Das Buch Seit Jahrhunderten befinden sich die Königreiche Morgravia und Briavel in einem unerbittlichen Krieg. Als der ...
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Das Buch Seit Jahrhunderten befinden sich die Königreiche Morgravia und Briavel in einem unerbittlichen Krieg. Als der junge Wyl Thirsk nach dem frühen Tod seines Vaters die Nachfolge als General der morgravischen Armee antritt, scheint eine bessere Zeit anzubrechen. Doch auch Morgravias Thron wird neu besetzt, und König Celimus erweist sich als machthungriger Despot, der ein grausames Regiment führt. Um Briavel durch eine List ein für alle Mal zu erobern, schickt Celimus seinen Rivalen Wyl Thirsk ins Verderben. Er ahnt jedoch nicht, dass die geheimnisvolle Myrren, die der Hexerei bezichtigt wurde, Wyl vor ihrem Tod eine besondere Gabe verliehen hat. Ein gefährliches Spiel beginnt... »Die dunkle Gabe« ist der fulminante Auftakt zu Fiona Mclntoshs Fantasy-Bestseller-Saga DER FEUERBUND. Die Autorin Fiona Mclntosh, geboren in Brighton, England, ist zeit ihres Lebens viel gereist: Sie verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Afrika, arbeitete in Paris und siedelte schließlich nach Australien über. Gemeinsam mit ihrem Mann gibt sie ein Reisemagazin heraus. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Adelaide, Südaustralien. Mehr zu Autorin und Werk unter: www.FionaMcIntosh.com
FIONA McINTOSH
DIE DUNKLE GABE DER FEUERBUND Erster Roman
Aus dem australischen Englisch von Beate Brammertz Deutsche Erstausgabe Titel der englischen Originalausgabe THE QUICKENING 1: MYRREN'S GIFT
Für meine gute Freundin Diane Rogers, deren faszinierende Erfahrung mit einer »Seherin« mich unbeabsichtigter weise zu dieser Geschichte inspirierte.
PROLOG
ER WUSSTE, DIE VERLETZUNG wäre tödlich. Doch er akzeptierte sein Schicksal in dem Moment, als er das bedrohliche Funkeln des Schwertes erblickte. Es sauste auf ihn nieder. Fergys Thirsk, der Lieblingssohn Morgravias, trat den letzten Teil seiner Reise in Richtung Tod an, während eine graue Morgenröte schwerfällig über den Winterhimmel kroch. Thirsk stellte sich seinem Ende mit demselben würdevollen Mut, den er sein ganzes Leben als General der Legion bewiesen hatte. Der König hatte entschieden, die auf dem gegenüberliegenden Abhang versammelten Briavellianer unter dem schützenden Mantel der Nacht anzugreifen. Fergys hatte diesen Befehl nicht gutgeheißen. Es erschien ihm wenig ehrenvoll, die traditionelle Nachtruhe zu stören, in der die Männer ruhig um kleine Feuer saßen. Einige von ihnen sangen, während andere tief in Gedanken versunken waren und sich fragten, ob sie den nächsten Tag in der Schlacht überleben würden. Doch der König hatte sich in den Kopf gesetzt, seine Feinde in einer Nacht zu überrumpeln, in der dunkle, tief hängende
Wolken das Mondlicht verbargen. Der Fluss Tague, der die Reiche Morgravia und Briavel von den Bergen im Norden bis weit ins südliche 3
Binnenland hinein voneinander trennte, war rot vom Blut beider Armeen. Die Schlacht dauerte schon den ganzen Tag. Deshalb wollte Fergys seine Männer nicht so bald wieder in den Kampf schicken. Aber sein Herrscher hatte darauf bestanden, und Thirsk hatte die Herausforderung angenommen. Es war nicht so, dass ihn eine böse Vorahnung beschlich, als er dem Wunsch des Monarchen gehorchte und zum Angriff blies. Fergys gefiel das Ganze nur einfach nicht. Er war ein Mann der Ehre und Tradition. Auch im Krieg gab es einen Kodex, den er lieber einhielt, als sich darüber hinwegzusetzen. Trotzdem hatte er grimmig und verbissen gekämpft - er hätte es gar nicht anders gewusst -, war aber beunruhigt, als sich Magnus, sein Freund und König, selbst ins Gefecht stürzte. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, hielt Fergys die Stellung und schickte drei Briavellianer in den Tod, bevor er seinen Herrscher beschützen konnte. »Der weiße Umhang ist auch wirklich unauffällig«, rief er seinem ältesten und treuesten Freund voll Sarkasmus über den schrecklichen Schlachtenlärm hinweg zu. Magnus war kühn genug, ihm zuzuzwinkern. »Musste Valor doch wissen lassen, dass wir hier sind, wenn wir seine Armee schon unterwerfen.« Es war waghalsig und gefährlicher, als es sich der König je hätte vorstellen können. Sie kämpften auf der briavellianischen Seite des Flusses, und sobald sich das Überraschungsmoment verflüchtigt hatte, waren die beiden Armeen dazu übergegangen, einander abzuschlachten. Valors Männer waren keine Feiglinge und kämpften mit frisch geschöpfter Leidenschaft, um Morgravia abzuwehren. 3
Fergys hatte Briavels königliche Standarte gesichtet - was bedeutete, dass sich auch Valor mitten im Kampfgetümmel aufhielt - und nun, da das lebensspendende Blut aus ihm heraussickerte, dachte er daran, wie er sich um beide Könige gesorgt hatte. Da Briavel den Vorteil hatte, weit oben am Abhang postiert zu sein, hatte Fergys die Entscheidung zum Rückzug getroffen. Seine Armee hatte den Feinden bereits einen hohen Preis abgerungen; es gab also keinen Grund, dass einer der beiden Herrscher sterben musste. Nach Morgenanbruch und dem unausweichlichen letzten Aufbäumen, das noch folgen würde, würde Morgravia seinen Gegner ein weiteres Mal besiegen. Dementsprechend hatte er seine Befehle gegeben, und seine Männer gehorchten augenblicklich. Alle außer einem. Und es war dieser eine Mann, den Fergys Thirsk geschworen hatte zu beschützen. Der eine, für den er sein Leben gäbe. Wie den anderen Generälen der Familie Thirsk, die vor Fergys das Zeitliche gesegnet hatten, war auch ihm ein langes Leben beschieden gewesen. Als der tödliche Hieb ihn traf, bedauerte er daher nur, dass er nicht bei seiner geliebten Familie sein konnte. Fergys war es nicht gewohnt zu verlieren, doch es
schien, als verlange Shar ihm heute alles ab; sein Gott forderte sein Leben, und Thirsk gab es ohne Zögern. Er hatte so viele Kämpfe gefochten, war tapfer und zäh gewesen und selten mit schlimmeren Verletzungen als einer leichten Wunde heimgekehrt. Diese Schlacht hätte keine Ausnahme bilden sollen. Doch dann hatte Fergys die Gefahr bemerkt, die Schreie seiner Männer vernommen und war wild entschlossen vor 4
das herabsausende Schwert gestürzt. Bis zu diesem verhängnisvollen Augenblick war eine feine Linie getrockneten Blutes an der Wange das Bedrohlichste, was eine Klinge ihm je angetan hatte. Seine Pflicht stand jedoch an erster Stelle. Fergys hatte keine Sekunde gezaudert, sich zu König Magnus durchzukämpfen - er wusste, dass ihm sonst nicht die Zeit bliebe, den unausweichlichen Schlag abzublocken. Das Einzige, was zwischen dem Überleben des Königs und seinem eigenen, sicheren Tod stünde, war Fergys zerbrechlicher Körper, den er mit Freuden darbot. Das Schwert sauste herab, und das unerbittliche Schicksal führte es geschickt unter den Brustharnisch des Generals. Trotz der tief klaffenden Bauchwunde zuckte er nicht einmal zusammen, so sehr konzentrierte er sich darauf, den Briavellianer zu töten, um das Leben seines Königs zu retten. Erst danach ging Fergys Thirsk zu Boden. Noch war er zwar nicht tot, doch seine längste Reise hatte begonnen. Als sie ihn vom Schlachtfeld und über den Fluss trugen, rief er seinen Offizieren immer noch Befehle zu. Einmal glaubte er das Signal zum Rückzug vernommen zu haben und legte sich auf die Bahre zurück, die ihn zum Feldlager von Morgravia bringen würde. Der Weg schien endlos zu sein, und er nutzte die Zeit, um über sein Leben nachzudenken. Es gab wenig, über das er sich beklagen konnte. Er wurde geliebt. Das allein sollte jedem Mann genügen, entschied er, doch da gab es noch so viel mehr. Überall wurde ihm Respekt gezollt - den hatte er sich erarbeitet -, und er war Schulter an Schulter neben einem König durchs Leben gegangen, den er seinen Freund nennen durfte. Mehr als das ... einen Blutsbruder. 4
Dieser Bruder eilte nun entsetzt neben ihm her, gab Befehle, machte unnötig viel Aufhebens und murmelte in sich hinein, dass alles seine Schuld sei; seine Dummheit und sein Leichtsinn hätten den großen General das Leben gekostet. Es spielte keine Rolle. Fergys wollte ihm das sagen, aber seine Stimme war nicht mehr kräftig genug, um den Lärm der sich zurückziehenden Soldaten zu übertönen. Er hätte seinen Blutsbruder gern zum Schweigen gebracht und ihn daran erinnert, dass Shars Späher gesprochen hatten, und egal, ob es ihnen gefiel oder nicht, er musste ihrem Ruf folgen. Ohne Bedauern. Pflichtbewusst. Die Männer verneigten sich, als die Bahre an ihnen vorbeigetragen wurde. Fergys wünschte inständig, er könnte jedem seinen Dank aussprechen. Die Legion brachte außergewöhnliche Soldaten hervor, die ihrem Oberbefehlshaber treu ergeben waren. Sie hatten ihn nie im Stich gelassen,
keine seiner Entscheidungen infrage gestellt. Besorgt fragte er sich, wie sie den neuen General aufnehmen würden, und wünschte sich eine letzte Gelegenheit, ihr Wohlwollen zu erbitten. »Gebt dem Jungen eine Chance!«, wollte er sie flehentlich ersuchen. »Er wird so werden wie ich, und noch viel besser.« Und er wusste, dass es die Wahrheit war. Er musste an seinen Jungen denken. Ernst, tiefgründig, ein strenger Anhänger der Traditionen. In ihren Adern floss dasselbe Blut, und auch äußerlich ähnelten sie einander sehr. Die Thirsks waren keine Schönheiten, sondern stämmige, furchtlose Männer, und sein Junge entwickelte sich bereits zu einem geborenen Anführer. Die morgravianische Legion folgte einem eigentümlichen Brauch, bei dem die Führerschaft vom Vater auf den Sohn vererbt wurde. Fergys fragte sich, ob diese Sitte fortdauern würde. Sein Sohn li
war noch so jung. Gäbe man ihm die Zeit, seinen eigenen Erben zu zeugen, um die Tradition der Thirsks weiterzuführen, oder würde ihm eine neue Familie das Recht streitig machen, die Armee zu befehligen? Die Thirsks lenkten das Geschick der Legion nun schon seit zwei Jahrhunderten. Es war ein außergewöhnliches Geschenk für eine Familie, Söhne großzuziehen, die alle für den Krieg geboren und mit außergewöhnlicher Intelligenz gesegnet waren. Tief in seinem Herzen wusste Fergys, dass sein Sohn der beste General werden würde, den es je gegeben hatte, denn er hatte von seiner Mutter Demut gelernt, die seinem Mut ebenbürtig war, und er schien außerdem einen unbeugsamen Willen zu besitzen. Die Trage mit dem sterbenden General näherte sich dem Zelt, und Fergys wusste, dass dies seine letzte Ruhestätte wäre. Sobald man ihn abgesetzt hätte, würde er sich -solange sein Herz es zuließ - ganz auf seinen König konzentrieren müssen. Er hätte gern mehr Zeit für die Erinnerung an seine wunderschöne Gattin Helyna gehabt, von der viel in ihrem Sohn weiterlebte. Nicht ihr gutes Aussehen, nein. Ihre erlesenen Gesichtszüge gehörten ganz allein ihrer Tochter. Fergys zuckte vor Kummer zusammen. Seine Tochter war so jung ... zu jung, um beide Elternteile zu verlieren. Wie würde seine Familie mit dem Schicksalsschlag umgehen? Geld würde kein Problem sein. Sie waren das wohlhabendste Adelsgeschlecht, abgesehen vielleicht von den Donais von Felrawthy. Er würde sich ganz auf Magnus verlassen müssen. Und er wusste, dass er das konnte. Was seine Familie jetzt brauchte, war Zeit. Zeit, sich in ihr neues Leben einzufinden. Ein Waffenstillstand musste mit Briavel 5
geschlossen werden, bis der junge Thirsk bereit war, die Armee wieder in den Krieg zu führen. Diese friedvolle Zeit musste bitter erkauft werden, und er hoffte, dass sein Leben als Preis genügte. Sie legten ihn nieder. Der König hatte darauf bestanden, dass man ihn in das königliche Zelt brachte. Ärzte eilten an seine Seite. Der General ignorierte ihre gründliche Untersuchung, da er wusste, dass ihr schlussendlich ein Kopf schütteln und ernste Blicke folgen würden. Fergys schloss die Augen, um die jähe Emsigkeit auszublenden und sich seinen eigenen Gedanken hinzugeben.
Der ganze alte Hass. Das alles erschien ihm jetzt so sinnlos. Valor von Briavel war ein guter König. Er hatte eine Tochter, allerdings wenig Aussichten, noch einen Sohn zu zeugen. Valor hatte nach dem Tod seiner Gattin keine Anstalten gemacht, ein weiteres Mal zu heiraten. Es wurde gemunkelt, ihrer Ehe läge eine Liebe zugrunde, die von Shar gesegnet worden sei. Und nun, mit siebzig, war er wahrscheinlich schon zu alt, um sich damit zu plagen, einen männlichen Nachkommen in die Welt zu setzen. Auch er brauchte Frieden, damit Briavels Prinzessin erwachsen werden und in ihre Rolle hineinwachsen konnte. Die Kriege waren fast schon Tradition. Ihre Vorfahren hatten gegeneinander gekämpft, doch da waren sie nichts weiter als sich befehdende Familien. Anfangs ging es nur darum, die Machtverhältnisse zwischen zwei kleinen Stämmen aufrechtzuerhalten, die einander argwöhnisch beäugten. Doch als die beiden einflussreichsten Familien ihre eigenen Herrschaftsgebiete ausriefen und Königreiche gründeten, wurden Kriege geführt, um ihre jeweilige Stärke auszubauen, Land hinzuzugewinnen und den eigenen Einfluss zu vergrößern. Über die Jahrhunderte 6 hinweg schaffte es keiner, die Herrschaft über das gesamte Land des anderen an sich zu reißen, und somit verflachte ihre Feindschaft zu kleinlichem Zank über Marktrechte oder Handelsstraßen - jeder nichtige Grund kam ihnen gelegen, und als Magnus und Valor ihre Kronen erbten, war keiner der beiden mehr sicher, weshalb die Königreiche einander derart verbittert hassten. Fergys schüttelte den Kopf. Wenn er ganz ehrlich war, so bewunderte er Valor und beklagte den Umstand, dass die beiden Könige nur geografische Nachbarn waren. Wären sie einander in Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbunden, wären die beiden Ländereien reicher, als sie sich in ihren kühnsten Träumen ausmalen konnten - und beinahe unbesiegbar. Jetzt würde er nicht mehr miterleben, wie dieser Traum Wirklichkeit wurde. Er seufzte schwer. »Rede mit mir«, bat ihn sein König, in dessen Stimme tiefe Schuldgefühle mitschwangen. »Schick die Ärzte fort, Magnus. Wir wissen doch, dass es vorbei ist.« Der König neigte traurig den Kopf und erteilte den Befehl. Alle außer seinem Freund wurden von Thirsk aus dem Zelt verbannt. Er würde keinerlei rührselige Verabschiedungen von seinen Offizieren dulden. Weder ihr Mitleid noch ihre Verzweiflung könnte er ertragen. Sie gingen schweigend hinaus, überwältigt von dem Gedanken, dass ihr General womöglich nicht einmal mehr den Sonnenaufgang erleben könnte. Thirsk bat, die Zeltklappe offen zu lassen, damit er über das Moor den Rauch der weit entfernten Feuer des briavellianischen Lagers sehen konnte. Von dort würde bald der 6
schreckliche Lärm sterbender Männer und Tiere herüberziehen, falls der Kampf erneut entbrennen sollte. In seinem Herzen wusste Thirsk, dass beide Armeen bluteten und ausgezehrt waren. Alle warteten nun gespannt auf den Ausgang des nächsten Scharmützels zwischen den uralten Feinden, damit sie in ihre Städte oder Dörfer zurückkehren konnten. Viele würden natürlich nicht
mehr heimkehren, und ihre Witwen und Mütter, Schwestern und Verlobten stammten zum Großteil aus Briavel. Und dennoch, dachte Fergys Thirsk, während er immer tiefer in die kühle Umarmung des Todes sank, würde es später in den briavellianischen Schänken heißen, das riesige Reich Morgravia habe in dieser Schlacht einen überwältigenden Verlust erlitten. Erschöpft blickte der General zu seinem ältesten und engsten Freund. »Für sie ist es zu Ende«, sagte König Magnus von Morgravia schließlich. Thirsk versuchte zu nicken, erleichtert, dass Magnus aus seiner bestürzten Benommenheit herausgefunden hatte. Es gab viele Dinge zu besprechen, und ihnen blieb wenig Zeit. »Valor wird weiterkämpfen wollen«, warnte ihn Fergys. »Er wird nicht hinnehmen, dass Briavel völlig das Gesicht verliert.« Der König seufzte. »Und werden wir das zulassen?« »Das hast du bisher immer. Zieh diesmal unsere Männer vollständig zurück und lass ihm die Nachricht meiner Verletzung und meines anschließenden Hinscheidens zukommen«, erwiderte sein sterbender Gefährte und zitterte nun, nachdem er die Betäubung abgeschüttelt hatte, in schrecklichen Todesqualen. »Es wird ein stolzer Augenblick für sie 7
sein, und dann können wir alle nach Hause gehen«, fügte er hinzu, wissend, dass er in schwarzes Leinen gehüllt und an sein Pferd gebunden heimkehren würde. Die Schlacht war gewonnen. Morgravia hatte wie gewöhnlich unter General Thirsk den Sieg errungen. Es war nicht immer so gewesen. Es hatte Jahrhunderte gegeben, in denen Briavel triumphierte. Die beiden Nationen verband ein langer und schillernder Hass. »Ich frage mich, warum ich ihn verschonen soll - hältst du mich für schwach?«, überlegte Magnus. Fergys wollte ihm sagen, dass es nicht Schwäche, sondern Mitgefühl war, wenn Morgravia heute der Versuchung widerstand, seinen Gegner abzuschlachten. Das -und Magnus hatte nie zuvor seinem besten Freund beim Sterben zusehen müssen. Auf einmal war dem König der Krieg nicht mehr wichtig. Und wenn Mitleid von Schwäche zeugte, dann liebte Fergys seinen Herrscher für dessen widersprüchlichen Charakter, der einen morgravianischen Verbrecher ohne mit der Wimper zu zucken zum Tode verurteilte, aber auf dem Schlachtfeld das Leben seiner Feinde schonte. Es war die rätselhafte Mischung aus Impulsivität und Ehrgefühl, Eigensinn und Nachgiebigkeit, die Fergys schon seit Kindertagen an Magnus faszinierte. Thirsk bemerkte, dass seine Atmung immer flacher wurde. Er hatte dies schon viele Male auf dem Schlachtfeld erlebt, während er die Hand eines Sterbenden gehalten und dessen letzten mühsamen Worten gelauscht hatte. Jetzt war er selbst an der Reihe. Der Tod winkte ihm zu, doch er würde noch einen kurzen Augenblick warten müssen. Es gab noch so viel zu sagen, auch wenn ihm das Reden große Schmerzen bereitete. »Wenn in deiner Entscheidung 7
Schwäche liegt, dann steckt sie gleichermaßen in uns allen«, erklärte Fergys. »Denn ohne sie würden Briavel und Morgravia nicht die übliche Gelegenheit nutzen können, ihre jungen Männer auf edlen Rössern über das Moor galoppieren zu lassen, um einander umzubringen.« Magnus lächelte über die ironischen Worte und nickte. Schon so lange hatte stets ein Thirsk an der Spitze der morgravianischen Armee gestanden, dass alle bis auf die Geschichtsschreiber aufgehört hatten, die Jahre zu zählen. Die Thirsks zeugten außergewöhnliche Soldaten. Es war eine Gabe, sagten die Menschen. Doch in diesem besonderen Thirsk hatten sich noch weitere außergewöhnliche Eigenschaften versammelt, etwa sein Respekt vor dem Gegner und ein ungetrübter Gerechtigkeitssinn, seine Demut, Sinn für Humor und eine tiefe Abneigung gegen den Krieg. Fergys Thirsk zog nur widerwillig in den Kampf. Für ihn standen der Schutz des Friedens und die Unantastbarkeit des Lebens an oberster Stelle, besonders das der eigenen Männer. Aber die Geschichte zeigte, dass Fergys Thirsk der bisher erfolgreichste General war, und nie war eine Schlacht unter seinem Befehl verloren worden. Für seine Männer war er eine Legende. Magnus sagte stets, wenn sein General den Soldaten befehlen würde, über eine Klippe zu reiten, täten sie dies ohne zu zögern. Durch einen Nebel aus Schmerz betrachtete Thirsk den trauernden Mann vor sich und bemerkte zum ersten Mal, wie grau sein Haar geworden war. Früher einmal glänzend und voll, rahmte es ein willensstarkes Gesicht ein, mit einem entschlossenen Kinn und Augen, in denen sich die eindrucksvolle Intelligenz des Mannes widerspiegelte. Doch auf einmal kam Thirsk seine Haltung gebeugt vor, als 8
würde Magnus sein großer Körper langsam zu schwer, um ihn mit sich herumzuschleppen. Sie wurden allmählich alt. Der General stieß ein kratziges Lachen aus. Er selbst würde keinen Tag älter werden. Magnus riss bei dem unerwarteten Geräusch den Kopf hoch, und Fergys zuckte die Achseln, was eine neue Welle der schmerzenden Pein durch seinen geschundenen Körper sandte. »Wir haben immer über fast alles lachen können, Magnus.« »Nicht darüber, Fergys. Nicht darüber.« Er seufzte erneut. Fergys konnte den Schmerz aus dem tiefen Atemzug heraushören. Sie hatten die Kindheit zusammen verbracht. Ihre Väter hatten sie gemeinsam aufgezogen, doch eine Freundschaft war ihnen nie aufgezwungen worden. Fergys hatte den Thronerben und dann den König verehrt, wohingegen Magnus seinen General abgesehen vom Geburtsrecht als seinen Bruder ansah. Er liebte Fergys von ganzem Herzen und legte viel Wert auf seinen Rat, hatte ihn während seiner langen und blühenden Regentschaft stets um seine Meinung gebeten. Gemeinsam waren sie nicht nur klug, sondern auch gerissen. »Was soll ich tun?«, flüsterte der König. Mit letzter Kraft drückte Fergys die Hand des Königs. »Majestät, es entspringt meiner tiefsten Überzeugung, dass du den Tod von König Valor von Briavel ebenso wenig bejubeln würdest wie den meinen.
Morgravia hat wahrscheinlich das nächste Jahrzehnt über nichts mehr von ihm zu befürchten - lass es dabei bewenden. Beruf eine Friedensverhandlung ein, Sire. Kein einziger junger Mann soll heute sein Leben lassen.« 9
»Nichts lieber als das. Ich hege nicht den geringsten Wunsch, diesen Kampf unnötig in die Länge zu ziehen, das weißt du ganz genau, und wäre ich nicht so dumm gewesen, würdest du ...« Thirsk unterbrach den schuldbeladenen Wortschwall des Königs durch ein krampfhaftes Husten. Blut ergoss sich über sein Hemd - das unheilvolle Zeichen, dass der Tod nicht länger auf sich warten ließe. Magnus wollte schon nach Leinentüchern greifen, da schob Fergys seine eifrigen Hände fort und beantwortete stattdessen die Frage. »Mein Tod sollte ausreichen ... er wird als bedeutender Schlag für Morgravia angesehen werden«, sagte er nüchtern, bevor er hinzufügte: »Valor ist stolz, aber nicht töricht. Er hat keinen männlichen Nachkommen, Sire. Seine junge Prinzessin wird eines Tages Königin werden und dann eine eigene Armee benötigen. Und damit Briavel die Soldaten der Zukunft zeugen kann, braucht es Frieden. Doch ihre Männer und auch unsere täten gut daran, den uralten Streit ganz und gar zu begraben. Die Bedrohung aus dem Norden ist sehr real, Majestät, und zwar für beide Königreiche. Vielleicht seid ihr eines Tages sogar aufeinander angewiesen.« Thirsk spielte auf Cailech an, den selbst ernannten König des Gebirgsvolks. In seiner Jugend war Cailech lediglich ein Emporkömmling und der unerhört junge Anführer eines lärmenden Haufens zäher Gebirgsleute, die kaum ihre steilen, eindrucksvollen Bergketten verließen, welche den hohen Norden und den Nordosten des Reiches begrenzten. Sein Volk hatte sämtliche Stammesstreitigkeiten untereinander und innerhalb der Razors, wie das Land im Norden genannt wurde, beigelegt. Damals, vor etwa fünfzehn Jahren, hatte dieser junge Krieger, der nicht mehr als 9
achtzehn Sommer gezählt haben mochte, damit begonnen, die Stämme mit Gewalt zu vereinen. Thirsk war seit einigen Jahren sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Cailech genug Selbstvertrauen erlangt hatte, um über die Berge nach den fruchtbaren Ländereien von Morgravia und Briavel zu schielen. »Ich werde weiterhin die Legion im Norden verstärken«, sagte Magnus, als habe er die Gedanken seines Freundes gelesen. »Dann kann ich in Frieden ruhen.« Thirsks Atem ging nun immer schneller. Magnus musste all die Gefühle niederkämpfen, die in ihm aufzuwallen drohten. »Und was dich betrifft, mein teurer Freund: Was kann ich für dich tun, bevor du mich allein lässt?« Sie umschlossen ein letztes Mal die Hände, wie es Brauch in der Legion war. »Ein Blutbündnis, Sire.« Der König hob eine Augenbraue. Er erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihr Blut vermischt hatten. Sie waren Jungen und durften dem Ritual beiwohnen, das zwischen den ehemaligen Herzögen von Felrawthy und Argorn vollzogen
wurde - ein besonderes Ritual, das Morgravias bedeutendste Herzogtümer im Norden und Süden des Reiches vereinte. Die beiden Knaben hatten der Zeremonie mit großen Augen zugesehen und waren beeindruckt von der Feierlichkeit und der tiefen Verpflichtung der Beteiligten. Es war Magnus' Idee gewesen, es den Erwachsenen gleichzutun. »Wir legen folgendes Versprechen ab«, hatte er zu Fergys gesagt. »Du wirst mich als deinen König lieben, und ich werde dich als meinen General lieben, doch darüber hinaus werden wir Blutsbrüder sein.« 10
Sie waren mutig genug gewesen, sich gegenseitig zu schneiden und die Handflächen aufeinanderzupressen, wie es die zwei Adligen getan hatten. Damals waren sie nicht einmal zehn Jahre alt. Thirsk hustete wieder krampfartig. Sein Hinübergleiten in die Dunkelheit war nur noch wenige Augenblicke entfernt, sie konnten es beide spüren. »Sag schon, Fergys!«, knurrte der König, und seine Besorgnis war nicht zu überhören. »Was du auch von mir verlangst, ich werde es dir gewähren. Das weißt du.« Thirsk nickte erschöpft. »Die Kinder. Mein Junge, Wyl. Er muss sofort aus Argorn zurückkehren. Er ist bereits General der Legion und weiß es noch nicht einmal. Er muss seine Ausbildung im Palast zu Ende führen. Lass Gueryn mit ihm kommen, Sire. Sie sollen zusammenwachsen. Es gibt keinen besseren Lehrer für ihn.« »Außer demjenigen, der ihn jetzt verlässt«, erwiderte der König grimmig. »Und Ylena?« »Ich erbitte nur, dass du eine gute Partie für sie arrangierst.« Thirsk blickte zum Tisch, wo sein Dolch lag. Schweigend durchquerte Magnus das Zelt und holte ihn. Dann setzte er sich neben seinen Freund. Der König glitt mit der Klinge über seine Handinnenfläche und wiederholte dasselbe bei Thirsk. Sie pressten die Hände aufeinander und vermischten ihr Blut. Der König sprach leise, als er sein Versprechen gab. »Ylena wird es an nichts fehlen. Dein Sohn ist nun mein Sohn, Fergys Thirsk.« »Ein Bruder für deinen Celimus«, keuchte Thirsk, während sein Atem immer rasselnder ging. »Aus ihnen werden Blutsbrüder, so wie wir«, sagte der 10
König, der mit den Tränen kämpfte. Er fasste seinen Freund fester ums Handgelenk. »Geh jetzt, Fergys. Kämpf nicht länger dagegen an, mein Freund. Mag deine Seele eine sichere Reise antreten.« Fergys Thirsk nickte, während das Licht in seinen Augen bereits erlosch. »Blutsbrüder«, flüsterte er und tat seinen letzten Atemzug. König Magnus von Morgravia spürte, wie der Händedruck seines Freundes schlaff wurde. »Unsere Söhne werden eins«, bekräftigte er feierlich. 10 1
GUERYN BLICKTE NACH LINKS auf das ernste Profil des Jungen, der schweigend neben ihm herritt. Erneut stieg Besorgnis um Wyl Thirsk, Morgravias neuen General der Legion, in ihm auf. Der Tod seines Vaters war so unabänderlich wie unerwartet. Warum nur hatten sie alle geglaubt, Fergys Thirsk würde an Altersschwäche sterben? Sein Sohn war zu jung, um den Titel und solch große Verantwortung aufgebürdet zu bekommen. Und dennoch hatte er keine andere Wahl. Die Tradition verlangte es. Seit mehr als zwei Jahrhunderten hatte ein Thirsk die Legion angeführt - doch dieser hier war bei Weitem der jüngste. Gueryn dankte den Sternen, die auf sie herabfunkelten, dass der König genug Verstand bewiesen und einen einstweiligen Feldherrn bestimmt hatte, bis Wyl alt genug wäre, um von den Männern respektiert zu werden. Der Name Thirsk verschaffte großen Einfluss, aber kein Soldat würde einem kaum vierzehnjährigen Jungen in die Schlacht folgen. Doch mit etwas Glück gäbe es die nächsten Jahre keinen Krieg. Laut den Neuigkeiten, die aus der Hauptstadt zu ihnen gedrungen waren, hatte Morgravia den jungen Briavellianern dieses Mal einen hohen Tribut auferlegt. Nein, entschied Gueryn, es gäbe wohl eine Zeit lang keine 11
Kämpfe ... wenigstens lange genug, bis Wyl zu dem feinen jungen Mann gereift war, der er zu werden versprach. Es bestand kein Zweifel, dass Fergys Thirsks Tod eine große Rolle bei Briavels Kapitulation gespielt hatte - Valor hatte nun eine Beute, die er aus dem Krieg mit nach Hause nehmen konnte. Gueryn betrachtete den Jungen - das unverwechselbare flammende Haar und die gedrungene Gestalt, die der Familie Thirsk zu eigen waren. Und gerade jetzt brauchte er die Führung seines Vaters so dringend, dachte der ältere Mann voll Bedauern. Wyl hatte die Nachricht vom Tod seines Vaters stoisch vor den Augen aller aufgenommen. Es hatte Gueryn mit Stolz erfüllt, als er sah, wie der Junge seine kleine Schwester tröstete. Doch später, hinter verschlossenen Türen, hatte er die zitternden Schultern des Knaben gehalten und ihm Trost gespendet. Der Junge verehrte seinen Vater, und wer konnte es ihm verdenken? Die meisten Männer Morgravias empfanden so. Dass Wyl ihn derart jung verlor, war ein tragischer Schicksalsschlag, insbesondere da sie sich seit vielen Monden nicht gesehen hatten. Ylena mit ihren neun Jahren war noch jung genug, um von ihren liebevollen Kinderfrauen, ihren Puppen und dem neuen Kätzchen abgelenkt zu werden, das Gueryn in weiser Voraussicht auf dem hiesigen Markt kaufte, sobald er die Neuigkeit erfahren hatte. Wyl würde man nicht so einfach zerstreuen können, und Gueryn spürte die betäubende Trauer, die sich in dem Jungen ausbreitete. Wyl war schon immer ein ernstes, nachdenkliches Kind gewesen, doch diese Erfahrung würde ihn noch weiter in sein Schneckenhaus drängen, und Gueryn fragte sich, ob es tatsäch 11
lich eine so gute Idee war, ihn sofort in die Hauptstadt zu beordern. Das Anwesen der Thirsks in Argorn war ein glückliches Zuhause gewesen, obwohl das Haupt der Familie sehr oft gefehlt hatte. Gueryn, wohl der
talentierteste Soldat und Stratege neben dem General, hatte vor vielen Jahren der scheinbar lächerlich leichten Aufgabe zugestimmt, die Erziehung des jungen Thirsks zu übernehmen. Doch von den eisernen Blicken der alten Krieger hatte er abgelesen, dass der General diese Aufgabe als besonders wertvoll erachtete. Er übertrug diese wichtige Arbeit nur seinem versiertesten Offizier, dessen Verstand ebenso scharf wie die Klinge war, die er so geschickt zu führen wusste. Es gab keinen besseren Lehrer. Gueryn erkannte dies, und voll stillem Bedauern, seine geliebte Legion verlassen zu müssen, war er in die sanft geschwungene Hügellandschaft von Argorn gezogen, eine der blühendsten Grafschaften im Süden Morgravias. Im Wesentlichen war er Wyls Berater geworden, sein militärischer und akademischer Lehrer und enger Freund. So sehr der Junge seinen Vater verehrte - dieser verbrachte den Großteil des Jahres in der Hauptstadt, und es war Gueryn, der die Lücke der schmerzlichen Abwesenheit von Fergys Thirsk füllte. Schüler und Lehrer standen einander sehr nah. »Schau mich nicht so an, Gueryn. Ich kann deine Besorgnis beinahe riechen.« »Wie fühlst du dich?«, fragte der Soldat und überging den Tadel des Jungen. Wyl drehte sich im Sattel, um einen Blick auf seinen Freund, den gut aussehenden ehemaligen Offizier, zu wer 12
fen. Heiße Röte schoss ihm in das blasse, mit Sommersprossen übersäte Gesicht, das seine nächsten Worte Lügen strafte. »Mir geht's gut.« »Sei wenigstens mir gegenüber ehrlich, Wyl.« Der Junge wandte den Blick ab, und sie setzten ihre unaufhaltsame Reise in die berühmte Stadt Pearlis fort. Gueryn wartete. Er wusste, dass sich seine Geduld auszahlen würde. Seit dem Tod von Wyls Vater waren erst wenige Tage vergangen. Die Wunde war immer noch frisch und blutete. Wyl konnte nichts vor ihm verbergen. »Ich wünschte, ich müsste nicht fort«, gab Wyl schließlich zu, und die Anspannung in Gueryns Körper löste sich ein wenig. Jetzt konnten sie darüber sprechen, und er wollte sein Bestes geben, um Wyl die Ankunft in der eigenartigen, riesigen, schier überwältigenden Hauptstadt zu erleichtern. »Aber ich weiß, dass dies der Wunsch meines sterbenden Vaters war«, fügte Wyl hinzu und versuchte, ein Seufzen zu unterdrücken. »Der König hat ihm das Versprechen gegeben, dich nach Pearlis zu holen. Und dafür gibt es gute Gründe. Magnus musste akzeptieren, dass du der Rolle des Generals noch nicht gewachsen bist, doch Pearlis ist der einzige Ort, an dem du deine Pflichten lernen und dir einen Eindruck von den Männern verschaffen kannst, die du eines Tages befehligen wirst.« Gueryns Ton war liebevoll, auch wenn die Worte unerbittlich klangen. Wyl verzog das Gesicht. »Du kannst der Hauptstadt deinen Stempel nicht von dem verschlafenen Argorn aus aufdrücken«, ergänzte Gueryn und wünschte, ihm blieben noch einige Monate - oder wenigstens Wochen -, um den Jungen an die Vorstellung zu gewöhnen, dass er keine Eltern mehr hatte. 12
Gueryn musste an Wyls Mutter denken. So zerbrechlich und hübsch, wie sie gewesen war, hatte sie Fergys Thirsk und seine schroffe Art mit einer Inbrunst geliebt, die in krassem Gegensatz zu ihrem sanften Wesen stand. Sie war nach einem verbissenen Kampf dem höchst ansteckenden Typhus erlegen, der wie ein Wirbelwind durch Morgravias Süden gefegt war. Wäre sie nicht von Ylenas langer und qualvoller Geburt geschwächt gewesen, hätte sie es vielleicht überlebt, denn ihr Herz war so stark wie das ihres Gatten. Die Krankheit hatte viele im Haushalt niedergerafft, glücklicherweise jedoch die Kinder verschont. Wyl erinnerte sich an die gütige Stimme seiner Mutter und vermisste sie schmerzlich, auf seine eigene zurückhaltende, verschlossene Art. Trotz seiner etwas tollpatschigen Jungenhaftigkeit, dachte Gueryn, verehrte Wyl die Frauen. Und die Damen im Haushalt liebten ihn ebenso sehr und verwöhnten ihn mit ihrer Zuneigung, auch wenn sie sich oftmals mitleidvolle Worte über sein Äußeres zuflüsterten. Wie man es drehen und wenden wollte, musste man sich doch eingestehen, dass Wyl Thirsk kein hübscher Junge war. Das dicke, volle orangefarbene Haar konnte nicht über das schlichte, kantige Gesicht hinwegtäuschen, und all jene, die sich an den Großvater des Jungen erinnerten, behaupteten, dass Wyl dem alten Mann auf eine geradezu unheimliche Weise ähnelte - wobei dessen Hässlichkeit beinahe ebenso legendär war wie seine militärischen Fähigkeiten. Der rothaarige Fergys Thirsk war ebenfalls keinem Ölgemälde entsprungen, weshalb er zeit seines Lebens die Verblüffung nicht überwand, dass seine wunderschöne Frau ihn auserkoren hatte. Viele hätten es verstanden, wäre die Hochzeit arrangiert gewesen, doch Helyna von 13
Ramon hatte ihn von ganzem Herzen geliebt und keine Einwände geduldet, als sie sich mit dem hochrangigen Mann verlobte, der nie ein Blatt vor den Mund nahm, nicht gerade ansehnlich war und dem König wie ein Schatten folgte. Böse Zungen am Hof hatten sie natürlich bezichtigt, Thirsk wegen seiner guten Verbindungen erwählt zu haben, doch sie hatte eindeutig bewiesen, dass der prunkvolle Hof von Morgravia wenig Reize für sie barg. Helyna Thirsk hatte kein Interesse an politischen Intrigen oder sozialem Aufstieg. Ihre einzige Schwäche war ihre Liebe für schöne Kleidung, sodass Fergys seine junge Gattin mit kostbarer Mode überhäufte und behauptete, er habe sonst nichts, wofür er sein Geld ausgeben könne. Wyl riss Gueryn aus seinen Gedanken. »Gueryn, was wissen wir über Celimus?« Genau auf diese Frage hatte er gewartet. »Ich habe ihn nie kennengelernt, aber er ist ein oder zwei Jahre älter als du. Und nach dem zu schließen, was mir zu Ohren gekommen ist, ist er sehr beeindruckt von dem Umstand, dass er der Thronfolger ist«, erwiderte er taktvoll. »Ich verstehe«, antwortete Wyl. »Was ist dir sonst noch zu Ohren gekommen? Du kannst ganz offen sein.« Gueryn nickte. Wyl sollte nicht in die Höhle des Löwen geworfen werden, ohne so viel wie möglich zu wissen. »Der König hofft wohl weiterhin, dass Celimus zu dem Menschen geformt wird, auf den Morgravia stolz sein kann. Aber ich
muss hinzufügen, dass Magnus kein besonders guter Vater war. Sie empfinden keine große Zuneigung füreinander.« »Warum?« »Ich kann dir lediglich sagen, was dein Vater mir anver 14 traut hat. König Magnus heiratete Prinzessin Adana. Es war eine arrangierte Ehe. Laut deinem Vater verabscheuten sie einander schon kurz nach der Hochzeit, und ihre Beziehung wurde nie besser. Ich habe sie bei zwei Gelegenheiten gesehen, und es ist keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass Adana eine Frau war, die jedem Mann den Atem verschlug. Aber sie war kaltherzig. Sie soll nicht nur unglücklich gewesen sein, sondern auch verärgert über die Wahl ihres Gatten. Außerdem hasste sie das Land, in das sie gereist war. Sie hatte nie nach Morgravia kommen wollen, da sie glaubte, hier lebten nur Bauern.« Der Junge riss die Augen auf. »Das hat sie gesagt?« »Und anscheinend noch viel mehr.« »Woher stammte sie?« »Parrgamyn - ich hoffe, nach all deinen Geografiestunden weißt du, wo das liegt?« Wyl verzog das Gesicht über Gueryns missbilligenden Lehrmeisterton. Er wusste ganz genau, wo Parrgamyn lag, nämlich im Nordwesten von Morgravia, inmitten ruhiger Gewässer etwa zweihundert Seemeilen westlich der berühmten Insel Cipres. »Exotisch, nicht wahr?« »Sehr. Deshalb auch Celimus' dunklere Hautfarbe.« »Dann gehörte sie dem zerquischen Glauben an?«, fragte er sich laut, worauf Gueryn nickte. »Fahr fort«, ermutigte ihn Wyl, der froh war, nicht mehr über den schmerzvollen Tod seines Vaters nachdenken zu müssen. Gueryn seufzte. »Eine lange Geschichte. Um mich kurz zu fassen: Sie hasste den König und beschuldigte ihren Vater der Habgier, weil er sie mit einem wie es ihr vorkam - alten Mann verheiratet habe, und brachte den jungen Celimus gegen seinen Vater auf.« 14
»Sie ist aber recht jung gestorben, nicht wahr?« Der Soldat nickte. »Ja, doch es lag an den Umständen ihres Todes, dass es zum endgültigen Bruch in der Beziehung zwischen Vater und Sohn kam. Dein Vater war zugegen, als der Jagdunfall geschah, und konnte bestätigen, dass es sich um ein Unglück gehandelt hatte. Adana verlor ihr Leben durch einen Pfeil in der Kehle.« »Einen Pfeil des Königs?«, fragte Wyl ungläubig. »Mein Vater hat kein Wort darüber verloren.« »Die Federn des Pfeils trugen die königlichen Farben. Es gab keinen Zweifel, aus welchem Köcher er stammte.« »Wie konnte so etwas nur passieren?« Gueryn zuckte die Achseln. »Wer weiß das schon? Fergys sagte, die Königin sei in unerlaubten Jagdgebieten ausgeritten, und Magnus habe schlecht
geschossen. Andere flüsterten natürlich, dass er so perfekt wie immer gezielt habe.« Er hob vielsagend eine Augenbraue. »Celimus hat seinem Vater demnach nie verziehen?« »Das stimmt. Celimus verehrte Adana ebenso leidenschaftlich, wie sein Vater sie verachtete. Doch da er seine Mutter derart früh verlor, gibt es etwas, das du und Celimus gemein habt, und das könnte euch helfen«, erklärte er. »Der Junge, so wurde mir verraten, ist bereits perfekt in den Kriegskünsten ausgebildet. Niemand in seinem Alter kann ihm beim Kämpfen das Wasser reichen. Weder mit dem Schwert noch den Fäusten, zu Pferde oder zu Fuß. Er muss großes Talent besitzen.« »Ist er besser als ich?« Gueryn grinste. »Das werden wir sehen. Ich kenne niemanden in deinem zarten Alter, der beim Kämpfen erfahrener ist - ausgenommen natürlich meine Wenigkeit, als ich 15
so alt war wie du.« Mit diesen Worten entlockte er dem Jungen ein Lächeln. »Aber Wyl, ich muss dich auch warnen. Es wäre nicht sinnvoll, den jungen Prinzen bloßzustellen. Manchmal ist es diplomatischer, bei einem zukünftigen König die zweite Geige zu spielen.« Wyl betrachtete Gueryn eindringlich. »Ich verstehe.« »Gut. Dein Einfühlungsvermögen wird dich vor Schlimmem bewahren.« »Kann denn etwas Schlimmes passieren?«, fragte der Junge überrascht. Gueryn wünschte, er könnte seine Warnung zurücknehmen. Hier und jetzt war sie unpassend, doch er war seinem Schützling gegenüber immer ehrlich. »Das weiß ich noch nicht. Du kommst nach Pearlis, um deine Ausbildung zu beenden und in die stolzen Fußstapfen deines Vaters zu treten. Du musst die Stadt jetzt als dein Zuhause betrachten. Verstehst du das? Argorn darf nur ein schöner Landsitz sein, zu dem du von Zeit zu Zeit zurückkehren darfst. Dein Zuhause ist von nun an Stoneheart.« Er beobachtete, wie seine letzten Worte dem Jungen Kummer bereiteten. Doch jetzt war es ausgesprochen. Es musste einmal gesagt und dann so schnell wie möglich akzeptiert werden. »Der andere Grund, weshalb der König dich unbedingt in der Hauptstadt haben möchte, ist wohl, dass er sich Sorgen um das unberechenbare Verhalten seines Sohnes macht .« »Oh?« »Celimus braucht jemanden, der mäßigend auf ihn einwirkt. Dem König wurde gesagt, du seist deinem Vater ähnlich, und ich vermute, dass ihn das sehr freut. Er hegt die Hoffnung, dass du und sein Sohn ebenso enge Freunde 3i
werden wie er und Fergys.« Gueryn wartete auf eine Bemerkung des Jungen, doch Wyl schwieg hartnäckig. »Wie dem auch sei, Freundschaft kann nie erzwungen werden. Sei jedoch offen und lass alles auf dich zukommen. Ich werde die ganze Zeit über bei dir sein.« Wyl biss sich auf die Lippe und nickte. »Dann sollten wir uns beeilen, Gueryn.« Der Soldat nickte ebenfalls und gab dem Pferd die Sporen, während der Junge sein Tier zum Galopp antrieb.
Wyl erinnerte sich an den Ritt nach Pearlis, als sei es gestern gewesen. Drei Monde waren nun seit dem Tod seines Vaters vergangen, und obwohl er sich allmählich an den Alltag im Palast und seine Rolle gewöhnte, hasste Wyl sein neues Leben. Hätte er kein derart ausgeprägtes Pflichtgefühl, wäre er schon längst davongelaufen. Er blickte finster drein, als ein verzweifelter Gueryn ihm einen Schlag gegen das Handgelenk versetzte. »Du konzentrierst dich nicht, Wyl! Auf dem Schlachtfeld hätte dich dieser Ausrutscher die Hand kosten können.« Der Soldat griff entschlossen wieder an, doch dieses Mal parierte Wyl ebenso erbittert, und sein Holzschwert gab ein lautes, klapperndes Geräusch von sich, als er seinen Gegner in die Flucht zu schlagen versuchte. »Schon besser!«, rief Gueryn erleichtert. »Und jetzt noch einmal!« Aus den Augenwinkeln beobachtete Wyl, dass Prinz Celimus zu einigen seiner Bewunderer geschlichen war, mit denen er sich normalerweise umgab. Wyl verdoppelte seine Anstrengungen, und Gueryn war umsichtig genug, seinen Schützling nicht weiter zu kritisieren. 16
Es wird auch langsam Zeit, dachte der Soldat, während er das Tempo erhöhte und die Lehrstunde endlich das Niveau eines richtigen Kampfes erreichte. Er war erfreut, als sich der Junge ein wenig entspannte - ein Zeichen, dass er sich nicht länger darum sorgte, wer ihm zusah, sondern sich ganz auf seine Abwehr konzentrierte. Gueryn griff nun noch verbissener an und ließ eine blitzschnelle Abfolge an Hieben und Stichen folgen, die sogar für einen erfahrenen Soldaten eine echte Herausforderung dargestellt hätten, ganz zu schweigen von einem vierzehnjährigen Jungen. Die Umstehenden im Übungshof verstummten, und einige Ausbilder kamen mit ihren Schülern herüber, um einem Kampf beizuwohnen, der augenscheinlich »bis zum Tode« ausgefochten wurde. Wyl, der in der kühlen Morgenluft allmählich schwitzte, machte einen Schritt zurück, täuschte an, wich nach links aus, parierte Gueryns Schlag und nahm dann geduckt seine Ausgangsposition ein, bevor er einen weiteren Scheinangriff führte, die Lücke sah und hart und schnell zielte. Er duckte sich flink, um dem tiefen, unter normalen Umständen tödlichen Schlag auszuweichen, den er von seinem gerissenen Gegner erwartet hatte. Dann riss er mit aller Gewalt und beidhändig das Schwert nach oben. Auf einmal lag Gueryn schwer keuchend auf dem Rücken, und Wyl drückte sein Holz rasch an die Kehle des Lehrmeisters. In den Augen des Jungen glitzerte Mordlust, und wären sie auf dem Schlachtfeld gewesen, hätte Gueryn wohl eben seinen letzten Atemzug getan. Der Soldat begriff außerdem, dass Wyl ihn, den Größeren und Stärkeren, tatsächlich besiegt hatte, und zwar nur aufgrund seiner kalten Wut. Er würde unbedingt mit ihm darüber sprechen und 16
Wyl erklären müssen, warum er stets mit einem klaren Kopf kämpfen sollte. Entscheidungen im Kampf gründeten immer auf Übung und Intuition und weniger auf Gefühlen. Es gab nur eine Ausnahme: Wenn Reihe um Reihe von
Soldaten niedergemetzelt wurde, da war Gueryn sicher, konnte allein der blinde, kalte Zorn der Verzweiflung das Ruder herumreißen. Er starrte zu Wyl empor und zwang ihn, einen Schritt zurückzutreten. Die Zuschauer applaudierten und pfiffen anerkennend. Wyl gewann seine Fassung wieder und zog Gueryn auf die Beine. Dann warf er einen raschen Blick zu dem feixenden Prinzen, von dem er einen höhnischen Kommentar erwartete, der ihn vor all den Gleichaltrigen bloßstellen würde. Der Prinz war in dieser Hinsicht berechenbar. »Kannst du das auch mit einem richtigen Schwert, Wyl?«, erkundigte sich Celimus und setzte eine Unschuldsmiene auf. Es war Gueryn, der an seiner statt antwortete, während er sich den Staub von den Kleidern klopfte. »Nun, ich würde mich nicht mit ihm einlassen wollen, wenn er ein echtes Schwert in Händen hält«, sagte er und hoffte, die Aufmerksamkeit abgelenkt zu haben. Er lachte und schlug Wyl auf den Rücken. »Nein? Ich schon!«, erwiderte Celimus. Sein Lächeln war breit, aber unecht. Die Stimme des Prinzen klang jetzt verschlagen. »Was sagst du, Wyl?« Gueryn hielt den Atem an. Dies war die direkteste Herausforderung, die der Prinz Wyl je entgegen geschleudert hatte. Bisher hatte sich Celimus darauf beschränkt, den Jungen verbal anzugreifen. Wyl betrachtete den Thronfolger mit kühlem Blick. Gue 17
ryns Hand lag fest auf seiner Schulter. Man erlaubte den Knaben nicht, mit anderen Waffen als hölzernen oder stumpfen Schwertern gegeneinander zu kämpfen, und diese Regel wurde besonders strikt eingehalten, wenn Celimus beteiligt war. Obwohl Wyl es hasste, dem klaren, aufsässigen Blick des Prinzen auszuweichen, sah er weg. »Mir ist es nicht erlaubt, gegen dich anzutreten ... Hoheit.« »Oh, das stimmt«, sagte der Prinz, als erinnere er sich auf einmal an die Palastregeln. »Das solltest du auch besser nicht vergessen, General.« Celimus würzte das letzte Wort mit so viel Sarkasmus wie möglich. Wyl hatte noch nie zuvor eine solche Welle des Hasses in sich aufsteigen gespürt. Bis vor Kurzem hatte er ein sorgenfreies, glückliches Leben geführt. Abneigung gegen andere hatte er nur äußerst selten gekannt. Er war von Menschen umgeben gewesen, die ihn liebten. Nun schien jeder wache Moment seines Daseins voll schrecklicher Pein zu sein. Celimus spielte ihm bei jeder Gelegenheit Streiche, und wenn er ihn nicht mit seinen grausamen Worten quälte, stellte er ihn zusammen mit seiner Schar an Gefolgsleuten bloß. Es verging kaum ein Tag, an dem der Prinz es nicht schaffte, Wyl zu ärgern. Wenn keine tote Ratte in seinem Bett lag, befanden sich Kakerlaken in seinem Trinkgefäß oder Schlamm in seinen Schuhen. Jemand machte sein Essen ungenießbar oder versteckte seine Ausrüstung. Das alles war kindisch und sinnlos, und trotzdem zermürbte es Wyl und nagte an seinem Entschluss, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Genau in diesem Augenblick erschien ein Page. »Wyl Thirsk?« 17
»Hier drüben«, antwortete Gueryn, nickte in Richtung seines entmutigten Schützlings, dankbar für die Unterbrechung. Der Bote wandte sich an Wyl. »Ihr werdet in den Gemächern des Königs erwartet, General«, sagte er höflich. »Sofort, Sir.« Wyl sah den immer noch grinsenden Prinzen an und verneigte sich. »Mit deiner Erlaubnis, Hoheit, werde ich mich jetzt zurückziehen«, sagte er, darauf bedacht, das Protokoll einzuhalten. Celimus nickte, und seine seidigen Wimpern blinzelten kurz über den olivfarbenen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Alles an Celimus war wunderschön. Sogar jetzt, mit fünfzehn, während sich die anderen Jungen damit abkämpften, in ihre seltsamen Körper hineinzuwachsen, wirkte seiner so, als sei er aus reinem, ebenmäßigem Marmor gehauen. Muskulös und wie geschliffen, gab es keinen einzigen Makel an ihm. Äußerlich verkörperte Celimus all das, was Wyl nicht war, und diese Erkenntnis war sehr schmerzhaft für einen Jungen, der dazu geboren war, Männer anzuführen. Celimus war hochgewachsen und hatte breite, kräftige Schultern. Seine Hände waren groß, jedoch geschickt, und er strahlte eine gewisse Eleganz aus. Selbst sein Schwertkampf wirkte graziös. Seine Gesichtszüge waren atemberaubend, und es kam nicht selten vor, dass sich Menschen die Köpfe nach ihm verdrehten. Noch war er auf dem Weg zum Erwachsenwerden, doch schon jetzt war offenkundig, dass er zu einem ausgesprochen attraktiven Mann heranreifen würde. Seine Stimme hatte bereits eine tiefe Klangfarbe angenommen, von der Wyl nur träumen konnte. Der 18
junge General war immer noch im Stimmbruch und gab stellenweise ein seltsames Krächzen von sich. Er ist vollkommen, dachte Wyl mürrisch und verfluchte seine eigene kleinere Statur, sein rotes Haar und das blasse, mit Sommersprossen übersäte, unscheinbare Gesicht, das bei jeder Gelegenheit errötete. Er versuchte seine Verzweiflung zu verbergen, während der Prinz seine Freunde anstupste und dann immer noch feixend verschwand. Die Männer, die sich in der Nähe aufhielten, verbeugten sich höflich vor dem Thronfolger, warfen sich jedoch Blicke zu, in denen ihre unverhohlene Abneigung zu lesen war. Celimus mochte ein umwerfend attraktiver Jüngling sein, über den die jungen Frauen des Hofs schon jetzt in Entzücken gerieten, doch er war beim Großteil der Palastbewohner unbeliebt. In dieser Hinsicht schlug er ganz nach seiner Mutter. Während der König verehrt wurde, hatte der Thronfolger keine treuen Anhänger außer den Schmeichlern, mit denen er sich umgab. »Mag Shar uns gnädig sein, wenn der da den Thron besteigt«, flüsterte jemand, und viele nickten ihm kaum merklich, aber beipflichtend zu. Dann entfernte sich auch Wyl mit schnellen Schritten, wobei sich eine ungute Vorahnung mit seinem Hass vermischte: König Magnus hatte ihn zweifelsohne rufen lassen, um ihn über seine Loyalität zu befragen. Es war längst kein Geheimnis mehr, dass er und Celimus nicht gut miteinander auskamen. »Nun mach schon, Wyl, beeil dich«, drängte ihn Gueryn.
Sie folgten dem Pagen, der geschickt durch die Gänge des Palasts eilte und Abkürzungen durch von Mauern umgebene Innenhöfe und sonnenbeschienene Atrien ein 19
schlug. Unterwegs nutzten sie rasch die Möglichkeit, sich die Gesichter und Hände in einem Eimer Wasser zu waschen, den sie aus einem nahe gelegenen Brunnen schöpften, während der Page ungeduldig von einem Fuß auf den anderen hüpfte, da er seine »Ware« eilig beim Sekretär des Königs abliefern wollte. Weder Gueryn noch Wyl hatten die Schönheit des Palastes von Stoneheart bisher erleben dürfen. Für sie war er eine unbezwingbare Festung aus harten grauen Mauern, staubigen Höfen, Stallungen und geschäftigen Sälen, in denen es immer laut war. Hunde, Soldaten und Dienstboten huschten in einer kleinen, abgeschlossenen Welt innerhalb der Burgmauern umher. Dieser ruhigere Teil von Stoneheart war so unerwartet wie einladend. Sie fühlten sich wie Eindringlinge in einer neuen Welt. In den unzähligen, von Licht durchfluteten, vornehmen Innenhöfen, die eigens innerhalb der Burg angelegt worden waren, wirkte der dunkle Stein plötzlich schön. Zum ersten Mal lernte Wyl es zu schätzen, dass die Burg nicht einfach nur eine Feste aus Stein war, sondern gleichzeitig ein Palast, der einen charakteristischen Stil besaß, wobei Einfachheit der Schlüssel war. Die Wände waren nicht bloß lieblos vollgehangen worden; stattdessen war der einzige Schmuck in einem riesigen Raum etwa ein einzelner, ins Auge springender Wandteppich. Die Möbel, zumeist aus schwerem dunklem Lomashholz gefertigt, das es in Morgravia im Überfluss gab, waren praktisch und immer schlicht gehalten. Adana hatte in diesen Belangen wohl keinerlei Einfluss gehabt, überlegte Wyl. Es gab keinen Hinweis darauf, dass eine Königin mit einem solch exotischen Erbe einen Teil ihres kurzen Lebens hier verbracht hatte. Er fragte sich, ob 19
Celimus mit seinem extravaganten Geschmack Stoneheart seinen besonderen Stempel aufdrücken würde, sobald er den Thron bestieg. Wyl dachte an sein eigenes Zuhause in Argorn, das eine Mischung aus den Geschmäckern seiner Eltern darstellte. Solide Möbel aus Lomashholz, das von seinem Vater bevorzugt worden war, schienen sich behaglich neben den verspielten Stücken seiner Mutter einzureihen, darunter ihr mit Gold gerahmter Spiegel, die Wandschirme und der Überfluss an weichen Kissen und Stoffen. Seine Mutter hatte Farben geliebt, und Wyl konnte sich gut vorstellen, dass sie Stoneheart wegen seiner Fülle an Farben gemocht hätte, die die jeweilige Zimmereinrichtung zur Geltung brachte. Während Wyl durch die Korridore eilte, Treppen hinauf hastete und dabei stets versuchte, mit dem Pagen Schritt zu halten, erhaschte er kurze Blicke auf die Schnitzereien der mächtigen Tiere. Es herrschte der Glaube vor, dass jeder Morgravianer bei seiner Geburt von einem der Tiere ausgesucht wurde, auch wenn die Wahl erst bekannt wurde, sobald derjenige seine erste Pilgerfahrt zur Kathedrale von Pearlis unternahm. Dort waren die magischen Kreaturen in all
ihrer Pracht dargeboten, und jede Figur trug eine Säule des großen Kirchenschiffs. Wann immer Wyl die Kathedrale betrat, suchte er nach dem berühmten geflügelten Löwen - seinem Tier. Hier im Palast erblickte er nun den mit Krallen ausgestatteten Bären, den prächtigen Adler, die Schlange, die sich verschlagen aus dem Stein wand, und den wunderschönen, mit Juwelen besetzten Pfau. Schließlich, als sie sich den Gemächern des Königs näherten, sah er den mächtigen Kriegerdrachen, den 20
Talisman aller Monarchen Morgravias. Wyl betrachtete ihn verwundert und dachte dann an das Tier seines Vaters, einen Phönix. Die Übereinstimmung gefiel ihm: Beide, Magnus und Fergys, waren Tiere des Feuers. Deshalb war es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass sie einander schrankenlos geliebt hatten. »Wartet bitte hier«, sagte der Page am zweiten Treppenabsatz. »Wo sind wir?«, fragte sich Gueryn laut. »Außerhalb des privaten Arbeitszimmers des Königs, Sir. Nehmt bitte Platz.« Der Page deutete in einen Korridor mit offenen Fenstern, an dessen Wänden Steinbänke eingelassen waren. Der Gang war mit Sonnenlicht durchflutet, und der weiche, unverwechselbare Geruch nach Sommerblumen lag in der Luft. Es war verführerisch. Sie gingen zum Balkon und überblickten einen kleinen, aber feinen Garten, dessen Schönheit und köstlicher Duft sie ihren eigenen Gedanken nachhängen ließen. Kurze Zeit später trat ein älterer Mann lautlos zu ihnen. »Es ist schwierig, sich von diesem Anblick loszureißen, nicht wahr?«, sagte der Mann. Seine Stimme war tief und freundlich. Gueryn vermutete, dass er der Sekretär des Königs war. Als sie sich umdrehten, fügte der Fremde hinzu: »Ihr müsst Wyl Thirsk sein.« Wyl nickte. »Wir alle haben Euren wundervollen Vater geliebt und großen Respekt vor ihm gehabt, mein Junge. Er wird in unserer Mitte schmerzlich vermisst.« »Vielen Dank, Sir«, stammelte Wyl, der unsicher war, was er anderes hätte antworten sollen. Er wünschte, die Menschen würden die Wunde verheilen lassen und ihn 20
nicht noch Monate nach dem verhassten Ereignis ständig daran erinnern. Dieser Mann meinte es jedoch nur gut. Sie begegneten sich das erste Mal, und es war sein gutes Recht, ihn auf seinen hoch angesehenen Vater anzusprechen. Der Soldat neben Wyl räusperte sich. »Äh, ich bin sein Vormund ...« »Oh, ja, Gueryn le Gant, wenn ich mich nicht täusche?«, sagte der Mann. Sein Auftreten war brüsk, aber freundlich. »Seid willkommen. Kann ich Euch etwas Kaltes zu trinken anbieten? Ich nehme an, wir haben Eure Kampfübungen unterbrochen.« Das Lächeln war echt. »Vielen Dank, aber das ist nicht nötig«, erwiderte Gueryn höflich. »Ich bin Orto, der Sekretär des Königs«, erklärte der Bedienstete. »Der König hat um eine private Unterredung mit dem jungen Mann ersucht, weshalb ich
Euch bitte, hier zu warten, Gueryn. Setzt Euch, wir werden Wyl bald rufen.« Er lächelte erneut und verschwand. Nach wenigen Minuten kam Orto zurück. »Wyl, kommt jetzt bitte mit mir. Ihr dürft Eure Waffe und den Gürtel hier bei Gueryn zurücklassen.« Wyl tat, wie ihm geheißen, und folgte dem Sekretär, nachdem er seinem Freund einen raschen Blick über die Schulter zugeworfen hatte. Schwere Eichentüren, in die das morgravianische Wappen eingeschnitzt waren, wurden vor ihnen geöffnet. Wyl sah zu dem Schlussstein des Torbogens empor, unter dem sie gerade hindurchgingen. Dort war ein weiterer feuerspeiender Kriegerdrache hineingemeißelt, was bedeutete, dass sie die privaten Gemächer eines Königs erreicht hat 21
ten ... seines Königs. In eine Seite des riesigen Zimmers, das sie nun betraten, waren viele Fenster eingelassen. Zwei große Kamine, an denen wiederum der königliche Talisman prunkte, befanden sich an einander gegenüberliegenden Wänden. Auf seinem Weg durch den Palast hatte Wyl vollkommen die Orientierung verloren und fragte sich verwundert, wohin diese Fenster zeigten. Doch das Geräusch von Stimmen und Kratzen von Tinte auf Pergament holte ihn in die Gegenwart zurück. »Hoffentlich der Letzte?«, bellte eine schroffe Stimme. »Ja, Sire«, antwortete ein anderer Mann, und dann schlurfte er mit einem Packen Pergamentrollen an ihnen vorbei. »Ach, Orto, du hast den Jungen geholt? Bring ihn herein, bring ihn herein.« Wyl trat in das Arbeitszimmer und stand auf einmal dem Mann gegenüber, den er bisher nur ein einziges Mal, und das sehr kurz, getroffen hatte. Dem Mann, den sein Vater beschützt hatte. Magnus war beinahe sofort nach Wyls Ankunft in den Norden nach Felrawthy geritten, und dies hier war die erste Gelegenheit zu einem Treffen. Wyl bemerkte, dass der König hochgewachsen war, jedoch ein wenig gebückt ging und viel älter wirkte als noch bei ihrem ersten, sehr kurzen Gespräch. Es gab kaum Ähnlichkeiten zwischen Magnus und Celimus, kam es Wyl in den Sinn, nur der muskulöse Körperbau der beiden war gleich. Ein sanfter Stoß von Orto erinnerte Wyl daran, dass er sich in Anwesenheit seines Herrschers befand. Er verbeugte sich tief. »Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, mein Junge.« 21 Es war als Kompliment gemeint, doch Wyls unscheinbares Äußeres ließ ihn beinahe jede Anspielung darauf als einen spitzen Stachel erscheinen. »Er hat mir immer gesagt, ich käme mehr nach meinem Großvater, Sire«, erwiderte er höflich. Magnus grinste. »Das ist wahrscheinlich richtig, mein Sohn. Aber du erinnerst mich daran, wie er aussah, als wir beide noch Knaben waren, damals, hier im Palast.« Der König meinte es ernst, und Wyl wusste, wie sehr die Freunde einander geliebt hatten. Er konnte sich vorstellen, dass der Verlust von Fergys Thirsk für
Magnus so schlimm gewesen war, wie der Verlust von Gueryn für ihn selbst wäre. Mehr als nur schmerzvoll. »Ich vermisse ihn, Sire«, gab er zu. Der König blickte mit weichen Augen auf ihn herab. »Ich auch, Wyl. So sehr, dass ich mich manchmal dabei ertappe, wie ich mit ihm rede.« Wyl musterte den König und entdeckte keinerlei Arglist in dem Mann. Er ähnelt seinem Sohn also auch nicht, was die Wesensart betrifft, dachte der Junge. »Also, Wyl«, sagte der König, setzte sich und bedeutete dem Jungen, ebenfalls Platz zu nehmen. »Nun sag mal, wie behandeln wir dich in Pearlis? Ich kann mir gut vorstellen, dass du die wundervolle Welt von Argorn vermisst. Deinem Vater jedenfalls ging es immer so.« »Ja, Sire, aber ... ich lebe mich langsam ein.« Magnus musterte den Jungen eingehend und spürte eine vorsichtige Zurückhaltung, genau wie bei seinem Vater - und wahrscheinlich war er ebenso nachtragend, wenn man ihn ungerecht behandelte. Das ließ sich an dem stolz vorgeschobenen Kinn ablesen. 22
»Ich habe deine Schwester vor Kurzem getroffen. Welch sonniges, hübsches junges Ding sie ist. Ich hoffe, sie ist glücklich?« Wyl zuckte leicht die Schultern. »Ich denke, Ylena wäre überall glücklich, solange sie ihre Puppen und schönen Kleider hat, Eure Majestät.« Er lächelte. »Vielen Dank für alles, was Ihr meiner Schwester geschenkt habt. Sie ist hübsch, das stimmt. Sie hat das große Los gezogen und schlägt nach meiner Mutter.« Das plötzliche Lachen des Königs überraschte ihn. »Mach dich nicht schlechter, als du bist, Wyl.« »Nein, Sire. Das überlasse ich den anderen.« »Ach.« Orto kehrte in das Arbeitszimmer des Königs zurück und brachte ein kleines Tablett mit zwei Kelchen voll blutrotem Wein. »Verrat es aber dem alten Gueryn nicht, ja? Er denkt sonst noch, ich würde dich verderben.« Der König zwinkerte ihm zu. Wyl hatte gar keine andere Wahl - er musste den Mann einfach mögen, der da vor ihm saß. Eigentlich hatte er auf der Hut sein wollen. Immerhin war Magnus der Vater von Celimus, doch andererseits war es schwierig, die Gesellschaft des Königs nicht zu genießen. »Auf dich, junger Wyl«, sagte Magnus und hob seinen Kelch. »Und auf Eure Gesundheit, Sire.« Die unterschwellige Botschaft entging Magnus nicht. »War es schwierig, sich hier einzuleben?« »Oh, das Übliche, Sire.« 22
Wyl spürte, wie Magnus ihn mit seinem direkten Blick durchbohrte. »Erzähl mir von Celimus«, bat der König. »Was könnte ich Euch über ihn erzählen, das Ihr nicht schon längst wisst, Eure Majestät?«
Der König zögerte einen Augenblick, und Wyl fand diese Pause sehr aufschlussreich. »Zähl all die guten Eigenschaften auf, die dir an ihm aufgefallen sind.« Jetzt fühlte sich Wyl wirklich in die Enge getrieben. »Ich verstehe nicht.« »Oh, ich denke, das tust du ganz genau«, sagte Magnus liebevoll. »Ich bekomme mehr mit, als die Leute mir zutrauen, Wyl. Celimus hat viele Fehler. Sein Äußeres ist wahrhaft außergewöhnlich. Ich gebe gerne zu, und das ohne jegliche Scham, dass er wohl zu einem der bestaussehenden Männer heranwachsen wird, die jemals in Morgravia geboren wurden. Shar sei der Seele seiner Mutter gnädig«, fügte Magnus hinzu, wohl mehr aus Gewohnheit. »Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er seine Mutter so früh verloren oder weil er keine Geschwister hat ... oder einfach nur, weil ich ein schrecklicher Vater bin. Was auch die Gründe sein mögen, so ist Celimus nicht so außergewöhnlich, was seine inneren Werte betrifft. Ich weiß, dass er eine Dunkelheit in sich birgt, die mir große Sorgen bereitet.« Wyl nickte und fürchtete sich gleichzeitig ein wenig davor, was er einem König erwidern sollte, der mit solcher Offenheit über seinen eigenen Sohn sprach. Magnus sah ihn mit seinen hellblauen Augen an. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr beide Feinde seid. Ist das wahr?« Wyl brachte keinen Ton heraus. Er wollte Magnus, der 23
derart aufrichtig zu ihm gewesen war, nicht belügen, weshalb er nach einer diplomatischen Antwort suchte. »Das ist ein sehr starkes Wort, Sire. Ich bin Morgravianer und bereit, für mein Königreich und seinen Herrscher zu sterben. Ich bin kein Feind des Königs«, versicherte er, erschrocken darüber, dass Magnus etwas anderes denken könnte. Doch Magnus grinste. »Du bist deinem Vater so ähnlich. Und vielleicht bist du bereit, für diesen König zu sterben, mein Sohn. Aber wie sieht es mit König Celimus aus?« Wyl verstand. »Offenbar soll ich etwas für Euch tun, Sire«, sagte er und war erfreut, in der Gegenwart des mächtigen Mannes die ganze Zeit ehrlich gewesen zu sein. Der König seufzte. »Ja, Wyl, das stimmt. Und es wird nicht leicht werden. Ich habe deinem Vater mein ganzes Leben hindurch vertraut, und jetzt vertraue ich seinem Sohn. Nur wenige Augenblicke, bevor dein Vater starb, haben wir die blutenden Handflächen aufeinandergepresst, um einen Eid zu schwören. Der Wunsch deines sterbenden Vaters war, dass ich dich zurück nach Pearlis bringe und zum General mache. Du bist ein Thirsk, und es ist dein Geburtsrecht, die Legion anzuführen. Doch ein Teil unseres Schwurs beinhaltete, dass unsere beiden Söhne Blutsbrüder werden.« Wyl hatte nichts von diesem Eid gewusst. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. »Ich habe deinem Vater - meinem besten Freund, meinem Blutsbruder - das Ehrenwort gegeben, dass sein Sohn mein Sohn werden würde.« Er hielt kurz inne. Wyl schwieg ebenfalls, und seine Gedanken kreisten ihm wie wild im
Kopf umher. Was mochte der König von ihm verlangen? »Bist du mir treu ergeben, mein Junge?« 24
Überrascht ging Wyl vor dem König in die Knie und legte sich rasch die Hand aufs Herz. »Ja, Sire. Das werdet Ihr nie anzweifeln müssen.« Der König nickte. »Gut. Hiermit verleihe ich dir den ehrenvollen Titel deines Vaters: Kämpe des Königs. Er tritt von heute an in Kraft, doch ich gestehe dir diese Stellung nicht leichtfertig zu. Du verachtest meinen Sohn.« Er hob schnell die Hand, um Wyls Einwände abzuwehren. »Das weiß ich - und er hat dir wenig Veranlassung gegeben, besser über ihn zu denken. Deshalb nehme ich es dir nicht übel. Doch von nun an und besonders von dem Moment an, wenn er den Thron besteigt, wirst du ihn mit deinem Leben beschützen müssen, wie dein Vater mich mit seinem beschützt hat. Ab heute wirst du dem Prinzen wie ein Schatten folgen. Ich kann mir gut vorstellen, dass vieles, was er tut, dir zuwider sein wird. Ich weiß, dass mein Sohn eine grausame Seite in sich birgt. Zusammen werden wir ihn zu ändern versuchen. Mach ihn dir zum Freund, Wyl. Beeinflusse ihn. Alles, was deinen Vater zu dem ehrenvollen Mann gemacht hat, der er war, lebt in seinem einzigen Sohn weiter - das weiß ich. Dein guter Ruf eilt dir voraus, mein Junge. Du besitzt alle Eigenschaften, die einen besonderen Mann, einen Anführer ausmachen, und ich möchte, dass du alles in deiner Macht Stehende tust, damit diese Eigenschaften auf Celimus abfärben.« Der Junge wollte widersprechen. »Keine Aber, Wyl. Das ist mein Befehl. Du bist bereits der General der Legion und Kämpe des Königs, und eines Tages wird man dich rufen, um für Celimus zu handeln -auf seinen Befehl hin. In der Zwischenzeit wirst du dich mit 24
dem Prinzen anfreunden, und ich kann nur beten, dass deine Demut, dein Gerechtigkeitssinn, dein Mut und Können als Anführer ihn wachrütteln und ihm dabei helfen, erwachsen zu werden. Ich weiß, ich verlange viel von dir, Wyl, doch das ist von nun an deine Pflicht... deine Pflicht mir gegenüber.« Die Augen des Königs leuchteten, als er den Arm ausstreckte und Wyls Handgelenk packte. »Schwöre es, Wyl. Geh diesen Pakt mit deinem Herrscher ein.« Wyl spürte, wie sich die Welt auf einmal drehte, als er die andere Hand aufs Herz legte und den feierlichen Eid leistete, Celimus ein Blutsbruder zu werden. Da ließ Magnus jäh Wyls Handgelenk los und griff nach seinem Dolch. Der Junge sah, wie die Klinge aufblitzte, als Magnus mit der scharfen Seite über seine eigene Handfläche ritzte. Leuchtendes Blut quoll an die Oberfläche. Ohne zu zögern, bot Wyl seine Hand an, und der König wiederholte den Vorgang. Das Messer glitt brutal und hastig durch sein junges Fleisch, bis auch hier die kostbare Flüssigkeit hervortrat. Wyl verzog trotz des Schmerzes keine Miene, doch er vermutete, dass der König absichtlich so tief geschnitten hatte, damit eine Narbe zurückbliebe, die Wyl immer an seinen Eid erinnern würde. »Du wirst das Leben von Celimus mit deinem eigenen verteidigen und eher von seiner Hand sterben, als dein eigenes Leben zu retten.« Sie pressten die Hände aufeinander, Blut auf Blut.
»Ich gelobe es«, versicherte Wyl. »Du und er werden zu einer Person, einem Leben.« Wyl schluckte unmerklich. »Als würde mein Blut in seinen Adern fließen. Das schwöre ich, Sire.« 25 2
SCHLUSSENDLICH WAREN ES ihre Augen gewesen, die ihnen den Vorwand gaben, Myrren festzunehmen. Ihre Augen waren tatsächlich verzaubernd - eines ein kräftiges Grau, das andere ein atemberaubendes Grün mit warmen braunen Flecken. Liebreizend, wenn man sie einzeln ansah, doch zusammen gesehen beunruhigten sie den Betrachter. Nachdem sich die Augen vom Säuglingsblau zu ihrer seltsamen Farbe verändert hatten, war es nicht verwunderlich gewesen, dass Myrrens Eltern aus Pearlis geflohen waren und sich in dem verschlafenen kleinen Städtchen Baelup im Westen niedergelassen hatten, wo sie ihre einzige Tochter in größtmöglicher Abgeschiedenheit aufzogen. Beide wussten, dass die sonderbare Augenfarbe für die Hexenjäger, die es nach neuer Beute gierte, sehr aussagekräftig wäre. Glücklicherweise wurde nur kurz über den plötzlichen Umzug getratscht, der schon bald darauf in Vergessenheit geriet. Die Einwohner von Baelup hingegen waren für ihre liberale Einstellung bekannt. Der Vater, ein wohlhabender Arzt, war ein Segen für die Gemeinschaft, die keinerlei medizinische Talente vorzuweisen hatte, während die Mutter, eine Gelehrte, besonders für die jungen Menschen in Baelup ein großer Gewinn war. 25
Die Einwohner von Baelup, die wenig anfällig für die abergläubischen Ängste ihrer Schwesternstädte waren, hießen das sanfte Kind Myrren mit ihren eigenartigen Augen und dem schüchternen Lächeln herzlich willkommen. Als die Hexenjäger dann aber neunzehn Jahre später doch auftauchten, war es ein solcher Schock, dass das schwache Herz des Arztes zu schlagen aufhörte. Er starb vor ihren Füßen, als er ihnen auf ihr bedrohliches Klopfen hin die Tür öffnen wollte. Die Mutter war hilflos. Sie konnte die Jäger lediglich wüst beschimpfen und den Tag verfluchen, an denen die Häscher geboren worden waren. Schließlich war sie verzweifelt zu Boden geglitten, während sie beobachten musste, wie Myrren, die zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen war, auf die Straße gezerrt wurde. Die Jäger hatten ihre übliche sinnlose Liste erfundener Anschuldigungen abgehakt - und alles von einer schweren Krankheit im Süden bis zu den lästigen Leiden des Königs am großen Zeh nun wild entschlossen Myrrens teuflischer Zauberkraft zugeschrieben. Und dies war erst der Anfang, das wusste Myrren. Verwundert fragte sie sich, warum sie überhaupt nach ihr gesucht hatten. Wie konnten sie von ihr erfahren haben, wo ihre Familie und Freunde immer derart vorsichtig gewesen waren? Und dann erinnerte sie sich an den Adligen. Ja, das war es wohl gewesen. Er hatte ihr während seines kurzen Aufenthalts in
Baelups einziger Schänke, in der Myrren in der Küche aushalf, aufdringliche Avancen gemacht. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass sie die geschäftige Schankstube genau im selben Moment durchquert hat 26
te wie er. Der Verstand des Adligen war vom Alkohol zu benebelt, um vor ihren sonderbaren Augen zurückzuschrecken, doch er war noch klar genug gewesen, um ihre öffentliche Zurückweisung oder die Härte ihrer Worte nicht zu vergessen. Sie hatte ihr loses Mundwerk damals auf der Stelle bereut. Er war wohl in die Hauptstadt zurückgekehrt und hatte den Stachel ihrer Ablehnung nicht verwunden, da sie sich geweigert hatte, sich zwischen den Laken mit ihm zu vergnügen. Darum hatte er wohl von einer Frau mit eigenartigen Augen berichtet, die in einem der abseits gelegenen kleinen Dörfer wohnte. Myrren erinnerte sich gut an ihn -ein Mann mittleren Alters, immens wohlhabend und einflussreich. Der König schenkte ihm wahrscheinlich Gehör, und ein wenig Druck seinerseits hatte offensichtlich Folgen gezeigt. Schon seit geraumer Zeit war keiner mehr der Hexerei beschuldigt und niemandem der Prozess gemacht worden. Sie mussten verzweifelt nach einer Verbrennung lechzen, entschied sie und ignorierte mutig die Männer, die wild entschlossen an ihrer Kleidung rissen, damit sie nackte Haut sahen. Myrren konnte im Innern des Hauses noch immer das Weinen ihrer Mutter hören und ihren geliebten Vater sehen, der im Türrahmen zusammengebrochen dalag, während ihr neues Hündchen, das ihre Mutter ihr erst vor Kurzem geschenkt hatte, seine Leiche anwinselte. Sie konnte den Hexenjägern nicht entrinnen. Ihr Leben war vorüber ... wenn nicht in dieser Nacht, dann bald. Myrren beruhigte sich, bevor die Häscher sie mit einem langen Seil an eines der Pferde banden. Wahrscheinlich würde sie im Staub des Tieres den ganzen Weg nach Pearlis laufen 5i
müssen und sie wusste, dass die Männer sie nur zu gerne hinter sich herziehen würden, falls sie stolperte. Aber nicht zu lang, dachte sie, denn das würde den noch kommenden Spaß beeinträchtigen. Doch Myrren war es leid, sich ständig zu verstecken. Sie baute sich zu ihrer vollen, nicht gerade unerheblichen Größe auf, strich das haselnussbraune Haar zurück und traf eine Entscheidung. Nach einem letzten Blick auf Knave, ihr Hündchen, gelobte sie, irgendwie jemanden hierherzuschicken, der sich um ihn kümmerte - denn ihre Mutter würde zweifelsohne schon morgen an gebrochenem Herzen sterben. Als sie Myrren fortführten, entschied sie, vor dem Geistlichen nicht klein beizugeben. Sie würde mit erhobenem Haupt sterben. Pearlis liebte Hexenverbrennungen. Nichts konnte die Stadtbewohner schneller aus ihren Häusern locken als das Läuten der Kathedralenglocken, das ihnen verkündete, eine Hexe war gefangen genommen und für ihre Sünden zum Tode verurteilt worden. Und es war schon mehr als zehn Jahre her, seit die Hauptstadt diesen trübseligen Klang, den die Bräute des Teufels der
Tradition nach nicht ertrugen, vernommen hatte. Er begann mit einer besonderen Glocke, die sechsmal alle sechs Minuten, und das sechs Tage lang, läutete, um die Verhaftung einer Hexe zu verkünden. Sechs war die Zahl des Teufels. Sobald ihr der Prozess gemacht wurde, änderte sich der Rhythmus, und ein einziger düsterer Glockenschlag erklang alle sechs Minuten während seiner gesamten Dauer. In Wahrheit glaubten jedoch viele unter Magnus' Regie 27
rung nicht mehr an Zauberei. Die älteren Adelsgeschlechter von Morgravia und besonders diejenigen, deren Eltern von den Anhängern Zerques verführt worden und die selbst dem Charme Adanas verfallen waren, standen allerdings jedem misstrauisch gegenüber, der einen Hang zum Aberglauben hatte. Heutzutage beäugten die meisten Menschen Magie nicht mehr mit Skepsis. Dies ging auf die Tradition der morgravianischen Könige zurück, eine Zauberin im Palast zu haben. Ein altes Weib, normalerweise vollkommen harmlos, die Heiltees für die königliche Familie braute und bei Geburten, Hochzeiten und Todesfällen gerufen wurde, allerdings auch Weissagungen und Prophezeiungen für den König verkündete. Das erste Anzeichen dafür, dass der Einfluss der Zauberinnen schwand, setzte bereits vor etwa hundertfünfzig Jahren ein, lange bevor Magnus den Thron bestieg. Den Geschichtsbüchern zufolge hatte sein Urahn, König Bordyn, eine Zauberin in seinem Palast, die ihre Prophezeiungen mit Blut zeichnete. Nach dem Verlust zweier Thronerben und seiner Gattin durch eine Reihe tödlicher Unfälle, lehnte Bordyn nicht nur die anstößigen Rituale seiner Hofzauberin ab, sondern ebenfalls ihre Voraussagungen über drohendes Unheil und den düsteren Untergang Morgravias. Als eine weitere Tragödie ihren Lauf nahm und zweimal im selben Jahr zuschlug, zuerst mit dem Tod seiner zweiten Ehefrau, die die Palaststufen hinabstürzte und dabei auch sein ungeborenes Kind verlor, und dann mit der Niederlage seiner Legion gegen die briavellianische Armee, erklärte Bordyn die Zauberin zu einem Instrument der Dunkelheit. Sie wurde als Hexe gebrandmarkt, gefoltert und anschließend verbrannt, um Morgravia von ihrem Makel 27
zu reinigen. Zum ersten Mal in der Geschichte Morgravias war ein Mensch für seine magischen Fähigkeiten bestraft worden. Es war unheimlich, doch nach dem Tod der Zauberin nahm das Leben für Bordyn eine Wendung zum Besseren. Der König genoss ein langes Leben, und nachdem er ein drittes Mal geheiratet hatte, zeugte er einen Sohn, der ihn überlebte und den Thron bestieg. Während dieser Zeit des Wohlstands und der Blüte begann der Glaube zu wachsen, dass Zauberinnen - oder Hexen, wie sie von nun an genannt wurden einen schädlichen Einfluss auf die Gesellschaft hatten. Viele unschuldige Menschen, die öffentlich ihre Heilkünste feilboten oder sogar Zaubertränke verkauften - vom Schutz vor schlechten Ernten bis zur Hilfe für Frauen, ihre Männer glücklich zu machen -, wurden gejagt. Etwa um diese Zeit tauchte ein Theologe namens Dramdon Zerque auf, der eine neue Lehre predigte und
behauptete, Shar selbst verurteile die Zauberei, da Magie den Glauben in Gottes allwissende Kraft infrage stelle. Zerque war ein begnadeter Redner mit brillantem Verstand - Fähigkeiten, die besonders den Landadel ansprachen, der die neue radikale Religion mit offenen Armen begrüßte und all jene verdammte, die auch nur das leiseste Talent für die Künste an den Tag legten, die als magisch verpönt waren. Es war Zerque, der den Begriff »Hexengestank« prägte, als er ausrief, dass »jeder, der bloß irgendwie nach Zauber roch, aufgespürt und ihm die Möglichkeit gegeben werden sollte, seine Sünden zu beichten«. Indem sich der Prediger Shar als Verbündeten aufs Banner schrieb, forderte er die Morgravianer - und später die Briavellianer - heraus, gegen die Hexen und Zauberer zu kämpfen. Sein Ein 28
fluss wuchs und reichte schon bald über Morgravia und Briavel hinaus bis übers Meer nach Parrgamyn, wo die neue Lehre mit besonderem Eifer aufgenommen wurde. Es war diese inbrünstigere Form der Religion, die Königin Adana und ihr Hofstaat viele Jahre später zurück nach Morgravia brachte und Pearlis in eine Hochburg Zerques verwandelte. Interessanterweise waren es in diesen moderneren Tagen die ländlichen Gebiete, die die Anhänger Zerques als religiöse Fanatiker abtaten und behaupteten, sie würden Shars friedvolle Lehren weit mehr bedrohen als irgendeine Hexe das je könnte. Die Landbevölkerung überging die neuen Lehren einfach, und so wurden diese Regionen zu Zufluchtsorten für all jene Menschen, die magische Fähigkeiten besaßen. Jetzt, mit einem aufgeklärten König - der wenig Verständnis für die Gerüchte aufbrachte, dass Zerque erneut festen Fuß im Königreich fassen könne - waren die Möglichkeiten, sogenannte Hexen zu jagen, spärlich geworden. Mit Königin Adanas Tod verschwand die letzte wichtige Anhängerin der zerquischen Lehre, und Magnus packte die Gelegenheit beim Schopf, die Verfolgungsriten auszurotten. Es war seine kalte, grausame Gattin gewesen, die weitere Zerquianer aus ihrem Heimatland, das weit weg im Nordosten lag, mit dem Versprechen nach Morgravia gelockt hatte, eine Pilgerfahrt in das »bäuerliche« Königreich über den Ozean zu wagen, wo das Leben der einfachen Leute unerhört günstig war. Ihr Vater war fest entschlossen gewesen, Handel mit den Ländern auf der Halbinsel im Osten zu treiben, und hatte deshalb entschieden, dass eine Heirat notwendig sei, um diese wichtigen Brücken zu 28
schlagen. Seine Kaufleute sollten ohne größere Probleme in den Ländern der »Barbaren« herumreisen können. Magnus hatte sich von dem betörenden Äußeren seiner Braut verführen lassen. Ein einziger Blick auf die einundzwanzigjährige Adana reichte, und schon gewann die Begierde die Oberhand über seine Besonnenheit und er stimmte dem Angebot zu. Nur wenige Tage nach der überschwänglichen Hochzeit, die einige Monate später folgte, erfasste Magnus die enorme Tragweite seiner Fehlentscheidung. Sein Freund und Berater Fergys Thirsk hatte ihm in der Zwischenzeit mit Inbrunst die Verbindung ausreden wollen. Er hatte sowohl
die kulturellen Unterschiede, die Schwierigkeiten bargen, als auch den verblüffenden Altersunterschied von beinahe drei Dekaden aufgezeigt, und konnte sich nicht vorstellen, wie Magnus und Adana solche Hindernisse überwinden wollten. »Ich will sie!«, hatte sich Magnus gewehrt, als er an die dunkelhaarige Schönheit dachte, die ihm bereits zur Frau versprochen war. »Sie ist sehr jung, Sire, während deine vierte Dekade schon fast hinter dir liegt.« »Und das sagst ausgerechnet du, Thirsk, wo du doch He-lyna von Ramon umwirbst... die kaum ihren Kinderschuhen entwachsen ist«, hatte der König gekontert und wollte ihn ebenfalls verletzen, denn Thirsks spitze Bemerkung hatte mitten ins Schwarze getroffen. Magnus erinnerte sich an die Worte des stets weisen Fergys Thirsk, als seien sie erst gestern gesprochen worden. Und der König hatte nie aufgehört zu wünschen, er wäre dem gut gemeinten Ratschlag seines Freundes gefolgt, statt purer Lust zu gehorchen. 29
Die versprochene Mitgift kam, doch Morgravia war bereits ein wohlhabendes Königreich. Was Magnus nicht einberechnet hatte, waren die Glaubenseiferer, die Adana begleiteten, sich durch den Einfluss der Königin einen Weg in die gesellschaftlichen Schichten Morgravias erschlichen und Angst und Hass säten. In Wirklichkeit waren die Zerquianer in Morgravia längst etabliert, doch Adanas emsige Priester brachten neuen Schwung in ihren Fanatismus. Die gegenseitige Abneigung des Königspaares war auch in ihrem Ehebett zu spüren. Adana verabscheute Magnus derart, dass sie sich von ihm nicht anfassen ließ. In ihrer Hochzeitsnacht erkannte der König verzweifelt, dass in seiner Frau nichts als Abscheu für ihn brannte - und die verführerische Macht, die er ihr bot. Deshalb schränkte er ihre Befugnisse ein. Daraufhin hatte sie nur Spott für ihn übrig.
