den sicheren Tod.« Es ist Spätnachmittag, als Dyer zurückkehrt. Die Reisegesellschaft sitzt am Feuer, zwischen dem Reverend und Monsieur About ist das Puffspielbrett aufgebaut. Ponko sieht fasziniert und verständnislos ihren Zügen zu. Von der Tür ist ein fernes Dröhnen zu hören. Der alte Mönch erwacht aus seiner Meditation, verschwindet für eine Viertelstunde und kehrt mit Dyer zurück; der Wundarzt ist in seinen Überrock eingeknöpft und trägt in jeder blauen Faust eine Tasche. Er kann nicht sprechen; der Wind hat ihm das Gesicht gefrieren lassen. Sie setzen ihn so dicht wie möglich an den Haufen glimmender Klötze. Seine Kleider tropfen, dann dampfen sie. Mr. Featherstone bietet seine Taschenflasche an. Dyer schluckt, das Blut steigt ihm ins Gesicht. Mit einer Stimme wie die des Eises selbst sagt er: »Das Pferd hat mich im Stich gelassen.« Sonst sagt er an diesem Abend nichts mehr. 335
Zum Frühstück gibt es nur einen Mundvoll Käse und Schwarzbrot, das Brot so hart, dass es am Feuer aufgetaut werden muss, damit sie es essen können. »Wie geht es dem Verletzten heute morgen?« fragt About. »Sehen Sie selbst, Monsieur«, erwidert der Reverend. »Der Arm stirbt ab.« »Es wird nicht leicht sein, ihn zu begraben«, sagt About. »Bestimmt ist die Erde hart wie Eisen.« Dyer kommt herein und setzt sich an den Tisch. Er sagt: »Es hat aufgehört zu schneien.« »Richtig, Sir«, sagt About, »aber ich hoffe, Sie denken nicht daran, Ihr Abenteuer von gestern zu wiederholen. Wenn Sie heute aufbrechen, müssen Sie es zu Fuß tun.« Lächelnd hält er dem Ingrimm von Dyers Blick stand. Der Reverend sagt: »Da wir noch ein wenig länger bleiben müssen, möchten Sie sich nicht um den Postillion kümmern, Herr Doktor?« »Er ist nicht mein Patient, Reverend. Er hat keinerlei Bedeutung für mich.« Der Reverend bleibt hartnäckig. »Ihr Eid als Arzt müsste ihm Bedeutung für Sie verleihen. Und wenn nicht er, dann Ihre gewöhnliche Menschlichkeit.« »Vermessen Sie sich nicht, Sir, mir zu sagen, was ich tun soll und was nicht.« »Wie es scheint, muss das aber jemand, Sir.« »Sie sind unverschämt, Sir. Unverschämt und al336
bern.« »Ist es unverschämt, ein Menschenleben retten zu wollen? Ist das albern?« »Ich habe mit der Kaiserin zu tun, Sir. Ich bin nicht so weit gereist, um jedem Dienstmädchen, Postknecht oder Lakaien meine Aufwartung zu machen, der krank wird oder sich anschießen lässt. Sonst wäre ich nie über Dover hinausgekommen.« Schlafmangel, Mangel an warmen Mahlzeiten. Der Reverend hört den Zorn in seiner eigenen Stimme. »Dieser Mann stand in Ihren Diensten. Ihr Gefährte hat ihn angeschossen.« »Mr. Gummer war kein Gefährte, Sir.« Dyer deutet auf seinen Kopf. »Das war kein Kuss, was er mir da zum Abschied verpasst hat.« »Er war in Ihrer Gesellschaft. Sapperlot! Ein Hund hat mehr Mitgefühl.« »Nennen Sie mich einen Hund, Sir?« »Nein, Sir, denn ein Hund hätte nicht das Herz, einen Menschen sterben zu lassen, und das aus keinem anderen Grund, als unbedingt eine Verabredung einzuhalten.« »Wie würde es Ihnen gefallen, Sir, meinen Stiefel auf Ihrem Steiß zu spüren?« Dyer steht auf, geht um den Tisch herum auf den Reverend zu. Der Reverend steht ebenfalls auf. Es ist viele Jahre her, dass er so empfunden hat. Schwarze Galle. Er ballt die Fäuste. Er sagt: »Nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten, als Ihnen das Gesicht 337
blutig zu schlagen, Sir. Mich wundert, dass ein Mann wie Sie so lange am Leben geblieben ist.« About sagt: »Was ist Ihr Preis dafür, Doktor Dyer, dass Sie sich um dieses« - er macht eine Geste »unglückliche Geschöpf kümmern?« »Sprechen Sie von meinem Honorar, Monsieur?« »Ganz recht. Das Wort war mir entfallen.« Dyer setzt sich. Er ist ganz ruhig. Es ist, als ob sich in den letzten drei Minuten gar nichts ereignet hätte. Der Reverend setzt sich ebenfalls, vor Wut schwindelig, und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass er enttäuscht ist. Er starrt angelegentlich auf seine Fingernägel. Seine Finger zittern. Dyer sagt: »Es kostet Sie ein Pferd.« About schüttelt den Kopf. »Nein, Sir. Sie haben schon ein Pferd verloren. Das war Ihre Sache. Von unseren werden Sie keines verlieren. Bedenken Sie Ihre Lage. Mit uns werden Sie zwar nicht heute, aber in kurzem weiterkommen, entweder zur nächsten Stadt, wo Sie einen Wagen mieten können, oder sogar bis nach St. Petersburg, denn wir sind ebenfalls dorthin unterwegs und würden es uns zur Ehre anrechnen, Sie bei der Kaiserin abzuliefern. Ohne uns allerdings...« Er zuckt übertrieben die Achseln. »Sie sehen also, Sir, wir sind es, die die Peitsche in der Hand halten. Erscheint es Ihnen nicht auch so, Reverend?« »So erscheint es mir nicht nur, so ist es, Monsieur.« Dyer greift nach einem Stück Schwarzbrot, mustert 338
es, legt es hin. Er sagt: »Was ich verlange, Sir, ist Ihr Ehrenwort, dass Sie mich in größtmöglicher Eile nach St. Petersburg bringen. Dass es keine Stunde unnötiger Verzögerung gibt. Abgemacht?« About sieht den Reverend an. Der Reverend nickt. About streckt die Hand aus. »Abgemacht.«
4 Reverend Julius Lestrade an Lady Hallam Plunge?, den 18, November Verehrte Lady Hallam, ich weiß nicht, wann ich Gelegenheit haben werde, diesen Brief aufzugeben. Ich halte mich derzeit in einem Kloster zwischen Königsberg und Riga auf, und abgesehen von einem kleinen Dorf - davon später mehr - befinden wir uns ganz und gar in der Wildnis und bis zur Nase im Schnee, nachdem wir unterwegs von einem formidablen Schneesturm überrascht wurden. Unserer Gesellschaft, deren sämtliche Mitglieder wohlauf sind, wenngleich sie gute Betten nötig hätten, hat sich kein anderer als einer der Doktoren angeschlossen, denen wir nach St. Petersburg folgen. Es ist Dr. Dyer, dem das Unglück widerfuhr, von dem Mann, mit dem er reiste, beraubt und tätlich angegriffen zu werden. Eine sehr mysteriöse Geschichte mit beinahe tödlichen Folgen für den Postillion, der in den Arm geschossen wurde und schwer krank ist - der 339
Ärmste, er liegt keine zwei Ellen von dem Platz entfernt, an dem ich Ihnen schreibe. Dyer, der einen heftigen Schlag auf den Kopf bekam, hat sich bemerkenswert gut erholt und ist überhaupt in jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Mensch. Kaltblütig und offenbar nicht umzubringen. Wir hoffen, dass er den Postillion heute Abend oder morgen früh operieren wird, denn es ist offensichtlich, dass diesem der Arm abgenommen werden muss, soll sein Leben gerettet werden. Seine Zunge weist einen braunen Belag auf und ist an den Rändern tief rot. Wie lange wir hier aufgehalten werden, ist schwer zu sagen. Das Wetter bessert sich, will sagen, es fällt kein Schnee mehr, aber es liegt schon sehr viel, und die Straße ist vielleicht auf Wochen unpassierbar! Unsere Rettung mag darin liegen, dass wir im Stall hier einige hölzerne Kufen entdeckten, die man in dieser Gegend allgemein dazu verwendet, eine Kutsche in eine Art Schlitten zu verwandeln. Leider wird diese Metamorphose nicht leicht zu bewerkstelligen sein, da sowohl die Kufen als auch die Achsen unseres Gefährts entsprechend angepasst werden müssen. Heute Mittag unternahmen wir eine Expedition über den Schnee in das Dorf, um Vorräte zu besorgen - ich, Monsieur About, Mr. Featherstone und ein Junge mit Namen Ponko, der uns als Führer diente. Zuerst schreckte uns der Gedanke ab, wie wir in so tiefem Schnee vorwärts kommen sollten. Doch es gibt für alles eine Lösung. Ein alter Mönch, der abgesehen 340
von dem Jungen der einzige Bewohner des Klosters ist, führte uns vor einen großen Schrank, der, nach der ungeheuren Menge von Staub und alten Spinnweben zu urteilen, aus der Zeit der Arche hätte stammen können. Hier zeigte er uns die sinnreiche Fußbekleidung seiner früheren Brüder; Schuhe wie Schlagnetze, gefertigt aus Lederstreifen, die auf einen Holzrahmen gespannt sind, jeder etwa so groß wie eine große Bratpfanne. Viele waren entzweigegangen, aber wir fanden schließlich vier Paar, die uns passten, und machten uns so ausgerüstet über ein weißes, funkelndes Meer auf den Weg. Monsieur About hatte sich vernünftigerweise mit einer Brille mit bemalten Gläsern versehen, um sich gegen das Gleißen des gespiegelten Sonnenlichts zu schützen, dessen Helligkeit Mr. Featherstone und mich zunächst doch sehr inkommodierte. Noch lästiger jedoch waren - bis wir in gewissem Maße ihren Gebrauch gemeistert hatten - die Schneeschuhe. Ich möchte mich nicht daran erinnern, wie oft ich zu Fall kam, und liegt man erst einmal am Boden, so haben Ew. Ladyschaft keine Vorstellung, wie schwierig es ist, wieder festen Stand, geschweige denn Würde, zu gewinnen! Mr. Featherstone war in ähnlichen Nöten, und sogar Monsieur About landete zwei-, dreimal mit seiner gallischen Nase im Eis. Doch wir lernten aus unseren Fehlern und aus Ponkos Beispiel und bewegten uns bald wie Wasserkäfer über die Oberfläche eines Teichs. 341
Das erste, was wir von dem Dorf wahrnahmen, war ein grauer Rauchschleier; eines der Häuser am Dorfrand - sie sind alle aus Holz erbaut - war niedergebrannt. Nach der Art zu urteilen, wie der Schnee um die schwelenden Balken zertrampelt war, waren die Dörfler ihrem Nachbarn offenbar allesamt zu Hilfe geeilt, allerdings ohne Erfolg, da das Haus zerstört war. Ponko war darüber sehr erregt und erzählte uns, nehme ich an, die ganze Geschichte, denn er plapperte und sabberte, der Ärmste, und schnitt die eigenartigsten Gesichter. Im eigentlichen Dorf, war keine Menschenseele auf der Straße, und das einzige Anzeichen von Leben war eine große Bulldogge, die bei unserer Annäherung bedrohlich knurrte, sich jedoch zurückzog, als Ponko ein paar Schneebälle warf. Es gab in dem Ort keine Kirche und auch sonst keine Stätte christlicher Gottesverehrung. Als ich das About gegenüber erwähnte, sagte er, die Bewohner dieser Gegend seien keineswegs notwendigerweise Christen, sie bevorzugten vielmehr die Götter ihrer Vorfahren, viele beteten immer noch die Natur an, und die Priesterschaft sei noch heute gezwungen, bestimmte den Menschen heilige Bäume fällen zu lassen. Ob ich mich nicht gefragt hätte, wohin all die Klosterbrüder gegangen seien? Ich sagte, ich dächte, dass es auch in bestimmten Gegenden Englands Dörfer gebe, in denen das Christentum noch Wurzeln schlagen müsse, doch About meinte, hier gehe der Aberglaube sehr tief, und 342
während wir uns in dem Dorf aufhielten, sah ich eine Reihe von Schnitzereien, die mich zu der Überzeugung brachten, dass er recht hat. Ich war in diesem Moment froh, dass wir Ponko bei uns hatten, denn ich weiß nicht, wie wir ohne ihn empfangen worden wären. In puncto Nahrungsmittel war wenig zu bekommen. Zweifellos legten die Leute im Hinblick auf den langen Winter Vorräte an, doch wir erhielten immerhin ein paar Würste, Butter, einen Kapaun, etwas harten gelben Käse und einen Lederschlauch mit dem hiesigen »Wein«. Wir gaben dafür im Tausch ein gutes Messer, ein Paar Handschuhe, die ich mir in Königsberg gekauft hatte, und Monsieur Abouts dunkle Brille. Um die Handschuhe tat es mir leid, aber man kann sie nun einmal nicht essen. Auf dem Rückweg entkam uns der Kapaun, und wir mussten ihn jagen. Mr. Featherstone, der einen gesunden Appetit hat und von daher zur Verfolgung stark motiviert war, holte das Tier ein, als es gerade den Waldsaum erreichte, und schob es unter seinen Mantel, wo es ganz still verharrte, bis ihm der Hals umgedreht wurde. Für das Kochen ist About zuständig: unser Freund, der Mönch, hat ein paar Kartoffeln beigesteuert, und wir haben sogar ein paar uralte Kräuter entdeckt, die noch zum Trocknen an einem Dachbalken hingen. Der Saft wird eine sehr nahrhafte Suppe für den Postillion abgeben. Ich hoffe, sie wird ihm die Kraft verleihen, die ihm bevorstehende Prüfung zu überstehen. 343
Was mich selbst angeht, glaube ich, dass mein Befinden sich gebessert hat. Die Luft ist sehr frisch und klar. Ich hoffe und glaube, dass ich vielleicht nicht nur weltklüger nach Cow zurückkehren, sondern auch imstande sein werde, Ihnen allen guten Gewissens in dem Amte zu dienen, in das Sie mich in Ihrer Güte berufen haben. Die Wege des Allmächtigen sind wahrhaft unerforschlich. Monsieur About befiehlt mir, Ew. Ladyschaft seine wärmsten Empfehlungen zu übermitteln, und bittet, mich vom Weiterschreiben zu entbinden, bis die Reihe an mir war, den Topf umzurühren. Ich bin daher Ihr zutiefst dankbarer, getreuester und untertänigster Diener Julius Lestrade
5 Das Essen hat sie benommen gemacht. Noch eine Stunde danach sitzen sie um den Tisch, gießen sich aus dem Schlauch Wein nach, und ihre Gedanken schweifen, kreisen und setzen sich. Der Reverend füllt sich die Pfeife, bietet von seinem Tabak an. Eine Katze springt geschmeidig auf den Tisch und beginnt, an einem Hühnerknochen zu nagen. About fragt, ob er der Gesellschaft etwas Unterhaltung bieten dürfe. Man kommt überein, dass er darf. Was er vorschlage - Karten, Puff, ein Ratespiel? About schüttelt den Kopf, steht vom Tisch auf, 344
entschuldigt sich. Als er den Raum verlassen hat, sagt Mr. Featherstone: »Er hat Mrs. Featherstones Meinung von den Franzosen sehr verändert.« »Zum Besseren, hoffe ich doch?« sagt der Reverend. »Sehr verändert«, sagt Mr. Featherstone. About kommt mit drei Kästen herein, zwei davon etwa so groß wie Kindersärge, der dritte kleiner, aus glänzend poliertem Buchsbaumholz. Er sagt: »Ich hatte befürchtet, dass die kalte Nacht sie beschädigt hat, aber dem ist nicht so. Zuerst muss der Tisch abgeräumt werden.« Sie stapeln ihr seltsames Sortiment von Messern und Geschirr auf dem Boden. Die Tischplatte wird abgewischt. Die Katze springt auf den Boden und von dort auf den Schoß des Mönchs. About hat sich die Kästen vor die Füße gestellt. Der Reverend hört, wie er einen öffnet, dann ein Geräusch, wie wenn Uhren aufgezogen werden. About sagt: »Erlauben Sie mir, Ihnen zwei höchst elegante Mitglieder der Gesellschaft vorzustellen.« Er stellt die Figuren eines Mannes und einer Frau auf den Tisch, beide nach ausgesuchter Pariser Mode gekleidet und etwas weniger als zwei Fuß groß. Er betätigt einen Schalter an ihrem Rücken, und sie beginnen zu gehen, wobei der Mann seinen mit einer Quaste geschmückten Stock schwingt und die Frau den Kopf dreht und ihr Spitzentaschentuch hebt, als wolle sie dessen Duft riechen. Die Katze steht auf dem Schoß des Mönchs, macht einen Buckel. Die 345
Figuren bleiben am Kopfende des Tisches vor James Dyer stehen. Sie verbeugen sich, drehen sich auf unsichtbaren Rädern um und setzen ihren Gang fort, zurück zu Monsieur About, den sie erreichen, als ihre Federn gerade abgelaufen sind. About legt sie in ihre Kästen zurück. Der Reverend sagt: »Das also ist Ihr Geschäft, Monsieur? Sie handeln in Automaten?« »In Frankreich«, sagt About, »wird ein Gentleman es niemals zugeben, dass er in Geschäften tätig ist, doch unter Engländern kann ich mich dazu bekennen, ohne auf Voreingenommenheit zu stoßen. Das ist mein Gewerbe, Reverend. Meine Kunden sind Herzöge, Fürsten, Könige und, so hoffe ich, auch eine Kaiserin. Die Puppen sind die schönsten in Europa und auch die teuersten. Deswegen bin ich ein wenig diskret, wenn ich reise. Ich bitte um Entschuldigung. Möchten Sie noch ... autre chose sehen?« Er stellt den kleineren Kasten auf den Tisch, öffnet ihn und nimmt die elegantesten Duellpistolen heraus, die der Reverend je zu Gesicht bekommen hat. Er spannt sie beide und wirft einen Blick in die Gesichter seiner Zuschauer. »Dr. Dyer, hätten Sie die Güte, Sir? Mr. Featherstone, bitte seien Sie so freundlich, das hier dem Doktor zu reichen. Obacht, Sir, der Mechanismus ist sehr empfindlich.« Featherstone nimmt die Pistole. »Nicht geladen, will ich doch hoffen!« sagt er. Als About sich ihm zuwendet, liegt kein Lächeln auf seinem Gesicht; keine Spur mehr von dem lie346
benswürdigen Gastgeber, dem fröhlichen, findigen Reisebegleiter. Featherstone ist sichtlich außer Fassung, desgleichen der Reverend. Er denkt: Wenn das Schauspielerei ist, dann ist es sehr gut gemacht. »Natürlich sind sie geladen«, sagt Monsieur About. »Mit einem Mann wie Dr. Dyer spaßt man nicht. Ich will doch annehmen, dass Sie Doktor sind, Sir, und nicht bloß Bader.« Dyer nimmt die Pistole von Featherstone entgegen. Er sagt: »Für Sie Doktor genug, Monsieur.« About steht auf. Dyer steht auf. Mrs. Featherstone hustet. Der Mönch streichelt die Katze. Der Reverend sagt: »Ich würde gerne Ihre Puppen noch einmal sehen, Monsieur.« About ignoriert ihn. »Mrs. Featherstone. Würden Sie bitte den Befehl zum Feuern geben. Wann immer Sie wünschen.« Der Reverend sieht About verwundert an. Was für ein Gesicht! Die Augen zu dunklen Punkten verengt, der Mund fest geschlossen, das Kinn entschlossen vorgereckt. Sein Arm ist ausgestreckt, die Pistole direkt auf Dyers Brust, auf sein Herz gerichtet. Dyer hebt langsam seine Pistole. Wie geschmeidig sich alle seine Bewegungen ausnehmen, denkt der Reverend. Neben ihm wirkt sogar die Katze plump. About führt etwas im Schilde. Weiß Dyer das? About ist für ihn ein Fremder. Was soll er glauben, wenn eine Pistole auf sein Herz gerichtet ist? Es scheint ihm gleich zu 347
sein. Es gibt nichts Gefährlicheres als einen Menschen, dem alles gleich ist. Oder hält er sich etwa für unsterblich? Ist es das? »Feuer!« Unmöglich, zu sagen, wessen Finger als erster den Abzug betätigt. Der Reverend, der von beiden Männern gleich weit entfernt sitzt, hört das Aufschlagen der Pistolenhähne fast wie ein einziges Geräusch, doch müßte er sich entscheiden, würde er sagen, dass Dyer einen Sekundenbruchteil schneller war. Es kommt kein Blitz, kein Knall. Aber irgend etwas, irgendein schimmernder Gegenstand - was? ein Vogel!, ein kleiner, juwelenbesetzter Vogel - schlüpft langsam aus jeder Laufmündung, schlägt mit den goldenen Flügeln und singt ein mechanisches Lied, ein halbes Dutzend Töne, die in der tiefen Stille des Raumes die denkbar zartesten und hübschesten Laute sind. Hinter ihnen ertönt ein Schrei, ekstatisch, erschrocken: »Herr Jesus! Bin ich tot?« Der Postillion hat sich aufgesetzt, starrt sie von seinem Strohlager aus mit irrem Blick an. In Dyers Hand und in Abouts Hand legen die kleinen Vögel die Flügel an und gleiten in die Pistolenläufe zurück.
6 »Zeit?« Grimaldis alte Uhr in der Hand, sagt Mrs. Featherstone: »Drei Minuten. Etwas weniger, denke ich.« 348
Dyer fragt: »Wie hat Ihnen das gefallen, Reverend?« Der Reverend braucht einen Moment, um seine Stimme wiederzufinden. Er sagt: »Ich gratuliere Ihnen, Doktor Dyer. Es war...« Dyer wäscht sich in einem Eimer die Hände, und von seinen Fingern lösen sich Blutwolken. Er nimmt von Mrs. Featherstone seinen Rock und seine Uhr entgegen und verlässt dann den Raum. Die anderen treten vor und blicken auf den bewusstlosen Mann auf dem Tisch hinab. Mrs. Featherstone fragt: »Was machen wir jetzt mit ihm?« »Für einarmige Postknechte gibt es nicht viel Arbeit«, antwortet ihr Mann.
7 Abenddämmerung. Der Reverend bewegt sich in seinen Schneeschuhen unbeholfen auf den Wald zu. Er hat die anderen Männer im Stall zurückgelassen, wo sie an den Kufen für Mami Sylvie arbeiten. Sie sind schon den ganzen Tag damit beschäftigt, haben die Kutsche frei geschaufelt, die Hinterräder abmontiert und zwei der Kufen angebracht, wenn auch nur nach vielem Hobeln und Hämmern. Und vielem Fluchen, bei dem er, zu seiner Beschämung, keineswegs hintanstand. Jetzt sucht er die Einsamkeit und die Schönheit des Abends: eine weiße, über dem Wald untergehende 349
Sonne, schieferfarbener Schnee, die Luft lichtdurchdrungen, der Himmel eine riesige Glasglocke, unter der die wenigen Geräusche der Welt die Stille, die Schwermut noch anschwellen lassen. Es ist eine Welt, eine Stunde, für die Einsamkeit geschaffen. Der Reverend genießt sie, spürt mit jedem knirschenden Schritt die umfassende innere Gegenwart seiner Seele. Ein Wetter zum Choräleschreiben! Der schwarze Saum des Waldes ist eine halbe Meile, vielleicht sogar weniger, vom Kloster entfernt, dennoch nähert er sich so langsam wie eine von einem Schiffsdeck aus beobachtete Küstenlinie, und wie diese ist er plötzlich da, gestochen scharf, jeder Baum für sich, nicht mehr schwarz, sondern grün und purpurn. Am Waldrand verhält der Reverend und blickt zurück. An der Klostermauer steht jemand. Er kann nicht erkennen, wer es ist. Er winkt, aber die Gestalt winkt nicht zurück. Höchstwahrscheinlich ist er im Waldschatten nicht zu sehen. Er dreht sich um und tritt unter die ersten Bäume. Er hat nicht vor, weit zu gehen; allenfalls ein paar Ellen. Doch wie verführerisch es ist; der reinste Märchenwald! Er geht tiefer hinein, sucht sich seinen Weg zur Höhle des Menschenfressers, zum Drachen, zur schönen Prinzessin. In künftigen Zeiten, da er steif und alt wird und ihm kein Abenteuer bis auf das letzte mehr bevorsteht, überlegt er zuweilen, wie sich die Dinge wohl entwikkelt hätten, wenn er nach Erreichen des Waldes umgekehrt wäre. Wollte die Gestalt beim Kloster ihn 350
dazu auffordern? Oder waren sie alle unwissentlich Werkzeuge einer Macht, die lange vorher verfügt hatte, dass er nicht stehenbleiben, sondern immer tiefer in den Wald hineingehen würde, bis er die Lichter, die Hunde und die stumme Frau sah, die um ihr Leben rannte... Sie läuft geräuschlos über den Schnee, so leise, dass er sie ohne weiteres für einen Geist, ein Gespenst hätte halten können. Der graue Strom ihres Atems verrät ihm, dass sie aus Fleisch und Blut ist. Ein Dutzend Fuß von der Stelle entfernt, wo der Reverend kauert, bleibt sie stehen, sieht ihn direkt an. Die Lichter der Männer bewegen sich durch das Zwielicht hindurch auf die beiden zu. Ehebrecherin? Hexe? Er streckt ihr die Hand entgegen. Es ist eine instinktive Geste, und einen Moment lang scheint es, als komme sie zu ihm, doch dann schießt sie davon, leichtfüßig und flink wie ein Stück Wild, läuft zwischen den Bäumen hindurch, während sich die Fackeln der Männer zu einem glitzernden Netz auffächern. Der Reverend denkt: Sie werden sie fangen, sie an Ort und Stelle umbringen. Und wenn sie mich fangen? Welches Gesetz schützt mich an einem solchen Ort? Alle Vernunft sagt ihm, dass er fliehen muss, dass er sich auf keinen Fall einmischen darf. Aber er wartet, schleicht sich sogar ein Stück vorwärts. Es herrscht ein großes Durcheinander von Gebell und Stimmen. Die Lichter scharen sich zusammen. Haben sie sie gefunden? Seine Knie zittern. Er schiebt sich näher 351
heran, gleitet über den Schnee, wagt kaum zu atmen. Er sieht den Schattentanz unter den Lichtern; die Verfolger der Frau. Haben sie sie gefunden? Er wartet auf einen Schrei, auf das Geräusch von Männern beim Töten. Aber die Lichter zerstreuen sich wieder, bewegen sich durch den Wald von ihm weg, und die Menschen- und Hundestimmen verklingen rasch. Das ist die Stelle, wo sie waren; da ist der Schnee aufgewühlt. Er kann sie riechen, den Talg ihrer Fackeln. Er sieht sich um, sieht den Körper der Frau auf dem Boden. Er geht darauf zu, rechnet mit einem grässlichen Anblick, mit verfärbtem Schnee, einer klaffenden Kehle. Aber als er niederkniet, das Kleid berührt, ist es leer. Kleid, Schuhe, Strümpfe, Schultertuch. Alles, was sie angehabt hat. Das verstört ihn fast mehr, als wenn er ihren Leichnam gefunden hätte. Also war sie vielleicht wirklich eine Hexe und hat sich nackt durch die Luft davongemacht. Oder haben Sie sie ausgezogen und mitgenommen, um sie bei passender Gelegenheit zu ermorden? Er rafft die Kleider zusammen. Der Stoff birgt noch eine Spur menschlicher Wärme, und in diesem Moment, da er die Kleider unter seinem Arm bündelt, hat er am stärksten das Gefühl, dass sie bei ihm ist, irgendwo ganz in der Nähe. Er flüstert mit sonderbarer und angestrengter, ihm selbst fremder Stimme. Er sagt: »Ich bin ein Freund, ein Freund. Ich bin ein Freund.« Er nimmt ihr Schultertuch, bindet es an einen niedrigen Ast und läuft dann mit langen, mächtigen 352
Schritten durch die Schneebrandung, zum Wald hinaus und über die lichte Ebene zum Kloster. Die Gesellschaft sitzt im Halbkreis am Feuer. Sie blicken sich um, verblüfft darüber, den Reverend mit einem solchen Gesichtsausdruck und, wie es scheint, mit einem Bündel Frauenkleider im Arm zu sehen. Vorderhand gibt er keine Erklärung, sondern sagt nur, dass sie mitkommen müssen, und in seinem Auftreten liegt so viel Nachdruck, so viel Bestimmtheit, dass Monsieur About sich sofort den Rock zuknöpft. Auch Featherstone steht auf, doch seine Frau zupft ihn am Ellbogen. Am seltsamsten verhält sich Dyer, obwohl es in diesem Moment nicht so erscheint. Er geht mit About hinaus, zieht sich an der Tür Schneeschuhe an und folgt dem Reverend, der vor ihnen bereits kräftig ausschreitet. Sie wechseln kein Wort, bis sie dicht am Waldrand sind. Der Reverend sagt: »Da ist jemand, dem wir helfen müssen. Eine Frau. Die Leute jagen sie...« »Wissen Sie, wer es ist?« fragt About. »Ich weiß, wo wir nach ihr suchen müssen.« Dyer, von irgendeiner Verwirrung befangen, vielleicht von demselben Zwang weitergehetzt, der auch den Reverend in seinem Griff hält, bleibt stumm. Schwer atmend gelangen sie unter die ersten Bäume. Mondlicht liegt wie Gebein unter dem durchbrochenen Nadeldach. Der Reverend fragt sich, ob er die Stelle wiederfinden wird, doch noch während er es sich fragt, verfliegen alle Zweifel, und er ist nicht 353
überrascht, als er das Schultertuch dunkel vom Baum herabhängen sieht. Er beginnt zu suchen, stochert mit seinem Stock in der dichten Architektur aus Föhren, Schnee und Schatten. Nachdem die anderen ihm einen Moment lang zugesehen haben, folgen sie seinem Beispiel. Eine halbe Stunde lang machen sie weiter, in größer und dann kleiner werdenden Kreisen, bis sie wieder zusammentreffen. Der Reverend spürt, wie er auskühlt. Hat er die anderen für nichts und wieder nichts alarmiert? Warum sollte die Frau noch hier sein? Das Ganze hat überhaupt keinen Sinn. Dabei war er so sicher, dass sie hier sein, sich verstecken und auf seine Rückkehr warten würde. Er nimmt den Schimmer von Dyers Auge wahr und will schon eine Entschuldigung vorbringen, als der andere fragt: »Waren das die Kleider der Frau, die Sie da hatten?« »Ja.« »Bei dieser Kälte wird sie nicht lange am Leben bleiben«, sagt About. Dyer sagt: »Sie wollte nicht, dass die Hunde ihre Witterung aufnehmen.« Er blickt dem Reverend über die Schulter. Jetzt schiebt er sich an ihm vorbei auf einen Schneebuckel an den Wurzeln eines großen Baumes zu. Im Schnee ist etwas Dunkleres zu sehen. Dyer kauert sich daneben. Er zögert einen Moment lang, ehe er es berührt. Es ist eine Hand. Wie Grabräuber über die Erhebung gebeugt, wüh354
len und schaufeln sie den Schnee weg und werfen ihn hinter sich. Am Arm entlang arbeiten sie sich bis zur kaum noch warmen Achselhöhle vor. Sie legen die Schulter, eine Brust, den Hals frei. Dann graben sie nach oben weiter, zum Gesicht hin. Kinn, Mund, Augen. »Lebt sie noch? Atmet sie?« Dyer tastet an ihrem Hals nach dem Puls, senkt sein Gesicht auf das ihre, seine Wange auf ihren Mund herab. »Lebt sie, Doktor?« »Gerade noch.« »Gottlob hat sie offenbar keine Verletzungen.« »Das raffinierte Ding hat sich selbst begraben«, sagt Dyer. Der Reverend legt seinen Überzieher ab. Er sagt: »Wir müssen sie herausheben. Sie zum Kloster schaffen.« Sie heben sie an. »Wie leicht sie ist«, sagt About. Sie hüllen sie in den Überzieher des Reverend. Der Reverend reibt ihr die Hände, spürt, wie sie sich zwischen den seinen wiederbeleben. Sie schlägt die Augen auf, das Weiße darin wirft das Mondlicht zurück. Er sagt: »Madam, wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Haben Sie keine Angst. Sagen Sie ihr, dass sie keine Angst haben muss, Monsieur.« »Sie hat keine Angst«, sagt Dyer. »Wir müssen sie tragen«, sagt About. »Wir müssen von hier weg. Sofort. Sie sind der Jüngste, Mr. Dyer. 355
Und wohl auch der Kräftigste. Sie tragen sie als erster. Wir wechseln uns ab. Allez!« Dyer nimmt die Frau in die Arme. Ihr Kopf liegt wie selbstverständlich an seiner Schulter. Im Gänsemarsch verlassen sie den Wald. Dann und wann ist von fern das Heulen eines Hundes, vielleicht sogar eines Wolfes zu hören. Der Reverend schaudert, spürt das Fehlen seines Überziehers; mit einemmal ist er sehr müde. Der Mond schwebt weiter, tief am Himmel. Der Reverend weiß nicht genau, was, sondern nur dass etwas geschehen ist. Er versteht nicht, inwiefern, sondern nur dass sich etwas verändert hat. Er ist froh, dass James Dyer keine Hilfe braucht, um die Frau zu bergen.
8 Die Frau - denn sie hat so lange keinen anderen Namen, bis der Reverend sie Mary nennt, nach seiner Gönnerin Mary Hallam - hat ihre Kleider wieder an, dazu einen Umhang aus rotbraunem Tuch, der Mrs. Featherstone gehört. Unter der Kapuze hervor sieht sie zu, wie der Kutscher Taschen und Kisten unter dem hinteren Außensitz von Mami Sylvie verstaut. Die Pferde sind unruhig, nachdem sie so lange eingesperrt waren, bewegen die Köpfe auf und ab und stampfen im Schnee. Der Kutscher nimmt eine letzte Inspektion der Kufen vor, zieht ein Gesicht, schüttelt den Kopf. Reverend Lestrade kommt aus dem Klo356
sterportal, fragt die Damen, wie es ihnen geht; wie es ihnen gefallen wird, auf Kufen nach St. Petersburg zu gelangen. Mrs. Featherstone erklärt, sie sei froh, überhaupt von hier wegzukommen, und würde auch auf einem Esel reiten, wenn er sie nur in eine zivilisiertere Weltgegend brächte. Der Reverend reibt sich die Hände, fragt sich kurz, wer jetzt wohl seine Handschuhe trägt, und hilft dann den Damen in die Kutsche. Featherstone kommt in seinem pelzbesetzten Mantel heraus. »Tja, Featherstone. Meinen Sie, sie wird fahren?« »Gott sei uns gnädig, wenn nicht. Halten Sie es noch immer für sehr klug, die Frau mitzunehmen?« »Ich halte es für unsere Pflicht.« »Ich wollte damit nur sagen, dass sie, ihre Verfolger, vielleicht ihre Gründe dafür hatten, dass... Sie nehmen es vielleicht nicht sehr freundlich auf.« »Ich hoffe Sir, dass sie es gar nicht erfahren werden.« »Wir werden sehr beengt sitzen, zumal ja nun auch noch der Doktor mitkommt.« »Würden Sie die beiden zurücklassen, Mr. Featherstone, nur um es ein wenig bequemer zu haben?« In brauner Jacke, brauner Hose und grauem Mantel kommt James Dyer heraus. Er blickt zum Himmel auf, blickt zur Kutsche hin. Der Reverend sagt: »Sind Sie mit dem Zustand des Postillions zufrieden, Sir? Ich fand, er sah heute morgen beinahe unbeschwert aus.« 357
Dyer nickt. »Er wird es überleben.« Er blickt an dem Reverend vorbei durch den offenen Schlag der Kutsche. Featherstone ist eingestiegen und hat sich vorgebeugt, um mit seiner Gattin zu reden. Die Frau sitzt zwischen ihnen. Der Reverend ist Dyers Blick gefolgt und sagt: »Die Eiseskälte hat ihr offenbar nicht geschadet. Wir müssen überlegen, was wir am besten mit ihr anfangen. Wir können sie nicht nach St. Petersburg mitnehmen.« »Was haben Sie vor, Reverend?« fragt Dyer. »Wollen Sie sie in einen Konvent stecken?« Er lacht, das heißt, er gibt etwas von sich, was einem Lachen nahekommt: ein scharfes Ausstoßen von Luft aus der Nase. »Wie wollen Sie denn diese Zähne erklären? Oder die Tätowierungen?« »Die Tätowierungen hatte ich ganz vergessen.« Monsieur About erscheint, atmet tief ein. »Tout est prêt?« »Nur wir müssen noch einsteigen.« Der alte Mönch hebt die Hand; ein Segen. Die Kutsche ruckt an, dann gleitet sie vorwärts, wunderbar weich. About sagt: »Jetzt brauchen wir nur noch Glöckchen. Ting, ting, ting!« Ponko läuft neben ihnen her, läuft und stürzt, bis Mami Sylvie davonzieht und er zurückbleibt, im Schnee kniend und winkend, als säßen in der Kutsche seine letzten und einzigen Freunde auf Erden.
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Mrs. Featherstone sitzt am rechten Fenster und blickt zurück auf die sanft geschwungene Spur der Kufen. Neben ihr sitzt ihr Mann und neben diesem Mary. Monsieur About sitzt Mrs. Featherstone gegenüber (sein Blick: die unversehrte Ebene, die Teilansicht eines Pferdes, das von der vorderen Kufe aufgewirbelte Gestöber). Neben ihm, ein Buch in der Hand, Reverend Lestrade, der zuweilen die Aussicht zum einen wie zum anderen Fenster hinaus genießt und dann und wann das Kreuz durchdrückt, um die Spannung darin zu lindern. Zur Rechten des Reverend James Dyer, der auf seine Füße blickt, zum Fenster hinausblickt und sehr oft, eingehend und unverhohlen, die Frau ihm gegenüber anblickt. Nach zweitägiger Schlittenfahrt sind sie in Riga. Sie steigen in einem Wirtshaus im Schatten des Schlosses ab. Die Featherstones, About und der Reverend teilen sich zwei Räume. Dyer und Mary haben ihr eigenes, von Monsieur About bezahltes Quartier. Sie tun sich an Wildschwein gütlich. Dyer treibt einen englischen Kaufmann auf und fragt ihn, ob er von englischen Doktoren gehört habe, die nach St. Petersburg unterwegs seien. Der Kaufmann meint, er habe von keinem einzigen gehört. Seine lettische Frau schüttelt den Kopf. So viele Menschen kämen heutzutage durch Riga. Mehr als durch Berlin. Mehr als durch London! Früh am nächsten Morgen besteigt die Gesellschaft, in den Händen Brötchen, deftige Würste und gekochte 359
Eier, das kalte Innere ihrer mit frischen Pferden bespannten Kutsche. Mary ist nach wie vor bei ihnen. Niemand protestiert. Selbst Featherstone lächelt sie an und schält ihr galant ein Ei. Sie fahren nordwärts Richtung Valga. Der Reverend bedeckt die Vorsatzblätter von Candide mit Notizen und Zeichnungen. 22. Nov. Straßen schlecht, aber auf Schnee besseres Fortk. Heute leichter Niederschl. Federleicht. Himmel gefärbt wie Holzasche. Nachm. - Mrs. F. erbricht sich, Gesicht ganz grün. Wir halten an. M. betastet die Gegend um die Augen. Mrs. F. wohler. Schlechter Geruch in Kutsche, aber zu kalt, um Fenster zu öffnen. Heute wenig Gespräche. 23. Nov. James. Dyer - scheint zuweilen kaum zu wissen, was er will. NICHT mehr der Mann, der sich selbst den Kopf genäht und dem Postill. den Arm abgenommen hat. Sieht ständig M. an. Kann nicht glauben, dass er in sie verl., trotzdem hat sie irgendeine Macht über ihn. About sagt es auch. Amüsiert sich darüber. About erz. uns gewagte Gesch. über Kaiserin und ihr Pferd. Mrs. F. lachte zuviel. Mein Rücken viel besser denn je seit Paris. M. sagt nie ein Wort, zumindest höre ich keines. Meinte heute in der Dämmerung einen Bären zu sehen. Heute auf der Str. einen Trupp Kavallerie überholt. Der Offizier schaute zum Fenster herein und salutierte. Prächtige Gestalt. Eleg. Narbe auf der Wange. 360
24. Nov. Gestern Abend in P'skow. Festung und Kirchen. Trank mein erstes Glas Kwaß, aus Malzwasser gebraut. Sehr durstlöschend. Werden nicht nach Nowgorod fahren. Hatte gehofft, die Stadt zu sehen. Werden am Ufer des Peipus-Sees nach Narwa fahren. Werden dann am Finn. Meerbusen und unserem Ziel sehr nahe sein. Alle guter Dinge außer D., der an irgendeinem Unbehagen leidet. M. lebt in ihrer eigenen Welt. Ihre Augen - ihr Anblick flößt einem sonderbares Gefühl ein. Allerdings keine schwarze Katze und nichts Böswilliges in ihrem Gesicht. Hierunter: eine Skizze des Peipus-Sees. 25. Nov. Sind am Finn. Meerbusen auf weißem Sand spaziert. Hurra! Am anderen Ufer liegt Helsinki. D. gefragt, ob er zuversichtlich ist, Wettlauf zu gewinnen. Hätte ebensogut Holland, sprechen können, denn er gab keine Antwort. Frage mich, welche Meinung M. wohl von ihm hat. Immerhin hat er sie gefunden und getragen. Kann sie mir beim besten Willen nicht als Ehefrau vorstellen! Eisig. Habe ein Schiff, engl., mit Kurs aus dem Meerbusen heraus gesehen. Wohl das letzte bis zum Frühjahr. Bei Rückkehr zur Kutsche fiel mir auf, dass D. hinkte. Als ich fragte, was ihm fehle, sagte er, er wisse es nicht, dann, er sei gestürzt, was eigenartig war, da die Umgebung völlig eben.
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26. Nov. Gestern Abend tranken wir sehr viel und sind heute in der Kutsche sehr matt. Auf unserer Gesellschaft gab sich D. nachgerade menschlich. Begann, Gesch. von seiner Schwester zu erzählen und wie er ihr Unrecht zugefügt. Angesichts seiner Stimmung bedrängt ihn A.: Wer sind Ihre Eltern, Sir? D. schüttelt den Kopf. War Gummer Ihr Freund? D. antwortet, er sei es einmal gewesen. G. habe ihm übel mitgespielt, aber er habe seinerseits auch G. übel mitgespielt, und manchmal tue es ihm leid. Ihm schien die Erinnerung an irgend etwas zuzusetzen. Ich hatte vermöge der Bacchus geleisteten Huldigung einen sehr schlüpfrigen Traum. Ich werde nicht hinschreiben, wen er betraf. Ich schäme mich seiner, und dennoch war er sehr schön. Als ich am Morgen zum Frühstück herunterkam, sah ich auf einer Bank M. mit einem großen wilden Hund, der uns am Abend zuvor erschreckt hatte. Er schlief wie ein Welpe zu ihren Füßen. Mein Kopf schmerzt heute sehr. Bin versucht, M. zu bitten, ihn zu reiben. Würde sich freilich nicht schikken. Unten das Bild eines schlafenden Mr. F., der mir gegenübersaß und wie ein Blasebalg ächzte. 27. Nov. Heute Abend erreichen wir unser Ziel falls Pferde, Kufen und Straßen mitspielen. Dank sei Gott und Seinem Diener M. About. Ich habe nicht mit ihm darüber gesprochen, vermute aber, dass er Deist oder Agnostiker oder dergl. ist. Einerlei. Er ist mein 362
Freund. Ohne diese Reise wäre ich monate- oder jahrelang dahingesiecht. Wenn man mit seinem Latein am Ende ist, muss man eine Tätigkeit aufnehmen. Ich war töricht, und dennoch beziehe ich Kraft und Trost aus der Gewissheit, dass ich aufgrund dieses Abfalls vom Glauben ein besserer Hirte sein werde. Ich sehne mich nach Diddy. Auch nach Cow, Lady H. und meinem Garten, der selbst im Winter ein Trost ist. An die F.s werde ich stets mit Zuneigung zurückdenken, obwohl wir uns in England gewiss nicht begegnen werden. D. werde ich nach St. P. ebenfalls nicht Wiedersehen. M. auch nicht. Ich hoffe, man lässt sie in Frieden. Sie ist ein Typus, der stets das Vorurteil der Unwissenden hervorrufen muss. Hier ein Bild von ihren Zähnen. Heute morgen hatte ich ausgiebigen Stuhlgang von guter Farbe, was mich mit Zufriedenheit erfüllte. Ich möchte beinahe glauben, dass D. viell. eine Spur wahnsinnig ist. Ich bete darum, dass es nicht so sei. Mag sein, es ist nur der Anfang einer körperl. Krankheit - gar der Liebe! Nichts ist fürchterlicher als der Wahnsinn. Wie viele haben schon den Schatten seiner düsteren Schwingen gespürt. Wahnsinnig sein heißt gewiss, schon hienieden der Verdammnis anheim gegeben zu werden.
9 Sie fahren bei Nacht in die Stadt ein. Auf den Straßen brennen Kohlenpfannen, und die Drowski-Kutscher 363
schlagen wärmesuchend mit den Armen und sehen, die Augen von den Flammen entzündet, zu, wie sich Monsieur About nach der Residenz des britischen Gesandten erkundigt. Finger zeigen die Richtung; die Sprache der Kutscher klingt wie das Knirschen von Kieseln. Mami Sylvie gleitet durch die Stadt; auf der Newa, auf ihrem Eisrücken, blinken Lichter, und in den hohen Doppelfenstern mehrerer vornehmer Häuser sehen sie die Schatten von Tänzern. Überall, so scheint es, stehen Paläste, Pavillons, Türme mit goldenen Spitzen; und dazwischen und dahinter die Elendsquartiere aus Holz, die Einöden. Die Luft riecht nach den Sümpfen, dem Fluss, dem Winter. In der Residenz des Botschafters findet gerade eine Gesellschaft statt; überall in der Stadt finden Gesellschaften statt. Als der Reverend steif aus der Kutsche steigt, sagt er: »Man könnte auf der Straße stehen und nichts als das Knallen von Champagnerkorken hören!« Bediente lassen sie in die Vorhalle ein, wo sie unter einem Porträt König Georgs III. stehen, sich die Fingerspitzen anhauchen und das Wasser aus ihren Nasen abtupfen. Am oberen Treppenabsatz erscheint der Gesandte. Er kaut irgend etwas. Er hat sich die Serviette in den Kragen gestopft. »Womit kann ich dienen?« Sie warten darauf, dass Dyer antwortet, sich vorstellt. Als er stumm bleibt, deutet der Reverend auf ihn. »Das hier ist Dr. Dyer, Sir. Er kommt aus Eng364
land.« »Dyer? Ein Arzt?« »Er ist gekommen, die Kaiserin zu impfen«, sagt About. »So? Ja. Natürlich. Verdammt. Dann gehen wir wohl am besten gleich. Erlauben Sie mir, meinen Rock zu wechseln. Auf diesem hier habe ich Burgunderflecken.« Er verschwindet, kehrt zehn Minuten später zurück und ruft, während er leichtfüßig die Treppe herunterkommt, nach einem Diener. »Wie war Ihre Reise? Keine Unannehmlichkeiten, hoffe ich. Haben Sie schon gegessen? Was gibt es Neues in England? Ich glaube, ich würde mir ein Bein amputieren lassen, um wieder englischen Regen zu spüren. Ich habe Nikita Panins Mätresse oben, zusammen mit zwei Kosakengenerälen. Man muss sie unter den Tisch trinken, wissen Sie. Ich hoffe nur, sie vergewaltigen die Frau nicht, während wir im Palast sind.« »Sollten wir uns nicht umkleiden?« fragt Mrs. Featherstone verwirrt. »Ach was, nicht doch. Dieser Tage geht alles ganz zwanglos zu. Anders als unter Peter dem Großen. Außerdem mag sie Ausländer. Vorzugsweise Franzosen, aber Engländer sind durchaus akzeptabel. Sprechen Sie Französisch, Herr Doktor?« Dyer schüttelt den Kopf. »Einerlei«, sagt der Gesandte. »Ich werde für Sie übersetzen. Bei Hofe hört man überhaupt kein Rus365
sisch. Es sei denn, man befindet sich im Dienstbotenquartier. Französische Sprache, französische Sitten, französische Mode. Wir nennen es den Affen auf dem Rücken des Bären. Wie finden Sie das? Da ist unser Schlitten. Steigen Sie ein. Die Pelze da sind Wolfsfelle. Wie war doch gleich noch Ihr Name?« »James Dyer.« »Ich glaube, man hat für Sie eine Wohnung an der Millionaja. Jeder wird großzügig untergebracht. Wir kommen auf dem Weg zum Palast daran vorbei.« Die Luft treibt ihnen die Tränen in die Augen. Der Kutscher stößt einen Ruf aus, lässt über den Ponys die Peitsche knallen. Der Gesandte schläft. Der Reverend denkt: Warum hat Dyer nicht gefragt, ob er der erste ist? Hat er Angst davor gehabt, die Wahrheit zu erfahren? Der Gesandte hätte es doch sicher gesagt. Irgend etwas gesagt. Sie biegen ab, die Pferde wirbeln Schnee auf. Rechts von ihnen liegt die gefrierende Ader des Flusses; links liegt Amsterdam, Venedig, Athen. Erstaunlich, denkt der Reverend, behaglich in sein Wolfsfell gehüllt und ob der Fremdheit des Ganzen verblüfft grinsend, erstaunlich, dass das alles nicht untergeht. Doch trotz des ganzen Gewichts wirkt St. Petersburg wie die bloße Silhouette einer Stadt, eine riesige Bühne für irgendein unwahrscheinliches Stück. Ich habe hier überhaupt nichts verloren. »Ist das der Palast?« ruft Mrs. Featherstone und deutet nach vorn. 366
»Du lieber Himmel!« sagt Featherstone. »Das sind ja Kerzen genug, um ganz Bristol zu beleuchten.« About lacht. »Endlich haben wir sie beeindruckt! Aber wie weit haben wir dafür fahren müssen.« Der Palast verschluckt sie. Der Gesandte sagt: »Bleiben Sie in meiner Nähe! Ich habe hier einmal den jüngsten Sohn eines Earl verloren und ihn seither nie wiedergesehen.« Am Fuß der Treppe balgen sich zwei Männer mit Diamanten an den Schuhen. Die Reisenden steigen hinauf, erblicken sich, mit geröteten Gesichtern, flüchtig in den unzähligen Spiegeln. About sagt: »In dieser Hitze könnte man Orangen ziehen!« Am Fuß eines Marmorpfeilers hockend, sehen ein Dutzend Kalmückenfrauen den Fremden zu, wie sie vorbeigehen. Eine deutet auf Mary, die anderen senken den Blick, murmeln etwas. Ein mongolischer Offizier, schwarzäugig, die Haut so straff wie die eines Apfels, nickt dem Gesandten zu. Der Gesandte winkt mit seinen Handschuhen, hüpft über ein Paar schlafender Wolfshunde und läuft die nächste Treppe hinauf. Dem Reverend klatscht ein Tropfen Wachs auf den Ärmel. Dyer geht neben ihm her. Wie blass er aussieht. Das Bein macht ihm wieder zu schaffen. »Nehmen Sie meinen Arm, Doktor. Sonst gehen wir noch verloren wie dieser andere Mensch!« Bediente hasten mit Tabletts vorbei, die Flaschen darauf dampfen und glänzen von dem Schnee, aus 367
dem man sie gezogen hat. Einer trägt einen Fisch, so groß wie ein junges Schwein, gleitet aus, lässt das Tablett fahren und befördert den Fisch mit Schwung durch Abgründe gelber Luft. Neben einer Tür, hinter der hundert, zweihundert Damen und Herren beim Kartenspiel sitzen, steht ein Kind, das kandierte Rosenblätter isst und bei dem sich der Gesandte nach dem Weg erkundigt. »Tout droit«, sagt das Mädchen. Der Gesandte küsst sie, stürzt sich zwischen die Kartentische und winkt dabei die anderen weiter, ohne sich umzublicken. An den Wänden, teuer und unbeachtet, in sperrigen Goldrahmen aufgehängt, Gemälde aus einer anderen Welt. Rubinrote Gliedmaßen, blutige Helden, lasterhafte Götter; Fürsten mit Engeln im Gefolge, alle tiefernst; und durch ein Fenster im Hintergrund ein Blick auf heiße braune Hügel, die roten Ziegel der Toskana. Von einigen Tischen blickt, zwischen zwei Runden Lomber oder Boston, ein gepudertes Gesicht zu den Neuankömmlingen auf, feixt, flüstert etwas, verliert das Interesse, wendet sich wieder den Karten zu. In diesem Raum sind zur Erfrischung der Spieler Tische mit Delikatessen gedeckt. Sterlet aus der Wolga, Kalbfleisch aus Archangelsk, Rindfleisch aus der Ukraine, Fasane aus Böhmen. Eiskalte Krüge mit Gluckwa, Orgeade, nach Mandeln duftendem Ratafia. »Diese Melonen«, sagt der Gesandte, am Ende des Tisches angelangt, »sind aus der Bukowina.« Er steckt einen Finger in eine Schale mit Kaviar, leckt die 368
glitzernden Fischeier ab und ruft einen Bedienten, der verschwindet und zurückkehrt. Der Gesandte sagt: »Wir dürfen jetzt hinein. Versuchen Sie, interessant zu sein.« Dem Reverend kommt es vor, als hätten sie den Probenraum eines Opernensembles betreten, doch ist weder das Gold gemalt, noch bestehen die Diamanten aus Glas. Wie alle Räume, durch die sie bisher gekommen sind, ist auch dieser zu hell, zu erlesen, zu überladen mit den Erwerbungen russischer Agenten, die mit ihren tiefen Börsen Europa durchstreifen. So viele schöne Gegenstände, von denen jeder einzelne, für sich, bemerkenswert gewesen wäre. Zusammen gleichen sie der angehäuften Beute eines Khans; Spielzeuge der Macht. Mitten im Raum beugt sich eine Frau über einen Billardtisch. Man hört das Klacken von Elfenbein, als sie ihren Stoß ausführt, dann blickt sie zu den Fremden auf, und ihre blauen Augen, ihr blauer Blick, gehen von Gesicht zu Gesicht. Inmitten des Geplauders, des höflichen und ungehobelten Gelächters, schwebt eine Stimme, eine deutlich und exotisch englische Stimme. »...jeden dritten Abend zur Schlafenszeit acht Gran Kalomel, jawohl, und acht Gran Krebsscherenpulver...« Die Frau am Tisch spricht Französisch mit deutschem Akzent. Sie fragt: »Wen haben Sie mir heute Abend mitgebracht?« 369
Der Gesandte verbeugt sich schwungvoll. »Eure Kaiserliche Majestät, ich habe Ihnen Dr. Dyer aus England mitgebracht. Dr. Dyer und seine Begleiter.« Dyer tritt vor, verbeugt sich. In einem eindeutig auswendig gelernten englischen Satz sagt die Kaiserin: »Es ehrt uns, dass Sie so weit gereist sind. Wir freuen uns, Sie in unserer Stadt willkommen zu heißen.« Irgendwo zwischen den Buckligen, den gelangweilten Zwergen, den Ehrenjungfern und Kammerherren spricht der Engländer unentwegt weiter. »...dann empfehle ich ein Achtel Gran Brechweinstein und beim Erwachen eine Prise Glaubersalz...« Die Kaiserin dreht sich um, die Menge teilt sich. Der Reverend hat bereits erraten, wen sie gleich zu Gesicht bekommen werden; er hat die Stimme schon einmal gehört, in Brüssel. Dr. Dimsdale, aalglatt und stämmig, gleitet, schon jetzt ein Günstling, an die Seite der Kaiserin. Der Raum sieht zu, wird still. Die Herren, die nüchtern gekleideten Ausländer, betrachten einander; ein langer, vieles mitteilender Blickwechsel. In Dimsdales Augen ein kühles Genießen seines Sieges, in James Dyers Augen ein Ausdruck der Verständnislosigkeit, als habe ihn der lenkende Geist seines Lebens urplötzlich und unerklärlicherweise im Stich gelassen. Irgendwer kichert. In Schulfranzösisch sagt Dimsdale: »Und was halten Sie von Glaubersalz, Mr. Dyer?« 370
Die Kaiserin klatscht; der ganze Raum klatscht. Es ist, als habe der Hof nie solchen Witz, solchen Esprit gehört.