»Deine hasserfüllten gierigen Hände und deine widerliche runzelige Haut könnten mich niemals locken, du alter Mann!«, schleuderte sie ihm noch in der Nacht ihres
Ehegelübdes entgegen. Zweimal hatte er sich während ihrer gemeinsamen Zeit an Adana vergangen und bereute seine entsetzliche Tat zutiefst. Es erschien dem Paar wie ein Wunder, dass Celimus einige Jahre später geboren wurde. Sein Sohn war in Wut und Schrecken gezeugt worden, als Magnus seine Frau bei dieser zweiten und äußerst brutalen Vergewaltigung schwängerte. Nie wieder hatte er sich seiner Gattin danach sexuell genähert, berührte sie fast überhaupt nicht, außer wenn er ihr bei feierlichen Anlässen den Arm anbieten musste. Niemand dankte Shar im Stillen mehr für den vorzeiti 29
gen, jedoch verdächtigen Tod der Königin als der König selbst. Während der Rest von Morgravia öffentlich tiefste Betroffenheit zeigte, musste Magnus den trauernden Ehemann mimen, wohingegen er innerlich frohlockte. Es war eine
Erlösung, die er nur mit Fergys Thirsk teilte, und sein Freund erinnerte den König kein einziges Mal an seinen früheren Ratschlag. Sobald Adanas Leichnam erkaltet war, hatte Magnus begonnen, die zerquischen Strukturen zu zerschlagen, und konnte sich in seiner Regierungszeit damit rühmen, im Alleingang die Abschaffung einer Lehre erreicht zu haben, die schon seit Jahrhunderten bestand. Doch er musste Zugeständnisse machen - wie es bei großen Veränderungen unvermeidlich war - und denjenigen Adelsfamilien, die immer noch den alten Traditionen verhaftet waren, Zeit geben, sich an die neue Ordnung zu gewöhnen. Magnus hatte zugestimmt, dass er einzig dann, wenn belastende Beweise gegen einen Mann oder eine Frau aufgebracht werden konnten, ein traditionelles Gerichtsverfahren gestatten würde. In den Jahren seit Adanas Tod wurden lediglich zwei Hexen vor Gericht gebracht - und nur eine von ihnen war verbrannt worden. Richter und Geschworene wurden von einer einzigen Person verkörpert - einem Mann namens Lymbert -, und Magnus erteilte ihm die Erlaubnis, das Königreich mit seinen drei Hexenjägern zu durchstreifen, wobei dieses Eingeständnis jedoch mehr eine Beschwichtigungsmaßnahme für die Zerschlagung der zerquischen Lehren als für eine tatsächliche Hexenverfolgung war. »Es wird die Traditionalisten zum Schweigen bringen, Fergys«, hatte er seinem Freund erklärt, der zwar auf die 30
Entschlossenheit des Königs stolz war, mit der dieser die Anhänger Zerques vernichten wollte, jedoch gleichzeitig die neue Wende in der alten Thematik nicht schätzte. »Wir lassen all jene, die noch immer an den fanatischen Lehren festhalten, im Glauben, dass wir auch weiterhin den Machenschaften des Teufels nachgehen. In der Zwischenzeit räumen wir allerdings mit den Strukturen auf, die seit so vielen Jahrzehnten Angst und Hass nach Morgravia gebracht haben.« »Und dann?«, hatte sich sein Freund erkundigt. »Und dann warten wir auf eine neue Generation, die das beenden kann, was wir begonnen haben«, hatte ihm der König siegessicher geantwortet. »Eine Generation, die den Schrecken der zerquischen Hexenjäger nicht kennt und ihnen deshalb kein Vertrauen entgegenbringen wird.« Fergys hatte zugestimmt, dass eine Handvoll Tote - vielleicht wären auch überhaupt keine Opfer zu beklagen -, den frühen Jahren vorzuziehen war, in denen mutmaßliche Hexen verfolgt wurden, normalerweise unschuldige Frauen mit unglückseligen Krankheiten wie Wolfsrachen oder Klumpfüßen. Die Einführung eines einzigen Beichtvaters und das Einbinden der Gesetze, wodurch der Herrscher das letzte Wort über jeden Fall besaß, war ein angemessener Kompromiss im Laufe der Jahre des Abolitionismus, wie Magnus diese Zeit nannte. Fergys war nicht ganz überzeugt, ob das Einräumen von Zugeständnissen an diejenigen Fanatiker, die immer noch Kräuterfrauen und Menschen mit einem sonderbaren Körperbau verdächtig beäugten, sie nicht ermutigte, ihren leidenschaftlichen Eifer in den Untergrund zu verlegen.
Allerdings lenkte der General ein, da letztendlich dem König das Recht eingeräumt war 31
zu entscheiden, wer vor Gericht gebracht wurde und wer nicht. Er musste darauf vertrauen, dass Magnus den Verlauf der Fälle behinderte, damit sich der Brauch der Hexenverfolgung allmählich von selbst verlieren würde. Lymbert hatte sich in der Zwischenzeit sehr vorsichtig verhalten und niemals seine Machtbefugnisse überschritten, weshalb seine Arbeit still und heimlich weiterlief, noch lange nachdem die Zerschlagung der Anhänger Zerques erreicht war. Magnus bedauerte diesen Umstand und schwor sich, den Beichtvater seines Amtes zu erheben. Der Krieg gegen Briavel kam ihm jedoch in die Quere, und dann griff der verfrühte Tod Fergys seine Gesundheit so stark an, dass er den innenpolitischen Angelegenheiten eine Zeit lang wenig Aufmerksamkeit schenkte. Lymbert hatte überlebt, und unglücklicherweise fanden seine Hexenjäger Myrren. König Magnus hasste das Geräusch der Klageglocken, die an diesem Morgen zum ersten Mal läuteten, und ihm war bewusst, dass die wenigen verbliebenen Hexenjäger mit verständlicher Inbrunst auf einen Prozess und die anschließende Hexenverbrennung hofften. Die Häscher hatten sie also aufgespürt. Er hatte gehofft, dass das Mädchen Myrren und ihre Familie vernünftigerweise Vorsichtsmaßnahmen getroffen und ihr Dorf verlassen hätten, doch gleichzeitig wusste er, dass Lord Rökan zu verschlagen war, um so etwas geschehen zu lassen. Magnus hatte sich sein eigenes Bild von der Angelegenheit gemacht, auch wenn Rökan ihm nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Dem König war klar geworden, dass der Adlige dem Mädchen Myrren unliebsame Avancen gemacht hatte und sich nun, nachdem er abgewiesen worden 31
war, an ihr rächen wollte. Es gab eine lange Liste seiner außerehelichen Abenteuer, und dies war wohl lediglich ein weiterer Versuch des Adligen, eine junge Frau in sein Bett zu locken. Es war eine Tragödie, dass Rökan zufälligerweise genau über das Dorf dieses besonderen Mädchens gestolpert war. Die Anschuldigung des Adligen wog in den Augen der Jäger und derjenigen, die immer noch den tief verwurzelten Argwohn gegen alle Menschen mit angeborenen Fehlbildungen hegten, schwer - und genau das machte die Situation für Magnus so schwierig. Die Anhänger Zerques hatten weit über ein Jahrhundert gepredigt, dass ein Mensch mit Wolfsrachen, mehr oder weniger als zehn Fingern oder Zehen oder - Shar bewahre! - unterschiedlichen Augenfarben dem Teufel verschrieben sein musste. Magnus mochte offiziell die Macht der zerquischen Lehre zerschlagen haben, doch er konnte die Gedanken und Herzen seines Volkes nicht kontrollieren. Einige in seinem Königreich verwendeten immer noch eigenartige Zeichen, um sich gegen Zauberei zu schützen, oder trugen an bestimmten Tagen besondere Farben. Und während dies nichts mehr als harmloser Aberglaube war, wusste der König gleichzeitig, wie einfach dies in schreckliche Angst und ein Dürsten
nach Blut umschlagen konnte. Er hoffte, dass ein wahrer Zauberer - wenn es eine solche Person überhaupt gäbe - so klug wäre, seine oder ihre Praktiken geheim zu halten. Dieses Glück war Myrren nicht vergönnt - egal, ob sie eine Hexe war oder nicht, ihr Fall war jetzt öffentlich. Magnus selbst glaubte nicht, dass das Mädchen schuldig war, und verachtete im Stillen diejenigen, die es annahmen. 32
Doch seine persönliche Meinung spielte keine Rolle, nur das Gesetz - sein Gesetz - war für Myrrens Verhandlung entscheidend. Und das morgravianische Rechtswesen war nicht gerade berühmt für seine Gnade, wenn ein Schuldspruch wegen Teufelsanbetung gefallen war. Noch schlimmer: Er ahnte, welch lüsternes Vergnügen einige daraus ziehen würden, sie gefoltert und erniedrigt zu sehen - allen voran Lord Rökan -, und er hatte nun keine Möglichkeit mehr, der Sache Einhalt zu gebieten. Rokans Beweislage war niederdrückend, und das Gesetz stand leider auf seiner Seite. Als Lord Rökan eine Privataudienz mit dem König erbeten und fest entschlossen gewirkt hatte, die Frau vor Gericht zu bringen, waren Magnus die Hände gebunden. Unterschiedliche Augenfarben waren das schlimmste charakteristische Merkmal, das eine Person in Morgravia besitzen konnte. Das Mädchen war allein durch die Besonderheit ihres Aussehens dem Tode geweiht. Der König hatte Mitleid mit ihr, doch die Zeit, als er ihr Leben noch hätte retten können, war verstrichen. An dem Punkt, wo Magnus hätte eingreifen können, war er zu sehr durch den Ärger über seinen Sohn abgelenkt. Celimus' verantwortungsloses Verhalten zog zu viel Aufmerksamkeit auf ihn, und der Junge war erst sechzehn. Shar helfe ihnen, sobald Celimus ein Alter erreichte, an dem die Größe und der Zorn seines Vaters ihn nicht länger einschüchtern konnten. Doch am allermeisten hatte Magnus unkontrollierbare Wut darüber empfunden, dass er allmählich alt wurde. Die Ärzte hatten ihm erst heute Morgen die düstere Neuigkeit gebracht, dass seine Tage gezählt waren. Magnus fürchtete, ihm bliebe nicht genügend Zeit, Celimus in einen pflichtbewussten Thronfolger zu verwandeln und 32
einen wahren König aus den Scherben seiner Ehe zu formen. Sein Ärger war vollends entflammt, als Lord Rökan ins Zimmer geschritten kam und seine Macht auszuspielen versuchte. Außerdem hatte sich Celimus nicht mit einer Entschuldigung zurückgezogen, was unter den gegebenen Umständen eine höfliche Geste gewesen wäre. Stattdessen hing er an jedem von Rokans Worten, und ein verschlagenes Lächeln hatte sich auf seine Züge geschlichen. Er hatte sogar die Frechheit besessen, sich in das Gespräch einzumischen - und das war der Funke gewesen, der das trockene Stroh im schwelenden Gemüt seines Vaters entzündete. »Stimm doch zu, Vater«, hatte Celimus beinahe feixend gesagt. »Ein Hexenprozess würde denjenigen in Pearlis den Wind aus den Segeln nehmen, die ich angeblich beleidigt haben soll. Lenk die Aufmerksamkeit vom Thronfolger ab und gib ihnen etwas, über das sie reden können.« Das höhnische Grinsen war zurück, eine klare Herausforderung an den König.
Magnus verstand, dass seinem Sohn die emotionale Fähigkeit fehlte, die Folgen seines eigenen Handelns abzuschätzen. Er war ein junger Mann ohne Liebe, und alles, was seine Eltern ihm mitgegeben hatten - so schien es jedenfalls -, war der Hang zur Grausamkeit und Selbstsucht. Der König von Morgravia erkannte in einem Moment der Klarheit, dass er niemandem außer sich selbst und Adana für Celimus' Verhalten die Schuld geben konnte. Wäre er ein besserer Vater gewesen und hätte ihm mehr Zuneigung und Liebe geschenkt - oder wäre er wenigstens während der Kindheit seines Sohnes öfter anwesend gewesen-, hätte dies vielleicht den entscheidenden Unterschied gemacht. 33
Doch stattdessen stand ihm nun ein verschlagener, habgieriger Mensch gegenüber, der über alle Maßen herzlos war. Eine erschreckende Mischung für einen Mann, der eines Tages Morgravias Thron besteigen würde. Celimus' Taktlosigkeit an jenem Tag war lediglich die letzte einer langen Reihe von Handlungen, die seinen Vater verzweifeln ließ. Es brachte ihn sogar so weit, dass er seinen eigenen Sohn hasste. Rökan hatte weiter getobt, und Celimus hatte seinen Vater unaufhörlich angestachelt. In einem Anfall von Groll stimmte Magnus ihrem Gesuch zu, wenn auch nur, um die beiden verabscheuungswürdigen Männer aus seinen Gemächern zu vertreiben. Hätte er die leiseste Ahnung gehabt, dass er noch weitere sechs Jahre regieren würde, ohne seiner Krankheit anheimzufallen, hätte er es wohl nie zugelassen. Doch die Krone hatte oberste Priorität. Er hätte Myrren retten können, hätte die Verzweiflung an diesem Tag nicht sein Herz überschattet. Niemals hätte er die Folgen seiner scharfen Erwiderung erahnen können, als er die Erlaubnis erteilte, dass Myrren von Baelup gefangen genommen und vor Gericht gezerrt werden durfte. 33
3
CELIMUS WAR VERWIRRT. Er genoss es, Wyl zu erniedrigen, doch dieser Mensch, den er beinahe ebenso sehr hasste wie seinen eigenen Vater, verschaffte ihm nicht die selbstgefällige Zufriedenheit, die er sich erhoffte. Eines Tages würde er König sein, und er wollte, dass vor allem Wyl schon jetzt vor ihm kroch. Immerhin war er Fergys Thirsks Sohn, und Celimus hatte Fergys verabscheut, seit er alt genug war, das besondere Band zwischen seinem Vater und dem General zu erkennen. Ohne diesen rothaarigen Soldaten hätte Magnus dem Sohn, der sich derart verzweifelt nach Anerkennung sehnte, vielleicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Nun hatte Celimus für seinen König nur noch Verachtung übrig. Der Bruch hatte stattgefunden, als seine Mutter vor zwölf Jahren verstarb. Gerüchte am Hof deuteten an, dass ihr Tod womöglich überhaupt kein Unfall war, wie es anfangs hieß. Obwohl seine Lehrer alles daransetzten, konnten sie nicht verhindern, den aufgeweckten, hochintelligenten Vierjährigen vor der Ungeheuerlichkeit des Tratsches zu bewahren. Und auch wenn sich Celimus
nach der Anerkennung seines Vaters sehnte, so verehrte er seine Mutter doch zehnmal so sehr. Obwohl er ihre kühle Distanz gegen 34
über der morgravianischen Gesellschaft und Bevölkerung gespürt hatte besonders seinem Vater gegenüber - wusste Celimus gleichzeitig, dass diese Unnahbarkeit nicht ihm galt. Adana liebte Celimus mit überschwänglicher Leidenschaft. Er war in jeder Hinsicht ihr Kind. Während sein Vater einen goldenen Teint besaß, hatte ihr Sohn ihren dunklen exotischen Zauber geerbt. Seine olivfarbene Haut und das schimmernde schwarze Haar erinnerten sofort an seine Mutter. Sie räumte zwar ein, er habe seine hochgewachsene Gestalt zweifelsohne vom König geerbt, aber das war auch schon alles. Männer sollten groß sein, erklärte sie. Für Herrscher war dies jedoch eine Grundvoraussetzung. Sie war überzeugt, dass Celimus zu einem beeindruckenden Mann heranreifen würde - er war bereits damals ein atemberaubendes Kind. Und hinzu kam noch sein wacher und flinker Verstand, den sie liebte. Adana nutzte diese frühen Jahre, manipulierte das Denken ihres Sohnes und versuchte ihn gegen seinen Vater aufzuhetzen - den »Bauern«, wie sie ihn nannte -, was allerdings wenig Erfolg zu haben schien. Der junge Celimus sehnte sich nach Magnus' Aufmerksamkeit, aber Adana stellte erleichtert fest, dass der König weder Zeit noch Lust hatte, sich um den Jungen zu kümmern. Sie hasste den rothaarigen General und bediente sich seiner ständigen Anwesenheit, um Celimus gegen den König aufzustacheln. »Er liebt diesen Thirsk mehr als uns, Kind. Sieh nur, wie die beiden die Köpfe zusammenstecken und Komplotte schmieden. Sich ständig verschwören.« Celimus verstand die schwierigen Worte der Erwachsenen nicht, doch er erfasste ihre Bedeutung. Seine Mutter beschuldigte Thirsk, fortwährend seine Truhen auf Kosten 34
des Königs zu füllen, und lachte laut über das schüchterne und zurückhaltende Wesen, das Thirsk schließlich heiratete. »Bauern passen zu Bauern!«, hatte sie Celimus eines Tages entgegen geschleudert. Obwohl er Helyna Thirsk sehr hübsch fand, war er nur ein Kleinkind und vertraute auf das Urteil seiner Mutter. Und als Adana dann Thirsks Erstgeborenen erblickte, machte sie sich über die roten Haare des Säuglings lustig und behauptete, sie seien das Zeichen eines Hexenmeisters. Magnus hatte ihre abfälligen Bemerkungen gehört, und Celimus musste mit ansehen, wie sein Vater seine Mutter beinahe schlug. Danach sprachen seine Eltern kaum noch miteinander. Sie verhielten sich nie wie eine richtige Familie, die gemeinsam aß oder spielte. Magnus war meist nicht anwesend und zog sein Kriegskabinett, seine Soldaten, die Jagd und andere männliche Beschäftigungen vor. Nach diesem Vorfall zwischen seinen Eltern bekam Celimus zum ersten Mal die Ablehnung seines Vaters zu spüren. Zusehen zu müssen, wie die Wut des Königs derart schnell hochkochte, hatte ihn geängstigt. Seine Mutter war zu Boden gegangen, als habe er sie getroffen, doch Celimus wusste, dass sein Vater die Hand noch rechtzeitig zurückgezogen hatte. Sie hatte geschrien und
sich auf den großen Steinfliesen gewunden, bevor sie sich erhob und dem Mann, den sie verachtete, einen letzten kalten Stich versetzte. Celimus erinnerte sich genau daran. »Ich würde lieber sterben, als noch einmal von dir angefasst zu werden, du Schwein!« Und dann die erschreckende, prophetische Antwort: »Das kann arrangiert werden«, hatte sein Vater ebenso kühl 35
erwidert und hinzugefügt, sie solle ihm nicht mehr unter die Augen treten. Celimus war nicht der Einzige, der die scharfe Auseinandersetzung mit angehört hatte, und als dann wenig später der Jagdunfall geschah, mussten all jene, die den Tratsch vernommen hatten, nicht lange kombinieren. Jeder, der Magnus kannte, stritt die Behauptung aufs Heftigste ab. Jeder, der ihn besser kannte, wusste jedoch, dass er mehr als fähig zu einer solchen Tat wäre. Ob er nun seine Gattin ermordet hatte oder es ein Unfall war, blieb für die Bevölkerung von Morgravia ein spannendes Geheimnis. Es wurde nie angesprochen, nicht einmal zwischen Magnus und Fergys Thirsk, und im Laufe der Jahre geriet die Angelegenheit in Vergessenheit, ebenso wie das Grab, in dem das Objekt des Gerüchts lag. Celimus hingegen vergaß es nie. Er hatte mitbekommen, wie sein Vater Adana in aller Öffentlichkeit bedrohte. Und am Tag ihres Todes schwor er sich insgeheim, seinen Vater dafür bezahlen zu lassen. Als Kind hatte er keine andere Möglichkeit gehabt, als ihm all seine Zuneigung zu verwehren. Indem er die Erinnerungen an seine Mutter lebendig erhielt, wurde er Magnus gegenüber kalt und verschlossen, der aus demselben Grund begonnen hatte, ihn mit aller Mühe an sich zu ziehen. Doch es war zu spät. Zu spät für den Vater, um seine Liebe zu verschenken. Zu spät für seinen Jungen, sie zu wollen. In den verschrobenen Gedankengängen eines Kindes hatte Celimus den immer präsenten Fergys Thirsk ebenfalls mit Adanas Tod in Verbindung gebracht, und auch in späteren Jahren, als er an Reife gewann, änderte sich seine Einstellung gegenüber dem engsten Freund seines Vaters nicht. Als die Nachricht 35
von Thirsks Hinscheiden Stoneheart erreichte, war Celimus in Jubel ausgebrochen. Er hatte gehofft, es würde einen spitzen Pflock des Schmerzens ins Herz seines Vaters treiben, damit dieser vor Kummer und Einsamkeit starb. Stattdessen musste er sich nun mit dem verhassten Nachwuchs aus Thirsks Lenden herumschlagen. Und der Sohn schien dieselben Eigenschaften wie sein Vater zu besitzen. Celimus hatte dem Jungen absichtlich nie eine Chance gegeben. Von dem Moment an, als Wyl in Stoneheart angekommen war, hatte Celimus seinen Rachefeldzug begonnen - er würde Wyls Geist brechen und ihn dazu bringen, zurück nach Argorn zu verschwinden. Doch bisher hatte der glühende Eifer, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, dem Jungen genügend Mut gegeben, um Celimus' hinterhältiger Taktik standzuhalten. Der Thronfolger beachtete
nicht einmal Wyls trotzigen Blick, den dieser sogar aufsetzte, wenn er ihm seine Ehrerbietung erwies. Der Prinz hatte das veränderte Glockenläuten am Vortag bemerkt. Er wusste, dass der Hexenprozess allmählich in vollem Gange war, und hatte eine Idee, wie er den empfindlichen Thirsk-Jungen zu Fall bringen konnte. Diskrete Nachforschungen hatten offenbart, dass dieser Nachmittag genau der richtige Zeitpunkt war, um loszuschlagen. »Keine Ahnung, wo er ist, aber du musst ihn finden!«, brüllte Celimus den verängstigten jungen Pagen an. »Und komm ja nicht ohne Thirsk zurück!«, schrie er der sich schleunigst entfernenden Gestalt nach. Wyl war an jenem Nachmittag nicht weit entfernt, hatte sich jedoch mit Alyd Donal zurückgezogen. Einige Monate nach dem Treffen mit dem König war ihm das Glück 36
hold gewesen. Ein neuer Junge, im selben Alter wie Wyl, war in die Gruppe gekommen. Er stammte ebenfalls aus einer wichtigen Adelsfamilie, und da sie beide eine ähnliche Entwurzelung erlebt hatten, wurden die Jungen unzertrennlich. In weiser Voraussicht tat Gueryn alles in seiner Macht Stehende, um die Freundschaft zu bestärken, und ging sogar so weit, Alyd in seine privaten Kampfübungen mit Wyl einzubeziehen, der zu seinem großen Bedauern viel Zeit außerhalb der Übungshöfe mit Celimus beim Unterricht verbringen musste. Wyl hatte dem König gegenüber sein Versprechen gehalten und gab sich größte Mühe, so oft wie möglich bei Celimus zu sein. Tief in seinem Inneren spürte Gueryn allerdings, dass sich zwischen den beiden Jungen nichts geändert hatte. Die ruhigen Übungsstunden mit Alyd, der im Vergleich zu Wyl sehr offen war, zeigten ihm deutlich, wie stark Wyls Abneigung gegen den unberechenbaren Prinzen loderte. Doch Alyd hatte Gueryn erklärt, dass Wyl bereit war, sein Schicksal bedingungslos anzunehmen. Er würde keinen Unfug mitmachen, den der angeberische Celimus anzettelte, und ihm trotzdem wie ein Schatten folgen. Wyl beobachtete und schützte Celimus, wo er nur konnte, warnte ihn stets vor einer drohenden Entdeckung seines neuesten Vorhabens oder lenkte die Aufmerksamkeit von ihm ab, damit er nicht erwischt wurde. Celimus, der nichts von dem Pakt seines Vaters mit Wyl wusste, kam nicht umhin, sich über Wyls neue Ergebenheit zu amüsieren, obwohl Wyl seine schwelende Verachtung nie ganz verbergen konnte. 36 Der schöne Celimus fand Wyl unsagbar hässlich und empfand große Freude dabei, den Jungen stets an seine Unscheinbarkeit zu erinnern. Es muss Wyl zugute gehalten werden, dass er die höhnischen Bemerkungen mit Würde ertrug. Er wusste, dass der Prinz wenigstens in dieser Hinsicht keine Lügen erzählte. Trotzdem trafen ihn die Worte. Es war Alyd, der ihm stets half, seinen Sinn für Humor wiederzufinden, und wenn die beiden Knaben Zeit fanden, beisammen zu sein, hallte schallendes Gelächter durch die Gänge.
Gueryn glaubte fest daran, dass Shar ihnen einen Engel mit goldenem Haar in Gestalt von Alyd geschickt hatte. Vor seiner Ankunft hatte Wyl nicht viel zu lachen gehabt, und jetzt, sechs Monate später, erstrahlte der Junge, sobald Alyd in der Nähe war. Alyds beißender Witz und seine ungezwungene Art standen im genauen Gegensatz zu Wyls verschlossenem, jedoch sehr direktem Wesen, und wo Wyl brutal ehrlich war, hatte Alyd die Gabe, immer die richtigen Worte zu finden. Dabei neigte er zur Übertreibung, was Wyl sehr amüsant fand. Alyds Können als Geschichtenerzähler war schon in seiner kurzen Zeit in Stoneheart legendär geworden. Ein unbedeutendes Ereignis, etwa Lord Berrys Perücke, die ihm vom Kopf geglitten war, als der alte Mann während einer Ratsversammlung ein Nickerchen machte, nahm riesige, hysterische Ausmaße an, wenn es von Alyd Donais Mund erzählt wurde. Wyl liebte Alyd für seine Freundschaft, seine Begabung, ihn zum Lachen zu bringen und sein Interesse an Ylena. Es störte Alyd nie, wenn sie sich ihnen manchmal anschloss, und er schien ebenso große Freude daran zu haben, sie zu unterhalten, wie es Ylena Spaß machte, sie zu begleiten. Und während das Mädchen zur selben goldenen Schönheit 37
heranwuchs, die ihre Mutter einst gewesen war, hatten auch die Jungen an Größe und Kraft zugelegt. Gueryn achtete darauf, dass Wyl in späteren Jahren seine Männer durch starke körperliche Präsenz beeindrucken konnte, obwohl er nicht sehr groß werden würde. Er stellte für Wyl und Alyd besondere Kampfübungen zusammen, die ihre jungenhaften Muskeln stählten, und das Resultat war schon jetzt beeindruckend. »Du wirst meine Nummer zwei, das verspreche ich«, gelobte Wyl seinem besten Freund feierlich, als sie Äpfel kauend in der Nähe des Sees saßen, der an Stoneheart grenzte. Es war ihr freier Nachmittag. Der Tag war kalt, doch die Sonne schien, und beide Jungen hatten nichts Besseres zu tun, als sich vor der Palastwelt zu verstecken, auf dem Rücken zu liegen, zum Himmel emporzustarren und Pläne zu schmieden, während sie davon träumten, gemeinsam in der Legion zu kämpfen. »Woher weißt du, dass sie es erlauben werden?«, erwiderte Alyd. Wyl schnaubte verächtlich. »Wer sind schon sie? Ich werde sie sein«, sagte er in einer seltenen Darbietung von Arroganz. »Ich bin der General der morgravianischen Legion.« »Nur auf dem Papier«, korrigierte ihn Alyd. Wyl überging ihn geflissentlich. »Und in ein paar Jahren werde ich unsere Armee anführen. Mein Vater besaß die vollkommene Oberhand über die Männer. Und ich werde nur diejenigen zu meinen Offizieren und Leutnants ernennen, denen ich vertrauen kann.« »Aber was ist, wenn ...« Alyd verstummte, als ein zerzauster und erschöpft aussehender Page den Hügel heraufgeeilt kam. 37 »Oh, was ist jetzt wohl los?«, murmelte Wyl. »Ach, Jon!« Die Erleichterung stand dem Jungen deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ihr müsst kommen - er will Euch sehen.«
Wyl verzog schicksalsergeben das Gesicht. Dann stand er auf. »Der Prinz?« Jon nickte und atmete nach der Anstrengung immer noch schwer. »Ich habe überall nach Euch gesucht. Er hat schlechte Laune.« »Wundervoll ... genau wie wir ihn lieben«, sagte Alyd grinsend und erhob sich ebenfalls. »Wie hast du uns überhaupt gefunden, kleiner Jon?« Die Augen des Jungen wanderten nervös zu Wyl. »Eure Schwester. Es tut mir leid, aber ich musste Euch finden.« »Das ist schon in Ordnung, mach dir keine Gedanken mehr darüber.« »Wir werden sie einfach später mit unseren Schwertern durchbohren«, versicherte ihm Alyd. Jon sah entsetzt aus. »Er ist nur ein Witzbold, Jon. Als könnte er dem Mädchen, das er liebt, etwas zuleide tun.« Jetzt war Alyd an der Reihe, erschrocken dreinzublicken. Er warf seinen Apfelbutzen auf Wyl, bevor er sich im nächsten Moment auf ihn stürzte, und die beiden den Hügel hinabrollten, während der arme Page ihnen hinterherrannte. »Wie kannst du es wagen!«, beschuldigte Alyd seinen Freund, ohne sich jedoch selbst im Klaren zu sein, ob er lachen oder Wyl verprügeln sollte. »Das sieht doch ein Blinder, du Narr.« »Sie ist noch nicht mal elf!« »Ja, und wenn du zwanzig bist, wird sie sechzehn Som 38
mer zählen und im heiratsfähigen Alter sein. Streit es nicht ab, Alyd Donal. Du hast dich in meine kleine Schwester verknallt. Aber ich heiße es gut... zu deinem Glück.« »Ich weigere mich, diese lächerliche Unterhaltung fortzusetzen«, sagte Alyd, doch Wyl stellte eine verräterische Röte am Hals seines Freundes fest - ein sicheres Zeichen, dass Alyds Protesterklärungen keine Bedeutung hatten. Er grinste und bemerkte dann den zitternden Jon. »Shar vergib uns! Tut mir leid, Jon. Ich komme. Zeig mir den Weg. Bis später, Alyd - und gerate nicht in Schwierigkeiten, während ich weg bin.« »Pass lieber auf dich selbst auf, Wyl. Er führt nichts als Böses im Schilde.« Als der Prinz sechzehn wurde, hatte sich seine Statur vollkommen verändert, und es kam Wyl vor, als überrage Celimus ihn nun um viele Köpfe, was sein eigenes plötzliches Wachstum belanglos erscheinen ließ. Der Prinz war jedoch auch in die Breite gegangen. Er hatte tatsächlich ein außergewöhnliches Äußeres, und lediglich sein finsterer Blick verdarb das schöne Bild. »Lass mich nicht noch mal so lange warten, Thirsk!« »Entschuldige vielmals, Hoheit«, sagte Wyl und nahm sein gewohnt höfliches Gebaren an. »Was kann ich für dich tun?«, fügte er hinzu und trieb die Unterhaltung rasch voran. Er wusste aus seinem reichen Erfahrungsschatz, dass eine andere Vorgehensweise nur zu den gewöhnlichen Beleidigungen führte. »Du hast Glück, dass ich heute so gut gelaunt bin.«
»Das freut mich, Hoheit. Wie kann ich deinen Tag noch besser machen?«, fragte er und feixte beinahe über sein 39
eigenes unterwürfiges Verhalten. Alyd hatte ihn gelehrt, wie er seine Worte versüßen konnte, während er in Wirklichkeit etwas ganz anderes dachte. Wyl hatte erkannt, dass diese Taktik bei Celimus sehr gut funktionierte, der zu eingebildet und beschäftigt war, um sie zu bemerken. Alyd wäre stolz auf Wyl. »Zurück zu deinen Pflichten!«, befahl Celimus dem Pagen, und Jon trottete fort, glücklich, dem Knurren des Prinzen entkommen zu sein. Celimus richtete den olivfarbenen Blick wieder auf Wyl. Vor Kurzem hatte sein Vater ihn angefleht, er solle sich mit dem Jungen anfreunden. Er grinste höhnisch. Celimus hasste Wyl Thirsk und wünschte, der alte Mann würde sich mit dem Sterben beeilen, damit er endlich den Thron besteigen konnte. Seine erste Amtshandlung bestünde darin, den Einfluss der Thirsk-Familie ein für alle Mal zu beenden. Doch für den Augenblick musste er so tun, als käme er der Bitte seines Vaters nach, und wenn er ehrlich war, so war Wyl gelegentlich recht hilfreich. Nun, heute würde er die Ausbildung des Jungen vorantreiben - sicherlich hätte der König nichts gegen eine solche Großzügigkeit einzuwenden. Er lächelte verschlagen, und Wyl fragte sich, welche Boshaftigkeit jetzt wohl auf ihn wartete. »Komm mit«, sagte Celimus vergnügt. »Ich habe einen besonderen Leckerbissen für dich auf getan.« »Wohin gehen wir?« »Das ist eine Überraschung, Wyl.« Myrrens Verletzungen und Schnitte begannen allmählich zu heilen. Sie saß zitternd im Kerker von Stoneheart, wohin 39
man sie vor einigen Tagen gebracht hatte. Der quälende Hunger, der sie beinahe umbrachte, hatte sich schließlich in dumpfe Benommenheit verwandelt. Sie hatte die absichtlich versalzene Nahrung verweigert, die man ihr in die Zelle geworfen hatte, da sie genau wusste, dass man ihr kein Wasser bringen würde, wenn ihre ausgetrocknete Kehle schreiend danach verlangte. Und schon nach wenigen Tagen würde der brennende Durst ausreichen, um einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben - wie es einer armen Seele einige Zellen weiter ergangen war. Sie war die einzige Beute der Hexenjäger im Kerker und wohl die einzige Gefangene, mit der sie ihren Spaß haben konnten. Die Häscher bereiteten sie auf den »Prozess« vor, der ihr schließlich unter Folter ein Geständnis entlocken sollte. Myrren hörte das düstere Läuten der Glocken und war beinahe versucht, sich auf die feuchten Steinplatten fallen zu lassen, sich zu krümmen und zu winden, wie es anscheinend von Hexen erwartet wurde. Ein solches Verhalten würde die Wachen schleunigst herbeirufen, die ganz aufgeregt wären, weil sie Myrren endlich entlarvt hätten. Es würde ihr große Schmerzen ersparen, erkannte sie grimmig. Sie konnte einfach ihre Schuld eingestehen, und die Sache wäre erledigt. Die Jäger
würden sie sowieso umbringen, also warum sollte sie unnötiges Leid durchleben? Eine zarte Stimme in ihrem Innern flehte sie an, es sich selbst leicht zu machen. Der Tod käme, egal, in welche Pachtung sie blickte. Es könnte entweder ein schreckliches Ende durch Verbrennen nach vielen Tagen der quälenden Pein sein oder schnell und relativ schmerzlos vorübergehen; ein kurzes Geständnis, und eine Klinge würde in ihrer Kehle stecken. Myrren dachte an die Flammen. Sie 40
ängstigten sie mehr als die Vorstellung der Folter, die sie sich schlechter vergegenwärtigen konnte. Doch sie hatte keine Schwierigkeit sich auszumalen, wie sie festgebunden und schreiend dastand, während das Feuer ihr Fleisch schmolz und auffraß. Der Prozess - das war ihr von einer großen Gestalt mit Hakennase erklärt worden, der sich selbst als Beichtvater Lymbert vorgestellt hatte - beinhaltete drei Kategorien. Lymbert, dessen Name bei Myrren eine dumpfe Erinnerung geweckt und ein flaues Gefühl in der Magengegend hervorgerufen hatte, nannte diese Kategorien lieber »Stufen«. Das Wort zauberte ihm jedes Mal ein Lächeln aufs Gesicht. Myrren hatte bereits Lymberts sogenannte erste Stufe erdulden müssen. Abgesehen von der erlaubten Vergewaltigung durch einen seiner Helfer, bei der man ihr die Jungfräulichkeit geraubt hatte, war sie ausgezogen und mit verbundenen Händen vor einer Gruppe vermummter Männer ausgepeitscht worden. Bei ihnen handelte es sich wahrscheinlich um Überbleibsel der Anhängerschaft Zerques, die weit größeres Interesse daran zu haben schienen, ihren nackten, schmerzgepeinigten Körper zu begaffen, als irgendetwas abgesehen von ihren hilflosen Schreien - aus ihr herauszubekommen. Myrren hatte immer geglaubt, dass König Magnus diese Fanatiker nicht guthieß, dass er sie und ihre Lehre zerschlagen habe. Ihre Eltern hatten ihren Optimismus nicht geteilt. Sie hatten sie immer gewarnt, vorsichtig zu sein. »Es sind deine Augen, meine Liebe«, hatte ihr Vater sanft erklärt. »Die religiösen Eiferer werden deine Schönheit nicht erkennen und deine intelligenten Worte nicht hören. 40
Sie werden nur deine unterschiedliche Augenfarbe sehen, und der ganze alte Aberglaube wird wieder hochkommen und sie ängstigen.« Von dem Tag an, als Myrren alt genug war, um sich mit anderen zu unterhalten, hatte sie gewusst, dass sie anders war und von ihren Eltern beschützt wurde. Ihre Mutter beichtete ihr einmal, wie groß die ständige Angst um Myrrens Leben war, die sie und ihr Mann durchlitten. Auch sie hatte auf die Augen ihrer Tochter und die tief verwurzelte Angst verwiesen. »Dann stecht sie doch aus!«, hatte Myrren einmal wütend vorgeschlagen, was ihre Eltern sehr bestürzte. Sie hatte sie nicht schockieren wollen, aber sie war die permanente Sorgfalt leid, mit der sie Fremde ablenken musste, damit sie ihr nicht direkt ins Gesicht blickten. Sie war es leid, Tücher und Schals tragen zu müssen, wenn sie sich hinauswagte.
Es würde sich niemals ändern. Die Angst war uralt, und obwohl die Morgravianer fortschrittlich waren und heutzutage sogar öffentlich die Existenz von Magie bestritten, herrschte immer noch das Bedürfnis, sich heimlich gegen Zauberei zu schützen. Myrren hatte sich immer gewünscht, sie besäße die Macht, die Farbe ihrer Augen zu ändern, denn sie wusste, dass die Hexenjäger und das Gerede stets bedrohlich wie ein Damoklesschwert über ihr schwebten. Sie erinnerte sich daran, wie leer sie sich gefühlt hatte, nachdem sie den Adligen abgewiesen und sofort gespürt hatte, dass ihr Verhalten Schwierigkeiten nach sich ziehen könnte. Und das nur wegen des alten Aberglaubens in Bezug auf Augen - auch wenn sie sich in dem Moment, als seine unwillkommene Hand unter ihre Röcke geglitten 41
war, um nichts weiter Sorgen gemacht hatte. Sein nach Alkohol stinkender Atem war widerlich gewesen, und seine lüsterne, verzweifelte Begierde hatte eine Welle des Ekels in ihr aufsteigen lassen. Ihre Verachtung hatte sich in ihrer scharfen Zurechtweisung gezeigt. Und jetzt zahlte sie den Preis dafür. Dennoch würde sie diesen Männern keine Genugtuung verschaffen. Und deshalb hatte sie nach den ersten Peitschenhieben, die ihr einen schrillen Einspruch entlockt hatten, die Zähne so fest wie möglich zusammengebissen und keinen weiteren Laut von sich gegeben. Sie würde ihnen nichts von sich preisgeben, nicht einmal ihr gequältes Stöhnen. Eine andere Frau, die viel älter als sie selbst war, hatte gleichzeitig eine ähnliche Behandlung erfahren, wobei sie während der gesamten Zeit geweint und um Gnade gefleht hatte. Sie war angeklagt, ihren Ehemann ermordet zu haben, doch niemand schien den alten Verbrennungen, den blauen Flecken, den offensichtlich gebrochenen und jetzt verdreht zusammengewachsenen Gliedmaßen Beachtung zu schenken. Diese Frau war ohne jeden Zweifel von einem brutalen Gatten gequält worden. Doch das spielte keine Rolle. Den Mut aufzubringen, ihn zu töten, würde sie nun mit ihrem eigenen Leben bezahlen. Das Auspeitschen hatte endlich aufgehört, und beide Frauen blieben über Fässern gebeugt hängen und sogen so viel Luft wie möglich in ihre Lungen, um ihre zitternden Beine, Arme und zerrütteten Nerven zu beruhigen. Die Qualen durch die blutenden Striemen auf Myrrens Rücken waren so stark und verzehrend, dass sie zu einem Teil von ihr wurden. Sie hatte es irgendwie geschafft, sie in sich aufzunehmen und 41 beiseitezuschieben. Wenige Augenblicke später wurde sie umgedreht und an einen Pfosten gebunden. Als Nächstes erinnerte sie sich daran, wie sie den verschwommenen Schmerz in ihrem Rücken mit aller Gewalt ignorierte, als sie gegen das raue Holz scheuerte. Myrren war immer noch nackt, und die Männer genossen es, ihren Körper aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, doch was noch wichtiger war: Sie konnte nun beobachten, was mit ihrer Mitgefangenen geschah. Die Folterer hatten sich anscheinend entschieden, Myrren für eine spätere Unterhaltung aufzusparen - eine mutmaßliche Hexe musste nach einer solch langen Durststrecke, in der es keinen Prozess gegeben hatte, natürlich
ausgekostet werden. Traurig hatte Myrren mit angesehen, wie die andere Frau von dem Fass weggezogen wurde. »Zieht ihr Schuhe an!«, befahl Lymbert, nachdem er von der Alten gelangweilt war. Myrren hatte längst die Augen geschlossen. Sie wusste, was jetzt geschehen würde, denn Lymbert hatte es enormes Vergnügen bereitet, sie durch seine Folterkammer zu führen. Die vollkommen erschöpfte, lallende Frau wurde zu einer Bank gezogen, wo sie in eine sitzende Position gebracht wurde. »Verbindet ihr die Hände!«, ordnete Lymbert an. »Ich bitte Euch, Sir«, ersuchte ihn das Opfer flehentlich, und Myrren hatte die Augenlider fest zusammengepresst und versucht, nicht hinzuhören. Sie wusste, dass es jetzt keine Gnade mehr gab, nicht für eine Mörderin ... und schon gar nicht für jemanden, der nicht zugeben wollte, kaltblütig getötet zu haben. Die Füße der Frau wurden dann in zwei speziell angefer 42 tigte Schraubstöcke geklemmt. Sie war immer noch zu benommen von den Schmerzen des Auspeitschens, um überhaupt mitzubekommen, dass noch weitere Qualen auf sie warteten. Nur wenige Drehungen der grausamen Schrauben waren nötig, um eines ihrer Schienbeine zu zersplittern. Zu diesem Zeitpunkt schrie das Opfer auch schon ein Geständnis heraus und gab zu, dass sie den Tod ihres Mannes tatsächlich im Vorhinein geplant und ihn dann erbarmungslos ermordet hatte. Myrren wusste, dass der Beichtvater wenig Interesse hatte, die Wahrheit herauszufinden, vor allem bei gewöhnlichen Kriminellen. Mit ihrer besonderen Auffassungsgabe durchschaute Myrren ihn und begriff, dass Lymbert das Erzwingen von Geständnissen einfacher Diebe, Straßenräuber und Mörder nicht als seine Pflicht ansah. Es schien, als wolle er mit der alten Frau so schnell wie möglich fertig werden, damit er sich seiner wahren Leidenschaft widmen konnte - der Vernichtung von Hexen und Hexenmeistern, oder, wie er sie nannte, dem Fluch der Gesellschaft. Myrrens Vater hatte einmal ein Gerücht aufgeschnappt, nach dem Lymberts Großeltern leidenschaftliche Anhänger Zerques gewesen waren, deren einzige Tochter angeblich vor vier Jahrzehnten von einer mutmaßlichen Hexe ermordet worden sei. Deshalb hegte Lymbert seit seiner Kindheit Groll gegen jeden, der mit Magie zu tun hatte - und hatte seinen Zorn auf Kräuterfrauen und -männer ausgeweitet, von denen er glaubte, sie hätten ihre heilenden Kräfte vom Teufel. Da sich Myrrens Eltern große Sorgen um ihre Tochter machten, hatten sie so viele Informationen wie möglich über den Beichtvater gesammelt. Lymbert war berühmt dafür, in seinen Nachforschungen unermüdlich zu sein, so 42
dass er kein Opfer vor Gericht zerrte, ohne dass dessen Verurteilung von Anfang an sicher war - und Myrren wusste, dass er nur einen Blick auf ihre Augen werfen musste, um ohne jeden Zweifel zu erkennen, dass dieser Fall einen Schuldspruch nach sich ziehen würde.
Myrren öffnete nun diese seltsamen Augen und kämpfte bei der Erinnerung an die ungeheueren Leiden, die die ältere Frau durchleben musste, die Tränen zurück. Während Lymbert das Todesurteil unterschrieb, drehte er sich lächelnd zu ihr um. Die Botschaft, die in diesem kalten Grinsen lag, war unmissverständlich. Er sparte sie sich für eine viel schlimmere Behandlung auf. Die andere Frau wurde schließlich weggebracht, und niemand hörte jemals wieder etwas von ihr. Wahrscheinlich war sie noch am selben Tag verscharrt worden. Derjenige von Lymberts Helfern, der sich auch an ihr vergangen hatte, band Myrren los und blies ihr seinen fauligen Atem ins Gesicht, während er ihr all die anderen sexuellen Obszönitäten ins Ohr flüsterte, die er gern mit ihr anstellen würde. Er ließ sie absichtlich fallen, als die Stricke durchtrennt waren, packte sie dann grob am Haar und zerrte sie zurück auf die Beine. Doch noch immer gab sie den Anwesenden nicht die Genugtuung, die sie so verzweifelt ersehnten. »Zurück in ihre Zelle«, befahl Lymbert, der keineswegs von ihrer Tapferkeit beeindruckt war. »Die Hexe Myrren von Baelup wird in drei Tagen der zweiten Stufe der Folter unterzogen werden.« Dann sah er sie an. »Das sollte dir genügend Zeit geben, meine Liebe, um deine Wunden zu lecken ...« Leise lachte er über seinen eigenen Witz. »... und vielleicht deine Zunge lösen.« 43
Nun saß sie im Kerker und dachte über die nächste Stufe nach, in der Lymbert und seine Handlanger zur wirklichen Folter übergehen würden. Myrren wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Die Zelle hatte keine Fenster, war klein und stickig, und nur ab und an strömte abgestandene Luft vom Korridor durch die Gitterstäbe. Sie kauerte sich am Boden zusammen, nackt abgesehen von dem rauen Leinen, in dem sich beißende Insekten tummelten. Trotzdem war es alles, was sie hatte, und sie wickelte sich so gut es ging darin ein und drehte sich von der Tür weg. Sie dachte an ihre Eltern, weinte dieses Mal jedoch nicht -es schien, als sei bereits jede sinnlose Träne aus ihrem Körper geflossen. Aber dann erinnerte sie sich an den schwarzen Welpen, und nun traten ihr doch Tränen in die Augen. Er war ein besonderes Geschenk gewesen und hatte ihr so viel Freude bereitet. Myrren hatte ihn Knave genannt. Er war jetzt herrenlos - sie war sicher, dass ihre Mutter nicht in der Verfassung war, sich um einen Hund zu kümmern. »Ich wünschte nur, ich könnte mich wehren«, flüsterte sie. »Wäre ich eine Hexe, könnte ich auf Rache sinnen.« Tränen rollten ihr bei der Erinnerung an Knave die Wangen hinab, und mit ihnen ertönte eine Stimme in ihrem Kopf. Hab keine Angst, mein Kind. Du bist keine Hexe, aber du wirst deine Rache bekommen.
»Wer spricht da?«, flüsterte sie erschrocken und fuhr in der Dunkelheit herum. Ich bin Elysius, sagte der Mann in ihrem Kopf. Einige Stunden später war Myrren vollkommen erschöpft, aber mit sich im Frieden. Sie war überrascht, dass sie mit
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einer derartigen Ruhe über die unausweichlichen Schrecken nachdenken konnte, die vor ihr lagen. Elysius hatte ihr viel erklärt. Jetzt verstand sie alles. Er hatte sie ermahnt, tapfer zu bleiben. Sie begriff, dass sie keine andere Wahl hatte, als mutig zu sein. Lymbert und seine Handlanger bereiteten sich darauf vor, sie abzuholen. Der Beichtvater hatte ihr ein Kleidungsstück geschickt. Durch seinen Gehilfen ließ er ihr ausrichten, dass sie es tragen sollte, doch schon bald stellte sich heraus, dass es nichts weiter war als ein Stück grobes Sackleinen, mit einem Loch für den Kopf und einem weiteren Streifen Stoff als Gürtel. Verwundert fragte sich Myrren, ob Lymbert auf einmal eine Veränderung durchlaufen hatte und ihr während der Verhandlung ein Minimum an Würde gewähren würde. Doch sie war eine intelligente, scharfsinnige junge Frau, und nichts in Lymberts bisherigem Verhalten ließ die Annahme zu, dass er auch nur eine Spur Mitleid für seine Opfer empfand. Sie tat die Idee als frommen Wunsch ab, nahm die Kleidung jedoch dankbar an. Einem plötzlichen Geistesblitz folgend, benutzte sie den stumpfen Löffel, der zwischen dem geronnenen Matsch steckte, der hier als Nahrung bezeichnet wurde, um eine Botschaft auf einen der Steine zu ritzen. Das gab ihr in diesen letzten Stunden ihres Lebens das Gefühl, sie sei von ungehorsamem Trotz durchflutet. Myrren dachte über ihre Folter nach. Lymberts Wahl würde höchstwahrscheinlich auf die Folterbank fallen, denn während der Führung waren seine Augen bei der Erwähnung aufgeblitzt, und womöglich auf die Daumenschrauben, die der Beichtvater beinahe liebevoll gestreichelt hatte, als er sie ihr zeigte. 44 Doch Myrren hatte unrecht. Als man sie erneut in die große Folterkammer führte, schien es, als habe Lymbert etwas ganz Besonderes für sie aufgespart. Sehr viele Männer waren hier versammelt. Genau genommen war der Raum zum Bersten voll, und dieses Mal war keiner von ihnen vermummt, sondern begierig, ihrem Prozess und dem Geständnis beizuwohnen. Auch der selbstgefällige Lord Rökan war anwesend, zweifelsohne, um das Ergebnis seiner hinterhältigen Intrige zu genießen. Bevor Myrren die Folterkammer betrat, hatte sie Gespräche vernommen; einige der Anwesenden waren zu Scherzen aufgelegt, andere Stimmen erhoben sich in offensichtlicher Vorfreude und Aufregung. Ihre Ankunft brachte alle Anwesenden zum Schweigen. Myrren, angetrieben von ihrer seltsamen Unterhaltung mit dem Mann, den sie nur als Elysius kannte, fühlte sich furchtlos. Sie reckte das Kinn und forderte die Zuschauer mit ihren bezwingenden Augen heraus, die sich daraufhin räusperten und den Blick zu ihren Füßen gleiten ließen. Es war ein kleiner Sieg, doch er erhöhte Myrrens Entschlossenheit, mit Mut im Herzen zu sterben. Grobe Hände rissen ihr das hauchdünne Gewand vom Körper, und Lymberts angebliche Großzügigkeit stellte sich als das heraus, was es in Wirklichkeit war: Verschlagenheit. Er hatte darauf bestanden, dass sie angekleidet war, nur um
das Schauspiel ihrer Folter, das mit ihrer Nacktheit begann, für das Publikum noch dramatischer zu gestalten. Sie hasste ihn, und sie hasste den König, der dies zuließ. Die Risse im Kleid offenbarten ihren Körper, der gerade zur Frau wurde, und die Blicke der Zuschauer waren nun 45 nicht länger in Unbehagen auf ihre Füße gerichtet, sondern beäugten lüstern ihre nackte Haut. Rökan beobachtete sie mit gierigem Hunger. Ein Quietschen ertönte von oben, und Myrren bemerkte, dass die Männer auf eine Vorrichtung starrten, die von der hohen Decke heruntergelassen wurde. Alle außer einem. Auch Myrren schenkte dem eigenartigen Apparat keinerlei Aufmerksamkeit. Ihr Blick wurde unerbittlich auf ein Augenpaar gelenkt, das sie und nicht das seltsame Folterinstrument musterte. Es war ein junger Mann. Knallrotes Haar umrahmte ein unscheinbares und mit hellen Sommersprossen übersätes Gesicht, in dem sich tiefe Verzweiflung widerspiegelte. Seine eigenen gewöhnlichen Augen waren wie gebannt auf sie gerichtet. Nicht auf ihre nackte Haut, sondern auf ihre verschiedenfarbigen Augen. Dieser Junge berührte sie innerlich, und sie wagte sogar ein kaum merkliches Lächeln. Er war vor Schreck wie gelähmt, und sie hatte Mitleid mit ihm, da sie wusste, dass dieser Knabe nicht hier sein und ihrem Leiden zusehen wollte. Lymbert machte vor dem versammelten Publikum eine Ankündigung, das nickte und zustimmende Geräusche von sich gab - angeführt von ihrem Ankläger Rökan. Doch sie schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Sie hatte jegliches Schamgefühl bezüglich ihrer Nacktheit verloren, merkte jedoch mit schmerzhafter Klarheit, dass ihr die Hände fest auf den Rücken gefesselt wurden. Myrren hatte nicht den blassesten Schimmer, was nun folgen würde. Der Beichtvater hatte ihr ganz sicher nichts über diesen eigenartigen Apparat erzählt. 45
Myrren war dankbar, dass eine seltsame Benommenheit über sie gekommen war, seit sie Elysius' Stimme vernommen hatte. Jetzt erinnerte sie sich an seine leise gesprochenen Worte und wiederholte sie im Stillen. Sie werden dir wehtun, meine Kleine. Doch der Schmerz wird so gering wie möglich sein. Ich kann dich nicht retten, aber ich werde dir die Möglichkeit geben, deinen Tod zu rächen. Hör mir gut zu. Ich schenke dir eine Gabe ... und dann hatte er ihr alles
erläutert.
Warum kann ich die Gabe nicht benutzen, um mich selbst zu retten?, hatte sie in
diese bizarre Leere gefragt, die sich in ihrem Verstand geöffnet hatte.
Weil sie dich verbrennen werden, mein Kind. Es wird nicht funktionieren. Er nannte
ihr den Grund. Sie hatte den anfänglichen Hoffnungsschimmer zurückgekämpft, als sie es langsam begriff. Elysius hatte noch mehr gesagt, aber das war vertraulicher Natur gewesen. Sie verstand seine Worte und auch seine Erklärung, wer sie in Wirklichkeit war. Trotz des Schocks liebte sie ihn dafür, dass er das Wissen mit ihr teilte. Dann hatte sie die Informationen tief in sich vergraben. Sie würde
diese Freude nicht wieder aufleben lassen, damit sie hier von diesem Prozess befleckt wurde. Myrren von Baelup war keine Hexe, aber sie hatte eine Gabe, die eine unerbittliche Macht freisetzen würde, bis sie das wahre Ziel ihrer Rache fand. Schließlich erschien ein Priester, der ihr die Absolution erteilen sollte. Sie drehte sich zu ihm um und beobachtete, wie er beim Anblick ihrer Augen zurückschreckte. Trotzdem betete er zu Shar, damit ihre Seele gerettet wurde, und dafür war sie ihm verbunden. 46 »Vielen Dank«, flüsterte sie, und nur er allein hörte sie. Dann begann er sein trauriges Gebet, das ihre Seele zu Shar begleiten sollte. Sie ließ den Blick über den geneigten Kopf des kleinen Priesters schweifen, und ihre Aufmerksamkeit wurde wieder zu dem Jungen mit den roten Haaren gelenkt, der sie keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Neben ihm befand sich ein größerer, stärkerer Junge, der auf der Schwelle zum Mannesalter stand. Sie sog scharf die Luft ein. Ihr Peiniger führte ihr Keuchen darauf zurück, dass sie gerade die Stricke testeten, mit denen ihre Hände festgebunden waren, doch Myrren war der Laut aufgrund der Schönheit des Jungen mit dem olivfarbenen Teint entschlüpft, der neben der einzigen mitfühlenden Seele in diesem Raum stand. Der prächtig aussehende Junge lechzte nach ihrer nackten Haut und flüsterte dem Rotschopf wahrscheinlich gerade etwas Unzüchtiges ins Ohr, der angewidert drein-blickte und vor Ärger errötete. Der Dunkelhaarige schien ihn ins Mark getroffen zu haben und lachte laut auf, wobei Rökan mit einstimmte. Sie hörte, wie sich der dunkelhaarige Junge mit seiner nicht gerade leisen Stimme, die das Gebet übertönte, damit brüstete, dass der Prozess seine Idee gewesen sei. Andere Männer nickten grinsend. »Aber es war meine Wenigkeit, der die Hexe überhaupt entdeckt hat, mein Prinz«, fügte Lord Rökan hinzu, der unbedingt in das Lob eingeschlossen werden wollte. Als Celimus zornig in seine Richtung sah, erkannte der nicht mehr ganz junge Adlige, dass es sinnvoller wäre, von nun an zu schweigen und den wunderschönen, königli 46
chen Emporkömmling seinen Auftritt in vollen Zügen auskosten zu lassen. »Habt Ihr etwas zu sagen?« Lymberts Stimme dröhnte plötzlich über das müßige Geschwätz zu ihr herüber. Anscheinend hatte der Priester das Gebet beendet. Myrren tat einen tiefen Atemzug und sah sich um, wobei sie weder ihren Mangel an Sittsamkeit noch die hungrigen Blicke beachtete, die sie damit provozierte. »Ja«, erwiderte sie. Sie hatte nichts zu ihrer Situation zu sagen, doch ihr brannte eine Frage auf den Lippen. »Wer ist dieser Mann?« Lymbert trat beiseite, überrascht von ihrer eigenartigen Frage. Dann betrachtete er die Umstehenden. »Wer?« Myrren warf Celimus einen Blick zu. »Ihr da.«
Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des jungen Mannes aus, und der Rothaarige sah zu Boden, als sei er enttäuscht, dass sie nicht ihn ausgewählt hatte. Celimus trat einen Schritt vor, und wie immer strotzte er vor Anmut und arroganter Prahlerei. »Meine Dame«, sagte er und betonte übertrieben jedes seiner Worte, damit seine Beleidigung auf keinen Fall als echte Höflichkeit missverstanden werden konnte. »Ich bin Prinz Celimus.« Sie hatte bei ihrer Folter nicht mit so vornehmer Gesellschaft gerechnet, doch sie schaffte es, völlig ausdruckslos zu bleiben und ihre Stimme nicht zittern zu lassen. »Ich kann nachvollziehen, warum der grabschende Lord Rökan mit seinem verletzten Stolz und seiner schlaffen Männlichkeit kommt, um sich auf meine Kosten zu erregen.« Zahlreiche Leute schnappten hörbar nach Luft, was von einem Kichern abgelöst wurde, und Myrren genoss die kräftige 47
Farbe auf den Wangen des Adligen, der für ihren Ruin verantwortlich war. »Aber warum«, fuhr sie fort, »sollte der Prinz unseres Königreiches ein Interesse an dieser ...« Sie ließ die eigenartigen Augen über die Folterkammer gleiten. »... Farce haben? Denn nichts anderes ist das hier, Sire.« Der Prinz grinste. Sie versuchte sich vorzustellen, wie viele junge Frauenherzen bei diesem Lächeln höher schlagen würden, ohne zu erkennen, wie bösartig oder wenigstens spöttisch es war. »Lord Rokans schlaffe Männlichkeit beiseite, Madam, bin ich hier im Namen der Bildung«, erwiderte er und packte dann Wyl am Arm. »Dieser Junge hat noch nie dabei zugesehen, wie eine Hexe ein Geständnis ablegt. Da er schon bald unsere großartige Legion anführen wird und sich als mein Kämpe behaupten muss, sobald ich König bin, glaubte ich, es sei meine Pflicht, sein Wissen über die Sitten von Stoneheart und das kulturelle Leben von Pearlis zu erweitern. Das ist in seinem Leben bisher leider zu kurz gekommen. Er ist nämlich ein Bauerntölpel.« Wütend entwand sich Wyl Celimus' Griff und schüttelte heftig den Kopf, um Myrren zu verdeutlichen, dass seine Anwesenheit hier erzwungen war. Er schwieg jedoch und flehte die wunderschöne Frau vor sich nur mit den Augen an, ihn zu verstehen. Sie nickte, doch dieses Mal blieb ihr Blick auf Wyl geheftet. »Vielen Dank«, erklärte sie, und er wusste, dass sie ihn verstanden hatte. »Tut, was Ihr wollt, Lymbert, aber Ihr werdet kein Geständnis von mir bekommen.« »Temperamentvoll«, lobte Celimus und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wie schade, dass ihr Wille auf die 47 se Weise gebrochen werden muss. Ich hätte erst mit ihr geschlafen und ihre Zunge durch eine andere Art der Folter gelockert.« Alle brachen in lautes Gelächter aus, angeführt von Lord Rökan, der es darauf anlegte, sich nach Myrrens abscheulicher Anschuldigung wieder bei der Menschenmenge anzubiedern. Lymberts Augen leuchteten. Es peinigte ihn, ihr kein Geständnis abgerungen zu haben ... jedenfalls noch nicht. »Myrren, darf ich Euch mit dem Pendel
bekannt machen? Es ist mein Lieblingsinstrument. Und nun würde ich Euch gerne erklären, wie es funktioniert, wenn Ihr gestattet.« Er war jetzt die Liebenswürdigkeit in Person und genoss die Möglichkeit, sein neuestes Folterwerkzeug vorzuführen. »Eure Hände sind aus einem ganz bestimmten Grund auf Eurem Rücken gefesselt, und nun wird mein Gehilfe das Pendel daran festmachen. Sobald ich das Zeichen gebe, werden diese drei Männer dort«, sagte er und zeigte mit dem Finger hinter Myrren, doch sie weigerte sich hinzusehen, »einen Flaschenzug benutzen, um Euch in die Höhe zu hieven. An diesem Punkt werden wir alle in den Genuss kommen zu hören, wie Eure Arme ausgekugelt werden. Mein Lieblingsgeräusch.« Er zitterte vor entzückter Vorfreude. »Und habt Ihr die Hundert-Pfund-Gewichte bemerkt, meine Liebe? Nun, wenn Ihr nur den Blick zur Seite wenden würdet, könntet Ihr sehen, dass sie an Eure Füße festgebunden wurden und jetzt natürlich ihr Bestes geben, um Euren Körper davon abzuhalten, den Boden zu verlassen. Dabei helfen sie uns, Eure Hüfte auszurenken. Welch herrliche Schmerzen! Nebenbei bemerkt: Wir haben uns entschieden, die ein wenig langweilige zweite Stufe zu überspringen und direkt zur dritten überzugehen, um uns 48
Zeit und eine Menge sinnloses Schreien zu ersparen. Ich hoffe, das ist Euch recht?« Er lachte herzlich, und jeder außer Wyl, bemerkte sie, stimmte mit ein. Sie drehte das Gesicht weg. »O ja, Myrren«, fügte er hinzu. »Das hätte ich beinahe vergessen - wie nachlässig von mir. Ich dachte, ich sollte sicherheitshalber noch ein wenig des Strappados benutzen. Vielleicht wisst Ihr nicht, was das ist? Es ist meines Erachtens die erlesenste Pein, die ich jemandem zufügen kann, ohne tatsächlich Blut fließen zu lassen. Dabei werden wir den Flaschenzug loslassen - nur für einen Augenblick -und Ihr, meine Liebe, werdet natürlich fallen. Allerdings werden meine Männer - und das ist das Gute - Euren Sturz plötzlich aufhalten, indem sie das Seil packen. Ihr könnt Euch wohl vorstellen, welche Qual das für die bereits geschundenen Kugelgelenke und Gliedmaßen bedeutet, die eigentlich längst ihre äußerste Schmerzgrenze erreicht haben. Und seid ein braves Mädchen und gesteht nach dem ersten Fall, denn dem Gesetz nach bleiben mir noch drei weitere Versuche. Beim vierten Mal wird es weit mehr wehtun, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es edler ist, durch die Flammen zu sterben als tot und gebrochen am Seil zu hängen.« Jetzt drehte sich Myrren wieder ihrem Peiniger zu, und in einem letzten trotzigen Aufbäumen spuckte sie ihm ins Gesicht. Es war ein kurzzeitiger Triumph. »Hievt die Hexe hoch!«, zischte er bösartig. Seine Handlanger gehorchten und zogen das Seil in die Höhe, das an dem Flaschenzug befestigt war. Während Wyl das unausweichliche ekelhafte Geräusch von Myrrens Schultern vernahm, die beinahe augenblick 48
lich nachgaben, spürte er, wie der Inhalt seines Magens in seine Kehle drängte. Als das erste ihrer Kugelgelenke mit einem lauten Knacksen kapitulierte, erbrach Wyl sein Mittagessen auf seine Schuhe, doch niemand außer Celimus,
der ihn beiseite schubste, damit er selbst nicht bespritzt wurde, schenkte ihm Aufmerksamkeit. Der Prinz lachte jedoch und genoss Wyls Entsetzen. Schließlich hatte er Thirsk derart aus dem Gleichgewicht gebracht, dass dieser sich vor allen gedemütigt hatte. Viele der Zuschauer blickten weg oder mussten bei dem Geräusch von Myrrens Schultern, die sich aus den Armen lösten, würgen. Doch niemand in dem Raum hörte sie einen Ton von sich geben. An diesem Nachmittag ließen sie Myrren noch viermal fallen, während sie die ganze Zeit das Geständnis aus ihr herauspressen wollten, dass sie eine Hexe sei - ohne Erfolg. Bisweilen schien sie bewusstlos zu sein, wahrscheinlich durch die Folterqualen. Niemand, der ihr zusah, konnte nachvollziehen, wie sie der Versuchung widerstehen konnte, einfach zu gestehen. Viele hatten im Stillen großen Respekt vor dem Mut, den es sie kosten musste, eine solche Behandlung zu überstehen; niemand vermochte sich das Maß der Schmerzen vorzustellen, die ihr Körper gerade ertrug. Lymbert, der kühle Distanz aufrechterhielt, ließ sie jedes Mal wieder geschickt durch starke Riechsalze und eiskaltes Wasser zu sich kommen. Doch ihr Mund blieb fest verschlossen, obwohl jede andere Öffnung ihres Körpers aufgrund der seelischen und körperlichen Pein erschlaffte. Und wäre es ihr möglich gewesen, hätte ihr die Wirkung womöglich eine Art Genugtuung verschafft. Zunächst hat 49 te der Raum nach Männerschweiß und Lust gerochen. Nun stank er wie eine Jauchegrube, und einige erfahrene Prozessbesucher hielten sich parfümierte Leinentücher an die Nase. Da Wyl wusste, dass dies eine Prüfung seiner Nerven war, und er gleichzeitig wie festgefroren die junge Frau anstarrte, die diese Qualen ertragen musste, verharrte er so still wie eine der Statuen in Stoneheart. Er hatte die zweite Welle der Übelkeit und Panik überwunden und kämpfte nun gegen den bitteren Geschmack in seinem Mund an. Jetzt konnte er seine Angst besiegen und es Myrren gleichtun. Er würde nicht klein beigeben. Wyl verstand nun, warum Celimus ihn hierhergebracht hatte. Der Prinz wollte ihn wie ein kleines Kind vorführen; als sei er dem Titel seines Vaters nicht würdig. Doch er würde nicht zulassen, dass Celimus es schaffte, ihn zu demütigen. Wyl blendete den widerlichen Gestank seiner eigenen beschmutzten Stiefel aus, reckte das Kinn und betrachtete Myrrens geschlossene Augen. Seine eigene, neu gefundene Entschlossenheit war aus ihrer Weigerung entstanden, sich den Forderungen des Beichtvaters zu beugen. Lymbert ließ sein Opfer noch höher ziehen, sodass das Gewicht, das bereits an Myrrens gedehnten Beinen und Armen angebracht war, sie noch weiter strecken konnte. Er war zufrieden, als er hörte, wie ihre Fußgelenke und Ellbogen den Widerstand aufgaben. Jetzt war jedes wichtige Gelenk ihres Körpers ausgekugelt, und einige Witzbolde bemerkten, dass sie nun einige Zentimeter Größe hinzugewonnen habe. Nackt, gebrochen und augenscheinlich im Sterben liegend, war Myrren sich selbst treu geblieben. Nun würde
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Wyl beweisen, dass auch er dem Namen Thirsk ebenso treu sein konnte. Er war kein Feigling, und obwohl ihre Folter ein widerliches und überaus barbarisches Schauspiel war, würde er beim nächsten Mal nicht mit der Wimper zucken. Als Myrren nach einem Schwall eiskalten Wassers erneut die Augen öffnete, suchten sie die seinen, und in diesem Moment fühlte sich Wyl Myrren sehr nahe. Zusammen, verbunden durch Myrrens unglaubliche Tapferkeit und ihre gemeinsame Verzweiflung, würden sie einander durch diese qualvolle Pein helfen. Ihre Zeit war kurz, aber er würde sie bis zu ihrem Ende begleiten, ohne den Kopf noch einmal wegzudrehen. Er würde stark sein - für sie. Sieh nur mich an, Myrren, versuchte er ihr allein durch Willenskraft mitzuteilen. Doch sie schloss erneut die seltsamen, erschöpften Augen. Er wünschte, sie wäre tot, wusste es jedoch besser, als sie sich zum wiederholten Male erbrach, wobei ihre zarten Knochen unter der gedehnten Haut deutlich hervortraten. Sie hatte viermal das Strappado ertragen müssen. Lymbert schrie sie nun an, damit sie endlich gestand, und schien wahnsinnig vor Verlangen zu sein, ihren Willen zu brechen und ihr eine Beichte zu entlocken. Als er begriff, dass sie auf eine seltsame Art gewonnen hatte, blickte er sich wie wild um und stürmte dann zu einer der Kohlenpfannen. Der Mann, der für das Schüren des Feuers zuständig war, wirkte vollkommen überrascht. Aber der Beichtvater konnte es sich nicht leisten, kein Geständnis von diesem Mädchen zu erzwingen, insbesondere da der Prinz anwesend war. Lymbert war auf den königlichen Besuch nicht vorbereitet gewesen und hatte keinerlei Erfahrung mit einem solch wichtigen Zuschauer. Doch da er die grausame 50
Neigung gespürt hatte, die im Thronfolger schlummerte, entschloss er sich, die volle Bandbreite seines Könnens zu zeigen. Er schnappte sich einen herumliegenden Handschuh und nahm eine weißglühende Zange aus den Kohlen. Dem Opfer das Fleisch von den Knochen zu brennen, gehörte nicht zu Lymberts Lieblingsmethoden, obschon er wusste, dass andere Folterknechte diese Arbeit genossen. Nein, er zog es vor, den Körper innerlich zu brechen. Allerdings war ihm klar geworden, dass diese Frau nicht von dieser Welt zu sein schien. Ihre Standhaftigkeit würde zur Legende werden, wenn es ihm nicht bald gelänge, sie zu brechen. Es gab keinen anderen Weg, um diesen geistigen Wettstreit zu gewinnen. Niemand leistete Widerstand gegen das Pendel und das Strappado, und dennoch war es geschehen. Der vierte Fall war beendet, und sie weigerte sich immer noch unerbittlich zu gestehen. Als Lymbert das blasse Fleisch Myrrens malträtieren wollte, die erneut bewusstlos in den Seilen hing, wurde ihm durch einen lauten Befehl in der angespannten Stille der Folterkammer Einhalt geboten. Der wahnsinnige Beichtvater drehte sich um und suchte den Raum nach dem Besitzer der Stimme ab. Sein Gesicht war zu einer Maske des Zorns erstarrt. »Ihr werdet die Zange weglegen«, wiederholte Wyl. »Sie hat genug Folter durch Eure Hand ertragen, Sir, und das viermalige Strappado überlebt, das Ihr gesetzlich anwenden dürft.«
»Und wer in Shars Namen seid Ihr, um mir Befehle zu erteilen?«, fragte Lymbert höhnisch und kam wieder zur Besinnung. 51
Wyl spürte, wie sich all seine Wut auf den grausamen Mann konzentrierte. Der glühend heiße Zorn, der durch ihn hindurchraste, ließ in auf einmal stärker, älter und größer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Selbst seine Stimme klang plötzlich tiefer, während er dem Peiniger ins Gesicht blickte. »Ich bin Wyl Thirsk. Ihr tätet gut daran, Euch den Namen zu merken, Beichtvater. Er gehört jemandem, dem der König sein Ohr schenkt, und ich werde ihm alles erzählen, was ich heute beobachtet habe, eingeschlossen den Rechtsbruch, den Ihr begeht, falls Ihr die Folter nicht einstellt. Unser König wird nicht zulassen, dass Ihr die rechtlichen Grenzen überschreitet. Der Prozess ist vorbei. Lasst sie sterben.« Celimus, der sein immerwährendes Lächeln aufgesetzt hatte, griff ein und wollte schon das Gespräch an sich reißen, da hielt ihn etwas in Wyls zornigem Blick ab. »Hoheit«, sagte Wyl. »Mit allem gebührenden Respekt bin ich der Meinung, dass es unter deiner Würde ist, diesen Geschehnissen weiter beizuwohnen. Als dein Beschützer bestehe ich darauf, dass wir uns von diesem Ort entfernen.« Celimus war geschockt. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Wenn er bliebe, würde man ihn für einen sadistischen königlichen Voyeur halten - so wie Wyl es gerissen angedeutet hatte. Das durfte er nicht riskieren. Raffiniert, Wyl, sehr raffiniert, dachte er und nickte dem Jungen anerkennend zu. »Natürlich hast du recht, Thirsk, vielen Dank. Ich hatte keine Ahnung, dass es so hässlich werden könnte«, log er. »Lymbert, tut, was er sagt: Hängt sie ab. Nebenbei bemerkt, lasst mich Euch General Thirsk von Morgravia vorstellen.« 51
»Aber ... aber er ist noch so jung, Sire«, fauchte Lymbert. »Jung, ja«, erwiderte Wyl, der nicht zuließ, dass Celimus für ihn antwortete. »Doch mein Name besitzt großen Einfluss, während man das von Eurem nicht behaupten kann, außer Ihr glaubt, der >reisende Schlächter< sei ein erinnerungswürdiger Titel. Befolgt die Befehle Eures Prinzen. Hängt sie ab!« Es war ein dreister Befehl aus dem Mund des rothaarigen Jungen. Die Umstehenden tuschelten miteinander, aber niemand wagte es, ihn öffentlich herauszufordern, da der Knabe offenkundig mit dem Prinzen hier war und jeder seinen Vater kannte. Als Myrren herabgelassen wurde, bahnte sich Celimus einen Weg durch die Zuschauer, wobei er Wyl jedoch noch rasch zuflüsterte: »Das wird Folgen haben.« Wyl beobachtete, wie der Prinz den Raum verließ, und verlangte dann zu Lymberts Empörung, dass ihm ein Becher Wasser aus dem Krug geschöpft wurde. Er kniete sich neben Myrren, und nachdem er sanft ihren Kopf gehoben hatte, träufelte er ihr einige Tropfen in die Kehle. Ihre Augenlider öffneten sich flatternd, und ihr gelang ein Lächeln, das auch ihre seltsam gefärbten Augen erstrahlen ließ. »Ich bin Wyl«, war alles, was er herausbekam.
»Ich weiß«, krächzte sie durch rissige Lippen, die an vielen Stellen bluteten, an denen sie sich aufgebissen hatte. »Ich werde Eure Güte mit einem Geschenk erwidern. Nutzt es, um mich zu rächen, Wyl.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Was könnte sie mir wohl schenken?, dachte er, als sich ihre Augen erneut schlossen. 52
»Sie gehört nun den Flammen, Thirsk«, knurrte einer von Lymberts Handlangern. Dann zogen sie ihren schlaffen Körper fort. »Wann?«, wollte Wyl von Lymbert wissen. Er hatte entschieden, dass der Mann keinerlei höflichen Umgangston verdiente. »Wie wäre es mit sofort?«, erwiderte der Beichtvater und hatte sein Lächeln wiedergefunden. 52
WYL GING VOR DER Menschenkolonne her, die aus der Stadt eilte, um einen guten Blick auf den Hexenpfahl am Hügel zu erhaschen, wo die Verbrennungen stattfanden. Einige erinnerten sich an die letzte Hexenverbrennung, doch der Großteil der Jüngeren war vollkommen ahnungslos, welches Grauen sie miterleben würden. Die öffentlichen Hinrichtungen in Morgravia waren normalerweise rasch vorüber. Dieses Volk war durch ein hartes, kriegerisches Leben geformt und hatte kein Bedürfnis nach theatralischen Schauspielen. Jedem Adligen, der zum Tode verurteilt war, wurde der Kopf mit einem schnellen Schwerthieb vom Körper getrennt. Bürger der unteren Klassen fielen der Axt zum Opfer. Kriminelle, die ein Verbrechen begangen hatten, das weniger schwer wog als Mord oder Hochverrat, wurden gehängt, und hierbei bevorzugte Magnus die Methode des langen Falls, die sofort zum Tode führte. Sie war brutal, aber barmherzig. Dem König gefiel die Vorstellung nicht, dass der Tod als Unterhaltung dienen könnte. Bei den sehr selten vorkommenden Hexenverbrennungen wurde das Ganze jedoch leider in ein Spektakel für die Masse verwandelt. Die Anhänger Zerques hatten die Tradition eingeführt, 52
eine Verbrennung im Rahmen eines Fests abzuhalten, und obwohl die öffentliche Zurschaustellung des Todes schon seit Langem ausgerottet war, war ein Rest Theatralik erhalten geblieben. Lymberts Hexenjäger spielten bewusst mit dem harmlosen Aberglauben der Menschen und machten Abwehrzeichen gegen das Böse, während sie die Prozession den Berg hinaufführten. Viele Zuschauer amüsierten sich darüber, dass ganz alltägliche Gesten - wie das Verschränken des Zeige- und des Mittelfingers, sobald man jemandem auf einer Treppe begegnete - in der Nähe einer Hexe den Teufel daran hindern sollten, in den eigenen Körper einzudringen. Für den Großteil der Morgravianer folgte das Interesse, eine leibhaftige Hexe zu Gesicht zu bekommen, reiner Neugierde, doch es gab immer noch Menschen in Pearlis -wohlhabende, ältere Leute -, deren angsterfüllter Hass auf Magie sehr echt war. Lymbert zählte auf sie, um sein Publikum davon zu
überzeugen, dass diese Frau eine Gefahr darstellte. Er würde die Flammen dieser Ängste schüren und beobachten, wie sie in dem Verlangen hervorbrachen, der Hexe bei ihren Qualen zuzusehen. Wyls Stimmung war so düster wie noch nie zuvor in seinem Leben. Beim Tod seiner Mutter und dem seines Vaters hatte ihn tiefe Trauer wie Dunkelheit umschlossen, und er hatte sich schrecklich allein gefühlt. Doch was mit Myrren geschah, rief echte und siedend heiße Wut in ihm hervor ... einen Zorn, den er nie für möglich gehalten hätte. Und wie immer steckte Celimus hinter seinen Nöten. Wäre der Prinz nicht gewesen, wäre Wyl Myrren nie begegnet. Alyd holte ihn ein. Die Nachricht über Wyls Aufbegehren in der Folterkammer hatte sich schnell herumgespro 53
chen. »Ist das klug?«, fragte er vorsichtig, da er wusste, wie stur sein Freund sein konnte. Wyl blieb abrupt stehen. »Du hättest dabei sein müssen, um zu begreifen, warum ich das hier tue.« Alyds Augen verengten sich zu Schlitzen. »Und was genau tust du hier?« »Das würdest du nicht verstehen.« »Warum nicht?« Wyl zuckte die Schultern, und die brennende Wut in seinem Innern kühlte sich zu harter Entschlossenheit ab. Gueryn hatte ihn immer gelehrt, seinen Zorn im Zaum zu halten und ihn erst freizusetzen, wenn er ihn unter Kontrolle hatte. Seine Stimme klang gereizt. »Es ist zu schwierig, um es zu erklären.« Menschen drängten an ihnen vorbei, und in der Ferne konnte Wyl Gueryn sehen, der zielgerichtet auf sie zuschritt. Alyd bemerkte ihn ebenfalls. Die Zeit war jetzt sehr knapp, denn er wusste, dass Wyl vor seinem Lehrmeister keinen Ton mehr sagen würde. »Erzähl es mir rasch. Ich will es verstehen«, drängte er. »Ich muss es mit ihr zusammen durchstehen«, platzte es aus Wyl heraus, während er sich mit der Hand durchs flammend rote Haar fuhr. »Was mit ihr durchstehen?« »Ihren Tod. Ich kann es nicht besser beschreiben.« Beide blickten in Richtung des grimmig aussehenden Gueryn, der nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war. »Weshalb? Du kannst doch nichts für sie tun!« »Sie braucht mich«, war alles, was Wyl herausbrachte, und dann senkte sich Gueryns Schatten über sie. 53
»Was ist hier los, Wyl?« Die Stimme des Mannes war vollkommen emotionslos - kein gutes Zeichen. Es war oft einfacher, wenn Gueryn aufgebracht war und laut wurde. Wyl erzählte die Geschichte so gut er konnte und hielt sich in Soldatenmanier an die Tatsachen, so wie er es gelernt hatte. »Ich wurde gezwungen, Celimus zu der Folterung einer Frau zu begleiten, die der Hexerei angeklagt ist.« Gueryn seufzte. »Das habe ich mir schon gedacht.« »Sie hat kein Geständnis abgelegt, nicht einmal einen einzigen Laut des Widerspruchs von sich gegeben«, fuhr er fort. »Beichtvater Lymbert hat
geradewegs die dritte Stufe angewandt. Sie haben sie viermal fallen lassen beim Pendel und dem Strappado.« Gueryn sah die Verwirrung auf Alyds Gesicht, doch bevor dem Jungen die unvermeidliche Frage über die Lippen kam, unterband er sie mit einer eigenen Bemerkung: »Ich habe so etwas nur ein einziges Mal in meinem Leben beigewohnt, und ich wünschte, ich wäre dabei gewesen, um dich vor diesem Grauen zu bewahren.« Wyl blickte zu Boden. »Ich habe es überlebt. Sie hingegen wird es nicht, egal, ob sie nun schuldig ist oder nicht.« »Ich habe gehört, dass du ihr geholfen hast.« »Mit einem Schluck Wasser.« Wyl hob die Schultern. Gueryn nickte. Er hatte alles erzählt bekommen. »Das war sehr großmütig von dir, mein Junge. Warum bist du jetzt hier?« Wyl erwiderte nichts. Es war Alyd, der für ihn antwortete: »Er sagt, er möchte den Tod mit ihr zusammen durchstehen.« Er sah entschuldigend zu seinem Freund und wusste, dass er keine Gewissensbisse haben musste. Wyl würde ihm alles verzeihen. 54
Ihre Aufmerksamkeit wurde zu dem großen Pulk Menschen gelenkt, der die Angeklagte brachte. »Hier kommt sie!«, rief Wyl und machte einen Schritt auf sie zu. »Lass es, Junge«, sagte Gueryn, packte ihn am Arm und wirbelte ihn herum. »Ich habe ähnlich gefühlt, als ich eine Frau leiden sah. Ich glaubte, ich müsste ihr helfen, doch es war zwecklos. Sie werden sie auf jeden Fall verbrennen.« Wyl sah Gueryn mit einem kühlen Blick an. »Das weiß ich.« Seine Miene war nun ebenso ernst und entschlossen wie die seines Vaters, wenn er eine wichtige Entscheidung getroffen hatte. Gueryn wusste nur zu gut, dass er Wyl nicht umstimmen konnte. Der Junge versuchte erneut, seine Gefühle zu erklären. »Sie muss bei ihrem Tod heute wissen, dass wenigstens ein Mensch zusieht, der die Sache nicht gutheißt.« Es klang wie eine Anschuldigung. Gueryn ließ Wyl los -es wäre sinnlos, noch weiter mit ihm zu diskutieren. Er und Alyd beobachteten, wie Wyl zu dem Karren eilte und der zusammengesunkenen Gestalt darauf etwas zurief. »Ich dachte, sie würden verurteilte Hexen in einem Umzug vor sich hertreiben?«, erkundigte sich Alyd. »Normalerweise ja, aber nicht, wenn sie das Pendel überlebt haben«, antwortete Gueryn, »und nach einem Strappado wäre es so gut wie unmöglich.« »Oh ... werden ihr dabei etwa alle Gelenke ausgekugelt?«, fragte Alyd, der seine Neugierde nicht länger bezwingen konnte und die schrecklichen Einzelheiten der Folter erfahren wollte. Gueryn entgegnete geistesabwesend: »Nach dem, was 104 ich gehört habe, können sie froh sein, wenn das arme Mädchen überhaupt am Hexenpfahl liegen kann. Komm schon, Junge, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat, sich
das Spektakel anzusehen, müssen wir bei ihm bleiben. Ich fürchte, das würde ihm sonst das Genick brechen.« Wyl hatte ein schnelles Tempo angeschlagen, weshalb seine beiden Freunde die Unterhaltung zwischen ihm und dem Folterknecht nicht hörten. »Seid Ihr gekommen, um Euch zu verabschieden?«, fragte Lymbert den Jungen. »Ich bin gekommen, um zu überprüfen, ob Ihr der Frau den Respekt angedeihen lasst, den sie verdient«, entgegnete er. »Respekt! einer Hexe gegenüber?« Der Beichtvater war belustigt. »Das ist nicht bewiesen, Lymbert. Eure schändliche Folter hat nichts aus ihr herausgebracht.« »Hütet Euch, Thirsk. Ich weiß, wer Ihr seid, aber Euer Rang zählt nicht für mich, wenn ich meine Arbeit erledige.« »Das ist gut möglich, Beichtvater«, erwiderte Wyl und machte bei dem Titel ein finsteres Gesicht, »doch offiziell sind die Männer, die diese Farce begleiten, meine Soldaten, und ich könnte die Angelegenheit genauso einfach unterbrechen, wie ich sie stattfinden lassen kann.« Lymbert bedachte ihn mit einem hasserfüllten Blick, doch er war klug genug, seinen Gefühlen nicht zu deutlich Ausdruck zu verleihen. Dennoch spürte Wyl die Feindseligkeit des Mannes. »Passt gut auf, Beichtvater«, fügte er hinzu. »Und macht es richtig. Wo ist die Samarra, die sie eigentlich tragen sollte?« »Für jemanden, der so zimperlich ist wie Ihr, kennt Ihr 55
Euch aber sehr gut mit den Formalitäten eines solchen Prozesses aus.« Der spitze Stachel verfehlte sein Ziel. Durch Celimus' Sticheleien war Wyl daran gewöhnt, Beleidigungen geflissentlich zu übergehen. Stattdessen warf er Lymbert einen funkelnden Blick zu. »Ich bin der Sohn eines Adligen, Sir, und belesen.« Gueryn war inzwischen nah herangekommen und fing die letzte Bemerkung auf. Wyls Verhalten erstaunte ihn, und er fragte sich verwundert, woher die plötzliche Reife stammte. Wyl klang, als sei er Jahre älter. Vielleicht floss das berühmte Thirsk-Blut in diesem Jungen sogar stärker als in seinem Vater. Er konnte sie noch alle überraschen. Lymbert trat beiseite, um einem seiner Männer zu befehlen, den speziellen Umhang zu holen. Er hatte eine Samarra bei sich, wenn er das Königreich bereiste, doch kaum jemand hatte sie jemals zu Gesicht bekommen. Das alte Recht sah vor, dass das Opfer bei seiner Verbrennung eine Samarra trug, die die bösen Geister einschließen sollte, die dem Fleisch der Hexe entströmten. Auf dem Umhang waren Flammen und tanzende Teufel zu erkennen, ebenso die zerquische Sigille, ein silberner Stern, der die Reinheit angesichts von Zügellosigkeit und dem Bösen darstellte. Er war von einem ausgewählten Schneider gefertigt, der die königliche Genehmigung besaß, dieses Kleidungsstück herzustellen. In früheren Zeiten galt der Umhang selbst als verzaubert und gefährlich, und aus diesem Grund wurde keinem anderen Schneider die Erlaubnis erteilt, ihn zu berühren.