10 »Was ist das? Das ist doch ein Orrery-Planetarium, nicht wahr?« »Ja.« »Sie müssen es besonders gern haben, Doktor, um es bis hierher mitzubringen.« »Ich habe es schon seit Jahren.« »Ein wunderschönes Stück. Das da ist wohl die Sonne, und das sind die Planeten?« Das Zimmer ist schwach erleuchtet. James Dyer sitzt am Fenster, das Orrery-Planetarium auf dem Tisch neben sich. Die Fensterläden sind nicht geschlossen. Es fällt leichter Schnee. Unten auf der Straße bringen Schlitten und Kutschen die letzten Kartenspieler, die Nachtschwärmer vom Winterpalast nach Hause. »Das Mädchen hat, glaube ich, den Ofen in Ihrem Zimmer angezündet, Doktor.« Keine Antwort. Der Reverend denkt: Ich werde ihn bloß aufbringen, wenn ich bleibe. Er muss seine Enttäuschung allein verdauen. Er geht zur Tür, dann, weil er gegen den Drang, zu trösten, nicht ankommt, sagt er: »Der Gesandte hat mir versichert, dass es hier für einen Mann von echtem Können viel zu tun gibt. Viel zu gewinnen. 371
Ich hoffe doch, Sie halten Ihre Reise nicht für vollkommen vergeblich.« Am anderen Ende des Zimmers ist eine Bewegung wahrzunehmen. Mary. Er kann nicht erkennen, ob sie ihn ansieht; das Licht ist zu trübe, seine Augen sind müde. Er versteht jedoch, versteht vollkommen, dass er gehen muss. »Dann also eine gute Nacht. Ihnen beiden.« Unverständlich beunruhigt, geht er auf sein Zimmer. Warum ruft dieser bissige Mensch, dem gewiss nichts an ihm liegt, so sehr sein Mitleid hervor? Er entkleidet sich, steht ganz kurz nackt in der vom Holzfeuer gewärmten Luft, zieht dann sein Nachthemd, seine spitze Nachtmütze, ein Paar dicker Wollstrümpfe an. Als er sich niederlegt, betet er, eine Gewohnheit, die er nach einer mittlerweile unbedeutend erscheinenden Spanne des Schweigens wiederaufgenommen hat. Er betet für Dyer, für sich selbst, für seine Lieben: ein Kindergebet. Er löscht die Kerze. Seltsam, wie mit einmal die Dunkelheit kommt. Wo ist sie, wenn das Licht brennt?
11 Die Featherstones, Monsieur About und der Reverend Lestrade fahren mit zwei Mietschlitten, um sich eine Hundehatz auf einen Bären anzusehen, der der Kaiserin gehört. Zwei Hunde kommen dabei um. Die Hunde sehen erst ganz am Ende so aus, als täten sie 372
sich leid. Ein Mann kommt herein, um ihre Kadaver herauszuzerren. Der Bär wird weggeführt, um seine Wunden zu lecken. Fünfzehn Grad Kälte. Den Kutschern gefriert der Atem in den Bärten. Ein Souper bei der Prinzessin D. Kalte Suppe, Kaviar und Postilla. Die Damen werden von Dienern die Treppe hinaufgetragen. About geht eine Wette ein und leert in einem Zug eine Flasche Champagner. Die Prinzessin fragt den Reverend: »Sind Sie nicht mit einem der englischen Doktoren gekommen?« »Ja, Madam, aber er ist unpässlich.« Zum Abschied küsst der Reverend der Prinzessin die Hand. Sie sagt: »Sie müssen jeden Tag hierher kommen.« Ein Mann namens Bootle führt sie auf den NewskiMarkt. Das Fleisch ist tiefgefroren, hart wie Stein. Bootle erkundigt sich nach Dyer. Der Reverend sagt: »Er wollte heute nicht aus dem Haus gehen.« »Ist er unwohl?« »Er ist noch erschöpft von der Reise.« »Und die Frau?« Als sie allein sind, sagt About, Bootle sei ein Spion. St. Petersburg sei voller Spione. Bootle geht mit ihnen ins Badehaus. Ein Rubel für einen Privatraum, fünf Kopeken für den öffentlichen Saal. »Wir wollen uns nicht trennen!« sagt Monsieur About. James Dyer ist mitgekommen. Als sie ausge373
zogen sind, sieht der Reverend auf Dyers Rücken ein Dutzend roter Striemen wie von einer Peitsche und auf Brust und Beinen ein Gesprenkel blauer Flecken. Und seine Hand weist Kratzer auf, als habe er durch einen Dornbusch nach etwas gegriffen. About ist verstört, unangenehm berührt. Er sagt so laut, dass der Reverend es hören kann: »Das ist zuviel. Das geht zu weit.« Der Tag ist verdorben. Das Abenteuer nähert sich seinem Ende. Dieses Abenteuer. About hat seine Spielzeuge einem Beauftragten der Kaiserin verkauft. Wie man hört, ist sie entzückt. Hat großzügig bezahlt. About sagt, die Sachen werden den Hof eine Woche lang amüsieren und dann in ihren Kästen verstaut und vergessen werden. Gleichviel. Irgendwann wird es Ihnen allen ebenso ergehen. Sogar der Kaiserin! Vergessen, vergessen. Er füllt ihre Gläser. Es ist Abend in der Wohnung. Der Reverend und About sind allein da. James Dyer und Mary teilen sich eine Unterkunft, die Featherstones eine andere. Die Öfen zischen: gute russische Öfen, in England gibt es nichts Vergleichbares. Der Reverend denkt: Ich könnte bis Neujahr zu Hause sein. Ein Neubeginn. Zu Hause. About tritt vor ihn hin, lächelt, nimmt seinen Arm, sagt: »Ich werde Montag nächster Woche nach Warschau fahren. Und von dort so schnell wie möglich nach Paris. Kommen Sie mit. Ich möchte nicht mehr ohne Sie reisen.« 374
»Könnten wir nicht auch den Doktor mitnehmen?« fragt der Reverend. »Und die Frau, falls er sich nicht von ihr trennen will?« »Warum nicht«, sagt About. Am nächsten Tag sprechen sie erneut im Palast vor, aber die Kaiserin ist fort. Es sind nur andere Besucher da, die durch die leeren Flure gehen und mit gedämpften Stimmen reden. An den Kartentischen sitzen keine Spieler, keine Diener hasten mit Champagner hin und her. Sie sitzen statt dessen auf den Treppen herum und essen und trinken, was sie aus den Küchen gestohlen haben. Von den Lichtern brennen nur wenige. Es ist kalt, hallt laut. Eine prächtige Kaserne. In der Millionaja verbringen sie einen Abend bei Puff und Zwicken, Kaffee und Wein. Der Reverend zieht sich um Mitternacht zurück, begibt sich auf sein Zimmer, nimmt Gänsekiel und Tintenfass, spitzt den Gänsekiel mit seinem Taschenmesser an, taucht ihn in die Tinte, wischt ihn ab, taucht ihn erneut ein und beginnt einen weiteren Brief an seine Schwester. Rev. Jls. Lestrade an Miss Dido Lestrade St. Petersburg, den 9. Dezember 1767 Liebe Dido, nun schreibe ich Dir, um Dir mitzuteilen, dass ich nach England zurückkehre und vielleicht schon dort bin, ehe Du diesen Brief erhältst. Ich werde mit M. About nach Warschau und von dort nach Paris und 375
dann nach Hause fahren. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach sehne, wieder unter Euch zu sein. Nicht, dass ich die Reise hierher bereue. Es ist schon etwas, wenn man sagen kann, man hat die Kaiserin von Russland kennengelernt. Ich frage mich, wie es dem armen Postillion ergangen ist und ob wir auf dem Rückweg nicht etwas über ihn in Erfahrung bringen könnten. Unsere kleine Gesellschaft, die sich bald zerstreuen wird, ist wohlauf mit Ausnahme von Dr. Dyer, der die ihm von Dr. Dimsdale zugefügte Niederlage sehr schwer nimmt. Die Kälte hier ist entsetzlich, aber die Leute verstehen sich auf das Heizen, und ich habe es nicht unbequemer gehabt, als wenn ich zu Hause gewesen wäre. Nun will ich Dir aber erzählen, was wir seit meinem letzten Brief alles... Er legt die Feder hin. Der Brief kann bis morgen warten. Er reibt sich die Bartstoppeln. Wer war doch gleich der Bekannte von ihm, der sich dreimal am Tag rasierte? Collins? Johnstone? Jemand auf der Universität? Paston? Ihm fällt seine kleine Opiumpfeife ein, und er findet das Etui auf dem Boden seiner Tasche. Das erstemal hat er die Droge als Junge genommen, um einen hartnäckigen Husten zu lindern; später, als Student, wegen der Träume, die sie brachte, und wenn er sein Monatsgeld aufgebraucht hatte, war es billiger und angenehmer, Opium zu nehmen, als zu essen. Er 376
ist nur ganz leicht süchtig; Dido nimmt mehr. Er raucht im Lehnsessel, behält den Rauch dabei tief in der Lunge. Sein Mund wird trockener. Er lächelt. Er weiß, dass er morgen dafür wird büßen müssen: Abgeschlagenheit, Verstopfung, vielleicht Kopfschmerzen. Sein Lächeln wird breiter. Was kümmert ihn das Morgen? Wer weiß denn schon, ob einer von ihnen so lange leben wird? Als er fertig ist, legt er die Pfeife vorsichtig auf das Etui und geht hinaus, um gegen seinen trockenen Hals einen Mundvoll Wein zu trinken. Er nimmt eine Kerze mit; sein Schatten gleitet über die Wand wie ein graues, schwerfälliges Segel. Die Karaffe steht noch auf dem Tisch im Salon. Er nimmt eines der schmutzigen Gläser, schnuppert daran, gießt sich etwas Wein ein, spült den Mund und schluckt. Beim Hinausgehen sieht er noch ein anderes Licht, das auf dem Flur vor James Dyers Zimmer flackert. Wer steht da? Er kneift die Augen zusammen und erkennt Zaira, das Hausmädchen. Er geht auf sie zu und denkt dabei, dass er die Schönheit ihres Haars, das tiefschwarz von ihrer weißen Haut absticht, nie so recht bemerkt hat. Er rechnet damit, dass sie sich bei seiner Annäherung umdreht; er möchte sie nicht erschrecken, aber sie starrt unverwandt in Dyers Zimmer. Als er ihren Gesichtsausdruck sieht, wünscht er sich in sein Zimmer zurück. Er möchte nichts damit zu tun haben. Er flüstert ihren Namen, sie packt ihn am Arm, überträgt ihr Grauen auf ihn. Dyer liegt mit geschlossenen Augen auf dem 377
Rücken im Bett. Neben dem Bett steht Mary. Der Reverend öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch Mary blickt zu ihm auf, bringt ihn zum Schweigen. Einen Moment lang fragt er sich, ob Dyer tot ist, doch dann sieht er das langsame Anschwellen der Brust, das leichte Pochen der Haut über dem Herzen. Zaira wimmert. Man hört das Geräusch ihres Wassers, das von ihrem Bein auf den Boden rinnt. Der Reverend macht einen einzigen Schritt vorwärts und bleibt dann stehen. Das Zimmer ist ihm verschlossen. Hier sind Kräfte am Werk, von denen er nichts weiß, eine Magie, die mächtiger ist als die seine. Er kann Mary nicht hindern. Eine ihrer Hände steckt in Dyers Leib, nun schiebt sich daneben auch die andere hinein. Es fließt kein Blut; das Fleisch teilt sich wie Wasser, wie Sand. Ihre Arme zittern, ihr Gesicht ist gezeichnet von der Anstrengung ihres geheimen Tuns. Dyer rührt sich nicht, seufzt nur manchmal wie ein Schlafender in einem Traum. Als es vorbei ist, lässt sich Mary schwer auf einen Stuhl fallen, ihr Kopf sinkt nach vorn, ihre Schultern sacken herab. Das Zimmer hat plötzlich etwas Ruhiges, Alltägliches. Ein Mann, der in einem Bett schläft, und neben ihm, auf einem Stuhl, eine schlafende Frau. Der Reverend geht hinein, stellt seine Kerze auf das Nachtschränkchen, knöpft Dyers Nachthemd zu und zieht dann die Decken hoch. Zaira sieht ihm zu. Hat sie auch vor ihm Angst? Er nimmt sie bei der Hand und führt sie den Flur entlang rasch davon.
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Sechster Teil 1 Unmittelbar vor dem Erwachen erlebt er eine Ekstase, einen Moment leuchtenden Schreckens, wie ihn wohl ein Mann empfindet, der über den Rand eines Abgrunds stolpert und mit einem Purzelbaum über die fernen Felsen schießt. Oder ein vom Stoß des Henkers in die Ewigkeit beförderter Verbrecher, der durch die Stille der Menge fliegt. Alles wird in klarem Licht, in ruhiger Luft gesehen und verstanden. Dann bricht der Wind in Wellen über seinen Kopf herein. Das Licht kreischt. James Dyer stirbt. Erwacht in der Hölle. Zuerst weiß er nur, dass er dem Feuer in seinem Bett entrinnen muß. Dann dem Feuer auf dem Boden. Dann dem Feuer in der Luft. Erst als er zur Tür wankt, geht ihm auf: er ist das Feuer; das Feuer ist er selbst. Und nur wenn er sich selbst entrinnt, wird er auch den Flammen entrinnen. In seiner Tasche gibt es Messer, und noch hat er vor Messern keine Angst. Er könnte wie Joshua sterben, den unerträglichen Durst mit einem Rasiermesser löschen. Er tastet nach der Tasche, kann sie nicht finden, kann nichts sehen, seine Tasche nicht und nicht seine Hände. Da ist nichts als ein Stück fahleres Dunkel, wo einer der Fensterläden offen steht. Er öffnet auch die anderen, müht sich mit dem Fenstergriff ab. Er hört sich schluchzen. Der 379
Griff gibt nach, das Fenster geht auf. Schnee tanzt herein und auf sein Gesicht. Er zieht sich auf die Fensterbank hoch, duckt sich, als wolle er auf den zugefrorenen Fluss hinunterspringen. Dann wird er von hinten gepackt, auf den Boden gezerrt und liegt da, zappelnd wie ein Insekt. Er will sich gegen sie wehren, bringt jedoch die Kraft nicht auf. Sie weiß genau, was sie will. Sie bringt ihn dazu, sich anzuziehen. Sie versteht nicht, dass er nicht weiterkann, dass er das Unerträgliche ertragen muss. Draußen nehmen sie die dunkelsten Straßen. Die Holzhäuser schlafen noch, an den Boden geklammert, schwerer als Paläste. Ein Hund winselt, ein Kleinkind greint, in einem Haus flackert eine Lampe. Vielleicht ist dort jemand krank, und die Familie kniet am Bett. In einer solchen Nacht wird weder der Arzt kommen noch der Priester. Mary wartet nicht auf ihn; aber sie lässt ihn auch nicht gehen. Er quält sich hinter ihr ab, auf zwei Beinen, auf vier. Er weiß, sie ist seine einzige Hoffnung, Anfang und Ende des Alptraums. Woran kann er sich sonst festhalten? Er ist eine Stunde alt, in sich selbst gefangen, ein Blinder in einem brennenden Haus. Er ist jetzt wie die anderen.
2 Als er die Augen aufschlägt, ist es hell. Von der Stadt ist nichts zu sehen. Er versucht, sich aufzusetzen, 380
doch als er sich bewegt, läuft das Feuer durch seinen Körper. Er versucht zu sprechen, aber seine Kehle ist zu trocken. Er leckt am Schnee. Langsam, als überquere er einen Fluss mit einer hauchdünnen Eisschicht, bewegt er sich. Seine Hände ballen und öffnen sich. Er dreht den Kopf. Ein Vogel beobachtet ihn, blauschwarzes, im Wind bebendes Gefieder. Das Tier mustert ihn. Sein Auge hat keine Tiefe. Auf seiner Oberfläche zittert ein schwarzes Licht. Der Vogel hüpft näher heran. Die Angst vor dem Vogel ist größer als die Angst vor dem Feuer. Er setzt sich auf, schreit, schleudert Fäuste voll Schnee. Der Vogel spreizt sich, fliegt niedrig über den Boden, so dass die Flügelspitzen beinahe den Schnee berühren. Dann steigt er, krächzt, kreist über ihm und verschwindet über die Bäume hinweg. James sinkt zurück, das Gesicht zum Himmel gewandt. Jetzt vielleicht, bei Licht, wird jemand kommen und ihm helfen, ihn an einen warmen Ort bringen, ihn heilen. Der Himmel wird rot; er hört Schritte; er hebt den Blick. Die Frau ist da. Sie kauert sich neben seinen Kopf und legt ihm die Hand über die Augen. Sie riecht nach Rauch und Federn. Er schläft. Vor seinem Gesicht schwankt eine kleine Flamme. Über sie hinweg sieht er die Frau, die in einem Topf rührt. Sie blickt sich zu ihm um. Er sagt etwas zu ihr, versteht jedoch nicht, was er gesagt hat. Sie befinden sich in einem Zimmer, einem kleinen Zimmer aus 381
Holz. Es gibt keine Fenster. Er liegt unter einem Fell. Unter dem Fell ist er nackt. Er ist zu schwach, um sich zu bewegen, hat zu große Angst, erneut das Brennen auszulösen. Die Frau füttert ihn aus einem Trinkhorn. Die Flüssigkeit schmeckt nach Erde. Er schluckt. Später nimmt sie ihn bei der Hand und führt ihn aus dem Zimmer. Das Brennen ist überall um ihn herum, eine Wolke, in der er sich bewegt, aber er leidet nicht mehr so sehr darunter. Als sie draußen sind, deutet sie auf eine Stelle im Schnee. Dort liegt ein Mann, alle viere von sich gestreckt, mit dem Gesicht nach unten. Durch den Schnee geht James, nackt, näher heran. Er spürt die Kälte nicht. Er kniet sich neben den Mann, dreht den Körper um, berührt ihn, das kältegepanzerte Gesicht, die wie Splitter in der Haut sitzenden Stoppeln, die dunklen Lippen, die dunkle Zähne zeigen. In Gummers Augen bewegen sich goldene Lichter. Die Lichter sind im Dunkeln getragene Flammen. James beugt sich dichter hinab. Er sieht das Gesicht seiner Mutter, winzig, jung. Über ihr regnen die Sterne auf das Moor, das Dorf, den Festungshügel. Er sieht eine Masse von Fremden und einen Jungen, der ruhig auf einem Bett liegt. Und da ist Joshua Dyer, stirnrunzelnd, in seinem besten Rock, rot von Sonne und Alkohol; und Jenny Scurl, Blütenblätter im Haar; Amos Gate, wie er sich das Kinn reibt. Charlie steht an der Tür, und Sarah lugt an seinem Arm vorbei. Liza ist da, sitzt neben ihm auf dem Bett. Sie weint um ihn. 382
James legt den Kopf an die Brust des Toten, rollt sich an dem kalten Leib zusammen, hält ihn in den Armen. Heult. Eisspiegel erzählen ihm davon, was er geworden ist. Sie zeigen ihm das verschwommene Abbild eines Mannes, der Bart mit Geifer verklebt, der dunkle Streifen seiner Augen wie eine Binde. Oft gibt ihm Mary aus dem Horn zu trinken, von der Flüssigkeit, die nach Schimmel und aus Kellern stammender Erde schmeckt. Dann ist er ein Geist und sieht Geisterhaftes, spricht mit den Toten oder den wandernden Seelen jener, die noch am Leben sind. Nachts hört er zuweilen Teufel; sie gleichen Flüsternden am anderen Ende eines riesigen Raums. Und er findet ein Wort für das Brennen. Ein Wort, das von den Lippen springt, noch während es gesprochen wird; das gesprochen wird, als zische man es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: Schmerz. Es führt gerade Luft genug mit sich, um eine Kerzenflamme zum Flackern zu bringen, nicht aber, um sie auszulöschen, jedenfalls nicht gleich, nicht, sofern die Flamme nicht schwach und die Kerze noch nicht ganz heruntergebrannt ist. Sein Fleisch erinnert sich an jeden Bruch, jede Tracht Prügel, jeden Stich mit der Nadel, jede Brandwunde von der Kerze. Im Schmerz entdeckt er seine Geschichte, und die Luft verfinstert sich vor lauter Stimmen. Die Nacht ist nicht lang genug, dass er auf 383
ihre Anklagen antworten, die Tränen vergießen könnte, die sie von ihm fordern. Er hatte geglaubt, seine Stunden glichen Freudenfeuern, die sich selbst verzehrten und nur die fahlste Asche zurückließen. Nun erfährt er, dass die Zeit den Menschen nachspürt wie ein Mörder und gründlich und unparteiisch das Zeugnis der Jahre sammelt. Nichts geht verloren. Das war alles Arroganz und Ignoranz. Nichts geht verloren, und die Stille war keine Stille, sondern nur seine eigene Taubheit.