Morgravianisches Recht verlangte, dass das Opfer eine Samarra trug. Lymbert erkannte, dass diese Forderung 56
heute zum ersten Mal tatsächlich in die Tat umgesetzt werden musste, und ärgerte sich. Den Umhang zu ersetzen, würde teuer werden. Er stakste von dem Emporkömmling eines »Generals« fort und wartete auf seinen Handlanger. »Myrren!«, rief Wyl sanft und trottete nun neben dem Karren her. Er wusste, dass ihm nur wenige Sekunden blieben. »Myrren!« Ihre Augen öffneten sich einen kleinen Spalt. Er sah, wie ihre aufgesprungenen Lippen seinen Namen formten. Sie versuchte, etwas zu flüstern, doch er konnte sie nicht hören. Er lächelte aufmunternd, um seine Fürsorge auszudrücken, wusste jedoch nicht, was er sagen sollte. Es gab keine tröstenden Worte, die auch nur annähernd ausdrücken konnten, was sie hatte ertragen oder noch würde ertragen müssen, bevor sie ihren Gott traf. Wyl griff nach ihrer Hand und berührte sie zärtlich, während er ein stilles Gebet zu Shar hinauf sandte, damit er sich ihrer Seele annahm und ihr ein schnelles Ende bereitete. Als sie auf dem Hügel ankamen, drängten ihn ihre Bewacher beiseite. Es gab nichts Außergewöhnliches an diesem Ort. Ein allein stehender Pfahl war in den Boden gerammt worden, der höher hinaufragte als jeder Mann, und um ihn herum waren Strohballen angeordnet. Es war ein strahlender Nachmittag mit nur wenigen Wolken. Eine leichte Brise zerzauste den Leuten das Haar, und die schlaueren Zuschauer stellten sich vorsichtshalber gegen den Wind, um dem versprochenen Rauch auszuweichen. »General, wenn Ihr zustimmt?«, fragte Lymbert mit gezwungener Höflichkeit, die in Wahrheit nichts weiter als eine Beleidigung war. »Wir müssen eine Hexe verbrennen.« 56
Mit diesen Worten schleuderte er die reich verzierte Samarra auf Myrren. Sie konnte sich nicht selbst aufrichten, weshalb Lymberts Männer ihr den Umhang brutal über den nackten Körper streiften. Dann rissen sie sie an ihren gestreckten und gebrochenen Gliedmaßen in die Höhe und warfen sie zum Hexenpfahl. »Es ist unnötig, sie festzubinden, Beichtvater. Sie wird wohl kaum weglaufen«, bemerkte einer der Männer. Die Menschen weiter vorne wagten ein nervöses Lachen. Lymbert lächelte nachsichtig und nickte, wie das ein Priester bei seiner Herde machen würde. Er stand auf einem Heuballen und begann, die Liste der schrecklichen Taten vorzulesen, für die Myrren verantwortlich sein sollte. Gueryn grunzte verächtlich und brummte: »Wie ich sehe, wollen sie es ihr nicht gerade leicht machen.« »Was willst du damit sagen?«, erkundigte sich Wyl. »Das Stroh ist feucht und wird nur langsam brennen.« Wyl antwortete nicht, doch seine Miene verdunkelte sich noch mehr. Er war froh, den Sack mitgebracht zu haben. Vorsichtig blickte er sich um und hoffte, dass niemand den Inhalt riechen konnte.
Nachdem Lymbert die Anklageschrift vorgetragen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als anzumerken, dass die Angeklagte nicht gestanden hatte, eine Hexe zu sein. »Trotzdem könnt Ihr Euch alle ihre Augenfarbe anschauen - so unterschiedlich, wie Ihr es noch nie gesehen habt.« Er machte eine Handbewegung, und einer seiner Männer riss Myrrens Augenlider hoch. Alle, die nah dabei standen, starrten ihr gehorsam in die Augen und machten abwehrende Zeichen gegen das Böse. »Wenn ich das hinzufügen 57
darf«, fuhr Lymbert fort, »so ist allein der Umstand, dass sie viermal das Strappado überlebt hat, ein unwiderleglicher Beweis für ihre magischen Kräfte«, brüllte er seinem aufgewühlten Publikum entgegen. Die Stadtglocken ließen wieder ihr mürrisches Läuten erklingen - und verhießen damit, dass die Hexenverbrennung bald beginnen würde. Myrren hatte sich nicht bewegt, seit man sie auf das Feuerholz geworfen hatte. So hatte sich Lymbert sein Schauspiel nicht vorgestellt. Die Menschen hatten lange auf eine Hexenverbrennung gewartet, und diese erbärmliche Frau zerstörte seine Darbietung. Er bemerkte, dass kein einziger Adliger anwesend war, abgesehen von dem Rotschopf mit dem frechen Mundwerk und seiner Gefolgschaft. Nicht einmal Lord Rökan war gekommen. Es ärgerte Lymbert, dass er seine Arbeit vor Gewöhnlichen verrichten musste. Er ignorierte die kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm zuflüsterte, dass nur die untere Schicht ihn oder seine Anschuldigungen ernst genug nahm, um beeindruckt zu sein. Er rief nach seinen Handlangern. »Ich nehme nicht an, dass unser ausgefallener Umhang zusammen mit der Hexe verbrennen muss«, sagte er kichernd und lud alle Umstehenden ein, es ihm gleichzutun. Wie Schafe folgten sie seinem Beispiel und stimmten zu, dass Myrren auch ohne Samarra von den bösen Geistern heimgesucht werden könnte. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren, die tatsächlich an die Macht der Magie geglaubt hatten, war die Mehrheit der Zuschauer aus reiner Neugierde erschienen. Einige ältere Menschen machten abwehrende Handzeichen, doch ihr Murmeln wurde einfach übergangen. Die Samarra wurde Myrren vom Leib gerissen, und sie war erneut nackt. 57
Das sollte die Sache ein wenig interessanter machen, dachte Lymbert, erfreut über
die Wirkung, die ihr gebrochener, aber immer noch eigenartig begehrenswerter Körper auf die Männer ausübte. Besonders erleichtert stellte er fest, dass der rothaarige Junge keinen Einspruch einlegte, obwohl ihn das erstaunte. Es schien, als sei die Aufmerksamkeit des jungen Mannes ganz auf einen Sack gerichtet, den er bei sich trug. Doch Lymbert kümmerte das nicht. »Verbrennt sie!«, befahl er. Und dann erscholl sie wieder, diese verdammenswerte Stimme. »Wartet!«, schrie Wyl. Gueryn und Alyd blickten an seiner Seite überrascht auf. Er machte einen Schritt von ihnen fort. »Myrren von Baelup hat nicht gestanden, eine Hexe zu sein. Sie bleibt nur angeklagt und verurteilt. Sie wird durch die Flammen sterben, ja, aber sie wird mit der Würde sterben, die sie die ganze Tortur hindurch bewiesen hat.«
Wyl zog ein Hemd aus dem Sack, den er bei sich trug. Es sah feucht aus, doch niemand schien es zu bemerken. Die Umstehenden hatten sich längst wieder Lymbert zugewandt. Dieser hatte ein Geräusch gehört und sich umgedreht. »Wie Ihr wünscht, General Thirsk«, erwiderte der Beichtvater durch zusammengepresste Zähne. Wenigstens das teure Gewand würde so verschont bleiben. Wyl wusste, dass Lymbert zustimmte, weil er zuvor das Entfernen des Umhangs zugelassen hatte. Allerdings hatte er ein kleines Wortgefecht erwartet. Doch dann erblickte er einen Trupp der königlichen Leibgarde, der sich rasch näherte. Unter ihnen bemerkte er Magnus und Celimus. Deshalb also hatte Lymbert derart rasch eingelenkt. Die 58
Männer verneigten sich tief, und die Frauen machten höfliche Knickse, überrascht, dass ihr Herrscher anwesend war. Magnus sagte nichts, doch sein Gesicht war grimmig, der Kiefer angespannt. Wenn du es nicht gutheißt, dann gebiete der Farce Einhalt, mein König, flehte Wyl im Stillen. Aber Magnus nickte nur einmal, während er und seine Männer weiterritten und wenige Meter von der Menschenmenge entfernt vorbeizogen. Celimus' Miene war finster vor Wut, dennoch warf er dem jungen General ein selbstgefälliges Lächeln zu. Es war Wyls einziger Trost an diesem aufwühlenden Tag, dass es Celimus nicht erlaubt war, der Hexenverbrennung beizuwohnen. Vielleicht hat sein Vater es verboten, dachte er hoffnungsvoll. Wie diese Menschen bei so etwas zusehen - und sich daran ergötzen - konnten, entzog sich Wyls Vorstellungskraft. Das erinnerte ihn daran, dass sich das gesamte Reich über die Gebirgsleute lustig machte und ihnen vorwarf, nichts als Barbaren zu sein. Sein Vater hatte ihn einst davor gewarnt, ein solches Vorurteil blind zu übernehmen. »Du wirst erstaunt sein, mein Junge, wie falsch wir in dieser Hinsicht liegen«, hatte er gesagt, ohne es jedoch weiter auszuführen. Wir sind die Barbaren, dachte Wyl, weil wir immer noch hilflose Frauen auf derart grausame Weise verfolgen. Bauern! Genau, wie Adana behauptet hatte. Er warf einen Blick auf die Einwohner Pearlis'. Sie waren erschienen, um sich unterhalten zu lassen. Es waren keine Adligen anwesend, stellte er erfreut fest. Viele Zuschauer waren noch sehr jung und hatten nie zuvor eine Hexen Verbrennung gesehen, weshalb er ihnen ihr Gaffen verzieh. 58
Die Ankunft des Königs hatte den Bann gebrochen. Die Menschen wirkten auf einmal peinlich berührt, und Lymbert spürte selbst, wie er die Kontrolle über das Schauspiel verlor. Er verzog das Gesicht, als er zu Wyl hinübersah, der sich aus der ehrerbietigen Haltung vor seinem Herrscher erhob, hinüber zu dem Mädchen ging und das feuchte Hemd über ihren Körper ausbreitete. Wyl flüsterte ihr erneut etwas zu. Sie verstand ihn und reckte ihm das Gesicht entgegen, dem einzigen Menschen, der ihr Güte gezeigt hatte. »Mein Hund, Knave. Versprecht mir, dass Ihr auf ihn aufpassen werdet«, krächzte sie.
»Das schwöre ich«, gelobte Wyl, verwundert über ihre Sorge um ein Tier, während ihr eigenes Leben bald ausgelöscht wäre. Bei seiner Antwort lächelte sie, und ihr geschundener, verdrehter Körper schien sich zu entspannen. »Lebt wohl, Wyl. Geht weise mit meinem Geschenk um.« Wyl nickte kurz und fragte sich verwundert, wie er weise mit einem Hund umgehen sollte. Mit dem Gefühl, alles in seiner Macht Stehende für die Frau getan zu haben, drehte er sich um und stellte sich neben seine Begleiter. Gueryn murmelte leise: »Wie ich sehe, bist du dem Beichtvater einen Schritt voraus, Junge.« »Sie hat genug gelitten«, flüsterte Wyl. »Von was redet ihr?«, raunte Alyd, der wie gebannt auf die Fackeln starrte, die gerade entzündet wurden. »Das wirst du schon noch sehen«, erwiderte Gueryn. »Gute Arbeit, Wyl.« Die Fackeln berührten das trockene Feuerholz. Augenblicklich begannen die Zweige zu brennen, doch Lymbert 59
lächelte, weil er annahm, dass die Heuballen lange schwelen würden. Myrrens Kehle würde versengen, und ihr Inneres durch den Rauch, den sie einatmete, austrocknen, lange bevor ihr Körper von den Flammen verzehrt worden war. Der Beichtvater griff nach dem tröstlichen Wein, den einer seiner Gehilfen ihm aus einem Lehmkrug eingeschenkt hatte. Eine Hexenverbrennung macht einen solchen Durst, dachte er und war zufrieden, dass er die Kontrolle zurückerlangt hatte. Im Nachhinein war er unendlich dankbar, dass der König mit seinen Gefolgsleuten nicht länger geblieben war. Lymbert legte gerade den Kopf in den Nacken, um einen Schluck Wein zu trinken, als ein plötzliches lautes Zischen der Flammen um Myrrens Körper seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Funke war auf dem Hemd gelandet, das Wyl über die Frau ausgebreitet hatte, um ihre Sittsamkeit zu bedecken, doch die winzige Flamme hatte ausgereicht, den Leinenstoff zu entzünden. Myrren, deren Körper nun brannte, versuchte vergeblich, sich aufzusetzen. Wie vorherzusehen war, gelang es ihr nicht. Lymbert suchte nach dem verfluchten Jungen und verstand jetzt, dass Wyl das Hemd in Lampenöl oder eine andere leicht entflammbare Flüssigkeit getränkt hatte. Er erspähte ihn in der Menschenmenge, und der Schein der Flammen erleuchtete das orangefarbene Haar über seinem selbstzufriedenen Gesicht. Verärgert musste sich der Beichtvater eingestehen, dass der junge General tatsächlich so belesen war, wie er behauptet hatte. Wyls Augen waren nur auf Myrren gerichtet. Ihr liebliches Haar stand lichterloh in Flammen, während sich das Feuer ausbreitete und an ihrem hübschen Gesicht leckte. 59
Und durch die schreckliche Hitzewand bemerkte Wyl ihre Augen ... diese atemberaubenden, unterschiedlichen Augen. Ihre Blicke trafen sich und durchbohrten einander. Myrren zitterte, als ihr Fleisch nun vollends zerfressen wurde, wobei das Öl an ihrem Körper haftete und den Flammen bei ihrer Arbeit half. Ihr Gesicht war verkohlt, die Zähne in einer Grimasse der
quälenden Pein bloßgelegt, doch immer noch wollten ihre Blicke in einer letzten Umarmung des Todes nicht voneinander lassen. Wyl hörte erneut ihre Worte in seinem Kopf. Geht weise mit meinem Geschenk um.
Auf einmal entlud Myrren ihren Zorn und ihre Verzweiflung, und endlich vernahm Lymbert ihre Stimme und suhlte sich in ihrem Schmerz. Und bei diesem letzten, durch Mark und Beine gehenden Schrei, durchzuckte Wyl Thirsk, den General der Legion, ein seltsames Gefühl. Es war weder schmerzvoll noch angenehm, sondern durchdringend und schien ihn regelrecht zu verschlingen. Dann veränderte es sich, wurde zu scharfer, beißender Qual, und Wyl glaubte, keine Luft mehr zu bekommen ... seine Fähigkeit zu atmen zu verlieren. Mit enormer Kraft peitschte es durch jede Faser seines Körpers. Er schloss die Augen und fletschte die Zähne, ohne die Umstehenden auch nur im Geringsten zu bemerken. Nur noch das schrille Geräusch ihres Schreis zählte. Als Myrren die Stimme versagte, verlor Wyl das Bewusstsein und stürzte in eine alles umfassende Dunkelheit. Einige Zuschauer - Lymbert eingeschlossen -, beobachteten, wie er zu Boden fiel. »Was für ein General!«, bemerkte er höhnisch und war wild entschlossen, einen endgültigen Dorn in Wyls Brust zu jagen. »Stellt ihn Euch nur im Krieg vor.« 60
Ein Fleischer in seiner Nähe stimmte dem Beichtvater zu. »Der hat keinen Magen für den Tod. Er sollte mal zu uns kommen und mir beim Schlachten helfen. Wir würden ihn abhärten.« Gueryn und Alyd zogen Wyls schlaffen Körper von der grausamen Szene und dem Rauch fort. Gueryn befahl Alyd, sich schleunigst auf die Suche nach etwas Wasser zu machen. Sein erschrockener Begleiter verlor keine Sekunde. »Wyl, mein Junge. Wyl! Nun komm schon, Junge!« Der ältere Soldat riss Wyl die Lider auf und war beschämt, als er feststellen musste, dass seine Pupillen so erweitert waren, dass in seinen Augen keinerlei Farbe mehr zu erkennen war. Sie sahen schwarz aus und wirkten tot. Unruhig drehte Gueryn den Kopf nach Alyd um. Sein Blick blieb bei einem schrecklich dünnen Jungen hängen, der schäbig und schmutzig war. Allein der Geruch, der von ihm ausging, war stark genug, um selbst dem abgehärtetsten Mann ein Keuchen zu entringen, doch in seiner ausgestreckten Hand hielt er einen Schlauch mit Wasser. »Es ist frisch, Sir«, sagte der Junge. »Und sauber. Ich habe es erst vor einer Stunde aus dem Brunnen geholt.« Gueryn schob seine Zweifel beiseite und nahm das Wasser entgegen. Einen Teil davon sprenkelte er über Wyls Gesicht und Haar, bevor er ihm den Mund zu öffnen versuchte, um einige Tropfen in Wyls Kehle zu bekommen. »Er wird doch wieder, nicht wahr, Sir?«, fragte das Kind, dessen Gesicht eine sorgenvolle Maske war. Der Soldat antwortete nicht, denn er wurde von einem unterdrückten Stöhnen abgelenkt. Wyl schien wieder das Bewusstsein zu erlangen. »Ach, Junge, du hast mich ganz schön erschreckt!«
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Wyls Lider flatterten, und Gueryn, entsetzt von dem Anblick, ließ sich in einer neuen Welle des Schreckens zu Boden fallen. »Wyl! Deine Augen!« Wyl schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. »Was?« »Sieh mich an, Junge«, sagte Gueryn mit bebender Stimme. Die fiebernden Augen, die immer noch zu brennen schienen, waren tatsächlich verzaubernd - eines ein durchdringendes Grau, das andere ein atemberaubendes Grün mit warmen braunen Flecken. Wyl schloss die unterschiedlichen Augen, während Alyd herbeieilte und den kleinen Jungen beiseiteschob, dessen Wasser seinem Freund geholfen hatte, das Bewusstsein wiederzuerlangen. »Hilf mir, ihn von hier wegzubringen«, befahl Gueryn, zu erschrocken über das, was er gerade beobachtet hatte, um weitere Erklärungen abzugeben. 61
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ALYD DONAL KONNTE SICH das Lächeln nicht aus dem Gesicht wischen, seit die sechzehnjährige Ylena Thirsk seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Er war geduldig gewesen. Sechs Jahre der Trennung von seiner geliebten Familie in Felrawthy war wegen seiner innigen und treuen Freundschaft zu Wyl Thirsk weniger qualvoll gewesen, doch besonders die Liebe zu Ylena hatte ihm über den Abschiedsschmerz hinweggeholfen. Für ihn hatte es nie eine andere gegeben, seit sein rothaariger Freund ihm seine außergewöhnliche Schwester vorgestellt hatte. Alyds starkes Verlangen, dieses wunderschöne Wesen zu beschützen, hatte ihn selbst überrascht. Immerhin hatte Ylena ihren furchtlosen Bruder und stand unter dem höchsten Schutz des mächtigen Königs. Sie brauchte sein Schwert nicht, doch selbst als schüchterne Zwölfjährige, die schon damals das Versprechen einlöste, zu einer sehr hübschen Frau zu reifen, hatte Ylena seine Gesellschaft gesucht. Bereits in diesem zarten Alter schien es auch für sie niemand anderen gegeben zu haben. Trotzdem hatten ihr verlegenes Nicken und die sanften Tränen, die sein Heiratsantrag ihr entlockten, ihn mit einer solchen Überraschung und überschwänglichen Freude erfüllt, dass er sich nicht vorstellen konnte, 61
jemals in seinem Leben glücklicher sein zu können. Ylena wäre die schönste aller Bräute. Da er keine Sekunde länger als nötig warten wollte, gab er einen Termin bekannt, der ihnen kaum genügend Zeit ließ, all die notwendigen, formellen Ankündigungen zu machen, abgesehen von den Vorbereitungen, die für die Hochzeit eines Adligen getroffen werden mussten. General Wyl Thirsk, das Oberhaupt der Familie, hatte keinen Moment gezögert, seine Einwilligung zu geben. Um ehrlich zu sein, hatte er sich gewundert, weshalb sie so lange damit gewartet hatten, ihn zu fragen. Der Höflichkeit wegen hatte Alyd auch mit Gueryn gesprochen, der ebenso glücklich über die Nachricht war. Schließlich hatte Alyds Bote den Segen seiner Familie aus Felrawthy gebracht. Der Herzog und die Herzogin waren
hocherfreut, dass die Zukünftige ihres Sohnes solch gute Beziehungen zum Königshaus besaß und von derart treuem, morgravianischem Blute war. Jetzt, mit Wyl an seiner Seite, wurde Alyd zu einer Audienz beim König empfangen. Es war nur rechtens, dass der Herrscher seine offizielle Zustimmung zur Heirat geben sollte, da Ylenas Vater Magnus die Aufgabe übertragen hatte, für sie eine gute Partie zu treffen. Die Donais von Felrawthy waren eine alteingesessene Familie mit stolzer Geschichte, die dem Thron gegenüber stets loyal gewesen waren. Es bestand kein Zweifel, dass der König dieser Verbindung zwischen der Tochter seines engsten Freundes und dem Sohn eines seiner zuverlässigsten Herzöge den Segen geben würde. Magnus, der allmählich die Last seiner Jahre spürte, hieß seine beiden Günstlinge willkommen und lächelte nach 62
sichtig über Alyds Aufregung, als der junge Mann stammelnd sein Anliegen vorbrachte. Immerhin war er im Gegensatz zu seinem rothaarigen Freund nicht gewohnt, den Herrscher zu treffen. Nachdem Wein und Süßspeisen gereicht waren, unterhielten sich die drei im Privatgarten des Königs. Für einen alten Krieger und Mann, der es in jüngeren Jahren genossen hatte, draußen in der wilden Natur zu jagen, zeigte er nun eine besondere Liebe zu seinen preisgekrönten Blumen. In den letzten Jahren des Friedens, die seine ständige Anwesenheit in Pearlis bedeuteten, war der Garten unter seinen behutsamen Fingern aufgeblüht. Er sollte ein Teil seines Erbes werden. Magnus überließ den Rest von Stonehearts eindrucksvollem Grün seinen Gärtnern, doch dieser mit Mauern umgrenzte, farbenprächtige Hof gehörte allein ihm, und die zwei jungen Soldaten zeigten Nachsicht mit dem alten König, als er liebevoll über seinen neuesten Preis sprach. »Könnt ihr es euch vorstellen!«, sagte er verwundert. »Eine blaue Nifella, die man normalerweise nur in den nördlichen Gebieten des Landes findet.« Die Soldaten grinsten. Diese Worte sagten ihnen wenig, doch wie der König es geschafft hatte, dass die Blume auch in dem milderen Klima von Morgravia wuchs, hatte selbst begabte Gärtner in Staunen versetzt. Der König lächelte über den Rand seiner Tasse hinweg. »Ihr Jungen lasst mich ganz eifersüchtig werden.« »Sire?«, fragte Alyd verwundert. »Seht euch nur an. Prachtexemplare von morgravianischen Männern«, sagte er und bedachte Wyl mit einem besonderen Blick, da er wusste, welche Unsicherheit in Bezug 62
auf sein Aussehen und seine Statur der junge General durchlitten hatte. »Ich beneide euch um eure Energie und Jugend«, fügte er hinzu. Wyl grinste, und als Magnus ihn ansah, erkannte er, dass der Junge verschwunden war. All die weichen, runden Polster waren aufgezehrt und hart geworden. Vor ihm saß ein Mann ... der ihn schmerzlich an seinen alten Freund erinnerte. Muskeln wölbten sich leicht auf Wyls stämmigem Körper, und das karottenrote Haar war nun sein Erkennungsmerkmal und nicht länger ein Fluch. Seine Soldaten scherzten, dass sie niemals eine Standarte für ihren
General brauchten - sie würden das Schlachtfeld einfach nur nach dem flammenroten Kopf absuchen. Die Sommersprossen waren unter dem Funkeln der Sonne, der zähen Haut und dem männlichen Stoppelbart kaum mehr zu sehen. Er war nicht besonders groß, doch das war auch Fergys Thirsk nicht gewesen, musste sich Magnus im Stillen eingestehen, und trotzdem waren beide ausgezeichnete Soldaten und besaßen eine herausragende Führernatur. Abgesehen von seinem eigenen Sohn konnte er sich keinen Menschen in Stoneheart vorstellen, der Wyl Thirsk im Kampf das Wasser reichen konnte. Er hatte sich als tapferer Soldat und verdienstvoller Träger des Titels »General der Legion« bewiesen. Ehrlich, offen und zweifelsohne mutig hatte Wyl Thirsk im Laufe der letzten Jahre den Respekt seiner Armee gewonnen. Er war natürlich immer noch schrecklich jung, aber das galt momentan auch für den Großteil der Soldaten, überlegte Magnus. Der König wusste, dass sie den Befehlen des jungen Thirsks mit großem Eifer folgen würden. Es war nur eine Schande, dass die erbitterte Abneigung 63
zwischen Thirsk und Celimus noch nicht überwunden war. Trotz Thirsks höflichem Benehmen und seiner offenkundigen Entschlossenheit, das Versprechen seinem Souverän gegenüber zu halten, durchschaute Magnus die jungen Männer. Es gab keinerlei Liebe zwischen den beiden, und niemand hätte ein solches Gefühl mehr zu würdigen gewusst als der König. Doch solange Wyl Thirsk den Thronfolger treu beschützte, musste das ausreichen. Magnus kannte Wyls fieberhafte Ergebenheit und hätte niemals fragen müssen, ob der jüngere Mann seine verständlichen Zweifel an Celimus vor Morgravia laut aussprechen würde. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie seine Theorie überprüfen konnten. Magnus spürte, dass sich sein Leben dem Ende neigte und hieß den Tod im Stillen willkommen. Er war müde. Und gleichzeitig einsam. Seine Gattin war schon vor langer Zeit gestorben - Shar lasse sie verfaulen! -, sein großartiger Weggefährte war tot, und sein eigener Sohn war ihm kaum mehr als ein Fremder. Ja, die Stunde war gekommen, um Morgravia der neuen Generation anzuvertrauen und Celimus etwas Zeit zu geben. Vielleicht würde ihn diese Aufgabe reifen lassen? Wer wusste das schon? Der neue König und sein General würden jedoch zusammenarbeiten müssen, denn so war es auch in der Vergangenheit immer gewesen. Morgravia und Briavel könnten kaum länger als eine Dekade aushalten, ohne Krieg gegeneinander zu führen. Magnus nickte gedankenverloren vor sich hin. Auch der alte Valor würde auf einem Pferd keine besonders gute Figur mehr abgeben. Vielleicht sollten sie es jetzt einfach ihren Kindern überlassen, obschon Briavel nur eine zukünftige Königin besaß, die das Land regieren würde, und im 63
Moment einen zaghaften, zerbrechlichen Herrscher. Magnus hatte die Prinzessin nur ein einziges Mal gesehen, auf einer königlichen Hochzeit vor vielen Jahren im weit entfernten Tallinor, wo König Gyl eine Bürgerliche geheiratet hatte, die wunderschöne Lauryn Gynt mit ihrem honigfarbenen
Haar. Alle Nachbarländer hatten sich verpflichtet gefühlt, der Zeremonie beizuwohnen. Magnus hasste es, Morgravia zu verlassen, aber Fergys hatte ihn behutsam daran erinnert, dass Gyls Vater, der alte König Lorys, ihnen vor vielen Monden ein treuer Verbündeter und einst ein mächtiger Herrscher über ein riesiges Reich gewesen war. Seinen Nachfolger damit zu brüskieren, nicht bei der königlichen Hochzeit zu erscheinen, sei sehr unklug. Magnus hatte vernünftigerweise nachgegeben, und mit Fergys an seiner Seite die langwierige Reise angetreten. Er hatte sich entschlossen, Celimus mitzunehmen, was die Erzieher des Kindes überrascht hatte. Doch Magnus -wiederum von Fergys dazu genötigt - wollte mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen, um ihn besser kennenzulernen. Ohne eine Mutter, die ihn liebte, brauchte der Junge die Stärke und Zuneigung seines Vaters, damit er ihm Mut zusprach und ihn auf den rechten Weg verhalf. Fergys hatte Magnus auseinandergesetzt, dass der Besuch die perfekte Gelegenheit bot, ein engeres Band mit seinem Sohn zu knüpfen. Aber beschämenderweise hatte der Knabe seine kindliche Abneigung gegen Briavel ausgelebt, während Magnus dem Monarchen seinen Respekt gezollt hatte. Die beiden Könige hatten sich steif voreinander verbeugt, doch die knappe Begrüßung war von Valors junger Tochter gestört worden, die auf einmal fast hysterisch geworden war. 64
Zwar hatte Celimus entschieden schuldig dreingeblickt, denn die Puppe war in mehreren Teilen auf den Steinfliesen der Eingangshalle verstreut, doch der Lärm, der darauf folgte, hatte die angebliche Tat bei Weitem übertroffen. Es war nur eine Puppe - um Shars willen! -, und das schreckliche Heulen des Mädchens hatte ihren Vater ganz offenkundig in Verlegenheit gebracht. Magnus erinnerte sich, wie das plumpe, dunkelhaarige Kind von ihrer Zofe aus der Halle getragen und im Laufe der Festlichkeiten nicht wieder gesehen wurde. Reumütig schüttelte Magnus den Kopf. Sie war Celimus damals nicht gewachsen gewesen und würde auch jetzt dem eitlen, oftmals grausamen Mann, zu dem er geworden war, nicht die Stirn bieten können. Magnus fragte sich, was aus Morgravia und Briavel unter ihrer jeweiligen Führung werden würde. Doch in Wahrheit bereitete ihm die Bedrohung aus dem Norden die größte Sorge. Fergys hatte ihn auf seinem Sterbebett angefleht, den König des Gebirgsvolks genau im Auge zu behalten. Die Legion wusste aus eigener Erfahrung -und hatte ihm bei unzähligen Gelegenheiten berichtet -, dass Cailechs Leute über die Grenze geschlüpft kamen. Sie waren gewitzt, hielten sich kaum länger an einem Ort auf, fielen blitzschnell ins Reich ein, um Handel zu treiben, und waren dann auch schon wieder weg. Der König rief sich die Warnung seines Generals ins Gedächtnis: »Im Moment mag es nur der Handel sein. Aber eines Tages, Magnus, wird er seine Armee schicken. Er prüft uns. Wir dürfen nie zulassen, dass er sich in Sicherheit wiegt.«
Magnus fragte sich verwundert, ob Cailech und seine Männer solche »Reisen« auch nach Briavel machten. Sehr wahrscheinlich. Die beste Lösung wäre, wenn die bei 65
den Thronfolger des Südens heirateten, überlegte der König. Verbinde die Reiche, vermische die Armeen. Schreck Cailech ab.
Bei der abstrusen Vorstellung, dass Morgravia und Briavel in freundschaftlichem Verhältnis zueinander stehen könnten, lachte er leise in sich hinein. Erst jetzt bemerkte er, dass er schon zu lange seinen Gedanken nachhing und die beiden jungen Männer vor ihm nur aus Höflichkeit schwiegen. »Entschuldigt«, sagte er leise. »Dafür gibt es keinen Grund, Sire«, entgegnete Wyl und machte es sich in seinen Kissen bequem. »Euer Garten ist so friedlich, dass auch ich meine Gedanken am liebsten treiben ließe.« Er lächelte. Magnus erwiderte das Lächeln und war tief in seinem Herzen froh, dass Wyl sich so wohlfühlte. Es hatte eine Zeit gegeben, als er sich um den Jungen gesorgt hatte. Die Angelegenheit mit der Hexe vor vielen Jahren war nun eine längst vergessene Erinnerung, doch er bedauerte den Tod des Mädchens noch immer. Er hatte den Anblick ihres geschundenen, nackten Körpers, der an den Hexenpfahl gefesselt gewesen war, verabscheut. Bah! Zauberei, dachte er, welch Unsinn Er war erleichtert, Morgravia schließlich von der Arbeit des Beichtvaters befreit zu haben. Der König höchstpersönlich hatte Lymbert am Tag nach Myrrens Tod seines Amtes enthoben, und mit der Abschaffung des Beichtvaters hatte er den einzigen Weg, der den religiösen Fanatikern Zerques geblieben war, verbaut. Sechs Jahre waren vergangen, seit die letzte Hexe verbrannt worden war, und in Bälde wäre der Großteil der älteren Menschen der sich ereifernden Gläubigen - verstorben, und mit ihnen ihre blindwütige Jagd. Der Kampf wäre endlich 65
gewonnen, und die Lehre Zerques würde in Morgravia keinerlei Bedeutung mehr haben. Die Aussicht war eine Erleichterung, denn Magnus fand in der kurzen Zeit, die ihm noch verblieb, nicht mehr die Kraft, diesen Kampf zu führen. Es tat ihm leid, dass die junge Frau sterben musste, um ihn an das Versprechen zu erinnern, sein Reich von den Anhängern Zerques zu säubern, und dass andere -eingeschlossen sein General - für sein Versäumen büßen mussten. Gueryn war damals zu Tode erschrocken gewesen, als er Magnus aufgesucht und ihm von der seltsamen Begebenheit erzählt hatte, die Wyl während der Hexenverbrennung widerfahren war. Er hatte auch die veränderte Augenfarbe des Jungen angesprochen. Magnus warf ihm einen verstohlenen Blick zu, erleichtert, dass seine Augen wieder ganz gewöhnlich aussahen, dasselbe Dunkelblau, das Fergys besessen hatte. Der König hatte Gueryn damals nicht geglaubt und hielt immer noch daran fest, dass der Soldat kurzzeitig verwirrt gewesen sein musste. Als Wyl kurz darauf in Anwesenheit der königlichen Ärzte das Bewusstsein wiedererlangte, wirkte der Junge vollkommen normal.
Ein wenig verlegen, doch die seltsamen Ereignisse schienen ihn nicht nachhaltig geschadet zu haben. Diese unscheinbaren Augen, in denen ein Hauch Belustigung funkelte, betrachteten Magnus nun eingehend. »Ein Mynk für Eure Gedanken, Sire.« Der König wurde erneut aus seinen Grübeleien gerissen. »Ach, Alyd! Wie unhöflich von mir. Du siehst hier, was das Alter mit einem anstellt, Junge. Also verschwende keine Zeit, heirate die kluge Schwester von Wyl Thirsk, und mein Segen sei euch beiden gewiss. Mag euch Liebe und Lachen 66
ein ganzes Leben lang begleiten«, sagte Magnus und fügte hinzu: »... und das auch in eurem Schlaf gemach.« Beide amüsierten sich über die Worte des Königs, und Alyd grinste über die abschließende Bemerkung. »Werden wir in den Genuss kommen, die hübsche Ylena bereits im Frühjahr als Braut betrachten zu dürfen?« Alyd räusperte sich, und eine leichte Röte schoss ihm in das offene, attraktive Gesicht, das ähnlich wie Wyls kantiger geworden war. Sein helles goldenes Haar wäre ihm immer noch in die Stirn gefallen, hätte er es in letzter Zeit nicht kurz geschoren. Diese Frisur stand ihm, ebenso wie der kurze Bart und der getrimmte Oberlippenbart, den er jetzt bevorzugte. Vielen Mädchen in Stoneheart würde die Ankündigung der Hochzeit das Herz brechen, erkannte der König. »Eure Majestät, ich kann keinen Augenblick länger warten. Sobald das königliche Turnier beendet ist, möchten wir den Bund der Ehe eingehen.« »So bald?«, erwiderte Magnus überrascht. »Ich habe versucht, ihnen den Unsinn auszureden, Sire, doch man kann die beiden leider nicht aufhalten«, gestand Wyl. »Ylena ist wild entschlossen, Alyd noch in diesem Monat zu heiraten.« »Dann soll es so sein. Und wir sehen uns beim Turnier.« Magnus erhob sich und überragte Wyl trotz seiner gebeugten Haltung. Mit einer Hand klopfte er Alyd auf die Schulter. »Und Alyd, pass gut auf dein hübsches Gesicht auf, wenn du in ein paar Tagen vor den Altar schreiten willst.« »Vielen Dank, Majestät, doch mir wird nichts passieren. Ylena und ich werden zusammen alt und fett werden.« 66
Ihr Lachen wurde von Celimus' Ankunft unterbrochen. »Ach, Vater. Ich war sicher, ich würde dich hier finden.« Wyl und Alyd verbeugten sich knapp, jedoch höflich vor dem Prinzen. »Vergebt mir, aber störe ich gerade bei einem privaten Treffen?«, fragte er, und sein umwerfendes Lachen verbarg seine Verachtung. »Nein, mein Sohn. Alyd hier hat nur gerade meine Einwilligung eingeholt, seine liebliche Ylena zu ehelichen. Wir haben lediglich den Zeitpunkt der Zeremonie besprochen.« »Meine Glückwünsche, Alyd«, sagte Celimus, weiterhin ein Lächeln auf den Lippen. »Ich hatte gehofft, selbst einmal von den rosigen Lippen Ylena Thirsks zu kosten.«
Alyd spürte, wie sich Wyl neben ihm noch mehr versteifte. Er schnappte immer wieder gierig nach den Ködern, die der Prinz ihm zuwarf. Wann würde er lernen, ihn nicht ernst zu nehmen? Doch Alyd erwiderte in seiner gewohnt selbstironischen Art: »Nun, es gibt eine solche Vielzahl infrage kommender Schönheiten, die Eure Aufmerksamkeiten sehnlichst erwarten, mein Prinz, dass es keine große Sache für Euch sein sollte, Ylena von Eurer Liste zu streichen.« »Nein, Ihr habt recht, es ist tatsächlich kein großer Verlust, nicht wahr?«, sagte der Prinz und genoss, wie Wyl sich empörte. »Und du, General. Was sagst du zu der Verbindung? Es muss dich erfreuen, deine Schwester so schnell los zu sein und sie ins Bett eines sehr reichen, zukünftigen Herzogs purzeln zu sehen?« »In der Tat, mein Prinz«, war alles, was Wyl im Moment auch nur annähernd höflich erschien. 67
»Und wann wird diese glückliche Vermählung stattfinden?« Celimus ließ nicht locker und schenkte sich einen Kelch Wein ein. Alyd, der schon an die eisige Kälte gewohnt war, die immer dann herrschte, wenn die beiden aufeinandertrafen, antwortete gelassen: »Bald nach dem königlichen Turnier. Euer Vater hat mir seinen Segen gegeben. Eure Einladung wird in Bälde eintreffen, mein Prinz.« Er bedachte den Thronfolger mit seinem liebenswürdigsten Lächeln. Wyl seufzte innerlich. Selbst Alyds einnehmendes Äußeres konnte sich nicht mit dem von Celimus messen. Der Prinz von Morgravia war zu einem atemberaubend schönen Mann gereift, der den gut aussehenden Jungen von früher mehr als in den Schatten stellte. Größer als sein Vater, breitschultrig und mit schmalen Hüften, konnte er einen Raum voller plaudernder Menschen allein durch seine Ankunft zum Verstummen bringen, eine solche Wirkung ging von ihm aus. . »Dann werde ich mir wohl ein passendes Hochzeitsgeschenk für die Schwester unseres hochgeschätzten Generals hier ausdenken müssen«, entgegnete Celimus, nachdem er seinen Kelch geleert hatte. Magnus entschloss sich, das mit spitzen Stacheln versehene Gespräch zu beenden. »Sohn, du bist hergekommen, um mit mir zu sprechen? Lass mich meine Gäste rasch verabschieden, dann können wir uns in aller Ruhe zusammensetzen.« »Das ist nicht nötig, Sire«, erwiderte Celimus. »Es betrifft auch diese beiden prächtigen Soldaten - ihre ehrliche Meinung wäre mir sehr viel wert.« »Oh?«, entfuhr es dem König, der sich verwundert fragte, welcher Unfug nun folgen würde. 67
»Ja, es geht um das Turnier, Vater. Ich würde es gutheißen, wenn wir dieses Mal echte Waffen benutzen.« Magnus schüttelte den Kopf. »Du kennst meine Meinung, Celimus. Ich werde den Thronerben keinerlei Gefahr aussetzen.« »Mylord.« Einen kurzen Moment lang verschwanden das süffisante Grinsen und der Tonfall, den er normalerweise anschlug. Auf einmal lag ein Flehen in
seiner Stimme. »Eines Tages werde ich König von Morgravia sein, und aus diesem Grund bitte ich dich darum, Vater. Wir sind ausgebildete Soldaten. Thirsk könnte jeden Mann, den ich kenne, mit verbundenen Augen töten ... ausgenommen mich natürlich.« Sein gewohntes Auftreten kehrte wieder zurück. »Jetzt ist nicht mehr die Zeit, um Schwertkampf zu spielen, Vater. Lass uns wie Männer kämpfen, denn wir sind Männer. Du wirst uns vielleicht schneller als dir lieb ist auf dem Schlachtfeld brauchen, und dann werden wir womöglich von einer hässlichen Klinge durchbohrt werden und wie Männer sterben müssen.« Wyl fiel dem Prinzen ins Wort. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei der er als General mit Celimus übereinstimmte. »Eure Majestät, mein Prinz hat recht. Das ist nur ein Schaukampf, doch so könnte jeder sehen, was Nahkampf wirklich bedeutet.« Magnus fühlte sich in die Enge getrieben. In Wirklichkeit wusste er gar nicht, weshalb er sich so sträubte, richtige Schwerter zuzulassen. Eine kleine Stimme in seinem Innern ermahnte ihn, dass er sich um Celimus und Wyl sorgte -schon damals, als sie noch Jungen waren. Womöglich würden sie bis zum bitteren Ende kämpfen. Doch hier standen 68
sie, stark und mutig. Männer, die vor kaum gezähmter Energie und Leidenschaft strotzten. Er würde einen Narren aus Celimus machen, ließe er ihn mit Holzwaffen kämpfen. Resigniert nickte er schließlich, und die drei jungen Männer vor ihm konnten ihre Freude nur mit Mühe verbergen. Das jährlich stattfindende königliche Turnier war eines der größten Feste Morgravias, und die Menschen strömten von nah und fern in die Hauptstadt, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. Um die Wettkampfarenen bildete sich ein wahres Dorf mit Nebenattraktionen und Verkaufsständen voller exotischer Waren. Eine schier endlose Reihe an Zigeunerwagen, fahrenden Händlern und Bauern wartete geduldig vor den Stadttoren, um Einlass nach Pearlis gewährt zu bekommen. Gaukler, Sänger, Musiker und selbst ein kleiner Zirkus reihten sich in diese Schlange ein. Die Einwohnerzahl im nördlichen Stadtgebiet, wo das Turnier abgehalten wurde, hatte sich erst verdoppelt und dann im Laufe der Tage vervierfacht. Helle Aufregung herrschte überall, und die örtlichen Schänken genossen ihre traditionell guten Umsätze zu dieser Zeit des Jahres. Magnus, der aus den vergangenen Turnieren gelernt hatte, war darauf bedacht, dass sich die Stadtbewohner nicht an den ärmeren Besuchern bereicherten, die sich einen freien Tag von ihrer Knochenarbeit auf den Feldern leisteten. Er hatte Erlasse herausgegeben, um besonders günstige Preise für die Unterbringung, Ställe, Wirtshäuser und Wasserlöcher zu gewährleisten. Durch Wyl ließ er einen Trupp 68
Soldaten aufstellen, die stichprobenartig in verschiedenen Tavernen überprüfen sollten, ob ihr Bier nicht zu verwässert und das Essen einen
anständigen Preis hatte. Wyl beauftragte Alyd damit, seine Männer zu überwachen, da er wusste, dass dessen freundliche und offene Art die aufgebrachten Wirte ein wenig beruhigen würde, obwohl sie ihre Preise nicht verdoppeln durften. Helme und Brustharnische, die einzige Rüstung der morgravianischen Soldaten, wurden poliert, bis sie glänzten. Pferde wurden gestriegelt, bis ihr Fell schimmerte, und die Waffen eingefettet und geschärft, sodass Funken in alle Richtungen stoben, wenn das Metall aufeinandertraf. Der Nervenkitzel, echte Waffen zu benutzen, hatte ein Feuer der Begeisterung entzündet. Die Kampfübungen in den Tagen bis zum Turnier waren noch nie mit solch heftiger Leidenschaft absolviert worden. Wyl musste seine Männer stets daran erinnern, wie sie ihre Waffen zu benutzen hatten. »Es ist nur ein Schaukampf. Vergesst das nicht. Es werden Damen vom Hof und reiche Gäste aus dem ganzen Land anwesend sein. Wir wollen doch nicht, dass die Frauen beim Anblick von offenen Wunden in Ohnmacht fallen, bloß weil ein paar übereifrige Kämpfer unter uns sind.« Er hatte auch noch mehr Ratschläge, was andere Disziplinen anging. »Ja, ihr habt mich richtig verstanden«, sagte er über das empörte Gemurmel hinweg. »Ringer, ölt dieses Jahr eure Körper besonders gut ein - mir wurde versichert, dass Frauen gerne zusehen, und anscheinend auch Kommandant Donal«, fügte er hinzu und entlockte seinen Männern brüllendes Gelächter, die einem wütenden, jedoch hilflos erheiterten Alyd auf den Rücken klopften. 69
Wyl entließ die Männer und holte Alyd ein. »Ich wäre gern gegen dich angetreten, doch leider habe ich einen besonderen Partner zugeteilt bekommen«, gab er mit grimmiger Miene zu. »Oh?«, erkundigte sich Alyd. »Lass mich raten. Der Prinz?« »Genau.« »Ich nehme an, er will dich verletzen, und welche Gelegenheit wäre passender? Er wird es unter dem Deckmantel der Unterhaltung versuchen, bei unserem wichtigsten Fest.« »Er wird zuerst einmal meine Deckung durchbrechen müssen.« »Ich habe ihn genau beobachtet, Wyl. Er ist gut.« Wyl zuckte mit den Schultern. »Aber vielleicht nicht gut genug. Das wird sich in ein paar Tagen herausstellen.« Alyd lachte. »Und dann werden wir im Alley feiern«, sagte er mit einem boshaften Glitzern in den Augen. Doch Wyl grinste nicht. »Ich muss dir noch etwas gestehen. Celimus plant mehr, als mich bloß zu demütigen. Er hat es darauf abgesehen, mich nicht nur körperlich zu verletzen. Er möchte den Kuss der Jungfrau als Preis wieder einführen.« »So?« Alyd wirkte verwirrt. »Was ist schon dabei?« »Mmm. Welche Jungfrau wird er wohl auswählen?« Die Erkenntnis traf Alyd wie der Blitz. »Ylena«, sagte er leise und hielt mitten im Gehen inne. »Wieder richtig.« »Das werde ich nicht zulassen«, sagte Alyd und schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde nicht gestatten, dass seine Lippen die meiner Verlobten berühren.« 69
Wyl wirkte gequält. Er sah sich verstohlen um. »Es kommt noch schlimmer. Er will die uralte Form des Brauchs auferstehen lassen, das sogenannte Blut der Jungfrau. Das ist viel schlimmer als der Kuss, Alyd.« Wyl war erst vor wenigen Augenblicken selbst informiert worden und jetzt auf dem Weg zum König, um eine Audienz zu erbitten. »Er will vor dir mit Ylena schlafen.« »Dann wird er mich zuerst umbringen müssen«, erwiderte Alyd, und seine Stimme klang kalt und hart. »Nein, er wird mich töten müssen«, entgegnete Wyl. Als Wyl die Gemächer des Königs erreichte, wurde ihm von Orto mitgeteilt, dass der Herrscher unpässlich sei - es schien, Magnus sei kränker, als man Wyl bisher hatte glauben lassen. Ihm wurde erlaubt, den König zu sehen. »Doch nur kurz«, warnte ihn ein hohläugiger Arzt, bevor er sie allein ließ. »Sei gegrüßt, lieber Wyl. Ich wusste, ich würde dich in nicht allzu ferner Zukunft sehen«, sagte der alte Mann. Wyl war erschrocken darüber, wie krank sein König aussah, und überhörte die unterschwellige Botschaft in seinen Worten. »Sire, wo habt Ihr Schmerzen?«, fragte er entsetzt. Magnus lehnte an einem Kissenberg, und obwohl seine Kammerdiener darauf geachtet hatten, dass er gepflegt aussah, konnte nichts sein eingefallenes, blasses Gesicht verbergen. »Kannst du dir das nicht denken?« Wyl war auf diese Frage nicht vorbereitet. Plötzlich war jeder Gedanke an ein Bittgesuch wie verflogen. Es war zu offenkundig, dass der alte Mann es weder zum königlichen Turnier noch zu Ylenas Hochzeit schaffen würde. 70
Magnus gestattete Wyl einige Sekunden des Schweigens und sagte dann, was er dem jungen Mann anvertrauen wollte. »Ich liege im Sterben, Wyl.« Der König hob die Hand, als sein Besucher Einspruch erheben wollte. »Bitte ... setz dich ein wenig zu mir. Ich muss ein paar Dinge mit dir besprechen.« Magnus bedeutete Wyl, auf dem Stuhl neben seinem Bett Platz zu nehmen. Er gehorchte, während ihm die Worte des Königs im Kopf umherwirbelten. Sterben.
»Frag mich etwas Intelligentes ... was dein Vater von mir hätte wissen wollen.« Wyl war nicht danach, Spielchen zu spielen, doch er wusste, dass er der Bitte nachkommen musste. Er überlegte einen Augenblick, bevor er zu sprechen ansetzte. »Ich denke, mein Vater würde wissen wollen, wie lange Ihr noch zu leben habt.« Magnus klatschte in die Hände. »Gut, Wyl. Ausgezeichnet. Genau das hätte Fergys gefragt. Keine seichten Mitleidsbekundungen, kein Verweilen bei Dingen, die nicht zu ändern sind. Er hätte jegliche persönlichen Gefühle beiseitegeschoben und mit den vor uns liegenden Aufgaben begonnen, die gelöst werden müssen, bevor ich diese Welt verlasse.« Wyl nickte. »Was nach Eurer Einschätzung wann sein wird, Sire?« »Ach, meine Ärzte sagen, dass ich mit ein bisschen Glück den nächsten Vollmond erleben werde.« Wyl glaubte, man habe ihm ein Messer in den Unterleib gerammt, und machte in Gedanken den verantwortlich, der das Messer seiner Meinung nach hielt -
Celimus. Der alte Mann durfte nicht so früh sterben! »Weiß Euer Sohn davon?« 71
»Eine weitere gute Frage. Nein. Ich habe Celimus seit dem Gespräch im Garten mit dir und Alyd nicht gesehen, und dennoch habe ich seither viel von ihm mitbekommen. Seltsam, nicht wahr?«, fragte der alte König freundlich. Sein liebenswürdiges Verhalten strafte seine wahren Gefühle Lügen. Wyl wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er blinzelte. »Ich kann mir unser Leben nicht vorstellen, wenn Ihr nicht mehr herrscht, Sire.« Magnus' Stimme wurde ernst, und seine eingefallenen Augen schienen zu strahlen. »Das musst du aber! Du allein musst eine Vision davon haben, wie man Morgravia beschützen kann, denn Celimus - obwohl er in der Kriegskunst ausgebildet wurde - hat keine. Sein Leben ist im Moment leider mit Ausschweifungen angefüllt.« »Mein König, bei allem Respekt, so fürchte ich, Ihr unterschätzt den Prinzen. Er ist ehrgeizig.« Magnus stimmte ihm zu. »Ich nehme an, dass dies kein Kompliment ist, obwohl du es geschickt verpackst, General.« Wyl war klug genug, nicht darauf zu antworten. »Wenn er ehrgeizig ist, dann versteckt er es gut vor mir. Allerdings muss ich dir wohl recht geben, Wyl. Auch ich vermute, dass Celimus nicht so oberflächlich ist, wie er uns das alle glauben lassen will.« »Nein, Sire. Er hat einen messerscharfen Verstand. Darf ich offen sprechen?« Magnus nickte. »Dann würde ich sagen, dass er nach Eurem Tod mit strenger Hand regieren wird.« »Das ist wahr. Er mag klug sein, aber ihm fehlt ein Gespür für Menschen und auch die Großzügigkeit, von der 71
ich hoffte, er würde sie im Laufe der Zeit erlangen. Ich glaube jedoch, dass er Morgravia treu ergeben ist, und in dieser Hinsicht muss ich ihm ein Lob aussprechen. Er wird nicht zulassen, dass das Reich hinter seinen Nachbarn zurückbleibt ... und das darfst auch du nicht, Wyl Thirsk. Briavel wird vielleicht in ein paar Jahren wieder einen Krieg heraufbeschwören, wenn es sich stark genug fühlt.« »Es ist das Gebirgsvolk, das mir mehr Kopfzerbrechen bereitet, Sire.« »Genau wie deinem Vater.« Der alte Mann seufzte. »Er hatte recht, Majestät.« »Ja, das hatte er. Du musst fortfahren, unsere nördlichen Streitkräfte zu verstärken. Cailech wird immer kühner.« »Die kleinen Scharmützel finden immer öfter statt, Sire. Früher ist das Gebirgsvolk normalerweise geflohen, wenn es auf eine unserer Patrouillen stieß.« Magnus stieß einen Seufzer aus. »Und jetzt bieten sie uns die Stirn und kämpfen. Sogar sehr dreist. Dein Vater hat mich auf seinem Sterbebett davor gewarnt. Du musst den Norden im Auge behalten, mein Sohn. Es kann sein, dass Cailech zuerst Briavel angreift, doch Morgravia stellt im Moment die
größere Herausforderung dar, mit einem König, der gestürzt werden könnte. Wenn es ihm gelingen sollte, Morgravia einzunehmen, wird Briavel - sobald Valentyna den Thron besteigt - ein einfaches Opfer sein.« Wyl runzelte in Gedanken versunken die Stirn und erinnerte sich an die letzten Berichte. »Es würde mir gar nicht gefallen, wenn wir das Gebirgsvolk abschlachten. Dies würde eine sowieso schon kritische Situation nur weiter aufpeitschen. Deshalb habe ich einen Erlass herausgegeben, 72
ihr Leben unter allen Umständen zu verschonen. Sie sollen, wenn nötig, Gefangene nehmen.« »Vielen Dank, Fergys«, sagte der König und setzte ein ironisches Grinsen auf. »Oh, du erinnerst mich so erschreckend an ihn, Wyl. Genau das hätte auch er sagen können.« Wyl zuckte die Achseln. »Ich möchte nicht, dass wir an zwei Fronten Krieg führen. Cailech ist im Moment noch kontrollierbar, wenn wir ihn nicht aufstacheln. Falls wir die Lage entschärfen, können wir vielleicht sogar Gespräche mit ihm anberaumen.« Magnus warf seinem General einen raschen Blick zu. »Friedensverhandlungen mit dem König des Gebirgsvolks. Ich wünschte, ich könnte das noch erleben«, sagte er nachdenklich. Wyl konnte kaum glauben, dass sie eine solche Unterhaltung führten. Er kam sich vor, als säße er bereits am Sterbebett des Königs. Dann wechselte er das Thema. »Wie fühlt Ihr Euch, Sire? Habt Ihr Schmerzen?« »Keine schlimmen. Mit Mohnlikör sind sie erträglich.« Wyl vermutete, dass Magnus die Wahrheit vor ihm zurückhielt, doch er beließ es dabei. »Eure Majestät... Ylenas Hochzeit. Möchtet Ihr die Pflicht, sie zum Altar zu geleiten, weitergeben? Vielleicht an Euren nächsten Angehörigen?« Vor Belustigung riss Magnus die Augen weit auf. »Celimus?« Wyl schluckte hart. Allein sein Stolz bewahrte ihn davor zu zeigen, wie er sich wirklich fühlte. »Du bist unbezahlbar, mein Junge.« Der König stieß ein schwaches Lachen aus. Wyl vermisste bereits jetzt das dröhnende Gelächter, für das Magnus bekannt war. »Das würdest du tun ... du würdest Celimus - dem Menschen, 72
den du wohl mehr hasst als jeden anderen - diese Ehre gewähren?« Wyl zögerte keine Sekunde. »Das würde ich, Sire ... wenn es Euer Wunsch ist.« Magnus betrachtete ihn nun mit einem düsteren Blick. Jegliche Belustigung war verschwunden. »Warum konntest du nicht mein Sohn sein, Wyl?« Er packte Wyls Hand. »Du bist derjenige, der Morgravia regieren sollte.« Über den Augen des Königs lag jetzt ein Schleier. Wyl räusperte sich. »Das kann nicht sein, Majestät«, brachte er im Flüsterton hervor. »Ihr dürft so etwas nie wieder sagen.« »Ja, aber ich denke es die ganze Zeit. Du besitzt die Gabe des Regierens. Der Mann, der einmal König wird, scheint keinerlei Mitgefühl zu besitzen. Ich fürchte um unser Volk. Ich fürchte um dich.«
»Macht Euch keine Sorgen um mich, Sire. Ich habe ihn durchschaut, und er kann sich meiner Treue gewiss sein.« »Wirklich, Wyl? Bist du ihm wirklich treu ergeben?« Wyl wunderte sich, weshalb der König ihm diese Frage ein zweites Mal stellte. Er überlegte einige Sekunden und ging in sich. »Sire, darf ich ehrlich sein? Wenn Celimus ein schlechter Herrscher ist, kann er meinen Respekt nicht erwarten, doch ich werde Euch eines aus tiefstem Herzen versprechen: Ich werde Morgravia immer treu ergeben sein. Ich werde unser Reich mit meinem letzten Atemzug beschützen.« Der König schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder aufschlug, nickte er und umschloss Wyls Hand in seiner großen Faust. »Das reicht mir, Wyl Thirsk.« Er lächelte. »Und was Ylena betrifft, so wäre es mir eine 73
Freude, wenn Gueryn an meiner statt einspringen könnte. Er gehört so gut wie zu eurer Familie, und dein Vater wäre mit einer solchen Entscheidung einverstanden.« Wyl entspannte sich sichtbar. »Vielen Dank, Sire. Ich weiß, dass Gueryn dies als Ehre auffassen wird.« »Lass ihn nicht von deiner Seite weichen, Wyl. Er kann dir den Rücken freihalten wie kein anderer. Und jetzt zu der eigentlichen Sache, wegen der du mich sprechen wolltest«, sagte Magnus, der aussah, als sei alle Kraft aus ihm entwichen. »Sire?« »Weshalb du heute zu mir gekommen bist. Ich nehme an, es hat etwas mit dem Turnier zu tun.« »Ihr wisst also davon?« »Dass Celimus sichergestellt hat, dass du und er die Hauptattraktion sein werdet? Ja. Ich glaube jedoch, dass du eher über den Kuss der Jungfrau mit mir sprechen wolltest und deinem Verdacht, dass er Ylena aussuchen könnte.« Das war eine Überraschung. Wyl hatte seinen König unterschätzt und wurde erneut daran erinnert, was für ein gerissenes Paar Magnus und sein Vater in der Blüte ihres Lebens gewesen sein mussten. »Ja, Majestät. Außer, dass die Geschichte eine dunklere Wendung genommen hat. Celimus hat verkündet, dass er die Einsätze erhöhen will.« »Oh?« »Er hat vor, das Blut der Jungfrau einzufordern«, sagte Wyl, der plötzlich aufgesprungen war und seine Verzweiflung offen zeigte. »Ich vermute, dass Celimus vor Alyd mit Ylena schlafen möchte, um meinen Hass zu schüren. Ich kann es nicht leugnen, Sire.« Magnus erwiderte nichts, obwohl ein missbilligendes 73
Stirnrunzeln seine Gesichtszüge überschattete. Wyl, der nicht stillhalten konnte, ging im Zimmer auf und ab. Schließlich setzte Magnus zum Sprechen an: »Das ist eine sehr ernste Sache.« Wyl wirbelte herum. »Könnt Ihr ihn nicht überstimmen, mein König?«, flehte er.
»Du weißt, dass ich das nicht kann. Damit würde ich Celimus' Autorität schwerwiegend untergraben und seine Angst bestärken, ich könnte dich mehr lieben als ihn und dich bevorzugen.« »Das fürchtet er?«, stammelte Wyl. »Wie könnte er das nicht? Er und ich haben nichts außer unserem Blut gemein«, sagte Magnus bestimmt. »Du bist der Sohn, den ich hätte zeugen sollen.« Wyl sah, dass der König erschöpft war. Er brauchte eine Antwort und bedrängte ihn weiter. »Er will gewinnen, Sire.« »Das weiß ich. Du wirst noch herausfinden, dass Celimus nur spielt, wenn er sicher ist zu gewinnen.« »Also könnt Ihr seinen Erlass nicht abwenden?« »Und das will ich auch nicht. Celimus lässt allmählich die Muskeln als Thronerbe spielen. Du wirst dich schon bald an seine Regeln halten müssen. Das ist deine erste Prüfung«, sagte Magnus bedauernd. »Was soll ich tun? Ich kann das doch nicht zulassen!« »Lass ihn einfach nicht gewinnen. Kannst du ihn im Kampf besiegen?« »Ja«, erwiderte Wyl selbstbewusst. »Dann musst du dich um nichts sorgen.« »Und trotzdem kann ich nicht anders, Sire.« »Nun, dann musst du eben noch gewitzter sein als er. 74
Benutz den klugen Kopf auf deinen Schultern. Es gibt zu jedem Problem eine Lösung, mein Junge - das sind übrigens die Worte deines Vaters -, und durch Shars Güte haben wir diese Lösungen immer rechtzeitig gefunden. Wie lange bleibt dir?« »Nach diesem noch zwei Tage, Sire.« »Ein Tag länger als du benötigst«, sagte der alte Mann, und seine Augen funkelten. Wyl wusste nicht, ob es am Fieber lag oder weil der König bereits die Lösung für ihr Problem kannte. »Und wann genau findet noch einmal gleich die Hochzeit statt, mein Junge?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Ende des Monats, Sire.« »Ach ja, das hast du bereits gesagt. Vielleicht solltest du dich dann um die Vorbereitungen kümmern«, sagte er, als wolle er ihm eine geheime Botschaft vermitteln. »Ich fühle mich ein wenig erschöpft. Wir werden uns sehr bald wieder sprechen.« Magnus schloss die Augen, und es schien, als sinke er bereits in einen betäubten Schlummer. Als könne der Arzt durch Wände sehen, klopfte er an die Tür und erschien einen Moment später. »Mit Verlaub, Sir, würde ich Euch bitten, den König nun schlafen zu lassen.« »Natürlich«, sagte Wyl und grübelte über die geheimnisvollen Worte des Herrschers nach. 74
WYL SASS IN DER ORANGERIE, einem winzigen, erhöhten Innenhof, der geschickt die Sonne einfing und seinen Obstbäumen hinter den undurchdringlichen Mauern Stonehearts zu einer berauschenden Ernte
verhalf. Der Duft der Blüten war köstlich, und Wyl liebte die Einsamkeit dieses Ortes. Auch Ylena, deren Zimmerfluchten den Hof überblickten, genoss seine Stille. Wyl konnte Magnus nicht vorwerfen, sein Versprechen ihrem Vater gegenüber nicht gehalten zu haben. Ylena lebte in wahrem Luxus, mit Zofen, die all ihren Wünschen nachkamen, einer Vielzahl prunkvoller Gemächer und diesem Hof, den Magnus entworfen und eigens für das kleine Mädchen hatte bauen lassen, das vor vielen Jahren zu ihm gekommen war. Die Tochter, die mir nie vergönnt war, hatte er ihr einmal ins Ohr geflüstert, und sie liebte ihn dafür. Ylena hatte die Liebe ihres Vaters nicht vergessen, doch sie war ihr derart früh geraubt worden, dass es ihr recht einfach gefallen war, ihre Zuneigung auf seinen einflussreichen Freund im ähnlichen Alter zu übertragen, der sie mit Geschenken, wunderschönen Kleidern und allem, was sich eine adlige Tochter wünschen konnte, überschüttete. Wyl hing düsteren Gedanken nach, während er auf seine 75
Schwester wartete. Ein schwarzer Hund saß geduldig neben ihm. Mit traurigen Augen blickte er zu Wyl empor, und gelegentlich stupste das Tier seine Hand mit der Schnauze an, um ihn an seine Anwesenheit zu erinnern. Geistesabwesend streichelte Wyl den großen Kopf, und Knave beschwerte sich leise, da er derart schändlich von seinem Herrn vernachlässigt wurde. Er ließ seinen geliebten Ball, der von Ylena aus altem Leinen, Strümpfen und Wolle gebastelt worden war, in der vergeblichen Hoffnung fallen, dass Wyl ihn warf und sie eines ihrer Spiele beginnen konnten. Beim Geräusch von Schritten spitzte der Hund die Ohren. »Was ist los, Knave?«, fragte Ylena, als sie frisch und hübsch herausgeputzt aus ihren Räumen trat. Ihr würziges Parfüm vermischte sich mit den Düften des Innenhofs. »Guten Tag, Wyl«, sagte sie, zwickte ihren Bruder ins Ohr und gab ihm einen Kuss auf den unscheinbaren roten Kopf. Er zog sie an sich und genoss das Entzücken, das sie aus einfachen Freuden zog, während er sich gleichzeitig dafür hasste, ihr mit seinen Neuigkeiten den perfekten Tag zu verderben. »Du riechst sogar wie unsere Mutter«, bemerkte er und küsste sie auf die Wange. Ylena seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mich ebenso gut an sie erinnern wie du. Ich trage ihr Parfüm.« »Es ist wundervoll.« »Vater hat es mir vor vielen Monden geschenkt. Er sagte, ich solle es in meiner Hochzeitsnacht benutzen. Ich habe es die ganze Zeit über aufgespart, doch heute fühle ich mich so unbekümmert und habe mich ein wenig damit betupft. Glaubst du, er wird es mögen?«, fragte sie schüchtern. 75
»Wer?« »Prinz Celimus natürlich!«, rief sie und verzog entnervt das Gesicht. Doch als sie bemerkte, wie Wyl bei dem Namen zusammenfuhr, setzte sie eine besorgte Miene auf. »Alyd, du Narr - mein zukünftiger Ehemann. Wen sonst hätte ich meinen können?«, fragte sie lachend.
Wyl wollte die Gelegenheit ergreifen, beim Thema zu bleiben. Er öffnete den Mund, um zu sagen, was er in Gedanken eingeübt hatte, aber Ylena unterbrach ihn und streckte sich, um mit Knave zu reden. »Du törichter Hund, du hast ja immer noch den dummen roten Ball!« »Und wehe dem, der es wagen sollte, ihn zu berühren«, sagte Wyl liebevoll. »Jedenfalls jemand anderer als du ... natürlich«, erwiderte sie. »Welches Band besteht zwischen dir und dem Hund, Wyl? Er jagt so ziemlich jedem auf Stoneheart fürchterliche Angst ein, und doch benimmt er sich wie ein braver Welpe, sobald du anwesend bist.« »Oder du.« »Ja, aber das ist doch irgendwie seltsam, oder nicht?« »Eigentlich nicht. Er hat Myrren verloren, als er noch ein Welpe war, und dann bin ich plötzlich aufgetaucht.« Wyl wollte hinzufügen, dass es Ylena wahrscheinlich ähnlich ergangen war, als sie ihre Liebe von Fergys auf Magnus übertragen hatte. Stattdessen zuckte er die Schultern und kratzte den Hund an den Ohren. »Ich war das Nächstbeste, was er hatte.« »Warum bist du ihrer Bitte überhaupt nachgekommen?«, fragte Ylena. »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das gar nicht so genau. 76
Irgendwie habe ich mich ihr gegenüber verpflichtet gefühlt, nach all den Qualen, die sie ertragen musste. Sie sagte, er sei ein Geschenk, und ich solle ihn weise nutzen.« »Verstehst du, was sie damit meinte?« Wyl schüttelte den Kopf. »Was ist eigentlich aus ihrer Familie geworden?« »Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr Vater noch an dem Morgen starb, als die Hexenjäger Myrren holten. Die Mutter war verwirrt, als wir uns trafen. Sie hat meiner Geschichte gelauscht und mir den Hund ohne ein weiteres Wort überreicht. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist, doch das Haus war bei meinem Besuch bereits ausgeräumt, und ich nahm an, dass die Mutter die Stadt verlassen wollte. Wahrscheinlich war sie froh, den Welpen loszuwerden.« »Wie seltsam«, meinte Ylena. »Ich bin nur froh, dass Knave mich als Freund und nicht als Feind betrachtet.« Dann fügte sie in leiserem Tonfall hinzu: »Am allermeisten hasst er natürlich Celimus, aber das hat er wohl von dir.« »Schsch«, ermahnte Wyl sie. »Niemand ist hier.« »Selbst Stonehearts dicke Wände haben Ohren.« »Nun, es ist doch wahr. Ich glaube, Knave kann niemanden ausstehen, den du nicht magst. Denk darüber nach: Er duldet all jene, die dir selbst gleichgültig sind, doch denen, die du liebst, ist er treu ergeben. Was sagst du dazu?«, fragte sie und schleuderte zur überraschten Freude des Hundes den Ball fort. Ihr Gespräch wurde von einer von Ylenas Zofen unterbrochen, die Alyds Erscheinen ankündigte. Sein Gesichtsausdruck war leer, als er Ylena die Hand küsste. »Was ist los mit dir, Alyd Donal? Man könnte fast glau 76
ben, der König habe seine Einwilligung zu unserer Hochzeit verweigert.« »Hast du es ihr erzählt?«, erkundigte sich Alyd, und Wyl schüttelte den Kopf. »Mir was erzählt?« Ylenas Augen huschten zwischen den beiden grimmigen Gesichtern hin und her. »Ylena ...«, begann Wyl. »Warte!«, entfuhr es ihr. »Das hört sich nicht gut an.« Sie rief nach ihrer Zofe und bat sie, ihr auf der Stelle einen gewürzten Kräutertrank zu bringen. Die Zofe kehrte rasch zurück, und Ylena leerte die kleine Stärkung in einem einzigen Zug. »Fein. Ich nehme an, es hat etwas mit unserer Hochzeit zu tun. Sagt es mir schon!«, befahl sie. Ihre Kehle brannte von dem Likör. Wyl setzte erneut an, erzählte ihr, was er wusste, und weihte sie in seine Vermutungen ein. Sie ergriff Alyds tröstliche Hand, während Wyl den Kopf neigte und mit folgenden Worten endete: »Alles, was zwischen dir und Celimus' Bett steht, ist mein Schwert.« »Aber ich habe ihm nie etwas zuleide getan«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Du hast keiner Menschenseele etwas zuleide getan, meine Liebe«, tröstete Alyd sie. »Das hat nichts mit dir zu tun. Er will Wyl verletzen ... und euren Namen beschmutzen.« »Ist das denn sicher?«, fragte sie. »Nein«, musste Wyl zugeben. »Doch ich kenne ihn genau. Und er weiß, wie er mir am meisten Schaden zufügen kann.« Ylena schüttelte den Kopf. »Warum hasst er dich so sehr, Wyl?« 77
»Das weiß ich nicht«, erwiderte er, da er die Worte des Königs nicht wiederholen wollte. »Aber ich weiß es«, gestand Alyd. »Es liegt wohl daran, dass der König dich so sehr mag.« Und als Wyl verneinend den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Es ist wahr. Jeder weiß das. Celimus hat keine Zeit für den König, doch dann sieht er dich in der Gesellschaft seines Vaters, und du genießt es. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass er unter der unzertrennlichen Freundschaft deines und seines Vaters aufwachsen musste. Nach dem, was man hört, hat Magnus wenig Zeit mit seinem Sohn verbracht. Mir ist auch zu Ohren gekommen, dass er seinen Vater für den hässlichen Tod seiner Mutter verantwortlich macht - und ihm nie verziehen hat.« Wyl nickte. »Ich habe Ähnliches gehört.« Alyd war noch nicht fertig. »Vielleicht wirft er Fergys Thirsk vor, im Weg gestanden zu haben. Und siehe da, als der General stirbt, wird er von einem Jungen im gleichen Alter ersetzt, der die zärtliche Zuneigung seines eigenen Vaters spielend leicht zu gewinnen scheint.« Alyd stieß rasch die Luft aus. »Wenn man es von seiner Seite aus betrachtet, kann man fast nachvollziehen, warum er sich dir gegenüber so seltsam benimmt.« Wyl zuckte mit den Schultern. Er wollte nicht eingestehen, dass Alyd höchstwahrscheinlich mitten ins Schwarze traf. »Ylena, indem er dir das raubt, was dir so kostbar ist, demütigt er die Schwester, die ich liebe, stürzt meinen besten Freund in größte Verzweiflung und schürt womöglich meinen Zorn derart, dass es zu einem handfesten Streit kommt.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Nun, ich werde da nicht mitmachen. Eher sterbe ich.« 78
Alyd nickte. »Und obwohl ich ihm nicht das Wasser reiche, gelobe ich, liebend gerne bei dem Versuch, ihn von dir fernzuhalten, zu sterben, wenn er dich anrühren sollte. Wyl, ich habe darüber nachgedacht, wie wir Ylena von hier wegschaffen könnten. Mein Plan ...« Wyl schüttelte den Kopf. »Alyd, hör auf! Ich habe dir schon gesagt, dass es keinen Ausweg gibt. Celimus lässt sich nicht so leicht hinters Licht führen. Es wäre für ihn ein harter Schlag, wenn er etwas nicht bekommt, an dem sein Herz hängt - und Ylena in sein Bett zu zerren, hält Celimus für einen Geniestreich, um uns beide, dich und mich, zu verletzen. Nein, er würde euch verfolgen, und es würde ihn nicht mehr kosten, als mit der Wimper zu zucken. Außerdem hat er es nicht eilig. Ihr wärt Euer restliches Leben auf der Flucht. Die Angst, hinter jeder Biegung aufgegriffen zu werden, würde euch jeder Möglichkeit berauben, echtes Glück zu finden.« »Was dann? Was können wir tun?« Ylenas Stimme zitterte. »Wir müssen gewitzter sein als er, schlauer.« Wyl stand auf und ging zu einem der Orangenbäume, atmete den frischen Duft ein und gönnte sich einen Augenblick, um sich selbst zu überzeugen, dass seine Idee funktionieren könnte. Dann drehte er sich um. »Ich habe einen Plan. Es war eine Bemerkung des Königs, die sich in mein Bewusstsein eingegraben hat, doch wir haben nur noch den restlichen heutigen Tag und morgen, um ihn in die Tat umzusetzen.« Gebannt lauschten sie ihm. 78
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DER TAG DES TURNIERS brach hell und strahlend über Stoneheart an. Die Regenwolken des vergangenen Tages waren wie weggeblasen, und nun war der Himmel klar und der Morgen kühl. Am Abend zuvor hatte es leicht genieselt, sodass der Boden nun weich war, jedoch nicht rutschig genug, um eine Gefahr darzustellen. Er war perfekt für Tiere und Ringer. Die Pferde schimmerten, und farbenprächtige Fahnen flatterten in der schwachen Morgenbrise um das Turnierfeld. Die Tischler hatten es geschafft, die Tribüne rechtzeitig fertigzustellen, und obwohl die kleinen Zelte, die das Feld umgaben, feucht waren, hatten sie dem nächtlichen Regen standgehalten. Jedes wurde einer adligen Familie zugewiesen, und von hier aus würden ihre Söhne einen Scheinkrieg gegeneinander führen. Ein weiteres größeres, aber weniger auffälliges Zelt würde die Gaukler, Tänzer und andere Artisten beherbergen, eingeschlossen einen berühmten Feuerschlucker und Schlangenmenschen, dessen Dienste auf ausdrücklichen Wunsch seiner königlichen Hoheit, Prinz Celimus, beansprucht wurden. Die jüngeren Damen konnten sich beim Bogenschießen versuchen, wo als stattlicher Preis eine herrliche Perlen 78
kette, gestiftet von König Magnus, auf sie wartete. Ylena, die dank Wyls Hilfe mit Pfeil und Bogen keine Anfängerin mehr war, freute sich schon darauf, die Perlen am Abend zu tragen. Sie war traurig, dass der König nicht anwesend sein konnte, und als sie davon erfahren hatte und ihr nicht gestattet wurde, ihn zu besuchen, hatte sie ihm einen kurzen Brief zusammen mit einem Zweig ihres Orangenbaums und einiger anderer Blumen aus ihrem Garten geschickt. Sie wusste, dass sie durch die Blüten dem kranken Mann ihre Liebe besser ausdrücken konnte als durch jedes geschriebene Wort. Trotz seiner sonstigen Zurückhaltung hatte Wyl seiner Schwester und Alyd erzählt, dass Magnus im Sterben lag. Alle drei konnten sich gut vorstellen, wie düster ihr Leben aussähe, wenn Celimus auf dem Thron säße, und das junge Paar hatte sich bereits gefragt, ob dies nicht der beste Grund war, Stoneheart den Rücken zu kehren. Doch heute Morgen wollte Ylena nicht darüber nachdenken, wie es sich anfühlen mochte, von dem widerwärtigen Celimus berührt zu werden, sollte er das Turnier gewinnen. Allein der Gedanke daran ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Während ihrer gesamten Kindheit in Stoneheart hatte er wenig Notiz von ihr genommen, weshalb sie im Gegensatz zu Wyl nicht das Ausmaß seiner grausamen, selbstsüchtigen Art kennengelernt hatte. Dennoch war ihr Familienname Thirsk, und es hatte Gelegenheiten gegeben, wo auch sie seinen durchdringenden, hasserfüllten Blick spürte. Doch seit Kurzem, seit sie erwachsen geworden war und ihre Kleider in schmeichelhafter Weise zu füllen vermochte, hatte dieser Blick eine neue Nuance bekommen. Auf ein 79
mal lag die bildliche Vorstellung vom Blut der Jungfrau in Celimus' Augen, die sie nun eindringlich musterten. Ylena schob den Prinzen und seine lüsternen Gedanken aus ihrem Bewusstsein, sog den Duft ihrer Bäume ein und drehte sich an diesem Tag, der für sie so besonders wie kein zweiter war, zu dem Mann um, den sie liebte. »Du siehst wundervoll aus«, sagte sie zu Alyd und richtete ihm das Hemd. »Wie ein schneidiger Krieger.« Er schnitt eine Grimasse. »Wohl kaum.« Dann zog er sie an sich und küsste sie leidenschaftlich. »Jetzt können wir nur noch hoffen, dass dein Bruder ihn besiegen kann.« »Damit uns erspart wird ...« Alyd brachte sie mit einem weiteren Kuss zum Schweigen. »Sag nichts. Ich muss fort, meine Liebe, oder riskiere, den Zorn des für seine schlechte Laune bekannten, rothaarigen Generals auf mich zu ziehen.« Ylena lachte, doch er sah Besorgnis in ihren Augen und wusste, sie las dieselbe Unruhe in seinen. »Nun komm schon, wo steckt der berühmte Mut der Familie Thirsk?« »Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass der lediglich in Wyl und nicht in mir steckt«, sagte sie und rang die Hände. »Und er hat geschworen, dich zu verteidigen, genau wie ich, also hast du nichts zu befürchten.« »Warum beginne ich dann allmählich zu zittern, Alyd Donal?«
Er hob ihr Kinn, damit er in ihre Augen sehen konnte. »Ich liebe dich. Du musst dieser Liebe vertrauen. Und natürlich Wyls Plan. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan.« Sie nickte und hoffte, dass er ging, bevor ihre unaus 80
weichlichen Tränen sie verrieten. Nachdem Alyd fort war, traf sie ihr letzte und wie sie wusste, waghalsige - Vorsichtsmaßnahme und schickte einen Knappen mit einer eiligen Bitte zu Orto, dem Sekretär des Königs. Anschließend bat sie ihre Zofe, ihr die Handschuhe fürs Bogenschießen zu bringen. Der Morgen des Turniers war ohne Zwischenfälle verlaufen, wobei die Zweikämpfe bei den Zuschauern zum Teil für Heiterkeit sorgten, da viele der adligen Söhne aus den Satteln fielen. Die Bevölkerung der Stadt war sogar noch dramatischer angewachsen als erwartet. Als besondere Geste hatte Magnus auf Ortos klugen Vorschlag hin - mehrere Dutzend Fässer Bier und gebratene Ochsen kostenlos unter den Menschen verteilen lassen. Alle Bäcker in der Nähe des Palasts arbeiteten von früh bis spät, und jetzt hing der verlockende Geruch nach frischem Brot und dem auf Bratspießen brutzelnden Fleisch in der Luft. Das mittägliche Festmahl hatte begonnen. Händler, die sich durch die schmalen Gässchen zwischen den Zelten und Planen der Schaubuden - auch das Alley genannt hindurchschlängelten, erfreuten sich in den kurzen Pausen zwischen den Kämpfen an einem regen Geschäft, denn die Zuschauer genossen ihr Essen und Bier. Letzteres sorgte dafür, dass sie ihre Geldbörsen stets offen hielten. Ein Quacksalber unterhielt das sich drängelnde Volk mit seiner illusteren Rede und pries eine magische Salbe an, die angeblich jegliche Schmerzen und Qualen linderte. Um die Aufmerksamkeit und das Gelächter seiner Zuhörer aufrechtzuerhalten, schleuderte sein Vogel, ein Mynah, seinem Besitzer Schimpfwörter an den Kopf, der sie geflis 80
sentlich überhörte. Der Schlangenmensch brachte sein Publikum zum Erschaudern, doch trotz ihrer spitzen Schreie warfen sie ihm ihre Geldmünzen zu, damit er auch ja nicht aufhörte. Kinder drängten sich um die Marktbude des Zuckerbäckers, wo Süßigkeiten verkauft wurden, von denen sie bisher nur träumen konnten, und die für nur zwei Mynk das Stück feilgeboten wurden: Zuckerwatte, glasierte Äpfel, Karamellbonbons, Brausepulver und knallbunte Zuckerstücke, die den ganzen Tag hielten, wenn man geschickt an ihnen lutschte. Eine Gruppe Frauen hatte sich zusammengetan, um gehäkelte Decken, Bastkörbe und sogar einige Teppiche, die von ihren Kindern gewebt worden waren, zu verkaufen. Und dann gab es natürlich noch die Attraktionen am Rand des Turniers, wo die Vorübergehenden unter vielen anderen ausgelassenen Spaßen dazu aufgefordert wurden, einen nassen Lappen auf eine arme Seele zu werfen, die sich dazu bereit erklärt hatte, für eine Gewinnbeteiligung am Pranger zu stehen. Mit drei Treffern gewann man einen Krug Honigwein. An einem anderen Stand wechselten sich starke Männer dabei ab, einen Baumstamm mit einer Axt zu bearbeiten, wobei ihre Versuche
sorgfältig von einem Mann mit versteinertem Gesicht und durchdringendem Blick überwacht und aufgezeichnet wurden, der die ganze Zeit über an einem Weidenzweig kaute und die schmerzstillenden Säfte gegen seine steifen Gelenke lutschte. Eine kleine Schlange bildete sich vor dem Zelt der geheimnisvollen Witwe Ilyk, die behauptete, sie könne den Menschen durch bloße Berührung die Zukunft voraussagen. Wyl lächelte, während er vorbeispazierte. Er mochte Menschen, die sich über Morgravias alte Ängste lustig 81
machten. Früher wäre ein schreiender Trupp Hexenjäger herbeigeeilt, wenn jemand zugegeben hätte, das zweite Gesicht zu besitzen. Er war froh, dass diese Zeiten vorüber waren und sich erfinderische Menschen wie diese Witwe den Lebensunterhalt durch Taschenspielertricks verdienen konnten. Wenn Myrrens Dahinscheiden irgendeine positive Folge hatte, dann, dass Magnus Morgravia von Lymbert und seinen Spießgesellen befreit hatte und der Einfluss der Anhänger Zerques so gut wie ausgerottet war. Myrrens Tod hatte viele der jüngeren Zuschauer entsetzt, die aufgeklärter als die ältere Generation waren und nicht mehr an übernatürliche Kräfte glaubten. Doch die meisten waren bereit, eine Münze zu bezahlen, damit ihnen jemand weissagte, dass die Schmerzen in ihren Knien aufhören oder sie tatsächlich einen reichen Händler heiraten und einem Leben, angekettet an ein Gerstenfeld, entfliehen würden. Wahrsagerinnen mangelte es in diesen Tagen nur selten an Kundschaft. Alyd holte Wyl vor dem Zelt der Witwe ein. »Was machst du hier?« »Ich versuche, auf andere Gedanken zu kommen.« »Na los. Es ist an der Zeit, dass wir dich fertig machen.« »Würdest du eine Silbermünze bezahlen, um deine Zukunft zu erfahren?«, fragte Wyl nachdenklich. »Ich sage dir was: Wenn du den Außergewöhnlichen heute in die Knie zwingst, betrinken wir uns und feiern deinen Sieg, indem wir genau zu diesem Zelt zurückkommen - wo sind wir hier? Ach ja, am Zelt der Witwe Ilyk, und dann lassen wir uns unsere Zukunft vorhersagen.« Er grinste. »Ich bin froh, dass du so zuversichtlich bist.« 81
»Das bin ich nicht«, gab Alyd zu. »In Wahrheit bin ich wie erstarrt vor Angst um Ylena.« »Wie geht es ihr?« »Hast du noch nicht mit ihr gesprochen?« Alyd wirkte bestürzt. Wyl schob sich die Hände in die Taschen. »Nein. Geht es ihr ... gut?«, fragte er kleinlaut. Alyd setzte einen selbstgefälligen Gesichtsausdruck auf. »Ich darf wohl zu recht behaupten, dass sie seit letzter Nacht strahlt.« General Thirsk hob in gespielter Bestürzung die Hand, um seinen Kommandanten daran zu hindern, noch mehr auszuplaudern. »Komm jetzt, ich muss mich auf einen Kampf vorbereiten.« Die Stadtglocken läuteten den Beginn der Nachmittagsunterhaltungen ein, und um sicherzugehen, dass die nun bereits leicht angetrunkene Menschenmenge
den Weg zurück zum Turnierfeld fand, wurden mehrere Pagen ausgesandt, damit sie mit lauten Schellen durch die Gässchen eilten. Das Bogenschießen der Hofdamen war in Wirklichkeit kein echter Wettbewerb. Rasch konzentrierte es sich auf zwei Damen: Ylena mit ihren eindeutig überragenden Fähigkeiten und eine wild entschlossene Gegnerin aus dem Hause Coldyn, die nicht nur unbedingt die Perlenkette gewinnen, sondern auch die Aufmerksamkeit von Alyd Donal auf sich ziehen wollte. Aus diesen beiden Gründen hasste Ailen Coldyn die hübsche Ylena Thirsk aus ganzem Herzen, ein Mädchen, das alles zu haben schien - »und 82
nicht noch mehr Juwelen braucht«, hatte sie sich schmollend bei ihrer Mutter beschwert. Ailen bewies beim Schießen Mut, doch ihre überzogene Aggressivität ließ sie ungenau zielen, während Ylenas Pfeile, die herrlich mit den Farben ihrer Familie befiedert waren, genau ins Schwarze trafen. Als klare Gewinnerin versuchte sie ihr Bestes, die finsteren Blicke der anderen Wettkämpferinnen zu ignorieren und liebenswürdig zu bleiben. Ylena brauchte keinen weiteren Schmuck, doch aus sentimentalen Gründen wollte sie Magnus' Perlenkette besitzen. Aufgeregtes Stimmengewirr erscholl, als dem König, der unerwartet erschienen war, auf die kleine Bühne geholfen wurde, die für das Übergeben der Preise gebaut worden war. Er sah schrecklich schwach und krank aus, trotz seiner prachtvollen Kleider. Orto und ein überraschter Prinz Celimus stützten ihn beim Überreichen des Preises und übergingen dabei geflissentlich das Gemurmel der Menschenmenge, die entsetzt über den Zustand ihres Königs war. »Vater, das ist keine gute Idee.« »Dennoch eine, die mir gefällt«, war die umgehende Antwort. »Ach, meine Liebe«, sagte er und strahlte seine Lieblingsdame an. Magnus legte Ylena die Kette um den Hals, sodass die Perle genau an ihrem Schlüsselbein saß, und küsste sie auf beide Wangen. »Sie war dazu bestimmt, an einem wunderschönen Hals zu hängen«, sagte er, und seine Augen loderten vor Fieber, das schon bald sein Leben einfordern würde. Ylena machte einen Knicks. »Vielen Dank für Euer Kommen, mein König«, flüsterte sie inbrünstig, da sie sich vorstellen konnte, welche Kraft es ihn kostete, hier zu erscheinen. 82
»Wie konnte ich deine Bitte abschlagen?«, fragte er, während er Celimus' und Ortos Arme abschüttelte und sie zwang, einen Schritt zurückzutreten, damit er einen kurzen Moment mit Ylena allein war. »Es tut mir leid, dass der Felrawthy-Clan nicht anwesend ist«, gestand Magnus. »Sie hätten sehen sollen, wie du heute strahlst.« »Ich glaube, dass auch der Herzog enttäuscht ist, Mylord, ebenso wie Alyd. Der Clan seines Vaters ist im Norden zu beschäftigt.« »Hmm, das wurde mir berichtet. Ach, übrigens, mein Kind, hab keine Angst«, flüsterte er, wohlwissend, dass sie die Bedeutung seiner Worte verstehen
würde. »Dein Bruder ist gerissener, als du glaubst. Jetzt dreh dich um, damit sie alle deinen hübschen Preis bewundern können.« »Ich werde sie nie abnehmen, Eure Majestät. Sie wird mir immer lieb und teuer sein, und so kann ich Euch nah an meinem Herzen tragen.« Er lächelte, wie ein Vater sein Kind anlächelt, und liebte sie auch ebenso. Mühevoll baute sich der König zu seiner vollen Größe auf. Seine Augen waren feucht, und er spürte, wie das Fieber ihn zittern ließ. Doch gleichzeitig wusste er, dass er es noch eine kleine Weile in Schach halten musste. Als Ylena vom Podium schritt, erschollen Beifallsrufe und Pfiffe von den Soldaten, die ihrem Bruder so treu ergeben und ein kleines bisschen in die würdevolle Schönheit mit den goldenen Haaren verliebt waren, die dem General nicht im Geringsten ähnelte. Währenddessen trat Celimus vor, um dem König etwas ins Ohr zu flüstern. Seine Worte troffen vor Süße. »Vater, es war ungeheuer gütig von dir, dein Krankenbett für die 83
Preisübergabe zu verlassen. Soll ich Orto nun bitten, dich zurück zu deinen Gemächern zu geleiten?« »Nein, Celimus. Die frische Luft tut mir im Moment gut«, log Magnus, »und ich habe gehört, dass du und Wyl Thirsk ein besonderes Schauspiel beisteuert. Das möchte ich mir nicht entgehen lassen.« Celimus machte eine knappe, jedoch elegante Verbeugung. »Wie du wünschst, Vater. Ich empfinde es als Privileg, dass du uns zusehen willst.« Der alte Mann nickte, voll stiller Verachtung für seinen Sohn. »Mir ist außerdem zu Ohren gekommen, dass du einen besonderen Preis für den Gewinner des Wettkampfes hast. Gehe ich recht in der Annahme, dass du das uralte Anrecht auf das Blut der Jungfrau wieder aufleben lässt?« »Ja, Sire«, erwiderte Celimus strahlend, entschlossen, sich von dem Haufen Knochen, der vor ihm saß, nicht einschüchtern zu lassen. »Ich dachte, es würde dem manchmal etwas langweiligen Schwertkampf zweier Männer einen Hauch Würze verleihen.« »Ich war der Ansicht, dass die Zugabe von echten Schwertern für genügend Aufregung sorgen würde.« »In dieser Hinsicht hast du recht. Allerdings wollte ich, dass das diesjährige königliche Turnier das unvergesslichste von allen wird.« »Und warum?«, fragte der König, der die Antwort fürchtete. Celimus kam noch näher. »Weil es dein letztes ist und wir es gut in Erinnerung behalten wollen, Sire. Dieser Wettkampf ist immerhin aus den Feierlichkeiten unserer alten Traditionen entstanden. Es ist daher nur passend, dass wir deinen alten Körper traditionell verabschieden.« 83
Magnus focht einen harten Kampf mit sich, um seine Stimme ruhig zu halten. »Tatsächlich, mein Sohn. Ich bewundere deine Hingabe an die alten Traditionen, obwohl ich den Brauch nicht gutheißen kann, den du wieder zum Leben erweckt hast. Genau denjenigen, den mein Großvater mit solcher Schärfe verboten hat. Es ist, wenn du mir die Worte zu dieser späten Stunde
erlaubst, barbarisch und unter deiner Würde, einer dieser Jungfrauen einen solchen Brauch aufzuzwingen.« »Nun ja, da ich dich jedoch so selten zufriedenstellen kann, Vater, ist dies wohl nur ein weiterer Nagel, den ich äußerst gerne in deinen Sarg hämmere.« Magnus war erschüttert über die Vehemenz in Celimus' Worten, die gerade so laut ausgesprochen worden waren, dass nur sie beide sie hörten. »Du kannst meinen Tod wohl kaum erwarten, mein Sohn.« Celimus beugte sich hinab. Er hatte für die Menschenmenge immer noch ein Lächeln auf den Lippen, doch seine Worte waren eiskalt, als er Magnus zuflüsterte: »Ich werde dir bis zum Frühjahr geben, Vater. Wenn du bis dahin nicht deinen letzten unerwünschten Atemzug ausgehaucht hast, werde ich dich persönlich zu Shar schicken.« »Wie sehr du die Krone begehren musst, mein Junge.« »Das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen - und meine Geduld schwindet allmählich. Also genieß das heutige Fest, verschwinde dann und tu mir den einzigen Gefallen, den du mir als Vater je getan haben wirst... stirb endlich.« Als Magnus erkannte, wie stark Adanas Blut in Celimus' Adern floss und wie sehr seine Erziehung bei seinem Sohn fehlgeschlagen hatte, schwanden ihm mit einem Schlag die Kräfte, und er brach auf den Stuhl zusammen, den der stets 84
aufmerksame Orto in weiser Voraussicht hinter ihn gestellt hatte. »Eure Majestät...«, begann der Diener leise, und in seinem Tonfall hallte Besorgnis wider. Er hatte nichts von dem Gespräch zwischen Vater und Sohn mitbekommen, wusste jedoch, dass es dem alten König äußerst missfallen hatte. Magnus ließ ihn nicht ausreden. »Ein Getränk wäre sehr fein, Orto. Ich wünsche, der Darbietung beizuwohnen.« »Ja, Sire«, sagte Orto mit einem Fingerschnipsen, woraufhin sich ein Page beeilte, das mit Wasser gestreckte Bier zu holen. »Wie Ihr befehlt«, fügte er hinzu und griff in seine Tasche, um das kleine Fläschchen Mohnlikör herauszuholen. Gueryn und Alyd hatten Wyl beim Anlegen der festlichen Uniform des Hauses Thirsk geholfen. Jetzt standen sie da und bewunderten ihn. »Wenn nur das rote Haar nicht wäre«, bemerkte Alyd. »Ach, halt den Mund«, erwiderte Wyl aus Gewohnheit. »Es sticht sich derart mit euren Hausfarben«, fuhr Alyd fort, während er auf das Magentarot und dunkle Ultramarinblau von Wyls zeremoniellem Kampfanzug starrte. Er wollte seinen Freund erneut davon überzeugen, eine Rüstung zu tragen, wusste jedoch, wie vergeblich der Versuch war. Wyl hatte schon mit der Begründung abgelehnt, dass der Wettbewerb ein reiner Schaukampf sei. »Nun, du magst meinen Vorfahren ihre Blindheit für angenehme Farbkombinationen zur Last legen. Sie hatten ebenfalls rotes Haar.« Wyl warf ihm im Spiegel einen finsteren Blick zu. Gueryn stand neben ihm. 84
»Celimus versucht gerne über links einen Scheinangriff«, warnte ihn Gueryn. Wyl nickte, nahm das Schwert von Alyd entgegen und steckte es in die Scheide. »Und es gefällt ihm, dir seine rechte Seite zu zeigen - fall nicht auf den Trick rein und stoß zu. Hol fest und tief aus und nutz seine schwächere linke Seite.« »Das weiß ich, Gueryn. Und jetzt Ruhe. Es gibt nichts über Celimus' Schwertkampf zu sagen, das ich nicht bereits gelernt hätte.« Gueryn wusste, was auf dem Spiel stand. Wyl musste Celimus besiegen, um seine Schwester zu beschützen, obwohl die Folgen, den Prinzen öffentlich zu schlagen, schwerwiegend sein konnten. »Wenn das alles vorbei ist und wir Ylena und Alyd glücklich verheiratet sehen, schlage ich vor, dass du dir einen Monat frei nimmst und nach Norden reist. Du solltest eine Weile von hier verschwinden.« Er bemerkte die Blicke nicht, die sich die beiden jüngeren Soldaten zuwarfen. Wyl verstand, dass es Gueryn lieber war, über die Zukunft zu sprechen. »Nun, nur unter der Bedingung, dass du mich begleitest. Wir könnten den Grenzpatrouillen, die meinen Vater derart in Atem gehalten haben, einen Besuch abstatten.« »Das ist ein Versprechen«, sagte Gueryn ernst. Er legte Wyl die Hand aufs Herz und rezitierte den Leitspruch der Familie: »Alle für einen.« Wyl wiederholte die Geste und bedeckte mit der eigenen Hand Gueryns Herz. »Alle für einen.« Dann ließ er zu, dass Alyd ihn kurz umarmte. »Und jetzt geh und bleib bei ihr. Sie wird sich zu Tode ängstigen.« 85
Alyd nickte. Auf einmal hatte er das Gefühl, als ginge die Welt unter. »Ich kann schon beinahe unser erstes Siegerbier schmecken«, sagte er und versuchte, überzeugt zu klingen. Gueryn und Alyd verließen das Zelt. Wyl folgte ihnen einige Augenblicke später und trat in das blendende Licht der klaren, milden Nachmittagssonne. Seine Freunde eilten auf Ylena zu, die nervös dasaß. Er selbst ging zur Hauptarena. Der Zeremonienmeister verkündete die Ankunft des Generals Wyl Thirsk und wurde rasch von den lauten Beifallsstürmen der Soldaten übertönt, die den Kampfplatz säumten. Wenn die Bevölkerung von diesem erst kürzlich ausgerufenen Wettstreit zweier derart hochrangiger Krieger fasziniert war, waren sie womöglich noch beeindruckter von der Zusage, dass dem Gewinner das Anrecht auf das Blut der Jungfrau zustand. Viele der weniger wohlhabenden Adligen hatten die Gerüchte über das Wiederaufleben des uralten Brauchs auf direkten Wunsch des Prinzen Celimus in fieberhafte Erregung versetzt. Falls der zukünftige König ihre unverheiratete Tochter aussuchte, glaubten sie, es sei so gut wie ein königliches Versprechen, dass diese Verbindung zustande käme. Die reicheren, zynischeren Familien, die bereits bei früheren Gelegenheiten die Verschlagenheit Celimus' erkannt hatten, waren dem königlichen Turnier klugerweise ferngeblieben, wobei sie Krankheit oder einen dringenden Geschäftstermin in einem weit entlegenen Teil des Königreiches vorschoben. Nichts davon kümmerte Celimus. Er wollte heute Nacht das Blut einer einzigen Jungfrau auf seinem Bettlaken sehen, und diejenige war anwesend.
Celimus erschien unter wildem Applaus der unteren 86
Schichten, die kaum etwas von seinem wahren Charakter wussten, auf dem Kampfplatz. Ihnen kam er wie der strahlende zukünftige König vor, der atemberaubende Prinz eines vielgeliebten Herrschers. Sein ausgesprochen attraktives Äußeres, seine scheinbar bescheidene Aufnahme ihrer Jubelrufe und das strahlende, breite Lächeln taten ein Übriges, um die Bevölkerung nicht von ihrer guten Meinung über den Thronfolger abzubringen. Magnus verzog das Gesicht und bemerkte, dass Wyl dasselbe tat. Der König beteiligte sich mit einem halbherzigen Klatschen an der Farce, und als Zugabe sogar mit einem huldvollen Lächeln, doch dahinter verbarg sich kalte Angst. Sein Arzt hatte erst kürzlich die Einschätzung der Überlebenschancen des Königs revidiert. Er glaubte nun nicht mehr, dass Magnus bis zum nächsten Vollmond durchhalten würde - vielmehr hatte er seine Vorhersage so drastisch zurückgenommen, dass er nun annahm, Magnus würde kaum die nächsten Tage überstehen. Es schien, als würde Celimus seinen Willen bekommen, dachte Magnus grimmig. Seine heimliche Hoffnung, dass Wyl obsiegen könnte und dass er eine Lösung für dieses schreckliche Dilemma brauchte, ließ ihn nicht länger verzweifeln. Die Wahrheit war, dass Wyl Celimus besiegen musste. Sein Sohn war bereit, Morgravia in seine dunkelste Zeit zu stürzen, und der König erkannte plötzlich, dass er vollkommen hilflos war und es nicht verhindern konnte. Die beiden Männer führten ihre Klingen erst an die Lippen und kreuzten dann die Schwerter. Das laute metallische Klirren sandte ein erwartungsvolles Zittern durch alle Bürger von Stoneheart, die wussten, welch ausgezeichnetes 86
Kämpferduo sie erwartete. Zwei hervorragende Schwertkämpfer, die, wenn sie Seite an Seite kämpfen würden, als unverwundbar gegolten hätten. Der Zeremonienmeister hatte angekündigt, dass derjenige Sieger wäre, der dem anderen als Erster eine blutende Wunde zufügte. Das waren düstere Nachrichten für Wyl. Er hatte angenommen, dass es sich lediglich um einen Schaukampf handelte. Allerdings war es nun zu spät, sich über die Einzelheiten zu streiten. Er warf einen Blick zu Gueryn und stellte fest, dass das alte, ausdruckslose Gesicht des Soldaten einen krassen Gegensatz zu Alyds deutlich sichtbarer, starker Anspannung darstellte. Wyl musste wegsehen. Er konnte jetzt nichts weiter tun, als mit der Klinge sein Bestes zu geben. Dem König wurde die Aufgabe übertragen, das weiße Leinen fallen zu lassen. Das Taschentuch flatterte zu Boden, und die beiden Kontrahenten zogen augenblicklich ihre Klingen zurück und begannen einander zu umkreisen. Wyl wusste, dass Celimus dieses Vorspiel nicht hinauszögern würde, sondern ohne abzuwarten hart und rasch zustieße. Der Tanz der Schwerter hatte begonnen. Was auch immer Wyl in Größe und Kraft einbüßte, machte er mit List und Schnelligkeit wett. Celimus war leichtfüßig, und seine Hiebe waren so elegant, dass es ein Genuss war, ihm zuzusehen. Er lächelte während des gesamten Kampfes. Die beiden waren so unterschiedlich wie Dunkelheit und Licht. Wyls
Gesicht war zu einer Maske gefroren. Er ließ sich nicht unterkriegen, sondern parierte geduldig jeden Schlag, wobei er wachsam nach einer Lücke in Celimus' Verteidigung suchte. Gueryn hatte stets die raffinierte Art bewundert, in der Wyl sein Schwert zu handha 87
ben wusste. In seinem Stil lag nichts Extravagantes, seine Stöße waren sauber und kraftsparend. Celimus liebte es, sich in einem großen Bogen zu bewegen und ausladende, lässige Hiebe auszuführen, doch dies war ebenfalls Teil seines Geschicks, das Wyl nur zu gut kannte. Er schätzte es, wie Celimus ihn köderte und herausforderte, den Platz auszunutzen, den er ihm bot. Und das wird dein Verderben sein. Gueryns Ratschlag hallte noch so laut in seinem Kopf wider, wie das Geräusch der Klingen in seinen Ohren klirrte. Es war alles, was Wyl nun vernahm; das Gemurmel der Menschenmenge war verklungen. Er war eins geworden mit dem Schwert und schwang es mit blitzartigen Reflexen. Sie begegneten einander auf Augenhöhe, und als der Kampf sich hinzog, konnte keiner der Zuschauer sagen, dass einer der beiden die Oberhand gewann. Das Publikum bestaunte die Anmut des Wettstreits. Die Kontrahenten erschienen ihnen wie perfekt aufeinander eingespielte Tänzer, die jeden Schritt des anderen im Voraus kannten. Selbst Ylena und Alyd, blass vor Sorge, waren verzückt vom Schimmern der Schwerter und der Geschwindigkeit und Anmut ihrer Bewegungen. Wyl machte einen geschickten Sprung zur Seite, als Celimus einen tiefen Angriff vollführte, und dann, zur Überraschung der Zuschauer, wirbelte der General herum, um erneut einem harten Schlag gegen seine Beine auszuweichen und anschließend einen weiteren zu parieren. Funken stoben, als die Klingen zusammenstießen. Es war ein wundervolles Schauspiel - auch wenn Wyl gerade nicht in der Lage war, das anerkennende Stimmengewirr der begeisterten Menschenmenge wahrzunehmen. Er wusste besser als 87
jeder andere, dass er sich mitten in einem tödlichen Zweikampf befand. Der Prinz, der weniger konzentriert war, hörte die Beifallsrufe für seinen Gegner, die ihn ärgerten. Wyl vernahm die fast unmerkliche Veränderung der Atemgeräusche seines Kontrahenten, der nun angestachelt war. Es gab erste Anzeichen, dass sich das Gleichgewicht des Wettstreits verlagerte. Wyl erinnerte sich an Gueryns Warnung davor, sich im Kampf von Gefühlen leiten zu lassen, und übte mehr Druck aus, während er seine Empfindungen immer tiefer in sein Innerstes verdrängte, bis er den Prinzen nicht mehr sah, sondern lediglich einen verschwommenen Fleck von aggressiven Stößen, die er vorhersehen und denen er ausweichen konnte. Der Prinz fiel jedoch zusehends seinen Gefühlen zum Opfer, worunter seine Fähigkeiten litten. »Wyl kann ihn schlagen, nicht wahr?«, flüsterte Ylena Gueryn nervös zu. »Wyl reißt allmählich das Ruder an sich«, erwiderte er trocken und fügte hinzu: »Wenn er so weitermacht, wird der Prinz rasch ermüden, da er viel mehr Kraft aufwendet als dein Bruder.«
Ylena nickte und drückte Alyds Hand noch fester. Wyl machte einen Ausfallschritt, und da er Celimus' Antwort darauf kannte, täuschte er nach links an, um den Stoß zu parieren, der unausweichlich kam. Jetzt sah er die Schweißperlen auf den Augenbrauen des Prinzen, und auch er selbst spürte, wie sich sein Hemd feucht an seinen Rücken schmiegte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Als er zurücktänzelte, folgte ihm der Prinz, zustechend und die Luft zerschneidend. Es schien, als habe Celimus das Gleich 88
gewicht zurückgefunden und seine Stöße ihre natürliche Anmut wiedergewonnen. Beide waren hochkonzentriert; sie bemerkten die gespannte Stille nicht, die das Publikum ergriffen hatte. Der Prinz suchte fortwährend nach einer Blöße in der Deckung seines Gegners, um ihm eine blutende Wunde zuzufügen, doch Wyl verteidigte sich ebenso geschickt. Celimus bewegte sich auf einmal in einem großen Bogen zur Seite und führte einen weit ausholenden Schlag, wobei er eine Seite seines Körpers vollkommen ungedeckt ließ, die schier danach flehte, getroffen zu werden. Wyl war in Versuchung geführt - es wäre so einfach! -, doch dann erinnerte er sich an Gueryns warnende Worte und bewegte sich ebenso nachdrücklich in dieselbe Richtung wie sein königlicher Gegner, überging die Einladung und überraschte den Prinzen mit einem harten, von oben kommenden Schmetterschlag. Rasend vor Wut machte Celimus kurze zornige Sprünge nach vorne. Immer weiter vorpreschend, hämmerte er auf Wyls Klinge ein und versuchte, seinen kleineren Widersacher mit roher Gewalt einzuschüchtern. Sah er da ein Grinsen auf Thirsks Gesicht? Ja, verdammt noch mal. Nun, er hatte noch ein paar Überraschungen auf Lager und setzte zu einer brillanten Reihe von Drehungen und Sprüngen an, um das Publikum zu beeindrucken, das seine Zustimmung hinausschrie. Ylena schnappte ein Murmeln von Gueryn auf. Er schien leise etwas vor sich herzusagen. Sie lauschte ihm gebannt. »... der Magier, Wyl, benutz den Magier ...« Celimus drängte noch weiter nach vorn, schwang das Schwert in harten Stößen, schob den General zurück in ei 88
ne Ecke der Arena und gewann scheinbar die Oberhand, als Wyl seine Chance kommen sah - und ihm die komplizierte Hiebabfolge eines äußerst schwierigen Manövers in den Sinn kam. Es wäre möglich. Celimus, der in seiner arroganten Zuversicht glaubte, als Sieger aus dem Kampf zu gehen, wäre nicht in der Lage, sich zu verteidigen, denn er vernahm innerlich schon jetzt den Applaus und war längst nicht mehr so aufmerksam wie noch vor einer Minute. Gueryn nannte es »den Magier«, zu Ehren von Fergys Thirsk, der das Manöver entwickelt und es in vielen Schlachten mit vernichtenden Folgen eingesetzt hatte. Der ältere Soldat hatte Wyl in diese Kunst eingeführt, seinen Schützling jedoch gewarnt, dass nur die geschicktesten Schwertkämpfer es in einer echten Kampfsituation anwenden konnten -und auch den Mut dazu besäßen. Bei
diesem Manöver musste man sich fortwährend neu auf den Gegner einstellen, und viele vergaßen in der Hitze des Gefechts eine der eng miteinander verwobenen Bewegungen. »Der Zweck ist, den anderen zu verwirren«, hatte Gueryn während ihrer privaten Lehrstunde erklärt. Und Wyl würde den Magier nun anwenden. Wagemutig wechselte er das Schwert von der rechten in die linke Hand. Überrumpelt von dem eigenartigen Zug, zögerte Celimus kurz. Wyl stieß zu, und der Prinz konnte im letzten Augenblick parieren, doch durch den Schlag verlor er ein wenig das Gleichgewicht. Wyl warf das Schwert von einer Hand in die andere und nutzte dabei jede Gelegenheit, einen Hieb auszuführen. Plötzlich blieb Celimus nichts anderes übrig, als sich zu verteidigen und den blitzartigen, scheinbar willkürlichen Schlägen von beiden Seiten auszuweichen. 89
Der Atem des Prinzen kam nun stoßweise. Mit einem letzten Wurf seiner Klinge in die linke Hand schwang Wyl seine Waffe hart gegen die Rechte des Prinzen, da er ihm den Schwertarm aufritzen wollte. Doch Celimus war immer noch erschreckend schnell und parierte in letzter Sekunde, wobei sich ihre Klingen vor ihren verzerrten Gesichtszügen zitternd kreuzten. Jetzt ging es nur noch darum, wer der Stärkere war. Ihre Gesichter berührten einander beinahe, als sie sich gegeneinander stemmten. »Ergib dich«, flüsterte Celimus heiser. »Geh zum Teufel!«, erwiderte Wyl. »Ergib dich auf der Stelle, oder diejenigen, die du liebst, werden sterben. Und lass es echt aussehen, andernfalls werde ich mit le Gant beginnen.« Die unerwartete Drohung traf Wyl mit solcher Wucht, dass er sofort handelte. Er täuschte ein Stolpern vor, taumelte vom Prinzen zurück und ließ dabei sein Schwert fallen. Stille legte sich über die Arena. Alle hielten den Atem an und fragten sich verwundert, wie der General nach einer solch ausgezeichneten Vorführung seines Geschicks auf einmal derart tollpatschig sein konnte. »Gute Entscheidung, Thirsk«, murmelte der Prinz gerade laut genug, damit sein Gegner ihn hören konnte. Er lächelte breit, bevor er sein Schwert virtuos von Wyls Schulter in einer diagonalen Linie über seinen Körper gleiten ließ. Durch den Riss in Wyls Hemd quoll rotes Blut. »Sieger!«, rief Celimus stolz und ermutigte die Menschenmenge, seine Leistung zu würdigen. In ihrer Fassungslosigkeit kamen sie seiner Aufforde 89
rung nach, warfen die Hüte in die Luft und applaudierten lautstark, obwohl keiner der anwesenden Soldaten in ihren Jubel einstimmte. Stattdessen waren ihre Augen auf die gepeinigte Figur ihres Generals geheftet. Gueryn war der Erste an Wyls Seite. Er wusste, dass die Verletzung nur oberflächlich, aber wirkungsvoll war. Wyl würde zwar eine Narbe zurückbehalten, doch die brennende Schnittwunde würde sein Leben ebenso wenig bedrohen, als hätte er sich an einem Rosendorn gestochen. »Tu, was du tun musst«, ermahnte er Wyl.
Dieser kam allmählich wieder zur Besinnung und zwang sich, vor seinem Gegner eine Verbeugung zu machen, seine Waffe aufzuheben und dann erneut das Schwert an die Lippen und schließlich gegen die Waffe des Prinzen zu drücken. Dies kündete das Ende des Wettkampfes an. Celimus stolzierte nun mit geschwellter Brust umher und genoss den Beifallssturm. »Er sagte, er würde euch umbringen, wenn ich mich nicht ergebe«, stöhnte Wyl und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich habe so etwas Ähnliches erwartet«, gestand Gueryn, als der Zeremonienmeister zu reden ansetzte. »Nun komm schon.« »Eure Majestät«, sagte der Sprecher, während er sich in Magnus' Richtung verbeugte, der es kaum wahrnahm. »Mein Prinz.« Er drehte sich und verbeugte sich nun vor Celimus. »Sehr verehrte Lords, Ladys und alle, die sich zu diesem festlichen Ereignis versammelt haben. Ich bitte Euch erneut, Eure Wertschätzung für die beeindruckende Zurschaustellung eines Schwertkampfes auszudrücken, von dem ich wohl behaupten kann, dass niemand von uns 90
jemals etwas Besseres miterleben wird. Ich bin sicher, Ihr könnt alle zustimmen, dass Briavel und alle, die uns je herausfordern könnten, es sich zweimal überlegen werden, wenn dies der Standard unserer jungen morgravianischen Krieger ist!« Die Menschenmasse brach bei diesen ganz bewusst gewählten, provokativen Worten in wilden Beifall aus. Als sich der Lärm ein wenig gelegt hatte, fuhr der Mann fort: »Wie Ihr alle wisst, gibt es eine besondere Belohnung für den Gewinner dieses einzigartigen Wettkampfes.« Gemurmel erhob sich in den Zuschauerrängen. »Prinz Celimus hat mit der Zustimmung seiner Majestät, König Magnus, den uralten Ritus des Jungfrauenbluts wieder eingeführt.« Das Gemurmel verwandelte sich in laute Diskussionen. Ylena spürte, wie ihr die Knie zitterten, als Celimus verschlagen in ihre Richtung blickte. Die kühle Luft, die seinen heißen Körper umwehte, ließ einen zarten Dampfschleier von ihm ausgehen. Er stand stolz und majestätisch da. Sein Hemd war offen und gab seine breite, unbehaarte Brust preis. Ylena war nicht die Einzige, die seine zerzauste, jedoch gleichzeitig so sinnliche Erscheinung wahrnahm. Allerdings war sie wohl eine der wenigen am Hofe - vielleicht sogar die einzige der anwesenden Damen -, deren Blut durch seinen Anblick nicht in Wallung geriet. Der Zeremonienmeister war nun fast fertig, den Ritus zu erklären: »... weshalb mir jetzt nichts weiter zu sagen bleibt, als unseren hoch verehrten Prinzen aufzufordern, seine Wahl zu verkünden«, beendete er seine Ausführungen, wobei er vor Zufriedenheit strahlte, die Menschenmenge derart lange in seinem Bann gehalten zu haben. Wyl, der den brennenden Schmerz kaum wahrnahm, 90
den die Klinge seinem Körper zugefügt hatte, warf Alyd einen vorsichtigen Blick zu.
Celimus beruhigte die aufgeregte Meute. »Das stellt mich vor eine schwierige Wahl. Seht Euch nur die wunderschönen jungen Damen des Hofs an, und Ihr werdet mir zustimmen, dass keine es verdient hätte, übergangen zu werden«, sagte er großmütig. Magnus, erschöpft und traurig darüber, wie sich alles entwickelt hatte, betrachtete das quadratische Leinentuch auf dem Rasen. Er hätte lediglich die Hand heben müssen, um diesem Ereignis Einhalt zu gebieten, doch nach seinem Tod gäbe es niemanden, der seinen Sohn in die Schranken wiese, und er musste die Folgen abwägen, die eine derartige Beleidigung Celimus' nach sich ziehen würde. Magnus wusste, dass er höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten Tage sterben würde, vielleicht sogar schon in dieser Nacht. Er musste Morgravia in einem starken Zustand vererben. Wenn er Celimus jetzt überstimmte, war nicht abzusehen, was geschähe oder wer es noch für möglich hielte - eingeschlossen Valor von Briavel -, einen Angriff zu wagen, wenn der Junge noch verletzlich war. Nein, er musste schweigen und dieses schreckliche Ereignis seinen Lauf nehmen lassen. Celimus musste den Thron mit dem Gefühl besteigen, unverwundbar zu sein. Nach diesem öffentlichen Sieg war er beim Volk beliebter als je zuvor, weshalb es wenigstens vorerst umsichtig wäre, schlafende Hunde nicht zu wecken. Trotz Magnus' böser Vorahnungen musste Wyl selbst entscheiden, ob und wann er einen Staatsstreich durchführte. Nur Morgravia spielte im Moment eine Rolle, und das hier war das letzte Opfer, das der alte König seinem Reich brachte. Inständig flehte er, dass 91
Celimus den uralten Ritus nie wieder benutzen würde. Dennoch, so machtlos, wie sich Magnus fühlte, ersann er im Licht dieses Wettstreits einen Weg, wie er den Machtkampf zwischen dem neuen König und dem General ein wenig ausgleichen könnte. Wyl wäre nicht so leicht zu versöhnen, sollte Celimus die Dummheit besitzen, Ylena als seinen Preis zu bestimmen. Magnus riss sich aus seiner Grübelei und schenkte Celimus' galanter Rede wieder seine volle Aufmerksamkeit. »... weshalb ich um Nachsicht bitte und mich bei all den anbetungswürdigen jungen Damen entschuldigen möchte, die ich heute nicht auswählen kann.« Der Prinz grinste, während er mit einer auslandenden Handbewegung über die Zuschauerreihen zeigte, wo der Adel saß, und gleichzeitig das amüsierte Gekicher der Mädchen genoss, die sich offensichtlich große Mühe gegeben hatten - oder wenigstens die Mütter, die einen sozialen Aufstieg erhofften -, so verführerisch wie möglich zu wirken. »Ich habe Lady Ylena Thirsk von Argorn ausgewählt«, sagte er, und sein dunkler Blick glitt zu der einzigen Frau, die lieber gestorben wäre, als ihre kostbare Unschuld einem derart teuflischen Mann zu schenken. Er ging auf Ylena zu, die nicht weit von König Magnus entfernt stand. Der alte Herrscher schloss die müden Augen, als er den Namen seines Mündels vernahm. Celimus stellte sicher, dass er ihr die Hand in einer eleganten Geste reichte, was auf das Publikum anmutend und flehentlich wirken musste, Alyd hingegen an ein Raubtier erinnerte. Der Prinz blieb vor Ylena stehen, wobei er
ihren niedergedrückten, blutenden Bruder und den empörten Alyd Donal keines Blickes würdigte. 92
Der Thronfolger hatte nicht vor, Zeit zu vergeuden. Er würde sie ohne Umschweife in sein Bett zerren und es genießen, nicht nur seine Leidenschaft an einer solch anmutigen Frau auszuleben, sondern eine Klinge in das Herz der beiden Männer zu stoßen, von denen er wusste, dass sie ihn mehr als jeden anderen Menschen hassten. Wer sich ihm widersetzte, sollte heute eine harte Lektion erteilt bekommen, und zwar zu Recht, denn in nicht allzu ferner Zukunft würde er den Thron besteigen. Celimus verneigte sich höflich. »Mylady«, sagte er, ohne die diebische Freude über seine hinterhältige Brillanz unterdrücken zu können. »Prinz Celimus«, erwiderte Wyl, trat zu ihm und verneigte sich tief vor dem Königssohn. Dann wandte er sich an Magnus. »Majestät, ich hoffe, Ihr vergebt mir meine Einmischung?« Magnus schlug die Augen auf und nickte. Er wagte nicht zu glauben, dass Wyl seinen Wink verstand und Celimus daran hindern würde, die zarteste Blume in ganz Stoneheart zu deflorieren. Wyl straffte die Schultern. »Sire, entschuldigt vielmals, aber da muss es ein Missverständnis gegeben haben.« »Oh?«, antwortete Magnus, in dessen Herz auf einmal Hoffnung aufwallte. Wyl nickte ernst und sah Celimus an. »Mein Prinz, als ihr einziger lebender Verwandter kann ich dir nicht gestatten, Ylena auszuwählen.« Celimus' Lächeln erstarb und verwandelte sich in ein spöttisches Feixen. »Ich glaube kaum, dass sich deine familiären Bande über einen königlichen Befehl hinwegsetzen können, Thirsk. Tritt beiseite.« 92
Gueryn verengte die Augen zu Schlitzen. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, was hier vor sich ging, und betete inständig, dass Wyl wusste, was er da tat. »Nein, mein Prinz, das kann ich leider nicht. Du verstehst die Tragweite meiner Aussage nicht. Nicht ich verbiete dir, mit meiner Schwester zu schlafen, sondern das Gesetz unseres Landes.« Celimus wollte diese Verzögerungstaktik nicht länger erdulden. Er war erschöpft und verschwitzt. Rachegelüste gegen die Thirsk-Familie pulsierten in seinen Adern, ebenso wie die süße Vorfreude, sich mit der jungen Frau zu vergnügen, die vor ihm stand. »Gesetze! Und welches Gesetz wäre das, Thirsk?« »Die Unantastbarkeit der Ehe, mein Prinz«, sagte Wyl, dessen Gesicht absichtlich bekümmerte Verwirrung zeigte. »Es tut mir leid, Sire, aber wusste hier niemand davon?« »Von was wissen?«, stammelte Celimus, der zwischen seinem Vater und der zunehmend selbstgefälligen Miene der Thirsks hin und her blickte. Alyd trat dazwischen. »Vielleicht kann ich es erklären, mein Prinz. Ihr müsst verstehen, dass ich Euch nicht gestatten kann, mit meiner Frau zu schlafen.« »Deiner Frau!«, brüllte Celimus, dessen Körper vor unsäglicher Wut zitterte. Gueryn, der hinter ihm stand, verstand und begann zu feixen.
Alyd nickte. »Ja. Ylena und ich sind verheiratet. Ich entschuldige mich vielmals bei allen, aber wir dachten, der redselige Priester hätte es schon in ganz Stoneheart verkündet«, sagte er grinsend und nahm Ylenas Hand. »Wir wa 93
ren so in andere eheliche Pflichten vertieft, dass wir vollkommen vergessen haben, die frohe Botschaft bekannt zu geben, auch wenn wir vorhatten, später die formelle Ankündigung zu machen.« Wyl wagte, über Alyds zuckersüßes Benehmen zu lächeln. »Holt den Priester!«, forderte Celimus, und ein Page wurde geschickt, um eiligst nach dem Mann zu suchen. »In der Zwischenzeit könntest du mir verraten, Ylena, wann diese Hochzeit stattgefunden hat.« Ylena machte einen höflichen Knicks vor Celimus. »Unsere Heirat fand gestern statt, Mylord Prinz, ein wenig früher als geplant.« Ihre Augen waren eher auf den König als auf Celimus gerichtet, während sie sprach. »Und ich kann mit Sicherheit dafür bürgen, dass meine Gattin keine Jungfrau mehr ist, vielleicht sogar schon mein Kind unter dem Herzen trägt«, sagte Alyd und wirkte, als sei er ein wenig gewachsen. »Du wusstest davon, Thirsk?«, fragte Celimus ungerührt. Seine Stimme war barsch und tief. »Mein Prinz, du musst mir vergeben. Ich habe meine Schwester mit Freude an ihren Verlobten übergeben, eine Ehre, die ebenfalls von der Krone sanktioniert war. Niemals hätte ich geahnt, dass sie deine erste Wahl sein könnte. Aber andererseits, wie du selbst gerade bemerkt hast, ist jede junge Maid hier auf ihre eigene Weise reizend. Ich bin sicher, du wirst keine Schwierigkeiten haben, eine neue Wahl zu treffen.« Der Priester eilte herbei, blass und zitternd. Nervös fuhr er sich mit den plumpen Händen über den Mund. »Antworte mir mit einem Wort, Priester. Hast du Ylena 93
Thirsk von Argorn mit Alyd Donal von Felrawthy verheiratet?«, wollte Celimus ungehalten wissen. »Ja«, erwiderte der Geistliche bibbernd und fügte dann hinzu: »In der Kapelle von Stoneheart.« Celimus schloss kurz die Augen, und man hätte fast glauben können, seine Gesichtszüge seien schmerzverzerrt. »Wann?« Sein Ton war beißend. »Gestern Morgen, Eure Majestät. Es war eine private Zeremonie, bei der nur die Braut, ihr Bruder und Kommandant Donal zugegen waren. Das entsprach ganz den Wünschen des Generals«, sagte er und wandte sich mit einem flehenden Blick zum König. »Du kannst jetzt gehen«, entgegnete Celimus, der seine brennende Wut kaum im Zaum halten konnte. »Vater, du bist der gesetzliche Vormund von Ylena. Ich nehme an, du hast dein schriftliches Einverständnis für diese Ehe gegeben?« Magnus überlegte, wie er seinem Sohn am besten antworten konnte, ohne die Thirsk-Familie zu verraten. Er blickte zu Orto, und es war sein ruhiger, besonnener Sekretär, der ihm zu Hilfe eilte.
»Sire«, sagte Orto ruhig. »Ich kann mich erinnern, dass die Papiere vor zwei Tagen unterschrieben wurden. Es war eine kurze Anhörung, da Ihr Euch unwohl fühltet. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, habt Ihr Eure Unterschrift nur auf zwei Pergamente gesetzt. Die Zustimmung zu dieser Eheschließung war eines davon.« »Ah, da hast du es, mein Sohn«, sagte Magnus, doch Celimus hatte sich bereits umgedreht und zur allgemeinen Freude der Menschenmenge auf eine junge Frau aus dem Adel gezeigt, bevor er sich rasch von der Thirsk-Familie entfernte. 94
Wyl sah Magnus an, der beinahe unmerklich nickte. Sein Mund verzog sich kaum sichtbar zu einem leichten Lächeln. Wirklich gerissen, junger Wyl, dachte er. Dann wandte er sich an Orto. »Nun komm, Orto. Ich nehme an, auf uns wartet wichtiger Papierkram.« »Ja, Sire«, sagte der Mann, dessen beflissene Miene sich nicht verändert hatte. »Lasst mich Euch stützen.« 94
8
AN JENEM ABEND waren Alyd und Wyl in ausgelassener Stimmung. Mit einigen der Soldaten brachen sie den Trinkrekord der Legion und ließen eine immer größer werdende Anzahl der Männer in den Straßen zurück, wo sie würgend zusammenbrachen und auf der Stelle einschliefen, zu betrunken, um weiterzugehen. Die Nacht des Turniers war die einzige Gelegenheit, die Soldaten der Legion ein solch würdeloses Verhalten gestattete. »Lasst sie zurück!«, rief Alyd über die Schulter und taumelte in Wyl hinein. »Sind eben zu schwach. Und jetzt hört mir zu, alle, die noch stehen können«, grölte er. »Ich habe General Thirsk mein Wort gegeben, dass ich ihn in die Alley bringe, damit man ihm dort seine Zukunft voraussagt.« Laute Zustimmungsrufe folgten, und Wyl, der immer noch wie beflügelt von Ylenas knapper Flucht war, fügte sich seinem Schicksal und ließ sich von dem fröhlichen, angetrunkenen Strom glücklicher Soldaten mitreißen, die die ausgelassene Feststimmung des Turniers verlängern wollten. Es war ihm gelungen, Celimus' teuflische Drohung, all jene zu verletzen, die er liebte, zu verdrängen, und er fand es sogar ein wenig albern, die Einschüchterung je für bare 94
Münze genommen zu haben. Die Gruppe bog ins Alley ein, in der immer noch das pralle Leben pulsierte. »Na schön, Jungs. Wir müssen die Witwe sowieso oder wie auch immer finden«, sagte Alyd mit verschwommenen roten Augen und grinste schief. »Die Witwe Ilyk«, berichtigte ihn Wyl, der weit weniger angetrunken war als seine Freunde. »Der Erste, der sie findet, erhält einen Silbertaler für seine Bemühungen«, schrie Alyd und hielt die Münze hoch. Die Soldaten eilten in verschiedene Richtungen davon, mehr aus Spaß an der Sache als dem Wunsch, noch mehr Geld für Getränke auszugeben.
Ein kleiner Junge, der einen seltsamen Geruch ausströmte, trat aus der Menschenmenge hervor und packte Wyl am Hemd. »General, Sir, ich weiß, wo das Zelt der Witwe ist.« »Dann kannst du dir den Silbertaler verdienen«, sagte Alyd, der ein wenig wacklig auf den Beinen war. »Kannst du uns hinführen?« »Folgt mir«, sagte der Junge strahlend. »Wie alt bist du?«, fragte Wyl, der auf einmal bemerkt hatte, dass Knave neben dem Jungen aufgetaucht war. »Zehn Sommer, General, Sir.« »Nenn mich Wyl.« »Das könnte ich niemals, Sir.« »Wie soll ich dich denn nennen, junger Führer?«, wollte Wyl wissen, der den eigenartigen Gestank ignorierte und die kleine Hand des Knaben nahm. Der Junge beäugte ihn. »Ich heiße Fynch, General.« Sie gingen weiter, und Alyd rief einigen der Männer zu, dass sie ihre Suche einstellen und ihnen folgen sollten. 95
Wyl betrachtete das magere Kind, das große, seltsam wissende Augen besaß. »Lebst du in Pearlis, Fynch?« »Ja, Sir. Und ich arbeite in Stoneheart«, sagte er stolz. »Ich verstehe. Und was ist deine Aufgabe?« »Ich bin Kanaljunge, Sir«, sagte er selbstbewusst. »Seit ich vier bin, säubere ich die Abwasserkanäle des Palasts, doch ich bin vor Kurzem befördert worden und kümmere mich nun um die königlichen Aborte. Ich kann Euch also versichern, dass ich meinen Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit bestreite.« »Nun, das erklärt auf jeden Fall deinen recht seltsamen Geruch, Fynch«, sagte Alyd freundlich. »Und du wirst morgen sicherlich eine Menge zu tun bekommen, da Prinz Celimus' Lokus heute Nacht ein wahrlich königliches Training erhält, wenn ich mich nicht täusche.« Fynch verstand den Witz nicht, doch er fiel in das Gelächter der Männer ein, außer sich vor Freude, in der Gesellschaft des Generals zu sein, den er schon seit vielen Jahren bewunderte, und glücklich darüber, dass Wyl der Erste war, der keine Bemerkung darüber gemacht hatte, wie winzig er für sein Alter war. »Hier ist es, Sir«, sagte er, als sie das gesuchte Zelt erreichten, das jetzt noch geheimnisvoller aussah. Laternen aus vielfarbigem Glas waren entlang der Planen aufgereiht, und die Kerzen darin schickten rote, blaue und grüne Funken in das Dunkel der Alley. »Glaubst du an Wahrsagerei?«, fragte Wyl den Jungen. »Ich glaube, die Witwe macht das nur, weil es ihr Spaß macht«, gestand Fynch und blickte Wyl im nächsten Moment tief in die Augen. »Aber wenn Ihr wissen wollt, ob ich daran glaube, dass manche Menschen Dinge sehen kön 95
nen ... ob manche Menschen das zweite Gesicht besitzen, dann ja.« »Lästerliches Kind!«, sagte Alyd theatralisch. »Sieh dich lieber gut nach Hexenjägern um«, fügte er hinzu, hielt jedoch mit seinem Scherz sofort inne, als er Wyls gequälten Gesichtsausdruck bemerkte. »Nun schön, wer ist der
Erste?«, rief Alyd. Die Männer hoben alle gleichzeitig die Hand und drängten betrunken ins Zelt. Alyd schnippte dem Jungen die Münze zu. »Danke, Fynch.« »Vielen Dank, Kommandant«, antwortete er. »Kann ich Euch vielleicht noch bei etwas anderem behilflich sein, General?« »Nein. Du warst uns bereits eine große Hilfe. Ich bin sicher, dass wir uns bald mal im Schloss sehen.« »Das wäre mir eine Ehre. Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich hier auf Euch warte?« Wyl lächelte. Er vermutete, dass der Junge kein Zuhause hatte, und war fasziniert, wie eng sich Knave an das Kind schmiegte. »Das würde mir überhaupt nichts ausmachen. Du kannst später mit uns zurückgehen. Vielleicht brauche ich dann ja Hilfe mit meinem Freund.« Er warf einen Blick auf Alyd, der schwankend am Eingang stand. »Ich werde hier auf Euch warten, Sir«, sagte Fynch und ließ sich im Schneidersitz ins Gras fallen, neben den großen schwarzen Hund des Generals. Wyl und Alyd waren die Letzten, die von der Wahrsagerin angesprochen wurden. Zu diesem Zeitpunkt war der Rest der Soldaten bereits hinausgewankt, immer noch betrunken und anscheinend kein bisschen klüger durch die Ratschläge, die sie erhalten hatten. Dies überraschte ihren 96
Kommandanten jedoch nicht. Niemand nahm eine Wahrsagerin ernst. »Jahrmarktsgaunereien, General«, sagte er mit einem benommenen Lächeln. »Das ist doch alles nur Spaß für die jungen Leute.« »Kommt herein«, hörten sie die Frau rufen. Wyl warf Fynch einen schicksalsergebenen Blick zu, bevor er und Alyd den Zeltstoff beiseiteschoben und den schwach beleuchteten Innenraum betraten. »Willkommen«, begrüßte sie die beiden. Wyl starrte die alte Frau an, die vor ihnen stand und sich selbst Witwe Ilyk nannte. Er erschrak, als er begriff, dass sie blind zu sein schien und ihre Augen durch irgendeine Erkrankung fast weiß waren. Der Rest ihres Gesichts war unscheinbar. Gewöhnliche Gesichtszüge, die auf vielen Reisen stark der Sonne und dem Wind ausgesetzt gewesen sein mussten. Infolgedessen war die Witwe braun gebrannt, und ihre Haut sah aus wie wettergegerbtes Leder. Sie trug keinen Schmuck, und ihre dunkelbraune Kleidung war einfach und geschickt zusammengeflickt. Aus irgendeinem Grund hatte Wyl sie sich in einem farbenfrohen Gewand und mit unzähligen Glückssteinen und Armbändern behangen vorgestellt. Anscheinend war dem Kommandanten in seinem benebelten Zustand derselbe Gedanke durch den Kopf gegangen. »Was, kein protziges Kostüm für uns, Witwe?« Alyd gab vor, enttäuscht zu sein. »Ich bin es leid«, erwiderte sie, wobei ihr milchiger Blick Wyl festhielt. »Ich habe es den ganzen Tag über getragen. Diese Kleider sind heiß und schwer.« Sie grinste und offenbarte einige Lücken zwischen den fleckigen Zähnen. »Ach, 96
aber die Leute genießen dieses Schauspiel, und ich bin hier, um sie zufriedenzustellen. Würdet Ihr es vorziehen, wenn ich wieder in das Gewand schlüpfte?« »Nein«, entgegnete Alyd und hielt abwehrend die Hände hoch. Er sah sehr wackelig auf den Beinen aus. »Macht Euch unseretwegen keine Umstände. Ich habe meinen Freund hier mitgebracht - nur so zum Spaß.« Alyd rülpste und wippte auf den Fersen hin und her. Wyl entschied, dass es an der Zeit war, ihn nach Hause zu bringen. Peinlich berührt sah er zur Wahrsagerin. »Reist Ihr allein?«, erkundigte er sich, da er nicht wusste, was er sonst fragen sollte. Tastend humpelte sie zu einem Sessel. »Meine Nichte hilft mir. Sie ist heute Abend nicht hier«, antwortete sie und schien in die Ferne zu blicken. »Ihr beiden wart heute schon einmal hier, nicht wahr?« »Woher wisst Ihr das?«, lallte Alyd, der gefährlich wankte. »Ich habe nur geraten.« Sie lachte in sich hinein und wechselte das Thema. »Junger Mann, wärt Ihr so freundlich, das Schild unter dem Tisch dort vor mein Zelt zu hängen? Ich denke, ich mache Schluss für heute Nacht.« Wyl kam ihrer Bitte nach. Als er zurück zu dem schwach beleuchteten Bereich am Fenster kam, saß Alyd bereits der Wahrsagerin gegenüber, die seine Finger in ihre riesigen, verrunzelten Hände genommen hatte. Blaue Adern durchzogen ihre Handrücken, und ihre zu großen Knöchel deuteten darauf hin, dass sie an einem Gelenkleiden erkrankt war. Als könne sie seine Gedanken lesen, sagte sie: »Ach, der Schmerz in meinen Fingern ist heute besonders schlimm.« 97
Alyd zwinkerte Wyl verschmitzt zu. »Was könnt Ihr mir erzählen, alte Frau?«, murmelte er. »Was wollt Ihr wissen?« »Erzählt mir von Kommandant Alyd Donal, dem glücklichsten Ehemann in ganz Morgravia«, sagte er mit einer ausladenden Handbewegung und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. »Nun, ich kann sehen, dass Ihr heute zu viel vom guten Bier des Königs getrunken habt. Und für die Zukunft sehe ich schreckliche Kopfschmerzen und schlechte Laune voraus«, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Alyd versuchte, sich auf die Wahrsagerin zu konzentrieren, doch sein Gesichtsausdruck zeugte von Verwirrung. »Wisst Ihr was, Witwe, ich glaube, Ihr habt recht.« Er hicks-te - ein Zeichen seines bevorstehenden Verhängnisses. »Ihr seid tatsächlich eine weise Frau«, sagte er, und auf einmal war ihm schrecklich übel. »Würdet Ihr mich bitte entschuldigen, ich glaube, das Bier fordert seinen Tribut.« Und mit diesen Worten rannte er aus dem Zelt. Wyl wirbelte überrascht herum, sah ihn hinauswanken und drehte sich dann verlegen zu der Frau um. Er wünschte, er könnte ebenfalls gehen. Sie kicherte erneut. »Und nun zu dem ruhigen Freund«, sagte sie, wobei ihre weißen Augen einen Punkt über seiner Schulter anstarrten. Wyl zuckte die Achseln. Welchen Schaden könnte es schon anrichten? Er setzte sich hin und reichte ihr die Hände, die sie allerdings nicht ergriff. Er wagte eine persönliche Frage. »Seid Ihr blind?«
»Beinahe. Ich sehe alles wie durch einen dichten Schleier. Allerdings habe ich mich nie auf meine Augen verlassen 98
müssen.« Im Zelt war es still geworden, als Wyl die Bedeutung ihrer Worte erfasste. Unbehagen beschlich ihn. Andeutungen von Magie hinterließen ein ungutes Gefühl in ihm. Sie schien jedoch nicht in Eile zu sein. »Woher kommt Ihr?« »Argorn«, erwiderte er. »Und Ihr?« »Nicht aus diesem Teil des Landes. Meine Heimat liegt weit im Norden - eine unbekannte Stadt namens Yentro. Nun, was wollt Ihr wissen?« Wyl hob bei ihrer Frage die Schultern. Er war jetzt hier und nahm an, sie würde ihn nicht von dannen ziehen lassen, ohne aus seiner Hand gelesen zu haben. Eigentlich wollte er ihr sagen, dass er wusste, dies alles sei nur ein großer Spaß, doch ihr eindringlicher, ernster Gesichtsausdruck zwang ihn zum Mitspielen. »Warum erzählt Ihr mir nicht meine Zukunft?« »Pah! Ich bin keine einfache Wahrsagerin. Diesen Zirkus veranstalte ich nur für die Betrunkenen.« Er ergriff seine Chance. »Vielleicht sollte ich dann lieber gehen?« »Bleibt. Ihr fasziniert mich. Euch umgibt eine besondere Aura.« Jetzt musste Wyl lachen. Er hörte lautes, kränkliches Stöhnen von Alyd, der sich draußen vor dem Zelt befand, und hielt es für das Beste, sich zu verabschieden. »Ich verspreche Euch, Witwe, dass mich niemand bisher faszinierend gefunden hat.« Diesmal erwiderte sie sein Lächeln nicht. »Sagt mir, glaubt Ihr an übernatürliche Dinge?« »Zum Beispiel?« »Das zweite Gesicht«, entgegnete sie vorsichtig. 98
»Nein. Aber hier ist die Münze, die ich Euch schulde, da Ihr uns erlaubt habt, Euer Zelt zu betreten. Ich glaube jedoch, ich sollte mich nun um meinen kranken Freund kümmern.« Wyl drückte ihr das Geld in die Hand und war betroffen, als sie bei seiner Berührung zusammenzuckte. »Was ist los?«, fragte er entrüstet. Sie antwortete nicht. Stattdessen entrang sich ein leises Wehklagen ihrer Kehle. »Witwe!«, rief er. »Was plagt Euch?« Die alte Frau begann zu wanken und brach dann in einen weichen, geheimnisvollen Singsang in einer Sprache aus, die Wyl nie zuvor gehört hatte. Er schreckte vor ihr zurück. »Ich werde nun gehen.« Sie schien aus ihrem eigenartigen Traum erwacht zu sein. »Wartet!«, zischte sie. »Ich muss es Euch sagen.« »Mir was sagen?« »Gebt mir Eure Hände!«
»Nein! Ich möchte das nicht. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich heute Nacht hergekommen bin.« »Weil Ihr erleichtert wart.« »Von was redet Ihr?« »Dass Ihr seinen Plan vereitelt habt«, erwiderte sie, und ihr milchiger Blick verharrte nun auf seinem überraschten Gesicht. Wyl setzte sich wieder hin. »Erzählt mir mehr«, befahl er. Sie schüttelte den Kopf, und ihr ausdrucksloses Starren wanderte an ihm vorbei. »Nichts davon spielt eine Rolle. Auch nicht, dass ich es weiß. Nur eines ist wichtig.« Wyl war jetzt verwirrt. »Ich verstehe nicht, was Ihr da sagt.« 99
»Hört mir gut zu, Wyl Thirsk«, sagte sie mit leiser und ernster Stimme. »Ich habe Euch nie meinen Namen ge...« »Schsch! Ich habe große Schmerzen und nur die Kraft, dies einmal zu sagen. Hört mir gut zu. Ich bin eine Seherin und spreche die Wahrheit. Behaltet Euer Geld - ich gebe meinen Rat kostenlos, wenn jemand von Magie berührt wurde.« Er wollte ihr ausweichen, doch sie packte seine Hand. Ihr Griff war fest. »Eine gefährliche Reise liegt vor Euch, mein Sohn, und dabei werdet Ihr von etwas Dunklem begleitet, das nicht Euer Freund ist.« Wyl verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Hört mir genau zu«, fuhr sie fort. »Es kann Euch zerstören, oder Ihr benutzt es weise zu Eurem eigenen Vorteil. Es kennt keine Treue, keinen eigenen Rhythmus. Es kümmert sich um nichts als sich selbst.« »Gute Frau ... wovon redet Ihr da nur?« »Ich rede von der Verwandlung«, blaffte sie ihn an. »Es ist Myrrens Geschenk, das sie Euch gemacht hat, bevor sie starb. Ihr müsst Euch in Acht nehmen, Wyl Thirsk.« Verwandlung?, wiederholte Wyl im Stillen. »Was soll das sein?« »Manch einer mag es als einen Fluch betrachten, doch Myrren hat es zu ihrem Geschenk gemacht.« Bis zu diesem Augenblick war Myrren für den General nichts weiter als eine wunderschöne und tragische junge Frau gewesen. Von einer Fremden zu hören, dass sie besondere Kräfte gehabt haben soll, war eigenartig. »Ihr Geschenk an mich war ein Hund«, sagte er rundheraus. 99
Sie nickte jetzt. »Er ist ein Teil davon. Knave wird Euch und die wahre Gabe, die sie Euch schenkte, beschützen.« Wyl bedrängte sie. »Wie könnt Ihr von alldem wissen?« Verwirrt schüttelte er den Kopf. Wie konnte sie seinen Namen, den des Hundes oder auch nur Myrrens Namen erahnen? Er nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. »Wie soll ich es benutzen?« »Da kann ich Euch keinen Rat geben. Ihr müsst die Gabe so benutzen, wie Ihr es für richtig haltet.« »Wann werde ich wissen, dass sie da ist?«
»Sie ist schon längst in Euch. Sie existiert in diesem Moment.« Sie hustete gequält. »Was tue ich damit, Frau? Sagt schon!«, flehte er sie an. Er ängstigte sich vor ihren Worten. »Das werdet Ihr wissen, wenn die Zeit reif ist, obwohl ich in dem wirbelnden Rauch eine bedeutende Frau neben Euch sehe. Sie braucht Euren Schutz.« Wyl war verwirrt. »Ihr müsst mir alles erzählen, was Ihr seht.« Die Witwe hustete wieder und ließ seine Hände los. Als sie sich erholt hatte, sagte sie atemlos: »Ich sehe nur das. All jene, die Ihr liebt, werden leiden. Behaltet den Hund und seinen Freund in Eurer Nähe.« Die Welt drehte sich auf einmal um Wyl. Er konnte nicht sagen, ob ihm wegen des Biers schwindelig war - obwohl er sich plötzlich vollkommen nüchtern fühlte - oder ob die seltsamen brennenden Stäbchen, die das Zelt mit ihrem scharfen Duft erfüllten, dafür verantwortlich waren. »Ihr lügt, alte Frau!« Ihre Stimme klang jetzt hart. »Ich lüge niemals bei den 100
Dingen, die ich sehe. Eure Freunde sind verletzlich. Es gibt eine Frau - sie ist wichtig -, die Eure Hilfe benötigt.« Er wollte ihr nicht glauben, wollte weglaufen. Doch stattdessen packte er die Witwe am Arm, ohne sich darum zu kümmern, wie sie erneut bei seiner Berührung oder vielleicht durch den Schmerz, den er ihr zufügte, zurückschreckte. »Verschwindet von hier! Wir brauchen niemanden wie Euch.« »Seid vorsichtig, Wyl Thirsk. Hütet Euch vor den Bergen. Den anderen Freund, von dem ich sprach, kennt Ihr bereits. Behaltet ihn in Eurer Nähe.« Wyl schob sie zur Seite und eilte mit großen Schritten aus dem Zelt. 100
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FYNCH WAR VIER JAHRE ALT, als sein Vater ihn dazu drängte, einer der Kanaljungen Stonehearts zu werden. Sein Lohn, auch wenn man mehr von Almosen sprechen musste, bewahrte die Familie vor dem Verhungern, und obwohl Fynchs tägliche Plackerei äußerst unappetitlich war, erfüllte ihn sein Posten schon rasch mit Stolz. So sehr, dass sein Fleiß und seine Hingabe, mit der er die niedere Arbeit sechs Jahre lang verrichtete, dem König auffiel. Bevor seine Krankheit den König ans Bett fesselte, hatte Magnus seine täglichen Morgenspaziergänge im Palast genossen, bei denen er zufällig dem hart arbeitenden Jungen begegnet war. Beide waren Gewohnheitstiere. Fynch quälte sich beinahe jeden Tag zur selben Zeit am gleichen Ort ab, und auch der König folgte stets seiner Lieblingsroute durch das Gelände. Die Regelmäßigkeit ihrer Treffen war schlussendlich dafür verantwortlich, dass sie sich mit einem Kopfnicken grüßten, das später zu ein paar höflichen Worten und dann zu einem täglichen Gespräch führte, das kurz, jedoch freundschaftlich war. Bei Magnus war im Laufe der Jahre ein Interesse an der Jugend erwacht, was in seinem unendlichen Bedauern wurzeln mochte, keine größere Rolle in Celimus' Erziehung gespielt und dadurch
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sein eigenes Kind verloren zu haben. In Fynch hatte er einen Jungen gefunden, der trotz seiner niederen Herkunft und seines ernsten Wesens den Knaben seines Alters an Intelligenz weit voraus war. Eines heißen Sommermorgens, als der Gestank aus den königlichen Aborten besonders stechend wurde, beschwerte sich der König bei seinem Seneschall über die Unzuverlässigkeit des verantwortlichen Knaben und schlug den jungen Fynch für die Stelle vor. Augenblicklich wurde Fynch von einem der tiefer liegenden Tunnel zu den königlichen Gemächern gebracht. Es war ein kometenhafter Aufstieg für einen derart jungen Knaben, dessen Lohn sofort vervierfacht wurde, da von dem Kanaljungen seiner Majestät äußerste Verschwiegenheit erwartet wurde. Fynch hatte seine Beförderung sehr ernst genommen -das lag in seiner Natur -, und von diesem Zeitpunkt an hatte es nie wieder einen Grund gegeben, sich über den Wächter der königlichen Aborte zu beschweren, sei es wegen seines losen Mundwerks oder seiner Arbeitsmoral. Doch nun, da der König so schwer erkrankt war, vermisste Fynch ihre regelmäßigen Plaudereien, und Magnus erging es ebenso. Nachdem Fynch seinen neuen Posten angetreten hatte, waren seine Eltern bei einem Karrenunfall verstorben und hatten vier Kinder zurückgelassen, wobei das älteste gerade einmal dreizehn Jahre alt war. Wie Fynch war auch dieses ein ernstes Kind, das mit Leidenschaft für die Erziehung seiner Geschwister sorgte. Fynchs Verdienst war nun von unermesslicher Bedeutung und stellte sicher, dass die jüngeren wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag bekamen, und der Junge sah sich selbst als der Mann in der Familie. 101
Sogar mit seinen zehn Jahren war Fynch ein schrecklich schmächtiges Kind. Er aß wie ein Spatz, und seine Schwester, die ihn sehr liebte, hatte es längst aufgegeben, ihren Bruder wegen seiner schlechten Essgewohnheiten zu tadeln. Obwohl sie sich immer noch darüber beklagte, dass die Familie verloren wäre, wenn er erkrankte, merkte sie doch, dass Fynch im Gegensatz zu vielen anderen Jungen, die im Palast arbeiteten, nicht von seinem Magen angetrieben wurde. Doch trotz seiner beklagenswerten Dürre und seiner Kleinwüchsigkeit gedieh er prächtig. Seine Größe bedeutete auch, dass er seine Arbeit noch viele Jahre ausüben könnte, was den Unterhalt der Familie sicherte. Als Fynch die Beförderung zu den königlichen Aborten erhielt, schloss er eine weitere seltsame Freundschaft - dieses Mal mit einem großen schwarzen Hund. Es war ein nebliger, kühler Herbstmorgen. Doch der Kanaljunge war schon früh bei der Arbeit, damit die Klosetts des Königs und des Prinzen gesäubert und gelüftet waren, noch bevor sie sich für den Tag fertig machten. Während er schaufelte, bemerkte er einen riesigen schwarzen Hund, der sich aus einer der dunklen Palastmauern zu schälen schien und ihn lange anstarrte. Fynch pfiff ihn zu sich. Das Tier sah zu gut ernährt und sein Fell zu glänzend aus, um ein Streuner zu sein, und für den Jungen war er eine willkommene Ablenkung von seiner dreckigen Arbeit. Der Hund blieb jedoch reglos stehen und beobachtete ihn mit dunklen, intelligenten Augen.
Als er schließlich doch näher kam, geschah es schnell und ohne Vorwarnung. Der Junge wich nicht von der Stelle, hatte sich aber trotzdem sehr erschreckt. »Langsam, mein Junge, nur mit der Ruhe«, hatte Fynch ihn angefleht und gleichzeitig versucht, seine Angst nicht zu zeigen. 102
Es war ein riesiger Hund, und als er sich vollkommen furchtlos vor Fynch aufbaute, überragte der Knabe ihn bloß um wenige Zentimeter. Das Tier blinzelte nicht und wich nicht zurück, als der Kanaljunge zaghaft die Hand ausstreckte, um es zu berühren. Doch auf einmal hatte Fynch das Gefühl, als würde er geblendet werden, während ein Strom verschiedenster Eindrücke über ihn hereinbrach. Es verschlug ihm den Atem, und plötzlich hatte er eine Vision von Wyl Thirsk. Diese Vision löste sich so rasch auf, wie sie gekommen war, und als Fynch wieder zu sich fand, starrte er in die wässrigen Augen des Hundes. Fynch nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug, um wieder zur Besinnung zu kommen. Der Hund setzte sich neben ihn und erlaubte Fynch, ihn geistesabwesend an den Ohren zu kraulen, während dieser darüber nachgrübelte, was gerade mit ihm geschehen war. Als der Hund auf einmal bellte, ängstigte das Geräusch den Knaben derart, dass er rückwärts zu Boden fiel. Der Hund - so als wolle er ihn beschwichtigen - leckte ihm übers Gesicht und lief anschließend weg. Am nächsten Tag war er etwa zur selben Zeit wieder erschienen. Genauso wie Fynch eine merkwürdige Beziehung zu König Magnus aufgebaut hatte, freundete er sich nun mit diesem Hund an. Sie hatten nichts gemein, und es gab keinen Grund, weshalb sie sich treffen sollten, und dennoch waren sie hier, in freudiger Erwartung, einander zu sehen. Fynch hatte sogar manchmal das Gefühl, als könne das Tier seine Gedanken lesen - obwohl er so etwas natürlich niemals offen zugäbe. Er war im Stillen davon überzeugt, dass er und der Hund auf einer tieferen Ebene als der gewöhnlichen Mensch-Tier-Beziehung kommunizierten. Er 102
wollte unbedingt den Namen und Besitzer des herrlichen Hundes herausfinden, weshalb er ihm eines Nachmittags folgte und beobachtete, wie das Tier ausgerechnet um den rothaarigen General herumtollte. Also musste es mehr als purer Zufall gewesen sein, dass er diese eigenartige Vision gehabt hatte. Er wusste nicht viel über Wyl Thirsk. Aber er dachte wieder an seine beängstigende Vision und betrachtete den Hund - der im Übungshof der Soldaten kaum jemandem außer dem General besondere Aufmerksamkeit schenkte - und nahm sich vor, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Rasch bekam Fynch den Namen des Hundes heraus -Knave - und bemerkte, dass er nur wenige Menschen näher an sich heranließ, nämlich den älteren Soldaten Gueryn, die Schwester des Generals und den stets lächelnden, freundlichen Kommandanten Alyd Donal. Für fast alle anderen, ausgenommen ihn selbst, hatte der Hund stets ein bedrohliches Starren und tiefes Knurren reserviert. Fynch war ein geborener Beobachter, der jeden Tag unbewusst Unmengen Bilder und Gespräche in sich aufsaugte und dann, ohne es selbst zu wissen, am
Abend die Geschehnisse noch einmal durchging und sich davon herauspickte, was ihn interessierte. Obwohl er stets nur seine eigene Neugierde befriedigte, wusste der Junge viel über die Bewohner von Stoneheart. Er kannte ihre Gewohnheiten, ihre Freunde, ihre Liebhaber. Fynch teilte sein Wissen mit niemandem, doch sein Gedächtnis für jedes noch so kleine Detail wuchs, je älter er wurde. Er konnte Begebenheiten aus längst vergangenen Jahren detailiert heraufbeschwören und sie vor seinem geistigen Auge zum Leben erwecken. Während er sich mit Knave anfreundete - ihre Vertraut 103
heit ging nun so weit, dass sie ihr Mittagsmahl gemeinsam einnahmen -, hatte Fynch verschiedene geflüsterte Unterhaltungen und Vorfälle mit Wyl Thirsk aus seinem Gedächtnis an die Oberfläche seines Bewusstseins geholt und bald das Bild eines Mannes zusammengesetzt, den er sehr mochte. Schließlich hatte er in der vergangenen Nacht, am Abend des Turniers, seinen ganzen Mut zusammengenommen, um ihn anzusprechen. Doch das war nicht das erste Mal gewesen, dass er ihm so nahe gewesen war. Nein, beim ersten Mal war er gerade als Kanaljunge eingestellt worden. Der General war bei der Hexenverbrennung in Ohnmacht gefallen. Fynch war aus kindlicher Neugierde dorthin gegangen. Es war seine erste Hexenverbrennung, und entsetzt über die schrecklichen Bilder und die Erregung der Erwachsenen um ihn herum, wusste er sofort, dass er so was nie wieder sehen wollte. Damals zählte er gerade einmal vier Sommer und konnte die fürchterlichen Bilder kaum fassen, doch was er danach gesehen hatte, hinterließ einen noch tieferen Eindruck bei ihm. Denn obschon Gueryn annahm, dass niemand außer ihm selbst das eigenartige Phänomen beobachtet hatte, irrte er. Auch Fynch, dem einfachen Kanaljungen, der zufällig seine Wasserflasche bei sich getragen und sie dem jungen Mann angeboten hatte, war nicht entgangen, dass Wyl Thirsks Augen nach dem Ohnmachtsanfall eine beunruhigende, seltsame Farbe angenommen hatten. Dieser Vorfall hatte ihn erschreckt. Doch die Augen des Generals nahmen schließlich wieder ihre normale Farbe an, blau und unauffällig. Fynch verstand nicht, was all das bedeuten sollte. 103
Jetzt, im Morgengrauen, während er zu den königlichen Aborten ging, dachte er über den vergangenen Abend nach. Er war überrascht gewesen, als General Thirsk aus dem Zelt der Witwe Ilyk stürzte und sie zurück nach Stoneheart beorderte. Der General war verstört und ernst, hatte seinen grummelnden, halb bewusstlosen Freund gepackt und ihn zusammen mit Fynchs Hilfe zurück zum Palast gebracht, wobei Knave glücklich vor ihnen hertrottete. Der General warf ihm einige Münzen zu und dankte ihm für seine Unterstützung. »Geht es Euch gut, Sir?«, erkundigte sich Fynch, eine reflexartige Frage auf das plötzliche leere Starren des Mannes. Der General, der noch eine Stunde zuvor so ausgelassen und fröhlich gewesen war, konzentrierte sich schließlich auf ihn und sagte: »Mir geht es gut. Nur ein bisschen verwundert über die Dinge, die mir gerade mitgeteilt wurden«, gab er
zu und schwieg dann jäh, als bedauere er bereits, so offen gesprochen zu haben. Fynch ahnte instinktiv, dass er den General nicht weiter bedrängen durfte. »Ich bin nur ein einfacher Kanaljunge, Sir, aber ich stehe jederzeit, Tag und Nacht, zu Euren Diensten, falls Ihr mich brauchen solltet.« »Vornehm ausgedrückt«, erwiderte der General, und Fynch errötete vor Stolz. Dann fügte Wyl neugierig hinzu: »Wie ich sehe, Fynch, hat mein Hund einen Narren an dir gefressen.« »Ja, Sir. Wir spielen jeden Tag zusammen.« »Wirklich?« Der General wirkte überrascht und legte seinen schnarchenden Freund aufs Gras. »Das ist seltsam.« »Weshalb, Sir?« »Weil Knave fest entschlossen ist, fast jeden, abgesehen 104
von ein paar Ausnahmen, zu verabscheuen. Ich kann es nicht besser erklären, aber dem Rest der Welt gegenüber verhält er sich beinahe bösartig.« Fynch nickte. »Das stimmt, Sir ... abgesehen von den Menschen, die Ihr liebt.« Bei dieser Bemerkung starrte Wyl Thirsk ihn verblüfft an, weshalb der Junge rasch hinzugefügte: »Ich glaube, er will Euch beschützen, Sir.« »Ja«, gab der General zu, »er ist ein eigenartiges Tier, aber er mag dich, und das gefällt mir, denn du bist ein guter Junge.« »Er hasst den Prinzen, Sir«, platzte es auf einmal aus Fynch heraus. »Manchmal weiß ich allein durch Knaves Verhalten, wann der Prinz in der Nähe ist.« Die Augen des Generals verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Für einen Kanaljungen bekommst du viel mit.« »Vielleicht hätte ich nicht so viel ausplaudern sollen. Vergebt mir.« Als er nun bei den königlichen Aborten ankam und sich sofort eine Schaufel griff, dachte er daran, wie Wyl Thirsk über seine Worte gelächelt und dann genickt hatte. »Gute Nacht, Fynch. Ich bin sicher, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden.« »Schlaft gut, Sir«, hatte Fynch gesagt und beobachtet, wie Wyl den jammernden Kommandanten Donal hochzog und schulterte. Er hatte ihm nachgeblickt, bis der General nach einigen kurzen, leisen Worten mit dem Wachtposten verschwunden war, sich jedoch nicht gewundert, als sich eine vertraute Gestalt aus der Dunkelheit schälte. Fynch drückte sich in die Schatten und stahl sich so gut es ging aus der Sicht der Wachen, die ihre Runden drehten. 104
»Hallo, Knave«, flüsterte er. »Bist du gekommen, um mir eine gute Nacht zu wünschen?« Knave leckte ihm die Hand, und Fynch kniete sich hin, um seinen Freund zu umarmen, was dem Tier ein leises, zufriedenes Geräusch entlockte. »Ich weiß. Du willst, dass ich auf ihn aufpasse, nicht wahr, Junge«, sagte Fynch ernst und kraulte die Ohren des Hundes. »Obwohl ich nicht weiß, wie das funktionieren soll.«
Der Hund schmiegte sich noch enger an den kleinen Jungen, und sie verharrten einige ruhige Sekunden in dieser Umarmung. »Du solltest jetzt besser gehen, du großer Bursche. Auch ich brauche etwas Schlaf, denn morgen arbeite ich im Abort des Prinzen. Er hasst es, wenn es länger als ein oder zwei Tage nicht gereinigt wurde, und ich habe mir vorgenommen, den Kanal noch weiter zu säubern. Das ist keine schöne Arbeit, aber dann ist alles ein wenig frischer«, berichtete er dem Hund strahlend. Knave knurrte. Allein bei der Erwähnung von Celimus' Namen sträubte sich sein Fell. Fynch erwachte aus seinen Tagträumereien und seufzte leise. Er hatte einen Pakt mit sich geschlossen, dass er heute den schmutzigsten Teil seiner Arbeit erledigen würde. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er den stechenden Gestank zu ignorieren, während er zu dem Loch hochblickte, das zum Abort in den Gemächern des Prinzen führte. Es war dreckig und gehörte schon längst einmal wieder gesäubert. Er legte seine Schaufel beiseite, und nachdem er sich rasch umgeblickt hatte, zog er Hemd und Hose aus, wobei ein blasser, schrecklich dünner Körper zum Vorschein kam. 105
Sinnlos, sich auch die Kleidung zu beschmutzen; seine Schwester würde ihn zwar heftig ausschelten, aber wenigstens könnte er sich die Jauche im nahe gelegenen See abwaschen, bevor er nach Hause ging. Vorsichtig faltete er seine Sachen und verschnürte sie zu einem kleinen Bündel. Genau in diesem Moment tapste Knave leise herbei, und Fynchs Miene erhellte sich. »Pass auf meine Sachen auf«, sagte er im ernsten Tonfall und war amüsiert, als sich der Hund neben das Bündel setzte. »Ich gehe dort hoch, Knave«, erklärte er und zeigte zum Plumpsklo. »Ekelhafte Arbeit, also lenk mich gefälligst nicht ab, in Ordnung? Ich muss es schnell hinter mich bringen und mich dann waschen, denn das Zeug dort oben klebt an meiner Haut fest. Aber ich bin sehr froh, dass du hier bist - das hilft.« Knave bellte einmal. Fynch war sicher, dass der Hund ihn verstanden hatte. »Ich sehe dich später«, sagte er und hielt sich gerade noch zurück, seinem Freund zuzuwinken. Er suchte die robusteste Bürste aus und schlich nackt zum Loch in der Decke. Vor langer Zeit waren von den Steinmetzen geschickt Vertiefungen in die vertikalen Tunnel geschlagen worden, die genau diesem Zweck dienen sollten: dass er zum Putzen hindurchklettern konnte. Als er den kalten Schleim berührte, der den Rand des Plumpsklos bedeckte, zuckte er zusammen. Fynch setzte trotz allem ein grimmiges Lächeln auf und empfand Genugtuung, denn die meisten Kanaljungen konnten dieser Arbeit nur wenige Jahre nachgehen, da sie bald zu groß dafür wurden. Er jedoch nicht. Sein schmaler, ausgemergelter Körper passte noch immer ohne große Schwierigkeiten durch die Löcher in Stoneheart. 105
Fynch hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich von dem ekelerregenden Gestank seiner Arbeit abzulenken. Er hatte sich beigebracht, allein durch den Mund zu atmen, doch nichts war so wirksam wie seine Neigung, sich in Tagträumen zu verlieren. Er blickte hinunter und sah den Umriss von Knaves dunklem Kopf, der zu ihm emporblickte, was ihn wieder an den General denken ließ. Vorsichtig kletterte er instinktiv weiter, gab sich ganz seinen »Informationen« hin, wie er sie zu nennen pflegte, und vertiefte sich in sein Wissen über den General. Auf gar keinen Fall hätte Wyl Thirsk den Wettkampf gegen den Prinzen verlieren müssen. Selbst der größte Narr hatte sehen können, dass der General den Thronfolger längst geschlagen hatte, und trotzdem hatte er sich ergeben. Und dann die Geschichte mit der Wahrsagerin. Das war äußerst seltsam gewesen. Fynch war sicher, dass sie eine Schwindlerin war, und trotzdem war in dem Zelt etwas vorgefallen, das den General stark erschüttert hatte. Fynch hatte sein Ziel jetzt beinahe erreicht und verlangsamte das Tempo. Zwischen dem sonderbaren Verhalten des Generals in der vergangenen Nacht und dem ebenso seltsamen Ereignis, als Wyl Thirsk bei der Hexenverbrennung in Ohnmacht gefallen war und sich seine Augenfarbe verändert hatte, schien ihm eine Verbindung zu bestehen. Eigenartige Vorkommnisse umgaben Wyl Thirsk, das musste sich Fynch eingestehen, wobei der geheimnisvolle Hund nicht das einzige war. Er hatte einige Soldaten belauscht und erfahren, dass Knave ein Geschenk der Frau gewesen war, die am Hexenpfahl gestorben war. Offenbar wollte sie Wyl damit ihre Dankbarkeit für sein freundliches Auftreten zeigen. Während Fynch den Schleim weg 106
bürstete, dachte er über Wyl nach, und auch an das beunruhigende Erlebnis, als er Knave zum ersten Mal berührte. Sein flinker Verstand wertete alles aus und kam schließlich zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass der General womöglich von einem Zauber belegt war. Die Frau, die sie verbrannt hatten, war immerhin als Hexe verschrien. Fynch glaubte an Magie, obwohl er das niemals einer Menschenseele verraten hätte. Der Gedanke an einen Fluch war abwegig, das musste er zugeben, doch er ließ ihn nicht mehr los. Langsam kletterte er weiter nach oben und folgerte, dass Knave eine Rolle in der Sache spielte - schließlich war er der Hund einer Hexe. Ein verzauberter General. Ein abstruser Gedanke, schalt er sich, der ihm jedoch nicht mehr aus dem Kopf ging, während er hinaufblickte und fahles Licht aus einem der kleinen Fenster schimmern sah, die in die Steinmauern des Aborts über ihm gehauen waren. Bald würde er die Finger auf den Rand des Plumpsklos gleiten lassen und mit dem richtigen Putzen beginnen können. Anschließend würde er wieder abwärts und zurück zu Knave klettern. Der Hund beobachtete ihn immer noch, das spürte er. Gerade in dem Moment, als sich Fynch aus der Öffnung ziehen wollte, hörte er ein unverwechselbares Grollen von unten. Es war der Hund. Knave gab viele Geräusche von sich, und ob-schon es Fynch selbst seltsam vorkam, hatte er das Gefühl, dass er einige davon verstand. Es schien fast so, als spräche der Hund zu ihm. Und jetzt hörte
er das unverkennbare Knurren, das Knave allein für Prinz Celimus reserviert hatte. Er warnte Fynch, dass der Thronfolger in der Nähe war. Fynch drückte sich in den Schutz der Dunkelheit. Hof 107
fentlich würde der Prinz jetzt nicht das Abort benutzen müssen! Der Junge fürchtete sich vor Celimus und teilte Knaves Abneigung gegen diesen Mann aus ganzem Herzen. Vorsichtig begann sich Fynch wieder herabzulassen, da er jetzt Schritte hörte. Sein erster Gedanke war, einfach loszulassen und zu springen. Es war ihm egal, welche Brüche oder blauen Flecke ihm das einbringen würde. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, vom Prinzen in dieser Situation erwischt zu werden - Shar allein wusste, was der Mann ihm antun würde. Das Knurren wurde lauter, dann war Knave auf einmal still, und Fynch erstarrte. Er hörte es ebenfalls. Stimmen wie auch Schritte ... und es war nicht nur eine Stimme. Fynch erkannte Celimus, doch der redete mit einem anderen Mann, und sie befanden sich im Abort. Weshalb? Behutsam und leise kletterte er weiter hinab, bis er sicher war, tief genug im Schatten versteckt zu sein. Er lauschte gebannt. Es war unheimlich, wie deutlich er sie verstehen konnte. Gerade sprach der andere Mann. »Ja, aber warum hier?« »Weil es der einzige Ort im Palast ist, an dem ich offen reden kann, ohne vielleicht belauscht zu werden«, warnte Celimus sein Gegenüber. »Die Wände sind aus dickem Stein gebaut, mein Freund, doch die meisten davon haben Ohren.« »Nun gut«, sagte der andere. »Dann eben Euer Abort. Weshalb habt Ihr mich gerufen, Mylord?« »Weil ich aus sicherer Quelle weiß, dass du der Beste bist.« »Ich bin in vielen Bereichen bewandert, Hoheit. Ich frage mich nur, auf welche meiner Fähigkeiten Ihr anspielt?« 107
»Sei nicht so aalglatt, Koreldy. Du bist ein Söldner, nicht wahr?« »Ja.« »Und für den richtigen Preis ein Auftragsmörder?« Stille folgte, und Fynch spürte, wie er die Luft anhielt, aus Angst, sie könnten seinen Herzschlag hören. Schließlich antwortete der andere Mann: »Das kommt ganz darauf an, wer mich beauftragt und für wie viel.« »Mehrere hundert Kronen«, sagte der Prinz ohne zu zögern. Fynch riss vor Überraschung die Augen weit auf. Selbst für den wohlhabendsten Adligen war dieser Betrag ein Vermögen. »Ihr müsst den Tod dieser Person unbedingt wollen, Hoheit«, sagte der Mörder. In seinen Worten hallte Höflichkeit wider, und trotzdem war klar, dass er von dem Prinzen nicht eingeschüchtert war. »Ich spaße nicht. Wirst du es tun?« Celimus klang ungeduldig und schien die direkte Art des Mannes nicht bemerkt zu haben. »Wann?«
»Bald. Ich muss noch ein paar Dinge arrangieren, damit deine Arbeit einfacher wird ... welch rücksichtsvoller Arbeitgeber ich bin!«, sagte Celimus. »Und die Bezahlung?« »Die Hälfte sofort, wenn du zustimmst. Das Gold liegt in meinem Zimmer.« Fynch hörte, wie der andere Mann ein leises Pfeifen ausstieß. »Wen?«, fragte er schließlich. »General Wyl Thirsk.« 108
Der Schock ließ Fynchs winzigen Körper erzittern. Beinahe hätte er den Halt an der schleimigen Wand verloren. »Ach, ich dachte mir schon, dass es nicht einfach werden könnte, so viel Geld zu verdienen«, sagte der Mann, in dessen Stimme Resignation lag. Fynch hörte, wie Celimus in dem engen Raum hin und her ging. Er schien aufgewühlt zu sein. »Er ist bloß ein einziger Mann, und noch dazu ahnt er nichts. Das wirst du doch schaffen, oder?« »Ja, natürlich kann ich es schaffen, Hoheit«, erwiderte der Mörder süffisant. »Es ist nur so, dass ich mich nicht ganz wohl dabei fühle, einen Mann zu töten, den ich respektiere.« »Wie wäre es mit fünfhundert Kronen ... wird das dein schlechtes Gewissen beruhigen?«, fragte der Prinz mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme. Erneut entstand eine tiefe Stille. Celimus durchbrach das Schweigen. »Du fällst auf die Vergangenheit herein, mein Freund. Wyl Thirsk ist ebenso wenig ein Held wie du. Du bist aus Grenadyn«, bedrängte er ihn. »Was interessiert es dich überhaupt?« Der Mann sprach so leise, dass sich selbst Fynch, der über ein ausgezeichnetes Gehör verfügte, ungemein anstrengen musste. »Meine Familie stammt ursprünglich aus Morgravia, Sire. Bevor unsere Familien aus diesem Land fortzogen, kämpfte mein Großvater Seite an Seite mit seinem. Mir wurde erzählt, dass der alte Henk Thirsk ein gefürchteter Krieger und ein prächtiger Befehlshaber gewesen war - und anscheinend kommt sein Enkel ganz nach ihm.« »Du scheinst ein großes Interesse an Geschichte zu haben«, sagte Celimus. 108
»Im Herzen bin ich Morgravianer geblieben, obwohl ich fern überm Ozean geboren wurde«, erwiderte der Mann kühl. »Nun, leider hat man dir ein Märchen erzählt. Der hier ist ein Feigling, der sich beim Abendessen übergibt, wenn er das Geräusch von brechenden Knochen hört«, erklärte Celimus. »Stimmt das?« »Ja. Das ist auch der Grund, weshalb er sterben muss. Er ist nutzlos für mich und bedroht die Sicherheit Morgravias. Als Söldner hast du ja wohl niemandem deine Treuepflicht geschworen?« Fynch vermutete, dass der Mann den Kopf geschüttelt hatte, denn Celimus fuhr ungerührt fort: »Gut, denn du solltest bei seinem Tod nichts fühlen, und ich zahle dir eine beträchtliche Summe Geldes, damit du keinerlei Reue empfinden musst. Wir verfolgen eine veraltete, und wenn ich hinzufügen darf, sinnlose Tradition, die männlichen Nachkommen der Thirsks zum General zu
machen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie für diese Aufgabe überhaupt geeignet sind. Dieser hier scheint keine Ähnlichkeit mit seinem Vorfahren zu haben, von dem du gerade gesprochen hast.« »Könnt Ihr ihn nicht absetzen, Hoheit?« »Erst wenn ich König bin.« »Das wird doch schon sehr bald der Fall sein, Mylord.« »Jedoch nicht schnell genug«, fauchte Celimus. »Ich verstehe«, entgegnete der Mann, und erneut war Fynch erstaunt, wie offen er mit dem Prinzen sprach. »Warum lasst Ihr ihn dann nicht von einem Eurer Männer umbringen? Es wirkt verschwenderisch, einem ausländischen 109
Auftragsmörder so viel Geld zu bezahlen, falls der Mann wirklich derart unfähig ist. Zweifellos würde einer Eurer Soldaten Eurer Bitte nachkommen, und das für ein Zehntel des Betrags, den Ihr mir zahlt?« Fynch wartete und zwang seine tauben Finger auszuharren. Der Meuchelmörder war kein Narr, und der Junge wunderte sich über die Gemütsruhe des Mannes in Gegenwart des Prinzen, der die meisten anderen Menschen einschüchterte. »Das sähe nicht gut aus. Ich bin sicher, du verstehst«, antwortete Celimus und verbarg sein Unbehagen mit einem schroffen Lachen. »Ich möchte nicht, dass Wyl Thirsks Blut an der Hand eines Morgravianers klebt. Die Thirsk-Familie wird verehrt und ist eng mit meiner verbunden.« Fynch konnte sich bildlich vorstellen, wie sich die verschlagenen Augen des Mörders bei diesen Worten zu Schlitzen verengten. Die Gründe des Prinzen klangen nicht plausibel. »Wie sieht Euer Plan aus?« »Ich werde ihn dir kurz skizzieren. Außerdem habe ich ein paar ausländische Soldaten angeheuert, die dich begleiten.« »Kann man ihnen vertrauen?« »Nein. Aber sie werden meinen Befehlen gehorchen, andernfalls werden sie nicht bezahlt. Und sie erhalten eine beträchtliche Summe dafür, meine Anweisungen zu befolgen. Gier allein ist ihr Antrieb. Sie haben ihren eigenen Auftrag, der nichts mit deinem zu tun hat. Deine Aufgabe ist einfach: Befrei uns von Thirsk.« »Wo soll es stattfinden?« »Nicht auf morgravianischer Erde.« 109
»Die Hälfte sofort?«, fragte der Mann schließlich. »Und die andere Hälfte, wenn ich den Beweis habe, dass er tot ist«, entgegnete der Prinz, in dessen Stimme die gewohnte Arglist zu hören war. »Einverstanden.« »Gut. Dann komm jetzt und lass uns auf unseren Pakt anstoßen.« Die Stimmen wurden allmählicher leiser, und Fynch spürte, wie Erleichterung ihn durchflutete, als er es wagte, eine seiner Hände zu entspannen. Er hörte erneut das leise Knurren und erstarrte: Der Prinz war zurückgekommen.