3 »Wer sind Sie?« »Gib Antwort.« »Warum gibt er keine Antwort?« »Er hat überhaupt nicht mit uns geredet, Sir.« »Wo kommt er her? Was für Papiere hat er?« »Mr. Callow hat die Papiere gelesen, Sir. Er heißt Dyer, ein Engländer, der in Russland wahnsinnig geworden ist.« »Wodurch?« »Die Ursache ist nicht aufgeführt. Nur der Name und dass er aus Russland kommt.« »Es wundert mich, dass man ihn nicht dort behalten konnte. Wer hat ihn denn geschickt?« »Mr. Swallow, der Gesandte.« »Und ist auch Geld für seinen Unterhalt mitgeschickt worden?« 384
»Es ist Geld da. Mr. Callow hat es.« »Sagen Sie Callow, er soll ihm sieben Shilling die Woche berechnen. Ich habe einmal einen Dyer gekannt. Dyer!« »Gib Antwort!« »Wissen Sie, wo Sie sind, Sir? Das hier ist das Royal Bethlehem Hospital in Moorfields. Wir werden Sie gesund machen, Sir, oder einer von uns wird bei dem Versuch zugrunde gehen. Warum trägt er eine Zwangsjacke?« »Sir, er hat einen der Wärter getreten, als man ihn ausgezogen hat.« »Wen denn?« »Mr. O'Connor.« »Hat O'Connor ihn geärgert?« »Nein, Sir.« »Schön. Morgen werde ich mit der Behandlung beginnen. Wir werden Ihnen die Zunge schon lösen, Dyer. Es ist ungehörig, so verstockt zu sein. Wer schreit denn da?« »Ich glaube, das ist Smart, Sir.« »Wieso schreit er?« »Das weiß ich nicht.« »Wir werden gleich einmal nachsehen.« »Und der hier, Sir, soll er Eisen tragen?« »An den Beinen. Bis wir ihn besser kennen. Dann werden wir sehen.« »Dyer!« »Gib Antwort!« 385
»Nein, treten Sie ihn nicht. Er ist immer noch ein Christenmensch. Wie gefällt Ihnen Ihr neues Zuhause, Kerl? Spricht er schon?« »Ein paar Worte, Sir.« »Als da wären?« »Wie?« »Was sagt er?« »Bloß irres Gerede, Sir. Nichts.« »Wenn Sie ihn reden hören, müssen Sie es aufschreiben, und wenn das nicht geht, müssen Sie sich die Worte merken.« »Ja.« »Wie gefallen ihm seine Eisen?« »Er beklagt sich nicht.« »Heute kommt er ins Wasser.« »Jawohl, Sir.« »Und er soll erbrechen.« »Jawohl, Sir. Sollen wir ihn auch zur Ader lassen?« »Wärter!« »Sir?« »Setzen Sie ihn auf seinem Strohsack auf. Nimmt er sein Essen zu sich?« »Wir stecken es ihm in den Mund, Sir. Aber er schluckt es nicht immer hinunter.« »Wenn Sie mit dem Essen nachlässig sind, Dyer, lasse ich es Ihnen von Wagner hier mit einem Stock in die Gurgel stoßen. Jawohl, wie bei einer französischen Gans. Wie hat ihm das Wasser gefallen?« 386
»Er hat aufgeschrien.« »Wegen der Kälte, oder was meinen Sie?« »Ja, Sir.« »War es nur ein Schrei? Oder war auch ein Wort zu hören?« »Ein Name, Sir.« »Was für ein Name?« »Ich glaube, Maria oder Mary.« »Sehr schön. Sagen Sie es uns, Dyer. Wer ist Maria? Ehefrau? Schwester? Hure?« »Vielleicht ist er Papist. Ich könnte ihn schon zum Reden bringen, Sir, wenn Sie wollen.« »Nein, Mr. Wagner. So nicht. Wir leben in aufgeklärten Zeiten. Natur und Philosophie sind unsere Richtschnur.« »AAAUUUUUUUUU! AUUAAAAUUUUUUUUUUUU!« »Knebeln Sie ihn.« »Ich heiße Adam. Ich habe dir etwas zu trinken mitgebracht. Verschütte es nicht. Es ist Milch. Frische Milch. Wenn du Geld hast, kannst du dir hier kaufen, was du willst. Wenn du dich ruhig verhältst, nehmen sie dir die Ketten ab, und du darfst auf die Flure. Ich bin schon dreihundertneunzehn Nächte hier. Dreihundertzwanzig Tage. Ich komme frei, wenn die Welt gesund wird. Sie sind verrückter als wir, mein Freund, aber sag ihnen das nicht. Sag ihnen nur, was sie hören wollen. Es sind zerbrechliche Menschen. Und jetzt 387
trink, denn wahnsinnig zu sein braucht Kraft.« »Dyer!« »Gib Antwort!« »Werden Sie heute mit uns sprechen?« »Ja nein ja nein ja nein ja nein ja...« »Was sagt er?« »Dass er mit uns sprechen wird.« »Sie werden heute nicht heulen?« »Nein.« »Das Heulen, Sir, ist etwas für Hunde. Woher haben Sie die Male an den Händen?« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Notieren Sie, Wagner. Der Irre ist ein äußerst listiges Geschöpf. Ich möchte wetten, er hat sich die Male selbst beigebracht. Wer ist die Frau, die Sie Mary nennen?« »Ich weiß nicht.« »Er ist ein abgefeimter Lügner. Aber Ihre Angehörigen kennen Sie doch wohl?« »Sie sind alle tot.« »Und was ist mit Ihren Freunden? Sogar ein Wahnsinniger hat ja vielleicht Freunde.« »Ich habe keine.« »Dyer! Möchten Sie frei sein? Auf den Fluren Spazierengehen?« »Ja, Sir.« »Was würden Sie dafür geben, frei zu sein?« »Ich habe nichts.« 388
»Und wenn Sie etwas hätten, was würden Sie dann geben?« »Alles.« »Alles ist zu viel, Sir. Das ist eine verrückte Antwort. Ha! Da haben wir ihn ertappt, Wagner. Ist der Patient höflich? Ist er willfährig?« »Es gibt Schlimmere als ihn.« »Tja, wir werden sehen. Noch einen Monat. Wenn er sich gut beträgt, bekommt er die Eisen abgenommen. Sorgen Sie dafür, dass er frisches Stroh für sein Bett bekommt. Ich habe noch nie so einen Gestank erlebt. Mein Hund würde sich weigern, hier hineinzugehen.« »Adam. Ich glaube, ich muss hier sterben.« »Das denken am Anfang viele.« »Und dann?« »Dann leben die, die nicht sterben.« »Wie lebst du?« »Indem ich mir keinen zum Feind mache.« »Reicht das?« »Ich ziehe mich in meinen Kopf zurück. Dort kann ich gehen, wohin ich will, reden, mit wem ich will.« »Ich habe eine Frau gehört. Sie hat gesungen. Gestern Abend oder am Tag davor. Ich weiß nicht mehr, wann.« »Die Wärter schmuggeln diese Frauen nachts herein. Sie sind für die Bedürfnisse der Wärter da.« »Gibt es denn auch wahnsinnige Frauen hier?« »Sie sind von uns getrennt eingeschlossen. Manchmal kann man sie sehen oder hören.« 389
»Adam? Wie lange bist du schon hier?« »Dreihundertsechzig Tage; dreihundertneunundfünfzig Nächte.« »Dyer!« »Sir?« »Ich möchte Ihnen den Kopf mit Zugpflastern belegen.« »Bitte nicht.« »Warum?« »Wenn Sie mir den Kopf mit Zugpflastern belegen, ist das ein sehr starker Schmerz.« »Ach was, keine Heilung ohne ein wenig Unbehagen.« »Bitte nicht.« »Ich glaube. Sie wollen gar nicht gesund werden.« »Doch.« »Ich glaube nicht.« »Doch, Sir.« »Dann werde ich Ihnen den Kopf mit Zugpflastern belegen. Ich bekomme immer meinen Willen. Ist es nicht so, Wagner?« »Ja, Sir, ganz genau so.«
4 Allerheiligen 1768. James Dyer wird von seinen Ketten befreit. Obwohl er nun auf den Fluren Spazieren gehen darf, bleibt er in seiner Zelle, bis Adam ihn hinausführt und der dortigen Gesellschaft vorstellt. Cromwell, Perikles; ein halbes Dutzend alttestamenta390
rischer Propheten, die mit dem Bierverkäufer, dem Jungen mit dem Eimer voll Schellfisch, dem Mädchen mit dem Korb voll Orangen feilschen. O'Connor ist der Wärter; er erinnert sich an James, stößt ihm die Spitze seines Stocks vor die Brust, bringt ihn zu Fall, verliert dann das Interesse. Von der Treppe aus scheucht ein pantomimisch predigender, verwirrter Methodist Schwärme teuflischer Bienen von sich weg. Andere Insassen sitzen, liegen oder stehen: in Lumpen, in Zusammengestücktem, in Decken. Sie kratzen an Wunden, wiegen sich auf den Absätzen, stöhnen, sabbern, weinen. Zu Füßen des Methodisten näht ein kahlköpfiger Schneider nichts an nichts. Alles hallt wider, wie von einer Ansammlung wilder Tiere in einer Kathedrale. James deutet durch das Gitter, das die Männer von den Frauen trennt. »Was ist das?« »Sie nennen es den Sarg«, sagt Adam. »Er dient dazu, die Gewalttätigen zu bestrafen.« Sie treten an das Gitter. Auf der anderen Seite steht eine schmale Kiste, fünf bis sechs Fuß hoch und auf zwei kleine Eisenräder gesetzt. Im oberen Ende befindet sich ein Loch von sechs Zoll Durchmesser. Durch es hindurch sieht James das fahle Oval eines Frauengesichts. »Das ist Dot Flyer«, sagt Adam. »Guten Tag, Dot«, ruft er ihr zu.« »Wie sie leiden muss«, sagt James. »Sie ist daran gewöhnt. Sie ist wild. Die Wärter 391
fürchten sie.« »Aber sie ist doch nicht ständig in dieser Vorrichtung?« »Sie hat auch ihre ruhigen Zeiten.« Aus dem Sarg dringt eine Stimme, entrückt und feierlich wie ein Orakel. »Wie heißest du?« »Ich bin's, Adam, Schwester.« »Und der andere?« »Er heißt James. Ist vor kurzem seine Eisen losgeworden.« Sie fängt zu singen an. »Ihr Vater war Musiker«, sagt Adam. »Er hat sich in einem Brunnen ersäuft.« Ihre Stimme schwillt an, das Lied dröhnt in der Kiste. Eine Wärterin, Passmore, klopft auf das Holz. Dot Flyer zerreißt die Luft mit ihrem Lied, verjagt, was noch an Schweigen an diesem Ort ist. Im Irrenhaus. Es kommt noch eine Wärterin. Sie karren den Sarg weg. Das Lied verklingt. Am nächsten Tag sieht er sie wieder, Schatten und Schimmer ihres Gesichts. Er tritt an das Gitter, lehnt sich dagegen, drückt die Wange daran. Manchmal scheint das Gesicht zu verschwinden, und dann gleicht die Vorrichtung, wie sie da auf ihren kleinen Rädern in dem von Licht und Dunkel gestreiften Flur steht, einem leeren Uhrenkasten. Das Licht dringt zu den Fenstern der offenen Zellen herein, und mit dem Wind hört er die Geräusche der Außenwelt, ihre leise Musik. Das Muhen des Viehs auf Moorfields, das 392
Rattern von Kutschen und die langgezogenen Rufe der fliegenden Händler an der London Wall... Dann blinzelt sie oder dreht den Kopf, und er nimmt sie wieder wahr. Er spricht nicht mit ihr. Er fragt sich, ob sie ihn beobachtet oder ob sie in ihrem Leiden niemand anders als sich selbst beobachtet. Er flüstert seinen Gruß, wartet und schlurft dann in seine Zelle zurück. Am nächsten Tag ist sie nicht da, und auch am übernächsten nicht. Er sieht sie erst nach einer Woche wieder, und dann nicht im Sarg, doch er erkennt sie an der Eigenart ihres Blicks. Sie steht inmitten eines Gefolges von Verrückten und Wärterinnen, das kupferrote Haar bis auf die Schädelhaut geschoren, ein Auge von einer grünen Schwellung entstellt, auf der Unterlippe das Flammen eines Ausschlags. Als er an das Gitter tritt, flüstert sie einer der versammelten Klatschbasen etwas zu. Alles dreht sich zu ihm um und lacht, am lautesten Dot Flyer. James schämt sich; seiner Lumpen, seines Altmännergesichts, der Tatsache, dass seine Bewegungen allesamt schwerfällig und kriecherisch ausfallen. Der Tatsache, dass er von ihr gemocht werden will. Als sie sein Unbehagen bemerken, lachen die Frauen noch lauter. Eine dreht ihm den Rücken zu, hebt ihre Röcke und zieht blank; einen riesigen, faltigen Hintern. Dot Flyer lacht nicht mehr. Sie sieht James an, und es liegt etwas von Mary in ihrem Ge393
sichtsausdruck, so direkt, so durchdringend ist er. Dann, als habe sie das Vorhandensein oder das Fehlen dessen, wonach sie gesucht hat, eindeutig festgestellt, geht sie von ihm weg in den Frauenflügel, hinter sich die Prozession ihres Gefolges, eine robuste Schwesternschaft von Elenden, eine Sororität der Verdammten. In den dunkelsten und beklemmendsten Gefilden der Nacht, während der Friedhofswache, versucht er dahinterzukommen, was er eigentlich geworden ist. Was ist er? Ein Irrer in einem Irrenhaus. Sich selbst fremd. Nachts nicht imstande, die Gedanken, zuweilen auch nicht den Körper zu beherrschen. In seinem Bart zeigen sich struppige graue Locken. Seine Hände zittern wie vom Schlagfluss. Manchmal, wenn er morgens aufwacht, schmerzt sein Bein so sehr, dass er, hätte er eine Waffe zur Hand, ohne viel Federlesen ein Ende machen würde. Er lebt in panischer Angst vor dem Arzt, vor Wagner, vor O'Connor, vor sämtlichen Wärtern, selbst denen, die ihn freundlich behandeln, denn nichts verstört ihn mehr als Freundlichkeit. Sein Herz ist wund, und diese Frau, diese Tochter eines Ertrunkenen, bewegt ihn. Ihr Name sickert in seinen Schlaf wie Wasser in einen Keller. Er denkt unablässig an sie. Er meidet sie. Mittlerweile ist es ihr Name, den seine Lippen formen, wenn man ihn nackt in eine Ecke zwingt und mit Eiswasser überschüttet; wenn man ihm den Kopf mit Zugpflastern verbrennt; wenn man ihm Schröpfköpfe setzt; wenn man ihn mit 394
Arzneien auf die Knie zwingt und das Erbrochene ihm in der Nase brennt und er Angst hat, seinen eigenen Magen auszuwürgen. Was für ein schöner Name! Zu seinem Erstaunen entwickelt er eine verzweifelte Eitelkeit. Er bittet den Barbier, ihn gründlicher zu rasieren, obwohl die Klinge ihm das Gesicht zerschrammt und ihm davon die Haut brennt, als sei sein Schweiß der Saft einer Zwiebel. Er bindet sich das Haar mit einem Strohband zusammen und stochert sich den Schmutz unter den Fingernägeln hervor. Eines Morgens, als die Glocke zum Ausschwemmen läutet, sieht er im Wasser seines Topfs das Spiegelbild eines anderen Mannes. Weder dessen, der er war, noch dessen, der er geworden ist. Es ist das Trugbild eines möglichen, noch nicht zur Welt gekommenen und vielleicht niemals zur Welt kommenden Menschen. Ein am Rande eines erleuchteten und überfüllten Raumes verhaltender Mann. Er lächelt, und die Augen, obwohl verquält, sind ruhig. Die Erinnerung daran verfolgt ihn wochenlang. Welche unmöglichen Anstrengungen muss er machen, um ein solcher Mann zu werden? Er muss den Panzer des Wahnsinns abwerfen; sich den gewöhnlichen Mut eines gewöhnlichen Menschen aneignen. Dazu ist er nicht bereit. Noch nicht. In seinen Gebeten, seinem drängenden Gestammel an den Gott, der sich um Wahnsinnige kümmert, fleht er darum, man möge ihm diese Gnade noch vorenthalten, die Erlösung noch lange aufschieben.
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5 »Mr. Rose«, sagt der Arzt, »dieser Mann ist aus Russland zu uns gebracht worden. Genauso ein Fall von fehlgeleitetem Urteilsvermögen, wie ich ihn ausführlich in meinem Traktat über den Wahnsinn beschreibe. Vielleicht haben Sie ihn ja gelesen?« »Ich habe davon reden hören«, sagt Mr. Rose. »Wie geht es dem Mann jetzt?« »Er ist nicht gewalttätig. Ich denke, wir können ihn nach und nach wieder hinbekommen. Möchten Sie seinen Schädel betasten, Sir?« »Nein danke. Was war denn die Ursache seines Wahnsinns?« »Das ist nicht festgestellt worden. Es gibt viele Wege zum Wahnsinn, Sir. Man kann ihn von Vater oder Mutter bekommen, von einem Fieber, von einem Schlag auf den Kopf. Manche werden vor Liebe oder vor Kummer wahnsinnig. Vom Alkohol. Von religiöser Schwärmerei. Von einem Sonnenstich. Von zuviel Lektüre oder von verdorbenem Fleisch oder einem Hundebiss.« »Ist er zur Schule gegangen?« »Ich glaube schon. Kennen Sie das Alphabet, Dyer? Können Sie lesen und schreiben?« »Ja, Sir.« Rose examiniert ihn. Er kommt ihm nicht zu nahe. Er fragt: »Ist er frei von körperlichen Krankheiten?« »Ja, völlig«, sagt der Arzt. »Und falls er Ihren 396
Zwecken entspricht, werden wir ihn scheren. Damit er achtbarer aussieht.« »Dann entspricht er wohl meinen Zwecken. Allerdings würde ich gern noch etwas von seiner Stimme hören. Auf die kommt es nämlich an.« »Sagen Sie etwas, Dyer«, befiehlt der Arzt. »Na los. Keine Fisimatenten jetzt.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sir. Ich weiß nicht, was der Gentleman hören möchte. Ich bin kein guter Unterhalter, Sir.« »Er stammt ursprünglich aus einer Grafschaft im Westen«, sagt Rose. »Somerset oder Gloucestershire. Er ist zweifellos zur Schule gegangen und hat irgendwann einmal in guter Gesellschaft verkehrt. Wenn nicht direkt ein Gentleman, so doch immerhin einer, der einem Gentleman hätte zu Diensten stehen können. Ein Haushofmeister, ein Schreiber. Ein vornehmer Barbier.« »Das ist ja eine wunderbare Fertigkeit, Sir, einen Menschen so genau an seiner Stimme zu erkennen«, sagt der Arzt. »Befänden Sie sich jemals in einer misslichen Lage, könnten Sie damit Ihren Lebensunterhalt verdienen.« Rose tritt näher an James heran. Er sagt: »Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.« Er ergreift James' linke Hand, hält deren Fingerspitzen mit den seinen fest. Er dreht die Hand um und meint: »Obwohl die Hände Schaden genommen haben, sind es doch gute Hände. Haben Sie je als Maler gearbeitet, Mr. Dyer, oder 397
vielleicht als Musiker?« James schüttelt den Kopf. Die Fragen des Mannes, sein Scharfblick beunruhigen ihn. Bisher ist er unerkannt geblieben, obwohl er weiß, dass er den Arzt schon einmal gesehen hat, in London, in einem anderen Leben. Mindestens zwei Besucher des Hospitals waren Menschen, die er kannte. Keiner hat ihn ausgewittert. Jetzt droht ein Fremder ihm auf die Schliche zu kommen. Er starrt auf den Boden, sagt: »Ich kann weder malen noch ein Instrument spielen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich früher gelebt habe. Ich erinnere mich nicht an die Zeit, bevor ich hierher gekommen bin.« Rose lässt seine Hand los. »Manchmal ist es auch notwendig, zu vergessen.« Er wendet sich an den Arzt. »Ich denke, Mr. Dyer sollte zu der Truppe gehören. Mit Ihrer Erlaubnis.« »Aber gewiss doch. Welche Rolle bekommt er denn? Die eines Verschwörers? Eines Geistes? Oder wie wäre es mit diesem komischen Kerl in gelben Strümpfen?« »Als Malvolio wäre er ausgezeichnet. Aber wir spielen Ein Sommernachtstraum. Ich habe schon eine Rolle für ihn im Auge, aber ich musserst alle zusammen sehen, ehe ich eine Entscheidung treffe. Ich hätte sie gern gleich morgen in einem großen geeigneten Raum beieinander. Man kann die Zeit, die dergleichen dauert, niemals überschätzen.« »Wir haben hier mehr Räume, als wir füllen kön398
nen«, sagt der Arzt. »Ich werde einen für Sie vorbereiten lassen.« Er ruft auf den Flur hinaus nach Wagner. Wagner kommt, bleibt in der Tür stehen. Der Arzt sagt: »Machen Sie den Menschen hier sauber. Holen Sie ihm frische Wäsche. Sagen Sie Callow, er soll es ihm in Rechnung stellen.« Wagner nickt, tritt zur Seite, um dem Gentleman Platz zu machen. An der Tür dreht sich Rose um; das Licht fängt sich in dem Diamanten an seinem Ohr. Er lächelt James breit an, das Gesicht reinste Verschmitztheit. »A bientôt, Mr. Dyer.«
6 Mit baumelnden Schlüsseln führt O'Connor sie die Treppe hinunter. Adam ist da. James geht neben ihm her. Er fragt: »Werden wir vor die Tür gesetzt?« »Vor die Tür gesetzt?« »Von hier weggeschickt.« »Wir werden Schauspieler, James. Dieser Rose soll ein Stück mit uns einstudieren. Wir sollen dadurch gesund werden, dass wir Gesunde spielen. Dass wir sie nachahmen.« Im Erdgeschoss hat man im vorderen Teil des Hospitals einen Raum vorbereitet. Auf einer Seite ist Mobiliar zusammengeschoben, und man hat ein kleines Feuer entzündet, dessen Hitze freilich der hier 399
herrschenden Kälte nicht beikommt. Die Frauen sind bereits mit ihren Wärterinnen da. Dot Flyer ist unter ihnen. Die Schwellung an ihrem Auge ist zurückgegangen. Ihr Gesicht sieht sehr jung, sehr blass aus. Heute hat sie nichts Großspuriges. An ihren Handgelenken sind Spuren von Fesseln zu sehen. Die Wärter lungern an den Wänden herum, zupfen an ihren Nägeln, blicken um sich, als wüssten sie nicht recht, wie sie hier ihre Autorität geltend machen sollen. Mr. Rose betritt das Zimmer. Er ist ein kleiner Mann, wunderschön gekleidet; eine Satinweste von der Farbe seiner Namengeberin, ein gold- und silberdurchwirkter Rock. Er steigt auf einen Stuhl, streckt die Arme aus, bringt den Raum zum Schweigen. »Ich bin Augustus Rose. Einige von Ihnen kennen mich bereits und haben meine Konzerte hier im Hospital besucht. Einige - dort sehe ich Mr. Lyle, guten Tag wünsche ich, Sir - haben an meinen kleinen Theateraufführungen teilgenommen. Nun denn, liebe Freunde, heute lade ich Sie ein, sich mit mir zu einem höchst ehrgeizigen Unternehmen zusammenzutun.« Er hält ein Bündel farbiger Zettel hoch. »Das hier sind Eintrittskarten für ein Theaterstück. Eine Geschichte voller Zauberei, die von Ihnen vor gewissen privilegierten und verständigen Angehörigen der Öffentlichkeit aufgeführt werden soll.« Er schwenkt die Eintrittskarten. Eine fällt ihm aus der Hand, flattert James vor die Füße. Der hebt sie auf.
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AUGUSTUS ROSE Esq., DER BERÜHMTE IMPRESARIO, präsentiert eine BÜHNENINSZENIERUNG von Mr. Wlm. Shakespeares »Ein Sommernachtstraum«, AUFGEFÜHRT VON DEN INSASSEN DES BETHLEHEM HOSPITAL im dortigen Park am 5. & 6. & 7. Juni 1769 Eintritt 2 Guineen Rose bückt sich nach der Eintrittskarte; James reicht sie ihm. Rose sagt: »Mr. Dyer, nicht wahr? Um es gleich zu sagen, Sir, ich habe vor, Sie zum Herzog zu machen. Was meinen Sie dazu?« Er hüpft vom Stuhl und beginnt, die Truppe aufzuteilen: Athener auf die eine, Elfen auf die andere Seite. Als er sie zu zwei krummen Reihen gruppiert hat, steigt er wieder auf seinen Stuhl. »Nun zur Besetzung der Rollen. Mr. Nathaniel Collins und Mr. John Collins, Sie habe ich als die Liebhaber Demetrius und Lysander vorgesehen. Mrs. Donovan, Sie geben die schöne und kriegerische Hippolyta. Mrs. Forbellow ist vorgesehen als Hermia, die Lysander liebt. Miss Poole als Helena, die Demetrius liebt. Miss Flyer als Titania, die Königin der Elfen. Mr. Adam Meridith als Droll, Mr. Asquini als Oberon, Mr. Dyer als Theseus, Herzog von Athen. Mr. Lyle als Schnock, Mr. George Dee als Weber Zettel, Mr. Hobbes als Egeus, Vater der -« »Ich spiele keine WEBERVETTEL.« 401
George Dee, ein Schlachter aus Houndsditch, glupschäugig, das Gesicht blutrot, drängelt sich zu Roses Stuhl vor. Die Wärter regen sich. Rose sagt mit sanfter Stimme: »Mr. Dee, Sie irren sich. Zettel ist eine wunderschöne Rolle, eine wirklich komische Rolle. Er ist ein ehrlicher Weber, von seinen Freunden geliebt. Er hat ja sogar -« »Eine VETTEL! Nein! Haben Sie mir nicht versprochen, dass ich einen Herzog oder großen Herrn spiele? Haben Sie das nicht versprochen?« Rose bringt mit erhobener Hand O'Connor zum Stehen. »Lieber Mr. Dee. Ich bin mir sicher, dass ich kein solches Versprechen abgegeben habe. Wenn Zettel Ihnen allerdings nicht zusagt, könnte ich Ihnen Flaut anbieten, eine sehr feine Rolle, wenn auch kleiner, oder Squenz...« Der Schlachter schüttelt den Kopf. Es ist, als sei ihm eine Wespe ins Ohr geflogen. »Kein Flaut, kein Squenz, keine VETTEL! Sie haben gesagt, ich werde Theseus, doch, das haben Sie!« Rose sagt: »Auf Ehre, Sir, das habe ich ganz bestimmt nicht, und Theseus hat viel Text. Ihn auswendig zu lernen wäre ein Berg von Arbeit.« »Ich ertrage es nicht, wenn man mich zurücksetzt! Ich ertrage es einfach nicht!« sagt Dee. Rose lächelt. »Das ist ja höchst authentisch! Ganz wie am Drury Lane. Mr. Lyle, würden Sie uns bitte retten, Sir? Würden Sie mit Mr. Dee tauschen? Sie haben, glaube ich, das nötige Talent, um auch den 402
Weber zu spielen.« Lyle schüttelt den Kopf. Dee beißt sich in die Hand; Zähne in die alten Narben. »Ich spiele den Theseus, oder ich lege Feuer an meinen Kopf! Warum quälen Sie mich? Warum werde ich verfolgt? Weil ich ein großer Tiermörder gewesen bin. Ja, ich weiß.« Er kneift die Augen zu, Tränen laufen ihm über die Wangen. »Sie haben recht damit, dass Sie mich verfolgen.« Mr. Hobbes umarmt ihn. »Lassen Sie ihn Theseus sein«, sagt James. »Ich kann die eine Rolle nicht von der anderen unterscheiden.« »Sehr freundlich, Sir«, sagt Rose. »Aber ich weiß nicht, ob der Weber das richtige für Sie ist.« »Mir ist es einerlei«, sagt James. Mr. Rose sieht auf seine Uhr. »Wir können das ein andermal entscheiden. Wenn Mr. Dee die Rollen gesehen hat, wird er bestimmt...« George Dee löst sich von Mr. Hobbes, wischt sich einen Rotzfaden von der Nase, glotzt James entzückt an. »DU bist die Vettel! Ich bin Theseus! Ich bin der Herzog von Athen!« Er beginnt, herumzuhüpfen, zu tanzen. Das ist ansteckend. Die Reihen lösen sich auf. Dot zupft James am Ärmel. Er stolpert ihr hinterher. Die nicht tanzen können, stehen da und zittern wie Propheten. Miss Forbellow kommt dem Feuer zu nahe und setzt ihre Röcke in Brand. Sie wird gelöscht. Ein Schemel segelt durch die Luft und zerschmettert ein Fenster. 403
Über das Getrampel, Geheul und Gebell hinweg ruft Rose: »Bis morgen, meine Freunde! Wir werden alle hoch berühmt werden!« Die Wärter greifen ein, schwingen ihre Taue, ihre Stöcke. Die Irren fliehen vor ihnen.
7 An trockenen Tagen proben sie im Park, in den sie hintereinander hinausmarschieren, blinzelnd wie die Bewohner einer unterirdischen Stadt, in den Händen die zerfledderte Volksausgabe des Stücks. Rose mimt die Rollen, singt sämtliche Lieder, zeigt den Elfen, wie man tanzt, und bewegt dabei die Beine wie ein eleganter Frosch. Es kommt zu Zwischenfällen. Helena versetzt Demetrius einen Kopfstoß. Lysander kotet sich unversehens ein. Dot wird, weil sie einen Wärter in die Nase gebissen hat, für eine Woche in den Sarg gesperrt. Davon unbeeindruckt, geht Rose seinem Handwerk nach. Er ist nicht zu erschüttern. Aus dem Chaos der ersten Zusammenkünfte schält sich ein dem geplanten nicht unähnliches Stück heraus. Zunächst unwillig und unglücklich, nuschelt James seinen Text nur, nimmt schließlich aber Zuflucht in der Figur des Webers und beginnt, in ihr versteckt, sich mit einer Freiheit zu bewegen und zu reden, die ihn verblüfft. Ihm wird leichter im Gemüt, seine Schmerzen lassen nach. An seinen Händen beginnen die Wunden von 404
Gummers Nadeln, von Cannings Zange zu verschorfen. Er hört sich selbst lachen; das verblüfft ihn. Er hat keine Erinnerung daran, wann er das letztemal gelacht hat. Dot glänzt; sie hat den Dreh heraus. Obwohl stets ungestüm, auch wenn sie zart gestimmt ist oder Zartes spielt, schüchtert sie James nicht mehr ein. Er macht ihr Augen, geht dicht neben ihr her, so dass sich manchmal die Haut ihrer Hände berührt. Noch fallen keine Liebesworte zwischen ihnen. Er kann sich ihr nicht erklären: eher ein sprachliches Ungenügen als mangelnde Entschlossenheit. Aber wenn sie ihre Szenen zusammen spielen, in imaginären Wäldern unter einem imaginären Mond erwachen, um sich herum Rose und die Irren in gebanntem Kreis, dann sind sie sich ganz nah und sprechen ihre Verse, als hätten Sie sie erdacht. »Komm, lass uns hier auf Blumenbetten kosen! Beut, Holder, mir die zarte Wange dar: Den glatten Kopf besteck ich dir mit Rosen Und küsse dir dein schönes Ohrenpaar.« [Sie setzen sich; sie umarmt ihn] In der Woche nach Ostern kommen die Requisiten. Säulen, schablonenhafte Bäume; ein Mond, mit dem Gesicht eines Mannes, der ein Verdauungsschläfchen hält. Es kommt ein Korb voller Kleider, Holzschwerter und Kronen. Umhänge und Wämser, steif vom 405
Puder und vom Schweiß anderer Schauspieler. Gewänder in leuchtenden Farben, rauh auf der Haut, kein einziges vollständig mit Knöpfen und Bändern ausgestattet. Und ein Eselskopf. Rose präsentiert ihn James. James setzt ihn sich auf die Schultern. Er ist schwer und stinkt nach verrottendem Fell. James blickt durch die nicht ganz gleichmäßigen Augen hinaus. Sein Atem rauscht in seinen Ohren wie das Meer in einer Muschel. Die Truppe hat sich um ihn geschart. »O Zettel, du bist verwandelt!« ruft Rose. James dreht sich um. Durch das linke Auge des Dings sieht er Dot, nackt, wie sie sich das prächtigste Kostüm über den Kopf streift; Gold und Scharlachrot. Das Kleid ist ihr zu groß. Sie rafft es mit den Fäusten, dreht sich um, knickst und kommt auf ihn zu. Er schließt die Augen. In den Stoppeln auf seinem Kinn kleben Tränen. Seine Hände zittern. Er wankt; er hat Angst, dass er umfällt. Jemand packt den Eselskopf, nimmt ihn ab; jemand anders stützt ihn. Er blinzelt die Tränen weg. Die Luft umhüllt sein Gesicht wie ein Tuch. Dot lächelt ihn an. Sie ist schön. Ein Abend im Mai. Im Park. Im kriechenden Schatten des Hospitals haben die Vornehmen von Athen, die Damen und Herren der Elfenwelt ihre Auftritte und Abgänge. Miss Poole, eine hochgewachsene, pockennarbige, verrückte Näherin von der Isle of Dogs, spricht als Helena. Adam - jetzt Droll - umschwebt sie in einem Unterrock, um seinen Zauber zu 406
wirken. James hockt außerhalb ihrer halbkreisförmigen Arena. Sein Stichwort ist: »Find't jeder Deckel seinen Topf, und allen geht's nach ihrem Kopf.« Er trägt den Kopf. Mittlerweile ist er daran gewöhnt. Er sieht Dot erst, als sie neben ihm sitzt. Adam sagt: »Auf dem Grund schlaf gesund! Gießen will ich dir still...« Dot nimmt James' Hand. Drückt ihre Lippen auf die Narben, führt die Hand dann an das Oberteil ihres Kleides, hält sie an die Schwellung ihrer Brust, so dass sich die Brustwarze unter seinem Handteller versteift. Er kann ihren Herzschlag spüren. Droll singt. »Hans nimmt sein Gretchen, jeder sein Mädchen...« Was sind das für Geschenke? Es regnet Freuden. Eine Stimme ruft sie. Sie rappeln sich auf, gehen benommen über das Gras. James hört das Schwirren eines Käfers, dann Dot, die sagt: »Komm, lass uns hier auf Blumenbetten kosen...« Mit jeder Begegnung werden sie kühner. Sie betasten sich hinter den Holzbäumen, im Schatten des Holzmondes oder an die Steinfassade des Gebäudes gedrückt. Um sie herum schleppt sich das Schauspiel seiner endgültigen Form entgegen. Mr. Hobbes erleidet einen Mastdarmvorfall und wird kurzfristig durch John Johnson, einen heruntergekommenen Schulmeister, ersetzt. Gott spricht zu den CollinsZwillingen und diktiert ihnen einen neuen Text, der 407
die Vererbung einer Leimsiederei in Brentford betrifft. Theseus wird noch etwas verrückter, als er schon war. In Hemdsärmeln und ohne Perücke scheucht Mr. Rose, der alles versteht und alles gelten lässt, sie ihrer Premiere entgegen. Die Wärter werden lax. Sie lümmeln herum, rauchen, spielen Würfel; schlafen ihre Räusche aus. Dot und James, die sich eine Woche lang immer näher an der Hospitaltür herumgedrückt haben, schlüpfen nun unbeachtet in das Gebäude und verlieren sich im Gewirr seiner Korridore. Sie lugen in Zimmer hinein, bis sie ein für ihren Zweck geeignetes finden. Ein großes Zimmer, leer bis auf hundert, zweihundert, fünfhundert aufeinandergestapelte Zwangsjacken; als Lichtquelle ein einziges hohes, vergittertes Fenster; der Lärm der Welt gedämpft wie in einem Traum. Sie legen sich auf die Jacken; die Jacken seufzen und verströmen ihren nach Schweiß, Hundedecke und Müll riechenden Hauch. Alle von der Seele im tödlichen Kampf ausgestoßenen Aromen. So, denkt James, wird das Fegefeuer riechen. Dot hebt ihre Röcke. James kniet sich hin, berührt sie leicht. Sie erschauert, beugt sich dann vor, zieht ihm die Hose bis zu den Knien herunter, greift nach seinem Schwanz, lässt die Zunge um dessen Kopf spielen. Er verspürt eine Lust, so gewaltig und so erschreckend wie jeder Schmerz, der ihm seit St. Petersburg widerfahren ist. Er taumelt von ihr weg, rappelt sich unbeholfen auf. Er hat Angst. Dot geht zu 408
ihm, hält ihn, den Kopf an seinen Nacken gelegt, von hinten fest. Im Ring ihrer Arme dreht er sich um und küsst sie hart auf den Mund. Sie schieben sich auf das Bett aus Jacken zu und lassen sich fallen, so dass ihre Zähne, ihre Gesichter gegeneinanderschlagen. Sein Eindringen ist wild. Wie die Kraft, die man aufwendet, um einen Menschen zu erstechen oder ein Tier zu töten. Er hat geträumt, es würde sanft sein. Dot keucht, stößt ihn in die Rippen. Die Schnalle einer Jacke bohrt sich in sein Knie, als er sich bewegt. Der Schmerz ist ein schwarzes Seil; er klammert sich daran. Er lacht jetzt, wie ein tatsächlich Wahnsinniger. Er sieht, dass auch sie lacht, die Stirn runzelt und weint, sich gegen ihn wehrt und ihm das Gesicht leckt. Er zieht sich aus ihr zurück und ergießt sich über ihren Bauch. Sie wischt es mit der Hand ab und wischt sich dann die Hand an einer der Jacken. James legt sich neben sie auf den Rücken. Im Zimmer ist eine Fliege, die ihnen vielleicht vom Garten hierher gefolgt ist. Eine Fliege als einzige Zeugin. Dot sagt: »Wir müssen jetzt zurück.« Er nennt sie: »Mein Herz. Meine Liebste.« Sie scheint nicht zuzuhören. Er würde ihr gern von Mary erzählen und dass er einmal etwas ganz Bestimmtes, eine bestimmte Art von Mensch, ein halber Mensch gewesen ist. Und wie er sich verändert hat, gleich einem Mann, der durch einen Zauberspiegel geschritten, einem Mann, der zerzaust vom Grabe auferstanden ist. Er denkt: Ich gleiche tatsächlich Lazarus. Hatte 409
Lazarus eine Frau? »Wir müssen jetzt gehen«, sagt sie. Durch das kleine Fenster fällt stumpfes, verzerrtes Sonnenlicht zwischen sie. Es trifft ihr Haar, seine geflickten Schuhe. »Dot?« Sie legt sich einen Finger auf die Lippen. »Dot, mein Leben.« »Still, Jem.« Sie steht an der Tür. Sie streckt ihm die Hand hin. Er ergreift sie ganz nüchtern. Sie gehen in den Garten zurück. Jetzt laufen sie nicht mehr. Sie waren etwa fünfzehn Minuten fort. Oberon schickt gerade Droll auf die Suche nach der Zauberblume. Man hat sie nicht vermisst.
8 An einem Samstagnachmittag um vier Uhr geht Augustus Rose mit dem Arzt an der Fassade des Bethlehem Hospital entlang und zeigt ihm die Tribünen, die die Zimmerleute seit drei Tagen errichten. Noch hört man den Lärm von Sägen, ein plötzlich anschwellendes Gehämmer, das unmelodische Pfeifen eines Handwerkers, aber die Arbeit ist weitgehend getan. Plätze für zweihundert Zuschauer, deren erste man schon in weniger als drei Stunden erwarten darf. Das Hospital präsentiert sich von seiner großartigsten Seite. Seine Fenster zeigen den Himmel über 410
Moorfields, das Gefaser federleichter Wolken. Fast gelingt es dem Geißblattduft, den Gestank des Abtritts zu überdecken. Nur die Gitter an den Fenstern der oberen Stockwerke und die an Möwen gemahnenden Schreie erinnern daran, dass dies nicht das ruhige Vorstadtanwesen eines Edelmanns ist. Der Arzt hat sich zum Empfang seiner Gäste umgezogen und trägt nun einen Anzug in glänzendem Pflaumenblau. Rose spaziert mit ihm auf dem Rasen umher, macht ihn auf den Palast, den Wald, die Winkel und Nischen aufmerksam, wo die Handlung sich abspielen wird. Vom Geld haben sie noch nicht gesprochen. Davon werden sie später sprechen. Zwischen ihnen herrscht ein zweckdienliches gegenseitiges Misstrauen. Keiner wird den anderen groß übervorteilen. Der Arzt fragt: »Das Stück enthält doch nichts, was die Kranken zu sehr erregt? Nicht, dass sie dem Publikum gegenüber gewalttätig werden. Das darf auf keinen Fall passieren.« »Es ist ein ruhiges Stück«, sagt Rose. »Ein sehr sanftes Stück. Es betäubt sie geradezu.« »Diese Dorothy Flyer. Sie haben keine Schwierigkeiten mit ihr gehabt?« »Dot Flyer, Sir, ist unser hellstes Licht.« Der Arzt sagt: »Ich habe Anweisung gegeben, sie mit äußerster Strenge zu behandeln, wenn sie uns Anlass dazu gibt. Diese Leute müssen uns fürchten, Mr. Rose.« »Das tun sie auch ganz bestimmt.« Der Arzt klimpert mit dem Silber in seiner Tasche 411
und murmelt: »Zu ihrem eigenen Besten.« Sie bleiben stehen und sehen den Handwerkern zu. Der letzte von ihnen verstaut gerade sein Werkzeug in einem Leinensack und wischt sich mit einem Tuch die Wärme vom Gesicht. Ein Hund hebt an einer der Bänke das Bein. Der Zimmermann tritt nach ihm, verfehlt ihn jedoch. Schließlich sagt Rose: »Möchten Sie vor Ihre Schauspieler treten?« »Meine Schauspieler, Sir?« »Sie betrachten Sie als ihren Gönner. Sie haben keine Vorstellung, Sir, welche Bedeutung Sie bei ihnen genießen.« Der Arzt nickt, gestattet sich ein Lächeln. Er sagt: »Wenn das so ist, unbedingt. Gehen wir zu ihnen.« Rose hakt den Arzt unter. Sie schlendern auf das große Tor des Hospitals, auf den Schatten zu, der es wie ein Burggraben umgibt. Aus einem hohen Fenster schreit ein Wahnsinniger. Tauben stieben auseinander. Der Zimmermann blickt auf, spuckt aus, schultert seinen Sack. Der Hund schaut ihm nach, springt dann auf eine Bank, dreht sich um und lässt sich zu wachsamem Schlaf nieder.
9 Die Truppe hält sich in dem Raum auf, in dem sie das erstemal geprobt hat. Man hat, auf Kosten von Mr. Rose, Wein getrunken, doch bis auf zwei Wärter ist noch niemand betrunken. Der Kostümkorb ist seines 412
Inhalts beraubt worden. Um die besseren Stücke - eine Papptiara, ein Paar extravagant spitzer Stiefel, einen Helm mit Federbusch von einer vergessenen Inszenierung von Tamburlaine - hat es Streit gegeben. Doch nun sind sie friedlich, manche reden mit sich selbst, manche starren Hand in Hand auf den Boden, manche wiegen sich in einer Ecke. James sitzt auf dem leeren Korb. Dot steht neben ihm, als Königin der Elfen kostümiert, das Gesicht auf beunruhigende Weise geschminkt. Er hat den Eselskopf auf dem Schoß. Er streichelt dessen Borsten und fragt sich, wie es kommt, dass er seinen Text komplett vergessen hat. Rose und der Arzt schauen herein, inspizieren sie wie Generäle, die am Vorabend der Schlacht einen Gang durchs Feldlager machen. Als sie wieder fort sind, werden die Fackeln um die Bühne angezündet, und die ersten Gäste treffen ein, dann die Musiker, die sich neben der Bühne niederlassen und ihre Saiten- und Holzblasinstrumente einspielen. Konzentrierte, unaufdringliche Männer. Als die Bänke gefüllt sind - die Frauen fächeln sich, die Männer sind laut, die Diener stehen etwas abseits, in ihren Livreen schwitzend -, tritt Mr. Rose aus dem Hospital. Es ertönt leichter Applaus, man hört ein paar Zwischenrufe. Rose hebt die Hand, heißt sie alle im Irrenhaus willkommen. Er sagt: »Rechnen Sie mit dem Unerwarteten. Heute Abend werden wir gemeinsam träumen, doch auf welche Weise, das muss ich unseren Schauspielern überlassen. Haben Sie keine 413
Angst, meine Damen...« Als erste treten Mr. Dee und Mrs. Donnelly auf. Sie erreichen das Grün vor den Bänken und bleiben dort stehen wie Kinder, die sich verlaufen haben, aneinandergeschmiegt und mit angstvollen Blicken auf die Gesichter der Fremden. Vom Publikum kommt fasziniertes Schweigen, dann eine gedämpfte Bemerkung, plötzliches Gelächter. Mrs. Donnelly beginnt zu sprechen, zuerst ihre eigene Rolle, dann die von Mr. Dee, beide in rasendem Tempo. Das Publikum johlt, irgendwer wirft eine Orange. Der Fleischer setzt sich ins Gras, zieht sich die Schuhe aus und reibt sich die Füße. Ein junger Mann in prächtigem Rock kommt aus dem Haus geflitzt und stibitzt die Schuhe; eine Stimme imitiert das Schmettern des Jagdhorns, und Mr. Dee jagt den jungen Mann hinten um die Tribüne herum. Die Brüder Collins treten auf. Mrs. Donnelly spricht mit fest zusammengekniffenen Augen deren Text, bis Nathaniel Collins sie zu Boden stößt. Mr. Dee erscheint mit einem seiner Schuhe wieder. Er blutet an der Lippe. Er schwenkt den Schuh über seinem Kopf. Man hört Bravorufe. Mr. Rose tritt auf. Er sieht zufrieden aus, als verlaufe der Abend viel besser, als er gehofft hat. Er beruhigt das Publikum, zwinkert und deutet auf Dot Flyer, die mit ihrem Elfengefolge zum vorderen Teil der Bühne getappt kommt. Die Flammen der Fackeln tanzen in ihrem Haar. Sie trägt ihren Text - teils Shakespeare, teils eigenes Geplapper 414
- mit einer Frische, einer Lüsternheit, einer liebenswerten Tollheit vor, die das Publikum zu hingerissenem Schweigen bringt. Zwischenrufer werden niedergezischt. Man wirft Münzen in das Gras vor ihren Füßen. James spielt seine Rolle, als sitze er in der Luft über seiner rechten Schulter und sehe sich selbst zu. Mitten im Stück tut er plötzlich einen heftigen Zeitsprung und wird einen Moment lang wieder zum Geschöpf seiner Vergangenheit, gelassen und stolz. Er erschrickt, und ihm wird übel wie von einem Schlag in den Solarplexus. Dann geht es vorüber, und die Worte, von denen er befürchtet hat, er habe sie vergessen, ergießen sich aus seinem Mund, und seine Hände vollführen wieder die Gesten, die Mr. Rose ihm so geduldig beigebracht hat. Er ist ein grüblerischer, melancholischer Zettel, aber das macht sein Herumgetolle nur um so alberner und Titanias Liebe zu ihm nur noch absurder. Von den Bänken kommt Gelächter; die Zuschauer sind aufrichtig belustigt, und als Dot ihn umarmt, klatschen sie gerührt.
10 In der zweiten Vorstellung sind die Schauspieler gelassener. Bedrohlich sind die Zuschauer. Im Sonntagssuff, unruhig, auf Streit aus. Sie jubeln rasch und schwenken ebenso rasch um. Eine Viertelstunde vor Ende des Stücks bricht ein Teil der Tribüne zusam415
men, Männer und Frauen fallen hintüber und landen heulend im Gras oder im Schoß ihrer Nachbarn. Eine Frau bricht sich den Oberarm. Niemand kommt ums Leben. Am Ende der Vorstellung schleudert jemand eine Flasche nach Roses Kopf. Der weicht ihr sehr gewandt aus. Der Arzt ist wütend. An diesem Abend gibt es keine Feier; keinen Wein, kein Tanzen. Adam sitzt bei James in dessen Zelle. Von fern können sie sie hören, Rose und den Arzt, wie sie sich in den Verwaltungsräumen im Erdgeschoss aus Leibeskräften anbrüllen. »Hast du schon einmal geliebt?« fragt James. »Eine Frau geliebt?« »Ich war verheiratet, James. Das ist schon lange her. Sie war jung. Sie ist gestorben.« »Das tut mir leid.« »Es ist schon lange her. Ich habe gesehen, wie es mit dir und Dot steht, James.« »Ja, aber ich kann nicht sagen, ob es Liebe ist, denn ich glaube nicht, dass ich schon einmal geliebt habe.« »Ich habe das Licht in dir gesehen, in deinen Augen, wenn du sie ansiehst. Dieses Licht ist die Liebe.« »Adam, ich kann nicht sagen, was ich mehr fürchte. Dass sie mich liebt oder dass sie mich nicht liebt.« »Es ist immer gefährlich, Bruder, das Lieben.« Die dritte Vorstellung des Stücks. Die letzte. Die Tribüne wird abgestützt, der Arzt gerät erneut in Rage. Die Schauspieler rezitieren ihre Rollen liebe416
voll, nehmen Abschied von den geborgten Worten. Nach der Vorstellung lässt Lord C. Dot eine Guinee zukommen; diese gibt sie Dolly Kingdom, einer älteren, ehrlichen Wärterin, und schickt sie Wein und Austern kaufen. Die Schauspieler tanzen, noch immer im Kostüm. Als Wein und Austern kommen, gebracht von Dolly Kingdom und einem Jungen aus dem Weinladen, hält die Musik inne, die Flaschen werden geleert, unter den Füßen knirschen Austernschalen. Die Luft ist schwer von Schweiß und Meeresgerüchen. James blickt sich nach Dot um. Er kann sie nicht sehen, ebensowenig wie Asquini, der ihr etwas ins Ohr geflüstert hat, als die beiden, Oberon und Titania, zusammen auf ihr Stichwort warteten. Asquini ist ein schöner Mann, sein Wahnsinn nicht widerwärtig. Er spricht oft gut; er hat die Welt gesehen, und was er nicht gesehen hat, erfindet er mühelos. Er stinkt auch nicht wie die meisten Insassen, und James hat erlebt, wie er Dot mit seinen lockenden Augen ansieht. Als Wagner sich auf der Suche nach einer Flasche, in der noch ein Schluck Wein ist, von der Tür entfernt, schlüpft James hinaus. Sein Bein pocht. Er lehnt sich an eine Wand, zieht sich die Schuhe aus und läuft dann wie ein Affe auf das Zimmer mit den Zwangsjacken zu. Unter der Tür scheint Licht durch. Er weiß, was er sehen wird, wenn er sie öffnet: Asquinis Hintern, der in Dots Schoß auf und ab hüpft. Er legt das Ohr an die Tür, hört nichts. Haben 417
sie ihn den Flur entlangkommen hören? Lauschen sie auf sein Lauschen? Er drückt die Klinke. Die Tür bewegt sich fast unhörbar in den Angeln. Sein Blick wird von der Kerze angezogen, deren Flamme ganz gerade brennt, bis die Zugluft vom Flur sie umkippt. Dot sagt: »Mach die Tür zu, Jem.« Sie ist allein, sitzt auf einem Hocker neben der Kerze. Ihr gegenüber steht ein zweiter Hocker und auf diesem eine angeschlagene Porzellanschüssel. Die Schüssel ist voller Kirschen mit üppig dunkler Haut, in den grünen Stielen fängt sich das Licht. »Sie sind von Mr. Rose«, sagt Dot. »Er macht dir Geschenke?« James blickt in die Runde, als könnten sich in den Schatten des Zimmers Asquini oder Rose oder beide verbergen. Dot lacht. Sie nimmt die Schüssel und stellt sie sich auf den Schoß. James setzt sich auf den anderen Hocker. Sie steckt sich eine Kirsche in den Mund, zieht James an den Säumen seines Rocks zu sich heran und lässt die Frucht von ihrem in seinen Mund gleiten. Auf diese Weise arbeiten sie sich durch die halbe Schüssel. Das hat nichts Schlüpfriges. Nichts, was direkter wäre als ein Lächeln. Sie begraben die Steine unter den Zwangsjacken. Eene, meene, muh. Als sie gegessen haben, legen sie sich auf die Jakken. Er nimmt sie. Sie zeichnet ihm mit ihren Nägeln den Rücken, macht ihm mit ihrer Kirschzunge und ihren Kirschlippen das Gesicht klebrig. Es geht rasch, zärtlich, fast beiläufig vonstatten. 418
»Gott erhalte Augustus Rose«, sagt Dot. »Amen. Dot?« »Was, Jem?« »Heirate mich.« »Wahnsinnige heiraten nicht, Jem.« »Dann hören wir eben auf, wahnsinnig zu sein, denn wir werden heiraten.« »Du kennst mich nicht, Jem. Ich kann mir nicht immer helfen. Ich wäre binnen einem Monat wieder hier oder in Tyburn, mit einem Strick um den Hals.« »Ich würde dir helfen.« »Du kannst dir doch selber kaum helfen.« »Dot!« »Pst. Jem. Probier mal davon.« Sie zieht den Korken aus einer Flasche. Dickes grünes Glas. Er nimmt die Flasche, schluckt wütend. Es ist kein Wein. Er verschluckt sich, verkleckert etwas von der Flüssigkeit. In seiner Brust breitet sich Wärme aus. »Schnaps?« Dot nimmt die Flasche. James sieht der Gleitbewegung ihres Kehlkopfes beim Schlucken zu. Er hat das noch nie verstanden, diese Art des Trinkens. Sie war Teil der Hässlichkeit und des Geheimnisses anderer Menschen. Nichts, was er je tun würde, je tun müsste. Als sie ihm jetzt die Flasche reicht, ist er gierig auf seinen Anteil. Als sie leer ist, liegen sie auf den Zwangsjacken einander in den Armen, ihr Atem eine feurige Wolke um ihre Köpfe, neben denen die Kerze immer weiter herunterbrennt, die Flamme im Luftzug 419
hüpfend und zuckend, das Zimmer von Schatten zitternd. Sie dösen, wachen, dösen. James hört das Gerumpel von Wagen, den Lärm eines fernen Streits; hört Schritte auf dem Flur. Er löst sich schwerfällig aus Dots Armen. Seine Bewegungen sind gehetzt und dennoch langsam, wie die eines Menschen, der sich unter Wasser auszieht. Er will die Kerze auslöschen, damit ihr Licht sie nicht verrät. Es ist ein langer Weg bis zur Kerze. Er berührt die Flamme. Sie verbrennt ihn und geht dann aus, ein rotes Pünktchen am Ende des Dochts. »Was ist denn, Jem?« fragt Dot. Noch während sie spricht, geht die Tür auf. Zunächst können sie nicht erkennen, wer da ist; es ist ein Mann mit einer Laterne, zwei Männer mit Laternen, vielleicht auch mehr. Dann betritt O'Connor den Raum. Man sieht den Schimmer, hört das Klirren von Ketten. Der Schnaps lindert die schlimmsten Schmerzen, und überdies war O'Connor selbst zu betrunken, zu träge, um viel Schaden anzurichten. Ein paar Tritte, ein Dutzend Schläge mit dem Stock; niederträchtig, aber erträglich. James lernt, zu überleben, Schmerzen zu ertragen; die Quellen des Mutes zu erschließen. Die Liebe ist seine Lehrmeisterin. Er leckt sich die Finger, greift nach unten und reibt sich vorsichtig die wundgescheuerte Haut unter den Fesseln an seinen Beinen. Ketten, Eisen; eiserne 420
Hosenbänder hat man sie bei der Marine genannt. Gott sei Dank haben sie ihm weder eine Zwangsjacke angelegt noch die Hände gefesselt. Dot haben sie ohne großes Gerangel weggebracht. Einen Wärter auf jeder Seite, hat sie sich schläfrig, betrunken, lächelnd nach ihm umgesehen. Gesagt hat sie nichts. Er hat sie lachen hören, als man sie in den Frauenflügel geschafft hat. Er stellt sie sich vor, wie sie in ihrer Zelle sitzt, in Ketten wie er, und in der heißen Luft an ihn denkt, so wie er an sie denkt. Zum Schlafen ist es zu heiß; sein Kopf schwirrt von Plänen. Er betrachtet den Schatten seiner Hände. Könnte er nicht eines Tages seine Geschicklichkeit, sein Talent wiedergewinnen? Das kann doch nicht alles verschwunden sein. Warum nicht als Knochensäger in irgendeinem Landstädtchen leben? Irgendwo im Norden oder im fernen Westen. Weit weg von hier, von allen Ambitionen. Bauern zusammenflicken; den Landadel zur Ader lassen. Er brauchte nur ein Pferd und die Geduld, über Land zu reiten. Er könnte seine eigenen Pillen drehen, wie es ihm Mr. Viney einst beigebracht hat, und Dot würde Eier und sonstwas verkaufen, und sie würden in einem kleinen Einspänner zur Kirche fahren und wie im Paradies leben, keines Menschen Feind. Die Phantasie wärmt ihn wie der Schnaps. Er kriecht in das schmutzige Stroh, schiebt seine Füße so bequem zurecht, wie es eben geht, und bleibt dann 421
den größten Teil der Nacht so liegen, um die Einzelheiten seiner künftigen Freude durchzugehen. Im Morgengrauen steht er auf und schlurft ans Fenster. Rechts, über der Bishopsgate Street, über der Halfmoon Alley und dem Armenhaus von London, ist der Himmel mit Perlmutt gestreift. Er wartet, hört das matte Schlagen der holländischen Kirche und die Vogelrufe, zunächst nur wenige, fern voneinander, zögernd wie aus Furcht, die Dämmerung könnte trügerisch sein, oder aber aus Scheu vor der großen Stille über den Feldern von London. Dann rufen Hunderte gemeinsam, ein großes Klanggewirr, von dessen Lärm die Luft erzittert. Es ist, als habe er noch niemals Vögel gehört, noch niemals die Morgendämmerung gesehen. Er hat auch noch nie so geweint. Die Welt ist gut. Sie ist erstaunlich.
11 Die Wahrheit sickert durch. Als Gemunkel, als Gerücht. Im Unterleib von Lügen. Wie man sie in ihre Zelle gebracht hat; wie sie sich gegen sie gewehrt hat; wie man sie überwältigt und in Ketten gelegt hat, an Händen und Füßen; wie man ihr dann ein Halseisen angelegt und es mit einem Stück Kette an dem Ring an der Zellenwand befestigt hat. Wie man sie allein gelassen und sie ihnen nachgespuckt hat; sie verflucht und die Hölle zum Zeugen angerufen hat. Am Morgen findet man sie an der Wand sitzend, 422
die Beine gerade ausgestreckt, den Kopf im Halseisen verdreht, die Augen halb geöffnet, die Zunge zwischen den Zähnen hervorstehend. Man befreit sie von den Ketten und weiß schon bei der ersten Berührung des kalten Leibes, dass sie tot ist. Eine der Frauen auf dem Gang sieht, wie der Leichnam auf das Bett gelegt wird, und ehe man sie zu fassen bekommt und zum Schweigen bringen kann, hat sie es schon herausgeschrien. Der Schrei wird von anderen aufgenommen, pflanzt sich durch verriegelte Türen und an Gitterstäben vorbei fort. Die um ihre Sicherheit fürchtenden Wärter räumen den Flügel und kommen eine halbe Stunde später wieder, ein Dutzend von ihnen mit Tauenden und Knüppeln. Der Arzt ist bei ihnen, schreitet ihnen unrasiert voran. Er untersucht die Leiche, erklärt Dot für tot: ein Schlaganfall. Bei Geisteskranken nichts Ungewöhnliches; bei einem gewalttätigen Geschöpf wie Dorothy Flyer zu erwarten. Er trifft Anordnungen: die Zellen sind verschlossen zu halten. Man wird Dot am nächsten Tag so früh wie möglich begraben. Als er geht, kommt Nachricht, dass ein Wahnsinniger im Männerflügel gerade versucht, O'Connor umzubringen. O'Connor sitzt auf der Treppe. Er kann nicht mit ihnen reden, weil sein Kiefer gebrochen ist. An seinem Hals und seiner Schulter ist Blut. Sein linkes Ohrläppchen ist abgebissen. Er zeigt es ihnen, einen Fleischfetzen auf seiner Handfläche; dann deutet er 423
auf James Dyers Zelle. James liegt augenscheinlich ruhig auf dem Zellenboden. Er fragt den Arzt, ob es stimmt. Zunächst gibt ihm der Arzt keine Antwort, sondern stellt selbst Fragen: Was er sich dabei gedacht habe, O'Connor anzugreifen? Was Dot Flyer ihm bedeutet habe? Vielleicht in der Absicht, das Gespräch zu beenden und sich zu seiner morgendlichen Stärkung zu begeben, gibt er zu, dass es stimmt. Sie habe einen Gehirnschlag erlitten. Sie sei tot. Dann wiederholt er das Wort gereizt, brüllt es: »Tot!« Bei diesem zweiten »tot« beobachtet der Arzt bei seinem Patienten eine merkwürdige Veränderung, als sei in dessen Innerem ein zarter Glasstiel zerbrochen. Einem leisen und dennoch tiefen Ausatmen folgt äußerste Reglosigkeit, dann ein Muskelzucken im Gesicht, wie es mit bestimmten Arten von Vergiftung einhergeht. Wagner fragt, ob er dem Patienten die Hände fesseln soll. Der Arzt schüttelt den Kopf und verlässt die Zelle mit den Worten: »Ich habe subtilere Ketten als Sie, Mr. Wagner.« Am nächsten Morgen steht Adam neben James am Fenster von dessen Zelle. Sie betrachten den Leichenzug: den Kaplan, Dolly Kingdom, Passmore und ein paar unbekannte, für diesen Anlass gedungene Männer als Sargträger. Ein verkommenes Gefolge, das vom Hospitaltor zum Hospitalfriedhof trottet, der Sarg auf einem Karren, den ein einzelnes Pferd zieht. 424
Die Grablegung zu beobachten ist nicht möglich. Nach einer halben Stunde kommen sie zurück, der Kaplan und die Wärterinnen. Die gedungenen Männer fahren auf dem Karren und rauchen.