»Gieß mir schon mal etwas ein«, rief Celimus. »Ich bin gleich fertig«, fügte er hinzu und begann, seine Blase zu entleeren. Fynch schloss die Augen und sah rasch zu Boden, bevor der heiße Strahl seinen Kopf traf und auf seinem Gesicht brannte. Dann bahnte sich die Flüssigkeit einen Weg in Richtung des Hundes. Die Demütigung zusammen mit der Verzweiflung über die plötzliche Nachricht übermannten Fynch derart, dass er kaum das inbrünstige Läuten und den besonderen Rhythmus der Kirchenglocken hörte, die den Tod des Monarchen verkündeten. 110
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MAGNUS VERSTARB in einem durch Opium hervorgerufenen Rauschzustand, während er geistesabwesend durch sein geliebtes Rundbogenfenster in den kalten, klaren Herbstmorgen hinausblickte. In der vergangenen Nacht, als er den Tod an seinem Bett gespürt hatte, rief er so viele seiner Berater zu sich, wie Orto für sinnvoll erachtete. Er ließ auch seinen Sohn kurz erscheinen; sie hatten sich nur wenig zu sagen, obwohl Magnus versuchte, seine Vision von Morgravia anzusprechen, in dem letzten Versuch, seinen Sohn auf einer Ebene zu erreichen, die bei ihnen zu einem gegenseitigen Verständnis führen könnte. Doch sein schmerzvoller Versuch war vergebens geblieben. Ein frostiges Lächeln, das ebenso kalt war wie das Herz, das in Celimus schlug, schlich sich auf die Gesichtszüge des Prinzen, als er seinem Vater ein weiteres Mal einen raschen Tod wünschte. Er beugte sich zu Magnus hinab, und während eines törichten Moments der Hoffnung glaubte der sterbende Mann, sein einziger Sohn könne ihn zum Abschied umarmen. Das würde ihm reichen, hatte Magnus in dieser köstlichen Sekunde der Vorfreude gedacht. Und 110
dann verzog er gequält das Gesicht, als er verstand, wie falsch er mit seiner Annahme gelegen hatte ... und wie verzweifelt er sich nach der Liebe seines Sohnes sehnte. Das finstere Lächeln des Königs war erfüllt von plötzlicher und vollständiger Akzeptanz. Es war die Kapitulation vor der widerwärtigen Vorstellung, dass er Celimus ebenso sehr hasste, wie sein Sohn ihn verabscheute. Celimus beugte sich lediglich zu ihm hinab, um an der Hand seines Vaters zu reißen und ihm boshaft den großen Ring vom Finger zu ziehen, der das Siegel von Morgravia zeigte. Der Herrscher spürte beißende Wut in sich aufsteigen. »Den brauchst du jetzt nicht mehr, Vater.« Magnus hatte ihm daraufhin einen solch vernichtenden Blick zugeworfen, dass Celimus zurückwich. Das Verhalten seines Sohnes verlieh dem König ein letztes Aufwallen an Macht. »Deine Herrschaft wird verflucht sein. Du wirst verhasst sterben, und in meinem letzten Gebet an Shar werde ich darum flehen, dass dir die Krone eines Tages aus den Händen gerissen wird. Und jetzt lass mich allein! Eher möchte ich den Palasthunden zusehen als dir, während ich meinen Weg zu Shar antrete. Verschwinde!« »Ich bin schon weg, du nutzloser, alter Narr. Bei Anbruch der Nacht wird das Königreich mir gehören, und ich werde damit anstellen können, was mir
gefällt. Ich schwöre dir, Vater, dass es keinerlei Ähnlichkeit mit deiner schwachen Regentschaft aufweisen wird. Meine Mutter hatte recht. Du bist ein Bauer. Ein Glück, dass wir dich los sind. Und alle, die dir Treue geschworen haben, werden dir folgen.« Celimus drehte sich um, doch zuvor hatte er seinen Va 111
ter noch angespuckt. »Das ist alles, was du mir je bedeutet hast. Stirb allein und mit dem Gedanken, dass Wyl Thirsk ebenfalls bald tot sein wird.« Magnus, der sogar zu schwach war, einen Dienstboten nach Wyl zu schicken, beobachtete entsetzt, wie der Prinz anmutig aus seinen Gemächern schritt und nur seine Spucke zurückließ, die an seinem Gesicht herabrann. Sie vermischte sich mit den Tränen, denen er nun freien Lauf ließ. Als Orto kurze Zeit später eintrat, bemerkte er, dass die Kräfte des Königs allmählich schwanden. Der Diener wusste, dass es nur noch wenige Minuten dauern würde. Seiner Intuition folgend, schickte er seinen schnellsten Pagen zu Wyl Thirsk und ließ durch einen weiteren Boten nach dem Arzt rufen, der als Erster eintraf. »Ich kann ihm ein Mittel geben, das ihn friedvoll einschlafen lässt«, bot er an. »Gebt es ihm, nachdem Thirsk hier war«, sagte Orto. Der Arzt nickte und machte sich schweigend daran, das tödliche Gebräu zuzubereiten. Atemlos kam Wyl hereingestürzt, und Orto hieß ihn leise willkommen. »Ich glaube, Ihr tragt das Gesicht, das König Magnus als Letztes ansehen möchte, bevor er uns verlässt.« »Was ist mit Celimus?«, erkundigte sich Wyl, obwohl er wusste, dass seine Frage sinnlos war. Orto schüttelte den Kopf. »Sie haben bereits miteinander gesprochen, und es hat ihn sehr durcheinandergebracht. Bitte, General, der Arzt würde ihm gerne einen Trank geben, der ihm die Schmerzen nimmt und ihm die Reise ins Jenseits erleichtert.« 111
Wyl nickte, und seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Er kniete sich neben das große Bett, ergriff die Hand des Herrschers und küsste sie ehrerbietig. »Sire, hier ist Wyl.« Magnus rang mit seinen schwindenden Kräften und kehrte in die Helligkeit zurück, wo das Tageslicht schien und das geliebte Gesicht von Wyl Thirsk ihn durch feuchte Augen schief anlächelte. »Mein Junge, mein Sohn«, flüsterte er und versuchte, Wyls Hand im Gegenzug zu drücken, wusste allerdings, dass es ihm nicht gelang. Der Arzt reichte Wyl den Becher und nickte. Darin befand sich eine dunkle, stark riechende Flüssigkeit. Wyl hielt den Becher an den Mund des Königs. »Trinkt, Sire.« Magnus ahnte, was es war. »Ja, die Zeit ist reif für mich«, murmelte er. »Jetzt könnt Ihr und mein Vater wieder vereint sein«, flüsterte Wyl und kämpfte gegen die Tränen.
Der König schluckte den Inhalt des Kelches, und sein Kopf fiel schlaff gegen die Kissen. Orto entließ den Arzt. Magnus drehte sich um, und seine Augen blitzten auf einmal hell und klar auf. Er sprach stockend, als bereitete ihm jedes Wort Schmerzen, doch der Nebel, der noch vor wenigen Augenblicken sein Bewusstsein getrübt hatte, war verschwunden. »Wyl, der Bluteid, den ich dir vor vielen Jahren abgenommen habe - ich nehme ihn zurück, vollständig. Du weißt, wovon ich spreche. Du allein hast die Macht, Morgravia zu führen. Die Legion ist dir treu ergeben.« Wyl sah erschrocken zu Orto. Ortos Gesichtszüge leuch 112
teten triumphierend. Wyl hoffte, dass seine Ergebenheit grenzenlos war. »Sire, solch ein Verrat ist undenkbar. Bitte ... ich ...« »Es gibt keine Zeit zu verschwenden! Bring Ylena fort. Er will dich umbringen. Geh jetzt...« Die Stimme des Königs verklang zu einem leisen Gemurmel und verstummte schließlich ganz. Seine Augen starrten ausdruckslos über Wyls Schulter, während er einen letzten Blick auf die helle Sonne warf, die über Morgravia schien. Ein zitternder Atemzug entrang sich seiner Brust, dann war er erlöst. »Ich muss den Priester holen«, sagte Orto leise. »Orto ...« Der Mann kehrte zurück. »Ich bin Magnus treu ergeben, nicht Celimus, Sir. Ich habe nichts weiter vernommen als den flachen Atem eines Mannes, der durch den Mondsamenlikör in den Tod geglitten ist.« »Ich stehe in Eurer Schuld.« »Ich werde den Palast verlassen, Sir. Schon bald wird er kein sicherer Ort für mich sein. Ihr mögt ähnliche Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich werde einen Weg finden, Euch von meinem Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen, solltet Ihr mich jemals brauchen.« Sie tauschten über dem Leichnam des Königs einen raschen Blick aus. Wyl erhob sich und schüttelte Orto die Hand. »Ich werde mich darum kümmern, dass die Glocken der Kathedrale geläutet werden.« Orto nickte. »Viel Glück, Sir ... bis wir uns wiedersehen.« Fynch zitterte, und seine Zähne klapperten gegen die beißende Kälte des Sees an. Er hatte seinen Körper wie wild 112
geschrubbt, um Celimus abzuwaschen, und tauchte den Kopf immer wieder unter die Wasseroberfläche, bis er so sehr schmerzte, dass der Junge glaubte, ihm würden die Augen herausfallen. Und die ganze Zeit über jagte Knave unruhig am Ufer entlang und bellte zum düsteren Läuten der Kirchenglocken. »Ich komme!«, rief Fynch durch taube Lippen, während sich sein Gehirn nach den erschreckenden Enthüllungen, über die er zufällig gestolpert war, wie zermalmt anfühlte. Würde Thirsk ihm Glauben schenken? Wahrscheinlich nicht. Seine Geschichte klänge zu weit hergeholt. Außerdem war er nur ein Kanaljunge - wer würde ihm schon zuhören? Knave bellte erneut, dieses Mal lauter, und Fynch schwamm erschöpft zum Ufer zurück, wobei er den starken Schwanz des
Hundes zur Hilfe nahm, um sich aus dem Wasser zu ziehen. Währenddessen flackerte die Vision wieder in seinem Gedächtnis auf: General Thirsk, aus dessen Körper ein Schwert gezogen wurde und in dessen Augen das Licht erstarb. Das Bild verschwand, und sein Kopf schmerzte. Eine neue Welle der Übelkeit erschütterte seinen winzigen Körper, und der Junge würgte. Die Panik von eben hatte es seinem ansonsten scharfsinnigen Gehirn schwer gemacht, vernünftig zu denken. Er wusste, dass er abwarten musste, bis sich die Benommenheit verflüchtigte. Knaves raue Zunge leckte ihm die Wassertropfen von der Haut. Der Atem des Hundes war warm, und allmählich kam Fynch wieder zu Sinnen und tauchte aus der erschreckenden Vision auf. Sein Kopf tat weh, aber er ignorierte es und rieb sich energisch mit seinem Hemd ab, bevor er die feuchte Kleidung anzog. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Da Fynch nun davon überzeugt war, dass seine Vision eine 113
Warnung war, eine böse Vorahnung, wusste er, dass er Wyl Thirsk finden und ihm erzählen musste, was er mit angehört hatte. Irgendwie musste es ihm gelingen, den General davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sprach. »Komm schon, Knave. Lass ihn uns finden«, sagte er, wobei ihm bewusst war, dass er seine Arbeit aufs Spiel setzte, wenn er den inneren Palastzirkel betrat. Doch es war vollkommen bedeutungslos. Das Leben des Mannes, mit dem er auf geheimnisvolle Weise verbunden war, stand auf dem Spiel, und nur er allein wusste es. Der Hund sprang los, und Fynch rannte hinter ihm her, ohne zu ahnen, dass es schon längst zu spät war. Wyl hielt vor den Gemächern des neuen Königs inne. Celimus hatte nicht einmal die Höflichkeit besessen abzuwarten, bis der Leichnam seines Vaters erkaltet war. Die Tradition verlangte, dass er seine Ansprüche auf die Regentschaft zurückhielt, bis der alte König wenigstens in der Kathedrale aufgebahrt lag. Bevor er gekrönt wurde, musste die Steinplatte auf das Grab des verstorbenen Regenten geschoben werden, doch Celimus hielt nichts von Zeremonien. Er wollte die Krone mit einer solchen Inbrunst, dass sie wohl schon auf seinem Kopf funkelte, dachte Wyl. Er wusste, dass es ihm schwerfallen würde, aber er biss sich auf die Lippen, um das plötzliche Verlangen, laut loszulachen zu unterdrücken, als ihm das Bild von Celimus durch den Kopf schoss, der ihn in vollen königlichen Krönungsinsignien empfangen würde, während kaum jemand außerhalb von Stoneheart vom Tod König Magnus' gehört hatte. Nur die Glocken gaben einen Hinweis darauf, was an diesem Morgen geschehen war. 113
Es war erst eine Stunde vergangen, seit er das Totengesicht von Magnus geküsst hatte. In dieser kurzen Zeitspanne war sein Leichnam gewaschen worden, wurde wahrscheinlich in diesem Augenblick zur Kapelle getragen, und Celimus hatte anscheinend Macht und Gemächer seines Vaters bereits an sich gerissen. Ein widerwärtiger Gedanke.
Wyl nahm einen tiefen Atemzug und fragte sich, was Celimus im Schilde führte, da er ihn schon so bald zu sich kommen ließ. Er wünschte, Alyd hätte ihn begleitet, doch er hatte seinen Freund nicht finden können, nicht einmal in seinen Räumen - was seltsam war, wenn man Alyds Zustand vom Vorabend berücksichtigte. Auch Ylena war nicht aufzuspüren; vielleicht war sie wütend auf ihren betrunkenen Gatten gewesen und hatte einen Einkaufsbummel in die Stadt unternommen. Weitaus beunruhigender war die Nachricht, dass Gueryn im Laufe der Nacht nach Norden geschickt worden war. Wyl war äußerst unglücklich darüber und fühlte sich schuldig, da er mit seinen Soldaten gefeiert hatte und es ihm deshalb unmöglich gewesen war, die plötzliche Abreise seines Lehrmeisters zu verhindern. Der Versetzungsbefehl trug die Unterschrift des Königs, doch Wyl spürte, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Magnus wäre überhaupt nicht in der Lage gewesen, derartige Entsendungen zu unterschreiben. Dieser Schachzug trug Celimus' Handschrift, und Wyl würde der Sache auf den Grund gehen. Da kam ihm Celimus' Drohung beim Turnier wieder in den Sinn. Der zarte Duft von Herbstblumen wehte durch ein offenes Fenster herein und erinnerte Wyl an vergangene Tage -glücklichere Zeiten -, als er an diesen massiven Eichentüren 114
gestanden und darauf gewartet hatte, eingelassen zu werden, um König Magnus zu sehen. Jetzt war er tot, heimgeführt von Shars Boten, um erneut so hoffte er jedenfalls -mit Fergys vereint zu sein. Wyl fühlte sich tatsächlich einsam, als sich eine der Türen öffnete und einer von Celimus' treuesten Dienern heraustrat. »Endlich«, sagte der Mann. »Der König wartet nicht gern.« Eine Vielzahl scharfer Erwiderungen lag Wyl auf der Zunge, doch er riss sich zusammen. Dieser Höfling war es nicht wert, und so bedachte er ihn lediglich mit einem verächtlichen Blick. »Dann beeilt Euch und kündigt mich an.« Die Türen wurden ganz geöffnet. Wyl trat ein und wartete. Unweigerlich wurde seine Aufmerksamkeit auf den gemeißelten Schlussstein gezogen, den er als Kind bewundert hatte. Erneut wurde er daran erinnert, dass der feuerspeiende Kriegerdrache die Privatgemächer eines Königs markierte - doch dieses Mal die eines verhassten Königs. Der Diener kehrte schon bald zurück; ein mürrischer Gesichtsausdruck lag auf seinem Gesicht. »König Celimus wird Euch jetzt empfangen.« Wyl überging ihn geflissentlich und eilte an ihm vorbei zu einem Dienstboten, der ihn in das Arbeitszimmer führte. Widerwillig kniete Wyl nieder, wobei jede Faser seines Körpers dagegen rebellierte, Celimus seine Ehrerbietung zu erweisen. »Mein König«, sagte er, ohne aufzublicken, doch er war froh, dass seine Stimme fest war. »Ach, Thirsk.« Celimus erteilte ihm nicht die Erlaubnis, sich zu erheben. Wyl konnte gerade mal die Füße eines Bediensteten sehen, der zum König eilte. Offensichtlich hatte 114
er den Mann herbeigewinkt. Celimus flüsterte etwas, und dann verschwanden die Füße. Wyl blieb weiterhin kniend sitzen und schwieg, obwohl er hörte, wie sich andere Menschen so leise wie möglich hinter ihn geschlichen hatten. Als Respektbezeugung mussten alle Soldaten ihre Waffen ablegen, wenn sie in die Privatgemächer der königlichen Familie gerufen wurden. Nun wünschte er, er hätte das Protokoll nicht so blindlings befolgt. Gueryn hatte ihm oft geraten, einen kleinen Dolch in seiner Kleidung zu verbergen. Als Celimus schließlich aufstand und um ihn herumging, wurde Wyl gepackt. Er wehrte sich beherzt und brach jemandem mit dem Handrücken die Nase. Der Angreifer taumelte rückwärts, und Wyl bückte sich tief genug, um einen weiteren über seinen Rücken zu schleudern. Dann wirbelte er herum, um dem Feind entschlossen entgegenzutreten, als er die rasiermesserscharfe Spitze eines Schwertes an seinem Hals spürte, die seine Haut ritzte. »Das würde ich nicht tun«, sagte der Besitzer sanft, und Wyl konnte einen grenadynischen Akzent heraushören. Während unbekannte Männer Wyl die Handgelenke und Füße fesselten, verschwand das Lächeln nicht aus dem Gesicht des Fremden, der die Klinge erst sinken ließ, als Wyl grob umgedreht wurde, damit er dem König in die Augen sehen konnte. Wyl musterte seine kräftigen Angreifer nun genauer; ihre Barte und ihr Haarschnitt zeugten davon, dass sie Ausländer waren. Als der König sprach, riss er den Blick von ihnen los. »Ich frage mich, Wyl, wie sehr man dir vertrauen kann«, bemerkte Celimus, der vor den großen Panoramafenstern stand. 115
»Ich habe geschworen, mein Leben für Morgravia und seine Bewohner zu geben, Sire«, antwortete Wyl, der vor Wut stoßweise atmete. »Das mag schön und gut sein. Doch ein neuer König muss sich mit Menschen umgeben, die zuerst einmal ihm selbst treu ergeben sind. Ich kann es mir nicht leisten, dass mein eigener General ein Komplott gegen mich schmiedet.« Wyl schwieg. »Du kannst ganz offen reden«, ermutigte Celimus ihn. »Sie interessiert es nicht«, sagte er achselzuckend und zeigte auf die Fremden. »Für sie zählt einzig und allein Geld.« »Ich bin dein Diener, Sire. Ich bin dein General und führe deine Befehle aus.« Celimus lächelte jetzt, und Wyl hasste ihn dafür, dass er von einem Augenblick zum nächsten wieder zwanglos und freundlich sein konnte. »Das ist gut, Wyl. Es scheint, unsere beiden Väter hatten große Hoffnungen, wir könnten das Königreich nach ihrem Vorbild weiterführen. Denkst du, dass ihre Träume wahr werden könnten?« »Ich sehe keinen Grund, der dagegen spräche, Majestät«, erwiderte Wyl, sah sich verstohlen um und rechnete seine Chancen zur Flucht aus. Er überlegte fieberhaft, wie er Ylena eine Nachricht überbringen lassen konnte. Der alte Magnus hatte recht behalten mit seiner Warnung. Celimus wusste, wie gefährlich Wyl war - allein wegen der Macht, die er über die Soldaten der Legion ausübte. Wyl war nur zu naiv gewesen, dies zu erkennen. Und jetzt war er hier, hilflos und gefangen.
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»Nun, ich bin erstaunt über deinen Optimismus, General. Aber ich brauche mehr als Worte. Worte klingen hohl, wenn es keinen greifbaren Beweis für ihre Aufrichtigkeit gibt.« »Wie kann ich es beweisen, Sire?« »Ganz einfach. Ich habe einen Auftrag für dich, Wyl. Und wenn du ihn erfolgreich ausführst, werde ich annehmen, dass du dich anstrengst, um mir zu zeigen, dass deine Worte nicht leer sind. Ich weiß, wir werden nie Freunde, doch ich lege großen Wert auf deine treu ergebenen Dienste.« Wyl nickte. »Sag mir, was du von mir verlangst.« »Bitte, setz dich«, forderte Celimus ihn auf und winkte seine bulligen Handlanger zurück. Wyl hätte es vorgezogen zu stehen, doch er spürte, dass es besser war, sich in diesem Moment seinem neuen Herrscher zu beugen. Celimus blieb weiterhin am Fenster stehen und blickte hinaus auf einen der kleinen Innenhöfe. Er gab auch nicht den Befehl, Wyl die Hände loszubinden. »Es ist eine heikle Angelegenheit, die dein Fingerspitzengefühl voraussetzt oder zumindest deinen Familiennamen«, sagte Celimus, ohne sich umzudrehen. »Ich möchte, dass du einen kleinen Trupp Männer nach Briavel führst und um eine Audienz mit König Valor ersuchst.« Obwohl Wyl es zu verbergen versuchte, wusste er, dass ihm die Überraschung über Celimus' unverfrorenen Vorschlag anzusehen war. Der König fuhr fort: »Du wirst ihm ein Angebot unterbreiten.« Nun war Wyls Interesse geweckt. »Und was biete ich ihm, Sire?« »Eine Heirat zwischen mir und Valors Tochter Valentyna. 116
Er ist jetzt ein alter Mann und sieht sicherlich den Vorteil, den es brächte, unsere beiden Reiche zu vereinen. Keine junge Königin - besonders keine, die ich für derart flatterhaft halte -, würde Krieg anstelle von Frieden und Reichtum wählen. Andernfalls würde ich ihr grenzenlosen Kummer bereiten, da ich so lange gegen ihr Reich Krieg führen werde, bis es fällt.« Celimus hielt inne und wandte sich um, wobei sein dunkler Blick träge auf dem General ruhte. Wyl fühlte sich seltsamerweise ermutigt. Hatte er sich tatsächlich nicht verhört? Er bemerkte, dass der König geduldig auf seine Antwort wartete. »Majestät, dein Einfall ist großartig«, gab er zu. »Er würde nach Jahrhunderten des Krieges endlich Frieden bringen«, fügte er hinzu. Es ärgerte ihn, das Offensichtliche aussprechen zu müssen, und er war dennoch unfähig, seine Freude zu verbergen. »Ich nehme diesen Auftrag von Herzen gern an und werde dich nicht enttäuschen, Sire.« Wyl riss sich zusammen, da er allmählich ins Plappern geriet. »Ich bin froh, dass dir mein Plan gefällt«, sagte Celimus süffisant. Wyl legte die Stirn in Falten. »Aber warum dachtest du, es sei notwendig, mich zu fesseln und zu überwältigen, um mir ein solches Versprechen zu entringen?« »Weil ich dir nicht über den Weg traue, Thirsk, deshalb.« »Und das tust du jetzt?«
»Vielleicht. Ich habe die Männer ausgesucht, die dich begleiten werden.« Er blickte über Wyls Schulter und nickte. »Du hast Romen Koreldy bereits kennengelernt. Ich habe ihn zu deinem stellvertretenden Kommandanten ernannt.« Wyls Blick fiel erneut auf den hochgewachsenen Fremden. Der Mann hatte einen dunklen Teint, doch seine 117 Augen bestachen durch ein intensives Silbergrau, in denen ein verschmitzter Zug zu erkennen war. Das Haar fiel ihm dicht bis auf die Schultern, und ein gepflegter Schnurrbart folgte dem Schwung seines breiten Mundes. Wenn er sprach, nahmen seine Worte dieselbe amüsierte Klangfarbe an, die auch in seinen Augen lag. Es handelte sich um einen Mann, der sich in seiner eigenen Haut sehr wohl fühlte; Selbstvertrauen und Zuversicht strömten von ihm aus. Wyl stand abrupt auf. »Alyd Donal ist mein Kommandant, Majestät«, sagte er entschlossen. »Nicht bei dieser Mission, Wyl. Genau genommen wirst du niemanden von der Legion mitnehmen.« Wyl sah ihn überrascht an. »Du schickst mich ohne meine Männer in ein feindliches Königreich, Sire?« Celimus öffnete ein Fenster. »Das Königreich unseres Feindes derart kühn zu betreten, ist genau der Grund, weshalb ich außer dir keinen Morgravianer gehen lasse. Die bloße Anwesenheit der Legion würde ein ungeahntes Feuer entfachen. Das kann ich mir nicht leisten.« »Und du vertraust Fremden diese Aufgabe an?«, erkundigte sich Wyl und blickte wieder zu Romen Koreldy der ihn anlächelte. Seine nonchalante Art brachte Wyl zur Weißglut. »Du bist kein Fremder, Wyl - du bist ein stolzer Sohn Morgravias. Die Ausländer werden rasch unterwiesen, und nach erfolgreicher Mission erwartet bei ihrer Rückkehr jeden eine fette Geldbörse.« Wyl fragte sich, ob er sich nur einbildete, dass Celimus' Grinsen einen neuen wölfischen Zug angenommen hatte. Söldner, dachte Wyl grimmig. Unsere Väter werden sich im 117
Grab herumdrehen. »Nein, Sire«, sagte er. »Ich bedauere, aber ich kann das nicht ohne die Männer tun, denen ich vertraue, und empfehle dir, den Plan zu überdenken.« In Celimus' Stimme lag nun ein Hauch Schärfe. »Hier geht es nicht um dich oder darum, was du willst«, fauchte er. »Hier geht es darum, durch eine strategische Heirat Frieden zwischen zwei Königreichen zu schaffen. Du bist der Unterhändler des Königs.« Wyl sträubte sich immer noch. »Ich bin ein Soldat, kein Politiker. Vielleicht bin ich sowieso der falsche Mann für diese Aufgabe.« Celimus schüttelte den Kopf, als ärgere er sich über ein sturköpfiges Kind. »Valor wird keinem anderen Namen vertrauen. Er mag unser Feind sein, doch sein Respekt für deinen Vater ist wohlbekannt.«
»Und deiner ebenfalls, Sire«, erwiderte Wyl. »Es könnte angemessener sein, wenn du dich persönlich aufmachst und um ihre Hand anhältst.« Celimus wirbelte herum. Er konnte seinen Ärger nicht länger verbergen. »Hast du Angst, Wyl?« »Nein, Sire. Ich bin nur kein Narr«, sagte Wyl, der augenblicklich seine Wortwahl und die Andeutung, die darin lag, bereute. »Diese Männer sind Fremde, und ich würde ihnen weder mein eigenes Leben noch das eines anderen anvertrauen.« »Und wenn ich für deine Sicherheit garantiere?«, fragte Celimus. Wyl öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn dann jedoch wieder. Er wusste, es war eine Falle. »Ich habe natürlich im Vorhinein einen diplomatischen Boten losgeschickt, um Valors Einverständnis für friedvol 118
le Gespräche mit meinen Gesandten einzuholen«, fügte der König hinzu. Wyl schüttelte den Kopf, fest entschlossen, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Celimus hatte offenbar mit der Inszenierung seines Plans begonnen, als König Magnus noch am Leben war. Celimus zu vertrauen war ein lächerlicher Gedanke. Er war so kalt und unberechenbar wie eine Schlange. »Ich bedauere, aber nein, Majestät.« »Und das ist dein letztes Wort?« Wyl nickte. Er fürchtete sich vor den möglichen Folgen, war jedoch trotzdem unbeirrt. Auf keinen Fall würde er sein Amt oder seinen Familiennamen aufs Spiel setzen, um sich mit Söldnern zu verschwören. Celimus stieß einen gespielt tragischen Seufzer aus. »Das habe ich mir schon gedacht. Jetzt müssen wir also neue Wege finden, um deine Loyalität anzuregen«, sagte Celimus, öffnete auch das andere Fenster und wandte sich an den stämmigen Mann, der neben ihm stand. »Bring ihn her«, befahl der neue Herrscher. Wyl wurde zum Fenster gezerrt, und seine Augen blickten nun hilflos auf eine Szene, die bis eben nur Celimus' Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Ein Mann kniete vor einem Holzblock. Über ihm stand ein Henker, die Finger um eine große Axt geschlungen, während die Klinge bedrohlich zwischen seinen Füßen ruhte. Das Haar des Gefangenen wurde gepackt und sein Kopf hochgezogen. Wyl spürte, wie seine Knie nachzugeben drohten. Es war Alyd! Sein Freund bemerkte Wyl und schrie Ylenas Namen, da wurde sein Kopf zurück auf den Holzblock gerissen. »Mein König, bitte, ich flehe dich an ...«, rief Wyl. 118
»Zu spät, General Thirsk. Mit mir ist nicht zu spaßen.« Celimus gab das Signal. Die Axt wurde gehoben und fallen gelassen. Wyl musste mit ansehen, wie das Leben seines Freundes tragisch beendet wurde, nur aus der Laune eines Verrückten heraus. Selbst die Axt, mit der er hingerichtet wurde, beleidigte noch den adligen Stand Alyds.
»Du bösartiger Bastard!« Wyls Stimme überschlug sich, als er Celimus tränenerstickt anschrie. Er versuchte sich gegen die Männer zu wehren, die ihn zurückhielten. Celimus hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, während er dem grausamen Schauspiel zusah. »Es ist deine Schuld, dass er sterben musste, Wyl. Du hättest nur den Anordnungen deines Königs Folge leisten müssen, ohne sie zu hinterfragen - ist es nicht das, was von dir erwartet wird? Hat das dein Vater nicht für meinen getan?« »Mein Vater musste auch nicht die Befehle eines Wahnsinnigen ausführen«, zischte Wyl und begriff im nächsten Moment, wie verhängnisvoll seine Worte waren. Fieberhaft überlegte er, wie er seine Schwester in Sicherheit bringen konnte. Als Celimus Wyls Beleidigung vernahm, drehte er sich wieder zum Fenster um und gab ein weiteres Zeichen. »Wo ist Ylena, Celimus?«, forderte Wyl. »Genau hier«, entgegnete der König, dessen Stimme bedrohlich klang. Wyl sah wieder hinaus, und Verzweiflung durchfuhr zum zweiten Mal seinen Körper, als er sah, wie seine aufgelöste Schwester in den Innenhof gezerrt wurde. Sie erblickte den kopflosen Leichnam ihres Gatten, der zusammengesunken am Holzblock lehnte. Der anfänglich heftige Blutstrahl hatte sich zu einem gleichmäßigen 119
Strom verlangsamt, der allmählich in den staubigen Boden sickerte. Fynch hörte jäh auf zu rennen, als eine Vision von Blut sein Bewusstsein durchtränkte. Wir sind zu spät dran, Knave, zu spät\, schrie er innerlich und brach vor der kalten Mauer von Stoneheart zusammen. Er konnte die grauenvolle Qual nicht mehr ertragen und gab den Tränen nach. Sein vierbeiniger Begleiter schien ihn zu verstehen und gestattete Fynch, den Kopf in seinem Fell zu vergraben. »Tu das nicht, Celimus!« Wyl bettelte nun inständig, als er Ylena beobachtete, die in Alyds Blut ausrutschte, während die Männer ihren toten Gatten achtlos mit den Stiefeln beiseiteschoben. Alyds Leichnam fiel in den Staub, und Ylena musste seinen Beinen ausweichen, bevor sie ihr Gesicht auf den Holzblock drückten. Er sah, wie ihr Körper erzitterte, als sie zu wehklagen begann. »Ich habe sie in jungfräuliches Weiß kleiden lassen. Welch Ironie, nicht wahr?«, sagte Celimus kalt. Der König hob die Hand, um das Signal zu geben, und Wyl flehte nun noch inbrünstiger. Die Männer, die ihn hielten, lockerten ihren Griff, damit er auf die Knie fallen konnte. »Celimus, ich bitte dich aus tiefstem Herzen. Verschon sie. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst.« »Für das Leben deiner Schwester würdest du das wohl«, sagte Celimus boshaft. Dann drehte er sich wieder zum Henker um. »Bring sie zurück!« Ylena wurde grob hochgerissen. Ihr Gesicht und ihr Kleid waren mit Alyds Blut getränkt. 119
Wyl rief ihr laut zu: »Denk immer daran, wer du bist, Ylena. Alle für einen!« Er stieß das Familienmotto aus, obwohl er verzweifelt war und am ganzen Körper zitterte. Sie blickte nicht einmal zu ihm empor. Celimus lachte. »Wartet! Sie soll den Kopf ihres Gatten zurück in den Kerker tragen. Er kann ihr Gesellschaft leisten. Und sagt ihr, dass sie ausgepeitscht wird, wenn sie ihn fallen lässt.« Er wandte sich wieder zu Wyl um. »Ich bin froh, dass du zur Vernunft gekommen bist. Ylena wird in der besonderen Unterkunft, die ich für sie ausgesucht habe, so lange bleiben, bis du den Auftrag erledigt hast, den wir eben besprochen haben. Ist das klar?« »Ja«, war alles, was Wyl herausbrachte, ohne ausfallend zu werden. Magnus hatte ihn gewarnt und ihm vor nur wenigen Stunden seine eigene tiefe Überzeugung dargelegt, dass Celimus sterben musste, wenn Morgravia gerettet werden sollte. Wyl blickte den neuen König an und wusste, dass er derjenige war, dem diese Aufgabe zufiel. »Ausgezeichnet«, erwiderte Celimus. »Der Bote muss mittlerweile angekommen sein, und ich habe mir bereits die Freiheit gestattet, die Männer zu unterrichten. Du brichst auf der Stelle auf. Romen wird dich zu den Ställen begleiten. Du musst dir keine Umstände wegen des Packens machen, das wurde alles bereits arrangiert.« »Darf ich Ylena sehen?« »Nein. Du wirst sie bei deiner Rückkehr sehen. Bis dahin wird sie Gast in den Kerkern von Stoneheart bleiben. Noch Fragen?« »Ja«, sagte Wyl. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen und presste die Zähne fest zusammen, bevor er 120
sagte: »Gueryn. Ich werde ihm eine Botschaft zukommen lassen müssen...« »Ach, das hätte ich wohl erwähnen sollen, Thirsk. Mein Vater hat deinen Freund le Gant gebeten, einen besonderen Auftrag für ihn zu übernehmen, der ihn tief in die Razors führen wird. Ein Kommando, das nicht nur Erfahrung erfordert, sondern gleichzeitig, das nehme ich jedenfalls an, den sicheren Tod nach sich zieht. Le Gant, und das ehrt ihn, hat den Auftrag ohne zu zögern angenommen - ein tapferer Mann.« Dies war der letzte niederschmetternde Schlag, und Wyl konnte ein Keuchen nicht unterdrücken. »Das muss ein Scherz sein«, sagte er ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen. »Welchen besonderen Auftrag? Warum wurde ich nicht davon unterrichtet!«, empörte er sich. »Eine geheime Mission«, sagte Celimus. »Nicht alles, General, geht über deinen Schreibtisch.« Seine Stimme strotzte vor Sarkasmus. »Gueryn ist nicht tot«, betonte Wyl. »Noch nicht«, sagte der neue König, doch Wyl war der Tonfall gleichgültig, denn es klang, als habe Celimus ganz andere Pläne mit Gueryn. Erneut kam ihm Celimus' Drohung vom Vortag in den Sinn, und er erkannte, dass es keine hohlen Worte gewesen waren. Der König setzte allmählich sein Vorhaben in die Tat um, all jene zu verletzen, die Wyl liebte.
Magnus war tot. Alyd war tot. Seine Schwester war gefangen genommen und Shar bewahre! - sein geliebter Gueryn war auf eine tödliche Mission geschickt worden. Wyls Welt brach auseinander. 121
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DER REITERZUG TRABTE in eisiger Stille durch das östliche Tor von Stoneheart. Celimus hatte seinen Plan mit äußerster Sorgfalt ausgearbeitet, und jegliche Kunde über Alyd Donais Tod, Ylenas Gefangennahme und die Erpressung General Wyl Thirsks wurde streng geheim gehalten. Währenddessen betrauerten die Kathedralenglocken auch weiterhin den Tod des Monarchen, und Morgravias stolze Flagge wurde aus Respekt vor dem Ableben eines großartigen Mannes auf Halbmast gesetzt. Drei Tage der Trauer würden nun vor dem zeremoniellen Begräbnis des Königs abgehalten werden, und deshalb blieben alle Schänken, Gasthäuser und Bordelle geschlossen. Lediglich lebensnotwendige Arbeiten durften verrichtet werden, doch im gesamten Königreich würden in den nächsten fünf Tagen keine Tiere geschlachtet, und die Morgravianer ernährten sich als Zeichen der Ehrerbietung von Gemüse und Hülsenfrüchten. Niemand trieb sich auf den Straßen herum, denn die Einwohner von Pearlis wurden angehalten, zu Hause zu bleiben oder die Kapelle zu besuchen, um für die Seele des Königs zu beten, damit diese schneller zu Shar geleitet wurde. Sie sollten lieber in die Kirchen eilen, um für die Erlösung von 121
Celimus zu beten, dachte Wyl erbittert, während er sein Pferd durch den
mächtigen Steintunnel und unter dem Tor hindurchlenkte. Celimus hatte den Zeitpunkt perfekt gewählt. Da kaum ein Bewohner Morgravias auf den Straßen war und Stoneheart quasi einer Geisterstadt glich, konnte auch niemand von Rang und Namen von ihrer Abreise erfahren. Niemand bis auf einen kleinen Jungen und einen großen Hund, die ihnen in sicherer Entfernung folgten. Fynch hatte ihn ermahnt, ruhig zu bleiben, als er Knaves Schwanzwedeln bemerkte, während Wyl vorbeiritt. Wie gewöhnlich schien Knave die Warnung zu verstehen, und jetzt bewegten sie sich in ihrem eigenen Tempo voran, wobei sie die Staubwolke des letzten Reiters stets im Auge behielten. Fynch wollte sie bei Anbruch der Nacht einholen und dann hoffentlich einen Weg finden, Wyl von der Verschwörung zu überzeugen, die er zufällig mit angehört hatte. Fynch hatte seiner Schwester mitteilen lassen, sie solle sich nicht um ihn sorgen. Er war kürzlich bezahlt worden, also wusste er, dass seine Familie eine Zeit lang auskommen könnte. Er war den ganzen Weg nach Hause gelaufen, um den Esel zu holen - ihr einziges Vermögen - und einen Vorrat an getrockneter Nahrung, Hafer und Wasser zusammenzupacken. Fynch hatte nicht den leisesten Schimmer, wie lang er fort wäre oder was er ausrichten könnte. Während er den Reitern heimlich folgte, dachte er nur daran, Wyl zu erreichen und ihn vor der Falle zu warnen, die Celimus ihm gestellt hatte.
Stoneheart lag nun hinter ihnen, und das Signal war gegeben worden - der Trupp erhöhte das Tempo. Fynch bemerkte, dass die Pferde schon bald einen beträchtlichen Vorsprung gewannen. 122
»Nun komm, Knave, wir dürfen uns nicht abhängen lassen.« Er trat dem Maultier sachte in die Flanken, und das gutmütige Tier kam seinem Wunsch nach und schlug einen kurzen Galopp an. Knave sprang mühelos neben ihnen her. An der Spitze des Zuges ritt Wyl in eisigem Schweigen neben Romen Koreldy. Jeder außer Wyl war bewaffnet, doch sie hatten ihm die Fesseln abgenommen. Celimus wusste, dass Wyl mehr als entgegenkommend wäre, solange sich seine geliebte Schwester in seiner Hand befand. »Thirsk, das hier ist nicht persönlich gemeint«, sagte Romen schließlich, als sie ihre Pferde in einem langsameren Trab ausruhen ließen. »Für mich ist es das sehr wohl«, fauchte Wyl. »Ich verstehe. Es tut mir leid wegen deines Freundes.« »Was kümmert es dich?« »Weil es unnötig war und es keinen Grund dazu gab. Kein Mann sollte aus einer Laune heraus sein Leben verlieren müssen. Es war offensichtlich, dass du beinahe allem zugestimmt hättest, hätte Celimus lediglich deine Schwester bedroht. Wenn dir das irgendetwas bedeutet: Ich habe es nicht gutgeheißen.« Angewidert blickte Wyl fort. Romen nickte. »Ich verstehe. Aber wir Söldner befolgen einen Kodex. Wir töten nur, wenn es sich für uns auszahlt.« »Ich bin der General der Legion von Morgravia, Fremder. Söldner sind der Abschaum, der an den Absätzen unserer Stiefel klebt.« Der Mann seufzte. »Ja, so mag es den Anschein haben. Doch wir haben ebenfalls einen Platz in der Welt, weil wir 122
die unappetitlicheren Arbeiten verrichten, die überhebliche Soldaten wie du nicht ausführen wollen.« Wyls Kopf wirbelte herum, um den gut aussehenden Fremden mit den ungezwungenen Manieren zu mustern. »Ich töte nicht für Geld«, zischte er. Romen lächelte traurig. »Oh, wir alle töten schlussendlich für irgendeine Art von Reichtum. Es ist nur eine Sache der Sichtweise, Thirsk.« »Wer bist du, Koreldy?« »Nur jemand, der zufällig aufgetaucht ist. Lass uns lediglich so viel sagen: Ich bin nicht fürs traditionelle Kriegshandwerk gemacht. Übrigens, unsere beiden Großväter haben zusammen gekämpft - meine Wurzeln liegen in Morgravia.« Wyl war überrascht. »Umso mehr müsstest du diese Aufgabe verabscheuen.« Es ärgerte Wyl, dass der Mann grinste. Doch es lag keine Unfreundlichkeit darin. Es war lediglich ein ironisches Lächeln, das Wyl nicht zu interpretieren vermochte. »Du brauchst mich, Wyl Thirsk, denn ich bin der Einzige, der diese Meute zähmen kann, die uns folgt. Sieh mich nicht mit einem solch verachtenden Blick an - wir sind nicht so unterschiedlich, wie du denkst. Ich interessiere
mich nicht für Celimus' taktische Manöver, doch ich unterstütze sein Vorhaben. Morgravia und Briavel werden einander ansonsten zerstören und gegen die echte Gefahr aus dem Norden ungewappnet sein. Sein Verstand scheint zu funktionieren, auch wenn ich zugeben muss, dass euer neuer König seinen Pflichten mit einer gewissen Brutalität nachgeht.« Wyl verzog das Gesicht. »Er ist vollkommen verrückt.« 123
Wut kochte wieder in ihm auf, und er wechselte das Thema. »Was weißt du über die Bedrohung aus dem Norden?« Er hoffte, Koreldy könne etwas Licht darauf werfen, wie Gueryns Chancen standen, die tödliche Mission zu überleben. »Ich weiß, dass Cailech erstarkt und mit jedem Tag selbstbewusster wird. Er will seine Armee ausprobieren. Die Überfälle werden immer kühner und häufiger stattfinden. Merk dir meine Worte.« »Ein Barbar wird Morgravia nicht einnehmen«, erwiderte Wyl. »Selbst jemand, der so geistesgestört wie Celimus ist, wird das nicht zulassen. Außerdem hat er eine starke Abneigung gegen Cailech. Ich weiß nicht, wie sich diese Wunde derart tief eingebrannt hat, aber er hasst den Barbaren - und hat uns die ganzen Jahre hindurch erzählt, wie er sich seiner entledigen wird, sobald er König ist.« »Sei dir nicht so sicher, zu was der Gebirgskönig fähig ist. Er ist gebildeter, als du ihm das zugestehen willst«, warnte Romen. Wyls Stimme klang herablassend. »Und das weißt du natürlich aus erster Hand.« »Um genau zu sein, ja«, entgegnete Romen, der seinem Begleiter den Ton nicht übel zu nehmen schien. »Du bist ihm begegnet?« Der Söldner setzte erneut sein entwaffnendes Lächeln auf. »Ich habe eine Zeit lang an seiner Seite gekämpft.« Bevor ein überraschter Wyl das Gespräch fortsetzen konnte, hatte Romen die Männer angewiesen, wieder in Galopp zu fallen. Und so ging es weiter. Einige Stunden lang konnte Wyl seiner tiefen Trauer entfliehen, indem er Romen gestattete, 123
in seiner unbekümmerten Art über das Gebirgsvolk zu sprechen. Er war von dem Wissen des Mannes und seiner Unverfrorenheit beeindruckt, mit der er sich einen Weg in Cailechs Feste erschlichen hatte. »Und wo befindet sich die berühmte Steinfestung - oder existiert sie überhaupt nicht?«, fragte sich Wyl laut. »O doch, sie existiert und ist außerdem überwältigend. Wenn du sie jemals zu Gesicht bekommen solltest, wird dich ihre raffinierte Eleganz überraschen.« Wyl blickte ihn an und war versucht zu grinsen, doch er merkte, dass Romen jedes Wort ernst meinte. »Ich hoffe, du wirst sie eines Tages sehen, damit du weißt, dass ich kein Lügner bin.« »Aber warum warst du dort? Ich dachte, es sei jedem Fremden verboten, sich der Feste auch nur auf wenige Meilen zu nähern.«
Romen zögerte, und sein Gesicht verdunkelte sich für einen kurzen Moment. »Oh, Familienangelegenheiten«, antwortete er nicht besonders überzeugend, wie Wyl bemerkte. »Ich stamme aus Grenadyn, wie du weißt. Wir trieben Handel mit dem Gebirgsvolk. Lass uns einfach sagen, dass ich es schaffte, vernünftig mit Cailech zu reden.« »Wirst du mir von ihm erzählen?« Wyl war fasziniert. »Er ist ein Rätsel.« Romen grinste. »Ich glaube, ich erkenne einige meiner Charakterzüge in Cailech wieder, doch er ist sicherlich niemand, über den du dir leicht ein Urteil bilden kannst.« »Was meinst du damit?« »Er ist unberechenbar.« Romen zuckte die Schultern. »Cailech ist überlebensgroß. Er ist ein Held und seinem Volk treu ergeben. Das macht ihn gefährlich, sobald er wütend ist oder eine Form des Verrats wittert. Er belohnt 124
Loyalität und gewinnt die Bewunderung seiner Soldaten im Handumdrehen. Er ist gleichzeitig entspannt und unbekümmert, und im nächsten Atemzug lockt er dich mit seiner gerissenen Art in eine Falle.« »Fahr fort«, bedrängte Wyl ihn. »Was kann ich dir noch sagen? Er denkt lange über seine Entscheidungen nach. Sie mögen ungestüm erscheinen, doch das sind sie nicht, obschon er von Natur aus ein spontaner Mensch ist. Er handelt nach seinen Instinkten.« Wyl pfiff durch die Zähne. »Du scheinst von ihm beeindruckt zu sein.« »Das bin ich. Glaube mir. Ich kenne keinen Zweiten, der so erbarmungslos zu seinen Feinden sein kann, wie er großzügig zu seinen eigenen Leuten ist. Allerdings fürchte ich sein hitziges Gemüt. Wenn ihn jemand verärgert hat oder er sich bedroht fühlt, kann er grausamer sein, als du dir vorstellen kannst. Aber seine Überzeugungen sind wirklich recht einfach gestrickt, und dafür bewundere ich ihn. Vor allem bewundere ich seinen messerscharfen Verstand. Er ist so klug wie zehn Männer.« »Ein Gebirgsmensch«, spottete Wyl leise. »Lass dich nicht täuschen, Wyl. Er ist kein dummer, Bier saufender Barbar. Das ist ein Mann, der dazu geboren wurde, König zu sein.« Wyl dachte über seinen Ratschlag nach. »Was kannst du mir über die Feste selbst erzählen?« Romen lachte. »Viel, aber es wäre Verrat, Cailechs Feinden seine Geheimnisse preiszugeben. Er hat mich gut für meine Dienste bezahlt. Im Gegenzug genießt er meine Verschwiegenheit.« »Ein Söldner mit Moral«, höhnte Wyl. 124
»Du würdest dich noch wundern«, erwiderte der Mann gütig. »Sattel ab, wir schlagen unser Nachtlager hier auf.« Fynch und Knave holten den Trupp erst lange, nachdem die Lagerfeuer bis auf die Asche niedergebrannt waren, ein. Die Pferde wieherten nervös, als sich der große schwarze Hund vollkommen lautlos aus der Dunkelheit schälte. Fynch hatte seinen Maulesel geistesgegenwärtig ein gutes Stück abseits abgesattelt und festgebunden. Er knabberte glücklich an seinem Hafer und schien sich
überhaupt nicht für den Hund zu interessieren, der die meisten anderen Tiere seines Schlags einschüchterte. Der Junge wartete in der Dunkelheit und beobachtete, wie Knave zu Wyl tappte und seinem Herrchen übers Gesicht leckte. Dann verschwand der Hund so leise, wie er gekommen war, und kehrte in die Schatten zurück, wo Fynch zusammengekauert saß. Wyl fuhr hoch und blickte sich um. Das plötzliche Auftauchen seines Hundes hatte ihn erschreckt. Der Großteil der Söldner im Lager schnarchte; es gab keinen Grund, in diesem Teil des Königreichs Wachtposten aufzustellen. »Was ist los?«, flüsterte Romen mit geschlossenen Augen. Er hatte offenkundig einen leichten Schlaf. »Ahm ... ich muss mal... ahm ...« Der Mann seufzte. »Nur einen Augenblick, ich komm mit dir.« »Nein! Es ist nur, ich muss mal.« Romen gähnte. »Na gut. Du weißt, dass ich dir eine Hand am Rücken festgebunden lassen muss ... wird es klappen...?« »Ja, das wird schon gehen.« »Und ich muss das eine Ende an deinem Fußknöchel 125
festmachen - ich halte das andere Ende hier fest, damit du nicht in der Dunkelheit verschwindest.« »Ich gehe nirgendwohin, Koreldy. Das Leben meiner Schwester hängt davon ab, dass ich hier bei dir bleibe.« »Dann mal los.« »Es könnte ein wenig dauern - ich habe Magenprobleme.« »Lass dir ruhig Zeit«, erwiderte der Mann und gähnte erneut. Wyl entfernte sich vom Lagerfeuer, wobei er an einem Bein das lange Seil hinter sich her zog, dessen Ende an Romens Handgelenk geknotet war. Auf der anderen Seite des kleinen Hügels war er überglücklich, von Knave begrüßt zu werden, doch er war noch überraschter, den Kanaljungen vorzufinden, der mit weit aufgerissenen Augen ebenfalls auf ihn wartete. Fynch legte einen Finger an die Lippen, bevor er flüsterte: »Hört mir nur gut zu.« Er erzählte ihm alles, was er zufällig mit angehört hatte, während er im Plumpsklo des Aborts gehangen hatte, und dann alles, was seitdem passiert war. Lediglich die beunruhigende Vision sparte er aus. Er hielt sich knapp und versuchte, so präzise wie möglich zu bleiben. Wyl hörte ihm ergrimmt zu, wobei sich sein erbitterter Zorn allmählich in etwas Kaltes, Unnachgiebiges verwandelte. Celimus würde dafür bezahlen. Irgendwie, Shar bewahre, dachte Wyl, werde ich das alles überleben, und dann wird er für seine Schandtaten büßen. Er riss sich von seinen wutentbrannten Gedanken los und bemerkte, dass Fynch immer noch eindringlich auf ihn einredete. »... wir können Euch folgen und vielleicht eine Flucht bewerkstelligen.« 125
Wyl schüttelte energisch den Kopf. »Jetzt bist du an der Reihe, mir zuzuhören«, flüsterte er und erzählte Fynch alles, was an diesem Tag geschehen war. Er begriff, dass der kleine Junge nichts von König Magnus' Tod
wusste, da er zu jung war, um die Bedeutung der eigenartigen Trauerglocken zu verstehen, die den Tod des Monarchen eingeläutet hatten. Der Knabe war bestürzt, als er von Alyds Tod und dann Ylenas Zwangslage hörte, doch Fynch war ein tapferer kleiner Kerl und nahm sich um Wyls willen zusammen. »Beeil dich, Thirsk!«, rief Romen auf einmal von weiter hinten. »Ich komme«, erwiderte Wyl. »Du musst jetzt verschwinden«, flüsterte er Fynch zu. »Behalt Knave in deiner Nähe - und geh nach Hause, zurück nach Stoneheart. Vergiss mich.« Der Junge biss sich auf die Lippe. »Das kann ich nicht. Wir sind so weit gereist, um Euch zu helfen.« »Geh zurück, Fynch! Ich will dich nicht bei mir haben!« Wyl war absichtlich brutal. Er wollte nicht auch noch das Blut dieses mutigen Jungen an seinen Händen kleben haben, und Blut, das wusste er, würde schon sehr bald fließen. »Du kannst mir nicht helfen. Du bist... eine ... eine Nervensäge«, fauchte er leise, in der Hoffnung, Fynch so sehr zu verletzen, dass er ihm nicht weiter folgen würde. Wyl beobachtete, wie sich die Augen des Kindes vor Schmerz verengten, während er Knave zum Abschied tätschelte. Dann drehte er sich um, ohne sie eines letzten Blickes zu würdigen. »Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Romen verschlafen. »Ich werde nie wieder Eichhörnchen esse. Das war mir eine Lehre«, entgegnete er, legte sich hin und rief sich die 126
seltsame Witwe Ilyk und ihre Warnung ins Gedächtnis zurück, Knave und seinen Freund in seiner Nähe zu behalten. Hatte sie damit etwa Fynch gemeint? Wie konnte sie von ihm wissen? Er grübelte lange darüber nach, während ihn langsam ein unruhiger Schlaf überfiel, in dem er davon träumte, getötet zu werden und trotzdem am Leben zu bleiben. Es gab keine Spur von Fynch oder Knave, als sie am nächsten Mittag die westliche Grenze Briavels erreichten und am späten Nachmittag von einem Trupp Soldaten abgefangen wurden, die sie offensichtlich bereits erwartet hatten. Wyl vermutete, dass ihr Reiterzug schon die ganze Zeit verfolgt worden war, seit die Hufe ihrer Pferde briavellianischen Boden berührt hatten. Es war unmöglich, dass Morgravia-ner das feindliche Königreich betraten - das Gleiche galt natürlich auch umgekehrt -, ohne dass die Wachtposten in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Die Söldner stimmten ohne zu murren dem briavellianischen Befehl zu, einige Meilen vor der wunderschönen, von Mauern umgebenen Hauptstadt Werryl ihr Lager aufzuschlagen. Dort würden sie unter der leichten Bewachung der briavellianischen Garde verharren. Romen hatte Wyl bereits kurz in ihren Plan eingeweiht. Er hatte vorhergesehen, dass man ihnen entgegenreiten und sie zu König Valor eskortieren würde. Und Wyl wusste, dass er sich in einer Zwickmühle befand, denn solange er mitzumachen schien, wäre Ylena in Sicherheit. Auch ihm würde nichts zustoßen, bis er Valor getroffen hatte. Er hoffte, Shar wäre ihm gnädig und würde ihm ein
vertrauliches Gespräch mit dem König gewähren. Der Palast in Werryl war tatsächlich so atemberaubend, 127
wie die sagenumwobenen Geschichten behaupteten. Nur sehr wenige Morgravianer hatten ihn mit eigenen Augen gesehen, doch die Schönheit des Palasts wurde allen Erwartungen gerecht. Er war das schroffe Gegenteil zum düsteren Stoneheart und aus hellem Sandstein gebaut, der so farblos war, dass er beinahe weiß erschien; der Palast schimmerte von einem Hügel zu ihnen herab. Die Stadt Werryl erstreckte sich hinter den sicheren Palastmauern. Sie war kleiner als Pearlis, jedoch keineswegs weniger kultiviert, und ihre Architekten hatten offenbar ein schärferes Auge für Eitelkeiten. Selbst die Brücke, die zum Fallgatter führte, war herrlich gearbeitet und zeigte aus Marmor gefertigte Statuen der ehemaligen Könige und Königinnen, die Fackeln hielten und den Weg auch bei Nacht erleuchteten. Das Tageslicht schwand gerade, als Wyl und Romen die Brücke erreichten und die Wachtposten Fackeln entzündeten. Ihre Eskorte führte sie in die überfüllte Stadt und durch die hübschen Straßen mit Kopfsteinpflaster bis zum Palasteingang auf einer leichten Anhöhe. Ein Bote war ihnen vorausgeeilt, und verschiedene Würdenträger erwarteten sie. Nachdem die Vorstellung beendet war, brachte man sie höflicherweise zu einer nicht-öffentlichen Badeanstalt, wo sie sich nach ihrer zweitägigen Reise frisch machen konnten. Es war eine zuvorkommende Geste. Als Wyl in einer Wanne mit heißem Wasser lag, begann er sich zum ersten Mal wieder zu entspannen. Nachdem er Fynchs Geschichte gehört hatte, hatte er nun akzeptiert, dass er auf dieser Reise wahrscheinlich sterben würde, doch er hatte nicht die Absicht, sein eigenes Leben zu verlieren, ohne Ylenas zu retten. Celimus würde sie sowieso 127
umbringen, egal, ob Wyl seinen Auftrag erfolgreich ausführte oder nicht davon war er jetzt überzeugt. Er warf einen Blick zu Romen hinüber, der reglos wie eine Statue im parfümierten Wasser eines weiteren Zubers lag: mit geschlossenen Augen und geschwungenen Wimpern, die seine gebräunten Wangen berührten. Sein langes, frisch gewaschenes Haar war zurückgestrichen, und Wyl bewunderte das fein gemeißelte Profil. »Warum starrst du mich an?«, fragte Romen leise. Wyl musste trotz seiner gedrückten Stimmung lächeln. Romen war mit jeder Faser seines Körpers der Soldat, der er vorgab, nicht zu sein. Selbst in der Wanne liegend entging dem Mann nicht die kleinste Bewegung oder Veränderung um ihn herum. Er war beeindruckend. »Ich habe mich nur gerade gefragt, wie geschickt du mit dem Schwert umzugehen weißt.« »Meine Lieblingswaffe ... obwohl ich umwerfend gut beim Messerwerfen bin«, erwiderte Romen und bewegte sich immer noch nicht. »Wo hast du das gelernt?« »Oh, weit weg von hier.«
»Du bist also schon viel gereist?« »Und müde bis auf die Knochen.« »Warum tust du es dann, Romen? Weshalb verkaufst du dich?«, erkundigte sich Wyl, der aufrichtig an einer Antwort interessiert war. »Weshalb nicht?« Wyl erkannte, dass sein Begleiter es vorzog, ein Geheimnis zu bleiben. »Wie hat Celimus dich aufgespürt?« Jetzt öffnete der Mann ein Auge. »Kannst du dir vorstellen, dass ich die Antwort darauf nicht kenne? Wie unge 128
mein ärgerlich«, sagte er. »Anscheinend über einen gemeinsamen Bekannten.« »Wie viel zahlt er dir dafür, mich umzubringen?« Bei diesen Worten rührte sich Romen. Er öffnete beide Augen und sah Wyl an, wobei sein silberner Blick auf einmal durchdringend wurde. »Nicht genug.« »Gibt es etwas, das ich ...« »Nein«, unterbrach ihn Romen. »Ich breche nie mein Wort. Aber ich werde dir einen Gefallen tun, Wyl Thirsk. Ich werde deine Schwester retten.« Jetzt war Wyl an der Reihe, den anderen Mann anzustarren. Das schmerzhafte Pochen in seiner Magengegend kehrte zurück. Was konnte er damit nur meinen? »Fahr fort«, sagte er. »Der König von Morgravia tötet zum Vergnügen. Das gefällt mir nicht. Was auch immer zwischen euch vorgefallen ist, so spüre ich, dass du ihm denselben Hass entgegenbringst wie er dir. Ich werde für niemanden Partei ergreifen. Trotzdem ... was er der jungen Frau, offensichtlich einer Unschuldigen, angetan hat, ist unverzeihlich.« »Er wird sie auf jeden Fall umbringen, egal, was hier herauskommt«, sagte Wyl. »Das ist mir bewusst. Aber du kannst deinen Tod in der Gewissheit finden, dass ich es nicht erlauben werde.« »Du wirst mir verzeihen, doch ich finde deine Worte nicht so beruhigend, wie sie wohl klingen sollen«, gab Wyl zu und goss sich einen Becher Wasser über sein kurzes rotes Haar. »Du solltest beruhigt sein. Ich bürge für das Leben deiner Schwester. Indes bist du ein Soldat, und der Tod sucht schlussendlich jeden heim, der eine Klinge trägt, ausge 128
schlossen meine Wenigkeit. Es gibt keinen edleren Tod für einen Soldaten, als im Kampf zu sterben.« »Allerdings werde ich nicht kämpfen, nicht wahr?« »Doch, das wirst du. Wenn wir das, weshalb wir hier sind, erledigt haben, werde ich dir dein Schwert zurückgeben, Wyl Thirsk, und wir werden uns duellieren. Falls du mich töten solltest, bist du ein freier Mann. Falls ich dich töte, werde ich meine großzügige Belohnung abholen.« Wyl dachte darüber nach. »Aber wenn ich dich töte, ist meine Schwester verdammt.«
»Nun ja, hier liegt der Schwachpunkt in dem Plan, doch dann kannst du sie ja retten. Du hast die Legion auf deiner Seite. Trommel deine Männer zusammen und stürz den König. Er wird Morgravia in den Ruin treiben, wenn du ihn nicht aufhältst.« Warum mag ich diesen Mann nur\ »Wie schade, dass wir uns unter diesen Umständen treffen, Romen. Ich hätte dich gerne auf meiner Seite gehabt.« Der Mann lächelte und sank tiefer in den Zuber. 129
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ALS VALORS KANZLER Wyl und Romen begrüßte, erklärte er ihnen, dass der König General Thirsk unter vier Augen sprechen wolle. Romen erwiderte anfänglich nichts, obwohl er zynisch wie immer eine Augenbraue hob. »Ich werde draußen warten«, sagte er schließlich zu dem Mann. »Ich bin die persönliche Leibgarde des Generals auf briavellianischem Boden. Ich stehe mit meinem Leben ein, ihn nicht... unbeaufsichtigt... zu lassen«, fügte er hinzu, wobei er seine Worte sorgfältig wählte. Wyl grinste und wünschte erneut, dass er und Romen sich zu einem anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort getroffen hätten. Der Kanzler schürzte die Lippen, als sei er tief gekränkt. »General Thirsk hat in Briavel nichts zu befürchten, solange er hier als diplomatischer Gesandter unterwegs ist, Sir. Wir haben für Euch ein Abendessen vorbereitet...« »Nein danke, mein Freund«, sagte Romen und legte ihm zwanglos die Hand auf den Arm. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich habe meine Befehle, nicht wahr, General?« Wyl setzte ein zerknirschtes Gesicht auf, war allerdings insgeheim hocherfreut, Zeit allein mit dem König zu ver 129
bringen. »Vielleicht könnte Romen sein Abendessen draußen einnehmen, Kanzler Krell?« Hoffnungsvoll blickte er den Mann an. »Ihr meint, vor dem Zimmer, in dem Ihr den König trefft«, erwiderte Krell trocken. Es war keine Frage. »Ganz genau, das soll es bedeuten«, sagte Romen und klopfte dem Mann nun auf den Rücken. »Vielen Dank. Ein wenig Nahrung käme sehr willkommen«, sagte er und drehte sich zu Wyl um. »Ich werde hier draußen warten, Sir . . . falls ich benötigt werde.« »Vielen Dank«, erwiderte Wyl und folgte Krell, der Romen bereits den Rücken zugewandt hatte. Romen packte Wyl am Arm und flüsterte ihm zu: »Keine Tricks, verstanden, Thirsk? Oder unsere Abmachung ist hinfällig.« Wyl nickte. Er wurde in ein großes, prächtiges Zimmer geführt, wo bereits ein üppiges kaltes Abendessen beim Kamin aufgetischt stand. Ein hochgewachsener und scheinbar ebenso breiter Mann erwartete ihn. Wyl wurde angekündigt, und man ließ die beiden allein. »Gütiger Shar, Ihr seid Eurem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, Junge!« Wyl verbeugte sich tief. »Ich nehme das als Kompliment an, Sire.«
»Und meine Spione berichten mir, Ihr würdet zu einem ebenso guten Mann wie er heranwachsen.« König Valor fasste Wyl sanft an den Schultern und sah ihn an. »Willkommen in Briavel, mein Sohn.« Es war verwirrend. Er mochte den beleibten Herrscher 130
augenblicklich. Dies hier war der Feind, gegen den sein Vater und Magnus den Großteil ihres Lebens Komplotte geschmiedet hatten, und trotzdem kam es ihm vor, als hätten sie alle die besten Freunde sein sollen. »Ich fühle mich geehrt, Sire.« »Welche Neuigkeiten gibt es aus Morgravia, die Ihr mir mit gutem Gewissen und ohne ein Geheimnis zu verraten erzählen könnt?«, fragte Valor freundlich, während er aus einer kostspieligen Karaffe Wein in zwei Kelche goss und dann einen davon Wyl reichte. »Auf Eure Gesundheit«, fügte er hinzu und hob seinen Becher. Wyl folgte seinem Beispiel, und beide nahmen einen Schluck. Der Wein war erlesen, und angesichts der Köstlichkeiten, die vor ihm ausgebreitet lagen, merkte Wyl, dass weder Mühen noch Kosten für den morgravianischen Gesandten gescheut worden waren. »Ernste Neuigkeiten, Sire«, sagte Wyl, und als der König fragend eine Augenbraue hob, berichtete er ihm von Magnus' Ableben. Valor hörte auf zu trinken und setzte bestürzt den Kelch ab. Offensichtlich traf ihn diese Nachricht unvorbereitet. »Wie fürchterlich! War Magnus etwa nicht bei guter Gesundheit?« »Nein, Sire. Er war schon seit einigen Monaten krank. Ich nehme an, es war die Schwindsucht.« »Ach, eine schreckliche Sache. Es tut mir sehr leid, das zu hören, Wyl. Wir waren Feinde, aber ich habe ihn immer hoch geschätzt - wie auch Euren Vater. Sie waren sehr gute Männer, obschon sie Morgravianer waren.« Ein leises Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. »Ich verstehe jetzt, warum die Ankündigung Eures Kommens von Celimus 130
stammte. Ich dachte, der Prinz sei mehr in die königlichen Pflichten eingespannt worden. Shar bewahre! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Körper des alten Schurken bereits kalt ist - der Sohn hat nicht gerade Zeit vergeudet, seine neue Position zu bekleiden.« Wyl erwiderte nichts, doch sein Schweigen sprach Bände. »Ich verstehe. Dann lasst uns auf Magnus trinken«, sagte Valor und hob sein Glas. »Mag seine Seele zu Shars Licht eilen.« Die beiden nahmen einen Schluck. »Und jetzt setzt Euch, Wyl Thirsk. Wir haben Geschäfte zu besprechen und dann ein Abendessen zu genießen. Meine Tochter wird hoffentlich bald zu uns stoßen.« Wyls Gesicht musste einen fragenden Zug angenommen haben, denn der König fügte hinzu, dass seine Tochter gebeten worden war, ihnen Gesellschaft zu leisten, im Moment jedoch unauffindbar sei. Wyl entschloss sich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Valentyna spielte fürwahr keine Rolle, was das Aushandeln der arrangierten Ehe betraf.
»Sire«, sagte Wyl und nahm allen Mut zusammen, »hat Celimus Euch einen Anhaltspunkt gegeben, weshalb ich hier bin?« »Der Bote hat uns lediglich mitgeteilt, dass wir mit einer Gesandtschaft von Celimus zu rechnen haben. Ich muss Euch sagen, Thirsk, dass ich nicht gewohnt bin, mir vorschreiben zu lassen, jemanden in meinem eigenen Land willkommen zu heißen, und am wenigsten einen Morgravianer.« Er bemerkte Wyls Nicken und fuhr fort: »Die Worte Eures neuen Königs waren eine Spur herablassend, um es milde auszudrücken, weshalb ich darauf bestand, Euch 131
allein zu treffen. Ich hoffe, es wurde als Beleidigung aufgefasst?« »Das wurde es, vielen Dank, Sire«, erwiderte Wyl und wagte ein Grinsen. Valor tat es ihm gleich. »Gut. Und ich sage Euch noch etwas: Ihr habt es allein dem guten Ruf Eures Vaters zu verdanken, dass ich Euch und Eure Begleiter überhaupt empfange.« Wyl nickte erneut. »Ich glaube, mein König hat auf diese Wirkung gebaut, Sire.« »Und worauf hat er noch gebaut?« »Eure Majestät?« Valor beugte sich vor, und sein silbernes Haar leuchtete wie ein Nimbus um seinen Kopf. »Warum seid Ihr hier, Wyl? Was will Euer König von Briavel, mein Sohn?« Wyl war verärgert, einen solch geistlosen Eindruck von sich abgegeben zu haben. Er entschied sich, direkt zu sein -wie ein Soldat. »Eure Tochter, Sire. Er möchte Valentyna.« Der König zuckte zusammen, erst wegen der Worte und dann von der weiblichen Stimme, die auf einmal von einer Geheimtür hinter ihnen zu vernehmen war. »Wer will mich?«, fragte sie. Wyl sprang von seinem Sessel auf und war nun ebenso erschrocken über die Ankunft der eindrucksvollen Frau, die mit Staub bedeckt war und Reitkleidung trug ... Reitkleidung für Männer. Valor seufzte. »Meine Liebe, warum benutzt du auch weiterhin den geheimen Zugang zu meinen Gemächern? Du weißt ganz genau, dass mich das ärgert.« »Weil er geheim ist, liebster Vater, und weil es dich ärgert und schon immer getan hat, seit ich ein kleines Mädchen 131
war«, erwiderte die amüsierte Stimme. Valentyna durchmaß das Zimmer mit langen, schmalen Beinen und gab dem alten Mann einen staubigen Kuss auf die Wange. »Ihr müsst der Gesandte sein«, sagte sie, drehte sich zu Wyl um und betrachtete ihn von ihrer beträchtlichen Höhe aus. »Ein bisschen zu klein für einen Abgesandten, nicht wahr?«, erklärte sie gewollt witzig. »Sollen sie nicht normalerweise hochgewachsen und eindrucksvoll sein, damit sie ihr Gegenüber einschüchtern können?« »Valentyna, sei still! Das ist Wyl Thirsk. Er ist niemand Geringeres als der General der morgravianischen Legion. Zoll ihm gefälligst Respekt«, tadelte der König seine Tochter, doch nicht, ohne dass ein stilles Lächeln zwischen den beiden ausgetauscht wurde.
Wyl errötete. Sie musterte ihn erneut, und nach einer knappen Verbeugung hielt sie ihm die Hand hin, damit er sie küssen konnte. Sie roch nach Leder und Pferden. Er verneigte sich, und da keiner der vertrauten Gerüche ihn störte, küsste er ihr gern die Hand. »Eure königliche Hoheit«, sagte er, wobei ihn der dunkelblaue Blick, der ihn von oben aufspießte, aus der Ruhe brachte. »Entschuldigt vielmals, General Thirsk, Prinzessinnen sind manchmal zu Scherzen aufgelegt«, sagte sie und ließ ihre Hand in seiner liegen. »Vergebt mir. Ich werde mich rasch frisch machen und Euch dann an das Gespräch erinnern, das Ihr kurz vor meiner Ankunft führtet.« Ihre vollen Lippen bedachten Wyl mit einem Grinsen. »Übrigens, Vater, die liebe alte Norma hat heute Morgen das wunderschönste Hengstfohlen geboren. Ich bin immer noch hin und weg vor Glück, dass er lebt und brav saugt. Er hätte es fast nicht geschafft, erinnerst du dich?« 132
Ihr Vater nickte. »Ja, meine Liebe, und ich darf annehmen, dass du bei dem ganzen Drama mittendrin stecktest?« Sie umarmte ihn. »Ich habe ihn in den frühen Morgenstunden zur Welt gebracht. Außerdem möchte ich ihn auch - ich habe ihm bereits einen Namen gegeben, weil ich die Erste war, die ihn berührt hat. Er heißt Adamant. Vielen Dank, Vater.« Sie sagte das alles in gespielter Hektik, um den König zu becircen. »Valentyna, er ist ein preisgekrönter Zuchthengst, du kannst...« Doch seine Tochter war bereits davongeeilt und hatte die Geheimtür geschlossen, noch bevor er den Satz vollenden konnte. »Ich glaube, sie kann es, Sire«, sagte Wyl und leerte seinen Wein in einem Zug. »Dieses Mädchen wird mich noch mal ins Grab bringen«, gab Valor zu und schüttelte kläglich den Kopf. »Aber sie ist unwiderstehlich. Nun kommt, Wyl. Sie wird schneller zurück sein, als Ihr Euch das vorstellen könnt. Im Gegensatz zu anderen Frauen braucht sie nicht lange, um sich umzukleiden und fertig zu machen ... wenn Ihr versteht, was ich meine.« Wyl nickte, obwohl er nichts verstand. Immerhin benötigte seine Schwester sogar mehrere Stunden, um sich für einen Tag ohne Besucher vorzubereiten. Er hatte immer noch das Gefühl, als müsse er erst einmal tief Luft holen nach dem Wirbel, den Valentyna verursacht hatte, zwang sich jedoch, seinen vorangegangenen Gedankengang wieder aufzunehmen. »Celimus wünscht, Eure Tochter zu ehelichen, Sire.« »Das dachte ich mir schon«, sagte Valor, dem die kurz 132
angebundene Direktheit seines Gastes gefiel. Er schenkte ihnen nach. »Aber lasst uns noch nicht davon sprechen. Valentyna soll alles selbst hören.« Wyl war überrascht, aber er genoss es auch, sich am Feuer zu entspannen und den köstlichen Wein seine ganz eigene Magie wirken zu lassen, während sie warteten. »Sagt mir, Wyl, warum hat Celimus Euch mit einem Söldnertrupp als Eskorte geschickt, und, was weit wichtiger ist: Weshalb habt Ihr das akzeptiert?«
Auf diese Frage war er vorbereitet. »Nun, er glaubte, es sei unpassend, Soldaten aus der Legion zu schicken.« »Und Ihr fühlt Euch wohl bei der Sache?« »Nein, Sire«, gestand er. »Mir ist dabei ganz und gar nicht wohl.« »Ihr seid also gegen Euren Willen hier?« »Das könnte man so sagen.« Valors Augen verengten sich, als er über die sichtlich bedachte Wortwahl des jungen Generals nachdachte. »Entspräche es der Wahrheit, dass Euch Celimus auf dem Thron wenig zusagt?«, fragte er und ermöglichte Wyl so, lediglich zu nicken, falls er das wollte. »Ja.« »Ihr seid also ein Gefangener auf einer politischen Mission und werdet benutzt, weil Euer Name Türen öffnet?« Wyl nickte und legte einen Finger auf die Lippen. »Dieses Zimmer hat Mauern, die doppelt so dick sind wie unsere Köpfe, mein Sohn. Sie mögen draußen Stimmen hören, doch nichts, was wir hier besprechen, kann von jemandem mit klarer Deutlichkeit vernommen werden.« »Sire. Ungeachtet dessen, was ich persönlich von Celimus halte, bin ich Morgravia ebenso treu ergeben, wie mein 133
Vater es war. Ich halte dieses Angebot für einen Geniestreich. Dadurch könnten all jene unter uns, die sich nach Frieden für die beiden Königreiche sehnen, ihn ohne Blutvergießen erreichen. Noch entscheidender, Majestät, ist die Bedrohung, die von Cailech im Norden ausgeht. Eine Heirat zwischen unseren Königreichen würde die sinnlosen Kriege zwischen Ost und West beenden und den beiden südlichen Ländern erlauben, ihre Aufmerksamkeit gemeinsam darauf zu verwenden, die Macht des Gebirgskönigs zu zerschlagen, damit er in keines unserer Gebiete einfallen kann. Ich denke, Ihr stimmt mir zu, Sire, dass wir die erzwungene Gesellschaft des anderen vor der der Barbaren den Vorzug geben.« Der alte König lächelte über den dezenten Witz, seufzte jedoch gleichzeitig. »In diesem Punkt habt Ihr recht. An unseren nördlichen Grenzen gibt es Scharmützel, die anscheinend von Jahr zu Jahr zunehmen. Ich habe unsere Truppen dort oben verstärkt, aber ich mache mir um Valentyna Sorgen, wenn sie die Herrschaft übernehmen sollte. Auch ich wünsche mir Frieden für unsere Nationen - vielleicht können wir zusammen gegen den Gebirgskönig antreten. Ich bin mir nicht sicher, weshalb wir uns so sehr hassen. Die Gründe reichen schon viele Jahrhunderte zurück, und ich habe einfach den alten Hass aufrechterhalten. Jungspunde machen das wohl so. Wir hätten bereits vor langer Zeit damit aufhören und unsere zwei Thronfolger einander ewige Treue schwören lassen sollen. Sicherlich will keiner von uns, dass unsere Kinder diesen sinnlosen Teufelskreis des Krieges weiterführen.« »Also habe ich Euer Einverständnis zur Hochzeit, Eure Majestät?« 133
»Ja, natürlich. Allerdings ist das keinen Pfifferling wert, wenn Valentyna nicht zustimmt.« Der König lächelte, als er die Überraschung und Verwirrung auf
Wyls Gesicht bemerkte. »Valentyna ist mein Ein und Alles, Wyl. Sie macht mich unendlich glücklich, und das nicht nur, weil sie meine Tochter ist, sondern weil sie zu einem wundervolleren Menschen geworden ist, als ich mir je erträumen könnte. Sie spürte schon von klein auf, dass ich Briavel enttäuscht haben könnte, weil ich dem Land einen weiblichen Thronerben schenkte. Das hat sie ganz allein herausgefunden und sich in den Kopf gesetzt, mindestens so gut zu sein wie der Sohn, den ich Briavel verwehrt habe. Sie reitet besser als die meisten Männer, die ich kenne; sie kann einen Hirschen mit einem einzigen Pfeil erlegen und dann das Tier schneller und geschickter häuten, als mir das je gelang, und da war ich doppelt so alt wie sie. Sie kann mit dem Schwert umgehen und hat alles über Kriegsstrategien gelernt - wobei ich hoffe, dass sie nie in die Lage kommen wird, ein solches Wissen anwenden zu müssen. Es gibt nichts Weiches oder Rührseliges an dieser Frau, Wyl, und trotzdem ist sie das schönste Wesen mit einem großen Herzen und dem Wunsch, Briavel mit fester Hand, doch gleichzeitig einer Großzügigkeit zu regieren, die nur eine Frau besitzt. Sie hat ein offenes Ohr für die Bedürfnisse ihres Volkes. Sie wäre eine großartige Herrscherin, wenn ihr gestattet wird, den Thron zu besteigen. Das ist auch der Grund, weshalb ich ihr zu dieser Heirat zureden werde, die Briavel endlich den lang ersehnten Frieden bringt. Ich fürchte, dass Celimus mit Krieg antworten wird, wenn wir unser Einverständnis nicht geben?« Wyl nickte. »Das denke ich ebenfalls, Sire.« 134
Erleichterung durchströmte Wyl. Während der König redete, musste er wieder an Ylena im morgravianischen Kerker denken. Jetzt wusste er, dass sie in Sicherheit war. Er zweifelte nicht daran, dass Romen sein Versprechen halten und sie aus Celimus' Händen befreien würde. Ein weiteres Mal war es Valentynas Ankunft, die ihn aus seinen Gedanken riss. Die beiden Männer standen auf und drehten sich um. Wyl verschlug es schier den Atem. Die Männerkleidung war verschwunden, die staubigen Hände und das mit Schlamm verschmierte Gesicht gewaschen. Zerzaustes Haar, das sie zuvor nachlässig unter einem Männerhut versteckt hatte, fiel nun dunkel und schimmernd über ihre nackten Schultern. Sie hatte ein einfaches Kleid angezogen, das keinerlei Verzierungen aufwies, doch die rubinrote Farbe betonte ihre cremeweiße Haut und brachte ihr rabenschwarzes Haar wunderschön zur Geltung. Sie hatte ihr Gesicht nicht geschminkt; der gesunde Glanz kam nur von ihrem energischen Schrubben. Valentyna war hochgewachsen und schlank - vielleicht ein wenig zu dünn, befand Wyl, als er sich die beinahe jungenhafte Figur in den Reiterhosen noch einmal ins Gedächtnis rief. Und trotzdem hatte sie eine anmutige Würde an sich, als sie durch den Raum glitt, um ihren Vater erneut zu küssen. »Ach, das ist besser. Jetzt siehst du wie eine Prinzessin aus, meine Liebe«, sagte er und lächelte nachsichtig. »Ich habe mich vorhin wohler gefühlt«, erwiderte sie. Dann wandte sie sich zu Wyl um. »Diesen glanzvolleren Aufzug habe ich allein Euretwegen angelegt, Sir.« Wyl, dem es schwerfiel zu reden, murmelte etwas da
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rüber, wie glücklich ihn das mache und erschauderte bei dem Gedanken, wie eigenartig er sich fühlte und geklungen haben mochte. »Sollen wir essen?«, bot sie fröhlich an, und die Männer setzten sich zu ihr an den Tisch. Wyl verbrachte die nächsten Stunden in einem Wirbel der Verwirrung. Unter dem Tisch verriet ihn sein Körper des Öfteren, als Valentynas tief geschnittenes Dekolletee jedes Mal die betörenden Hebungen ihrer Brüste zeigte, sobald sie über den Tisch griff, um sich von den Speisen zu bedienen. Und wenn sie ihren blauen Blick auf ihn richtete und Wyl den Eindruck vermittelte, dass niemand im Raum wichtiger war als er oder das, was er zu sagen hatte, stockte ihm der Atem. Er bemerkte, dass er seinen eigenen Herzschlag und das Pochen des Blutes in seinen Ohren spüren konnte. All das verursachte ein beunruhigendes und gleichzeitig wunderschönes Gefühlschaos in ihm, während die lebhafte Valentyna über alles Mögliche redete, angefangen von ihrem neuen Hengst bis zu ihren Plänen, die Zäune am nördlichen Ende irgendeines Weinbergs zu prüfen. »Ziegen, Schafe, Wildpferde. Sie trampeln einfach durch unsere guten Rebstöcke«, beschwerte sie sich. »Ich werde den Großteil des Tages fort sein, Vater«, fügte sie hinzu. Mit gespielter Verzweiflung sah er zu Wyl. »Ihr seht, ich habe keinerlei Kontrolle über sie«, gab er offen zu. »Du bist jedoch sehr nahe dran, Sire«, erwiderte sie voller Liebe in der Stimme, »aber ich muss dir sagen, dass es wohl kein Mann schaffen wird.« Bei diesen Worten wusste Wyl tief im Herzen, dass er die Heirat von Valentyna und Celimus unter allen Umständen 135
verhindern musste. Sie war zu klug, zu schön, zu dickköpfig, zu talentiert und viel zu eigenständig, um an einen arroganten, grausamen Celimus verschwendet zu werden. Sie würden einander hassen, und eine neue Art Krieg würde zwischen den beiden Königreichen ausbrechen. Es würde der Beziehung zwischen Adana und Magnus gleichen; Geschichte wiederholte sich stets. Nur dass Valentyna weder grausam noch berechnend war, stattdessen würde sie unterdrückt werden. Er blickte zu dem sanften Pulsschlag, den er an Valentynas Kehle ausmachen konnte, und musste daran denken, wie Celimus ihre zarte Haut berühren könnte. Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel. Wyl unterbrach das Gespräch mit der Frage, ob es einen Abort gäbe, den er benutzen dürfte. Valor, der sich über die plötzliche Blässe des Generals wunderte, zeigte auf eine schmale Tür, die geschickt hinter einem Wandteppich verborgen lag. In der Abgeschiedenheit des Aborts kam er wieder zur Besinnung, erfrischte sein Gesicht mit kaltem Wasser aus einer Kanne und schüttelte kläglich den Kopf über die missliche Lage, in der er sich befand. Er würde sich zwischen Ylena und Valentyna entscheiden müssen und ertappte sich bei dem Gedanken, ob er nicht mit Romen feilschen sollte; vielleicht konnte er Ylena dennoch retten?