12 Sie machen ihn mit Arzneien kirre. Brechmittel und Zugpflaster, schlimmer als bei seiner Ankunft. Er kann sein Essen nicht bei sich behalten. Die Wärter kippen ihm Brühe in den Schlund; er würgt sie hoch, in das Gefäß zurück. Sie geben sie ihm ein zweites Mal ein. Sie hat ihm nichts hinterlassen. Kein Medaillon, kein Andenken, keinen Brief. Keine Abschiedsworte. Nichts, was ihn trösten oder aufrichten könnte. Was soll er mit seiner Liebe anfangen? Wo soll sie hin? Sie geht in ihm vor die Hunde. Er geht vor die Hunde. Er stiehlt vom Barbier des Hospitals ein Rasiermesser. Die Klinge ist rostig, aber sie wird scharf genug schneiden. Er bewahrt es wie einen Schatz. Versteckt es in seinem Schuh. Bliebe sie zwanzig, dreißig Jahre lang versteckt, er könnte es ertragen. Es ist das Niemals, das ihn zugrunde richtet.
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Fliegen setzen sich auf sein Gesicht. Er lässt sie krabbeln. Dann sind die Fliegen verschwunden. Es ist kälter. Der Wind fängt sich in seinem Fenstergitter. Die Besucher, die angeekelt und entzückt an den Zellentüren vorbeischlendern, tragen Pelze und warme Mäntel. Eines Morgens liegt Schnee auf dem grauen Stroh seines Betts. Er sieht hinaus. Die Moorfields sind zolldick damit bedeckt. An einem Teich liefern sich ein Dutzend Kinder eine Schneeballschlacht. Zwei Männer mit Bündeln auf dem Rücken stapfen auf die Stadt zu. Schwarz und hartnäckig wie Insekten, hinterlassen sie eine winzige Fußspur. Einer stolpert; der andere bleibt stehen, geht zurück und bietet dem Gestolperten den Arm als Stütze. Wie langsam sie gehen! Was ist in den Bündeln, das eine solche Anstrengung rechtfertigt? Da plötzlich, ganz unerwartet, die Erinnerung an eine andere, langsam über den Schnee gleitende Gestalt. Der Pfarrer auf dem Weg zu dem Wald beim Kloster. Der dicke, gutmütige Pfarrer, wie er stehenbleibt, sich umdreht und winkt.
13 Am Weihnachtstag findet ein von Mr. Rose veranstaltetes Konzert statt. Die Wärter führen James in den Raum hinunter, in dem er einmal für das Theaterstück geprobt hat. Das Rasiermesser in seinem Schuh lässt ihn auffällig humpeln. Die Wärter führen ihn Rose 426
vor, stellen ihre Handfertigkeit zur Schau. Rose tritt vor, verbeugt sich und sagt mit traurigem Gesicht: »Es tut mir leid, dass Sie sich nicht wohl befinden, Sir. Wenn diese Herren erlauben, hätte ich gern, dass Sie hier vorne sitzen.« Als die Insassen versammelt und mit Püffen und Blicken zum Schweigen gebracht sind, stellt Rose Faustina Bordoni vor, eine schmächtige, flitterbesetzte Gestalt, die nach der vornehmen Mode von 1730 gekleidet ist. Wenn sie sich bewegt, macht sie Geräusche wie ein Schiff auf See; es ist das Knarren ihres Korsetts, das Knistern vieler Ellen Seide und Taft. Ihr Gesicht ist schläfrig und großartig, die papierene Haut mit Rouge aufgefrischt und mit einem Tüpfel versehen, die Augen braun und glänzend unter schweren Lidern. Ein dicker junger Mann begleitet sie am Klavier. Sie singt mit dünner, aber wohltönender Stimme. Die Irren sind bewegt. Ein Mann namens Clapp springt von seinem Platz auf und umarmt sie. Die Wärter zerren ihn weg. Signora Bordoni lächelt, scherzt auf italienisch mit dem dicken jungen Mann und singt weiter, während der Regen, der dem Schnee gefolgt ist, melodisch an das Fenster tropft und pladdert. Nach dem Konzert spricht Rose erneut mit James, spricht von Dot Flyer und seiner Wertschätzung für sie. Später sieht James ihn in eingehendem Gespräch mit dem Arzt. Am zweiten Weihnachtstag nimmt man James die Ketten von den Füßen ab; es kommt ein 427
Bündel Decken. Am Dreikönigsabend gibt Wagner einen Anzug aus dunkelblauer Wolle bei ihm ab. James fürchtet sich davor, ihn anzuziehen. Er erscheint ihm wie eine List, um ihn wieder in die Welt zurückzulocken. Tagelang liegt das Bündel halb geöffnet auf dem Boden. Dann schält er sich aus seinen Lumpen, steht nackt, schaudernd und spitzknochig in seiner Zelle und zieht den Anzug an. Die Wärter meiden ihn. Selbst der Arzt gibt sich damit zufrieden, lediglich im Vorbeigehen in seine Zelle zu schauen, zu nicken und weiterzuhasten, um seine Künste an weniger sichtbaren, weniger geschützten Menschen zu erproben. James nimmt das Rasiermesser aus seinem Schuh und schnitzt, ein Palimpsest, in ein Stück alter Täfelung unbeholfen ein Herz, Dots Namen, seinen eigenen und das Datum: Februar 1770. »Adam?« »Sprich, James.« »Ich werde nie wieder lieben.« »Wir können es uns nicht immer aussuchen.« »Ich werde nie wieder lieben.« »Nichts bleibt, wie es ist, Bruder. Und nie ist ein jämmerliches Wort.« »Als sie gestorben ist, deine Frau, was hast du da gemacht? Adam?« »Ich bin wahnsinnig geworden.« 428
»Und hast du seither noch einmal geliebt?« »Das ist wie mit dem Regen, Bruder. Man kann ihn nicht immer vermeiden.« Er wartet, leicht entsetzt darüber, dass er genest, dass er nicht genügend Charakter hat, um an Kummer zu sterben, dass das Leben in ihm zu hartnäckig ist. Und er wartet auf sie, die, wie ihm Träume versichert haben, kommen wird. Die Urheberin. Die raffinierte Hexe. Er hält vom Fenster aus nach ihr Ausschau, Tag für Tag, bis zu einem Abend im März, an dem er sich ihrer Gegenwart sicher ist. Eine Gruppe von Menschen, Ausländern, steht an der Treppe, die in den Park des Hospitals führt. Sie bewundern das Hospital, machen sich mit behandschuhten Händen auf seine Besonderheiten aufmerksam. Die böige Luft trägt Gesprächsfetzen zu ihm herauf. Dann gehen sie weiter, und er sieht sie hinter ihnen stehen, in dunklem Kleid, mit einem roten Tuch um den Hals. Er winkt ihr nicht zu. Sie wird wissen, dass er sie gesehen hat. Sie wartet zehn Minuten, reglos wie ein Baum, und geht dann Richtung Finsbury davon. Am nächsten Tag ist sie wieder da. Wie sie ihn auf die Probe stellt! Versteht sie denn nicht, dass es noch zu früh ist? Dass er noch nicht die Kraft hat? Dass er noch nicht gesund ist? Dennoch vertraut er ihr mehr als sich selbst. Sie ist ihn holen gekommen. Er muss 429
gehen. Die Sicherheit, mit der er das weiß, ist eine Erleichterung. Er geht zu Wagner und bittet um ein Gespräch mit dem Arzt. Das Gespräch wird gewährt. Drei Tage später kommt Wagner ihn früh aus seiner Zelle holen, und James humpelt hinter ihm her durch Türen, die Wagners Schlüssel geräuschvoll aufsperren. Stein weicht Teppich, Dunkelheit Licht. Die Luft verliert ihren Geruch nach Inkontinenz und riecht statt dessen nach Wachs, gekochtem Fleisch und Steinkohle. Auf einem Tisch an einem offenen Fenster steht eine Vase mit Narzissen. James kann kaum daran vorbeigehen: Ideale aller Schönheit, aller Vollkommenheit. Wagner ruft ihn, nicht unfreundlich, an. Ruft, als habe er oft Menschen in James' Zustand gesehen, von Blumen wie betäubt. Eine Tür, breit und glänzend poliert. Wagner klopft. Sie werden zum Eintreten aufgefordert. Der Arzt, das schlaffe Gesicht von einer zinnoberroten Samtkappe gekrönt, sieht sie hinter seinem Schreibtisch hervor an. An einem kleineren Schreibtisch, weiter hinten im Zimmer, sitzt ein Sekretär, die Arme in Schonern aus Baumwolle, um seine Ärmel vor Tinte zu schützen. Vor dem Arzt liegt eine aufgeschlagene Zeitung, daneben stehen ein halbleeres Glas Rotwein, ein Teller Rosinenkuchen und eine Tasse, der kräftiger Kaffeeduft entströmt. Er fragt Wagner: »Was will er?« »Bitte um Verzeihung, Sir«, sagt der Wärter, »aber er möchte das Hospital verlassen.« 430
»Verlassen?« »Ja, Sir. Das hat er mir gesagt.« Der Arzt starrt James an. Einen Moment lang hält James dem Blick stand, dann schlägt er die Augen nieder. Er hat Angst, dass seine Beine zu zittern beginnen. »Hält er sich denn für genesen?« fragt der Arzt und blickt dabei von James zu Wagner. Nun sieht Wagner James an. Hier bei diesen Männern, die ihm übelwollen, fühlt sich James alles andere als genesen. Er hat Angst, dass er sich irgendwie verraten, irgend etwas Verrücktes sagen wird; dass er zu singen oder zu geifern anfangen oder kreischend auf die Knie fallen wird. Er weiß, er muss seine Stimme finden. Die Stille im Zimmer zieht sich schon gefährlich in die Länge. »Ja«, sagt er. Der Klang seiner schon beinahe aggressiv lauten Stimme bricht den Zauber. Er blickt auf. »Was meint er?« fragt der Arzt. »Was meint er mit ja? Sie möchten fort, Dyer?« »Ja«, sagt James. »Tja, Sir«, sagt der Arzt und nimmt sich noch ein Stück Kuchen, »und was werden Sie mit sich anfangen, falls ich es für angemessen halte, Sie zu entlassen? Heraus mit der Sprache.« James sagt: »Ich werde ruhig leben. Ich werde keines Menschen Feind sein.« »Und wovon wollen Sie leben? Wovon wollen Sie satt werden?« 431
James blickt flüchtig zu dem Sekretär hinüber. Er sagt: »Ich kann lesen und schreiben. Ich könnte mich mit der Feder betätigen...« Der Arzt lacht, schlägt mit der Hand auf den Tisch, dreht sich auf dem Stuhl nach hinten. »Haben Sie das gehört, Price? Sekretär möchte er werden. Schreiber. Sagen Sie, ist das eine passende Beschäftigung für einen ehemals Irrsinnigen?« Zu James sagt er: »Wo wollen Sie denn hin?« »Ich habe eine Schwester«, sagt James, von seiner Antwort selbst überrascht. »In Somerset.« »Glauben Sie, sie freut sich, Sie zu sehen, was? Ihren wahnsinnigen Bruder? Haben Sie vor, zu Fuß dorthin zu gehen?« »Ja, Sir.« Langes Schweigen tritt ein, während der Arzt seinen Kuchen isst. Wieder senkt James den Blick auf den Teppich. Der Teppich hat ein besonderes Muster, eine blaurote Arabeske, von der er kaum die Augen wenden kann. Er weiß, dass in diesem Augenblick über sein Schicksal entschieden wird. »Mr. Price«, sagt der Arzt, »lassen Sie sich von dem Patienten seine Entlassung quittieren. Wenn er Sekretär werden will, müsste er ja imstande sein, mit seinem Namen zu unterschreiben.« Price winkt James an seinen Schreibtisch, klappt ein Buch auf, dreht es um und hält James eine Feder hin. Er tippt auf die Stelle, wo James unterschreiben muss. 432
Der Arzt hat wieder nach seiner Zeitung gegriffen. Er sagt: »Sie sind entlassen. Trinken Sie keinen starken Alkohol. Meiden Sie jegliche Aufregung. Insbesondere Frauen. Ausgenommen Ihre Schwester natürlich. Eine Schwester ist akzeptabel.« James versucht, etwas zu sagen, bringt aber kein Wort heraus. Er fühlt sich erschöpft, als habe er während des ganzen Gesprächs etwas so Großes und Schweres wie den Schreibtisch des Arztes in die Höhe gehalten. Er hat Schweiß an den Fingerspitzen. Er weiß, wenn er den Raum nicht sofort verlässt, kann es sich ihm noch immer entziehen, das fragwürdige Geschenk der Freiheit. Wagner zupft ihn am Ellbogen, führt ihn hinaus und bringt ihn dann über eine Privattreppe an eine Tür an der Seite des Hospitals. Er kommt nicht dazu, von Adam, den Brüdern Collins und Asquini Abschied zu nehmen. Wagner grinst ihn an, als sei das alles ein hinterhältiger Scherz, bei dem sie beide ihre Rollen spielen müssten. James sieht sich nach dem Licht um, tritt hinaus. Will er das wirklich? Sind die Vertrauten Schrecken des Hospitals den unbekannten der Außenwelt nicht vorzuziehen? Der Drang, sich zu verstecken, ist sehr stark; sich in die Schatten zu verkriechen, einen Baum hinaufzuflitzen. Die Tür schließt sich hinter ihm. Er zuckt zusammen, als er das Geräusch des sich drehenden Schlüssels hört. Er schließt einen Moment lang die Augen, konzentriert sich und geht dann ganz langsam durch 433
die Gartenanlagen - einst der Wald bei Athen. Halb erwartet, halb hofft er, eine Stimme zu hören, die ihn zurückruft, aber es ruft niemand. Er tritt durch ein kleineres Tor neben dem Haupttor, schließt es sorgfältig hinter sich und geht, nun schneller, beinahe im Laufschritt, auf die Frau zu, die im weißen Staub der Straße auf ihn wartet, um ihn ein zweites Mal zu retten.
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Siebter Teil 1 »Kyrie, eleison.« »Christe, eleison.« »Kyrie, eleison.« Die Worte fliegen wie Fledermäuse in die Schatten der Gewölbe auf. Simon Tupper bekommt einen Hustenanfall. George Pace, auf der Bank hinter ihm, klopft dem alten Mann den runden Rücken. Der Anfall legt sich. »Der Herr sei mit euch.« »Und mit deinem Geiste.« »Lasset uns beten.« Es ist die übliche Ostersonntagsgemeinde, die sich nun sanft auf den Kielen ihrer Knie wiegt. Selbstverständlich ist auch Lady Hallam da, wunderschön in einem Kleid in Gelb und Gold. Seine Lordschaft weilt in London; Politik oder Hurerei oder beides. Hinter Lady Hallam sitzt Dido, das Haar - nur zum Teil ihr eigenes - mit Nadeln, Pomade und spanischen Kämmen auf dem Kopf aufgetürmt. Der Reverend denkt: Nachts muss sie mit einem Drahtkäfig drum herum schlafen, als sei es ein wildes Tier. Einen hübschen Fächer hat sie heute dabei; goldene Sterne auf ultramarinblauem Himmel. Modisch; bei diesem Wetter aber auch praktisch. Warm heute in der Kirche. Die 435
Alten werden bald einschlafen. »Allmächtiger Gott, der du durch deinen eingeborenen Sohn Jesus Christus den Tod überwunden und das Tor zum ewigen Leben aufgetan hast...« Die Bilanz der Geschicke des Reverend zeigt im Augenblick einen leichten Überschuss auf der Habenseite. Zwar leidet er auch weiterhin unter hartnäckiger Verstopfung, und er hat am Vorabend einen unerfreulichen Streit mit Dido über irgendein Detail der Haushaltsausgaben gehabt. Nicht ihr übliches Gekabbel. Es sind auf beiden Seiten Worte gefallen, die besser ungesagt geblieben wären, so dass der Reverend mit schweren Gewissensbissen zu Bett gegangen ist, wo er sich hin und her geworfen hat, um sich schließlich in die Kälte seines Zimmers hinauszubegeben, eine Feder zu suchen, eine Entschuldigung zu kritzeln und sie seiner Schwester unter der Tür hindurchzuschieben, wobei er bemerkt hat, dass sie noch Licht brennen hatte. Zwar hat er auch diese Ostern wieder seinen Glauben verloren, einer jener gelegentlichen Abfälle, die ihn früher so verstörten, die ihm mittlerweile aber weniger Sorgen machen als die Verstopfung. Gott spielt mit ihm Verstecken. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass er einen Weg zurück finden wird, dass es besser ist, ruhig auf der Wasseroberfläche zu liegen, als in Panik um sich zu schlagen. Dem steht folgendes gegenüber: Seine gutmütige Kuh Ruby hat gekalbt. Pace ist zur Frühstückszeit mit der Neuigkeit hereingekommen, die Hände von der 436
Geburt noch schlüpfrig. Sie sind dann alle - der Reverend, Dido, Mrs. Cole und Tabitha - in den Stall gegangen, in den man das Tier tags zuvor gebracht hatte. Ein herrlicher Anblick! Die Kuh, die das Kalb mit ihrer riesigen Zunge leckte, und das Kalb selbst, zitternd und von seinem Weg ins Freie noch leicht benommen... Dann sind da sein von der Jahreszeit in Glut versetzter Garten, die aus der roten Erde sprießenden Blumen, die sich mit Blüten überziehenden Bäume, die Kelche, die den Regen auffangen. Vorigen Sonntag hat er Sam dabei ertappt, wie er die Zungenspitze in Blütenkelche gesteckt hat. Es hatte zunächst ganz eigenartig gewirkt, ein Junge auf Zehenspitzen mit der Zunge in einer Blume. Später, als Sam fort war, kam der Reverend in Versuchung, es ihm nachzutun. Er hatte jedoch Angst, Angst davor, gesehen zu werden. »Allmächtiger Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus, Schöpfer aller Dinge, Richter über alle Menschen: wir erkennen und bereuen unsere Bosheit und unsere vielfältigen Sünden, die wir in unserer Ohnmacht begangen haben...« Mitten im Gebetstext hat er mit einemmal ganz deutlich die vortreffliche Mrs. Cole in ihrer Jacke aus duftendem Dampf vor Augen, wie sie ihre Messer, ihren Spieß, ihr Feuer handhabt. Heute, denkt er - und der Gedanke gleicht einem triumphierenden Trompetenstoß -, gibt es Schweinskopf! Schweinskopf, eine Kalbshaxe und Spargel aus Mr. Askews Spargelbeet... 437
»Gewähre uns daher, barmherziger Gott, indem wir das Fleisch deines geliebten Sohnes essen und sein Blut trinken, dass unsere sündigen Leiber durch seinen Leib gereinigt werden...« Was für altbackenes Brot das ist. Hoffentlich gibt es keine unliebsamen Überraschungen. Verwünschte Rüsselkäfer. »Der Herr sei mit euch.« »Und mit deinem Geiste.« »Erhebet die Herzen.« »Wir haben sie beim Herrn.« Das Licht - staubige, in buntem Flitter auf dem Steinboden endende Ströme - verdunkelt sich plötzlich, als eine Wolke vorüberzieht. Der Reverend kann den hinteren Teil des Kirchenschiffs nicht mehr erkennen, gewahrt jedoch undeutlich, dass die Tür geöffnet und rasch wieder geschlossen wird, dass eine Gestalt im Mittelgang steht. Er betet das Vaterunser. Dann: »Der Friede des Herrn sei immerdar mit euch.« »Und mit deinem Geiste.« Lady Hallam zupft an ihrem Kleid, steht auf und nähert sich dem Altargitter. Dido kommt ein kleines Stück hinter ihr, dann Astick mit Sophie, seiner launischen Tochter. Hinter Sophie Dr. Thorne, der sich die Hose im Schritt zurechtrückt. Die Wolke verzieht sich. Den Mittelgang entlang breitet sich Licht aus, und als der Reverend das Brot für Lady Hallam bricht, sieht er, wer in die Kirche gekommen ist, erkennt sie sofort und misstraut 438
dennoch seiner Wahrnehmung, denn er ist sich sicher, dass sie es nicht sein kann, nicht hier, nicht hier in seiner Kirche. Sie, die unwiderruflich anderswohin gehört. Ein sanftes Räuspern. Er senkt den Blick. Lady Hallam hebt, nicht unfreundlich, die Brauen. Drei Herzschläge lang findet er sich nicht mehr zurecht, kann er sich überhaupt nicht mehr erinnern, wo er ist, was er gerade tun wollte. Dann legt er ihr das Brot in die hohlen Hände. »Der Leib unseres Herrn, Jesus Christus...« Mit ihrem Blick fragt Dido: Wer ist sie? Er beugt sich zu ihrem Ohr hinab, flüstert: »Sie heißt Mary. Eine Ausländerin. Setz dich zu ihr.« Auch andere befragen ihn mit Blicken. Thorne grinst, als habe die Ankunft einer fremden Frau an sich schon etwas Schlüpfriges. Der Gottesdienst gewinnt neue Inbrunst. Unter dem Deckmantel von Gebeten und übertönt von lautem, misstönendem Gesang, laufen Mutmaßungen und Gegenmutmaßungen von Bankreihe zu Bankreihe. Man verdreht, nicht sehr diskret, die Hälse, um den ungewöhnlichen Eindringling ins Auge zu fassen. Der Reverend hört ganz deutlich das Wort »Zigeunerin«. »Der Friede des Herrn, der alles Begreifen übersteigt, bewahre eure Herzen und euren Verstand in der Erkenntnis und der Liebe Gottes...« Endlich fliegt die Tür auf. Gehaltvollere Luft gelangt zum Reverend, als er den Rest des Weins trinkt. 439
Wäre es möglich, würde er sich noch etwas eingießen, obwohl es ein erbärmliches Zeug ist. Mit einem Tuch wischt er den Becherrand ab und geht rasch den Mittelgang entlang, so dass sich das Messgewand hinter ihm bauscht. Mary bedenkt er mit einem langen Blick, einem kurzen Nicken. Zu Dido sagt er: »Ich bin so rasch wie möglich zurück. Bleibst du hier?« »Kann sie uns verstehen?« fragt Dido. Beide sehen Mary an, die ohne großes Interesse St. Georg betrachtet, der im Ostfenster den Drachen erschlägt. Es ist, als begreife sie, dass es ein gewisses Aufheben, eine gewisse Verwunderung geben muss und die beiden erst danach tun werden, was sie von ihnen will. »Vielleicht«, sagt der Reverend. »Du könntest es ja mit ein paar Fragen probieren.« Ein gelbes Huschen an der Tür fällt ihm ins Auge. Er dreht sich um, geht. Dido sieht Mary von der Seite an, die hohen Wangenknochen, die Augen von der Farbe durchweichten Holzes. Sie ist nicht alarmiert. Seltsamerweise findet sie ihre Gegenwart beruhigend. Im Kirchhof verweilen noch ein Dutzend Gemeindemitglieder und lesen vertraute Namen von schiefen Grabsteinen ab. Dann und wann blicken sie zur Kirchentür. Lady Hallam schenkt dem Reverend ein Begrüßungslächeln und macht eine Bemerkung über die Zahl der Gottesdienstbesucher. »Einer mehr, als ich erwartet hatte«, sagt der Reverend. 440
»Ach so, ja, richtig«, sagt Lady Hallam, als habe sie den Vorfall schon fast vergessen. Thorne tritt zu ihnen. Er und der Reverend geben sich die Hand. »Schöner Gottesdienst, Reverend.« Der Reverend nickt, bedankt sich leise. Schon wieder dieses Grinsen. Von Lady Hallam mit einem kühlen Blick bedacht, entfernt sich Thorne und schwingt dabei seinen Stock, wie eine Katze mit dem Schwanz zuckt. »Ob Sie sich wohl denken können, wer sie ist?« fragt der Reverend leise. »Aber ja, ich glaube schon. Wir haben uns beschnuppert, als ich herausgekommen bin. Was für Augen sie hat! Genau wie Sie sie in Ihrem Brief aus wo war es doch gleich? Riga? - beschrieben haben.« »Es kann durchaus Riga gewesen sein. Ich muss gestehen, Lady Hallam, ich bin noch nie im Leben so überrascht worden, obwohl ich glaube, dass sie ein Talent für Überraschungen hat.« »Sie werden einiges zu erklären haben.« Ein breites Lächeln; amüsiert und mitfühlend. »Vielleicht ist es am besten, Sie erklären überhaupt nichts. Sie wissen ja, Sie und Ihre Schwester können sich darauf verlassen, dass ich Ihnen in jeder Weise behilflich sein werde.« »Ich weiß. Sie sind sehr freundlich zu mir. Zu uns.« »Ich bin Ihre Freundin. Und nun werde ich gehen und versuchen, die Neugierigen hinter mir herzulokken. Besuchen Sie mich bald.« Sie reicht ihm die 441
Hand, er ergreift sie; eins, zwei... Diese flüchtige dritte Sekunde. »Tja, Mary«, sagt der Reverend. »Da hast du uns einen ziemlichen Schreck eingejagt.« Mary greift in ihre Schürzentasche, nimmt so etwas wie ein gerolltes Blatt heraus, steckt es sich in den Mund und kaut es wie einen Priem. »Mary, weißt du etwas von Dr. Dyer? Kennst du seinen Aufenthaltsort?« Sie steht auf und geht langsam aus der Kirche. Der Reverend macht Anstalten, sie zurückzurufen. Dido berührt ihn am Arm und sagt: »Sie will, dass wir ihr folgen.« Zwischen Narzissenbüscheln gehen sie ihr den Pfad entlang nach, durch das Pförtchen hinaus, den Feldweg an der Kirchhofsmauer entlang und vorbei an dem verkeilten und zerbrochenen Skelett eines Tors, jetzt ein Spalier für Unkraut, in den Obstgarten. Der Grund hier gehört Makins, einem Witwer, dessen Söhne in die Welt hinausgezogen sind und der eine schwachsinnige Tochter zu Hause hat. Hier verfaulen die Äpfel entweder, oder sie werden von Kindern stibitzt. An Sommerabenden kommen Liebespaare hierher. Manchmal hört der Reverend auf dem Heimweg von der Vesper ihre Seufzer. Die Grashalme zerren an Didos Röcken. Ein Fliegenschwarm schießt wütend von einem Haufen Menschenkot auf. Man hört Bienensummen, riecht wilden Knoblauch. Einen Moment lang verlieren sie 442
Mary aus den Augen, während sie sich zwischen den krummen Schneisen, durch die blauen Schatten, durch Wolkenbrüche von Blüten hindurchwindet. Es wäre, denkt der Reverend, ganz ihre Art, wie ein Kaninchen in ein Loch zu verschwinden. Aber dann finden sie sie wieder, unter einem Baum, der etwas größer ist als die anderen, wie sie mit der Hand, dem Finger gleich einer Gestalt in einem allegorischen Gemälde in den Wipfel deutet. Dido und der Reverend blicken auf. Männerschuhe, Männerbeine, ein graues Hemd. Ein Gesicht, ganz mager, ganz weiß, geziert von formlosem, salz-und-pfeffer-farbenem Bartgewirr. »Dr. Dyer!« ruft der Reverend. »Das ist ein ebenso glücklicher wie unerwarteter Moment. Ich hatte schon Angst ... das heißt, ich hatte keine Nachricht von Ihnen. Geht es Ihnen gut, Sir? Möchten Sie nicht herunterkommen? Die Äste hier sind recht schlank.« Das Gesicht blickt herab. Die Verwandlung ist bemerkenswert, grausig. Was für eine Krankheit zeichnet einen Menschen so? »Das ist Dr. Dyer?« fragt Dido. »Ja«, sagt der Reverend leise. »Was von ihm übriggeblieben ist. Dr. Dyer? Ich bin es, der Reverend Lestrade. Sie haben mich doch nicht vergessen? Brauchen Sie Hilfe?« Eine kaum als Klang zu bezeichnende Stimme fällt vom Dach des Baumes. »...der Fink ... der Spatz, die Lerche schön ... des Kuckucks schlichter Sang ... dem ... niemand Antwort 443
geben mag ... wenn er je hört den Klang...« »Ist das ein Lied?« fragt Dido. »...die Amsel fein, mit schwarzem Kleid ... und gelbem spitzem Schnabel ... die Drossel singet himmelweit...« Der Reverend erblickt zwei junge Gesichter, die um einen Baumstamm lugen. In dem einen erkennt er Sam Clarke, den Sohn des Mesners und Totengräbers. »Sam! Hierher, Kind. Komm, ich bin dir nicht böse.« Der Junge kommt, sein Blick wandert von dem Reverend zu dem Baum, von dem Baum zu Mary. »Kannst du schnell laufen, Sam?« »Mittel.« »Tja, mittel muss reichen. Lauf zu Caxtons Schenke. Dort wirst du George Pace finden. Sag ihm, er soll die Leiter, die in der Sakristei steht, hierher in den Obstgarten bringen. Sag ihm, ich möchte sie jetzt, und nicht erst, wenn er sein Porter ausgetrunken hat. Halt! Mach kein großes Tamtam, und sag nicht, was du gesehen hast. Wir brauchen kein Publikum. Geh jetzt.« Sie sehen ihm nach, wie er davonrast, so dass seine Füße über die Spitzen der Grashalme hinwegschnellen. Mary hockt sich zwischen den Baumwurzeln nieder. »Ich fürchte, er wird herunterfallen«, sagt Dido. »Und wenn, dann wird er sich zu Tode stürzen. Könntest du nicht zu ihm hinaufklettern, Julius?« »Bitte hab doch für fünf Pfennig Verstand, Diddy. Selbst wenn ich zu ihm hinaufkäme, was hätte es denn 444
für einen Sinn, wenn wir beide dort oben festsäßen. Hast du um meinen Hals denn keine Angst?« »Du warst einmal sehr geschickt im Erklettern von Bäumen.« »Ja, früher einmal. Vor dreißig Jahren. Ich kann mich aber auch erinnern, wie du die große Ulme hinter Vaters Haus hinaufgestiegen bist, liebe Schwester.« »Ganz recht«, sagt Dido. »Aber wenn Mädchen Frauen werden, verlieren sie die Freiheit ihres Körpers. Das verlangt die Sitte.« »Nicht alle.« »Jetzt wirst du vulgär, Julius. Das passt überhaupt nicht zu dir.« Sie warten, sehen Schatten zu, hören den Sonntagsfrieden. Dann und wann fallen von oben gekrächzte Liedfetzen, geflüsterte Verse herab. Sam kommt zurück, im Marschtritt wie ein Trommler, hinter ihm mit finsterem Gesicht George Pace, eine Leiter auf der Schulter. »Gut gemacht, Sam! Schönen Dank, George. Es soll nicht unbelohnt bleiben. Der da oben. Du siehst ihn. Ruhig jetzt. Er heißt James Dyer.« Der Reverend hält die Leiter. »Kommst du zu ihm hinauf? Hast du ihn?« George Pace kommt, allein, wieder heruntergeklettert. Er sagt: »Es wimmelt richtig. Ich kann sie in seinem Bart sehen. Und stinken tut er schlimmer als ein Müllhaufen.« 445
»Wäre es dir vielleicht lieber, wir hätten ihn mit Bergamottöl besprengt? Mein Gott, George, du sollst ihn doch nur herunterholen. Du brauchst ihn nicht zu heiraten.« »Mit Verlaub, Sir, lieber nicht. Er sieht mir so aus, als hätte er die Pest.« »Die Pest? Hast du das Thema vielleicht studiert wenn du nicht gerade Fallen für Lady Hallams Vögel gestellt hast?« »Ereifere dich nicht so, Julius«, sagt Dido. »Er holt ihn nicht herunter, er tut's einfach nicht.« »Erbietest du dich dazu, liebe Schwester?« »George hat vielleicht recht«, sagt sie. »Vielleicht hat er ja wirklich eine Krankheit. Nichts wahrscheinlicher als das.« »Und deshalb sollen wir ihn auf dem Baum sitzen lassen? Ich sehe schon, ich muss es selbst tun. So ist das ja immer.« Noch immer mit seiner Amtstracht bekleidet, steigt der Reverend Hand über Hand, sein Mund so trocken wie ein Stein, die sich unter seinem Gewicht durchbiegende Leiter hinauf. Ein Ast fegt ihm die Perücke vom Kopf und lässt sie wie einen geschossenen Vogel vor Didos Füße fallen. »Dr. Dyer?« Vor seiner Nase präsentiert sich ein Knöchel. Er packt ihn. »Dr. Dyer? Wir müssen Sie hinunterschaffen, Sir. Sie können nicht hier oben bleiben. Stellen Sie Ihren Fuß auf meine Schulter. Nein, so ... uff ... na 446
los, Sir ... und jetzt den anderen, ganz vorsichtig ... ruhig, ruhig - halt die Leiter fest, George! Alsdann ... gut, Sir, genau so ... so ... und ... so ... ah ... ein Stückchen noch ... jetzt ... na bitte... Hilf mir doch, George, zum Kuckuck! So ... noch einen Schritt ... und ... wir haben ihn ... Gott sei Dank.« »Bravo, lieber Bruder!« Der Reverend birgt seine Perücke, stülpt sie sich über und beglückwünscht sich insgeheim. James Dyer hockt keuchend im Gras neben Marys Knien. Hier am Boden wird das volle Ausmaß seiner Veränderung deutlich. Auf den Reverend wirkt er wie der Überlebende eines Schiffbruchs, einer, der knapp, ganz knapp mit dem Leben davongekommen ist. Der Reverend kniet sich neben ihn. Was die Läuse angeht, hat Pace recht gehabt. »Können Sie gehen, Sir? Bei der Kirche haben wir ein Fahrzeug stehen. Nur ein ganz kurzes Stück von hier.« Am Haus werden sie von einer kleinen Gesellschaft empfangen. Mr. Astick und seine Tochter, die zum Essen da sind; Sam, der dank einer Abkürzung über die Felder vor dem Wagen angekommen ist und die Neuigkeit schon verbreitet hat; und Mrs. Cole mit Tabitha, die beide besorgt aus der Küchentür blicken. Astick tritt vor und packt den Zaum des Pferdes, dann geht er zum Heck des Wagens, um den Damen herauszuhelfen. 447
»Das ist Dr. Dyer«, sagt der Reverend. Astick blickt auf. Der Mann, den er auf dem Wagen sieht, erinnert ihn an die Gefangenen, die er 57, nach der Schlacht von Plessy, gesehen hat. Männer, deren Bart geradewegs dem Schädel zu entsprießen schien. Die für den Kopf zu großen Augen, mit denen sie Dinge sehen, die für Dickere nicht wahrnehmbar sind. »Er hat Ungeziefer«, flüstert der Reverend, als Astick nach oben langt, um James von der hohen Bank des Wagens herunterzuheben. »Das ist mir gleich«, sagt Astick. Er ist ein kräftiger Mann, der James mühelos herunterlüpft. »Mrs. Cole«, sagt der Reverend, »ist das Zimmer neben meinem benutzbar?« »Herrje, da ist kein Bett gemacht, und was das Lüften angeht...« »Das Lüften ist nicht so vordringlich, Mrs. Cole. Tabitha, überzieh das Bett, und zwar rasch, wenn es recht ist. Mrs. Cole, können Sie etwas von Ihrer Rinderbrühe kochen oder« - als er sieht, wie ihre Lippen einen Einwand formen - »sonst eines von Ihren nahrhaftesten Getränken, die sich rasch zubereiten lassen? Wo ist Mary?« Sie sehen sie, den Kopf gesenkt und von einer Katze beschnuppert, mit dem Rücken an der Scheunenwand sitzen. »Arme Frau«, sagt Dido. »Sie ist völlig erschöpft. Miss Astick und ich werden uns um sie kümmern.« »Ach du meine Güte«, sagt die siebzehnjährige Miss Astick, »ich habe mich noch nie um einen 448
fremden Menschen gekümmert.« Der Reverend und Mr. Astick schaffen den Kranken gemeinsam die Treppe hinauf, gelangen in das Zimmer, in dem Tabitha mit den Laken Wind macht, und setzen den Doktor auf eine staubige Bank am Kamin. »Der Bart muss herunter«, sagt Astick, »und auch sonst alle Haare. Wenn Sie mir ein Rasiermesser bringen, Reverend, übernehme ich das selbst. Und heißes Wasser. Da, sehen Sie! Auf Ihrem Ärmel ... wenn Sie gestatten...« Astick zerdrückt das Insekt zwischen Daumen und Zeigefinger. Schön, denkt der Reverend, während er das Rasiermesser aus seinem Zimmer holen geht, wie sich am Unerwarteten der Charakter eines Menschen erweist. Was für ein guter Soldat Astick gewesen sein muss, ein guter christlicher Soldat. Wie froh ich bin, ihn Freund nennen zu dürfen. Sie ziehen ihren Patienten aus, bündeln seine Kleider, um sie später zu verbrennen, und rasieren ihn wie einen Leichnam. Er ist ebenso weiß, ebenso weiß und gelb. James starrt zur Decke hinauf, während sie sich an ihm zu schaffen machen. Sein Atem geht rasch und schwach. Sam wird abermals losgeschickt, diesmal zu Dr. Thorne. In James' Augenbrauen sind Läuse. Sie rasieren die Augenbrauen, knacken die Insekten. Mrs. Cole bringt die Brühe. Der Reverend nimmt sie ihr an der Tür ab. Er pustet auf die Flüssigkeit und versucht, etwas davon zwischen James' aufgesprungene Lippen zu löffeln, aber sie kleckert dem Kranken 449
über das Kinn. »Ich glaube, ich habe noch nie einen Menschen gefüttert«, sagt er. »Unsinn«, antwortet Astick. »Heute morgen haben Sie die ganze Kirche gefüttert, Reverend. Mit Brot und Wein.« »Richtig, Sir. Aber das hier ist teuflisch schwer. Das Zeug läuft überallhin, bloß nicht in seinen Mund.« »Heben Sie ihm den Kopf ein wenig an. So. Wir wollen ihn ja nicht in Brühe ertränken.« »Aha! Diesmal hat er ein wenig genommen. Und heruntergeschluckt. Das wird wie neues Blut für Sie sein, Doktor.« James trinkt, Löffel für Löffel, eine halbe Tasse. Hitze breitet sich in ihm aus. Zum erstenmal seit Tagen wird ihm wieder bewusst, dass er einen Körper hat. Die Erinnerung ist nicht unbedingt erfreulich. Wann hat er zum letztenmal gegessen? Im New Forest hat ihn Mary mit irgendwelchen Wurzeln gefüttert. Dann, in Salisbury, mit einer Orange vom Markt, auf einer Seite zerquetscht, und etwas Brot. Seither nichts, nichts als Grünzeug von den Hecken. Mit gewaltiger Anstrengung, als wälze er sich einen Stein von der Brust, dreht er sich im Bett um. Wer ist der Mann da? Er schreit: »Mary!« »Ich glaube, er hat etwas gesagt«, meint Astick. »Sagen Sie es noch mal, Sir.« »Mary.« »Mary?« 450
»Ja«, sagt der Reverend, »die Frau, mit der er gekommen ist.« »Ist sie seine Frau?« »Seine Gefährtin. Jedenfalls glaube ich das. Nur ruhig, Doktor. Sie wird gleich Dasein. Meine Schwester und Miss Astick bringen sie gerade auf ihr Zimmer. Sie sind von weit her gekommene glaube ich.« »Von weit her, weit her...«, sagt James. Er ist sich nicht sicher, ob er laut oder mit sich selbst spricht. Er denkt: Hier zu sterben wäre gar nicht schlecht. Vielleicht ist die Reise hier zu Ende. Als er den Kopf zur Seite dreht, sieht er den Reverend Lestrade und Mr. Astick bis zur Hüfte entkleidet einander gegenüberstehen, als stünden sie im Begriff, miteinander zu ringen. Asticks Arm fliegt hoch. »Hab eine!« ruft er. »Gut gemacht, Sir«, antwortet der Reverend. »Soviel Ungeziefer habe ich nicht mehr gehabt, seit ich das letztemal in Frankreich war.« Kahl wie ein Mond treibt James in den unterirdischen Flüssen von Fieber und Erschöpfung. Thorne kommt zweimal, macht, eine Elle vom Bett entfernt, seine Beobachtungen und lässt eine Schachtel Doversches Pulver da, eine Schachtel, die nach einem von Marys Besuchen wenig geheimnisvoll verschwindet. Mary hat ihr eigenes System: niemand verspürt Lust, sich da einzumischen. Sie fouragiert im Garten des Reverend. Beim ersten Tageslicht und in der 451
Abenddämmerung begibt sie sich in den Wald und kehrt mit einer Schürze voll Engelwurz, Schlüsselblumen, Ziest und anderen, weniger rasch zu benennenden Gewächsen zurück. Sie trägt eines von Mrs. Coles alten Kleidern, da ihr die Haushälterin in der Größe am nächsten kommt, wenngleich es nötig war, in Didos Kammer die Säume umzunähen, wobei Mary völlig gelassen vor ihnen stand, wie eine Prinzessin in Gesellschaft ihrer Zofe. Bei dieser Gelegenheit, als sie sie anzogen, haben sie auch die Tätowierungen gesehen, einen Regen blauer Sterne auf der Rundung ihres Oberschenkels und ihrer Hüfte, der sich bis zur Kniekehle hinabzog. Sie gibt natürlich Anlass zu Gerede. Gerede von Zauberei, vom bösen Blick, von Nekromantentum. Und doch strahlt die Fremde so eine Milde aus, dass Mrs. Cole sie an Michaelis, zu ihrer nicht geringen eigenen Überraschung, wegen ihrer geschwollenen Knie um Rat fragt, und Mary behandelt sie, drückt mit den Händen gegen die Gelenke, bis sich um Mrs. Coles Füße eine Lache von Flüssigkeit gebildet hat. (»Herrgott im Himmel«, sagt Mrs. Cole am Sonntag darauf zu ihrer Busenfreundin und rafft dabei die Röcke, um den Beweis anzutreten, die wiederhergestellten, muskulösen roten Knubben ihrer Knie vorzuzeigen. »Was für Hände sie hat. Was für Hände!«) Am Pfingstsonntag steht James zum erstenmal vom Krankenlager auf, eine clownartige Gestalt in einem 452
alten Anzug des Reverend, schlurft er in Hof und Garten umher, und man trifft ihn oft schlafend an, im Gras oder sogar zusammengerollt auf dem Teppich im Salon. Zur Erleichterung des Reverend zeigt James kein Verlangen mehr, auf Bäume zu klettern, auch keine Anzeichen anhaltender Verwirrtheit. Was immer er gewesen ist, welch seltsame Breiten er auch befahren hat, nun wirkt er ganz gesund und antwortet vernünftig auf alle Fragen, obwohl sie noch nicht über den simplen Katalog von »Wie geht es Ihnen heute, Sir?« »Besser, danke.« - »Gehen Sie heute spazieren?« »Ja.« - »Möchten Sie eine kleine Stärkung?« - »Einen Teller Brühe, wenn es recht ist« hinausgehen. Von seiner Geschichte zwischen dem Moment, als der Reverend in seinem Quartier in Russland zum letztenmal den Blick auf ihn gerichtet hat, und seinem Wiederauftauchen auf dem Apfelbaum in Cow erfährt man wenig bis gar nichts. Lady Hallam, die das Geschehen vom luftigen Prospekt ihres Parks aus verfolgt, rät zu Geduld. Als der Sommer in Bäume und Wälder fährt, das Korn hoch auf den Feldern steht und das Dorf sich zur großen Arbeit der Ernte wappnet, umgibt das Haus des Reverend eine Atmosphäre von Veränderung. Tabitha - das ist nicht schwer herauszubekommen - ist in einen aus dem Norden stammenden Soldaten verliebt, der zur Ernte heruntergekommen ist und Geschichten von Krieg und Städten am anderen Ende 453
der Welt zum besten gibt. George Pace trägt Wiesenblumengebinde am Hut, als sei er Gast auf einer niemals endenden Hochzeit. Astick schaut regelmäßig herein, um James' Fortschritte zu verfolgen, und seine Tochter, noch vor sechs Monaten ein linkisches, spitzknochiges Geschöpf, hat eine zerbrechliche, betörende Schönheit gewonnen. Was, überlegt der Reverend, ist zu einer solchen Jahreszeit nicht noch alles möglich? Die Nächte der ersten Augustwoche gehören einem südlicheren Land, sind von Italien oder aus dem maurischen Afrika heraufgezogen. Scharen langsam dahinschwebender Sterne schieben sich über den Himmel. Die schmalen Flügelfenster der Cottages und die großen Schiebefenster der Hall sind für Zufallsbrisen weit geöffnet. Lady Hallam bleibt bis zur Morgendämmerung auf, betupft sich die Schläfen mit einem parfümierten Taschentuch, während sie in die fahler werdende Dunkelheit ihres Parkgeländes hinausblickt, dem Geschrei der Pfauen lauscht und sich in der Stille ihrer Einsamkeit den Luxus einer tiefen Melancholie gestattet. Auch der Reverend bleibt lange wach, geht leise in dem von Hitze knisternden Haus umher und hört dabei zuweilen aus den Zimmern über sich das Knarren einer Diele, wenn jemand ans Fenster geht, um einen Zug von dieser geheimnisvollen Moschusluft zu tun. Es kann nicht von Dauer sein, doch wenn es das nur könnte! Der Reverend stellt sich das Dorf 454
Cow in La Vaca verwandelt vor, die Felder voller Weinreben, die Dörfler gebräunt und draufgängerisch, die Kirche ein geheimnisvoller Schattentümpel. Zum Ende dieser halkyonischen Jahreszeit hin stiehlt sich der Reverend in den Stunden nach Mitternacht aus seinem Haus, ohne Perücke und Rock, in der Hand einen guten Stock, im Mund den Geschmack von Wein. Er geht über die Weiden in Richtung Wald. Er hat kein bestimmtes Ziel im Sinn, und erst nach zwanzig Minuten stetigen Gehens unter einem Mond, der einen klar umrissenen Schatten hinter ihn wirft, wird ihm bewusst, wohin er unterwegs ist. Den »Ring« nennt er es - es hat, soviel er weiß, keinen passenderen Namen, ist auf keiner Karte verzeichnet. Und es gibt ja auch so gut wie gar nichts zu verzeichnen, lediglich einen Kreis von Eichenbäumen, doch hat der Reverend dort beim Pilzesammeln bestimmte Steine gefunden, welche die Phantasie anregen und ihn zu der Überzeugung bringen, dort habe einmal etwas gestanden, ein heidnischer Tempel vielleicht, und es gefällt ihm, sich irgendeinen weißgewandeten Vorgänger seiner selbst vorzustellen, der vor den kraushaarigen Ahnen der heutigen Dörfler irgendwelche Zeremonien versah. Er geht zehn Minuten lang unter dem Baldachin der Bäume dahin und dringt, als er den Ring von einem solchen Mond beleuchtet sieht, in der Gewissheit in ihn ein, dass er heiligen Boden betritt. Mitten im Ring sitzt ein Mann auf einem Grasbü455
schel. Der Reverend erstarrt, packt seinen Schlehdornstock fester, macht sich bereit, sich hinter die Baumlinie zurückzuziehen, doch die Gestalt wendet sich ihm zu, und der Reverend hält inne. »Sind Sie das, Dr. Dyer?« »Ja.« Der Reverend nähert sich, noch immer vorsichtig, als ob diese nicht ganz wesenhafte Gestalt sich schließlich doch als falsch, als Ausgeburt seiner Phantasie oder, schlimmer noch, als Geist dieses Ortes erweisen könne. Diese Waldgeister, deren Existenz der Reverend nicht gänzlich zu bezweifeln vermag, gelten als sehr erfinderisch. Und wer wäre besser geeignet, einem wohlbeleibten, vom Mond trunkenen Geistlichen mittleren Alters Streiche zu spielen? Als sie nahe beieinander sind, sagt James: »Wie sehr ich die armen Irrsinnigen in einer solchen Nacht bedaure. Ich habe, seit ich hier bin, schon drei oder vier davon erlebt und diesen großartigen Mond angeheult.« »Gütiger Himmel, Sie sind es tatsächlich, Dr. Dyer. Wie haben Sie denn hierhergefunden?« »Ich bin zufällig darauf gestoßen. Ich tue dieser Tage sehr wenig mit Absicht. Hier, Sir, trinken Sie etwas von diesem stärkenden Apfelwein. Ich habe mir erlaubt, aus der Küche welchen mitzunehmen. Es ist noch reichlich übrig.« Der Reverend trinkt von der Steinlippe des Kruges. James hat recht. Der Apfelwein schmeckt gut. Man 456
kann den ganzen Baum darin schmecken. »Wie ich sehe, haben Sie gezeichnet, Sir.« »Ich erprobe gern meine Hand. Möchten Sie die Sachen sehen?« Er legt fünf Blätter Papier auf das silberne Gras; jedes weist nur einen ungelenk, doch mit unverkennbarer Energie gezogenen Tintenkreis auf. »Die beiden hier habe ich mit dem Finger gemacht.« Er zeigt zum Beweis die dunkle Spitze seines Zeigefingers vor. »Ich habe noch mehr Papier möchten Sie es nicht auch einmal probieren? Der Kniff besteht darin, an nichts zu denken. Weder daran, wie schön er ist, noch daran, wie er zu treffen oder ob er überhaupt zu treffen ist. Ihn zu zeichnen sollte Sie selbst überraschen.« »Sie meinen, ich soll es gleichzeitig tun und nicht tun?« »Genau«, sagt James. Dann, als er die Verwirrung im Gesicht des Reverend sieht, fügt er hinzu: »Vielleicht haben wir noch nicht genug Apfelwein getrunken.« Jeder von beiden nimmt drei kräftige Schlucke. Der Krug gibt eine seltsame hohle Musik von sich. Der Reverend rülpst, steckt dann den Finger in das offene Tintenfass und zeichnet einen schiefen Kringel, der aber dennoch etwas sehr Mondähnliches hat. »Gut gemacht!« Ohne zu reden, sitzen sie da, bis bestimmte Sterne hinter den durchbrochenen Horizont der Eichenwipfel 457
geglitten sind. »Dr. Dyer, Sir, ich möchte Sie zu Ihrer Genesung beglückwünschen, denn ich sehe jetzt, dass Sie tatsächlich genesen sind. Ich muss gestehen, dass wir an Ostern alle sehr um Sie fürchteten.« »Falls ich wirklich genese - von vollständiger Genesung würde ich noch eine ganze Weile nicht sprechen -, dann habe ich es Ihrer Freundlichkeit zu verdanken und der Freundlichkeit Ihrer Schwester und Ihres ganzen Haushaltes...« »Und Mary...« »Und Mary natürlich. Ihre Art mutet bestimmt sehr sonderbar an. Aber Sie haben ja eine Ahnung davon gewonnen, was sie ist. Sie haben sie als erster gesehen. In gewisser Weise verdankt sie Ihnen ihr Leben.« Der Reverend nickt und erinnert sich: Fackeln, Hunde, das stumme Laufen der Frau. »Nach meiner Überzeugung«, sagt James, »ist sie eine unfehlbare Menschenkennerin. Es war kein Zufall, dass sie mich hierhergebracht hat.« »Das ist ein Kompliment, Dr. Dyer, das mir stets teuer sein wird. Sie wissen natürlich, dass Sie - Sie und Mary - so lange bleiben müssen, wie Sie möchten. Das Zimmer, das Sie derzeit innehaben, lässt sich mit wenig Aufwand wohnlicher machen, und Mary« er bemüht sich um einen leichten Ton - »hat es, denke ich, in dem kleinen Zimmer neben Tabitha leidlich bequem.« »Wir haben es beide sehr bequem. Aber ich habe 458
das Gefühl, ich sollte Ihnen erklären... Das heißt, Sie müssen sich doch fragen...« »Ich gestehe es, aber ich verlange keine Erklärung. Zuerst müssen Sie vollständig genesen sein. Tut Ihnen das Bein noch weh?« »Es macht mir ziemlich zu schaffen. Es ist eine sehr alte Verletzung. Mit meinen Händen ist es das gleiche. Der Schmerz ist nicht mehr sehr heftig. Er ist schon fast erträglich.« »Verzeihen Sie, Dr. Dyer, aber Sie waren doch einmal, so schien es, unempfindlich gegen seine Klauen. Die des Schmerzes, meine ich.« »Das schien nicht nur so, Reverend. Ich habe das nicht vorgetäuscht. Es war genau so, wie ich es gesagt habe. Ich habe nie einen Moment körperlichen Leidens erlebt, bis ... nun ja, bis St. Petersburg. Ich finde es ja allmählich schon selbst schwer zu glauben. Es genüge, zu sagen, dass ich das Versäumte nachgeholt habe.« »Er ist also restlos dahin?« »Wer, Sir?« »Der alte James Dyer.« »Ja, restlos.« »Bedauern Sie sein Hinscheiden nicht?« »Es gibt Zeiten, da denke ich an die große Sicherheit, die mir meine Unempfindlichkeit verlieh. Ich bin ein ziemlicher Feigling geworden. Der sich ständig auf die eine oder andere krankhafte Weise bedroht wähnt. Und während ich einst von Zögern und 459
Zweifel so frei war, wie es einem Menschen nur möglich ist, falle ich ihnen heute ständig zum Opfer. Ha! Ich brauche morgens eine halbe Stunde, um zu entscheiden, welchen Rock ich anziehen soll, dabei habe ich, wie Sie wissen, überhaupt nur zwei.« »Das wird sich geben. Es ist nur eine Nachwirkung Ihres ... Ihrer Krankheit.« »Ich weiß nicht recht. Ich bin in einen neuen Zustand, ein neues Ich hineingeboren worden, und das eine zeichnet sich durch Schwäche aus, so wie das andere von Stärke bestimmt war.« »Ist dieses neue Ich«, fragt der Reverend, »nicht auch von einer gewissen Abmilderung, einer Sanftmut bestimmt?« »Mag sein. Ich weiß ja noch kaum, was ich bin und womit ich rechnen darf. Meine Zeit mit dem Messer ist jedenfalls vorüber. Vielleicht könnte ich mit meiner Malerei etwas verdienen.« »Lady Hallam erinnert sich noch aus ihrer Zeit in Bath an Sie. Sie sagt, Sie haben einen höchst bemerkenswerten Ruf gehabt.« »Ich hatte mehrere, und es ist sehr freundlich von Lady Hallam, sich meiner zu erinnern, obwohl ich bei Gott wünschte, ich, mein altes Ich, bliebe so unerinnert, als sei es eine Handvoll Staub.« »Wir werden Sie nicht mit Ihrem Schatten jagen, Dr. Dyer. Schließlich muss ein Mensch die Freiheit haben, sich zu verändern. Viele sind in einer alten Haut gefangen, die abzuwerfen ihnen gut anstünde.« 460
»Wie die Natter? Ich hoffe, Sir, Sie werden Ihre alte Haut nicht abwerfen.« »Dazu fehlt es mir an Ihrem Mut, obwohl Sie es ja Schwäche nennen.« »Es war nichts, wozu ich mich willentlich entschieden habe.« Der Reverend spürt das Vertrauliche ihrer Begegnung an einem solchen Ort, und davon kühn gemacht, sagt er: »In Rußland, in der Wohnung an der Millionaja, habe ich etwas mit angesehen, das...« James hebt die Hand und beugt sich plötzlich starren Blicks vor, als habe er in der Sommernachtsluft ein großes, flüchtiges Schemen erblickt, eine Gestalt, die ihm mittels Zeichen eine Botschaft übermittelt hat, welche er sofort verstehen muss. Als der Reverend seinem Blick folgt, sieht er lediglich eine Kaninchenfamilie, deren Fell im Mondlicht silbrig schimmert, zehn Ellen von ihnen entfernt im Gras herumtollen. Er schaut James ins Gesicht und flüstert: »Was ist denn, Sir?« James lehnt sich zurück, schüttelt langsam den Kopf, schnüffelt und greift nach dem Krug. »Gespenster. Bloß Gespenster. Was sagten Sie gerade?« »Nichts, Sir. Gar nichts.«