»Geht es Euch gut, Wyl?«, erkundigte sich Valentyna und berührte seine Hand, als er an den Tisch zurückkehrte. Ihre warme Berührung sandte eine köstliche Welle des Glücks durch seinen Körper. »Vergebt mir meine Offenheit, aber das ist das größte Abflussloch, das ich je gesehen habe«, sagte er, um sein plötzliches Aufspringen vom Tisch zu verharmlosen und den Wunsch niederzukämpfen, ihre Hand zu nehmen und zu 136
küssen. Sie lachten beide, überrascht über den Themenwechsel. »Nun, die Abortlöcher in Morgravia sind viel schmaler«, fügte er peinlich berührt hinzu und zuckte mit den Schultern. »Welch appetitanregender Gegenstand beim Abendessen, das muss ich schon sagen«, scherzte Valentyna, und ihre Augen leuchteten vor Belustigung. »Vergebt mir«, sagte er und meinte es wirklich ernst, doch sie wischte seine Entschuldigung mit einer Handbewegung fort. »Nein, das werde ich nicht. Im Gegensatz zu den steifen Gesprächen, durch die ich mich mit den Freunden meines Vaters normalerweise quälen muss, genieße ich Eure Direktheit. Ich mag Euch, Wyl. Ich mag es, dass Ihr Euch hier unwohl fühlt«, sagte sie, und er spürte, wie ihr Lächeln ihn wie ein warmer Sonnenstrahl berührte. »Ich bin nur ein Soldat, königliche Hoheit«, erwiderte er ehrlich. »Ich sollte nicht hier sein.« Valor räusperte sich. »Was uns zu dem Grund Eures Besuchs führt, Wyl. Valentyna, meine Liebe, der General überbringt dir einen Heiratsantrag vom neuen König von Morgravia. Das haben wir vorhin besprochen.« Wyl bemerkte, dass sie zu kauen aufhörte, doch nur das verriet ihre Bestürzung. »Und was habt ihr in dieser Angelegenheit beschlossen?«, fragte sie kühl und verbarg erneut ihre Empfindungen. »Nur das, was du von uns erwarten würdest - dass eine solche Verbindung den zwei verfeindeten Königreichen Frieden bringen würde, die beide aus dem Teufelskreis von Krieg und Tod ausbrechen müssen.« Valentyna legte ihre Gabel beiseite und warf ihrem Vater 136
einen langen Blick zu. »Ich habe ihn nie getroffen, Vater -außer du zählst dieses eine Mal vor all den Jahren.« »Oh, nun komm schon, mein Kind. Du warst ein kleines Kind und ...« »Sehr fett, ja, das weiß ich«, unterbrach sie ihn. »Aber ...« »Ich wollte eigentlich sagen ... und leicht zu ärgern. Du hast dich seitdem sehr verändert, mein Kind. Du bist eine außergewöhnliche junge Frau und in so vielen Dingen bewandert, die ich mir nie hätte erträumen lassen. Du bist mein ganzer Stolz und wirst für jeden König eine umwerfende Königin abgeben.« »Vielen Dank.« Ihre Augen wurden weicher. »Aber wir kennen ihn nicht, Vater.«
»Und hier haben wir den perfekten Mann am Tisch sitzen, der uns mehr erzählen kann. Nun kommt schon, Wyl, erklärt meinem kostbaren Mädchen, warum Celimus sie glücklich machen könnte.« Wyl griff nach seinem Kelch und nahm einen großen Schluck. In diesem kurzen Moment flehte er Ylena inständig an, ihm zu verzeihen. »Das kann ich nicht, Sire«, sagte er und stellte den Becher zurück auf seinen Platz. »Wie bitte?« Jetzt war der König an der Reihe, bestürzt zu sein. Eindringlich musterte Valentyna Wyls Profil. Er spürte, wie die ihr zugewandte Seite seines Gesichts zu brennen und sein Herz vor Begierde nach dieser Frau zu hämmern begann. Sein Atem ging schneller, und auf einmal fühlte er sich wie benommen. War es möglich, sich derart plötzlich in jemanden zu verlieben? Seine Mutter glaubte es und hatte es ihm lächelnd erzählt, als sie Wyl von ihrem ersten Treffen mit Fergys Thirsk berichtete. 137
Wyl hatte die Stunden mit seiner Mutter immer genossen, die sie gemeinsam in ihren privaten Gemächern verbracht und sich unterhalten hatten. Genau wie sie waren die Zimmer wunderschön. Gefüllt mit den ausgesuchtesten Dingen und ungemein geschmackvoll, jedoch weder protzig noch angeberisch eingerichtet. Wenn man zusammen mit Fergys Thirsk wohnte, konnte man sich keine dieser Eigenschaften leisten. Fergys sagte stets, dass Helyna sein kostbarstes Kleinod sei. Und bei diesen Worten nahmen die Augen seiner Mutter einen weichen Zug an, und seine Eltern tauschten bei diesen seltenen Gelegenheiten, wenn ihre Familie tatsächlich einmal gemeinsam in Argorn weilte, einen besonderen Blick aus. Er liebte es, mit seinem Vater und Gueryn auszureiten. Das hieß, wenn sie ihn wie einen Mann behandelten und von Erwachsenendingen sprachen, vor allem Kriegsführung sowie der Verantwortung für das Landgut und den Familiennamen. Doch seine größte Freude bestand darin, sich an den Knien seiner Mutter zusammenzurollen, während sie nähte und ihm Geschichten erzählte. Und seine Lieblingserzählung war die, wie sie den mächtigen General bei einer offiziellen Gesellschaft traf, als der König und sein Oberbefehlshaber der Armee durch Ramon zogen, nachdem sie sich um Angelegenheiten im Norden gekümmert hatten. »Ich war so jung, Wyl. Noch nicht einmal sechzehn ...«, begann sie dann. Sie bemühte sich stets nach Kräften, die Geschichte genau gleich zu erzählen - so wie er sie liebte -, und als Wyl gerade einmal fünf war, kannte er sie bereits auswendig und tadelte seine Mutter, wenn irgendein Teil der Erzählung ausgelassen oder auch nur das Geringste verändert worden war. 137
»Meine drei Schwestern und ich hatten schon sehr viel über König Magnus gehört - wir wussten, dass er hochgewachsen und mit seinen goldenen Haaren atemberaubend schön war. Wir konnten unsere Aufregung in den zwei Tagen vor seinem Besuch kaum im Zaum halten. Und das Essen! Wir brieten einen Ochsen zu seinen Ehren am Spieß, aber es gab außerdem erlesene Fischgerichte und köstliches Geflügel, Tauben und Enten. Die Liste war schier unendlich, Wyl. Ich glaubte schon, die Küche würde von all dem hysterischen
Trubel explodieren.« Und dann seufzte sie für gewöhnlich. »Wir alle wollten den König bedienen, aber Mutter sagte, es sei am angemessensten, wenn ich als Jüngste diese Aufgabe übernähme. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir natürlich nicht, dass er bereits Adana den Hof machte. Ich denke, wir alle hatten die märchenhafte Hoffnung, dass sich Magnus nach einem kurzen Blick unsterblich in eine von uns verlieben könnte und sie zu seiner Königin machen würde.« Sie erzählte das voller Dramatik, und Wyl lachte jedes Mal. »Und jetzt zu Vater«, sagte er mit leuchtenden Augen, da er wusste, was nun folgte. »Ja, Fergys«, erwiderte sie. »Als die königliche Gesellschaft an einem strahlend schönen Sommernachmittag eintraf, war es uns nur erlaubt, sie von Ferne zu betrachten. Wir konnten jedoch sehen, dass die Geschichten der Wahrheit entsprachen: Magnus war von Kopf bis Fuß der gut aussehende König. An diesem Abend zogen wir unsere schönsten Gewänder an und wurden der königlichen Gesellschaft vorgestellt. Als mein Name angekündigt wurde, war ich so nervös, dass sich mein Fuß im Saum meines Kleides verhedderte und ich stolperte.« 138
»Aber es war nicht der König, der dich auffing!«, fiel er ihr an dieser Stelle für gewöhnlich ins Wort. Helyna lächelte daraufhin nachgiebig. »Nein. Als ich mich wieder so weit gefangen hatte, um aufzusehen und ihm zu danken, war es nicht der König, den ich erblickte, sondern der gedrungene, rothaarige General, ein Mann mit warmherzigen Augen und einem Lächeln, das meine Welt zum Leuchten brachte.« »Und du wusstest es, nicht wahr, Mutter?«, sagte Wyl stets am Ende der Geschichte. »Ja, mein Sohn, ich wusste es. Das war der Mann, den ich heiraten wollte. Mein Herz gehörte schon bei dem ersten sanften Laut seiner wohlklingenden Stimme und beim ersten Blick auf sein schüchternes Lächeln ihm.« Wyl wurde aus seinen Erinnerungen gerissen und bemerkte, dass eine peinliche Stille eingetreten war, während König Valor und Prinzessin Valentyna seine Antwort erwarteten. Wenn sich seine Mutter so plötzlich und machtlos in seinen Vater verliebt hatte, warum konnte ihm das Gleiche nicht mit Valentyna passiert sein? Sie ist ein unerreichbarer Traum, doch einer, den ich
mir zu träumen gestatte.
Wyl tat einen beruhigenden Atemzug, blickte erst zu Valor und dann zu seiner Tochter, die ihn erwartungsvoll ansah. Und schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen. »Er ist Euch in keinerlei Hinsicht gewachsen, Valentyna.« Er wandte sich mit einem Ausdruck tiefsten Bedauerns zum König. »Es tut mir so leid, Sire. Ich bin heute hierhergekommen, um die Einwilligung zur Heirat zwischen Eurer Tochter und König Celimus zu erlangen, doch nachdem 138
ich sie getroffen habe, bin ich sicher, dass eine solche Verbindung ein großer Fehler wäre.«
Wyl blinzelte in die Stille, die nach dem ersten Schock eingetreten war. Dann war er tapfer genug, um sich Valentynas dankbarem und ein wenig amüsiertem Blick zu stellen. Da begann Valor, vor Überraschung zu stottern. 139
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DIE BRIAVELLIANISCHEN WACHEN starben rasch. Der Angriff, der so brutal wie unerwartet gekommen war, ging ebenso schnell vorüber, und die Söldner waren geübt darin, lautlos zu töten. Celimus spielte mit dem Feuer. Während Romen glaubte, eine Bande von Soldaten zu befehligen, hatte ein anderer Mann namens Arkol - auf dessen Kopf eine Belohnung ausgesetzt war und der nichts zu verlieren hatte - zugestimmt, eine mörderische Meute anzuführen. Mit der versprochenen Generalamnestie und einer unwiderstehlichen Summe Geldes angelockt, hatte der Auftragsmörder eine größere Beute vor Augen als General Wyl Thirsk, auf den Romen angesetzt war. Sein Befehl lautete, den König von Briavel zu meucheln. Celimus' bösartiger Verstand hatte einen Plan ausgeheckt, mit dem er alle Hindernisse beseitigen konnte, die ihm im Weg lagen. Nachdem er Koreldy getroffen hatte, war ihm klar geworden, dass der Mann nicht zustimmen würde, einen König zu ermorden, und das nur, weil er es wohl auch nicht billigen würde, seine Tochter einfach so zu verheiraten. Arkol hingegen schien keinerlei Skrupel zu kennen, was ihn zu genau dem Mann machte, den Celimus brauchte, um den dritten Teil seines Vorhabens auszuführen. 139
Sein Plan sah folgendermaßen aus: Zuerst benutzte er Thirsk, um sich die Türen nach Briavel öffnen zu lassen. Celimus war überzeugt, dass Wyls Name alle Türen öffnen würde und seine Männer nach Briavel brachte, ohne Argwohn zu erwecken. Er hoffte außerdem, dass Wyl es schaffen würde, Valentyna zur Heirat zu bewegen - auch wenn ihn das im Moment nicht besonders kümmerte. Eine Hochzeit war nicht nach seinem Geschmack, doch sie war wichtig - und zwar mit dieser angeblich plumpen und schwachen Prinzessin von Briavel. Mit oder ohne Wyl Thirsk würde er seinen Willen bekommen und heiraten davon war Celimus überzeugt. Das zweite Ziel der Mission beinhaltete, dass Thirsk fern von morgravianischem Boden war, wenn er getötet wurde. Es war alles so perfekt durchdacht, dass sich Celimus selbst zu dem Einfall beglückwünschte, Romen Koreldy angeheuert zu haben, um sich endlich von der störenden Gegenwart Wyl Thirsks zu befreien - natürlich erst, nachdem sein General Valors Vertrauen gewonnen hatte. Und schließlich kam sein Lieblingsschachzug in dem verwobenen Komplott, nämlich die Ermordung seines Nachbarkönigs. Wenn er könnte, würde er diese fürchterliche Gräueltat Thirsk in die Schuhe schieben und dessen Familiennamen noch weiter in den Schmutz ziehen. Allerdings lag sein Hauptaugenmerk darauf, sich unter gar keinen Umständen mit Valor abplagen zu müssen. Wenn die Prinzessin nicht sofort seiner Aufforderung nachkäme, ihn zu heiraten und somit die beiden Reiche ein für
alle Mal zu vereinen, würde er die unerfahrene und zweifellos hysterische Prinzessin Morgravias volle militärische Macht spüren 140
lassen. Er würde Briavel im Sturm erobern und dafür sorgen, dass sie in den Kriegs wirren starb. Durch die Morde an Thirsk und Valor wollte Celimus die junge Prinzessin von Briavel in Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit stürzen. Ohne ihren Vater wäre sie wohl nichts weiter als ein wimmerndes, verwöhntes Mädchen. Und auch eine Heirat mit ihr - wenn sie seinen Antrag annähme - wäre nur eine vorübergehende Sache, ein schneller Weg, sein brennendes Verlangen zu befriedigen, die beiden Königreiche zu vereinen. Celimus hatte die feste Absicht, sich seiner unleidlichen Gattin zu entledigen, und das wahrscheinlich schon einige Jahre nach der Hochzeit, wenn sie ihm einen Erben geschenkt hatte, der rechtmäßig auf einem einzigen Thron sitzen konnte, um über Morgravia und Briavel zu herrschen. Die ironischen Parallelen zur Heirat seiner Eltern und der Zeugung eines Thronfolgers entging ihm dabei allerdings nicht. Er liebte seine eigene Scharfsinnigkeit. Thirsk bei all den Verwicklungen umbringen zu lassen, war ein Geniestreich. Er träumte davon, endlich die Legion ganz unter seinen Befehl zu bringen. Und warum sollte dann bei Briavel Schluss sein? Sobald er beide Königshäuser unter seiner Gewalt hatte, konnte er seine Aufmerksamkeit auf andere, schwächere Länder richten. Celimus sah sich in seinen Tagträumen bereits als eine Art zukünftigen Kaiser. Natürlich musste er sich auch des selbst ernannten Gebirgskönigs entledigen, doch dies erschien Celimus aus irgendeinem Grund nicht besonders schwierig. Oh, er hatte seinem Vater zugehört, wenn er über die Bedrohung aus dem Norden schwadronierte, doch die tatsächliche Schlagkraft der Barbaren hatte er nicht gekannt. Wieso 140
hatte er nur angenommen, dass ein wirr zusammengewürfelter Haufen Krieger es mit der gut ausgebildeten morgravianischen Legion aufnehmen könnte? Celimus träumte seit seiner frühesten Kindheit von einem Weltreich, was sein Vater nie verstand. Der Keim dazu war von Adana in das kluge Köpfchen des Kindes gepflanzt worden. Magnus, dachte Celimus und schnaubte so verächtlich, dass seine Mutter stolz auf ihn gewesen wäre, hatte nie etwas anderes gewollt als Morgravias Sicherheit. Es war dem alten Narren nie in den Sinn gekommen, einen Blick über die Grenzen zu werfen. Warum sollte Celimus Briavel nicht einnehmen? Den Norden okkupieren? Sein Vater hätte das wahrscheinlich bereits zu Lebzeiten erreichen können, und dann hätte Celimus den Kaisertitel schon jetzt getragen. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als die Arbeit selbst zu erledigen. Während der König von Morgravia in angenehmen Gedanken über die Ermordung Cailechs, dem König des Gebirgsvolks, schwelgte, lächelte Arkol in Briavel, als er das Handwerk der Söldner überwachte.
»Gute Arbeit, Männer. Und jetzt umhüllt die Hufe eurer Pferde und eure Waffen. Lasst alles zurück, was Geräusche machen könnte - wir schleichen uns lautlos zum Palast.« »Wie kommen wir hinein?«, fragte einer der Söldner. »Der Bote, der vor uns ankam, ist einer von uns. Er wird die Wachtposten am Tor töten und das Fallgatter öffnen.« »So einfach, hä?« »Es wird sogar noch einfacher. König Celimus hat einen weiteren Trupp losgeschickt, damit sie nach Briavel einfallen und am nordwestlichen Rand Werryls für Unruhe 141
sorgen. Diese Männer werden den Großteil der briavellianischen Garde anlocken, während wir den Palast stürmen.« »Und der Rest, der zurückbleibt?« »Wird vergiftet sein, wenn nichts dazwischenkommt. Aber so oder so werden sie keinen Frontalangriff erwarten, und wir werden erst spät in der Nacht zuschlagen. Wir werden sie überraschen, nachdem sie zu tief ins Glas geschaut haben.« Die Soldaten lachten. »Und Koreldy?« »Wird durch mein Schwert sterben«, warnte Arkol die Männer. »Niemand sonst wird diesen arroganten, immerzu lächelnden Bastard anrühren. Verstanden?« Sie nickten und konzentrierten sich wieder auf ihre Pferde. Tief im Schatten eines kleinen, nahe gelegenen Hains erschauderte Fynch. Obwohl Wyls grausame Worte des vergangenen Abends ihn immer noch schmerzten, hatte er den Trupp verbissen verfolgt und mit Entsetzen den jüngsten Ereignissen zugesehen. Nachdem er ihrem Plan gelauscht hatte, wusste er, dass es ganz allein an ihm läge, heute Nacht das Leben vieler Menschen zu retten. »Wir müssen zu Wyl«, flüsterte er Knave zu. Sie machten sich vor den Soldaten auf den Weg, nutzten Bäume und Unterholz als Deckung und hasteten querfeldein, damit sie zum Palast gelangten, bevor der Blutrausch begann. Wyl setzte alles aufs Spiel. Ohne Appetit, aber mit nachgeschenkten Gläsern, erzählte er Valor und Valentyna, wie es 141
dazu gekommen war, dass er sich hier an ihrem Tisch befand. Entsetzte Stille hatte sich über den Raum gelegt, als sie die Tragweite von Wyls erschreckender Geschichte über Celimus' brutalen Verrat erfassten. Während er stockend beschrieb, wie seine Schwester durch das Blut ihres frisch vermählten Gatten und seines besten Freundes gezerrt wurde, nahm Valentyna Wyls Hand in die ihre. Und als ihm die Stimme versagte, während er ihnen schilderte, wie Ylena gezwungen worden war, Alyds blutgetränkten Kopf zurück zum Kerker zu tragen, rückte sie näher an ihn heran, umarmte ihn sogar und weinte um Menschen, die sie nicht kannte.
Nachdem Wyl geendet hatte, stand Valor auf und durchmaß mit langen Schritten den Raum. »Und der Mann, mit dem Ihr kamt, wer ist das?« Wyl wünschte verzweifelt, nicht aus Valentynas süßer Umarmung gerissen zu werden. Doch als er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, bemerkte er dankbar, dass sie wenigstens seine Hand nicht losließ. »Mein Mörder«, sagte er schlicht. »Was!«, rief sie. »Das ist absurd!« Er erzählte ihnen alles, was er über Romen wusste, und außerdem von der Abmachung, die sie in Bezug auf Ylenas Sicherheit getroffen hatten. Nun war Valentyna an der Reihe, geistesabwesend im Zimmer auf und ab zu gehen. »Nein! Es muss einen Ausweg geben. Ihr werdet nicht mit Eurem Leben feilschen.« »Mein Leben ist alles, was ich zu geben habe«, gestand Wyl. »Vater!«, flehte sie. »Was sollen wir tun?« »Celimus ist anscheinend sicher, dass er die Einwilligung 142
zur Hochzeit gewinnen wird«, erwiderte Valor und sah zur Bestätigung seiner Worte Wyl an. Der General nickte. »Auf die eine oder andere Art«, sagte er seufzend. »Wenn ich darüber nachdenke, wird mir allmählich klar, dass er Eure Zustimmung so oder so erringen wird - mit oder ohne Gewalt.« »Er will also in Wirklichkeit Briavel und nicht meine Tochter?« Bevor Wyl eine Antwort geben konnte, vernahmen sie einen Tumult hinter dem Wandvorhang. »Was in Shars Namen ...!«, war alles, was Valor herausbrachte, bevor die Tür zum Abort aufgerissen wurde und ein kleiner Junge, der von Kopf bis Fuß mit etwas Unaussprechlichem bedeckt war, das ebenso unangenehm roch, atemlos durch die Öffnung purzelte. Wyl fand als Erster wieder zur Besinnung. »Fynch!« Der Junge konnte kaum sprechen, so schnell war er gelaufen. »Es ist eine Falle, Wyl. Sie kommen, um Euch zu töten. Koreldy und auch den König. Ein Mann namens Arkol führt sie an!« »Wer ist das?«, wollte Valor wissen. Wyl wirbelte zum König herum. »Jemand, dem wir vertrauen können. Wo ist die briavellianische Garde, Sire?« »Ganz in der Nähe, ich werde sie holen.« »Zu spät!«, sagte Fynch. »Alle, die die Söldner bewacht haben, sind tot. Und der Großteil der Palastwache ist bereits weggelockt worden. Seht aus dem Fenster, wenn Ihr mir nicht glaubt.« Valor und Wyl taten genau das, während Valentyna geistesgegenwärtig die beiden breiten Riegel vor die Tür zum Gang schob, bevor sie durch die Geheimtür verschwand 142
und wenige Augenblicke später mit ihrer Männerkleidung zurückkehrte. Sie legte auch vor diese Tür die Riegel, denn einige im Palast wussten davon und
könnten unter Folter überredet werden, es auszuplaudern. Sie hörte, wie die beiden Männer am Fenster Laute der Verzweiflung von sich gaben. Der Junge, wer auch immer er sein mochte, sagte also die Wahrheit. Sie legte einen Finger an die Lippen und knöpfte das Kleid auf. Ungeduldig riss sie daran, und zu Fynchs großer Überraschung stieg sie über den Stoff und streifte sich rasch ihre bevorzugte Arbeitskleidung über. Als ihr Vater und der General sich vom Fenster wegdrehten, schloss sie gerade die Knöpfe an ihrem Hemd. »Nun gut, hiermit wäre die Prinzessin verschwunden«, sagte sie aufgebracht und eilte zu einer Vitrine, die sie mit einem Schlüssel, den sie aus einer Schublade geholt hatte, öffnete und drei Schwerter herausholte. »Ich hoffe, du hast die Klingen nicht stumpf werden lassen, Vater.« Aus Gewohnheit sperrte sie den Schrank wieder ab. »Habe sie jeden Monat schärfen lassen, mein Kind.« »Gut«, sagte sie und ging zu den beiden Männern. »Wir werden sie brauchen.« Wyl schüttelte den Kopf. »Nicht Ihr, Hoheit«, sagte er und durchmaß rasch den Raum. »Wagt es ja nicht, General Thirsk!«, warnte sie ihn, und ihre Augen leuchteten vor Wut. »Das ist Briavel, nicht Morgravia. Die Frauen hier schrecken nicht vor ihren Pflichten zurück. Ich mag eine Prinzessin sein, aber ich bin auch die Tochter meines Vaters. Ich werde an seiner Seite kämpfen.« Sie ist wundervoll, dachte Wyl. Am liebsten hätte er sie auf 143
der Stelle geküsst und wäre bei dem Gedanken, dass er sich dafür wahrscheinlich auf Zehenspitzen stellen müsste, beinahe in Lachen ausgebrochen. »Ich meinte«, sagte er sanft, »dass wir Euch von hier fortbringen müssen, Valentyna. Ihr seid zu wertvoll, um ein Risiko einzugehen.« »Er hat recht«, befahl ihr Vater. »Mein Tod kommt sowieso bald, mein Kind. Wir haben das doch schon besprochen.« Verräterische Tränen sammelten sich bei den Worten ihres Vaters in Valentinas Augen, aber sie kämpfte sie zurück. »Nein! Wir beide werden fliehen, wenn es sein muss. Ich gehe nicht ohne dich, Vater«, sagte sie. Valor schüttelte lächelnd den Kopf. Dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst, und seine Stimme erkaltete. »Du wirst genau das tun, was ich dir befehle, Valentyna! Zuallererst bin ich dein König. Vergiss nicht, was ich dich immer gelehrt habe: Du verkörperst Briavels Hoffnung für die Zukunft.« Valentyna schluckte die Antwort hinunter, die sie ihrem Vater entgegen schleudern wollte. Sein Ton war unmissverständlich. Dies war nicht mehr der nachsichtige Vater, der zu ihr sprach, sondern ein Monarch. Abwehrend verschränkte sie die Arme. »Es gibt sowieso kein Entkommen. Nicht aus diesem Zimmer. Wenn sie das vordere Tor gestürmt haben ...« Ihre Worte verhallten. Fynch blickte von einem verzweifelten, resignierten Gesicht ins andere. »Es gibt einen Weg«, platzte er heraus. Das Trio wandte sich zu dem kleinen
Jungen um. »Nämlich so, wie ich hereingekommen bin«, fügte er achselzuckend hinzu. »Natürlich!«, entfuhr es Wyl. »Fynch, du bist ein Genie. 144
Rasch, Eure königliche Hoheit, folgt dem Jungen. Ist Knave dort unten?« Fynch nickte. »Gut, sag ihm, dass er sie mit seinem Leben beschützen soll.« Valentyna dachte immer noch über den hässlichen Weg ins Freie nach, als ihr die Frage über die Lippen kam: »Wer ist Knave?« »Mein Hund. Ob Ihr es glauben wollt oder nicht, er wird die Botschaft verstehen. Beeilt Euch, Valentyna, das ist Eure einzige Chance.« Sie konnten bereits das Kampfgetümmel unter ihnen vernehmen. Es würde nicht mehr lange dauern, bevor die Söldner das Arbeitszimmer des Königs erreichten. Ein lautes Klopfen an der Tür war zu vernehmen. Valor blickte zu Wyl und fragte sich, ob es nicht schon zu spät war. »Das ist Romen, ignoriert ihn einfach«, sagte Wyl grimmig. »Wir kümmern uns später um ihn.« Sie traten in den Waschraum. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, gab Valentyna zu, sah hinab und ekelte sich allein bei der Vorstellung, was an den Wänden kleben mochte. Wyl hatte dafür keine Zeit. »Er hat es getan, um Euch das Leben zu retten. Und jetzt werdet Ihr dasselbe tun, königliche Hoheit, oder ich werde Euch eigenhändig hinunterwerfen. Lasst Euch nicht von meiner Größe täuschen ich bin viel stärker, als Ihr glaubt.« Sie wusste, dass er es ernst meinte, und schätzte seine entschiedene Direktheit - im Grunde bewunderte sie diesen morgravianischen General für alles, was er an diesem Abend gesagt und getan hatte. Und trotzdem zögerte sie. »Lasst mich keine Gewalt anwenden müssen, Prinzessin«, drohte Wyl und drängte sie auf das Loch zu. 144
»Er ist verdammt stark, Hoheit«, wiederholte Fynch die Worte des Generals. »Bitte, ich gehe als Erster, und Ihr könnt mir folgen. Atmet durch den Mund das hilft.« Valentyna nickte und kämpfte gegen den Drang an zu schreien. Mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck blickte sie zu ihrem Vater, während Wyl ihr half, in das Fallrohr zu klettern. Es war breit genug für die schlanke Prinzessin. »Du als Nächstes, Vater«, ermahnte sie ihn. Ihre Augen lugten über dem Rand hervor, während sie Luft holte, jedoch nicht wagte, durch die Nase zu atmen. Der König nickte ihr aufmunternd zu, obgleich er genau wusste, dass seine untersetzte Gestalt niemals durch die Öffnung passen würde. Wyl erkannte es ebenfalls und lenkte sie ab, indem er ihr riet, sich auf die kleinen Vertiefungen im Stein zu konzentrieren. Sie rief Fynch etwas zu, der sich bereits im Schatten unter ihr befand, und er flüsterte eine Antwort, während sie den Abstieg begann. Das Pochen an der Tür war lauter geworden, und jetzt brüllte Romen bereits. Sie ignorierten ihn immer noch und konzentrierten sich nur auf Valentynas
sichere Reise das Fallrohr hinab. Sie konnten sie nicht mehr sehen, sobald sie in der Dunkelheit verschwand, doch sie hörten Fynch rufen, dass alles in Ordnung sei. »Ich habe sie. Sie ist sicher angekommen, Sire.« »Vater, sei vorsichtig, es ist rutschig.« Es folgte eine kurze Stille. »Vater?« Ihre Stimme drang gespenstisch aus der Tiefe zu ihnen empor. »Nein, mein Liebling. Das kann ich nicht.« Bevor sie zu lautem Geschrei ansetzen konnte, unterbrach Wyl sie mit fester Stimme. »Valentyna, hört mir jetzt 145
gut zu. Das Loch ist zu klein für den König. Aber ich werde bei ihm bleiben und schwöre, dass ich mein Leben geben werde, um ihn in Sicherheit zu bringen. Ihr müsst jedoch, um unser aller willen, den Plan befolgen und fliehen. Hört auf Fynch. Er wird Euch führen und beschützen. Ich lasse nun eine Geldbörse fallen, Fynch - benutze sie, um euch zu verstecken.« Der König verschwand und erschien mit einem größeren Beutel, den er ebenfalls nach einer Ankündigung fallen ließ. Wyl fuhr fort: »Prinzessin, Ihr müsst Euer Haar verbergen und Euch verkleiden, damit niemand Euch erkennt.« »Wie werdet Ihr uns finden?«, rief ihre schrille Stimme aus der Tiefe zu ihnen empor. »Das werden wir schon. Knave wird uns aufspüren - das versichere ich Euch. Die Söldner werden nicht lange hierbleiben. Sie sind eine plündernde Meute ob sie ihr Ziel erreichen oder nicht, sie werden nicht lange ausharren. Und jetzt lauft!« »Vater ...« »Geh, mein Kind. Denk immer daran, wer du bist und dass ich dich nicht mehr lieben könnte, als ich es tue.« »General«, sagte sie mit zitternder Stimme, »vielen Dank für Eure Ehrlichkeit und dafür, dass Ihr Briavel trotz Eurer Vaterlandsliebe ein Freund seid. Brecht Euer Versprechen nicht und rettet ihn oder sterbt bei dem Versuch!« Valor und Wyl glaubten, ein unterdrücktes Schluchzen zu hören, doch es war nun Fynchs Stimme, die heraufklang: »Viel Glück, Wyl!« »Du bist ein tapferer Junge, Fynch. Ich danke dir ... und es tut mir leid wegen gestern. Ich habe kein einziges Wort ernst gemeint. Ich wollte nur, dass du in Sicherheit bist.« 145
Fynch war unendlich erleichtert, das zu hören. Dann drehte er sich um, ergriff Valentynas Hand und sah sich nach Knave um, der auf einmal aus den Schatten auftauchte und seine Begleiterin erschreckte. »Habt keine Angst vor ihm«, flüsterte Fynch. Leise redete er auf Knave ein, erzählte dem Hund, was geschehen war und dass ihre Aufgabe nun darin bestünde, die Frau zu beschützen.
Die drei liefen los, hasteten durch die Obstgärten in Richtung Crowyll, das nördlich von Werryl lag. Valentyna war dankbar für die Dunkelheit, da so niemand ihre Tränen sehen konnte. Der König sah Wyl an. »Rettet Euch selbst, mein Junge. Das könnt Ihr. Es ist Eure letzte Chance.« »Vielleicht. Aber hier gibt es unerledigte Angelegenheiten, Sir. Und ich werde Euch nicht allein lassen, ohne an Eurer Seite gekämpft zu haben.« Valor spürte, wie eine Welle des Stolzes auf den jungen General in ihm aufstieg. »Wer hätte sich träumen lassen, dass ein Thirsk jemals auf der Seite Briavels kämpfen würde?« Wyl musste über die Ironie des Ganzen lächeln, doch er würde diesen guten Mann unter keinen Umständen sterben lassen. Immerhin wusste er alles über seinen eigenen treulosen und hinterhältigen König. Er könnte nie wieder mit hoch erhobenem Haupt durchs Leben gehen, wenn er Valor nicht half. Und wie sollte er je wieder Valentyna entgegentreten? Er ging zur Tür. »Romen!« 146
»Es ist eine Falle«, kam die schicksalsergebene Stimme. »Wie viele?« »Insgesamt zehn, schätze ich.« »Sie sind zum Töten hergekommen. Anscheinend unter der Führung Arkols«, warnte Wyl. »Hmmm ... ich hatte schon vermutet, dass Celimus so etwas im Schilde führen könnte.« »Und trotzdem bist du gekommen?« »Ein Seher hat mir einst gesagt, ich würde ein gefährliches Leben führen«, erwiderte Romen und stieß dann ein bellendes Lachen aus. »Ich nehme an, dass es hier sein Ende findet.« Wyl entriegelte die Tür und zog den verblüfften Romen herein. »Nein. Wenn wir sterben, dann sterben wir ehrenvoll, während wir gegen den Feind kämpfen.« Darauf war Romen nicht gefasst. Er hatte nicht erwartet, dass der General ihn einlassen würde, und bereits mit seinem eigenen Tod abgeschlossen. Er verneigte sich vor Valor. »Majestät, ich hätte bei dieser Sache niemals mitgespielt, hätte ich gewusst, wer das wirkliche Ziel ist.« »Aber Ihr würdet für Geld einen Mann umbringen, der ebenso gut, ebenso wertvoll für sein Königreich ist«, fauchte der König. »Nun, im Augenblick sieht es so aus, als würden wir drei aus verschiedenen Gründen sterben, Sire. Vergebt mir, wenn ich zurzeit in keine philosophische Debatte mit Euch eintauchen möchte.« »Wenn das hier vorüber ist, Söldner, und ich immer noch atmen sollte, werde ich Euch mit eigenen Händen töten.« 146
Romen erwiderte nichts, sondern sah zu Wyl. »Wie hast du es herausgefunden?« Wyl zuckte die Achseln. Unter gar keinen Umständen würde er Fynch preisgeben.
Sein Begleiter nahm Wyls Verschwiegenheit grinsend hin. »Nun gut. Unsere Abmachung bleibt bestehen. Ich breche nie mein Wort«, sagte er und nahm das angebotene Schwert entgegen. »Daran hast du mich schon des Öfteren erinnert. Und jetzt Ruhe!«, warnte Wyl. »Sie kommen.« Mit gezogenen Schwertern wandten sie sich der Tür zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor mehrere Äxte und muskulöse Schultern das Holz eingeschlagen hätten. Valentyna lief, bis ihr die Lungen brannten. Sie musste anhalten und lehnte sich schwer atmend gegen einen Felsblock, wobei sie den grauenvollen Gestank ihrer Kleidung kaum bemerkte. Knave trottete zurück und leckte ihr das Gesicht, und diese winzige Freundschaftsbekundung zerriss ihr das Herz. Die Prinzessin verbarg den Kopf in ihrem Schoß. Fynch, der ebenfalls nach Luft rang, schlich sich auf Zehenspitzen zurück und setzte sich neben sie. Sie waren beide schmutzig, doch der Junge erkannte, dass es sie schon längst nicht mehr kümmerte, was an ihren Kleidern und Stiefeln klebte. »Warum, Fynch? Warum? Sie werden sterben. Das weiß ich.« Wutentbrannt schlug sie mit der Faust auf den Boden. »Wir sind hier für eine Weile sicher, Hoheit. Ihr könnt Euch ausruhen.« Er wusste nicht, was er sonst noch hätte sagen sollen und fand selbst keine Worte des Trosts, denn auch er glaubte, dass Wyl und Valor sterben würden. 147
»Wer bist du?«, fragte sie. »Ein Kanaljunge. Ich arbeite in den königlichen Gemächern Stonehearts.« Sie stieß ein ergrimmtes Lachen aus. »Ich könnte schwören, du hast Celimus nie gezwungen, durch das Fallrohr seines Aborts zu klettern.« »Nein, aber ich hätte auch nie angeboten, sein Leben zu retten, Hoheit«, erwiderte der Junge ernst. Valentyna musterte ihn nun eindringlicher. »Wyl war ebenso überrascht, dich zu sehen wie wir«, sagte sie nachdenklich. Fynch nickte bestätigend. »Ich hatte die Unterhaltung zwischen dem Prinzen und Koreldy, der Wyl begleitete, zufällig mit angehört. Der hinterhältige Plan lautete, Wyls Namen zu benutzen, um eine Audienz bei Eurem Vater zu erhalten...« »Und sie dann beide umzubringen«, beendete sie zornig den Satz. »Nein, Hoheit. Ich wusste nur von einer geplanten Ermordung - nämlich der von Wyl. Ich habe ihn mit Knave verfolgt und schaffte es schließlich, ihm von dem Komplott zu erzählen.« »Und trotzdem ist er gekommen«, sagte sie und dachte voll Respekt an den General. Fynch zuckte die Schultern. »Weiß nicht so recht, ob er überhaupt eine Wahl hatte, Hoheit. Er befand sich in einer Zwickmühle. Er musste eine Audienz bekommen, um seine Schwester zu retten.« »Ja, aber was du nicht weißt, Fynch, ist, dass er uns die Wahrheit erzählte. Und dadurch das Schicksal seiner Schwester besiegelte.« 147
»Oh«, entgegnete er. »Das muss schrecklich für ihn gewesen sein. Wyl liebt seine Ylena abgöttisch.« »Sie kann sich glücklich schätzen, ihn zu haben«, sagte Valentyna leise. »Ebenso wie ich.« »Das könnt Ihr, Hoheit«, antwortete der Junge. Er war verwirrt, was Wyls Beweggründe betraf, aber unfähig, nicht direkt und offen zu sprechen. »Es gibt einen Fluss ganz hier in der Nähe. Er wird eiskalt sein, aber ich werde es wagen, wenn du mitkommst«, schlug sie vor. »Ich bin schon so sehr an den Geruch gewöhnt, Hoheit, aber ja, wir sollten uns waschen. Wir müssen darauf vertrauen, dass Knave uns ein wenig wärmt.« Sie machten sich zu dem Fluss auf, zogen sich im Schutz der Dunkelheit aus und wuschen sich und ihre Kleidung. Später, zitternd, feucht und nackt, führte Valentyna, die das Land besser als jeder andere kannte, den Jungen und den Hund zu einem kleinen Wäldchen. »Vielleicht steht es noch«, sagte sie. »Was?«, erkundigte sich Fynch. »Eines meiner Lager. Ich habe es vor vielen Jahren gebaut. Komm schon.« Es war vollkommen ruhig dort, und sie seufzte erleichtert. »Es hat den Zahn der Zeit überstanden, Hoheit«, sagte Fynch mit offenkundiger Begeisterung. »Ich hatte den besten Lehrmeister«, sagte sie und lächelte leise in sich hinein. »Wer war das, Hoheit?« »Mein Vater«, erwiderte sie sanft. »Folg mir. Es ist eng, aber trocken und bietet uns Schutz. Wir können uns hier für eine Weile ausruhen.« 148
Fynch fühlte sich taub von der Kälte und gestattete Knave, sich zwischen sie zu drängen. Sein großer Körper spendete nicht nur Wärme, sondern auch Trost. Selbst Valentyna lehnte ihren schmerzenden Kopf schließlich an den Hund. »Er ist riesig, nicht wahr?«, bemerkte sie. Fynch lächelte und genoss den erdigen Geruch ihres Verstecks. »Er jagt allen in Stoneheart einen großen Schrecken ein, außer denen, die Wyl mag.« »Erzähl mir von Wyl«, sagte sie, da ihr kein anderes Thema einfiel, das sie verband. Sie brauchte jetzt sinnloses Geplapper, um das Gefühl zu verdrängen, ihre Welt bräche auseinander. Fynch zuckte die Schultern, suchte Einzelheiten aus seinem Gedächtnis zusammen und erzählte ihr von General Wyl Thirsk, von seiner Kindheit bis zur Gegenwart. Trotz ihres Kummers war Valentyna von Wyl fasziniert und erstaunt über Fynchs gutes Erinnerungsvermögen. Es interessierte sie besonders, dass Wyls Abneigung gegen Celimus schon so weit in die Vergangenheit reichte. »Er hat den neuen König also nie gemocht?« »Nein, Prinzessin. Er hat ihn immer verachtet.« »Wie kann er einem Mann wie ihm dienen?« »Um ehrlich zu sein, hatte er keine andere Wahl. König Magnus starb am selben Tag, als Wyl seinen Auftrag erhielt.«
»Nun, das bedeutet, dass Celimus dieses Komplott schon seit Langem geschmiedet hat und er die ganze Zeit über seinen einflussreichen General loswerden wollte. Du sagst, Wyl kontrolliert die Legion?« »Vollkommen. Wenn er wollte, könnte er Celimus sofort stürzen.« 149
»Und diese Sache mit der Hexe. Du hast tatsächlich gesehen, wie sich seine Augenfarbe änderte?« »Eines grau, das andere grünlich. Es war sehr beunruhigend, doch es ist so rasch wieder vergangen, dass ich kaum zu glauben wagte, was ich beobachtet habe.« »Und Knave gehörte ihr?«, fragte Valentyna, die absichtlich bei diesen sonderbaren Begebenheiten nachhakte. »Anscheinend war er ein Welpe. Sie hat ihm Wyl wenige Augenblicke vor ihrem Tod geschenkt. Ich hoffe, Ihr haltet mich nicht für einfältig, Majestät, aber ich bin davon überzeugt, dass Knave verzaubert ist.« »Wie das?«, fragte sie. Ihr Interesse war nun geweckt, und sie kraulte dem großen Hund den Kopf, auch wenn sie Fynchs Behauptung keinerlei Glauben schenkte. Fynch erzählte ihr von all den Merkwürdigkeiten, die Knave umgaben. »Nun, du hast mich auf jeden Fall neugierig gemacht«, sagte sie und nickte, während Knave vor Freude winselte, als sie ihm die Ohren sanft kratzte. »Wie seltsam das alles ist«, gab sie schließlich zu. »Glaubt Ihr an Zauberei, Hoheit?« »Nein. Ich habe noch nie etwas Magisches erlebt«, gestand sie. »Ich glaube nur das, was ich sehe.« »Bei mir ist es genau das Gegenteil, Hoheit. Ich glaube daran«, sagte der Junge achselzuckend. »Ich bin an die Sonderbarkeiten nun langsam gewöhnt. Knave hasst andere Menschen, bis Wyl sich ihnen verbunden fühlt. Deshalb mag der Hund auch Euch.« Sie lächelte den ernsten kleinen Jungen an. »Du bist ihm sehr treu ergeben, Fynch. Er kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.« 149
»Das war nicht meine Entscheidung, Hoheit. Knave hat mich ausgewählt.« Sie legte amüsiert die Stirn in Falten, dann grinste sie traurig. »Fynch, ich habe es mir überlegt - ich muss zum Palast zurückkehren. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich überhaupt weggelaufen bin. Ich muss zurück und nach meinem Vater sehen.« »Nein, Hoheit! Ich habe versprochen, Euch von dort wegzuführen, Euch in Sicherheit zu bringen«, bedrängte ihr kleiner Freund sie. »Ich kann mich nicht verstecken. Das wäre feige, Fynch. Das verstehst du doch sicher?« Ihre Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen, während sie den Jungen beschwor. »Nein, Majestät. Es ist nicht feige, Euch - als Thronerbin vor Mördern zu schützen.« »Dann werde ich gegen sie kämpfen - an der Seite meines Vaters!«, erklärte sie.
»Und dabei sterben«, sagte er leise. »Ihr wärt für Briavel nutzlos.« »Wie kannst du es wagen!«, erzürnte sie sich und sprang auf. »Wer bist du, dass du mich herumkommandieren kannst?« Fynch schüttelte den Kopf, und sie sah seine Verzweiflung. »Vergebt mir, Hoheit. Ich bin ein Niemand. Ein Kanaljunge, der die Abwasserkanäle reinigt und nicht einmal würdig ist, in Eurer Gesellschaft zu sein. Aber mir wurde die Aufgabe übertragen, Euch zu beschützen, und ich würde eher sterben, als dass jemand Euch Schaden zufügt.« Es war seine Ernsthaftigkeit, die ihren Zorn verfliegen ließ, und im nächsten Moment war sie auf den Knien, 150
umarmte ihn und entschuldigte sich für ihr hochmütiges Benehmen. »Fynch, das habe ich nicht so gemeint. Du und Wyl seid treue Freunde. Sag, dass du mir verzeihst, ich flehe dich an.« Sie war derart aufgelöst, dass Fynch unschwer erkannte, wie sehr sie in einem Meer aus Gefühlen, die von Trauer bis Schuld reichten, unterzugehen drohte. Vielleicht gab es einen Weg, ihren verzweifelten Schmerz zu lindern. »Hoheit, was würdet Ihr sagen, wenn ich Euch darum bitten würde, hier noch ein wenig länger zu verweilen? Knave wird bei Euch bleiben.« »Und wohin wirst du gehen?«, fragte sie. »Ich werde zurück zum Palast eilen und sehen, was ich herausfinden kann. Für mich ist es ungefährlich.« »Ich würde dir danken, Fynch, und dich bitten, sofort aufzubrechen.« »Ihr müsst mir jedoch Euer Wort geben, Hoheit, dass Ihr diesen Ort nicht verlasst«, ermahnte er sie. »Nicht, bis ich wieder von dir höre.« Fynch sah Knave an und bemerkte, dass der Hund bereits verstanden hatte, was von ihm verlangt wurde. Der Knabe verneigte sich vor der Prinzessin. »Knave wird auf Euch aufpassen, Hoheit.« Valentyna zweifelte nicht daran, während sie dem kleinen Jungen nachblickte, der in die Nacht davonrannte. Der Kampf in dem beengten Zimmer war heftig und erbarmungslos. Ein Mann nach dem anderen war durch die Tür gestürmt, nur um von dem höchst talentierten und erfahrenen Paar, Wyl und Romen, die Seite an Seite kämpften, zur Strecke gebracht zu werden. Für den Augenblick 150
konnte Valor lediglich zusehen, denn Wyl hatte den Eingang geschickt versperrt, sodass die Angreifer nur einzeln hereinkommen konnten. Bis jetzt hatte der Herrscher vier Leichen gezählt. »Noch sechs weitere«, rief ihm Romen zu. Dann hatte er gegrunzt, war über einen umgefallenen Stuhl gesprungen und herumgewirbelt, um mit seiner Waffe tief und brutal zuzuschlagen. Der fünfte Angreifer fiel, wobei ihm das Bein fast bis zur Hüfte aufgeschlitzt wurde. Romen schlug ihm das Schwert aus der Hand, wusste jedoch, dass eine Hauptschlagader verletzt war. Der Mann wäre in etwa einer Minute tot.
Der König kam nicht umhin, diese beiden begabten Kämpfer zu bewundern. Beide hatten vollkommen unterschiedliche Stile. Wyl war verbissen, ein wahrer Denker. Valor schien es fast so, als besäße der morgravianische General eine unerschöpfliche Geduld und gäbe sich damit zufrieden, abzuwehren und zu parieren, Scheinangriffe durchzuführen und auszuweichen. Doch jetzt waren zwei seiner Angreifer tot. Er war ein viel klügerer Schwertkämpfer als sie, viel geübter und ausdauernder, und er wartete stets die perfekte Gelegenheit zu einem Schlag ab. Romen war eleganter, zog es vor, der angreifende Part zu sein und wäre seinem Feind niemals ausgewichen. Der Söldner gab keinen Zentimeter nach. Er bedrängte seinen Gegner mit einer unablässigen Salve schillernder Hiebe und Stöße, weshalb diesem keine andere Wahl blieb, als sich immerfort zu verteidigen. Und Romen war flink; blitzschnell in seinen Bewegungen, was wahrscheinlich der Grund war, weshalb sein dritter Angreifer soeben eine tödliche Wunde erlitten hatte. Valor beobachtete, wie Romen 151
das Schwert des sterbenden Mannes fortschleuderte. Im nächsten Augenblick trat er über den stöhnenden Mann, den er längst vergessen hatte, um sich seinem nächsten Gegner zuzuwenden. Doch dieses Mal waren zwei hereingeschlüpft. Valor wusste, dass seine Zeit gekommen war. Es war schon zu viele Jahre her, seit er auf dem Schlachtfeld ein Schwert geführt hatte, aber er zögerte nicht. Mit einem lauten Schrei riss er sein berühmtes Schwert mit den verschnörkelten und wunderschönen Schnitzereien im Heft in die Höhe, schwang es über dem Kopf und ließ es mit einem zweiten Schrei herabsausen, dieses Mal war es ein Schlachtruf. Funken stoben von den beiden Schwertern, als sie sich trafen und Valor ein weiteres Mal um sein Leben kämpfte. Er war seinem Gegner ebenbürtig - wo der Söldner rohe Gewalt einsetzte, konnte Valor mit Größe aufwarten -, doch der Angreifer, der vor Anstrengung das Gesicht verzog, war viel jünger. Valor wusste sofort, dass er ihn rasch ins Jenseits befördern musste, wenn er überleben wollte. Doch noch wahrscheinlicher wäre, dass einer seiner jüngeren Mitstreiter ihm zur Hilfe eilen musste, dachte er, während er den Stößen auswich und parierte. Eigentlich hätte er sich konzentrieren müssen, aber seine Gedanken flogen unausweichlich zu Valentyna. Sie war immer noch so jung, aber mit den richtigen Menschen an ihrer Seite gäbe es keine bessere Herrscherin für Briavel. Sie besaß seinen Mut und liebte ihr Volk und das Land mit wilder und aufrichtiger Leidenschaft. Allerdings war sie eigenwillig wie ihre Mutter. Diese Eigenschaft müsste man im Zaum halten oder wenigstens in die rechte Bahn lenken. 151
Er war sicher, dass Valentyna die Bürde auf sich nähme und die Armee auch zum Schlachtfeld führen würde - wenn dadurch ein Briavellianer gerettet werden konnte. Doch Krieg musste vermieden werden. Er wünschte - ihm kam ihr verzweifelter Blick wieder in den Sinn, als sie vorhin in das Fallrohr im Abort geklettert war -, er hätte ihr in Bezug auf Celimus einen Ratschlag
mitgegeben. Er hätte ihr sagen sollen, dass diese Hochzeit in Betracht gezogen werden musste, wenn dadurch Frieden errungen werden konnte - was es auch kosten mochte. Und dennoch waren Wyls Worte so beunruhigend. Er hoffte, dass er in den letzten Jahren die richtigen Menschen um sich geschart hatte, die Valentyna klug unterstützen würden, falls er heute scheitern sollte. Sie brauchte starke Berater mit Weitsicht, die ihr bei den kommenden Entscheidungen beistünden. Valor spürte einen heftig stechenden Schmerz an seinem Schwertarm. Er brüllte und wand sich, hatte jedoch keine Zeit, sich die Wunde anzusehen. Niemals hätte der Hieb seine Verteidigung durchbrechen können - er war einfach zu unkonzentriert. Wütend auf sich selbst und angespornt durch den pochenden Schmerz nutzte er seine stattliche Größe, um den Mann zurückzudrängen. Doch er wusste, dass er in echter Gefahr schwebte. Abgesehen von der Erschöpfung, die seinen Körper schockierend schnell übermannt hatte, fühlten sich seine Muskeln im wichtigen Schwertarm schwach an, und ein betäubendes Prickeln bahnte sich einen Weg zu den Fingern hinab, die sein berühmtes Heft umklammerten. Er verstärkte seine Bemühungen. Der Mann musste bald sterben oder er würde obsiegen. Als Wyl einen weiteren Söldner tötete, begriff er, dass sich die schlaueren unter ihnen zurückgehalten hatten. Mit je 152
dem neuen Gegner schien sich größeres Können zu entfalten. Die List war geschickt. Indem sie die weniger fähigen »Haudegen«, wie Wyl sie nannte, zuerst hereingeschickt hatten, hatten sie ihn und Romen zermürbt und zu einer leichteren Beute für die talentierteren Kämpfer gemacht, die nun folgten. Es entsetzte ihn, dass die Söldner es geschafft hatten, den König anzugreifen, und als er das Gesicht verzog, schien es, als habe Romen seine Gedanken gelesen. »Valor hat eine ernste Wunde. Er wird rasch ermüden«, war alles, wofür er Zeit hatte. »Noch zwei übrig«, erwiderte Wyl und wagte einen Blick auf Valor. Es gab keinen Zweifel, dass der König seine letzten Kraftreserven aufbrauchte. Blut floss reichlich und schnell aus einer üblen Wunde an seinem Oberarm. Wyl erkannte sofort, dass auch Muskelstränge verletzt waren; Valor würde schon bald jegliche Kraft in seinem Schwertarm verlieren. Er fragte sich, ob der alte Veteran gelernt hatte, den anderen Arm zu benutzen, doch er glaubte nicht daran. Viele verspotteten diese Technik, doch die neue Generation morgravianischer Soldaten - und dazu gehörte Gueryn - hatten darauf bestanden, dass auch immer die andere Hand geschult wurde. Wyl kannte es nicht anders. Obwohl er mehr Kraft im rechten Arm besaß, war er auch mit dem linken ein versierter Kämpfer. Er warf Romen einen Blick zu. »Kannst du sie aufhalten?« Romen grunzte eine Antwort und schlitzte seinem Gegner die Kehle auf. »Hilf Valor!«, knurrte er und schubste den Söldner zur Seite, sodass er beobachten konnte, wie sie auf ihn losstürmten. 152
Gerade als Wyl sich dem Mann zuwandte, der versessen darauf war, den König zu töten, hörte er den König aufschreien. Valor taumelte rückwärts, und eine weitere, tiefere Schwertwunde war an seiner Schulter zu sehen, die diagonal durch Arterien geschnitten hatte. Blut sprang in einer regelrechten Fontäne daraus hervor. »Beschützt unsere Königin, Wyl«, war alles, wofür er Zeit hatte, bevor er am Boden aufprallte. Arkol, der den Hieb ausgeführt hatte, lachte und spuckte auf den liegenden Körper des Königs von Briavel. Romen hatte seinen Gegner mit einem Schlag zur Strecke gebracht. Er drehte sich um und sah den unsäglichen Zorn auf Wyls Gesicht und die Gestalt, die auf den herrlichen Teppich blutete. »Warte, Wyl! Er gehört mir«, sagte er. »Es gibt noch einen weiteren Mann draußen, der sich wahrscheinlich versteckt.« Als sich Wyl zurückfallen ließ, fand Romen sogar die Zeit, ihm zu danken, und machte sich dann mit einem grimmigen Lächeln daran, sein Können gegen seinen Möchtegern-Mörder einzusetzen. Wyl war von Romens Schwertkunst beeindruckt. Wenn er glaubte, er habe in Celimus - abgesehen von seinem eigenen Können - den besten Kämpfer gesehen, hatte er weit danebengelegen. Romen war ihnen tatsächlich überlegen, und Wyl war sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis er Arkols Lächeln ein für alle Mal von seinem hässlichen Mund wischen würde. Wyl und sein letzter Gegner kämpften schließlich im Korridor. Der Mann musste schnell herausfinden, dass er trotz seiner beträchtlichen Fähigkeiten dem General nicht 153
ebenbürtig war, wusste jedoch, wie er sich verteidigen konnte und wollte Wyl zermürben. Wyl schüttelte seinen Zorn ab, wie er es gelernt hatte. Er konzentrierte sich, zog sich in sich selbst zurück und setzte zu einer raschen Folge von Angriffen an, wobei ein Hieb letztendlich sein Ziel traf und eine Arterie verletzte. Er überließ den Mann seinem raschen Tod und kehrte in das Gemach des Königs zurück, wo Romen mit einem stark verwundeten Arkol spielte, der viele tiefe Wunden hatte, von denen jedoch noch keine tödlich war. Wyl ließ sich neben dem König auf die Knie fallen und suchte nach einem Puls, obschon er wusste, dass es sinnlos war. Ihn überkam ein kurzzeitiges Glücksgefühl, als er einen schwachen Herzschlag fand, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass er ihn schon innerhalb weniger Sekunden nicht mehr spüren würde. Valentyna wäre nun bald die Königin von Briavel. Er stieß ein leises Stoßgebet für sie aus, während er hörte, wie Arkol gurgelnd den Tod fand. Romens Schwert hatte seine Kehle durchbohrt. »Hilf mir, Valor auf die Bank zu heben«, sagte Wyl. »Kein König sollte so zurückgelassen werden.« Romen grinste, auch wenn er seine gute Laune verloren zu haben schien. Er war nicht einmal außer Atem, obwohl Gesicht und Kleidung mit dem Blut anderer Männer besudelt war. »Tust du immer das Richtige, Thirsk?« »Das versuche ich«, erwiderte Wyl, während er den schweren Körper des alten Mannes hochhob.
Gemeinsam trugen sie den sterbenden Mann und legten ihn auf das Kanapee. Wyl nahm seine Hand. »Sire?« Valor öffnete die Augen, doch seine Sicht war bereits ver 154
schwommen, während allmählich die Lebenskraft aus ihm heraus auf das Kanapee entwich. Der Atem rasselte durch seine Kehle, als er mühsam zu reden ansetzte. Kaum mehr als ein Murmeln war zu hören. »Ihr müsst sie beschützen, mein Sohn, trotz Eurer Untertantreue.« Wyl nickte. »Ich werde mein Leben für sie geben, Sire. Das verspreche ich.« »Sogar noch besser als Euer Vater«, lallte der König und flüsterte dann in einem letzten Aufbäumen von Kraft: »Stürzt Celimus. Nehmt die Krone!« Valor, König von Briavel, starb neben dem General von Morgravia, dessen Hand er hielt, und hinterließ einen solch aufrührerischen Gedanken, dass es Wyl schier die Sprache verschlug. Valor war nun der zweite König, der Wyl aufgefordert hatte, ein verräterisches Verbrechen zu begehen. Doch Wyl konnte sich im Moment nicht überwinden, darüber nachzudenken. Er wischte sich rasch die Nässe aus dem Gesicht, die seinen Blick trübte, tief bestürzt, dass er das Leben dieses Mannes nicht hatte retten können. Seine Gedanken wanderten zu Valentyna. Als könne Romen sie lesen, nahm er ihm ein weiteres Mal das Wort vorweg. »Wo ist eigentlich die Tochter?« Wyl begriff, dass Romen nicht gesehen hatte, wie Valentyna das Zimmer ihres Vaters betreten hatte, da sie den Geheimgang benutzte. Der Söldner wusste vielleicht nicht einmal, dass sie bei ihnen gewesen war. »Das weiß ich nicht.« Und es entsprach der Wahrheit. »Und was hat Valor zu deinem Vorschlag gesagt?«, fragte Romen, während er eines der Beine des alten Mannes zurückschob, das vom Kanapee gerutscht war. Wyl faltete die Hände des Königs über der Brust und 154
beugte sich dann vor, um den Mann auf beide Wangen zu küssen. Romen schwieg. Er beobachtete, wie Wyl aufstand, und wartete. »Er stimmte meiner Schlussfolgerung zu, dass eine solche Verbindung den zwei Königreichen Frieden brächte.« Das war keine Lüge. »Herzlichen Glückwunsch. Du hast also deinen Teil der Abmachung gehalten«, sagte Romen und griff nach seinem Schwert. »Jetzt muss ich meinen einhalten.« Mit einer schnellen Handbewegung hob er Wyls Schwert vom Boden auf und warf es dem General zu, der es geschickt auffing. »Unerledigte Angelegenheiten, mein Freund.« »Wir müssen das nicht tun, Romen«, sagte Wyl, der die verzweifelte Hoffnung hegte, dem Mann das Duell noch ausreden zu können. »Doch, das müssen wir, Thirsk. Wir hatten eine Abmachung. Ich muss einen Sack voller Geld abholen ... und eine Rechnung begleichen.« »Und wenn ich dich besiegen sollte?« »Dann musst du es für mich erledigen. Du hasst ihn genug, um es zu tun.«
»Das verspreche ich«, sagte Wyl und erkannte, dass seine Hoffnung, sie könnten beide überleben, vergebens war. Einer von ihnen würde in diesem Zimmer neben dem König sterben. »Und was kann ich dir im Gegenzug versprechen?«, fragte Romen, während er sein Schwert mit Wyls Klinge kreuzte. »Abgesehen von deinem ursprünglichen Versprechen, dich um Ylena zu kümmern?« Romen nickte. »Ich würde sie heiraten, wenn es sein 155
muss, um sie in Sicherheit zu bringen. Es wäre keine lästige Pflicht, denn sie ist liebreizend.« Wyl überdachte Romens Worte und ließ dann das Schwert sinken, um ernsthaft mit ihm zu sprechen. »Ich will dein Ehrenwort, dass du Valentyna deine Dienste - dein Leben -anbietest.« Diese Worte amüsierten Romen. »Der neuen Königin? Weshalb? Du küsst den feindlichen König, während du deinen eigenen hasst. Das wirkt eigenartig bei jemandem, Wyl, der behauptet, Morgravia treu zu sein.« »Tu es, Koreldy!« »Oder was?«, fragte er, und sein Lächeln war wieder da. »Ich werde nicht gegen dich kämpfen. Du wirst mich kaltblütig umbringen müssen, und aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass du dafür zu ehrenhaft bist. In deinen Adern fließt adliges Blut, Romen. Das ist offensichtlich.« »Du würdest deinen Treueid brechen? Ein Thirsk, der eine briavellianische Monarchin beschützen möchte? Oh, das ist köstlich!« »Schwör es, Romen.« »Ja, ja, ich schwöre es«, sagte er, als sei er dieser sinnlosen Unterhaltung überdrüssig. In einer blitzschnellen Bewegung hatte Wyl dem Söldner sein Schwert an die Kehle gedrückt und erinnerte ihn daran, das Können des kleinen, aber kräftigen Mannes, der vor ihm stand, nicht zu unterschätzen. »Du sollst es auch wirklich meinen!«, rief Wyl. Romens silbergraue Augen verdunkelten sich. Er schnitt sich mit seiner Klinge in die Handfläche, und Wyl folgte erleichtert seinem Beispiel. 155
»Ich schwöre es, Wyl Thirsk. Ich werde die Königin von Briavel mit meinem Leben beschützen«, sagte der Söldner und presste seine blutende Hand auf Wyls. »Und jetzt kämpf um dein Leben!« Wyl küsste sein Schwert, und Romen lächelte. Ein neuer Tanz hatte begonnen. 155 SIE KÄMPFTEN in
eisiger Stille. In Stille, während der Palast von Werryl noch den Schock des Angriffs überwinden musste - fünfzehn Palastwachen waren tot, ein weiteres Dutzend war verletzt, und der Rest lag betäubt in den Betten. In Stille, während die briavellianische Wache zurück zu ihrem König hasteten, nachdem sie erkannt hatte, dass die angebliche Bedrohung eine Falle war. Briavel wurde nicht angegriffen, und ihr Zusammenstoß mit einer seltsamen
Kompanie Söldner war nichts weiter als ein Scharmützel. Jetzt flohen die Fremden, nachdem sie kaum ihre Schwerter gezückt oder einen einzigen Mann verloren hatten. In Stille, da sich beide Männer, ausgebildete Krieger, in einem Kampf auf Leben und Tod verloren. Das einzige Geräusch war das harsche Klirren ihrer Schwerter. Grimmige Entschlossenheit spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider, während sie sich im Gleichklang duellierten. Romen, so musste Wyl feststellen, war wahrlich ein besserer Schwertkämpfer als Celimus. Er ließ seinen Gefühlen nicht freien Lauf, und ebenso wie Wyl kämpfte er mit gerissener Verschlagenheit, wenn auch mit wenig Geduld. Eine Aura 156
prahlerischer Eleganz umgab ihn, doch jede seiner Bewegungen war blitzschnell und tödlich. Alles, was Wyl ihm entgegenschleuderte, jeden Trick, den er von Gueryn gelernt, jeden Stoß, den er sich selbst beigebracht hatte, konterte Romen. Er war schnell, wendig und stark, aber vor allem war Romen ein Stratege. Er konnte mehrere Schläge im Voraus denken, plante seine Schritte. Wyl hätte ihm unter anderen Umständen gerne gesagt, wie sehr er sein Können bewunderte, doch jetzt gab es kein Halten mehr, kein süffisantes Geplänkel, kein Verschonen. Wyl war klar, dass Romen ihn umbringen würde, gelänge ihm nicht zuerst der Todesstoß. Sie kämpften weiter, ihre Gedanken einzig und allein auf die Waffe des Gegners und seine Bewegungen gerichtet, nichts anderes zählte. Der Mond stand hoch, und die briavellianische Garde hatte schon fast das Stadttor erreicht. Wären sie noch am Leben oder in der Verfassung dazu, wäre bereits Hilfe eingetroffen, um nach dem König zu sehen. Doch die zwei Schwertkämpfer hatten keine Zeugen, die ihrem Kampf auf Leben und Tod beiwohnen konnten. Beide zeigten erste Ermüdungserscheinungen; ihr Haar war feucht von der Anstrengung, und ihre Gesichter glänzten vor Schweiß. Sie wussten, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis einer von ihnen den tödlichen Fehler beging. Erschöpfung ließ sie unachtsam werden, und obwohl sie ihre Konzentration verdoppelten, waren ihre Körper geschunden und konnten nicht mehr so gut reagieren. Sie waren einander ebenbürtig, und keiner gewann die Oberhand. Jeder merkte an sich selbst, dass er langsamer wurde und ihn dies wahrscheinlich das Leben kosten würde. Es war für beide das erste Mal, dass sie die 156
echte Angst verspürten, und diese Furcht war ihren grimmigen Gesichtern anzusehen. Verschwunden war das ansonsten immerwährende süffisante Lächeln auf Romen Koreldys Antlitz, und Wyl hatte sich schon lange vollständig in sich zurückgezogen. Es war Wyl, der schlussendlich eine falsche Entscheidung traf. Er wusste es in der Sekunde, als er weit ausholte, nachdem er zwei Scheinangriffe vollführt hatte. Er sah die ungeschützte Stelle und wusste, dass er Romen aufspießen
konnte; er musste nur flink genug sein. Er versuchte es, doch obwohl sein Gehirn noch blitzschnell arbeitete, war sein Körper dazu nicht mehr in der Lage. Romen hatte vorausgeahnt, was nun geschehen würde. Es schien, als würde er zusehen, wie Wyl sich zehn Mal langsamer als gewöhnlich auf ihn stürzte. Sein Verstand spielte ihm einen Streich, aber er hatte von Männern gehört, dass sich die Welt um einen herum verlangsamte, wenn der Todeshieb kam. Und genau das geschah nun. Dies war der Schlag durch Wyls Schwert, der ihn töten würde. Irgendwie - Shar allein wusste, wie - schaffte er es, sich zu ducken und der Klinge so weit auszuweichen, dass sie nur seine Seite anritzte und durch die oberste Hautschicht glitt. Und dann, als Wyl erneut ausholte, stieß Romen zu. Romens Klinge bohrte sich durch den General der morgravianischen Legion, und ihre scharfe Spitze trat auf der anderen Seite wieder heraus. Wyl riss vor Schmerz die Augen weit auf, doch vor allem war er erschrocken über die Erkenntnis, dass er den Kampf verloren hatte. Es lag nun an Romen, die beiden Frauen zu retten, die Wyl liebte. »Halt dein Versprechen«, gurgelte er, während 157
er das Schwert fallen ließ und Romen seines aus dem Körper des sterbenden Mannes zog. Wyl glitt zu Boden, schloss die Augen und wartete darauf, dass sein Herz aufhörte zu schlagen und der Schmerz in seinem Bauch verging. Er hieß den Tod willkommen. Doch auf einmal erfasste seinen Körper ein neues Gefühl, und ohne es zu wollen, bäumte er sich in einem Anfall qualvoller Pein auf. Zuerst glaubte Wyl, es sei der Tod, der ihn zu sich rief, doch die Heftigkeit des Schmerzes zwang ihn, die Augen zu öffnen ... diese farblich unterschiedlichen, erschreckenden Augen. Romen starrte ihn entsetzt an, brach dann jedoch in seiner eigenen Höllenpein zusammen. Es war, als würden beide denselben krampfartigen Schmerz erleiden. Wyl spürte, wie er emporgetragen wurde; alles, was ihn ausmachte, wurde von ihm gerissen, aus seiner Hülle gezerrt, ein zerfetzendes, zerreißendes Verschwinden. Wenn das der Tod war, warum war dann Romens Gesicht eine Maske qualvoller Pein? Das Leiden näherte sich seinem Höhepunkt, und genau in dem Moment, als Wyl wusste, dass sein Leben nun zu Shar gleiten würde, erhaschte er für einen verschwommenen Augenblick die Seele von Romen Koreldy, der ebenfalls in ungläubigem Schrecken die Reise ins Jenseits antrat. Aber Wyl war nicht zu Shar übergegangen. Nur Romens Seele war verschwunden. Und Wyl selbst - sein Geist und seine Seele - überquerte nun den Weg zum Körper von Romen Koreldy. Er glaubte, dass sein Mund Worte formte. Doch er war nicht sicher, und dennoch wollte er Romen etwas sagen. War dies der Tod oder das Leben? 157
Der Schmerz und die Verwirrung dauerten noch eine Ewigkeit an, bis Wyl plötzlich begriff, dass er noch lebte. Er war derjenige, der zurücktaumelte und
sich am Tisch festhielt, das Schwert fallen ließ und die Luft anhielt, als ertrinke er. Doch er ertrank nun nicht mehr in Schmerzen, sondern durchbrach die Oberfläche und entkam seiner wirbelnden, qualvollen Bestürzung. Wyl blickte auf den Leichnam, der am Boden lag. Er bemerkte nicht, dass er mit zwei farblich unterschiedlichen Augen darauf hinabstarrte, doch er wusste, dass er die Leiche von Wyl Thirsk sah. Wyl, der sich in dem zitternden, immer noch unter Schock stehenden Körper von Romen Koreldy befand, rieb sich nun die seltsamen Augen, er wollte sicher sein, dass er dies nicht träumte oder sich in einer Art Todesrausch befand. Er streckte die bebenden Hände aus. Es waren die langen, gepflegten Finger Romens, nicht seine eigenen kurzen Finger mit den weichen roten Härchen genau unterhalb der Knöchel. Und dann blickte er an sich herab und sah die blutende Wunde, das Zeugnis, wie knapp Wyls Klinge den Söldner verfehlt hatte. Nein! Sein Schwert hatte ihn getroffen, verdammt noch mal! Dann war es also wahr. Neben ihm kühlte sein eigener Körper bereits aus, und gleichzeitig, so glaubte er, war Romens Seele von ihnen gegangen. Verwirrt und orientierungslos stolperte er im Zimmer herum und betrachtete den Schauplatz des Todes. Er hörte Stimmen, Männerstimmen. Die Wachtposten rannten durch die Korridore. Trotz seines verwirrten Geisteszustands war ihm bewusst, dass sie in wenigen Augenblicken die Treppe 158
erreichen und ihn gefangen nehmen würden. Er zwang sich selbst aus dem Chaos seiner Gedanken heraus und erlaubte sich keine Grübeleien mehr. Rasch packte er die Arme seines ehemaligen Körpers und zog ihn zum Abort. Es war seine einzige Chance. Er warf sein Schwert in die Tiefe und hievte dann den Leichnam über den Rand des Lochs. Mit einem widerwärtigen Knacksen landete er auf dem Boden. Jetzt waren die Stimmen bereits am obersten Absatz angekommen - jeden Moment konnte er entdeckt werden. Er hatte keine Zeit, vorsichtig hinabzusteigen. Wyl glitt in das Fallrohr, hielt intuitiv zum Schutz gegen den Gestank die Luft an und ließ sich fallen. Auch er schlug hart am Boden auf - immerhin war er aus beträchtlicher Höhe gesprungen. Doch sein Aufprall wurde von dem toten Körper unter ihm abgemildert. Seinem wahren Körper. Ohne einen weiteren Gedanken an das Hier und Jetzt zu verschwenden, handelte er nun rein instinktiv, schulterte Wyl Thirsks Leichnam und machte sich in einem mühsamen Trab auf den Weg. Er bewegte sich unbeholfen in Romens Körper und fragte sich, was in Shars Namen mit ihm geschehen war. 158
*5
WYL SUCHTE UNTERSCHLUPF in einem kleinen Wäldchen, an das er sich auf seiner Reise nach Briavel erinnert hatte. Es war das erste Mal nach vielen Stunden, dass er sich eine Ruhepause gönnte. Er hatte es einem Glücksfall zu verdanken, dass er vor Kurzem zufällig auf die Pferde der Söldner und einen Esel gestoßen war, der sich zu ihnen gesellt hatte.