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Achter Teil 1772 1 »Mrs. Cole«, sagt der Reverend Lestrade und wischt sich den Mund, »Sie sind nicht nur so freundlich, über meine Geschichten zu lachen, sondern das sind auch die saftigsten Tauben der Welt. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie täten. Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Dr. Dyer?« James hebt sein Glas. »Mrs. Cole ist die beste Köchin von Devon. Sie ist eine Künstlerin.« »Ganz recht, eine Künstlerin!« Der Reverend füllt sein Glas. »Sie haben das Notwendige gesagt, Doktor. Tabitha, meine Liebe, reich mir doch bitte die Garnelen. Ich danke dir. Sag, kommt dein Sergeant uns eigentlich noch besuchen, ehe er sich nach Amerika einschifft?« »Lass das arme Ding in Ruhe essen, Julius«, sagt Dido. »Sie kann doch essen und dabei reden, oder nicht?« sagt der Reverend. »Das war eine ganz einfache Frage. Ich interessiere mich nun einmal für die Geschicke dieses Menschen. Er ist ein sehr tüchtiger Botaniker. Hast du das gewusst? Nichts, was er einem 462
über Rosen nicht erzählen könnte.« »Du machst sie ja ganz verlegen, Julius. So lass das doch.« Eine Träne fällt aus Tabithas gesenktem Gesicht und tropft in den buttrigen Fleischsaft auf ihrem Teller. Mrs. Cole zieht ein Tuch aus ihrem Ärmel und drückt es derb auf Tabithas Nasenspitze. Tabitha schneuzt sich. Dido funkelt ihren Bruder an, der schuldbewusst die Achseln zuckt und an seinem Wein nippt. James zwinkert Sam zu, der ihm gegenübersitzt. Es ist Sams Geburtstag. Ihm zu Ehren ißt der gesamte Haushalt zusammen - mit Ausnahme von George Pace, der sich in solcher Gesellschaft unwohl fühlen würde. Es ist Mai. Leichter Regen fällt. Mary sitzt neben Sam. James sagt: »Miss Lestrade hat mir gesagt, dass Sie nach Bath fahren wollen, Reverend.« »Ja, vielleicht. Astick möchte mit seiner Tochter hin. Meiner Schwester gefällt die Stadt.« »Ich würde gern wieder ins Theater gehen«, sagt Dido. »Man gibt Der Kaufmann von Venedig mit Mr. Barrett und Mr. Death. Vielleicht sollten Sie mitfahren, Dr. Dyer.« »Der Doktor macht sich nichts aus dem Theater«, sagt der Reverend. »Früher bin ich zuweilen hingegangen«, sagt James, »und zwar in das Theater in der Orchard Street.« »Und was haben Sie dort gesehen?« fragt Dido. 463
James lächelt. »Ich habe leider nicht darauf geachtet.« »Im Winter«, sagt Dido, »träume ich immer davon, nach Bath zu fahren. Es ist jedesmal ein schöner Tag, alle Welt trägt Sonntagsstaat, und ich gehe zu einem Ball.« Sie lacht, errötet. »Das ist natürlich ein ganz närrischer Traum. Mögen Sie Bath, Dr. Dyer?« James ordnet die Taubenknochen auf seinem Teller neu an. »Ich finde die Stadt etwas...« Der Reverend klatscht in die Hände. »Da kommt der Nachtisch. Ich hoffe, du hast noch etwas Platz dafür gelassen, Sam.« Tabitha und Mrs. Cole stellen Kuchen und Zidermolken auf den Tisch. Ein warmer Geruch nach Mandeln und Zimt steigt auf. Als die Kuchen angeschnitten sind, legt Mrs. Cole eine große Scheibe Kuchen auf Marys Teller. »Ich weiß, dass ihr das schmeckt«, sagt die Köchin. »Sie mag Süßes.« Mary isst den Kuchen, indem sie mit den Fingern Stücke davon abbricht und die Krumen zu Kügelchen rollt. James lächelt sie breit an. Sie blickt kurz zu ihm auf. Tabitha, deren Tränen getrocknet sind, sagt: »Heute Nachmittag gibt es drüben in Cow eine Veranstaltung.« »Was denn?« fragt der Reverend. »Es ist ein Neger«, sagt Mrs. Cole, »aus Exeter.« Sam sagt: »Er wird ringen. Und außerdem einen Karren samt Pferd hochheben und dazu zwei Männer 464
auf jedem Arm.« »Seine Frau hat er auch dabei«, sagt Tabitha. »Sie ist nicht größer als Ihr Daumen.« »Und die Frau ringt auch?« fragt der Reverend. »Tabitha könnte mit Sam hingehen«, sagt Dido. »Es ist doch nichts Unschickliches, oder, Mrs. Cole?« »Ich glaube nicht«, antwortet Mrs. Cole, »aber ich gehe für alle Fälle mit. Sam ist noch zu jung, um es zu bemerken, und Tabitha fehlt dazu der Grips.« »Sie sind ein weiblicher Salomo, Mrs. Cole«, sagt der Reverend. »Also, Sam, wenn du das letzte Stück Kuchen haben willst, bestehen wir auf einem Lied von dir. Ich weiß, dass der Doktor dich gern singen hört.« »Sollen wir nicht für ihn singen, da er heute Geburtstag hat?« fragt James. Der Reverend nickt. »Dann singen wir alle zusammen. Würdest du bitte etwas anstimmen, liebe Schwester?« Es hört auf zu regnen. Bis sie ihren Tee getrunken haben, glitzert der Nachmittag in wässrigem Licht. Sie gehen in den Garten hinaus. Der Reverend inspiziert seine gelben Rosen, seinen Flieder und seine Glyzinie. »Die Kletterpflanzen müssen wieder einmal angebunden werden«, sagt er. Dido verbindet Sam mit einem Tuch die Augen. Sie dreht ihn zweimal im Kreis herum und sagt: »Nun lauf!« Die anderen zerstreuen sich unter Pfiffen und Ru465
fen, bis auf Mary, die zu James' großer Befriedigung aufrichtig verwirrt dreinschaut. Er sagt: »Das ist ein Spiel, Mary! Du darfst dich nicht von ihm fangen lassen.« Sam, der eine halbe Elle vor ihr steht, spürt die unmittelbare Nähe eines Menschen, streckt beide Hände aus, hält inne, legt den Kopf schräg, dreht sich um und läuft direkt auf die Stelle zu, wo sich der Reverend über seine Tulpen beugt. »Er kann sehen! Schäm dich, Sam!« ruft Dido. »Daran lag es nicht«, sagt James. Sam nimmt die Augenbinde ab und gibt sie dem Reverend. Der Junge sieht Mary an. Er lacht. Der Reverend legt sich die Augenbinde um. Nach ein paar Minuten fängt er Mrs. Cole. Mrs. Cole fängt Tabitha. Tabitha, überraschend schnell zu Fuß, fängt James. James fängt Dido. Ihre Gesichter sind leicht gerötet, und sie sind etwas außer Atem. Tabitha, Mrs. Cole und Sam brechen nach Cow auf. Dido geht ins Haus und kommt mit einem Buch in der Hand wieder zurück. Sie hält es hoch. James erkennt es: Leben und Ansichten von Tristram Shandy. Der letzte Band. Zwei, drei Abende die Woche haben sie einander daraus vorgelesen, manchmal Dido, meistens aber James. Er sagt: »Möchten Sie jetzt ein wenig lesen. Miss Lestrade? Im Garten?« »Ich dachte, wir gehen zuerst ein bisschen spazieren und lesen dann am Fluss. Julius, möchtest du nicht mitkommen und etwas gegen den Effekt von Mrs. 466
Coles Kuchen tun? Ich hole dir feste Schuhe.« »Mrs. Coles Kuchen, meine Liebe«, antwortet der Reverend, »hat einen durchaus wohltuenden Effekt, was ich von Laurence Sterne nicht behaupten kann.« »Papperlapapp, Bruder. Als James das letztemal daraus vorgelesen hat, hast du gewiehert wie ein Pferd.« »Sterne war ein zweifelhafter Mensch«, sagt der Reverend. »Nein, geht ihr beide nur. Ich bin hier glücklich und zufrieden. Lassen Sie sie nur tüchtig gehen, Doktor. Sie ist es nämlich, die Bewegung braucht. Warum geht ihr euch nicht den ringenden Neger und seine Frau ansehen, wenn ihr schon dabei seid, wie?« Er schmunzelt, nimmt ein Knäuel Bindfaden aus der Tasche. Vom Stallhof kommt das Geräusch einer Säge. George Pace bei irgendeiner Arbeit. Dido geht ins Haus. James folgt ihr. Einen Moment lang schiebt sich eine Wolke vor die Sonne und zieht dann weiter. Das Licht scheint stärker denn je.
2 Der Pfad zur Landstraße ist schlammig, aber die Luft unter dem jungen Laub ist angenehm grün und kühl. Um ihre Schuhe zu schonen, gehen sie auf der Böschung hintereinander. Dido fragt James, wie es seinem Bein heute gehe. Er erwidert über die Schulter, dass das Wetter ihm gut tue und es bei weitem 467
nicht mehr so schmerze. Bei der Brücke angelangt, überqueren sie die Straße und steigen auf der anderen Seite die Böschung hinunter. Es gibt dort flache, von Bäumen beschattete Steine, die von der Straße aus nicht zu sehen sind. Sie haben schon öfter hier haltgemacht, um zu lesen, sich zu unterhalten oder auf den Fluss zu schauen, obwohl der Fluss hier kaum mehr als ein Bach ist, der in flachen Rinnsalen durch das steinige Bett läuft. Dido reicht James das Buch. Ein Band markiert die Seite. Er reibt sich die Augen. Heute trägt er seine Handschuhe nicht. Er räuspert sich, blickt auf, begegnet Didos Lächeln. Er fragt sich kurz, und zum hundertstenmal, ob er sie irreführt, ob sie erwartet, dass er ihr von Liebe spricht. Hat sie denn nie Mary aus seinem Zimmer kommen hören oder sehen? Hat sie beschlossen, es zu ignorieren? Andererseits könnte er seine Beziehung zu Mary ja auch selbst kaum erklären. Sie hat so viele Aspekte und ist in vieler Hinsicht vollkommen harmlos. Dido den Hof zu machen wäre Mary gegenüber kein Treubruch. Es entspräche vielleicht sogar Marys Absicht. »Finden Sie die Stelle nicht?« fragt Dido. »Gerade habe ich sie gefunden«, antwortet James. Er beginnt zu lesen. »In der Rückschau vom Ende des letzten Kapitels und bei Begutachtung des Erzählgespinstes erscheint es vonnöten, dass auf dieser und den fünf folgenden Seiten ein ordentliches Quantum ungleichartigen 468
Stoffs eingeschlossen werde, auf dass jene rechte Ausgewogenheit von Weisheit und Narretei gewahrt bleibt, ohne welche ein Buch kein einziges Jahr zusammenhalten würde...« James liest bis zum Ende, klappt das Buch zu und legt es auf den Stein. Dido sagt: »Es ist kein sehr schickliches Buch, dennoch kann ich nicht umhin, es zu mögen. Ich finde es schade, dass wir damit fertig sind.« James nickt. »Mr. Askew war der Meinung, dass es nur durch den Tod des Autors fertig geworden sei. Dass er, wäre er dazu imstande gewesen, mehr geschrieben hätte.« »Nun ja«, sagt Dido, »falls ich einen Roman schriebe, würde mir wohl das Ende die meisten Schwierigkeiten machen. Vielleicht war es bei Laurence Sterne ebenso.« »Sie meinen, zu sterben war leichter für ihn, als das Buch fertigzuschreiben?« Sie lacht. »Das nun ganz bestimmt nicht. Das wäre denn doch extrem.« »Ja. Aber der Tod ist jedenfalls ein Ende.« Dido hebt die Brauen. »Meinen Bruder dürfen Sie eine solche Häresie aber nicht hören lassen.« James lächelt sie breit an. »Sie missverstehen mich, Miss Lestrade.« Aus dem Dorf kommt ein einzelner Hornstoß. Dido sagt: »Das muss die Veranstaltung sein. Sie fängt jetzt 469
wohl an.« Nach kurzem Schweigen meint James: »Möchten Sie sie sich ansehen? Ich bin den beiden im letzten Winter einmal begegnet, aber ihre Vorstellung habe ich nicht gesehen.« Dido steht auf, klopft ihr Kleid ab. Sie zeigt ein sanftes, trauriges, geduldiges Lächeln. Sie sagt: »Wir könnten vielleicht kurz vorbeischauen. Ich möchte dort nicht unbedingt besonders auffallen.« »Wir werden nur vom Eingang aus zusehen. Dagegen ist nichts einzuwenden.« Das Horn tönt erneut, gerade als sie die menschenleere Landstraße erreichen. Es wird immer heißer. Die Sonne hat die Pfützen auf der Straße fast getrocknet. Die Bude steht auf einem kleinen Fleck Land in der Nähe von Caxtons Schenke; die Leinwand, einst rot und weiß, ist verschossen, die Streifen cremefarben und rostbraun. Während sie darauf zugehen, hört man jähen Applaus und Gejohle. Sie bleiben am Seiteneingang stehen, wo man die Klappen zurückgeschlagen und festgeschnürt hat. Die Gerüche, die James in die Nase dringen, sind ihm lebhaft vertraut: zerdrücktes Gras, Schweiß, Leinwand, Bier. Er würde Dido gern erzählen, wie er selbst einmal in einer solchen Bude aufgetreten ist und sich von Marley Gummer mit Nadeln stechen ließ. In der Bude befinden sich etwa vierzig Leute und 470
sehen zu, wie John Amazement ein Schüreisen verbiegt. Er ist bis zur Hüfte entkleidet; seine Schultern beben, er kneift die Augen zusammen und hält dann das U-förmige Eisen hoch. Er reicht es seiner Frau, die sogar noch kleiner ist, als James sie in Erinnerung hat, und sie begibt sich damit zwischen die Dörfler, lässt es sie in die Hand nehmen, während sie unter Gemurmel ihren Freunden zunicken. Mit schriller Stimme ruft sie sodann irgendeinen kräftigen Burschen auf, den »Mohren« herauszufordern. Die jungen Männer grölen. Jack Hawkins wird nach vorn geschoben. Er versucht, wieder in der Menge unterzutauchen, doch man schiebt ihn erneut nach vorn. Er schlurft in den Ring und hebt linkisch die Arme. Die Frau nimmt ihm Weste und Hemd ab. Er ist fast so groß wie der Neger und zwanzig Jahre jünger. Ein kräftiger Körperbau, da er auf den Äckern seines Vaters arbeitet, seit er gehen kann. Die Menge verstummt allmählich. Ein dicker Mann am Eingang brüllt: »Mach ihn kalt, Jacko!« John Amazement blickt sich um. Einen Moment lang sieht er James und macht eine kurze Gebärde, als habe er ihn erkannt. Dann wendet er sich seinem Gegner zu. Sie packen sich, ihre Füße schurren im Staub, die Muskeln an Rücken und Armen schwellen schimmernd. Hawkins greift an; der Neger taumelt, geht auf ein Knie, obwohl sein Gesicht immer noch ruhig ist, als ob er an etwas anderes, etwas Ernsthaftes und Friedliches denke. Die Menge johlt. Manche bewegen 471
sich, als rauften sie selbst mit geisterhaften Gegnern. James spürt den leichten Druck von Didos Schulter. Jack Hawkins schiebt den Neger rückwärts auf die Budenwand zu, den Kopf fest in dessen Bauch gedrückt. Dann dreht sich John Amazement plötzlich, so dass seine Kraft mit Hawkins' Schwung zusammenwirkt, und schleudert ihn so leicht und gekonnt herum, als sei der Bauer ein Junge in Sams Alter. Hawkins bleibt einen Moment atemlos auf dem Rücken liegen, rappelt sich dann auf, sein schweißnasser Rücken schmutzverklebt. Er schüttelt den Kopf, grinst und nimmt von der Frau sein Hemd und seine Weste entgegen. Die Frau wiederholt die Herausforderung. »Wer kann den Mohren besiegen?« John Amazement steht still hinter ihr und massiert sich die linke Schulter. Plötzlich taumelt er rückwärts, schreit auf, greift ins Leere und bricht zusammen, so dass der Boden unter seinem Gewicht erzittert. Die Raschheit, mit der das passiert, verblüfft alle. Sie starren den großen, ausgestreckten Leib an, ratlos ob der unheimlichen Reglosigkeit; die Frau geht langsam auf ihn zu. Sie ruft seinen Namen. Es kommt keine Antwort. Dido flüstert: »Was ist denn? Was ist passiert?« James' stärkster Drang ist der, zu verschwinden, rasch wegzugehen, ob mit oder ohne Dido. Er weiß, wenn er nicht sofort, in diesem Augenblick, geht, dann ist es zu spät, aber das Jetzt geht vorüber, und er hat sich nicht gerührt. Die Frau kniet neben dem Kopf 472
des Negers. Sie ruft, dass jemand ihm helfen möge. Sie bittet darum. James tritt in den Schatten der Bude; Köpfe drehen sich, man starrt ihn an. Er hört seinen Namen. Er blickt nirgendwo anders hin als auf den Neger und die Frau. Als sie ihn kommen sieht, hört sie zu jammern auf. Seine Gegenwart scheint sie zu beruhigen. Sie hebt die Arme zu ihm auf, plappert etwas, was er nicht verstehen kann und dem er nicht zuhört. Er blickt auf John Amazement hinab. Seit dem Anfall ist nicht mehr als eine halbe Minute verstrichen, doch es hat bereits den Anschein, als sei der Neger schon lange tot. James kniet nieder. Er will zu ihr sagen: »Er ist tot«, aber er kann es nicht; er kann den Gedanken an ihren Gram nicht ertragen. Er legt dem Neger leicht die Hand auf die Brust. Die Haut ist klamm, doch über dem Herzen spürt er eine gewisse Wärme. Er hat das schon einmal gespürt; es hält noch ein paar Minuten an, nachdem der Patient zu atmen und das Herz zu schlagen aufgehört hat. Er erinnert sich an einen Abend in Bath, eine junge Frau auf einem Ball, die ebenso plötzlich zusammenbrach. Man hatte gerade die Hornpipe getanzt. Er war mit Agnes Munro dort, und er hatte sich über das Mädchen gebeugt und vermutet, dass es das Herz war. Damals hatte er einen Moment lang etwas Tollkühnes erwogen: den Versuch, sie wiederzubeleben, indem er ihr die Brust öffnete. Es war ihm ganz spontan eingefallen, und der Gedanke hatte ihn erregt, doch er hatte seine Tasche 473
nicht zur Hand, und außerdem hätte der Anblick, wie er in einem Ballsaal eine junge Frau aufschnitt, wohl kaum seinen Ruf gemehrt. Nun hat er keinen Ruf mehr. Er sieht seine Hände an. Sie sind ruhig, jedenfalls ruhig genug. Er greift in seine Rocktasche und zückt sein Taschenmesser. George Pace hat es erst neulich am Wetzstein geschärft, als er eine seiner Sicheln schliff. Jetzt schneidet es gut. »Damit könnten Sie einen Fisch entgräten, Herr Doktor«, hat Pace gesagt. James sieht die Frau an, bringt ein Lächeln, eine Grimasse zustande. Sie sieht das Messer in seiner Hand. »Hab Vertrauen«, sagt er, und die Worte gelten ebenso sehr ihm selbst wie ihr. »Hab Vertrauen.« Sie nickt. Vielleicht versteht sie. Sie wendet den Blick ab. Er hat Grimaldis Uhr in der Tasche, doch heute wird ihm keiner die Zeit messen. Er drückt die Messerspitze gegen John Amazements Brustbein und lockert dann seinen Griff um das Heft. Er weiß, wie schwer es ist, in Menschen einzuschneiden, wie widerständig das Fleisch mit seinen Flechsen und Fasern sein kann; aber man darf das Messer nicht so halten, wie ein Kind eine Feder hält. Es muss in der Hand schweben wie der Pinsel des Künstlers. Er schneidet im Knien, ohne das entsetzte, das ungläubige Raunen der Umstehenden, ohne die in der Bude herrschende Hitze und den Schmerz in seinem abgewinkelten Bein gewahr zu werden. Er öffnet die Brust, durchschneidet die Rippenknorpel, erblickt das 474
Herz im faserigen Balg des Herzbeutels, halb versteckt hinter dem linken Lungenflügel; tastet danach, packt es, drückt. Eine einzige Minute lang hat er seine frühere ungeschmälerte Aufmerksamkeit wiedergewonnen. Das ist das Ziel, auf das der Pfeil seines Lebens abgeschossen wurde. In dieser Tat laufen seine gesamten Erfahrungen zusammen. Sie ist die wahre, die unvorhergesehene Ernte. Seine Hand ahmt den Takt des Herzens nach. An der Augenoberfläche des Negers taucht Leben auf. Der Tote lebt, er keucht und spuckt, als sei er unter Wasser gewesen und rasch und heftig wieder an die Luft gekommen. Er spricht, eine dem Schweigen, dem Tod abgewonnene Stimme. Er keucht erneut und spricht dann leise und klar ein halbes Dutzend Worte, die James wie umgekehrte, wie Spiegelworte anmuten, die Sprache der Toten, ein in den Mund zurückgeschmuggelter Satz. Die Frau sieht James an. Sie hat Staub im Gesicht, der der Spur ihrer Tränen anhaftet. Sie sagt: »Das ist seine eigene Sprache. Das ist Afrika.«
3 Mit der Zeit bildet sich eine große graue Narbe auf seiner Brust, und er nimmt einen anderen Namen an. Er ringt nicht mehr. Er lebt. Der Wundarzt dagegen, dessen Namen der Neger vergessen hat, dessen Gesicht jedoch all die Jahre seines Lebens durch 475
seinen Schlaf schwebt wie der Mond auf Wasser, der Wundarzt, der mit dem Pfarrer und dessen Schwester befreundet war und der, wie manche, wahrheitsgemäß oder nicht, behaupten, bis Russland gekommen ist, die Kaiserin kennengelernt und Abenteuer erlebt hat, ein artiger, trauriger, humpelnder, gescheiter Mensch - er überlebt den Sommer nicht, sondern stirbt an einem Augustmorgen auf einem Feld mit Sommergerste in der Nähe des Dorfes, auf dem Schoß sein Skizzenbuch; vom Tod gefällt, kippt er mit einem einzigen, kurzen Schrei der Überraschung hintüber von seinem Hocker, und bei ihm ist nur ein Junge, ein Junge und ein Hund. Niemand, der ihm in den Leib greifen und ihn zurückholen könnte. Während der Junge Hilfe holt, liegt James fast eine Stunde lang allein da, eine dunkle, kreuzförmige Gestalt, das Gesicht von den Wolkenschauen gestreift, die Ähren um ihn herum schwankend wie eine Menschenmenge, eine gleichgültige goldene Menge. In der Küche im Hause des Reverend hält Mary, die gerade Äpfel für einen Kuchen schält, in ihrer Arbeit inne und legt das Messer und den Apfel auf das Hackbrett. Als Mrs. Cole von ihrem Teig aufblickt, sieht sie zu ihrer Überraschung, dass ihre Freundin lächelt.
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Epilog Der Sarg wird mit einem Karren bis zur Brücke gefahren und dann von den Männern geschultert. George Pace, Mr. Astick - auf seinen eigenen, ausdrücklichen Wunsch -, Ween Tull, Killick und Urbane Davis, alle in ihren besten Kleidern, mit schwarzseidenen Hutbändern und, eine Gefälligkeit des Reverend, Handschuhen aus schwarzem Sämischleder, das Paar zu zwei Shilling sechs Pence. Der Reverend geht mit seiner Schwester und Lady Hallam dem Sarg voran. Dahinter kommen Mary und Sam, Mrs. Cole und Tabitha, Dr. Thorne, Mrs. Clarke und ein Dutzend Kleinbauern und Handwerker, die den Verstorbenen gekannt haben, gut genug jedenfalls, um ihm das letzte Geleit zu geben. Es ist ein Tag für eine Beerdigung: kühle Luft, niedrige Wolken, leichter Nieselregen. Clarke, der Totengräber, erwartet sie am Tor. Unter Glockengeläut tragen sie den Sarg den Weg hinauf in die Kirche. »Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue; er führet mich aufrechter Straße um seines Namens willen...« Dido betupft sich die Augen, ebenso wie Mrs. Cole und Tabitha, und bei Sam, der zum erstenmal tiefen Gram erfährt, sind die Tränen trotz aller Bemühungen unstillbar. Der Reverend denkt: Wie schrecklich, dass der Junge dabeisein musste, als er starb. Ein furchtba477
rer Schock. Dabei hatte es den Anschein, als würde James gesünder, kräftiger. Und auch glücklicher. In den letzten Monaten hätte man ihn fast als glücklichen Menschen bezeichnen können. »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen...« Der Sarg wird auf den Kirchhof getragen. Mr. Clarke und sein Helfer, Mr. Potter, warten respektvoll am Rand des Grabes. Das Grab daneben ist noch frisch: Sally Caxton und ihr Kind. Tote Blumen auf der Erde, Blütenblätter mit braunen Rändern, die sich im Geniesel in Mulch verwandeln. Die Trauernden versammeln sich. Der Reverend, das Buch in der Hand, ohne jedoch hineinzusehen, sagt: »Des Menschen Tage gleichen dem Gras; er blüht wie die Blume des Feldes. Ein Hauch des Windes, schon ist sie dahin; und der Ort, wo sie stand, er hat sie vergessen...« Mr. Astick streift seine Handschuhe ab, hebt einen Erdklumpen auf, zerkrümelt ihn in der Hand und verstreut ihn über dem Sargdeckel. Lady Hallam tut es ihm nach; dann gibt sie Sam etwas Erde in die Hand, und er beugt sich vor und lässt sie fallen, behutsam, als sei der Sargdeckel etwas, was eine Prellung davontragen könnte. Am Kopfende des Grabes, die Augen braune Lichtschlitze, hält Mary ihre eigene Andacht, ruft ihre eigenen Geister, damit sie sich 478
unter jene mischen, die die Luft über Cow bevölkern. Als es vorbei ist, gehen sie zum Tor. Der Reverend lädt zu einem Glas Wein ins Pfarrhaus ein. Lady Hallam nimmt Dido und Mrs. Cole in ihrer Kutsche mit. Die anderen machen sich zu Fuß zur Brücke auf. Einige werden auf dem Karren Platz finden, und die anderen haben ihre Pferde dort, an Bäume angebunden und unter der Obhut eines Jungen. Der Himmel hat deutlich aufgeklart. Sie reden nicht viel. Von den Feldern kommen die Geräusche der Erntearbeiter. Eine Frau, im einen Arm einen Säugling, im anderen einen Steinkrug, bleibt stehen und neigt den Kopf, als die Gesellschaft vorübergeht. Der Reverend nickt ihr zu, murmelt ihren Namen. Im Graben neben ihm fällt ihm etwas ins Auge. Er bleibt stehen. Mr. Astick blickt ihm über die Schulter. »Armes Geschöpf«, sagt er. Die Männer gehen weiter; die anderen sehen kurz hin, jedoch ohne innezuhalten. Nur Sam, der der Gruppe hinterher trottet, bleibt stehen und kauert sich nieder. Auf der Böschung des Grabens liegt ein Kätzchen mit durchgeschnittener Kehle. Es liegt offenbar noch nicht lange da. Sein Brustfell ist steif von Blut, und das Gras drum herum zeigt kirschrote Flecken. Die Augen sind, wie gegen sein eigenes Leiden, fest geschlossen, und im halb geöffneten Maul kann er die Zunge und die noch perlweißen Zähne sehen. Sam hebt einen Stock auf und stupst das Kätzchen an, fast als rechne er in dieser 479
Ära der Wunder damit, dass es aufwacht und wegläuft. Dann schiebt er den Stock unter den Körper des Tiers und schubst es durch Rittersporn, Glockenblumen und Hahnenfuß hindurch die Böschung hinunter auf den Grund des Grabens.
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