Da erkannte Wyl, dass es sich um Fynchs Tier handelte. Er band zwei Pferde los und warf seinen Leichnam über den Rücken des einen. Er selbst nahm das andere Pferd, und da er das Tier, das ihm so erfolgreich das Leben gerettet hatte, nicht im Stich lassen wollte, band er den Esel an den Hengst, der den Toten trug. Die kleine Gruppe machte sich auf den Weg. In den Satteltaschen befand sich ebenso Nahrung wie auch kostbares Wasser. Es war wichtig, den Leichnam nach Pearlis zu bringen. Sobald er nur morgravianischen Boden erreichte, würde er sich sicher fühlen. Als er das Wäldchen erblickte, schrie er vor Erleichterung laut auf. Seine Nerven waren völlig zerrüttet, sein Geist war wie benommen von dem Schock, und bisher hatte er die Stunden damit verbracht, den Tieren unsinniges Zeug zu erzählen und sich absichtlich davon abzuhalten, über alles nachzu 159
denken. Er hatte sich standhaft geweigert, einen Blick auf den Leichnam zu werfen. Seinen Leichnam. Wyl schob den Toten vom Pferd und sattelte die Tiere ab. Erschöpft, jedoch immer noch nicht bereit, über seine Schwierigkeiten nachzudenken, rieb er die Tiere betont langsam trocken. Schließlich band er seine Gefährten mit einer langen Leine an und legte sich hin, in der Hoffnung einzuschlummern, bevor er sich der trostlosen Wahrheit stellen musste. Der Mond war prall und stand hoch oben am wolkenlosen Himmelszelt, weshalb ihm die vollkommene Dunkelheit verwehrt wurde, nach der er sich so sehnte, und trotz seiner Ermattung wollte ihn der Schlaf nicht erlösen. Also stellte er sich seiner Angst... dem Schrecken, der ohne Zweifel Myrrens Gabe war. Ihr wahres Geschenk, erkannte er jetzt mit einem tiefen Schluchzen. Er starrte auf seine Hände, die im Mondlicht unheimlich aussahen, und akzeptierte, dass dies tatsächlich die großen, gepflegten Hände von Romen Koreldy waren, an denen immer noch der kleine, elegante Siegelring prangte. Zögerlich ließ Wyl diese langen Finger zu dem Gesicht gleiten, das er nun trug. Die Berührung bestätigte ihm, dass seine einst so vertrauten, rundlichen Gesichtszüge jetzt kantig waren. Er besaß einen gepflegten, gestutzten Bart. Er kam nicht umhin, über sein Haar zu staunen, als er den Riemen löste, mit dem es zusammengebunden war. Es fiel ihm offen über die Schultern. Er erinnerte sich, wie er es bewundert hatte, als er noch ein rothaariger General gewesen war und Romen um sein Haar - der genaue Gegensatz zu seinem eigenen, struppigen Schopf - beneidete. Wyl wusste, dass seine Augenfarbe nun ein klares Silbergrau war. Er gestatte sich sogar eine reumütige Gri 159
masse, da seine Gesichtszüge nicht mehr gewöhnlich und leicht zu vergessen waren, sondern außerordentlich markant und bemerkenswert. Ein Gesicht, nach dem sich andere umdrehten. Romen hatte ein strahlendes Lächeln besessen. Er probierte es aus und wagte, die glatten, ebenmäßigen Zähne zu berühren, die ihn von dem breiten Mund des Söldners angegrinst hatten. Und seine Beine! Wyl entrang sich ein Geräusch. Ein nervöses, wenn auch aufrichtiges Lachen, als er die neue Länge
seiner Beine betrachtete, mit denen er nun mindestens ebenso groß wie Valentyna war ... größer als Alyd ... vielleicht sogar größer als Gueryn. Er dachte an sie alle, und eine Welle des Kummers, den er bisher in Schach gehalten hatte, stürzte über ihn herein. Beide Männer, die er liebte, waren tot, oder so gut wie, während die zwei Frauen, die er liebte, fürchterliche Angst und einen quälenden Verlust erdulden mussten. Ylena war wahrscheinlich immer noch unfähig, mit den Ereignissen zurechtzukommen, die sie im Innenhof hatte mit ansehen müssen - vielleicht würde sie das auch nie. Valentyna, seine große Liebe, fragte sich wohl gerade verzweifelt, ob ihr Vater noch lebte, während die seltsamen Windungen des Lebens sie auf einen neuen und erschreckenden Pfad warfen. Der Schmerz, sie derart plötzlich und mit solcher Inbrunst zu lieben, ängstigte Wyl, doch er wusste, dass sein Herz von nun an nur noch ihr gehörte. Er erinnerte sich, wie er Romen das Versprechen abgerungen hatte, dass dieser sie beschützen würde, und dieser geschworen hatte, sie mit seinem Leben zu verteidigen. Romen hatte diesen Eid mit seinem Blut besiegelt. Wyl musste ihn nun halten. 160
Er dachte über den Mann nach, den er nur so kurz gekannt und trotzdem derart gemocht hatte, und fragte sich verwundert, ob noch etwas von ihm übrig war. Behutsam prüfte er es und wurde mit vagen Erinnerungen, Ideen, Gedanken und Vorlieben belohnt. Es war nicht einfach, in sich zu gehen, seine Instinkte rieten ihm, sich rasch zurückzuziehen, und dennoch begriff er undeutlich, dass die persönlichen Eigenarten, die diesen Mann ausgemacht hatten, immer noch vorhanden waren, wenn auch schwach. Wie eine Frau, die an einem vorbeigeht und dabei einen zarten und für gewöhnlich aufreizenden Hauch ihres Geruchs hinterlässt, auch wenn sie schon lange wieder verschwunden ist. Romens Geist lag wie ein Parfüm in der Luft. Und dennoch war Romens Wesen schon lange fort. Seine Seele war zu Shar gewandert. Wyl erinnerte sich, wie sie in seiner Hülle gestorben war, während sein eigener Geist von Romens Körper Besitz ergriffen hatte und eins mit ihm geworden waren. Wyl entschloss sich, im Moment alles wegzuschieben, was Romen einmal ausgemacht hatte. Er war noch nicht bereit, in dessen Leben einzutauchen. In dieser unermesslichen Verwirrung musste er zuerst einmal sein eigenes Leben ordnen. Er spürte die ersten federleichten Berührungen des Schlafs, gähnte und hieß diesen Fluchtweg willkommen. In dieser Nacht ruhte er auf einem kalten, harten Bett, doch er war am Leben. Und er war wütend, wütend und durcheinander. Der Traum, in dem er gestorben und dennoch nicht tot gewesen war, fiel ihm wieder ein - er erschien ihm nun mehr wie eine Vorahnung als wie ein Albtraum. 160
Wyl drängte die wirren Gedanken beiseite. Er hatte in seinem neuen Körper viel zu tun, nicht zuletzt, Valentyna und Fynch zu finden, doch zuerst warteten unerledigte Angelegenheiten in Morgravia auf ihn. Als er die Augen schloss, flüsterte er Romen, der unabsichtlich sein Leben gegeben hatte, ein letztes
Lebewohl zu, einem Auftragsmörder, den Wyl dennoch gemocht hatte ... und zu dem er jetzt geworden war. Während er sich dem Schlaf hingab, wusste er auf einmal, was er zu tun hatte. Es erschien ihm plötzlich so hell und klar wie das Mondlicht, und er wusste, dass es nur einen Weg gab. Er würde seinen eigenen Leichnam zurückbringen und ihn stolz Celimus präsentieren, wobei er der Form halber alles tun würde, was von ihm verlangt wurde. Er würde den König täuschen und ihm glaubhaft machen, dass die Krone sich Wyl Thirsks entledigt hatte. Und dann, als Romen, würde er das Geld einstecken und für Ylena sorgen - bitte, Shar, lass sie so lange leben - und schließlich aus Morgravia abreisen, um einen Plan zu schmieden, wie er Celimus für seine Sünden bezahlen lassen könnte. Der König war tot, seine Thronfolgerin verschwunden. Werryl lag vollkommen still und wie benommen da. Befehlshaber Liryk saß bei Krell, dem Kanzler des toten Monarchen. Krell war ein Mann weniger Worte, doch wenn er sprach, schenkten die Menschen ihm Aufmerksamkeit. Er hatte seit mehr als zwei Jahrzehnten in Valors Diensten gestanden und war sein engster Vertrauter und Berater gewesen. Er versuchte, den alten Soldaten zu trösten, der nun mit dem Kopf in die Hände gestützt in seinem Arbeitszimmer saß. 161
»Ich habe sie verloren«, flüsterte Liryk wiederholt. Krell hatte dem Mann seinen Kummer gestattet. Sie alle trauerten und waren über die Geschehnisse der vergangenen Nacht entsetzt. Es war Krell gewesen, der Geistesgegenwart bewiesen und die Schäden innerhalb der Palastmauern so gut wie möglich in Grenzen gehalten hatte. Sobald Liryk und der Großteil der briavellianischen Garde die Finte durchschaut hatten und zurückgekehrt waren, hatte Krell darauf bestanden, dass Liryk alle abgesehen von den vertrauenswürdigsten Männern entließ. Liryk, der zu geschockt war, um etwas anderes zu tun, als auf die Leichen seiner ermordeten Soldaten und den ordentlich aufgebahrten König im oberen Geschoss zu starren, vernahm das Zischen des Kanzlers an seinem Ohr. »Es muss geheim gehalten werden, Liryk. Es darf kein Gerede geben, bis wir nicht eine Entscheidung getroffen haben. Und jetzt los!« Und nun, wo er endlich aus seinem benommenen Zustand erwacht war und Befehle erteilen sollte, zeigte der Oberbefehlshaber einen unermüdlichen Eifer. Zwei Kommandanten, denen er bedingungslos vertraute, wurden nach oben geführt. Sie allein wussten von dem Schicksal ihres Königs, während sie seinen toten Körper durch die Geheimgänge von Werryl zur Kapelle schleppten, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte verriegelt wurde. Niemand sonst wusste von dem Tod Valors ... jedenfalls noch nicht. Die ermordeten Soldaten wurden zur Leichenhalle des Palasts gebracht, und auch ihr Ableben wurde geheim gehalten, bis zwischen dem Kanzler und dem Befehlshaber der Armee - die nun zusammen über das Königreich herrschten Vereinbarungen getroffen waren. Die toten 161
Söldner wurden aller verräterischen Beweise über ihre Herkunft entledigt und auf einen Karren geworfen, um zum städtischen Krematorium gebracht und dort augenblicklich verbrannt zu werden. »Ich würde es schätzen, wenn du mir deine Gedanken offenbartest«, sagte Krell ruhig in die Stille hinein. Der Soldat blickte von seinen Händen auf. Sein Gesicht war geschwollen von den hilflosen Tränen, die er in den letzten Stunden vergossen hatte. Die Morgendämmerung brach bedrohlich heran, und Entscheidungen mussten getroffen werden. »Was haben wir bisher?«, erwiderte er. »Das Ablenkungsmanöver der Garde war geplant, das wissen wir jetzt. Das und die vergiftete Palastwache lässt darauf schließen, dass es sich um einen wohldurchdachten Überfall handelte.« »Der mit Erfolg gekrönt war«, sagte der alte Soldat erbittert. Krell nickte. »Ist er das wirklich?« »Was meinst du damit?« »Andere kennen wahrscheinlich die Wahrheit. Zwei weitere Männer waren in der vergangenen Nacht hier, unsere wichtigen Gäste, und ihre Leichen waren nicht zu finden.« »Natürlich, Wyl Thirsk«, gab Liryk zu. »Das stimmt, und sein Begleiter, obwohl ich nicht weiß, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Ein Mann namens Romen Koreldy.« Liryk zuckte die Schultern. Der Name sagte ihm nichts. »Wyl Thirsk, das darf man annehmen, ist ein ausgezeichneter Krieger, so wie es sein Vater vor ihm war.« 162
»Und?« »Wer hat deiner Ansicht nach all die Söldner getötet? Wohl kaum unser König.« Liryk nickte. »Valor war früher ein guter Krieger, aber nein, er hätte es allein nicht mit zehn Männern aufnehmen können.« »Ganz genau! Ich nehme an, dass ihm einer oder vielleicht sogar beide jüngeren Männer beigestanden haben.« »Du glaubst, die Söldner haben unsere Soldaten getötet, und ...« »Und Valor hat sich mit Hilfe von Thirsk und womöglich Koreldy der Fremden entledigt.« »Warum sollte Thirsk mit einem Söldner reisen?« »Das ist mir auch ein Rätsel. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er zugestimmt hätte, ohne seine eigenen Männer briavellianischen Boden zu betreten.« »Eine Falle des morgravianischen Königs?« »Gut möglich. Wenn Thirsk gezwungen war, bei seinem Auftrag mit Söldnern zu reisen, würde es den Dank erklären, den ich in seinen Augen las, als ich ihn von dem Mann trennte, der eigentlich eher wie sein Geiselnehmer wirkte.« »Erzähl mir mehr.« »Thirsk wurde eine persönliche Audienz bei Valor gestattet. Er schien erleichtert, dass ihm diese Zeit zugestanden wurde. Der andere Kerl musste vor
dem Zimmer warten, bestand jedoch darauf, dort zu bleiben. Es gab keinerlei Kameradschaft zwischen ihnen, auch wenn eine gewisse Zuneigung zu spüren war. Übrigens, Thirsk trug keine Waffen bei sich.« »Aber es gibt Waffen in Valors Gemächern.« »Und einen Schlüssel, der verwendet wurde, um sie he 163
rauszuholen. Freiwillig hätte Valor niemals den Schlüssel herausgerückt - das weißt du.« »Ebenso wenig wie Valentyna«, sagte der Soldat und legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Das stimmt. Die Türen zu dem Schrank sind nicht eingetreten. Der Schlüssel steckt im Schloss.« »Nehmen wir einmal an, dass alles mit der Zustimmung des Königs geschah. Du glaubst also, dass sie Seite an Seite mit Valor kämpften?« Der Kanzler nickte. »Ja. Und ich nehme an, dass sie womöglich sogar Valentyna zur Flucht verhalfen.« Dieser Gedanke erschütterte Liryk. »War sie etwa bei Thirsk und dem König?« Krell lächelte, seit unendlich vielen Stunden zum ersten Mal. »Die eigenwillige junge Frau kommt und geht, wie es ihr gefällt. Sie kennt die Geheimgänge besser als jeder andere. Ihr Vater erwartete sie zum Abendessen, also nehme ich stark an, dass sie anwesend war.« »Aber andererseits hätte Koreldy zusammen mit den anderen Söldnern die Tür eintreten können?« »Ja, das hätte er. Doch es fehlen drei Schwerter im Schrank, und die Tür wurde wieder fein säuberlich geschlossen und abgesperrt. Man macht das doch nicht, wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht. Koreldy hatte auf jeden Fall kein Schwert bei sich.« Krell fuhr sich mit dem Finger über die Lippe. »Nein, ich vermute, dass der König oder Valentyna die Männer mit Waffen ausgestattet hat - Thirsk arbeitete mit Koreldy zusammen, und die beiden kämpften mit der Zustimmung des Königs.« »Du willst damit sagen, sie haben ihre Differenzen beiseitegeschoben?« 163
Der Kanzler zuckte erneut die Achseln. »Das ist nur eine Vermutung. Vielleicht ist der neue morgravianische König gerissener, als wir ihm zugetraut hätten.« »Ein Doppelspiel?« »Wenn, dann auf Kosten von Thirsk, da bin ich sicher. Ich glaube keine Sekunde, dass Thirsk hergekommen ist, um Valor zu ermorden.« »Weshalb war er dann hier?« Der alte Mann hob leicht die Schultern. »Vielleicht kam er wegen Valentyna«, schlug er vorsichtig vor. Liryk war überrascht. »Valentyna?« »Denk doch nur einmal darüber nach«, sagte Krell und lehnte sich vor, während er sich für seine Theorie erwärmte. »Dieser König Celimus könnte ein Auge auf sie geworfen haben - und warum nicht? Es wäre plausibel. Ihm könnte der Gedanke gekommen sein, dass eine Hochzeit zu einer unblutigen Unterwerfung Briavels führen würde - etwas, das wir alle zweifelsohne
unterstützen würden. Und die Gerüchte besagen, dass der neue junge Monarch ehrgeizig ist. Vielleicht hat er Thirsk mit einem Heiratsantrag hergeschickt.« Er lehnte sich zufrieden zurück, da er nun den Gedanken losgeworden war, der sich seit Stunden in seinem Bewusstsein festgesetzt hatte. Liryk wirkte fassungslos, während er diese Enthüllung verdaute. Dann begann er zu toben. »Er muss ein verdammter Narr sein, wenn er denkt, Valentyna könnte gezwungen werden...« Krell hob einen Finger, was genügte, um die entrüstete Antwort des Oberbefehlshabers abzuschneiden. »Ja, das weiß ich. Aber er kennt ihren Charakter nicht«, sagte er sehr sanft. 164
Liryk nickte. »Wie kannst du dir bei all dem so sicher sein?«, fragte er, beeindruckt von der Selbstsicherheit des Kanzlers. Und dann sah er, wie sie sich in Luft auflöste, als sein Freund gequält lächelte. »Das kann ich nicht. Alles, was ich sage, stellt nur eine Hypothese dar ... eine Theorie.« Liryk wischte Krells Unsicherheit mit einer Handbewegung fort. Für ihn war das Ganze nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Er hatte nun einen klareren Kopf. »Und dieser Söldner, Koreldy, glaubst du, er war ebenfalls Opfer dieses Doppelspiels?« »Vielleicht«, erwiderte der Kanzler. »Doch im Moment ist das alles nur eine Theorie, Liryk. Wenn sich unsere Vermutungen allerdings tatsächlich als wahr herausstellen, würde das bedeuten, dass Celimus nach dem Tod seines Vaters unerhört rasch gehandelt hat, um diesen verwegenen Plan in die Tat umzusetzen.« Er zögerte einen Augenblick und legte die Stirn in Falten. »Oder womöglich schon bevor Magnus starb. Wie auch immer, so muss ich annehmen, dass Valors Ermordung in jedem Fall beabsichtigt war.« Der Soldat stand auf. »Sehr wahrscheinlich. Und was noch?« Krell schüttelte den Kopf. »Nicht viel mehr. Das ist alles sehr rätselhaft. Thirsk und Koreldy töten die Söldner. Aber nehmen wir mal an, der König war verwundet und konnte nicht mit ihnen kommen, oder er ist vielleicht an seinen Verletzungen gestorben, bevor sie ihn retten konnten. Die beiden hatten keine andere Wahl, als mit Valentyna zu fliehen.« Liryk fuhr sich verwirrt übers Gesicht, während er im Zimmer auf und ab ging. »Aber wie ... und wohin?« 164
»Eine gute Frage unter all den anderen, die es noch zu beantworten gilt.« Krell seufzte. »Es gibt hier nur eine Sache, die wir mit Sicherheit sagen können: Valentyna muss gefunden werden - das ist unsere höchste Priorität. Und wenn wir sie aufgespürt haben, werden wir sie überzeugen müssen, wie wichtig eine Heirat mit Celimus ist.« »Was?« Liryk wirbelte herum und starrte Krell an. Sie waren im selben Alter und hatten Valor viele Jahre lang treu gedient. Keiner hatte das Gefühl, eine höhere Stellung als der andere innezuhaben. »Du willst damit sagen, wir sollen Celimus mit dieser Intrige einfach davonkommen lassen?« Die Stimme des Soldaten war hart, jedoch kaum mehr als ein Flüstern.
»Da steckt mehr dahinter, als wir wissen«, flehte Krell. »Was wir jedoch mit Sicherheit sagen können, ist, dass wir verlieren, wenn wir jetzt einen Krieg gegen Morgravia anzetteln. Unsere Königin ist zu jung und unfähig, einen langen Konflikt mit unserem Nachbarn auszutragen. Wir wissen nicht einmal, ob sie schon erfahren hat, dass ihr Vater verstorben ist - Shar habe ihn selig -, und sie jetzt an seiner Stelle regieren muss. Sie ist nicht in der Lage, Celimus standzuhalten, und offen gesagt kann das auch Briavel nicht. Die Heirat wird unser Volk retten. Wir vollführen hier einen Drahtseilakt der Diplomatie.« Der alte Soldat nickte gedankenvoll. »Du spielst ein erschreckendes Spiel, Kanzler. Nach deiner Theorie wollte Celimus Valors Tod, damit er ihm nicht im Weg steht. Das willst du doch damit sagen, oder? Er ist ein Mörder.« Krell hielt dem Blick des alten Soldaten stand. Seine Stimme war ruhig, als er zu sprechen ansetzte: »Vielleicht. Aber ich glaube, dass Valor in jedem Fall einer Heirat zuge 165
stimmt hätte.« Schließlich ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. »Dieser verdammte Celimus!«, fluchte er. »Wir müssen Valentyna finden, bevor er uns zuvorkommt.« Sie mussten nicht lange warten, denn in diesem Augenblick wurde ein kleiner Junge durch die Türen des Arbeitszimmers geleitet. Mit dem Leichnam, der wieder auf das zweite Pferd gebunden war, und einem raschen Blick auf das gutmütige Maultier ignorierte Wyl seinen Hunger und machte sich wieder auf den Weg nach Pearlis. Er war in den vergangenen zwei Tagen vielen neugierigen Schaulustigen begegnet, und jetzt, als sie die Außenbezirke der morgravianischen Hauptstadt erreichten, wich er jeglichem Blickkontakt aus, um Fragen zu dem eingehüllten Körper aus dem Weg zu gehen. Der Abend dämmerte, als er endlich den prunkvollen Steinbogen erreichte, der Besucher in Stoneheart willkommen hieß. Die Wachen beäugten ihn argwöhnisch, und er konnte ihnen kaum einen Vorwurf machen, wenn man seine seltsamen Begleiter berücksichtigte: ein Maulesel und etwas, das ganz offenkundig ein Leichnam war. Trauer überkam ihn, als er einige seiner eigenen Männer erkannte, die ihm nun mit erhobenen Händen den Zugang verwehrten. »Also schön. Ihr da, was ist das?« Wyl musste sich wieder ins Gedächtnis rufen, wer er war. »Ein toter Mann. Ich denke, Ihr werdet ihn erkennen, wenn Ihr einen Blick auf ihn werft.« Er zog das Laken vom Kopf des Leichnams. Die Männer traten näher, und Wyl las Bestürzung auf ihren Gesichtern, als sie das flammenrote Haar sahen. 165
»Das kann nicht sein!«, stotterte einer von ihnen. »Nein!« »Leider ist dem aber so«, sagte Wyl in Romens trockener Art. Doch er war froh über ihren Schmerz, der ihm zeigte, dass seine Männer von nichts gewusst hatten und nicht in Celimus' ausgeklügelte Intrige eingeweiht waren. Auf einmal wurden Schwerter gezogen und an seine Kehle gehalten.
»Wer seid Ihr?«, wollte einer der Wachtposten wissen. Wyl sah, dass dem Mann Tränen in den Augen standen. Jetzt kommt es darauf an, sagte er sich. Denk dran, wer du bist. In diesem kurzen Moment des Zögerns begriff er, dass er sich in dem Körper des Fremden noch zu unwohl fühlte. Er musste sich in ihm verlieren und ihn annehmen; er musste ihn besitzen, wenn er jemals seine eigene Ermordung rächen wollte. Wyl öffnete sich dem, was noch von Romen übrig war, und spürte, wie alles, was Wyl Thirsk ausmachte, in den geschmeidigen und würdevollen Körper floss, den Romen einst besessen hatte. Seine Stimme, die ungezwungene Art und selbst seine eigentümlichen Eigenschaften - all das ging plötzlich mühelos auf Wyl über. »Ich bin Romen Koreldy von Grenadyn. Ihr seht, welchen Sohn von Morgravia ich nach Hause bringe. König Celimus erwartet mich«, sagte er selbstbewusst. Ein Bote wurde rasch mit einer Nachricht losgeschickt. Weitere Soldaten hatten sich versammelt, die meisten von ihnen in stillem Entsetzen, nur um die Hand auf den geliebten General zu legen. Wyl war von ihrer Trauer gerührt. »Was ist geschehen?«, fragte einer, der sich seiner feuchten Wangen nicht schämte. Wyl war auf diese Frage gefasst und beabsichtigte, es Ce166
limus schwer zu machen, sich mit fadenscheinigen Erklärungen aus der Angelegenheit herauszuwinden. »Der Palast in Briavel wurde von Söldnern angegriffen, die sich als Soldaten der morgravianischen Legion ausgaben.« Ein neuer Schock ergriff die Männer. »Aber was hat er überhaupt in Briavel gewollt!«, riefen mehrere. Wyl zuckte die Schultern. »Ich nehme an, er hatte dort einen Auftrag für Euren König zu erledigen und wurde dann unschuldig in die Sache verwickelt.« Die Soldaten redeten murmelnd miteinander und erkannten erst jetzt, wo ihr Befehlshaber gesteckt hatte. »Er hat nichts gesagt - ist einfach abgereist. Das hat die ganze Kompanie überrascht«, sagte jemand. Wyl nickte. »Vielleicht war es ein Geheimauftrag für Morgravia.« »Woher wisst Ihr, dass es Söldner waren?«, erkundigte sich ein schlauer alter Soldat. »Da gab es keinen Zweifel«, sagte er und schmückte seine Geschichte aus: »Ich war wegen einer geschäftlichen Angelegenheit dort, doch als der Angriff begann, kämpfte ich auf der Seite dieses Mannes. Wie war doch gleich noch sein Name?« Sie antworteten wie ein untröstlicher Chor. Um das Maß voll zu machen und einer genaueren Befragung zu entkommen, verzog er das Gesicht und fügte hinzu: »Ich wurde verwundet und benötige Hilfe.« Unzählige Hände drängten herbei, um ihn zu stützen. »Mein Maulesel - nun ja, er gehört eigentlich nicht mir -ist erschöpft. Das Tier ist den ganzen Tag gelaufen, um mit den Pferden Schritt zu halten.« 3*4
»Wir werden uns um alles kümmern, Sir, macht Euch keine Gedanken«, bot ihm eine freundliche Stimme an. Ein Bote erschien. »Sir, der König wird Euch augenblicklich empfangen.« »Könnte bitte jemand seine Leiche auf meine Schulter hieven?«, fragte Wyl. Er hatte tatsächlich nicht bemerkt, dass sich seine eigene Wunde wieder geöffnet hatte, bis er die Aufmerksamkeit der anderen darauf lenkte. »Wir tragen ihn«, sagte eine der Wachen mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Nein. Ich habe ihn von Briavel hierhergebracht und werde ihn beim König abliefern, so wie ich es ihm kurz vor seinem Tod versprochen habe«, log Wyl und hasste sich dafür. Ehrfurcht war jetzt auf ihren Gesichtern zu lesen. Der Mann, der am ältesten aussah, nickte. »Tut es«, sagte er, und erneut kamen ihm viele Hände zu Hilfe. Wyl schulterte den Leichnam und folgte dem Boten, so wie es auch einige der Wachtposten taten. »War Kommandant Donal bei ihm, wenn mir die Frage gestattet ist, Sir?«, fragte einer von ihnen. »Ein blonder Kerl, der immerzu lächelt?« »Das ist er«, sagte der Mann eifrig. »Tot«, erwiderte Wyl. »Es tut mir leid, aber ich konnte nicht beide zurückbringen«, fügte er hinzu und hasste sich nun wahrhaftig. Die Nachricht rief neuerlich Kummer und Bestürzung hervor, doch er musste bei seiner Geschichte bleiben. Er musste Celimus eine Falle stellen und ihn dazu bringen, dass er seine Version unterstützte, denn er wollte nicht, dass sich die Legion schon jetzt erhob und etwas Unüberlegtes tat. 167
Wyl konnte nicht weitersprechen, als er sich die schmale Steintreppe hinaufkämpfte, die zu seinem Lieblingskorridor führte. Der vertraute Geruch köstlicher Blumen wehte vom Garten herauf. Er erinnerte ihn wieder an sein erstes Treffen mit König Magnus. Rasch verdrängte er die Erinnerung und wartete, bis derselbe Dienstbote, der ihn vor nicht allzu langer Zeit höhnisch belächelt hatte, erschien und wieder das Gleiche tat. Doch dieses Mal beäugte er angewidert die Last auf seinen Schultern. »Folgt mir«, sagte der Mann kühl. Und das tat Wyl, atmete tief ein und wappnete sich gegen Celimus. Für eine kurze Schrecksekunde fragte er sich, ob der König seine Maskerade durchschauen und erkennen würde, dass vor ihm nicht der angeheuerte Mörder, sondern sein verhasster Feind in einer geschickten Verkleidung stand. Der Gedanke verflog so rasch, wie er gekommen war. Er war Romen Koreldy und würde seine Rolle zur Perfektion spielen. Der ungezwungene Stil Romens war bereits ein Teil von ihm. Während er unter dem mit einem schweren Vorhang abgetrennten Türbogen hindurchschritt und das wohlbekannte Gemach des Königs betrat, trafen seine silbergrauen Augen Celimus' harten, ungläubigen Blick.
»Lass uns allein!«, befahl der König seinem Untergebenen. »Zuerst glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen, als der Bote mir berichtete, du seist hier«, sagte er zu Wyl. Nein, das kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte Wyl und beobachtete den Diener, der eine Verbeugung machte und sich mit verkniffenem Gesicht zurückzog, verärgert darüber, derart nachdrücklich aus dem Zimmer beordert zu werden. Wyl konnte diesen Triumph nicht genießen und 168
ließ seinen Blick sogleich wieder zu Celimus huschen. Als er hörte, wie sich die Tür hinter dem Diener schloss, schob er sich den Leichnam von der Schulter und ließ ihn auf den Boden fallen. »Ich bringe Euch die Leiche von Wyl Thirsk, Sire, wie befohlen.« Er wartete. Celimus zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern hielt seinem Blick stand. Wyl stellte sich die Vielzahl der Szenarien vor, die jetzt durch den Kopf des Königs schössen, während er rätselte, wie sein sorgfältig ausgetüftelter Plan so schrecklich scheitern und nun Romen anstelle von Arkol vor ihm stehen konnte. »Um die anderen Männer hast du dich gekümmert.« Es war eine Aussage, doch die Frage war nur zu offensichtlich. »Tot, Sire, alle«, berichtete Wyl. Bei diesen Worten hob sich kaum merklich eine Augenbraue des Königs. Eine solche Nachricht hatte er nicht erwartet. »Eingeschlossen ihres verräterischen Anführers Arkol«, betonte Wyl und hoffte, der König würde den Köder schlucken. Genau das tat er. »Oh, ja, was ist mit ihm passiert?«, erkundigte sich Celimus unschuldig, doch sein durchdringender Blick war immer noch fest auf Wyl gerichtet. »Ist schreiend gestorben, Majestät, als ich ihm das Schwert in den Körper gerammt habe. Wenn ich ihn nicht erledigt hätte, hätte er mich getötet. Sie hatten wohl vor - das vermute ich zumindest -, Thirsks Leichnam abzuliefern und das Geld unter sich zu verteilen. Ich kann mir keinen anderen Grund für ihren Verrat vorstellen.« Er sah, dass sich Celimus ein wenig entspannte, nach 168
dem Wyl ihm bewusst die Möglichkeit gegeben hatte, sich von der Bande um Arkol zu distanzieren. »Wirklich?«, fragte Celimus. »Wirklich verräterisch, Romen. Ich bin froh, dass du dich retten konntest.« »Aber nicht den König von Briavel, Sire. Arkol hat ihn ermordet.« Es folgte nur ein kurzes Zögern. »Das hatte ich gehofft.« Celimus konnte die Begeisterung nicht aus seiner Stimme verbannen. Wyl überging das Geständnis des Königs und erwiderte gleichgültig: »Ich sah, wie er starb.« Celimus wurde nun versöhnlich, und Wyl spürte, wie der gewitzte Verstand des Königs arbeitete. Schließlich entschloss sich Celimus zu einer Halbwahrheit. »Ich meine es aufrichtig, Romen, wenn ich dir beichte, wie unwohl ich mich
fühlte, dich nicht in meinen Plan eingeweiht zu haben. Ich vermutete, du würdest nicht mitmachen, wenn ich ihn dir offenbarte.« »Und da hättet Ihr recht behalten, Majestät. Ich töte keine Monarchen, für kein Geld der Welt. Werdet Ihr dem Staatsbegräbnis beiwohnen?« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine öffentliche Zeremonie abhalten werden, Shar sei gedankt! Wenn der briavellianische Befehlshaber klug ist, wird er es kaum gutheißen, wenn sich sein Volk gerade jetzt für einen Krieg erwärmt, nicht wahr?«, sagte Celimus, offensichtlich hocherfreut. »Immerhin würde der Pöbel sofort mit dem Finger auf Morgravia zeigen und nach Blut dürsten. Doch die Garde ist nicht in der Lage, einen Kampf zu überstehen. Nicht mit einer Königin, die so jung und so verletzlich ist. Das arme Kind. Wie einsam sie sein muss. Reif, gepflückt zu werden.« 169
Wyl hasste den König mit solcher Inbrunst, dass es ihn all seine Selbstbeherrschung kostete und er jede Unze seiner Entschlossenheit aufbringen musste, um den Mann vor ihm nicht zu schlagen ... oder ihn sogar mit bloßen Händen umzubringen, trotz der Wachen, die mit einem einzigen Schrei herbeigerufen wären. »Aber du nimmst mir die Sache doch sicher nicht übel?«, erkundigte sich Celimus, der die plötzliche Anspannung spürte. Es war eine seltsame Frage. Wyl verengte Romens Augen zu Schlitzen und zwang den Körper, den er bewohnte, sich zu entspannen. »Das ist Eure Entscheidung, Sire. Ich mische mich weder in Politik noch Staatsangelegenheiten ein. Arkol hat Euren Auftrag ausgeführt, und ich nehme an, Ihr hattet guten Grund dafür, einen solchen Befehl zu erteilen. Ich habe Arkol nicht deswegen getötet«, log Wyl. »Ich habe ihn ins Jenseits befördert, da er sich gegen mich wandte. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er einen Teil seiner eigenen Leute umgebracht hat, um einen größeren Anteil an Eurem Geld zu bekommen.« »Aber ich habe ihnen Gold gezahlt, damit sie sich an unser Geheiß halten«, sagte Celimus in aller Unschuld und gab vor, sein Stolz sei verletzt. »Sie haben uns beide betrogen.« Wyl wurde klar, wie geschickt Celimus das Wort »wir« benutzte und sie raffiniert als Verbündete darstellte. »Ja, Sire, doch Männern wie Arkol kann man nur selten über den Weg trauen. Das habe ich Euch gesagt, als Ihr sie in Eure Dienste genommen habt«, erklärte Wyl und war überrascht, aus welchen Tiefen dieses Wissen an die Oberfläche getreten war. »Das hast du. Hoffentlich kann ich dir vertrauen.« 169
»Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Ich versprach Euch den Leichnam von Wyl Thirsk.« »Und den hast du abgeliefert!«, sagte Celimus großmütig, ohne seine Freude ganz verbergen zu können. »Ich bin dir verpflichtet, Romen Koreldy«, fügte er hinzu und beugte sich hinab, um Wyls Körper zu drehen und sich zu vergewissern, dass er auch wirklich tot war. Dann riss er den Kopf am orangefarbenen Haar hoch und ließ ihn achtlos wieder zu Boden fallen.
Wyl schluckte seine Wut hinunter. »Und was nun, Sire?« »Was ihn angeht? Wahrscheinlich ein Staatsbegräbnis. Morgravia wird seinen stolzen General bejammern, und seine Legion wird tief betrübt sein. Ich werde zu seinen Ehren einen Tag der allgemeinen Trauer proklamieren. Wir werden einen unserer Lieblingssöhne preisen und ihn dann in Glanz und Gloria neben seinem Vater begraben. Das Volk wird weinen, und ihr König wird seine ganz eigenen Tränen vergießen«, sagte Celimus, bevor er spöttisch hinzufügte: »Die der Freude.« Wyl konnte nur nicken. »Jetzt komm, Romen, setz dich, trink mit mir und feiere mit mir zusammen einen der glücklichsten Tage meines Lebens.« Wyl hatte keine andere Wahl, als den Kelch mit süßem Wein anzunehmen, den ihm der König gönnerhaft aus einem Krug einschenkte. »Erzähl mir alles«, sagte Celimus, und seine dunklen Augen funkelten vor gespannter Erwartung. Sorgfältig erzählte Wyl seine Geschichte und blieb, so weit es ging, bei der Wahrheit, wobei er jedoch Fynchs Einmischung ausließ. 170
»Also hat Thirsk allein mit Valor zu Abend gegessen?« »Nein. Mir wurde später berichtet, dass die Tochter ihnen Gesellschaft leistete - sie war durch eine Art Geheimtür zu ihnen gelangt.« »Ach, aber ich darf annehmen, dass du den Ausgang von Thirsks Gespräch mit dem König in Erfahrung gebracht hast?« Wyl lächelte innerlich. Celimus war ihm in die Falle gegangen und hielt Valentyna weiterhin für eine einfältige Prinzessin, die keine eigene Meinung besaß. Wenn er wüsste ... »Das habe ich, Sire«, räumte er ein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, genauso, wie das Romen getan hätte. »Er versicherte mir, er habe die Zustimmung des Königs erhalten. Dann versuchte er, mit mir um sein Leben zu feilschen.« Celimus warf den Kopf zurück und zeigte bei seinem kehligen Lachen perfekte Zähne. »Aber du hast ihn trotzdem getötet. Ich mag dich, Koreldy. Du bist mein Mann.« »Habe nicht zweimal darüber nachdenken müssen«, antwortete Wyl und schloss sich dem König in seiner Heiterkeit an, wobei er sich verwundert fragte, wie es wäre, dem Verräter den Hals durchzuschneiden. »Sag mir, wie ich dir diese erstaunlich gute Tat zurückzahlen kann?« Wyls Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine von Romens Lieblingsmienen, und er hob zynisch eine Augenbraue. »Ihr meint wohl abgesehen von der versprochenen Geldbörse, Sire?«, fragte er trocken. »Natürlich. Ich bin in Geberlaune, und du bist verantwortlich für meine Fröhlichkeit. Zusätzlich zu dem Gold 170
kannst du mich um einen Gefallen bitten, und ich werde ihn dir erfüllen«, bot Celimus an und machte eine auslandende Handbewegung, als sei keine Bitte zu groß.
»Da gibt es etwas, Majestät«, sagte Wyl. »Raus mit der Sprache!«, erwiderte der König, während er um seinen Schreibtisch ging und zwei Lederbeutel holte, einer praller gefüllt als der andere. Er kehrte zurück und ließ sie auf den Tisch knallen. Das unverkennbar schwere Klirren von Gold war zu vernehmen. »Sie sind beide für dich. Ich gebe dir all das Geld, auch das, was für Arkol und seine Männer bestimmt war.« »Das war nicht der Gefallen, an den ich dachte, Sire«, sagte Wyl vorsichtig. »Ich verstehe. Was willst du?«, fragte Celimus fordernd. »Die Schwester«, antwortete er. Der König wirkte einen Augenblick lang verwirrt, doch dann dämmerte es ihm. »Von Thirsk!« Wyl nickte. »Ich will sie.« »Zum Teufel! Was wirst du mit ihr anstellen?« Er sagte nichts, ließ jedoch Romens süffisantes Lächeln über sein Gesicht gleiten. Celimus lachte und applaudierte dann langsam. Sein Entzücken war offenkundig. »Das ist unbezahlbar. Oh, es ist zu viel des Guten zu wissen, dass Thirsks Vollstrecker jetzt mit seiner alles geliebten Schwester schlafen wird. Es ist eine noch bessere Strafe, als ich sie mir je hätte selbst ausdenken können«, gestand der König. »Nimm sie, Romen, du hast meinen Segen. Und wenn du mit ihr fertig bist, kannst du sie gerne umbringen. Du tust mir damit sogar einen Gefallen - ich werde den Kerkermeister sofort davon in Kenntnis setzen.« 171
»Gut«, sagte Wyl, der seine Gefühle kaum noch zügeln konnte. Er umschloss den Kelch und zwang sich, ihn zu heben. »Auf unsere Geheimnisse, Sire.« »Darauf trinke ich. Du wirst mein bestgehütetes sein«, erklärte er und stürzte den Inhalt seines eigenen Kelches in einem Zug hinunter. »Du bist verletzt«, sagte er dann. Wyl schüttelte den Kopf, um anzudeuten, dass es nichts Ernstes sei, nahm jedoch die Möglichkeit zur Flucht wahr. »Ein Vermächtnis von Thirsk, Sire, aber ich werde mich nun zurückziehen, wenn Ihr gestattet, und die Wunde ansehen lassen.« »Natürlich. Aber erzählt mir noch kurz von der Prinzessin.« Das war ein entscheidender Punkt in seinem Plan. Um Valentyna zu beschützen, musste Wyl sie Celimus schmackhaft machen. So sehr es ihm auch widerstrebte, er musste den König zu seinen amourösen Machenschaften ermutigen und ihn so davon abbringen, einen Schlag gegen Briavel zu führen. Romen, der ansonsten stets einen amüsierten Gesichtsausdruck aufsetzte, wurde absichtlich ernst. »Sie ist atemberaubend schön, Majestät. Nie zuvor habe ich eine erlesenere Frau erblickt und werde es wohl auch nicht mehr.« Es entsprach der Wahrheit. Celimus richtete seine volle Aufmerksamkeit auf ihn. »Ist das dein Ernst?« »Ja, Sire.« »Beschreib sie mir«, befahl der König, der verwirrt war, da er sich nur an das hysterische, dicke Kind erinnern konnte. Wyl ließ Valentyna vor seinem geistigen Auge erschei
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nen und spürte erneut die Erregung, sobald er sie vor sich sah. »Sie ist hochgewachsen, Sire, wie Ihr selbst. Ihr rabenschwarzes Haar schimmert und fällt ihr in langen Wellen über den Rücken. Sie hat intelligente Auge - blau wie ein Sommerhimmel - und einen wachen, hellen Verstand.« Ungläubig schüttelte Celimus den Kopf. »Sie ist schlank, Majestät, aber wohlgeformt«, log er, als er sich an ihre beinahe jungenhaften schmalen Hüften erinnerte. »Ihre Brüste sind schön, ihre Haut ist makellos und cremefarben.« »Hör auf!«, rief Celimus. »Das ist sicherlich nicht dieselbe Person?« »Sire?« »Oh, vergiss es«, sagte er ungeduldig. Celimus legte gedankenverloren die Stirn in Falten. Wyl entschied, ihn noch weiter zu bedrängen. »Sire, auf gar keinen Fall möchte ich wagen, eine politische Stellungnahme abzugeben, aber wenn es Eure Absicht ist, die beiden Königreiche zu vereinen, dann ist eine Heirat mit dieser Frau eine verlockende Möglichkeit, und sie wird gewiss Euer Auge entzücken, Majestät. Mehr als nur Euer Auge, wenn ich das sagen darf«, fügte Wyl verschwörerisch hinzu. Celimus verstand seinen trockenen Kommentar und brach in Gelächter aus. »Mein Bett wäre immer warm, willst du damit sagen?«, ermutigte er ihn. Wyl zuckte leicht die Schultern, eine lässige Geste, die doch gleichzeitig Zustimmung versprach. Der König schlug mit der Hand auf den Tisch. »Verdammt noch mal, Romen! Ich genieße deine Gesellschaft. Kann ich dich nicht zum Bleiben überreden?« 172
»Nein, Sire ... obwohl es ein großzügiges Angebot ist. Ich habe noch einen anderen Auftrag zu erledigen.« »Weitere Auftragsmorde?«, erkundigte sich der König. Wyl schüttelte den Kopf. »Eure Börse ist prall genug gefüllt, Sire, dass ich wohl einer solchen Beschäftigung für lange Zeit nicht nachkommen muss. Nein, Majestät, das süße Leben lockt. Ich will nach Hause zurückkehren und nach meiner Familie sehen. Es ist schon zu lange her, seit ich die saftigen Wiesen und köstlichen Weine von Grenadyn genossen habe.« Er hoffte, der König würde ihn nicht nach seinen Plänen für Ylena fragen. Doch Celimus hatte sie längst wieder vergessen. »Aber du wirst zum Begräbnis bleiben? Das verlange ich sogar von dir. Es sieht besser aus, wenn der Mann, der General Thirsk zu seinem König gebracht hat, bei der standesgemäßen Beerdigung anwesend ist.« Wyl wollte nicht, merkte jedoch, wie entschlossen Celimus war. Es war offenkundig, dass der König auf seine Gesellschaft noch nicht verzichten wollte. Allerdings würde es auch ihm Vorteile verschaffen. Es würde die Männer der Legion beeindrucken und ihnen zeigen, dass er zuverlässig war. Später könnte ihm das einmal von Nutzen sein. »Natürlich, Sire. Es wäre mir eine Freude hierzubleiben, bis die Angelegenheit mit Thirsk vollkommen hinter Euch liegt.«
Der König nickte. »Ich werde nach meinem Arzt schicken, damit er sich um deine Verletzung kümmert.« Celimus zog an einer Kordel, und der Höfling erschien. »Man soll Koreldy die gesamte Freigiebigkeit Stonehearts an-gedeihen lassen. Kümmere dich darum, dass er alles bekommt, was er wünscht. Und bring den Arzt Gerd auf seine 173
Zimmer.« Der Mann verbeugte sich, und Celimus wandte sich wieder zu Wyl um. »Dann bis später.« Wyl, der die beiden Säcke unter den Arm geklemmt hatte, nahm die elegante Hand des Königs in seine. Obwohl er es hasste, seinen Feind zu berühren, genoss er es, endlich groß genug zu sein, um Celimus direkt in die Augen blicken zu können. Er verneigte sich, ohne dass der König das zufriedene Lächeln auf Romens gut aussehendem Gesicht bemerkte. 173
i6 WYL LIESS SICH vom königlichen Arzt behandeln. Er war jedoch ungeduldig und wand sich unter der Pflege des Doktors. Die Verletzung war unangenehm, aber die Wunde war sauber, und es genügten ein paar Stiche, um sie zu schließen. Was auch immer der Mann ihm zu trinken gegeben hatte, damit der Schmerz des Nähens betäubt wurde, ließ Wyl glauben, dass er schwebte. Doch es gab noch etwas Wichtiges zu tun. Er bespritzte sein Gesicht mit Wasser und war erfreut, dass ihm ein Diener - wenn auch einer in Ausbildung - zur Seite gestellt worden war, der seinen Wünschen nachkommen sollte. Sorgfältig hatte der Jüngling etwas frische Kleidung bereitgelegt. Wyl brauchte im Moment allerdings nur das Hemd und würde später baden. Erpicht darauf, ihm alles recht zu machen, erklärte der Diener, er würde sofort veranlassen, dass ein Badezuber heraufgebracht wurde. Obwohl sich Wyl kaum erfrischt fühlte, machte er sich zu den Kerkern von Stoneheart auf. Er brauchte keine Hilfe, fragte die Wachtposten jedoch trotzdem nach dem Weg, nur für den Fall, dass er beobachtet wurde. Dort angekommen, wurde er an den Tag vor vielen Jahren erinnert, als man ihn damals noch ein Junge - durch einen Trick an 173
diesen Ort der Verzweiflung geholt hatte. Es erschien ihm, als habe diese schreckliche Folterszene erst gestern stattgefunden, derart lebhaft war seine Erinnerung an Myrrens Leiden. Sie hatten seine Ankunft erwartet, allerdings nicht so bald. Die diensthabende Wache bat ihn zu warten. Wyls Gedanken glitten erneut zurück zu Myrren, und er fragte sich verwundert, wie sie es geschafft hatte, unter dem ungeheuren Schmerz der Folter nicht aufzugeben. Sie hatte gewusst, sie würde sterben, würde ihrer Bestrafung letztendlich nicht entrinnen. Weshalb hatte sie die Wahrheit nicht einfach beiseitegeschoben und die Sünde gestanden? Warum solch ungeheuere Qualen erleiden? Wenn sie jene Kräfte besaß, warum konnte oder wollte sie sich nicht selbst retten?
Seine Gedanken wanderten weiter zu Knave. Myrren hatte Wyl unbedingt das Versprechen abringen wollen, dass er sich des Welpen annähme. Besteht eine
Verbindung zwischen Knave und dem Zauber? Ganz offensichtlich ging der Hund geheimnisvolle Wege. Und Fynch, dachte er. Wie passt er in all das hinein? Wyl rief sich die seltsamen Worte der Witwe Ilyk wieder ins Gedächtnis. Behaltet den Hund und seinen Freund in Eurer Nähe, hatte sie ihn gewarnt und hinzugefügt, er habe den Freund, den sie meinte, schon getroffen. Es muss sich um Fynch handeln. Der Junge hatte großen Mut und Zuverlässigkeit bewiesen. Es wäre so einfach für Fynch gewesen, nach Stoneheart zurückzukehren und alles zu vergessen, was er gesehen und gehört hatte. Aber Fynch hatte es nicht getan. Stattdessen hatte er Valentynas und in gewisser Weise auch Wyls Leben gerettet. Er fragte sich gerade, wie er 174
den Jungen davon überzeugen sollte, wer Romen Koreldy jetzt in Wirklichkeit war, als die Wache mit dem Kerkermeister zurückkam. Er war ein guter Mann, erinnerte sich Wyl, der keinerlei Spaß darin fand, die Gefangenen zu foltern. Vielmehr war er bekannt dafür, allen seinen »Gästen« gegenüber - wie er sie gerne nannte - Milde walten zu lassen. »Sir«, sagte er und verbeugte sich kurz vor Wyl. »Entschuldigt die Verzögerung, wir haben Euch nur nicht so rasch erwartet.« Er schickte die Wache fort, die sie augenblicklich allein ließ. »Das macht nichts«, sagte Wyl. »Wie Ihr wisst, bin ich hier, um Ylena Thirsk aus Eurer ...« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Obhut zu holen.« Der Mann lächelte. »Ja, Sir. Und ich bin froh darüber. Diese liebenswerte junge Dame verdient eine solche Behandlung nicht. Äh ... dürfte ich fragen, was Euer Interesse an dieser Frau ist, Sir? Immerhin seid Ihr ein Fremder.« Es war eine unverschämte Frage, für die Wyl den Mann auspeitschen lassen könnte. Stattdessen gab er sich das Versprechen, diesen Mann eines Tages aufzusuchen und ihm dafür zu danken, dass er sich zum Schutz seiner Schwester eingesetzt hatte. Er lächelte ebenfalls, um zu zeigen, dass er keinerlei Anstoß daran genommen hatte, doch seine Gesichtszüge verfinsterten sich, sobald er zu reden ansetzte. »Ich hatte das Pech zusehen zu müssen, was sie Lady Donal antaten ... und ihrem Gatten.« Er war froh, dass ihm seine Stimme bei dem letzten Wort nicht versagte. »Ich habe Hilfe angeboten und die Erlaubnis erhalten, sie zu gewähren.« »Ich bin Euch dankbar, Sir. Wenn ich offen sprechen darf, 174
so war es schändlich, was sie den beiden jungen Menschen antaten«, vertraute er sich Wyl an. »Folgt mir.« Während sie gingen, warnte ihn der Kerkermeister. »Sie ist in keiner sehr guten ... äh ... Verfassung. Das solltet Ihr wissen, Sir. Das hier ist kein Ort für junge Damen.« Er sagte nichts weiter, sondern drehte den großen Schlüssel in der Zellentür herum. Es war die einzige Zelle mit einer dicken Holztür anstelle von Gittern. Dieser Gefangene sollte offensichtlich unerkannt bleiben. Als Wyl eintrat, traf ihn der widerliche Gestank augenblicklich. Er sah sie, und brennende Wut mischte sich mit Mitleid. Immer noch dieselben blutbeschmierten Kleider tragend, kauerte Ylena in einer Ecke. Sie hatte sich
beschmutzt, und ihr Haar war dreckig und stumpf. Es fiel ihr ins Gesicht, doch das schien ihr nichts auszumachen. Ylenas einst weiche Lippen waren aufgesprungen, und ihre Augen, die früher voller Vergnügen und Lebensfreude geglitzert hatten, waren eingefallene Schatten ihrer ehemals funkelnden Pracht. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und sie wiegte sich auf den Fersen hin und her, wobei sie leise und unmelodiös vor sich hin summte. »Ylena?«, flüsterte er, wohl wissend, dass sie Romens Stimme nicht erkennen würde. Sie rührte sich nicht einmal. Stattdessen blickte sie an ihm vorbei. Er folgte ihrem starren Blick und stolperte gegen den Gefängniswärter, entsetzt, Alyd Donais Kopf hoch oben auf einem Pfahl aufgespießt zu sehen. Die Lider waren halb geschlossen, und sein Gesichtsausdruck schien immer noch den fürchterlichen Schrecken seiner letzten Augenblicke widerzuspiegeln. Wyl hielt den Zornesschrei zurück, der sich mit aller Kraft entladen wollte. 175
Der Kerkermeister zuckte die Achseln. »Befehl des Königs, Sir. Es tut mir leid. Kanntet Ihr ihn?« Wyl überging die Frage. »Was haben sie mit dem Rest von ihm angestellt?«, blaffte er. »Verbrannt, glaube ich. Wir unterliegen hier unten strengen Regeln. Kein Mann der Legion darf von ihrer Situation oder von Kommandant Donais Hinrichtung erfahren. Das wurde mir unter Androhung der Todesstrafe befohlen. Ich bin der Einzige, der weiß, dass sie eingesperrt wurde, Sir, und genau genommen habe ich den Befehl, die Lady zu verhüllen, sobald sie das Gefängnis verlässt.« Wiederum konnte Wyl nur nicken. »Tut es«, sagte er. »Kann sie gehen?« »Es ist wohl besser, wenn ich sie trage, Sir.« »Gut. Folgt mir und bringt auch das mit«, sagte er und zeigte auf Alyds Kopf. »Ich werde dafür sorgen, dass er eine anständige Beerdigung erfährt.« Den ganzen Weg zurück zu seinen Gemächern kochte Wyl vor Wut über den Zustand, in dem er Ylena gefunden hatte. Sein einziger Trost bestand darin, dass sie überhaupt am Leben war. Er verabschiedete den Kerkermeister vor der Tür, nahm ihm Ylena ab und drückte ihm eine Goldmünze in die Hand. »Das ist nicht nötig, Sir«, sagte der Mann. »Ich bin nur glücklich, dass sie nun dort ist, wo sie hingehört.« »Seid versichert, dass es nicht hier ist«, erwiderte Wyl, und der Mann nickte bedächtig, bevor er ging. Die Augen des jungen Dieners waren ebenso groß wie sein aufgerissener Mund, als Wyl stolpernd eine Frau hereintrug. 175
»Lord Koreldy, Sir!«, war alles, was der Junge herausbrachte. Wyl legte die leblos wirkende Ylena auf sein Bett und den Sack mit den stinkenden Überresten seines Freundes in die Ecke. »Jörn, bring heißes Wasser. Haben wir Ölbäder?« Der Junge nickte. »Gut. Beeil dich jetzt!«
Jörn war bereits an der Tür, als Wyl ihn noch einmal zurückrief. Er schnippte ihm eine Goldmünze zu und wusste, dass der Jüngling nie zuvor ein solches Vermögen besessen hatte. »Wir tun hier nichts Verbotenes, aber ich bitte dich, Stillschweigen über das zu bewahren, was in diesem Zimmer vor sich geht. Ich habe die Erlaubnis des Königs, mich um sie zu kümmern, die Schwester des toten Mannes, den ich heute Morgen zurück nach Morgravia gebracht habe.« Jörn nickte. Gerüchte um Wyl Thirsks Tod hatten sich wie ein Lauffeuer in Stoneheart verbreitet. »Ja, Sir. Ihr wünscht, dass ich nichts über die Anwesenheit der Dame verlauten lasse«, erwiderte der Junge ernst. »Guter Junge. Verschwiegenheit ist die meist geschätzte Eigenschaft bei einem Kammerdiener, und ich werde deine besondere Begabung beim König würdigen.« Jörns Augen funkelten nun vor Stolz. »Vielen Dank, Sir«, presste er hervor und stolperte hektisch durch die Tür, um das heiße Wasser zu holen. Er war überraschend schnell zurück. Wyl hatte gerade einmal die Vorhänge um das Bett geschlossen, in dem Ylena versteckt lag, bevor zwei Diener und Jörn mit Wassereimern ins Zimmer traten. Zufrieden, dass sie zu beschäftigt 176
mit ihrer Aufgabe waren, um sich zu fragen, was sich hinter den schweren Vorhängen befinden könnte, entließ er sie mit einem kurzem Dank und bat Jörn, sich auf die Suche nach passender Kleidung zu machen. Er wies ihn an, in Ylenas ehemalige Gemächer zu gehen und machte sich dann daran, seine Schwester zu baden. Sie schien so verloren, und Wyl fragte sich, ob er sie jemals wiederfinden oder ihr Lächeln sehen würde, das ihn so sehr an das seiner Mutter erinnerte. Während er leise ein altes Schlaflied sang, das Ylena als Kind geliebt hatte, wusch er sie. Allmählich traten die vertrauten Gesichtszüge unter dem Dreck hervor, und ihre schmalen Schultern entspannten sich langsam, als die Wärme des Wassers seinen Zauber wirkte. Orangefarbenes und violettes Öl in dem Badezuber beruhigten sie, während er mit einem Schwamm zärtlich über ihre Haut strich. Dann wusch er ihr Haar und entfernte behutsam die Verfilzungen und den Schmutz. Als Jörn mit der Kleidung zurückkam, sah Ylena, die nun in Wyls riesiges Hemd eingewickelt war, wie ein neuer Mensch aus. Wyl hatte gerade aufgehört, ihr noch feuchtes Haar zu kämmen, da reichte ihm der junge Diener eine Schleife, mit der er es zurückbinden konnte. Schließlich legte Wyl seine Schwester wieder ins Bett und deckte sie zu. »Vielen Dank, Jörn«, sagte er erleichtert. Der Junge war ihm eine große Hilfe gewesen. Jörn hatte nicht nur Kleidung und Schuhwerk aus Ylenas Gemächern gebracht, sondern auch Toilettensachen und Pflegeprodukte. »Ich habe auch das gefunden, Sir«, sagte er und reichte ihm eine Schachtel. Wyl lächelte. Jörn hatte sogar an Ylenas Schmuck ge 176
dacht, der hauptsächlich von ihrer Mutter stammte. Doch er war froh, eine Brosche zu finden, die er ihr geschenkt hatte, wie auch die Perlenkette des Königs. Ihm fiel auf, dass man ihr gestattet hatte, ihren Ehering zu tragen. »Die Juwelen aus Argorn«, flüsterte er. »Du hast ihr alle Ehre erwiesen, Jörn. Nun braucht sie wohl nur noch Schlaf.« »Was ist geschehen, Sir?« Die Wahrheit wäre das Beste. »Sie war Gast im Kerker seiner Majestät, während er Wyl Thirsk des Verrats verdächtigte.« »Und stimmt es, dass Thirsk ein Verräter ist?« »Nein. Wie sich herausstellte, war er Morgravia stets treu ergeben - das weiß der König nun«, log er. »Deshalb wird Wyl Thirsk mit einem Staatsbegräbnis geehrt und seine Schwester in meine Obhut übergeben.« »Und Ihr, Sir? Ihr seht ebenfalls aus, als könntet Ihr etwas Ruhe vertragen. Wie steht es mit Eurem Bad?« Wyl gähnte. »Was ich am nötigsten brauche, ist etwas zu essen«, sagte er. Er hatte seit zwei Tagen keine Nahrung zu sich genommen. »Und dann werde ich schlafen. Vergiss das Bad. Weck mich morgen in aller Früh, und dann werden wir uns darum kümmern.« Jörn eilte erneut fort, doch dieses Mal in die Küche, wo er es vermied, in die Gespräche über den gut aussehenden Fremden verwickelt zu werden, der einen der Lieblingssöhne Morgravias nach Hause gebracht hat. Wyl erwachte früh am Morgen in seinem harten Bett auf dem Boden, doch Jörn war bereits mit dem versprochenen Bad und einem sehr herzhaften Frühstück zur Stelle. Ylena 177
hatte sich anscheinend während der gesamten Nacht nur ein einziges Mal bewegt und das Gesicht zum Fenster gedreht, durch das sie den Himmel sehen konnte, eine Aussicht, die ihr der Kerker verwehrt hatte. Sie wirkte auch weiterhin apathisch und ruhig, obschon Wyl spürte, wie ihre Augen ihn verfolgten. Er wusch sich und aß dann hungrig, ohne etwas zu sagen. Als er sein Frühstück beendet hatte, streckte er sich und blickte sich zu ihr um. Sie beobachtete ihn, genauso, wie er es vermutet hatte. »Guten Morgen«, sagte er in Romens freundlicher Art. Die Antwort kam so leise, dass er sich näher zu ihr beugen musste. »Wer seid Ihr?«, wiederholte sie. Nun würde er seine beste Geschichte erzählen müssen. »Ich bin Romen Koreldy, ein Adliger und weit weg von meiner Heimat Grenadyn.« Er ließ seine Stimme besonders weich klingen, damit sich Ylena auf keinen Fall erschreckte. »Ich habe Euren Bruder auf einer geheimen Mission nach Briavel begleitet.« Wyl hätte gerne ihre Hand gehalten oder sie beim nächsten Teil seiner Erzählung in den Arm genommen, doch sie hatte sich unter ihre Decke verkrochen, und nur ihr Gesicht war zu sehen. Er seufzte. »Ylena, mit schwerem Herzen muss ich Euch sagen, dass wir angegriffen wurden, und obwohl er mutig kämpfte, hat er es nicht geschafft. Wyl erlag seinen Verletzungen, aber
ich habe ihn zurück auf morgravianischen Boden gebracht... zurück nach Stoneheart.« Ihr ausdrucksloses Gesicht gab ihre wahren Gefühle nicht preis. »Wyl war der beste Schwertkämpfer der morgravianischen Legion. Kein Mann hätte ihn besiegen können.« 178
Wyl nickte und liebte sie für ihre Ergebenheit. »Das stimmt, Mylady. Sie waren in der Überzahl, doch er sorgte dafür, dass er den letzten von ihnen mit in den Tod nahm.« Er sah, wie sie die Kiefer fest aufeinanderpresste. Sie hatte schwer damit zu kämpfen, ruhig zu bleiben. »Wyl ist tot.« Ylena bedachte ihn mit einem herzzerreißenden Blick. Ihre Eltern, ihr Bruder, ihr Gatte. Alle waren sie jetzt tot. »Was veranlasst einen vollkommen Fremden, eine solch gütige Tat zu begehen, Sir ... ich meine, ihn zurückzubringen?« Sie beobachtete, wie Romen Koreldy die Achseln zuckte. »Auch ich wäre tot, wenn er nicht gewesen wäre. Er hat mir mein Leben geschenkt. Ich schulde es ihm.« Ylena nickte. »Und ich? Was ist Euer Interesse an mir?« »Ein Versprechen«, sagte Wyl, beugte sich vor und wagte nun, ihre schlanke Hand unter der Decke zu ergreifen. »Ich habe Eurem Bruder kurz vor seinem Tod zugesichert, dass ich Euch aus dem Kerker befreien würde.« Er stählte sich gegen die Tränen und fuhr verbissen fort: »Er hat mir erzählt, was in dem Innenhof vorgefallen ist«, sagte Wyl und verschwieg geflissentlich, dass Romen bei Alyds Hinrichtung anwesend war. »Er rang mir das Versprechen ab, Eure Freilassung zu erreichen.« Sie weinte leise, während die eingefrorene Erinnerung an Alyds letzten Tag zu tauen begann. Als ihr Körper auf einmal bebte, legte Wyl Romens Arm um sie, zog sie nahe an sich und umarmte seine Schwester. »Hat er Euch alles erzählt?«, murmelte sie gegen seine breite Brust. »Ja. Ich weiß alles über Celimus' Verrat, doch ich befinde mich in einer sehr gefährlichen Position, Mylady. Ich habe nur ein Ziel, und das lautet, Euch von hier fortzuschaf 178
fen und mein Versprechen Eurem Bruder gegenüber zu halten. Ich werde Euch an einen sicheren Ort bringen, doch ich werde sozusagen überwacht, bis Euer Bruder beigesetzt ist. Der König hat ein theatralisches Begräbnis versprochen.« »Wyl würde es hassen, wenn er wüsste, dass Celimus auf sein Grab herablächelt.« »Ich verstehe. Darf ich Euch Ylena nennen?« Sie nickte. »Nun, Ylena, wir müssen das Begräbnis überstehen, und danach werden wir abreisen. Das ist der einzige Weg, wie ich für unsere Sicherheit garantieren kann.« »Ich werde nicht kommen. Ich werde nicht zusehen, wie Wyl begraben wird. Ich habe genug gelitten.« Wyl war erleichtert, das zu hören und bettete sie behutsam zurück in die Kissen. »Jetzt möchte ich, dass Ihr etwas esst und wieder zu Kräften kommt.«
Sie berührte ihn am Arm. »Romen, habt Ihr vielleicht zufälligerweise ... im Kerker ...« »Ja, Ylena. Ich habe ihn mitgenommen.« Jetzt weinte sie erneut. »Wir werden ihn standesgemäß beerdigen.« Ein Klopfen an der Tür war zu vernehmen. »Wer ist da?«, rief Wyl. »Jörn, Sir. Ihr habt Besuch.« Wyl verzog das Gesicht. Er ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt, um den Eindringling - wer es auch sein mochte - abzuwimmeln, doch die Tür wurde aufgestoßen und Romen Koreldy von einem riesigen, sehr aufgeregten, schwarzen Hund zu Boden geschleudert. »Knave!«, schrien er und Ylena gleichzeitig, während er den Hund umarmte. 179
Jörn hatte den Begleiter des Hundes hereingezogen, und augenblicklich begann Fynch, der nagelneue Kleidung trug und erschrocken dreinblickte, zu brüllen. »Mörder! Gemeiner Mörder!« Wyl war blitzschnell aufgesprungen und hielt ihm mit der Hand den Mund zu. Der kleine Junge schlug um sich und versuchte verzweifelt, unter dem Druck von Romens großen Fingern zu schreien. Chaos brach im Zimmer aus. Ylena setzte sich entsetzt auf, Knave wollte Wyl immer noch willkommen heißen, und Jörn war so überrascht, dass er sich verängstigt gegen die Wand drückte. »Seid alle still!«, knurrte Wyl. »Oder wollt ihr, dass das ganze Schloss in Aufruhr gerät?« Er blitzte sie wütend an. »Und du, Fynch, Ruhe! Ich werde dir nicht wehtun, wenn du zu zappeln aufhörst... lass das!«, befahl er in Romens strengstem Tonfall. Der Junge versteifte sich, und Wyl atmete erleichtert aus. »Jörn, beruhige dich. Ich kann das alles erklären«, sagte er, obwohl er nicht wusste, ob er das tatsächlich konnte. »Ylena, bitte ... esst und ruht Euch aus. Euch ist das Tier wohlbekannt?«, fragte er und sah Knave gedankenversunken an. Der Hund wedelte wie wild mit dem Schwanz, und seine Vorderpfoten lehnten gegen Romens Schultern. »Ja, das ist der Hund meines Bruders. Ich ... ich verstehe nicht...« Wyl nickte, um ihr das Wort abzuschneiden. »Ich werde den Hund hier bei Euch lassen. Fynch und ich haben einiges zu besprechen.« »Was hat der Junge damit gemeint, als er Euch einen Mörder nannte?«, wollte sie wissen. »Ein Missverständnis. Ich werde es später erklären, aber 179
zuerst muss ich mit ihm reden. Er hat viel durchgemacht, Mylady.« Ylena schüttelte den Kopf, ohne auch nur das Geringste zu verstehen. »Knave scheint Euch zu mögen«, sagte sie verwirrt. »Und doch hasst er jeden.« »Ich kann gut mit Tieren umgehen«, sagte Wyl, in der Hoffnung, dies würde fürs Erste genügen. »Entschuldigt mich«, fügte er hinzu und zerrte Fynch aus dem Zimmer, wobei er dem Jungen immer noch mit der Hand den Mund zuhielt. Ein Raum am anderen Ende des Korridors stand glücklicherweise leer. Wyl schob Fynch hinein.
»Ich möchte, dass du mir versprichst, nicht zu schreien, sondern mir zuhörst. Ich habe Neuigkeiten, die du erfahren solltest. Wie ich gehört habe, warst du ein guter Freund von Wyl Thirsk. Bitte, ich weiß von Valentynas und deiner Flucht. Versprich mir einfach nur zuzuhören.« Fynch nickte mit aufgerissenen Augen hinter Romens Hand. Als Wyl ihn losließ, trat Fynch eilig zurück und sog ängstlich die Luft ein. »Ich weiß alles über dich«, klagte er. »Ich weiß, dass du angeheuert wurdest, um General Thirsk zu töten.« Wyl seufzte. Er spürte auf einmal, wie sinnlos es wäre, Fynch davon überzeugen zu wollen, dass er jemand anderer als Romen Koreldy war jedenfalls für den Moment. Kein Mensch, nicht einmal jemand, der an Magie glaubte, würde ihm das abnehmen. Seine Gedanken wirbelten herum, während er darüber nachsann, wie er den Jungen von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugen konnte. »Fynch.« »Woher kennst du meinen Namen?« 180
»Wyl hat ihn mir gesagt.« »Ist es wahr ... ist er tot?« Wyl nickte, doch er verabscheute es, diesen mutigen Jungen anlügen zu müssen. Er sah, wie Fynch die Tränen zurückdrängte. »Man sagt, du hast ihn zurückgebracht«, sagte er, und Verachtung funkelte in seinen feuchten Augen. »Das habe ich.« »Aber du hast ihn umgebracht.« »Nein«, log Wyl. Es war Romens geschickter Arm gewesen, der seinen Körper getötet hatte. Er wusste, es würde ihm niemals gelingen, die Wahrheit zu erklären und spann deshalb eine neue Lüge. »Wyl hat mir erzählt, was du zufällig mit angehört hast. Es ist wahr, und er und ich haben darüber gesprochen. Nachdem du und die Prinzessin geflohen seid, warnte er mich davor, Celimus zu vertrauen. Als dann der Angriff begann, erkannte ich, dass mein Leben ebenfalls entbehrlich war - und dass Celimus ganz sicher meinen Tod zusammen mit dem von Wyl angeordnet hatte. Am Ende haben wir auf derselben Seite gekämpft, Fynch. Wir haben beide König Valor verteidigt...« »Valor ist tot!«, schleuderte Fynch ihm entgegen. »Ich weiß. Ich habe gesehen, wie er der Klinge eines Mannes namens Arkol zum Opfer fiel, der dann auf mich losging. Wyl und ich hatten bereits die meisten Söldner zu ihren Göttern befördert, doch Wyl wurde von zwei Männern gleichzeitig verletzt. Einen nahm er mit sich ins Grab, während ich Arkol tötete. Ich war verwundet, und hätte Wyl nicht noch einen allerletzten mutigen Hieb vom Boden aus geführt, wo er verblutend lag, hätte auch ich mein Leben verloren. Er lenkte den letzten Mann lang genug für 180
mich ab, damit ich wieder zur Besinnung kommen und ihn erledigen konnte.« Fynch weinte nun, und Wyl hasste sich zutiefst für seine Lügen. »Wyl starb in meinen Armen, aber vorher rang er mir das Versprechen ab, dass ich seine Schwester in Sicherheit bringe. Ich hatte bereits einen Eid geschworen, Prinzessin Valentyna zu beschützen.« Fynch blickte auf, und Zweifel huschten über sein Gesicht. »Das hast du?«
Wyl nickte. »Ich habe mein Versprechen mit Blut besiegelt.« Er zeigte ihm die Wunde in seiner Handinnenfläche. »Du siehst also, Fynch, ich bin auf deiner Seite. Ich bin wegen Ylena zurückgekommen, und um sicherzustellen, dass Wyl Thirsk das Begräbnis erhält, das er verdient. Ich ließ die Soldaten der Legion seinen Leichnam sehen, und sie wissen, dass er wegen eines besonderen Auftrags des Königs nach Briavel geschickt wurde. Celimus kann sich jetzt nicht mehr herauswinden. Er muss Wyl als den Helden feiern, der er für Morgravia war. Ich habe dafür gesorgt, dass der Name Thirsk nicht verunglimpft wird. Glaubst du mir?« Er war kurz davor, Fynch anzuflehen. Der kleine Junge schniefte und dachte lange nach - lang genug für Wyl, um sich in der Stille unbehaglich zu fühlen. Schließlich sagte Fynch: »Ich glaube dir nur aus einem einzigen Grund.« »Und der wäre?«, fragte Wyl, und Romens Augenbraue hob sich in seiner gewohnt süffisanten Art. »Weil Knave es tut. Knave weiß Dinge, die ich nicht verstehe. Er wusste, dass wir heimkehren müssen. Ich folgte ihm, obwohl ich lieber in Briavel geblieben wäre. Knave überredete mich, hierher zurückzukommen.« 181
»Redest du etwa mit ihm?«, erkundigte sich Wyl, dem es kalt über den Rücken lief, als er sich wieder an Myrrens Gabe erinnerte. »Nicht direkt, aber er teilt mir Dinge mit, die ich nicht ganz begreife. Und als wir nach Stoneheart kamen, wusste er, wohin wir gehen müssen. Ich finde es äußerst befremdlich, dass er sich nicht auf die Suche nach General Thirsks Leiche begeben hat, sondern wild entschlossen durch Korridore und winzige Türen geschlüpft ist, bis er diese Treppe gefunden hat. Er ist direkt auf dein Zimmer zugeeilt. Und ich verstehe nicht, warum er dir gegenüber so freundlich war, wo er dir doch vor drei Tagen noch gerne die Kehle durchbissen hätte.« Kann Knave so etwas wirklich?, fragte sich Wyl verwundert. »Was redest du da?« »Ich weiß auch nicht. Allerdings werde ich seinen Instinkten mehr vertrauen als meinen, die mir raten, schleunigst vor dir wegzulaufen.« »Du hast Ylena doch gesehen. Sie muss sich noch von dem erholen, was sie durchgemacht hat, aber sie vertraut mir.« »Ich vertraue von nun ab nur noch Knave und Valentyna«, gab der Junge zu. »Fynch, wo ist die Prinzessin?« »Wo sie hingehört, Sir. Sie ist nicht länger Prinzessin, sondern Königin von Briavel. Sie ist zurück nach Werryl gekommen, um ihren Vater zu beerdigen und ...« »Wie geht es ihr?« »Körperlich gesehen gut, Sir. Untröstlich über den Tod ihres Vaters. Sie zieht sogar in Erwägung, Krieg gegen Morgravia zu führen.« 181
»Nein!«, rief Wyl so laut, dass er Fynch erschreckte. »Das darf sie auf gar keinen Fall tun.« Fynch zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur ein Kanaljunge.« »Viel mehr, wie ich fürchte«, sagte Wyl kopfschüttelnd. »Fynch, du musst zurück. Du musst aus Stoneheart verschwinden und nach Briavel eilen.
Überbring ihr eine Nachricht von mir. Du und ich müssen einen Krieg abwenden - es gibt einen Weg.« »Und wohin gehst du?« »Zuerst muss ich Ylena in Sicherheit und so weit wie möglich aus dem Blickfeld des Königs bringen. Er sollte nicht mal mehr an sie denken. Er ist wankelmütig und wird sie bald vergessen haben, allerdings nicht, wenn sie irgendwo in der Nähe weilt. Ich werde nach Briavel zurückkehren, das verspreche ich. Du weißt, ich habe Wyl Thirsk mein Wort gegeben, Valentyna zu beschützen«, versicherte er und hielt die Hand hoch, damit Fynch erneut die Narbe des Treueids sehen konnte. Fynch nickte. »Ich werde sofort abreisen.« »Hast du ein Pferd?« »Ja, Valentyna hat mir eines gegeben. Ich habe meinen Esel in den Wirren dort verloren.« Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit - so kam es Wyl jedenfalls vor -, konnte er aus dem reinen Glücksgefühl, etwas Positives sagen zu können, lächeln. »Oh, ich glaube, ich habe ihn gefunden. Ein zahmes Tier, das uns zurück nach Morgravia begleitet hat.« »Das ist sie wahrscheinlich!«, rief Fynch hocherfreut. »Ich muss sie zurück zu meiner Familie bringen.« »Komm«, sagte Wyl. »Ich gebe dir Geld, damit du dich 182
um deine Familie kümmern kannst, während du fort bist. Dann musst du augenblicklich abreisen. Verlass Morgravia und bleib in Briavel, bis du wieder von mir hörst.« »Und die Nachricht für Valentyna?« »Ich werde ihr einen Brief schreiben.« »Und Knave?« »Ihr beiden müsst zusammenbleiben. Er wird dich beschützen, Fynch.« 182
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WYL NAHM AN, dass seine eigene Beerdigung ihn nicht berühren würde, doch da hatte er sich getäuscht. In den frühen Morgenstunden hatte er Fynch verabschiedet. Der Maulesel wurde geholt, und der Junge war auf dem Weg zurück zur Hütte seiner Familie, die vier Meilen von Stoneheart entfernt lag. Seine Taschen waren prall gefüllt mit Münzen. Wyl hatte darauf bestanden, dass er sie seiner Schwester brachte. Außerdem führte Fynch einen handgeschriebenen Brief von Romen Koreldy an die Königin Valentyna mit. Wyl hatte ihm in groben Worten den Inhalt zusammengefasst, und Fynch hatte das Schreiben gebilligt. »Das wird ihr gefallen. Aber sie hat Angst und traut niemandem - es wäre besser, wenn es nicht zu lange dauert, bis du nachkommst«, hatte er ihn gewarnt. Der offizielle Teil des Begräbnisses wäre wohl vorbei, sobald Fynch seine Familie getroffen und sich schließlich auf den Weg nach Briavel gemacht hatte - das jedenfalls vermutete Wyl. Deshalb entschied er, Knave zum Schutz bei
Ylena zurückzulassen. Er wollte nicht riskieren, dass jemand in seinen Gemächern herumschnüffelte und Ylena entdeckte. Niemand würde es jedoch wagen, in sein Schlaf 183
zimmer einzudringen, wenn er es mit dem schwarzen Hund zu tun bekäme. Danach könnte er Knave losschicken, um Fynch einzuholen, der - so musste Wyl überrascht feststellen - zuversichtlich war, dass der Hund alle Befehle verstand. Jörn war ein Geschenk des Himmels; er ging ruhig seiner Arbeit nach und kümmerte sich um Romen und Ylena. Als Wyl den Hund, der auf seine Schwester aufpassen sollte, vor seinen Gemächern zurückließ, war er sicher, die Formalitäten der Beerdigung ohne große Probleme meistern zu können. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Eine große Menschenmenge hatte sich bereits versammelt, die stillschweigend eine Schlange bildete, und Wyl fand es leichter, sich ihnen anzuschließen, als die Kathedrale durch die »Adelstüren« zu betreten, wie man sie gern nannte. »Warum nehmt Ihr nicht den schnelleren Weg?«, fragte eine Frau und nickte in Richtung des prächtig geschnitzten Eingangs. »Thirsk hat behauptet, er sei zuallererst ein Soldat, dann erst ein Adliger. Ich erweise ihm die letzte Ehre, indem ich den gewöhnlichen Eingang benutze«, erwiderte Wyl. Sie lächelte zurück und war offensichtlich erfreut. »Er war ein guter Mann. War immer freundlich zu meinen Mädchen. Wie schade!« Wyl begriff plötzlich, dass es sich um eine der Bordellbesitzerinnen handelte. Ohne ihre ausgefallenen Kleider und die Schminke sah sie vollkommen verändert aus. Er erinnerte sich, wie sie ihn einmal um Schutz für die Frauen gebeten hatte, die in ihrem Bordell arbeiteten, und wie 183
dankbar sie war, als er den Mädchen eine Wache zur Seite gestellt hatte, die sie, falls nötig, nach Hause begleiteten. »Kanntet Ihr ihn?«, wollte ein älterer Mann wissen, der genau vor ihm stand. Plötzlich fühlte sich Wyl sehr verletzlich. »Ja.« »Ich kannte seinen Vater. Ich war viele Jahre lang der Laufbursche dieses großartigen Mannes.« »Oh?«, sagte Wyl überrascht. »Ja. Und man behauptete, der Jüngling würde sich mausern und ebenso gut werden wie Fergys Thirsk.« »Ich nehme an, es hätte Wyl gefreut, dass Menschen so über ihn denken.« »Verdammte Sache in Briavel. Was machte er dort überhaupt?« »Soviel ich weiß, erledigte er einen Auftrag des Königs.« »Dann war es wohl eine schmutzige Angelegenheit«, flüsterte der Mann und wurde von jemandem in der Nähe durch ein Zischen zum Schweigen gebracht. »Man würde dir sogar für weniger die Zunge herausschneiden«, warnte ihn sein Freund. »Es gibt Gerüchte über unseren neuen König.« »Was wird denn über ihn berichtet?«, fragte Wyl neugierig.
Der Mann verzog das Gesicht. »Ich sage nicht, dass es wahr ist, nur, dass es mir zu Ohren kam. Es gibt Gerede über Morde im Palast - geheime Morde und Folter. Lasst uns nicht vergessen, wer seine Mutter war«, fügte er hinzu und schwieg. Wyl wusste, er würde nicht mehr aus den Menschen herausbekommen, doch er war froh zu hören, dass sie eine leise Ahnung davon hatte, dass hinter Celimus' wun 184
derschönem Äußeren eine grausame und herzlose Seele hauste. Als die Gruppe über die Türschwelle der Kathedrale trat, brachte die erwartungsvolle Stille jedes Flüstern zum Ersterben. Gebaut von den Steinmetzen und Kunsthandwerkern der vergangenen Jahrhunderte, rief die Kathedrale bei jedem Besucher Ehrfurcht hervor. Wyl, der schon bei vielen Gelegenheiten unter ihrer erhabenen Decke gestanden hatte, bewunderte jedes Mal die wunderschönen Schnitzereien und hervorragende Steinarbeit. Jede der etwa dreißig frei stehenden Säulen wurde von Sockeln gestützt, die aus dem berühmten grauen Stein von Morgravia gehauen waren. Jeder Sockel war von Hand gefertigt und stellte eines der allseits bekannten, mythischen Tiere dar, die angeblich schon bei der Geburt eines Menschen diesen auserwählen. Niemand außer den Königen von Morgravia wusste, zu welchem Tier er gehörte, bis er zum ersten Mal das geheiligte Längsschiff der Kathedrale von Pearlis betrat. Dort würde augenblicklich ein Wiedererkennen stattfinden, so hieß es, und eine Bindung entstehen, die ein Leben lang hielt. Man behauptete, dass der Geist der Tiere seinesgleichen beschützte, weshalb die Morgravianer ihre erste Pilgerfahrt zur Kathedrale so früh wie möglich machten. Als die Kirchgänger nun die Kathedrale betraten, teilte sich die Prozession in kleinere Gruppen, da die Menschen zu ihrem jeweiligen Steintier eilten, um seinen Kopf oder die Beine einige Sekunden in stillschweigender Andacht zu berühren. Wyls auserwähltes Geschöpf war der geflügelte Löwe. 184
Furchteinflößend, knurrend, majestätisch. Es hatte seine Fantasie erregt, als er mit dreizehn zum ersten Mal einen Fuß in die Kathedrale gesetzt hatte, und jetzt erwies Wyl ihm wieder seine Ehrerbietung und wartete, bis er an der Reihe war, um die Hand auf seine kühle, gebieterische Mähne zu legen. Er liebte es ebenso, seine Flügel zu berühren. Das tat er nun auch und fühlte sich nicht nur eingeschüchtert, wie jedes Mal, wenn er in der Nähe seines Tieres war, sondern nahm die tiefe Trauer in sich auf, die in den ausdrucksstarken Augen des Löwen lag. »Ich frage mich, welches Tier General Thirsk wählte«, flüsterte ein Junge ganz in seiner Nähe. Seine Mutter brachte ihn zum Schweigen. Wyl konnte sich nicht zurückhalten und grinste den Jüngling an. »Es war dieses hier«, sagte er leise. Der Junge riss vor Freude die Augen weit auf. »Wirklich?«
Wyl nickte und warf der Mutter des Knaben einen raschen Blick zu, um sie zu beruhigen. Er duckte sich, um mit ihrem Sohn auf Augenhöhe zu sein. »Ich kannte General Thirsk, und du, er und ich selbst haben alle dasselbe mythische Tier gemein.« »Das macht uns also zu Brüdern«, sagte der Jüngling stolz. »In der Tat«, bestätigte Wyl, und sie drückten die Fäuste in der Manier der Legion aneinander. Die Frau lächelte zurück und nickte ihm dankbar zu. Wyl wusste, dass er trödelte, um das zu vermeiden, womit er auf einmal nicht mehr konfrontiert werden wollte. Der Menschenstrom schob sie nach vorn, und er konnte dem Druck nicht mehr standhalten. 185
Er drehte sich um und starrte die Bahre an. Auf ihr lag Wyl Thirsks Leichnam. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte ihn, als er seinen eigenen kalten und blassen Körper erblickte. Abgesehen von einem Stofftuch um seine Lenden und einem Kranz aus den Nationalblumen auf seinem Kopf war er nackt. Celimus hatte angeordnet, den Leichnam des Generals so zu präsentieren - eine Ehre, die nur Adligen vorbehalten war, die von der Krone immens geschätzt wurden. Er sah zur purpurfarbenen Imolda - der hübschesten aller Wildblumen - und bemerkte verdrossen, wie sich das Karmesinrot mit seiner Haarfarbe stach. Wyl war absichtlich früh gekommen, doch schon jetzt drängten sich Dutzende Menschen um den Leichnam und erwiesen dem jungen Mann, der in der Blüte seines Lebens gestorben war, die letzte Ehre. Er hörte zufällig, wie jemand bemerkte, dass nun der letzte der Thirsk-Männer umgekommen sei. Ein Kloß bildete sich in Wyls Kehle, während ihn sorgenvolle Gedanken quälten, und er spürte die tiefe Traurigkeit um sich herum. Er taumelte ein wenig, als er sich dem Leichnam näherte, dessen Haut mit einem feinen Flaum rotbrauner Haare bedeckt war. Wie ist es möglich, dass ich das nie gesehen habe, als ich noch in dem Körper steckte?, fragte er sich verwundert. Er stellte eine Vielzahl winziger Details fest, die ihm früher nie aufgefallen waren. In der friedvollen Umarmung des Todes wirkte sein Gesicht entspannt, und Wyl bemerkte, dass er überhaupt nicht so hässlich gewesen war, wie er stets angenommen hatte. Unscheinbar, ja, aber nicht hässlich. Seine verhassten Sommersprossen waren verschwunden, und sein Antlitz, obschon der Tod eine Blässe hinter 185
lassen hatte, war wie seine sonnenverbrannten Arme gebräunt. Aus einem unerklärlichen Grund hatte er immer noch das Bild eines knabenhaften Gesichts vor Augen gehabt, doch als er es jetzt betrachtete, stellte er fest, dass er sich in den Jahren seit seiner Ankunft auf Stoneheart verwandelt hatte. Das Gesicht war nun viel kantiger, die Kieferknochen und Augenbrauen markanter ausgeprägt. Er hatte Arbeiterhände besessen - was ihm nie zuvor aufgefallen war -, die jetzt über seiner Brust zusammengefaltet lagen. Aber selbst so konnten sie nicht die blasse Narbe an der Stelle verbergen, an der Romens Schwert in ihn eingedrungen war. Es war die Wunde eines Kriegers, auf die man stolz sein konnte, und einige Menschen berührten sie voller
Ehrfurcht. Ein gemeinschaftlicher Schmerz hatte sich über die Schlange an Trauergästen gelegt, die langsam, jedoch unaufhörlich den Leichnam umrundeten. Schließlich reihte er sich ebenfalls ein und folgte ihrem Beispiel, legte Romens große, elegante Hand für einen kurzen Augenblick auf Wyl Thirsks Wunde und erinnerte sich an die qualvolle Pein und Ungläubigkeit, als das Schwert ihn durchbohrt hatte. Während Wyl seinen eigenen Leichnam berührte, stiegen unbeschreibliche Gefühle in ihm auf und verschlugen ihm den Atem. Sein Körper sah klein und hilflos aus, wie er dort lag. Er musste an den Tod seines Vaters und den von Magnus denken, was ihn daran erinnerte, dass Alyd und wahrscheinlich auch Gueryn tot waren. Alles, was er noch besaß, war Ylenas Liebe und Valentyna, die er beschützen musste. Eine laute Trompetenfanfare erscholl, die die Ankunft 186
des Monarchen in der Kathedrale verkündete. Celimus kam früher als erwartet. Wyl schnitt mit Romens Mund eine Grimasse. Er hatte gehofft, schon wieder draußen zu sein, bevor der König erschien. Die Menschen um ihn herum senkten die Köpfe und verbeugten sich tief - wie Celimus das anscheinend verlangte -, doch Wyl konnte der Aufforderung nicht nachkommen. Etwas Hartes und Unerbittliches hinderte ihn daran, dem verräterischen Bastard auch nur die geringste Ehre zu erweisen. Er sah, wie Celimus den Hauptgang der Kathedrale hinabschritt, wobei seine Absätze laut und arrogant auf den großen Steinplatten klapperten und bis zur gewölbten Prachtdecke widerhallten. Der König ging zur anderen Seite des Hauptschiffs und drehte dem geflügelten Löwen den Rücken zu. Celimus stand nun vor dem Steindrachen, der nur ihm allein gehörte, bis er starb und ein neuer König den Thron erbte. Hier legte er eine besinnliche Pause ein, ohne sich darum zu kümmern, dass sich alle Anwesenden so lange verbeugen mussten, bis er Platz genommen hatte. Schließlich streckte Celimus die Hand aus und strich über den mit Klauen bestückten Fuß des Drachen, dessen zurückgeworfener Kopf - ganz so, wie es sich für den König der Tiere geziemte - selbst für jemanden von der Größe des Monarchen zu hoch aufragte, um berührt zu werden. Dann wandte er sich um und bahnte sich angeberisch einen Weg zurück zum Steinthron am Hauptschiff der Kathedrale. Noch immer war es niemandem gestattet, sich aufzurichten. Es war albern, begehrte Wyl innerlich auf. Magnus hatte nie auf einer solch langen oder theatralischen Ehrerbietung bestanden. Was geschieht mit den Morgravia 186
nern? Und wie viel schlimmer kann es noch werden - immerhin sind dies die frühesten Tage von Celimus' Regierung?
Er bemerkte, dass der Verräter ihn entdeckt hatte und nun beobachtete. Der König hatte seinen Thron erreicht, sich jedoch noch nicht hingesetzt. Der olivfarbene Blick sah ihn eindringlich an und verlangte, dass sich Romen Koreldy aus Grenadyn vor dem König von Morgravia verbeugte.
Sich verbeugen Wyl wollte sich zu der Geste zwingen, aber Romens Körper
gehorchte nicht. Er wusste, dass hier nicht Romen am Werk war. Romen war verschwunden. Dies war sein eigener Wille, der sich gegen das Böse erhob, das ihm aus dem teuflisch schönen Gesicht entgegenstarrte. Celimus legte den Kopf ein wenig schief und stellte Romen stillschweigend eine Frage. Wyl verstand, dass er sich vor seinem gefährlichsten Feind zusammenreißen musste. All seine Pläne wären hinfällig, wenn er nach dem Begräbnis die einzige Chance zur Flucht wegwarf. Gehorch ihm, verbeug dich vor ihm\
Es war sein Nachbar, der den Bann brach - der alte Soldat, der in der Schlange draußen vor der Kathedrale genau vor ihm gestanden hatte. »Verbeug dich, verdammt noch mal«, knurrte er leise und packte Romen zum Glück am Arm, um ihn nicht nur nach unten zu ziehen, sondern ihn auch wieder zur Besinnung zu bringen. Wyl ließ sich auf Romens Knie fallen und verbeugte sich tief vor dem König. »Vielen Dank«, flüsterte er dem Soldaten zu. Dem Anschein nach zufrieden, jedoch mit ausdruckslosem Gesicht, nahm Celimus schließlich Platz. Leise Musik erscholl augenblicklich von einem Chor von der Gale 187
rie. Ihre Stimmen erfüllten die Kathedrale, als würden Engel singen. Die Menschen erhoben sich, und die Schlange nahm ihren schlurfenden Gang um den Leichnam wieder auf, wobei die Musik nun Tränen hervorrief. Am Kopfende der Leiche sah Wyl auf die geschlossenen Augen hinab, die das Geheimnis um Myrrens Gabe verbargen. Rötliche Wimpern lagen wie weicher Flaum auf den Wangen des toten Mannes - seinen Wangen. Wie tieftraurig er auf einmal war! Tot und trotzdem nicht tot. Gefangen als Wyl, und dennoch frei, um Romen zu sein. Sein Kummer verriet ihn fast, und Wyl musste sich zusammenreißen, ehe König Celimus echte Trauer bei Wyl Thirsks Mörder bemerkte. Froh, entkommen zu können, schritt er von dem Leichnam fort und warf einen Blick zum König, der jedoch in die andere Richtung sah. Viele Adlige hatten sich versammelt. Der Herzog von Felrawthy war nicht anwesend, wahrscheinlich verstärkte er noch die Verteidigung im Norden, wie es seine Pflicht gegenüber der Krone war. Die Abwesenheit des Herzogs war unter diesen Umständen wahrscheinlich ein Segen, wenn man das Schicksal seines Sohnes bedachte, obschon der König immer noch unbedingt die Unterstützung von Jeryb Donal brauchte, der großen Einfluss im Norden ausübte. Er fragte sich, welche Lügengeschichte er in Bezug auf Alyds Tod ersonnen und dem Herzog geschickt hatte, um seine Beziehung zu dem Adligen nicht zu gefährden. Vielleicht bereute der König bereits seine rachsüchtige Entscheidung, das Leben des jungen Mannes beendet zu haben? Die Messe begann und riss Wyl aus seinen Gedanken. 187
Der Priester sagte all die üblichen Dinge, und dann hielt der König eine blumige Rede, in der er die Tugenden von Morgravias wichtigstem Mann im Militär rühmte. Musik, Prunk, Feierlichkeiten - genau das, was Celimus versprochen hatte. Sobald der Leichnam schließlich eingehüllt war und später in das Familiengrab in Stoneheart mit all den anderen Thirsks gebracht wurde, die Morgravia gedient hatten, war die Messe beendet. Eine Totenfeier würde nun folgen und bis weit in den Nachmittag dauern. »Setz dich zu mir, Romen«, bot Celimus ihm in einer Geste ungewohnter Freigiebigkeit an. Ganz offensichtlich war er begeistert, dass das Kapitel endlich abgeschlossen war. Es stand ihm nun frei, die Legion zu befehligen. Widerwillig trat Wyl zu ihm und fragte sich, wann er sich wohl zurückziehen könnte. Er gab vor, von dem Festmahl zu essen und nippte oft an seinem Kelch, nahm jedoch kaum etwas von dem Wein in den Mund. Später musste er einen klaren Kopf haben. Celimus beugte sich zu ihm und flüsterte: »Am liebsten würde ich seinen Körper verbrennen.« Wyl legte seinen erschrockenen Gesichtsausdruck ab. »Oh? Warum?«, fragte er in Romens gewohnter Art. »Es ärgert mich, dass sie alle derart seinetwegen trauern. Ich werde ihn vollkommen aus dem Bewusstsein Morgravias verbannen.« Wyl war übel. Wird er tatsächlich später das Grab öffnen und meinen Leichnam verbrennen! Verbrennungen wurden von allen Morgravianern als anstößig erachtet und waren allein Hexen und Verrätern vorbehalten. Die Ironie lag klar auf der Hand. 188
Er schlang den Arm um die Lehne seines Stuhls; eine von Romens typisch lässigen Gesten. »Das würde ich nicht, Sire. Das könnte nur zu Problemen führen. Warum schickt ihr den Leichnam nicht einfach zu seinem Familiensitz? Woher stammt er überhaupt?« »Argorn«, sagte Celimus und schürzte die Lippen. »Eine verschlafene, hässliche, rückständige Region des Reichs, die Narren und hässliche rothaarige Tölpel wie die Thirsk-Linie hervorbringt.« Später wusste Wyl nicht mehr, wie er seine Wut im Zaum gehalten hatte. Zorn ließ seine Kehle anschwellen, und seine Finger zuckten in die Nähe der Gabel, die er dem König mit Freude ins Herz gerammt hätte. Ihm kam jedoch eine spöttische Antwort über die Lippen, auf die selbst Romen stolz gewesen wäre. »Umso mehr ein Grund, den kleinen Troll dorthin zurückzuschicken, wo er hingehört. Lasst ihn im Exil liegen«, sagte er und wirbelte statt seiner Gabel den Becher Wein herum. Auf einmal sah ihm Celimus direkt ins Gesicht, und eine Spur Dankbarkeit lag in seinem Ausdruck. »Du überraschst mich erneut, Koreldy - dieses Mal mit deinem Weitblick.« »Oh, wann habe ich Euch zuletzt überrascht, Sire?«, fragte Wyl und merkte augenblicklich, dass er in eine Falle getappt war.
»Vorhin, in der Kathedrale, als du äußerst lange gezögert hast, um mir den gebührenden Respekt zu zollen. Sollte ich mir um deine Treue Sorgen machen?« Wyl tat einen beruhigenden Atemzug und bedachte den König dann mit einem breiten Grinsen. »Ich besitze keine, Sire ... außer, was Gold betrifft«, sagte er. Celimus lächelte 189
nicht zurück. »Um die Wahrheit zu sagen, Majestät, so glaubte ich, dass ich in der Kathedrale ohnmächtig werde«, fügte Wyl hinzu. »Und wie kommt das?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, Sire. Ich habe gestern meine Wunde als Bagatelle abgetan, doch der Arzt sagte, sie sei tiefer, als ich dachte, und nähte sie. Er gab mir zwei Tränke. Einen sollte ich während seiner Behandlung zu mir nehmen, den anderen heute Morgen. Ich fürchte, das morgendliche Gebräu war ein wenig zu stark, und deshalb meine Entschuldigung, Majestät, aber ich musste mich ganz darauf konzentrieren, nicht umzukippen.« »Ich verstehe. Vielleicht hätte es mir jedoch besser gefallen, wenn du umgekippt wärst, denn so wirkte es wie die absichtliche Missachtung des Protokolls von Stoneheart.« Entschlossen schüttelte Wyl den Kopf. »Nein, Sire, niemals. Ich stehe in Eurer Schuld, ebenso wie in der meines Nachbarn. Er half mir auf die Knie, als ich ihn darum bat.« Und genauso schnell, wie Celimus' Wut geschürt worden war, verschwand sie zu Wyls Erleichterung wieder. Der Vorfall schien bereits vergessen zu sein. Mit einer wegwerfenden Handbewegung nahm er die Entschuldigung an und befahl, dass ihre Kelche gefüllt werden. »Und nun sag mir, Romen. Bist du schon in den Genuss der Lady Ylena gekommen?« Wyl hustete, verbarg es jedoch gut. »Noch nicht, Sire. Sie steht immer noch unter Schock und benimmt sich wie eine Leiche - ganz wie ihr Gatte. Sie riecht auch so streng wie er.« Celimus lachte über seinen Scherz. »Du zeigst große Geduld, mein Freund. Stimmt das?« 189
»Ich habe ihr bis heute Nacht Zeit gegeben, Sire. Dann werde ich sie nehmen wenn es sein muss, auch von hinten -, damit ich nicht in ihr erschrockenes, schmutziges Gesicht blicken muss.« Nie hatte er Celimus so gehasst wie in diesem Augenblick. Der König lachte erneut. »Und wann wirst du abreisen?« »Mit Eurer Erlaubnis, Majestät, würde ich Eure Gastfreundschaft noch für einen weiteren Tag auskosten«, log Wyl. »Vielleicht morgen Abend?« Celimus nickte. »Gut. Lasst uns morgen bei Tagesanbruch einen gemeinsamen Ausritt unternehmen. Dann kannst du meine Falken bei der Arbeit beobachten.« »Ausgezeichnet, Sire, aber jetzt müsst Ihr mich entschuldigen«, sagte Wyl mit der festen Absicht, keine weitere Stunde in Stoneheart zu verweilen.
»Oh, du verlässt unseren Tisch schon so früh, Romen?« »Ja, Majestät. Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich fühle mich immer noch etwas schwach. Ich würde mich gern ausruhen, damit ich morgen frisch mit Euch ausreifen kann.« Celimus hob ihm den Kelch entgegen und nippte an dem Wein. »Bis morgen.« »Ich sehe Euch bei Morgengrauen«, sagte Wyl, und Romens entwaffnendes Lächeln gewann viele Herzen am Tisch, jedoch nicht das, auf das es ankam. Als er aus der Halle schritt, winkte Celimus einen seiner Männer herbei. Er hatte bereits einen kleinen Kreis an Soldaten zusammengestellt, die sich wie eine Leibwache um ihn formierten. Keiner gehörte zur Legion. »Eure Majestät?« »Jerico, siehst du den Mann, der gerade den Saal verlässt?« 190
»Ja, Sire.« »Er wird morgen Abend aus Pearlis abreisen - vielleicht mit einer Frau im Schlepptau. Sobald er die Stadttore verlassen hat, möchte ich, dass du ihn mit einigen unserer Männer verfolgst und tötest. Bring beide um, falls sie bei ihm ist. Hast du verstanden?« Der Mann nickte. »Jede Spur von ihnen wird sich verlieren, außer seinem Finger mit dem Siegelring. Den wirst du mir als Beweis deiner erfolgreichen Arbeit bringen. Er wird viel Gold bei sich tragen. Was auch immer du findest, magst du behalten und nach Gutdünken mit den anderen teilen.« Der Mann namens Jerico grinste. »Vielen Dank, Sire.« 190
i8 WYL UND KNAVE eilten zu einem ruhigen Innenhof mit einem winzigen bogenförmigen Tor, das direkt aus Stoneheart hinausführte. Von früher wusste Wyl, dass es dort kaum Wachtposten gab. Die Abenddämmerung senkte sich herab, und das Licht nahm allmählich ab, weshalb es ihm ohne Schwierigkeiten gelang, den einzigen Soldaten lange genug in ein Gespräch zu verwickeln, damit Knave durch das Tor trotten konnte. Der Wachtposten bemerkte die Bewegung aus den Augenwinkeln, doch Wyl hob nur seine Augenbrauen und sagte etwas Abfälliges über Stoneheart und seine unzähligen Hunde. Der Mann sah besorgt aus und erklärte dann, dass es General Thirsks Tier gewesen sei und er es vielleicht hätte aufhalten müssen. »Nun, macht Euch keine Sorgen, Junge«, sagte Wyl beruhigend. »Er hat nur seine Freiheit wiedererlangt. Er gehört nicht länger hierher, jetzt, wo sein Herrchen tot ist.« Er zuckte die Achseln. »Ihr habt wahrscheinlich recht, Sir. Er war sowieso ein furchterregender Mischlingsköter. Hilft Euch die Wegbeschreibung weiter, Sir? Findet Ihr nun den Weg zurück zu Euren Gemächern?« 190
»Auf jeden Fall. Vielen Dank für Eure Hilfe.«
»Das war doch nicht der Rede wert, Sir«, sagte der Soldat und kehrte an seinen Posten zurück. Wyl hatte beschlossen, den Ausgang durch diesen Innenhof zu benutzen, um später aus Stoneheart zu fliehen, sobald die Nacht ihm die Schatten bot, die er brauchte. Ein weiterer Schatten, der sich bewegen und leicht mit der Dunkelheit verschmelzen konnte, wartete draußen. Knave hatte seine Anweisungen erhalten. Er wäre vorbereitet. Jörn hatte ihre wenigen Habseligkeiten in einen Stoffbeutel gepackt. Er hatte außerdem etwas Obst, Käse, Nüsse und einige Laibe Brot hineingestopft. »Nur für die erste Zeit, Sir«, sagte er, und Wyl bemerkte, dass der Bursche traurig aussah. »Jörn ... sieh mal.« Wyls Tonfall gab dem Jüngling den Mut, der ihn bis dahin gefehlt hatte. »Nehmt mich mit Euch, Lord Koreldy, Sir. Ich werde Euch keine Probleme bereiten, das schwöre ich. Ich kann mich um Lady Ylena kümmern, damit Ihr Zeit für Eure Geschäfte habt, Sir.« Der Junge wirkte so verzweifelt, dass Wyl beinahe nachgegeben hätte, doch dann fiel ihm ein, was vor ihnen lag. »Jörn, du bist ein guter Junge und wirst in Stoneheart gebraucht. Hier«, sagte er und reichte ihm ein Pergament. »Ich habe dich in dem Empfehlungsschreiben an den Seneschall in den höchsten Tönen gelobt - stell sicher, dass er es bald bekommt«, warnte ihn Wyl, wohlwissend, dass der Name Koreldy schon bald in Ungnade fallen würde. Allerdings hoffte er, dass der Bursche in dem Durcheinander vergessen würde. »Ich kann dich nicht mit mir nehmen. Wo 191
ich hingehe, benötige ich keine Begleitung, mein Sohn. Hoffentlich verstehst du das.« Der Jüngling nickte, aber seine Enttäuschung war offensichtlich. Es war Ylena, die Wyl rettete. »Wenn ich zurück zu meinem Familiensitz komme, Jörn, werde ich nach dir schicken. Du wirst deine Ausbildung bei uns in Argorn weiterführen.« Die Miene des Jungen erhellte sich augenblicklich. »Das wäre wundervoll, Mylady, vielen Dank. Wohin brecht Ihr auf?« Wyl schüttelte den Kopf. »Das wissen wir noch nicht genau, Jörn. Wahrscheinlich nach Nordwesten, irgendwohin, wo es ruhig ist. Vielleicht nach Rittylworth.« Er wusste, es war ein Fehler, so viel auszuplaudern. Es brachte den Jungen in Gefahr und bedrohte auch ihre eigene Sicherheit. Jörn nickte. »Ich warte auf Eure Nachricht, Sir.« Er verbeugte sich vor Ylena. »Mylady.« Sie blickte zu Romen und lächelte traurig. Wyl wünschte, er könne ihren Schmerz lindern - wenn auch nur ein wenig -, indem er ihr erklärte, dass er es war, ihr Bruder, der zurücklächelte. Sobald Knave das leise Pfeifen seines Herrchens vernahm, lieferte er dem erschrockenen Wachtposten eine besondere Vorstellung, knurrte und bellte, rannte in einem wahnsinnigen Tempo auf ihn zu und drehte wieder ab. Der Mann nahm schließlich allen Mut zusammen, hob Steine auf und schleuderte
sie durch die Dunkelheit dahin, wo er das Tier vermutete, verlor dann jedoch die Fassung und lief Hilfe holen. In diesen kurzen Sekunden schlüpften Wyl und Ylena 192
durch das Tor in die Freiheit. Sie waren für eine Reise zu Fuß gut gekleidet, und ihre weichen Stiefel machten keinerlei Geräusche. Wyl wusste, dass Ylena nicht sehr weit gehen konnte, bevor sie eine Ruhepause benötigte. Sie war unterernährt und immer noch schwach, aber er hoffte, sie könne es wenigstens bis zur nächsten Stadt schaffen, wo er geeignete Pferde kaufen wollte. Er hatte vor, so weit wie möglich im Schutz der Dunkelheit zu wandern, was sie auch stillschweigend für etwa eine Meile taten. Als sie Stoneheart endgültig hinter sich gelassen hatten, löste sich Wyls Anspannung allmählich. Knave, eine riesige dunkle Gestalt, tauchte aus den Schatten einer Hecke auf. »Guter Junge«, lobte Wyl und tätschelte ihm den Kopf. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum der Hund Euch mag. Jeden anderen Menschen hasst er«, bemerkte Ylena abwesend. Ihre Stimme war immer noch ein entrücktes, monotones Flüstern. »Das ist mir auch schon zu Ohren gekommen. Wahrscheinlich besitze ich das richtige Fingerspitzengefühl.« Sie schwieg. »Knave, du machst dich jetzt auf den Weg und findest Fynch. Bring ihn nach Briavel. Beschütz ihn.« Er kniete sich hin und blickte in die großen Augen des Hundes hinauf. »Pass für mich auf sie auf, Junge.« Wyl mutete es seltsam an, derart vertrauensvoll mit dem Tier zu sprechen, aber trotzdem war er sich auf eine seltsame Art sicher, dass der Hund ihn verstand. Das Tier schien ebenso von dem Zauber berührt zu sein wie er. Der Hund verweilte noch lange genug, damit ihm Ylena den großen Kopf liebevoll streicheln konnte, dann sprang 192
er in riesigen Sätzen in die Dunkelheit, vermutlich, um Fynch einzuholen. »Glaubt Ihr, er vermisst Wyl?«, fragte sie versonnen. Ihm fiel keine Antwort ein. »Ylena, was Euren Gatten betrifft«, sagte Wyl stattdessen zärtlich. »Wo sollen wir ihn beisetzen?« Sie zögerte keinen Augenblick. »Er muss nach Hause zurückkehren, Romen, nach Felrawthy im Norden. Seine Familie muss von diesem Frevel erfahren. Der Herzog wird die nötigen Schritte einleiten.« Im Gegensatz zu seiner Schwester zögerte Wyl. Es wäre unklug, in der gegenwärtigen Lage einen Aufstand unter dem Adel anzuzetteln. Zu viel war ungewiss. Wer sollte Celimus ersetzen? Würde der Adel einen solchen Verrat unterstützen - und weshalb sollten sie Romen Koreldy vertrauen? Außerdem musste er sich noch immer selbst davon überzeugen, dass er die Krone, der er unbeirrbare Treue geschworen hatte, tatsächlich hintergehen könnte. Er wandte seine Gedanken wieder Ylena zu. »Würdet Ihr mir erlauben, ihn nach Hause zu bringen?« »Das würdet Ihr für mich tun?« »Natürlich. Ihr habt schon genug gelitten.«
Sie dachte über sein Angebot nach. »Ich wäre Euch sehr verbunden, aber Ihr müsst dem Herzog und seiner Familie ausrichten, dass ich so bald wie möglich nach Felrawthy reisen werde.« Ihre Stimme wurde eisig. »Wir werden zusammen trauern, und dann werden wir überlegen, wie wir Celimus seine Schandtat heimzahlen können.« Wyl ging nicht weiter darauf ein, so sehr er Ylena auch warnen wollte. »Gut. Und jetzt sollten wir über Argorn sprechen.« 193
»Ja?« Auf einmal war sie hellwach, was ihn überraschte. »Ich hieße es gut, wenn Ihr nicht sofort zurückkehren würdet«, riet ihr Wyl und erwartete eine barsche Reaktion. Diese trat jedoch nicht ein. Stattdessen sagte sie ruhig: »Celimus wird mir folgen ... ist das Eure Vermutung?« Er nickte, beeindruckt, dass sie seinen Gedanken trotz ihrer Schwäche und Verwirrung folgen konnte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach mit den Achseln zucken wird, sobald er von unserem Verschwinden erfährt. Unsere plötzliche Flucht aus Stoneheart wird bei ihm den Verdacht bestätigen, dass Romen Koreldy ein Verräter ist. Natürlich können wir jetzt einfach behaupten, dass Ihr gezwungen wurdet, mit mir zu kommen, aber Euer Leben bedeutet ihm nichts. Ja, ich glaube, er wird der offensichtlichen Spur nach Argorn folgen, aber ich werde dafür sorgen, dass er nichts findet.« »Wohin sollen wir uns dann wenden?« Erneut war Wyl für die kurzen Einblicke in Romens Gedächtnis dankbar, die ihm geblieben waren. »Es gibt ein kaum bekanntes Kloster in Rittylworth.« »O ja, ich erinnere mich, dass Ihr es Jörn gegenüber erwähntet.« »Hmmm, und um ehrlich zu sein, wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Je weniger Menschen davon wissen, desto besser.« »Wie lange soll ich dort verweilen?«, fragte Ylena gleichmütig. Wyl war stolz auf ihre Gelassenheit. »Lange genug, damit die jüngsten Geschehnisse aus Eurem Gedächtnis verblassen, meine Kleine«, sagte er. Sie warf ihm einen eigenartigen Blick zu. 193
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte er sich. Ylena schüttelte den Kopf, als wollte sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen. »Ja ... nun, nein. Das war Wyls Kosename für mich. Er hat mich immer >meine Kleine< genannt.« Sie lächelte traurig. »Nachdem unser Vater starb, bin ich oft in Wyls Bett geklettert, und er hat mich umarmt und mir gesagt, ich solle nicht weinen. Und dann hat er sich Geschichten ausgedacht, wie ich einmal die hübscheste Maid von ganz Stoneheart mit meinem ganz eigenen Turm werden würde.« Ylena unterdrückte ein leises Schluchzen. Wyl hätte sich am liebsten die Zunge herausgebissen. »Die Mönche in Rittylworth werden sehr freundlich zu Euch sein, das verspreche ich«, sagte er, ohne es wirklich wissen zu können. Alles, was er aus Romens Gedächtnis gefischt hatte, war der Name des Klosters - jedoch nichts über seine Bewohner -, und dennoch wollte er instinktiv dorthin fliehen. Glücklicherweise wusste er den Weg nach Rittylworth. »Vier oder fünf Monde vielleicht, dann können wir
Euch nach Argorn bringen. Bis dahin werde ich auch einen richtigen Schutz für Euch organisiert haben«, fügte er hinzu. »Euer Plan ist wohldurchdacht, Romen. Ich werde tun, was Ihr vorschlagt. Vielen Dank.« Erleichtert atmete er aus. »Und Ihr?«, fragte sie unerwartet. »Wohin werdet Ihr reisen?« »Zurück nach Briavel. Dort warten unerledigte Angelegenheiten auf mich, doch zuerst muss ich eine Seherin aufspüren.« Ylena musste tatsächlich lachen. »Weshalb?« 194
»Oh, ich bin abergläubisch. Das sind wir alle in meiner Familie«, log er. Ylena schaffte es, in der Nacht eine solch große Distanz zu bewältigen, dass sie in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages Farnswyth erreichten. Sie nahmen sich ein Zimmer in dem billigsten Gasthof, um in dem recht kleinen Ort so anonym wie möglich zu bleiben. Als Wyl mit unbekannter Leichtigkeit derbe Witze mit einem Händler austauschte, der sich eine Nacht in einem Bett im Ship Inn gönnte, merkte er, dass Romen ein Mann war, der sich fast jeder Situation anpassen konnte - er fühlte sich in Adelskreisen ebenso wohl wie beim einfachen Volk. Es war keine besonders saubere Herberge, doch Ylena ließ keine Bemerkung darüber fallen. Rasch eilte sie in ihren stickigen Raum und riss das kleine Fenster auf. Ihr einziger Wunsch war etwas frisches Wasser in einem Krug. Sie schliefen einige Stunden, und nachdem sie genüsslich einen überraschend köstlichen Lamm- und Kartoffelauflauf gegessen hatten, kehrte Ylena wieder in ihr Zimmer zurück und ruhte sich weiter aus, während Wyl aufbrach, um Pferde zu kaufen. Seine Wahlmöglichkeiten waren begrenzt, doch er suchte nicht nach Zuchttieren. Im Moment benötigte er zwei taugliche Gäule, die sie lediglich nach Rittylworth brachten. Er deckte sich auch mit Nahrung und Wasser ein und erklärte Ylena nach seiner Rückkehr, dass er es zwischen diesem Dorf und dem Kloster nicht wagen wollte, gesehen zu werden. Normalerweise wäre es ein Dreitagesritt, doch sie würden wahrscheinlich doppelt so lange brauchen, wenn sie tatsächlich querfeldein ritten. »Hier wird unsere Spur enden«, sagte er zu Ylena. »Ich 194
kann nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Menschen hier nichts ausplaudern, falls sie mit einer Folterzange bedroht würden«, fügte er grimmig hinzu. »Wir sind leider nicht besonders unscheinbar.« Ylena widersprach nicht, und Wyl war erneut stolz auf seine Schwester, wie sie fest entschlossen auf ihr graubraunes Pferd stieg und ihm folgte. Wyl hielt nach etwas Ausschau, irgendeinem Orientierungspunkt, und hoffte, dass Romens Gespür ihn richtig führen würde. Nachdem sie einige Stunden im schnellen Trab geritten waren, fanden sie einen gut verborgenen Pfad. Er war kaum mehr als ein Wildwechsel, doch Wyl wusste instinktiv, dass er danach gesucht hatte. Sobald sie vom Dickicht geschützt waren, zügelte er das Pferd und kehrte zur Hauptstraße zurück. Er benutzte einen dünnen Ast, an dem noch einige Blätter hingen, eilte dann etwa hundert Schritt zurück und
verwischte ihre Spuren. Egal, welche neuen Hufabdrücke nun auf der Straße zu sehen wären, so würden sie auf jeden Fall bis zur nächsten großen Stadt Renkyn weiterführen und jeden Verfolger in die Irre leiten, während sich Wyl und Ylena nach Nordwesten orientierten. Er war sogar so vorsichtig, den schmalen Pfad mit einigen jungen Setzlingen zu verbergen. Kein erfahrener Spurensucher würde auf diesen Trick hereinfallen, doch im schwachen Dämmerlicht waren sie ein wirksamer Schutz. Wie sich herausstellte, verbrachten sie sechs ereignislose und ruhige Tage auf ihrer Reise, die sie vor allem übers Land führte, wobei sie Menschen so gut es ging mieden. Dies war ein Segen für Ylena, die nur unter großen Schwierigkeiten aus der Dunkelheit ihres Verstands in das Son 195
nenlicht von Morgravias Frühling auftauchte. Sie lächelte öfter, und ihre Gespräche wurden länger, doch Wyl war der Unterschied zu früheren Zeiten immer noch schmerzlich bewusst. Die alte Ylena war an jenem schrecklichen Tag des Blutes und Todes verschwunden. Ihr schien in der vierten Nacht nicht unwohl zu sein, doch als ein kühler Wind auffrischte, schlug Wyl ihr vor, nah bei ihm zu schlafen. Eng an ihn gekuschelt fühlte sie sich sicher, gestand sie. Sie gingen sparsam mit der Nahrung um, aßen jedoch gut und stockten ihre Vorräte mit gesammelten Nüssen und Beeren auf. Wyl merkte eines spätnachmittags, dass Romen tatsächlich tödlich mit einem Messer umzugehen vermochte. Als der Söldner noch lebte, hatte er ihn davor gewarnt. Er fand die Waffe am Boden ihres Beutels und dankte erneut dem Glücksstern, der ihnen Jörn gesandt hatte. Nach einem raschen und zielsicheren Hieb mit der Klinge schmorte schon bald ein Hase über ihrem Lagerfeuer. Am siebten Nachmittag verließ sich Wyl auf das, was von Romen noch in ihm war, und wagte sich wieder auf die Straße. Diese wurde nicht so häufig benutzt wie die nach Renkyn, doch ihn beschlich augenblicklich ein heimisches Gefühl. Sie folgten ihr weitere vier Meilen, und als die beiden einen kleinen Hügel erklommen, sahen sie in ein malerisches Tal hinab, in das sich eine Reihe gedrungener Steinbauten schmiegte, die sich ein wenig entfernt von einem Dorf befanden. Ylena kniff die Augen zusammen, um einen besseren Blick auf die kleinen, vereinzelt stehenden Häuser zu werfen zu können. »Das ist Rittylworth«, sagte er erleichtert. »Ein ruhiger Ort«, befand Ylena. »Dort werdet Ihr ein wenig Frieden finden, Mylady.« 195
Ylena nickte, und sie ritten weiter. Mönche, die damit beschäftigt waren, die Gärten um das Kloster zu pflegen, richteten sich von ihrer Arbeit auf. Jemand winkte, einer rief etwas und verschwand dann im Gebäude. Er kehrte mit einem älteren Mann im Schlepptau zurück, und ein breites Lächeln erhellte Romens Gesicht. »Jemand, den Ihr kennt?«, erkundigte sich Ylena.
»Äh ... ja«, erwiderte Wyl verwirrt. Romen kannte und mochte diesen Mann ganz offenkundig, doch er konnte den Namen des alten Mönches nicht aus dem Gedächtnis seines Wirtskörpers ausgraben. Der Mönch grinste zurück und war eindeutig erfreut, als sie ihre Pferde auf das Gelände führten. »Ich wusste, du würdest eines Tages zurückkommen, Romen Koreldy.« Romen saß ab, und die Männer umarmten sich enthusiastisch. »Es tut gut, zurück zu sein«, sagte er vorsichtig»Bruder Jakub hatte versprochen, dass wir dich nicht zum letzten Mal gesehen hätten«, sagte ein atemloser junger Mann. Jakub, dachte Wyl und hätte den enthusiastischen jungen Mönch am liebsten dafür umarmt, dass er ihm den Namen nannte, nach dem er vergeblich gesucht hatte. »Jakub, ich möchte dir jemanden vorstellen, der mir ganz besonders am Herzen liegt.« Er half Ylena vom Pferd. »Das ist Lady Ylena Thirsk von Argorn.« Wyl verriet absichtlich noch nicht, dass sie Lady Donal war. Ylena schien es ebenfalls nicht aufzufallen oder sie vertraute ihm vollkommen. »Willkommen, Mylady«, begrüßte Bruder Jakub sie und verbeugte sich zusammen mit den anderen Mönchen. 196
Ylena machte einen Knicks. »Vielen Dank, Brüder.« Der junge Mönch, der sie als Erster gesichtet hatte, bot an, sich um ihre Pferde zu kümmern. »Wie ich sehe, haben sie deinen Schädel noch nicht geschoren«, sagte Wyl und versuchte verzweifelt, ihnen Namen zu entlocken und herauszufinden, weshalb diese Menschen Romen so wichtig waren. Es nützte nichts. Romens Gedächtnis war einfach zu verschwommen. »Es dauert aber nicht mehr lange«, sagte der junge Mann grinsend. »Ich zähle die Tage.« »Pil wird in vier Monaten die Priesterweihe erhalten. Er hat es verdient«, sagte Jakub zärtlich und mit einem nachsichtigen Lächeln, das Wyl nun wiederzuerkennen glaubte. »Kommt, lasst uns euch einige Erfrischungen anbieten«, sagte Jakub und nahm Ylenas Arm. »Was Mylady wohl am meisten schätzen würde, wäre ein Bad«, schlug Romen vor. »Natürlich!« Jakub wirkte niedergeschmettert, dass er nicht selbst auf den Gedanken gekommen war. Immerhin klebte ihnen der Staub der Reise auf den Gesichtern. Er stellte Ylena einem jungen Burschen vor, bat sie, ihm zu folgen und sicherte ihr zu, dass sie ungestört wäre. »Wir werden Eure Kleidung waschen, Mylady, und vielleicht wollt Ihr uns später bei einem herzhaften Mahl Gesellschaft leisten.« Ylena hatte keine andere Wahl. Sie küsste den älteren Mann auf die Wange, und ihre Dankbarkeit kam von ganzem Herzen. Wyl grinste sie an. »Genießt es. Dann bis gleich, meine Kleine.« 196
»Vielen Dank, Romen ... für alles, was Ihr getan habt.« Sie küsste auch ihn, und Wyl musste sich zurückhalten, sie nicht ebenfalls zu umarmen.
Ylena verschwand zusammen mit dem eifrigen Pil und dem Jüngling, und Wyl wandte sich Jakub zu. »Ich brauche deine Hilfe«, war alles, was er sagte. Geradlinigkeit war hier die beste Methode, entschied er. »Das habe ich mir schon gedacht. Komm, lass uns einen Spaziergang machen.« Wyl wurde in einen wunderschönen Kräutergarten geführt, der in konzentrischen Kreisen angeordnet war und in dessen Herzen sich eine Sonnenuhr befand. Als er und Jakub es sich auf einer Bank unter einem riesigen alten Zitronenbaum bequem machten, wurde ein Tablett mit einem Krug und Bechern serviert. Der Träger verschwand stillschweigend. »Unser letzter Jahrgang ist vorzüglich, Romen. Probier selbst«, sagte Jakub und reichte Wyl einen Kelch. Sie tranken einige Augenblicke in freundschaftlicher Stille, und Wyl genoss nicht nur den köstlichen Wein, sondern versuchte sich zu sammeln, obschon seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Er betete zu Shar, dass dieser ihn nun leiten würde. Was von Romens Erinnerungen noch übrig war, gab ihm nur wenig über diesen Ort preis, abgesehen von der besonderen Vertrautheit. »Sie wirkt wie jemand, der schreckliches Leid erfahren hat«, sagte Jakub schließlich. Romen seufzte. »Zu viel und erst vor sehr Kurzem«, gab Wyl zu. »Durch wen?« »Durch die Laune seiner Majestät, des neuen Königs.« 197
»Ich verstehe. Und in welcher Beziehung stehst du zu ihm?« »Eine lange Geschichte, Jakub. Es genügt zu sagen, dass wir einander mit gezückten Klingen begegnen, falls sich unsere Wege noch einmal kreuzen sollten.« »Ah. Und wie ist Lady Ylena von dieser Hofintrige betroffen?« »Sie ist die Schwester von jemandem, der mich vor seinem Tod anflehte, ihr zu helfen. Ein Mann, vor dem ich großen Respekt hatte.« Der Familienname von Ylena fiel Jakub auf einmal wieder ein. »Das ist die Schwester von Wyl Thirsk?« Er sprach ehrfurchtsvoll. Wyl nickte traurig. »Fergys Thirsk würde sich im Grab herumdrehen, wenn er wüsste, was sie durch die Hand der morgravianischen Krone erleiden musste.« »Und du kannst mir nicht mehr erzählen?« Wyl beschloss, dem alten Mönch zu vertrauen. »Lediglich, dass wir einen Sack bei uns tragen, in dem sich der Kopf von Ylenas Gatten befindet, Kommandant Alyd Do-nal.« »Von Felrawthy?«, rief Jakub mit weit aufgerissenen Augen. Erneut nickte Wyl. »Du musst ihn für mich aufbewahren. Lass ihn konservieren. Eines Tages werde ich zurückkommen und ihn holen. Du darfst Ylena niemals verraten, dass der Kopf noch immer hier ist. Sie glaubt, ich brächte ihn direkt zu seiner Familie. Das kann ich natürlich nicht, da der Herzog ansonsten augenblicklich aufbegehren würde. Ich kann das nicht riskieren ... noch nicht.« »Romen, was ist vorgefallen?«, flüsterte Jakub. 197
Wyl fühlte sich auf einmal schuldig, diesen friedvollen Ort mit seinen Problemen zu überhäufen. Er hatte Jakub bereits genug erzählt, um ihn schwer zu belasten, sollte Celimus sie in Rittylworth aufspüren. Hoffentlich hatte er ihre Spuren geschickt verwischt. »Mord, Heimtücke, Verrat. Celimus wird Morgravia in gefährliche Zeiten stürzen. Er greift nach der Krone von Briavel, legt Lippenbekenntnisse ab, um Königin Valentyna zu heiraten, doch eine Kröte verfügt über mehr Ehrlichkeit als dieser kürzlich gekrönte Monarch.« Wyl hielt inne, aus Angst, schon zu viel gesagt zu haben. »Und du und Ylena?« Wyl blickte Jakub überrascht an, und dann verstand er. »Wir sind nur Freunde. Meine Verpflichtung gilt seinem Bruder.« »Ein Bruder und eine Schwester. Erhoffst du dir Erlösung, Romen?« »Nein!«, sagte Wyl viel zu abrupt und wunderte sich selbst über seine ungestüme Antwort. Was sollten Jakubs Worte wohl bedeuten? »Du protestierst zu vehement. Dafür muss man sich nicht schämen, mein Sohn. Shar wird dich dafür segnen.« Wyl war zu verwirrt, um das Gespräch weiterzuführen, das auf Geheimnisse in Romens Vergangenheit hinwies. Er wollte mehr darüber erfahren, doch der Versuch könnte ihn als Hochstapler entlarven. Es war zu gefährlich. »Ich habe mein Versprechen mit Blut besiegelt, Jakub. Sie schwebt in Lebensgefahr.« »Was verlangst du von uns?«, fragte der ältere Mann und ließ klugerweise das vorherige Thema fallen. »Euren Schutz. Niemand weiß, dass wir hier sind - nun, 198
lediglich einer, aber der ist bloß ein Diener. Ich habe unsere Spuren gut verwischt. Das letzte Mal wurden wir in Farnswyth gesichtet, und keiner der Dorfbewohner von Rittylworth hat uns gesehen.« »Sehr gerne bieten wir Lady Ylena unseren Schutz an. Weiß sie davon?« »Dass sie eine Weile bleiben wird? Ja. Sie wird hier glücklich sein und weiß um die Gefahr, falls sie nach Argorn zurückkehren würde. Davon habe ich ihr strikt abgeraten. Sie braucht Zeit, um sich von den Gräueltaten zu erholen, die sie erlebt hat. Aber sei auf der Hut, Jakub, es gibt Momente, da wirkt sie labil. Als ich mit ihr gereist bin, habe ich etwas in ihr aufblitzen sehen, was mehr als Zorn darüber ist, was sie durchmachen musste.« Er konnte wohl kaum preisgeben, wie gut er die Frau kannte. Aber wie hätte er wissen können, dass sich etwas tief in ihrem Innern verändert hatte? Stattdessen musste er sich darauf verlassen, dass Jakub seiner Intuition Glauben schenkte. »Ich habe das Gefühl, sie könnte vollkommen zusammenbrechen, falls sie einen weiteren Schock erleidet. Sie muss beschützt werden - vor jeglicher Aufregung, nicht nur vor dem König.« Der alte Mann nickte, als wolle er sagen, dass er seiner Bitte nachkäme. »Und du, Romen? Wohin wirst du jetzt ziehen?« »Ich suche eine alte Frau, die ich vor Kurzem in Pearlis getroffen habe, eine Wahrsagerin auf einem Jahrmarkt. Ich habe eine Botschaft von ihrer Familie für sie«, log Wyl. Er wollte seinen Plan, nach Briavel zu reisen, nicht
offenbaren; der alte Mönch hieße die Idee nicht gut. Also wandte er sich rasch dem nächsten Thema zu, obschon er den edlen alten Mann nicht betrügen wollte. »Dann nach Felrawthy, um 199
Kommandant Donal zu seiner Familie zu bringen - obwohl ich nicht vorhersehen kann, wann das sein wird.« Jakubs wässrige Augen beobachteten Romen, und Wyl wand sich unter seinem prüfenden Blick. Wenn er doch nur mehr über Romens Vergangenheit wüsste! Stattdessen nickte er nur. »Ich werde dir Bescheid geben.« »Wie du wünschst«, sagte Jakub. »Denk jedoch daran, mein Junge, dass du deinen Dämonen nicht entfliehen kannst. Sie werden dich einholen. Es wäre besser, sich ihnen zu stellen.« Wyl war überrascht und konnte nicht viel mehr tun, als nach seinem Kelch zu greifen und einen großen Schluck zu nehmen. »Was ist anders an dir?«, fragte sich Jakub laut. »Das weiß ich nicht«, erwiderte Wyl, jedoch eine Spur zu hastig. Der alte Mann schwieg klugerweise, obwohl seine Augen, ausdrucksstark wie immer, sehr beredt waren. »Wir werden den Kopf konservieren und in der geheimen Grotte unter dem Kloster aufbewahren, an die du dich sicher noch erinnerst«, sagte er mit einem Augenzwinkern. Wyl hatte nicht den blassesten Schimmer, was diese Anspielung bedeutete. »Er wird dort sicher sein.« 199
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F YNCH UND K NAVE schafften es nach vielen Tagen zu Fuß zurück nach Briavel. Das Pferd hatte kurz nach der Grenze, in der Nähe von Sharptyn, gelahmt. Fynch hatte den Großteil des Geldes, das Romen ihm gegeben hatte, seiner Schwester überlassen, doch mit dem kleinen Anteil, den er bei sich trug, bezahlte er den Stallknecht des Dorfes, damit er sich um das Pferd kümmerte, bis er es wieder abholen käme. Fynch wusste nicht, wie lange das dauern würde, aber er wollte das Tier nicht verkaufen, da es ein Geschenk von Valentyna war. Um Fragen auszuweichen, weshalb ein Kind des gemeinen Volkes ein Pferd ritt und eine Geldbörse bei sich trug, erzählte Fynch dem Stallknecht, dass er das Tier für einen Händler zurück nach Briavel brachte und die Münzen für die Pflege des Pferdes erhalten hatte. Gleichgültig hatte der Mann die Achseln gezuckt und ihm lediglich die Bronzescheibe in die Hand gedrückt, die er brauchte, um das Pferd zurückzufordern. Eine Familie von Kesselflickern nahm den Jungen und seinen Hund aus Sharptyn mit, doch Fynch wusste, dass Knave seine Begleiter nervös machte, und nach einem halben Tagesritt dankte er ihnen und ging zu Fuß querfeldein weiter. 199
An dem Morgen, als sie zurück nach Werryl kamen, stand Valentyna auf der Festungsmauer und sprach mit Liryk, dem Oberbefehlshaber der briavellianischen Garde -einem guten Mann, der ihrem Vater treu ergeben gewesen war. Innerlich wunderte sich der Soldat über die Gemütsruhe der
Königin, und erneut kam ihm in den Sinn, wie sehr sie sich von anderen Frauen unterschied. Es schien ihr nichts auszumachen, dass sich ihr Haar aus der Spange löste und ihr ums Gesicht peitschte, als würde es die Freiheit in der steifen Brise genießen. Er hatte sich große Sorgen um sie gemacht, doch die waren offenbar unbegründet. Valentyna war selbstsicher und fühlte sich in ihrer Rolle wohl. Er ermahnte sich, dass sie schon in den Festungsmauern des Palasts herumgetobt war, seit sie sprechen konnte, und seit dem Vorfall in Tallinor, als Magnus' Sohn ihre Puppe zerbrochen hatte, hatte sie die rauen Spiele der Jungen den vornehmeren Arbeiten vorgezogen, die von Frauen erwartet wurden. Er stand mit seiner Bewunderung nicht allein. Die gesamte Garde hatte großen Respekt davor, wie gut sie ihre Trauer verbarg. Und nicht nur die Bewohner im Palast, sondern ganz Briavel wusste, wie sehr Valor in seine Tochter vernarrt gewesen war ... und wie sie im Gegenzug ihren Vater bewundert hatte. Sie war in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger, obwohl sie kein Sohn war. Vielmehr vergaßen die meisten Menschen, dass sie überhaupt eine Frau war, bis sie eine offizielle Veranstaltung besuchte und gezwungen war, ein anmutiges Erscheinungsbild abzuliefern. Dann wurde sie atemberaubend schön - und war weit entfernt von dem Wildfang, den das Volk sonst kannte. Jetzt war sie ihre Königin, und Liryk fragte sich, wem wohl die 200
Aufgabe zufiele, sie daran zu erinnern, dass der Regent um jeden Preis beschützt werden musste. Sie konnte nicht mehr ungezwungen hinaus ins Moor reiten, auf Jagdausflüge verschwinden oder die Nächte im Wald verbringen. Er hörte, wie ein Schrei vom Wachturm erscholl. Offenbar gab es Neuigkeiten. Der Bote erschien im nächsten Moment. Liryk entschuldigte sich und ging ihm entgegen. Als er wiederkam, lächelte er. »Der Junge und sein Hund sind zurück, Majestät.« »Fynch!«, rief sie und schickte sich zum Gehen an. »Entschuldige mich, Liryk. Vielleicht können wir unser Gespräch später fortführen?« Er verbeugte sich zustimmend, und Valentyna verschwand, wobei sie den Befehl erteilte, dass man ihre Besucher augenblicklich zur »Brücke« brachte einem kleinen Wehrgang zwischen zwei von Werryls niedrigeren Türmen. Als Kind war dies einer von Valentynas Lieblingsplätzen, da sie sich dort von ihren Kindermädchen, später ihren Lehrern und vor jedem anderen verstecken konnte, der ihr weibliche Freizeitbeschäftigungen aufzwingen wollte. Der Gang hatte immer noch einen besonderen Zauber für sie. Ein Zufluchtsort, an dem sie ihre Gedanken laut dem Wind anvertrauen konnte. »Eure Majestät!«, sagte eine vertraute Stimme, und sie sah Fynch auf sich zukommen, obschon Knave schneller und mit nur einem oder zwei Sprüngen bei ihr war, sich auf sie stürzte und fröhlich ableckte. »Du Schlingel, Knave«, sagte sie lachend und wischte sich seinen nassen Willkommensgruß fort.
Fynch war in seiner Begrüßung zurückhaltender, doch Valentyna wollte nichts davon wissen - sie hatten viel mit 201
einander durchgestanden. Nachdem er sich verbeugt hatte, hob sie den kleinen Jungen hoch und umarmte ihn ungestüm. »Ich wusste nicht, ob du zu mir zurückkommen würdest. Ich habe mir so große Sorgen um dich gemacht.« »Das war doch nicht nötig. Nicht, wenn Knave an meiner Seite ist, Majestät. Ist alles gut gegangen?«, wagte er vorsichtig zu fragen. Valentyna wusste, dass er auf das Begräbnis ihres Vaters anspielte. »Ich bin damit fertig geworden. Aus gutem Grund ist es nicht öffentlich gewesen, was geholfen hat.« Sie nahm seine Hand. »Setz dich mit mir auf die Bank und erzähl mir alles.« Sein Gesicht wurde ernst. »Keine guten Neuigkeiten, Majestät.« »Trotzdem muss ich wissen, was dir widerfahren ist.« Er berichtete ihr alles und beobachtete, wie sie erst niedergeschlagen und dann beklommen wurde, als seine Geschichte sich seinem Ende näherte. »Also hattest du recht. Er hat uns nicht betrogen und ist jetzt tot«, sagte sie und blickte auf das Moor hinaus. Fynch schüttelte den Kopf. »Das habe ich keine Sekunde bezweifelt, Majestät. Wyl Thirsk ist Euch bis zum Schluss treu geblieben. Er und der Söldner Romen Koreldy haben Seite an Seite gekämpft, um den König zu beschützen.« Ihre Augen füllten sich bei der Erwähnung ihres Vaters mit Tränen, doch sie wollte nicht mehr weinen. Der König war tot. Keine Träne würde ihn zurückbringen. Nun war sie die Königin, und sie war ihr ganzes Leben darauf vorbereitet worden. Sie würde Briavel nicht im Stich lassen. Tränen hatten in ihrem Leben keinen Platz. 201
»Und du vertraust Koreldy?« Fynch zuckte mit den Schultern. »Ich ... ich weiß nicht, was ich glauben soll, Majestät. Ich versuche mich nur an die Tatsachen zu halten. Er hat Wyls Leichnam zurück nach Morgravia gebracht und damit ganz offensichtlich Celimus' Anweisungen missachtet. Ich bin sicher, dass er sich in große Gefahr begab, als er zurück nach Morgravia ging, und ich frage mich, wie er es überhaupt lebend geschafft hat. Er versicherte mir, dass er genügend Leuten aus der Legion seine Geschichte erzählt hatte, damit Thirsks Name nicht durch Celimus' Lügen verunglimpft werden kann. Ich habe Wyls Schwester mit eigenen Augen gesehen. Sie war freiwillig in Romens Obhut.« Er hielt kurz inne und fügte dann vorsichtig hinzu: »Aber mehr als jedem anderen vertraue ich Knave, Eure Majestät.« Sie wandte sich vom Moor ab und starrte den Jungen neben sich an. Zweifelnd hob sie die Augenbraue. Fynch fuhr fort: »Ihr erinnert Euch sicher, dass ich Euch von Knaves seltsamem Verhalten anderen gegenüber erzählt habe.« Sie nickte.
Er holte tief Luft. »Nun, ich glaube nun wirklich, dass der Hund nur denjenigen vertraut, die Wyl treu ergeben sind.« Valentyna wollte lächeln; sie verspürte den Drang, dem Jungen das Haar zu zerzausen und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde, so wie man das bei einem Kind für gewöhnlich machte. Aber etwas hielt sie zurück. Etwas an Fynch zwang sie, ihm zuzuhören und ihn wie einen Erwachsenen zu behandeln. Sie war verblüfft über seine Scharfsinnigkeit und gute Beobachtungsgabe. Und es war Fynch, der sie in jenen frühen Stunden daran gehindert hat 202
te zusammenzubrechen. Er hatte eine Reife an den Tag gelegt, die weit über seine Jahre hinausging, und Valentyna die Stirn geboten, um ihr begreiflich zu machen, wie gefährlich eine Rückkehr zum Palast war, bevor für ihre Sicherheit garantiert werden konnte. Dieser kleine Junge, wenn auch ein Morgravianer, war allein zum Palast gegangen um herauszufinden, ob sie gefahrlos zurückkehren konnte. Er hatte den Mut aufgebracht, sich ihren Männern zu stellen - die ihm zweifelsohne misstrauten und seine Behauptung, Valentyna sei an einem sicheren Ort, vielleicht sogar spöttisch abtaten. Ihr fiel ein, wie er sie wiedergefunden hatte, dieses Mal mit ihren Wachen im Schlepptau, und sie bedrängte, aus dem Versteck zu kommen. Er hielt ihre Hand, während sie - nun Königin - herausgeklettert war, um ihrem Oberbefehlshaber Liryk entgegenzutreten, und riet ihr, trotz der Trauer stark zu bleiben. »Briavel sollte seine Königin als Turm sehen, selbst wenn sie selbst glaubt, zusammenzubrechen«, hatte er geflüstert. Sie hatte diesen knappen, jedoch inspirierenden Zuspruch nicht vergessen. Alles an ihm war tapfer und ja - ernst. Man konnte ihn schlecht wie das Kind behandeln, das er zweifelsohne noch war, wenn man bedachte, was er getan hatte, um Wyl und ihr selbst zu helfen. Nein, sie würde ihm nicht das Haar zerzausen oder ihn von oben herab behandeln. Sie bemerkte, dass er sie beobachtete. »Sprich weiter, Fynch.« Er zuckte erneut mit den Schultern. »Es ist schwer zu erklären, Majestät.« »Versuch es«, ermunterte sie ihn. »Knave ist von einem Zauber belegt - das vermute ich nicht länger, sondern das weiß ich!«, platzte es aus ihm he 202
raus. »Ich kann es nur so beschreiben.« Es kam unerwartet, und Valentyna versuchte krampfhaft, ihren überraschten Gesichtsausdruck zu verbergen. Er fuhr fort: »Ich habe Euch doch erzählt, wie sich Wyls Augenfarbe bei der Hexenverbrennung verändert hat.« Sie nickte. Valentyna konnte immer noch nicht glauben, dass diese barbarische Sitte in Morgravia noch praktiziert wurde, denn Briavel hatte Hexenverbrennungen schon vor langer Zeit abgeschafft. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagte er ernst. »Abgesehen von einer anderen Person, doch die ist wahrscheinlich tot, wenn man Romen Glauben schenken darf. Ich bin der einzige lebende Zeuge.«
»Was willst du mir damit sagen?« Valentyna hatte ein größeres Geheimnis erwartet. »Seit Myrrens Tod, als sie ihre seltsamen Augen schloss und Wyl seine öffnete, mit denen er dasselbe preisgab, glaube ich, dass Knave eine besondere Verbindung zu Wyl und all jenen hat, die Wyl liebt, und zwar eine sehr mächtige ... die weit über Freundschaft hinausgeht.« Sie wollte nicht einmal weiter als das Wort »Magie« denken, das sie gerade gehört hatte. Es klang so weit hergeholt. Magie kam in Valentynas Welt nicht vor. »Und was hat Koreldy damit zu tun?« »Das kann ich nicht sagen. Ich bin verdutzt, da Knave ihn genauso behandelt hat, wie er mit Wyl umgegangen wäre. Ich weiß, Ihr glaubt, ich würde mir das nur einbilden, doch Romen hat Knave ebenfalls auf dieselbe Weise begrüßt, wie Wyl es tat.« Sie schnalzte missbilligend. »Jetzt habe ich aber wirklich das Gefühl, als ginge die Fantasie ein wenig mit dir durch, 203
Fynch.« Valentyna war skeptisch, doch als sie Knave ansah, starrte er mit einem solch eindringlichen Blick zurück, dass sie den Kopf wegdrehen musste. »Schon möglich«, sagte Fynch ein wenig traurig. »Allerdings kann ich mir nicht erklären, warum oder wie Romen Koreldy - ein Fremder, ein Söldner, ein Mann, der angeheuert wurde, den General zu töten - Wyls Hund kennen sollte.« Fynch versuchte, alle Ereignisse und Fakten zu ordnen. »Als wir das Zimmer betraten, hat er den Namen des Hundes gerufen. Wie konnte er ihn kennen? Nie zuvor hat er Knave gesehen. Und, was noch wichtiger ist - wenn Knave jedem Menschen feindlich gegenübersteht, den Wyl nicht mochte, warum sollte Knave dann jemanden, der sein Leben bedrohen könnte, auch nur dulden? Ganz zu schweigen davon, ihn abzulecken und sich für ihn auf dem Boden herumzuwälzen? Majestät, ich habe Knave Menschen anknurren sehen, die er kannte und die Wyl nicht notwendigerweise feindlich gesinnt waren.« Er blickte auf, und Fragen waren ihm in das ernste kleine Gesicht geschrieben, doch Valentyna hatte keine Antworten für ihn. Vielmehr war sie beunruhigt, dass er von ihr verlangte, all ihr Vertrauen in den Instinkt eines Hundes zu setzen. »Fynch...« »Nein, hört mir zu, Majestät«, fiel er ihr ins Wort, bemüht, nicht unhöflich zu klingen. Sie ließ es ihm durchgehen, denn sie war immens gespannt, was er als Nächstes sagen würde. »Hier geht etwas Seltsames vor sich. Ich kann es nicht genau ausmachen, doch jede Faser meines Körpers sagt mir, dass etwas Merkwürdiges geschehen ist - etwas, das jeglicher Logik und allem, was wir zu glauben schei 203
nen, trotzt. Ich kann Euch keinen echten Grund nennen, aber ich glaube wirklich, dass wir Romen Koreldy vertrauen müssen, und ich weiß, dass er Euch keinen Schaden zufügen würde. Er hat mit Wyl Thirsk einen Bluteid geschworen, Euch zu beschützen. Ich habe das Gefühl, dass er irgendwie ...«
Fynch fuhr sich geistesabwesend mit der Hand durchs Haar, während er nach den richtigen Worten suchte, »... dass er irgendwie Wyls Verpflichtungen ... Wünsche ... angenommen hat. Ich verstehe das selbst nicht, Majestät. Es ist fast so, als sei Wyl Thirsk noch unter uns.« Da, er hatte es gesagt! Valentyna war sprachlos. Sie sah erneut zu Knave, und wieder einmal schien es, als sähe der Hund durch sie hindurch, bis tief in ihr Innerstes, und könne ihre Gedanken lesen. Sie fühlte sich wie festgenagelt von seinem durchdringenden Blick und wusste, dass er sie erst freigeben würde, wenn sie dem Jungen zustimmte. Schließlich nickte sie. »Nun gut, Fynch. Ich weiß, dass du mir nicht schaden willst - also vertraue ich dir. Ich habe Wyl vertraut, und ich weiß, dass Knave uns beide auf irgendeine Art beschützt. Ich kann es ebenfalls nicht erklären. Shar hilf uns, aber wir werden unser Vertrauen in Romen Koreldy setzen.« Valentyna beobachtete, wie sich der Körper des mutigen kleinen Jungen entspannte, und genau in diesem Moment kam Knave auf einmal zu ihr herüber, legte seine Pfoten auf ihre Schultern und blickte ihr in die Augen. Dann war er wieder auf allen vieren und schnüffelte wie jeder andere Hund am Boden, als sei nichts zwischen ihnen vorgefallen. 204
»Dieser Hund ist sehr seltsam.« »Er weiß mehr als wir, Majestät. Vertraut ihm.« »Gibt es noch etwas, das du mir erzählen willst?«, fragte sie, um diese verstörende Unterhaltung in eine andere Bahn zu lenken. »Ja«, sagte er und grub in seiner kleinen Tasche. »Romen hat Euch diesen Brief geschickt. Er sagte, er würde einige Dinge erklären.« Glücklich, etwas Handfestes von diesem geheimnisvollen Koreldy in Händen zu haben, nahm sie das Schreiben entgegen. Sie würde ihn später allein lesen. »Und was wirst du jetzt tun?«, fragte sie in der Hoffnung zu hören, dass er bliebe. »Ich werde nicht zurück nach Morgravia gehen, Majestät, außer meine Pflicht Euch gegenüber gebietet es. Wenn Ihr mich haben wollt, werde ich Euch dienen, für welchen Posten Ihr mich auch einsetzen wollt.« Sie umarmte ihn. »Fynch, ich würde mich für nichts auf der Welt von dir trennen wollen. Du bist vom heutigen Tag an ein Ehrenbürger Briavels.« Er strahlte, und ein seltenes Grinsen erhellte sein Gesicht. »Vielmehr werde ich dir eine besondere Rolle zuweisen. Ich werde dich zum Spion der Königin ernennen«, sagte sie, hob die Augenbrauen und hoffte, dass sein seltenes Lächeln noch etwas länger bliebe. Fynch gefiel die Idee. »Dann also keine Aborte mehr, Majestät?« »Jedenfalls nicht mehr, um sie zu putzen«, erwiderte sie verschwörerisch. »Wann immer mein Herz sich freut, möchte ich feiern. Komm, du musst dich frisch machen, und dann werden wir zusammen essen, damit ich dir alles erzäh 204
len kann, was seit deiner Abreise passiert ist. Wenn du der Spion der Königin wirst, musst du alles erfahren.« Mehrere Stunden später vertraten sich die beiden - gefolgt von Knave - die Beine und statteten einem weiteren von Valentynas neugeborenen Fohlen einen Besuch ab. Beim wohl besten Essen, das ihm je vorgesetzt worden war, erfuhr Fynch die wahre Tiefe der Trauer seiner Königin über den Mord an ihrem Vater. Nach einer raschen und nicht öffentlichen Begräbniszeremonie war sie allein durch die Straßen von Werryl geritten, damit ihr Volk ihren Kummer teilte und verstand, dass sie jetzt vollkommen allein war und Unterstützung benötigte. Sie hatte es aus einer plötzlichen Eingebung heraus getan, gegen den Wunsch ihrer verschiedenen Berater, mit dem Erfolg, dass ein neues Gefühl der Vaterlandsliebe in Briavel entbrannte. Die Menschen standen hinter ihrer Königin und forderten Vergeltung für den Anschlag an ihrem König. Valentyna setzte außerdem entschlossen das Gerücht in die Welt, dass die Mörder Söldner waren, die sich lediglich als Morgravianer ausgegeben hatten. Sie hatte beschlossen, Celimus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Obwohl Krieg ihr erster Impuls war, hatte sie ihre Meinung geändert, als sich der flammende Zorn über den Tod ihres Vaters etwas gelegt hatte und sie wieder klar denken konnte. Die Schuld an Valors Tod wurde nicht länger Morgravia zugeschoben, und deshalb verlangte ihr Volk nicht, sich an dem Nachbarreich zu rächen. Sie hatte die Vaterlandsliebe in Briavel neu entfacht, und hoffte, dieses Gefühl nutzen zu können, damit sich die Menschen für sie einsetzten. Nie zuvor hatte eine Königin Briavel regiert. Sie mussten ihr ver 205
trauen, sie bei ihrem Thronanspruch und ihrem Recht zu herrschen unterstützen. Abgesehen davon war ihre Armee noch nicht stark und sie selbst nicht erfahren genug, um zu kämpfen ... aber die Zeit würde kommen. Nein, nicht Krieg war ihre erste Wahl - sondern Hinterlist. Am späten Abend erinnerte sie sich an den Brief von Romen Koreldy. Sie saß neben einem kleinen Feuer in ihrem Schlaf gemach und brach das Siegel. Valentyna gestattete sich einige Tränen, denn Romen berichtete von den letzten Minuten im Leben ihres Vaters, und wie er und Wyl Thirsk die Angreifer abgewehrt hatten, um Valor zu beschützen. Er beschrieb, wie mutig König Valor dem Tod entgegentrat, wobei seine letzten Worte ihr galten, und wie Wyl, kurz bevor er seinen Verletzungen erlag, Romen einen Bluteid abrang. Er habe schwören müssen, Briavel treu ergeben zu sein und seine Königin vor Celimus zu beschützen. Romen versicherte Valentyna, dass er bald zu ihr stoßen würde, sie den Brief jedoch verbrennen sollte. Er versprach ihr seine Hilfe ... und sein Schwert. Und er flehte sie eindringlich an, Fynch und Knave in ihrer Nähe zu behalten. Da war es schon wieder. Jene Eigentümlichkeit, die den schwarzen Hund umgab. Nun, Knave hatte sie mehr als beschützt, dachte sie und blickte auf ihre Füße hinab, neben denen er nun lag. Er öffnete ein Auge und sah sie an, als könne er ihren abschätzenden Blick spüren. Sie würde Romens Bitte
nachkommen und auf ihn warten. Er riet ihr, keine unüberlegten Schritte einzuleiten und keinerlei an 206
griffslustiges Verhalten an den Tag zu legen. Sie war froh, dass sie zu demselben Schluss gelangt waren.
... arbeitet Celimus nicht in die Hände, indem ihr reagiert -weist jeglichen Versuch einer Kontaktaufnahme mit der Begründung zurück, dass Ihr immer noch in Trauer seid. Lasst den Leichnam Eures Vaters in Frieden ruhen und sein Andenken allmählich verblassen, während Ihr Eure treuen Anhänger um Euch schart. Ich werde bald zu Euch kommen - ich gehöre ganz Euch, meine Königin. Meine Loyalität Euch gegenüber wird niemals ins Wanken geraten. In der Zwischenzeit vermache ich Euch ein besonderes Geschenk. Ich überlasse Euch den Hund, Knave, der Euch immer ergeben sein wird. Vertraut ihm und seinem treuen Begleiter Fynch. Sie werden Euch beschützen. Seid tapfer, wunderschöne Valentyna. Euer Romen Koreldy.
Seine letzten Worte erschütterten sie. Woher wusste er, wie sie aussah? Sie hatten sich nie getroffen. Dann tat sie ihre Frage als reine Eitelkeit ab zweifelsohne hatte Fynch ein wenig übertrieben, als er Koreldy von ihr erzählte. Nun, sie konnte es ihm gleichtun. Sie würde auf Fynchs außergewöhnliche Beobachtungsgabe zurückgreifen, damit er ihr morgen den Mann beschrieb. Abgesehen davon fühlte sie sich von seinem Brief getröstet - der Tön war höflich, aber es lag auch eine gewisse Stärke darin. Bei Romen handelte es sich ganz offenkundig um einen Mann mit Führungsgeist, und er hatte vor, sich mit ihr zu verschwören. Valentyna warf das Schreiben wie befohlen ins Feuer und glitt dann in einen leichten Schlummer, während sie dem Pergament beim Brennen zusah und ihre Hoffnungen mit dem hellen Flackern der Flammen aufwallten. Als sie erwachte, war Knave verschwunden. 206 20
Z UM ERSTEN M AL seit Tagen hob sich Wyls Stimmung. Ylena Lebewohl zu sagen, war nicht so schwierig gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte. Sie schien sich in dem friedlichen Kloster wohlzufühlen, und Bruder Jakub achtete darauf, dass ihre Unterkunft gemütlich, wenn nicht sogar elegant war, und in einem besonders ruhigen Flügel lag. Ihre Gemächer, obschon klein, waren sonnendurchflutet, und Jakub hatte absichtlich die ausgewählt, von denen man den Obstgarten und die Hügel in der Ferne überblicken konnte. Sie weinte nicht, als Wyl sich verabschiedete, doch sie umarmte Romen fest und bat ihn, bald zurückzukehren. Ylena drückte ihm die Brosche, die sie von Wyl geschenkt bekommen hatte, in die Hand. »Sie wird Euch Glück bringen«, sagte sie. Während er fortritt, versuchte er den nagenden Gedanken zu vertreiben, dass der Jüngling Jörn all seine Pläne vereiteln konnte, indem er Ylenas Aufenthaltsort preisgab. Dies konnte nicht nur für seine Schwester Folgen haben, sondern auch für all die guten Männer, die sich um sie kümmerten. Und
trotzdem wusste er, dass es klug gewesen war, sie hierherzubringen, wo sie sich unter liebevollen Fremden erholen konnte, die es verstanden, Abstand 207
zu wahren. Zu viel Vertrautheit, so hatte Jakub ihm beigepflichtet, könnte sie womöglich zu schnell mit ihren Erinnerungen konfrontieren, und ihre Qualen könnten unermesslich sein. »Die Realität zu leugnen ist ihr Weg, sich gegen den Schmerz zu wappnen. Wir können nicht alle so heldenmutig wie du sein und uns nach einem solchen Unglück in noch größere Gefahren stürzen«, hatte Jakub vorsichtig angemerkt. Wyl verstand nicht, was der Mönch damit sagen wollte, doch er war entschlossen, herauszufinden, was zwischen ihm und Jakub vorgefallen war. Er vermutete, es hatte etwas mit Romen Koreldys Geschichte zu tun; vielleicht mit seinem Entschluss, Grenadyn verlassen und das gefährliche Leben eines Söldners zu führen, doch in Romens Innerem fand er keine Hinweise. Jakub hatte darauf bestanden, den Gaul gegen ein anständiges Pferd - einen herrlichen Rotschimmel - einzutauschen, und trotz aller energischer Proteste stimmte der alte Mann erst nach langem Drängen zu, etwas Geld von Romen anzunehmen, wobei der Mönch darauf bestand, dass er lediglich eine Spende akzeptieren könnte. Wyl lenkte rasch ein und genoss nun das Gefühl des Pferdes unter sich. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit er ein derart edles Tier geritten hatte, und doch war es in Wirklichkeit nur einige Tage her. Wie schnell sich das Leben ändern konnte, dachte er, und wie seltsam seines in so kurzer Zeit geworden war. Lang hatte er sein Gedächtnis nach Hinweisen auf den Aufenthaltsort der alten Frau durchstöbert, und gerade erst war ihm eingefallen, dass sie erwähnt hatte, aus dem 207
Norden zu stammen. Selbst wenn sich herausstellte, dass sie nicht nach Hause zurückgekehrt war - einen Versuch wollte er wagen. Er konnte sich hier umsehen, denn so nahe des Razorgebirges gab es nur wenige Städte und Dörfer, die auch noch weit auseinanderlagen. Er trieb das Pferd zu einem leichten Galopp an und ritt erneut querfeldein, um nicht gesehen zu werden. Wyl hatte sich mit Vorräten eingedeckt und wollte einige Tage den Wäldern zu seiner Linken folgen, um dann in der Stadt Orkyld herauszukommen, die für besondere Kunstfertigkeit beim Herstellen von Schwertern und Messern berühmt war. Kunsthandwerker aus dem ganzen Reich hielten sie für den Hochaltar ihres Gewerbes, und nur die allerbesten wurden ausgewählt, um ihre Ausbildung in Orkyld zu absolvieren. Er benötigte beinahe vier Tage und musste dann auch noch das Pferd vorsichtig in die Stadt führen, da es sich zwei Meilen zuvor einen Stein ins Hufeisen getreten hatte. Er bezahlte ein Zimmer im Old Yew Inn und war dankbar, dass man hier an Fremde gewöhnt war. Niemand warf ihm einen eigenartigen Blick zu, und der Rotschimmel wurde augenblicklich versorgt. Wyl belohnte sich mit einem Krug Bier und einigen gebratenen Tauben, bevor er das örtliche Bad aufsuchte, wo er sich in einem heißen Zuber ein zweites Glücksgefühl bescherte. Für all jene, die sich einen solchen Luxus leisten konnten, war für nur einige
Silberstücke mehr eine Massage zu haben. Er war schmerzlich in Versuchung geführt, da seine Muskeln nach den langen Tagen im Sattel protestierten. Wyl versprach Romens Körper, diesen Luxus in Bälde zu genießen. 208
Im Moment brauchte er jedoch eine Waffe und ein neues Paar fester Stiefel. Die Stiefel standen an erster Stelle, und nachträglich fügte er in Gedanken noch ein warmes Hemd und einen Mantel hinzu. Der Norden konnte zu dieser Jahreszeit sehr kalt sein. Wyls Erkundungen führten ihn zu einem Handwerker namens Wevyr, der angeblich einer der drei talentiertesten Schmiede in Orkyld war. Er erinnerte sich, dass sein Vater den Mann erwähnt, ihn allerdings nie getroffen hatte. In Wevyrs Werkstatt übertrugen etwa zwanzig junge Männer ihr sorgfältiges Geschick auf Klingen jeglicher Form und Größe. Einer hielt in seiner Arbeit inne und kam zum Ladentisch. »Ja, Sir?« »Ich würde gerne ein Schwert kaufen«, erwiderte Wyl. »Ich werde Meister Lerd holen, Sir. Darf ich ihm Euren Namen nennen?« »Koreldy«, antwortete Wyl. Er wartete, während der Jüngling in eine Zimmerflucht hinter den Werkstätten eilte. Ein weiterer Mann erschien, als der erste Bursche wieder an seinen Platz ging. »Seid Ihr Romen Koreldy, Sir?«, fragte der Neue. »Das bin ich.« »Dann folgt mir bitte«, sagte er und wandte sich um. »Weshalb?«, erkundigte sich Wyl in Romens zwangloser Art. Es überraschte ihn, wie Koreldy damit durchkam, ohne unhöflich zu wirken. »Es ist Meister Wevyr, Sir. Er kümmert sich um seine Kunden lieber in seinen Privaträumen.« »Vielen Dank«, sagte Wyl beeindruckt und folgte ihm. 208
Der Mann führte ihn in ein kleines, lichtdurchflutetes Zimmer, wo ein sehr alter Mann verschiedene Waffen begutachtete. »Hallo, Romen«, begrüßte er ihn, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Wyl nickte. »Wevyr.« »Sag nicht, dass du sie verloren hast?« »Äh ... nein«, erwiderte Wyl vorsichtig. Er nahm an, dass sie über Schwerter sprachen, und wollte kein Risiko eingehen. »Ich musste sie bei einem Kartenspiel abtreten.« »Gütiger Himmel! Du hast ein Vermögen dafür ausgegeben!«, rief der Meister, sah auf und betrachtete ihn durch ein riesiges Augenglas, das mit einem Band um seinen Kopf befestigt war. Wyl zuckte mit den Schultern. »Es ging um hohe Einsätze.« »Du bist ein Narr!« Er bemerkte, dass der Mann weder von Romens adligem Status noch seiner Geldbörse beeindruckt war. »Es tut mir leid«, entgegnete er. »Es wird nie wieder vorkommen.«
»Nein, das wird es tatsächlich nicht, denn du wirst keine weitere meiner kostbaren Waffen bekommen.« »Oh, nun komm schon, Wevyr. Deine sind die einzigen Klingen, die tadellos töten«, sagte er grinsend. Doch es nützte nichts. Der alte Mann schien ernsthaft verärgert zu sein. »Ich habe mein ganzes Leben Schwerter für Männer wie die Thirsks von Argorn geschmiedet. Armyn Thirsk tötete zu seiner Zeit dreihundertundsiebzig Briavellianer mit einem meiner Schwerter, und Fergys Thirsk bemerkte, dass die Waffe, die ich ihm vor dreißig Jahren fertigte, zu seinen Lebzeiten nur zweimal geschlif 209
fen werden musste.« Er hustete nach diesem Wutausbruch. Wyl verschlug es bei der Erwähnung seines Familiennamens die Sprache. Er hatte das Schwert seines Vaters bei unzähligen Gelegenheiten bewundert, und wie es die Tradition der Thirsks war, wurden die Generäle mit ihren Klingen begraben. Als er seinen Vater verloren hatte, war er noch zu jung gewesen, um wichtige Dinge zu wissen -etwa, wo die besten Schwerter gefertigt wurden. Gueryn hatte all diese Sachen gewusst. Den Namen seines Vaters laut ausgesprochen zu hören, bewegte ihn, genauso wie der Gedanke an Gueryn, und Wyl überlegte, wie er etwas über das Schicksal seines Freundes in den Razors erfahren könnte. Er tauchte aus seinen sorgenvollen Erinnerungen auf. »Wie bitte?« »Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist, Koreldy?« Wyl nahm einen tiefen Atemzug. »Ja, Verzeihung. Als du Thirsk erwähntest, musste ich an den Verlust für das Königreich denken.« Der alte Mann seufzte, und seine Stimme wurde weicher. »Es ist tatsächlich ein großer Verlust. Mir ist das Gerücht zu Ohren gekommen, dass auch der Sohn von uns gegangen ist. Stimmt das?« Wyl nickte. »Ich war in Pearlis auf der Beerdigung.« »Eine sehr traurige Geschichte. Der Sohn hätte seinem Vater niemals so schnell ins Grab folgen dürfen. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, ihm eine Klinge zu schmieden. Weißt du, wie es geschehen ist?« »Verrat, so wurde mir gesagt.« Wyl konnte nicht an sich halten. »Oh? Wessen?« 209
»Man sagt, Celimus sei eifersüchtig gewesen ... und wollte seinen Tod.« Wevyr war von Entsetzen gepackt. »Still, Mann! Die Wände haben auch in dieser entlegenen Stadt Ohren.« »Tut mir leid. Das ist alles, was ich gehört habe.« »Ich möchte nicht mehr wissen«, sagte Wevyr und hob die Hand. »Ich bin zu alt für Hofintrigen. Was willst du?« Wyl grinste. »Ein Schwert und zwei Messer?« Der alte Mann nahm sein Augenglas ab und ging um seinen Arbeitstisch herum zu einer Vitrine. Bedächtig sperrte er sie auf, bevor er ehrfurchtsvoll ein
Schwert herausnahm, das einzigartige Gravuren auf der Klinge sowie dem Heft besaß. Es war prachtvoll. »Das Beste, das ich je gefertigt habe«, sagte er, während er Romen das Schwert zeigte. »Und du würdest es mir überlassen?«, fragte Wyl ungläubig. Der Mann verzog das Gesicht. »Es gibt nur sehr wenige Schwertkämpfer, denen ich gestatten würde, diese wunderschöne Waffe überhaupt zu halten, Romen.« Dann blickte er finster drein und fuhr mit bissiger Stimme fort: »Du hast Glück, dass du eine Klinge mit solch außergewöhnlichem Geschick schwingen kannst und somit etwas solch Prachtvolles verdienst.« Gleichzeitig stieß er Romen Koreldy mit dem Finger in die Brust, und seine Laune besserte sich auch nicht, als er das breite Grinsen bemerkte, mit dem der jüngere Mann antwortete. »Vielen Dank.« Wyl nahm die großartige Klinge entgegen und hielt sie prüfend in Händen. Die Balance war perfekt. »Darf ich?«, fragte er, wobei er zur offenen Tür zeigte, die zu einem Innenhof führte. 210
»Natürlich. Dazu gibt es passende Messer.« »Bring sie«, sagte Wyl, der sich wunderte, wie leicht und anmutig die Waffe in seiner Hand lag. Draußen vollführte er einige seiner alten Übungen und spürte, wie Romens Können in ihn eindrang und seiner Hand neue Bewegungen zeigte, während die Klinge mühelos durch die Luft glitt. Als ein Sonnenstrahl das Schwert traf, blitzte es blau auf, was Wyl faszinierte. »Hast du es extra für jemanden gefertigt?«, fragte er Wevyr, der mit den beiden Messern hinzugekommen war. »Ja. Für mich. Es ist die Summe meiner Fähigkeiten und meines Wissens ... mein Lebenswerk, könnte man sagen.« »Du weißt, dass ich es will«, gab Wyl zu. »Es gehört dir. Der Preis ist natürlich unverschämt hoch.« »Natürlich«, sagte Wyl amüsiert. Er tauschte das Schwert gegen die beiden Messer. Wevyr blickte zu einer Puppe aus Stroh und Sackleinen, die etwa fünfzehn Schritt von ihnen entfernt hing. »Probier sie aus«, sagte er. Noch bevor er sie schleuderte, wusste Wyl, dass er das Ziel treffen würde. Romens Geschick beim Werfen von Klingen kannte er bereits, doch die Messer waren ebenso vollkommen wie ihr größeres Gegenstück, und sie flogen schnurrend durch die Luft, wobei eines im Gesicht der Puppe, das andere in ihrem Magen landete. Er hatte nicht einmal gezielt, sondern war herumgewirbelt und hatte instinktiv geworfen. »Wenn du sie verlieren solltest, Romen Koreldy, dann lass dich ja nie wieder in Orkyld blicken!« 210
Mit dem Schwert an seiner Hüfte fühlte sich Wyl wie neugeboren, auch wenn sich seine Geldbörse nun erheblich leichter anfühlte. Er hatte einen besonderen überkreuzten Hüftgürtel gekauft, den Wevyr ihm für die Messer
empfohlen hatte. Der weiche, geschmeidige Gürtel war so raffiniert gearbeitet, dass man ihn unter dem Hemd tragen konnte, sodass die Waffen verborgen waren. Er konnte die Klingen blitzschnell aus ihren Scheiden ziehen, und ob-schon Wyl wusste, dass es wahrscheinlich nicht nötig wäre, so freute er sich schon darauf, mit ihnen in den Wäldern hinter Orkyld zu üben. Nachdem er ein neues Hemd angezogen hatte, gewöhnte er sich allmählich an das Gefühl des Gürtels auf seiner Haut. Er wollte den Abend geruhsam im Schankraum des Old Yew Inn verbringen, doch ein nagender Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Sein ausgeprägter Soldatensinn und Romens angeborenes Misstrauen drängten ihn, sich aufrecht hinzusetzen und nachzudenken. Das Problem war nur, dass er sich an diesem Abend besonders entspannt fühlte, während ein passabler Musiker Klagelieder sang und man ihm sein Lieblingsgericht mit geräuchertem Fisch servierte. Die verschwommene Ahnung von Gefahr löste sich in dem Moment auf, als eine ausgesprochen hübsche Frau auf ihn zukam und ihm eine feste Ohrfeige verpasste. »Romen Koreldy, wie kannst du es wagen, an diesem Tisch zu sitzen?« Wyl rieb sich über den brennenden Abdruck ihrer Hand auf seiner Wange und beobachtete mit weit aufgerissenem Mund, wie sie wegstolzierte. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass sie in ihrer Wut bezaubernd war. 211
Die anderen Gäste lachten, genossen das Schauspiel und seine Verlegenheit. Ein weiteres Mädchen schlich sich heran, um den Tisch abzuräumen. »Arlyn ist dieses Mal wirklich wütend auf dich, Romen«, warnte sie ihn. »Das sehe ich«, sagte er und wunderte sich, was Romen wohl angestellt haben mochte, obschon er es sich denken konnte. »Kann ich es wiedergutmachen?« »Keine Ahnung ... Wie kann man es bei einer Frau wiedergutmachen, die Hochzeitsvorbereitungen getroffen hat?«, fragte das Mädchen. Es war schlimmer, als Wyl angenommen hatte. »Ich kann alles erklären«, beteuerte er, obwohl er sich hilflos fühlte. »Nicht mir, Romen, ihr solltest du es erklären!« »Wo kann ich Arlyn später finden?« Die Frau stützte sein Essgeschirr auf ihrer Hüfte ab und sagte mit einem erbitterten Unterton: »Schon vergessen?« Er seufzte. »Das Leben ist in letzter Zeit ein wenig hart mit mir umgesprungen - ich dachte nur, sie könnte vielleicht ... äh...« »Nein, nichts hat sich verändert. Sie arbeitet sich immer noch draußen die Finger wund.« Wyl nickte und dankte ihr, obwohl er um keinen Deut schlauer war. Er musste nüchtern werden und entschloss sich, etwas frische Luft zu schnappen. Vielleicht kann ich Arlyn irgendwo ein Geschenk kaufen, sozusagen als Friedensangebot.
Es war selten vorgekommen, doch wenn sich seine Eltern gestritten hatten, hatte stets sein Vater den ersten Schritt zu einer Versöhnung gewagt, normalerweise mit 211
einem wunderschönen Kleinod, von dem er wusste, dass es seiner Frau gefallen und sie hoffentlich für seine folgende Entschuldigung empfänglicher machen würde. Wyl fühlte sich hilflos, da er für Romens Fehler verantwortlich gemacht wurde - und konnte nichts weiter tun, als die Kränkung so gut es ging aus der Welt zu schaffen, indem er sich bei Arlyn im Stil der Thirsks entschuldigte. Allerdings wusste er tief in seinem Innern, dass seine Ausrede, Arlyn zu treffen und ein Friedensangebot zu unterbreiten, ihm gleichzeitig die Möglichkeit gäbe, mehr über den Mann herauszufinden, in dessen Körper er steckte. Wyl trat aus dem Gasthaus und spazierte zur Hauptstraße von Orkyld. Es war eine sehr belebte Stadt. Abgesehen von seinem guten Ruf für den Kauf von Waffen, schien es ein wichtiger Zwischenhalt für Menschen zu sein, die in den Norden reisten. Während er sich einfach nur treiben ließ, überlegte er, wie er bei Arlyn Abbitte leisten konnte, ohne anschließend in der Falle zu sitzen. »Eine Hochzeit! Shar steh mir bei!«, murmelte er. Es war das Letzte, was er im Moment brauchte. Sie waren vorsichtig gewesen. Jerico war kein Mann, der Risiken einging, und Koreldy zu verfolgen war eine Herausforderung. Die Spur des Söldners hatte sich in Farnswyth verloren, und obwohl sich alles in Jerico dagegen sträubte, hatte er seine Männer in vier Gruppen aufgeteilt. Er hatte sie sorgfältig ausgewählt, alles verlässliche Schurken, die die Halsschlagadern ihrer eigenen Großmütter aufschlitzen würden, brächte ihnen das genügend Geld ein. 212
In Farnswyth hatte er sie alle sorgfältig unterwiesen und dann in verschiedene Himmelsrichtungen losgeschickt. Er und zwei weitere Männer waren nach Norden gereist. Als Celimus noch nicht König, sondern der Prinz war, hatte er zufällig ein Gespräch zwischen ihm und Koreldy belauscht. Nur deshalb wendete er sich jetzt nach Norden. Als die Spione des Prinzen damals Koreldys Einreise in Morgravia bemerkten, legten sie dem Söldner nahe, sich mit Celimus zu treffen. Zufälligerweise stand Jerico mit einem Netzwerk an Spionen in Verbindung, die Celimus fürstlich für Informationen bezahlte, und obwohl Koreldy ihn nicht gesehen hatte, war er während ihres ersten Treffens anwesend gewesen. Ohne Umschweife hatte Celimus den Söldner gefragt, was er in dem Reich wolle. Koreldy war zurückhaltend gewesen, hatte versucht, es mit einem Lachen abzutun und an seiner Geheimnistuerei festzuhalten, doch der Prinz hatte auf einer Antwort bestanden. Schließlich hatte der Söldner zugegeben, dass er aus den Fängen einer Frau floh, die fest entschlossen war, ihn zu heiraten. Jerico erinnerte sich, wie Celimus darüber gelacht hatte. Es hätte ein Trick sein können, doch Koreldys Tonfall war zu grimmig gewesen. Und so, ohne eine weitere neue Spur zu verfolgen, waren er und seine mörderischen Gefährten nach Orkyld geritten, wo Koreldy zufolge die verachtungswürdige Frau lebte. Jericos Freude war grenzenlos, als er den Söldner mit einem lahmenden Pferd nach Orkyld wandern sah. Er stieß sogar ein ungewolltes, überraschtes Keuchen aus, bevor er sich in letzter Sekunde den
Mund zuhielt. Koreldy sah in seine Richtung, aber der Blick glitt über ihn hinweg. Glücklicherweise waren sie 213
einander nie begegnet. Jerico war nicht zuletzt deshalb so erfolgreich in seinem Gewerbe, weil er so durchschnittlich aussah und deshalb rasch in Vergessenheit geriet. Nichts an ihm war auffällig. Er war weder dünn noch dick, groß oder klein. Sein Haar war sandfarben, und sein Gesicht kaum als schön zu bezeichnen, doch gleichzeitig war es auch nicht wirklich hässlich. Seine Stimme war tief und wenig einprägsam. Aber er hatte einen regen Verstand und tötete ohne jeden Skrupel. Er hatte den Tag damit verbracht, Koreldy zu beschatten. Ein Zimmer im Old Yew und ein herzhaftes Essen. Ihm zu den Bädern zu folgen, war leicht gewesen, ebenso, ihn beim Kauf von Kleidung zu beobachten. Jerico war ihm dann geschickt wie ein Schatten zum berühmten Waffenschmied Wevyr nachgegangen, doch obwohl er sah, wie er die Werkstatt des Mannes betrat, hatte er ihn nicht wieder herauskommen sehen, und nachdem er - was ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war - gewartet hatte, war er wütend zurück zum Gasthof geeilt, in der Hoffnung, seine Beute nicht verloren zu haben. Der Auftragsmörder war mit der Nachricht belohnt worden, dass der Mann vor Kurzem zurückgekehrt war. Jerico wartete ab und spielte mit einem Bierkrug. Sein Gefährte hielt in der Zwischenzeit draußen Wache, für den Fall, dass Koreldy wieder einen Hinterausgang benutzte. Später stellte Jerico fest, dass ihre Beute keinerlei Verdacht geschöpft hatte, denn er kam abends mit einem neuen Schwert die Treppen in den Schankraum herab und setzte ein breites Grinsen für die hübschen Bedienungen auf. Daraufhin kam Jericos Begleiter zurück und setzte sich neben ihn. Jerico bewunderte das Schwert aus der Entfernung und 213
versprach sich selbst, diese prächtige Waffe als besonderen Preis nach der Ermordung Koreldys zu behalten. »Hoffentlich hat er nicht zu viel von seinem Gold für das Schwert ausgegeben«, murmelte sein Begleiter, der Jerico absichtlich den Rücken zuwandte, damit man sie nicht für Freunde hielt. Jerico lachte höhnisch. »Da pflichte ich dir von Herzen bei, aber jetzt sind wir nur noch zu dritt, um die Beute zu teilen.« »Schade, dass wir das Schwert nicht in drei Stücke schneiden können«, murmelte der Mann. Jerico lächelte in sich hinein. Er hatte seinen Gefährten nicht gesagt, dass der König die Summe bei ihrer Rückkehr nach Pearlis verdoppeln würde natürlich nur, wenn Koreldy starb. »Ich sag dir was: Ihr bekommt den größeren Teil des Goldes, das er bei sich trägt, denn ich behalte das Schwert.« Der Mann nickte, woraufhin sich Jerico wieder seinem Bier und der Beobachtung des Söldners zuwandte. Er überlegte, ob er Koreldys Ringfinger abschneiden sollte, wenn der Mann noch am Leben war, damit sie die Schreie genießen konnten, oder ob er abwarten sollte, bis er erledigt und still war. Jerico zog das Foltern von lebenden Menschen vor und überlegte gerade, wie
er ihn gefangen nehmen konnte, als eine sinnliche Frau aus dem Hinterzimmer des Gasthofs kam und Koreldy eine so feste Ohrfeige verpasste, dass jeder den Schlag hören konnte. Jerico hatte nicht nur die wütend gemurmelten Worte verstanden, bevor sie auf den Fersen kehrtgemacht hatte, sondern auch das leise Gespräch zwischen Koreldy und der anderen Bedienung. Als Koreldy aufstand und sein Schwert 214
richtete, leerte Jerico rasch sein Bier. Dann folgte er seiner Beute aus dem Gasthof, wobei er in Richtung seiner Begleiter einen kaum hörbaren Pfiff ausstieß. Jetzt beobachteten sie Koreldy, der die Straße hinabspazierte, waren jedoch nicht in Eile. Jerico, der immer auf der Hut war, bedachte, dass er dem Leichenschmaus für Wyl Thirsk beigewohnt hatte. Nur für den Fall, dass Koreldy ihn gesehen hatte, befahl er seinem Gefährten, ihr Opfer zu überholen, während er den Rückzug sicherte. »Irgendein Plan?«, fragte einer von ihnen. »Improvisier ein wenig, du hast ein Talent für Ablenkungsmanöver. Wir wollen ihn in einer Seitenstraße überrumpeln oder noch besser in einem kleinen Gässchen. Und hört zu!«, warnte er sie. »Es soll nicht hier geschehen. Die Wälder werden uns Deckung gewähren ... und die Einsamkeit, die wir brauchen«, fügte er hinzu. Sein Begleiter lächelte grimmig und machte sich auf den Weg, wobei er die Hände in den Taschen vergrub. Er musste die Ablenkung, auf die Jericho angespielt hatte, vorbereiten. Wyl war in Gedanken versunken. Er blickte auf und sah einen Mann mit Holzbällen jonglieren. Es waren mindestens sieben Bälle, und der Jongleur stellte sich so geschickt an, dass Wyl stehen blieb, um die Vorstellung zu bewundern. Er sah eine Weile zu und lachte, als der Mann einen kleinen Jig tanzte, ohne dabei den Rhythmus der Bälle zu stören. Da kam ihm in den Sinn, dass der Mann wissen könnte, in welchem Teil des Landes sich die Schausteller des Jahrmarkts aufhielten. 214
»Ihr wisst wohl nicht zufällig, wo der Jahrmarkt Alley gerade unterwegs ist?«, fragte Wyl. Der Mann fuhr mit Jonglieren fort und legte nachdenklich die Stirn in Falten. Wyl bedrängte ihn weiter. »Es ist nur so, dass ich jemanden auf dem königlich morgravianischen Turnier getroffen habe und eine Botschaft für sie habe.« »Weiß ich leider nicht, Sir. Ich bin nur ein herumziehender Gaukler. Ich bin allein unterwegs.« »Bedauerlich, aber trotzdem vielen Dank«, sagte Wyl und warf ihm eine Münze zu. Er schickte sich an zu gehen, drehte sich dann aber noch mal um. »Oh, wisst Ihr zufälligerweise, wo ich einer sehr wütenden Dame zu dieser späten Stunde noch ein hübsches Schmuckstück kaufen kann?«
Der Jongleur fing die Holzbälle geschickt auf, und einige Zuschauer klatschten. Er grinste Wyl amüsiert an. »Ich glaube, ich kenne genau das richtige Geschäft, Sir. Für eine sehr kleine Gebühr kann ich Euch dorthin bringen.« »Oh? Was für ein Geschäft?« »Würde Euch ein Silberschmied weiterhelfen, Sir? Mein Cousin fertigt sehr hübsches Zeug in seinem Laden hier um die Ecke an. Er wird Euch auch einen guten Preis machen - dafür sorge ich schon.« Wyl war müde. Er fühlte sich schlecht wegen Arlyn, aber war es wirklich so wichtig, Romens alte Rechnungen zu begleichen? Ja, offenbar musste er das tun, jetzt, da er in jeder Hinsicht Romen Koreldy war. Es wurde viel getratscht, und wenn er diesen Körper, dieses Gesicht für den Rest seines Lebens besäße, wollte er auf keinen Fall, dass Frauen im ganzen Königreich ihn hassten. Er seufzte. »Ja, warum nicht. Ist es weit weg?« 215
»Überhaupt nicht«, sagte der Gaukler hocherfreut. »Nur ein oder zwei Minuten. Gütiger Himmel, das ist aber ein feines Schwert, Sir, das Ihr da bei Euch tragt...« Jerico feixte, als er hörte, wie der Jongleur eine belanglose Unterhaltung begann und ihre Beute dann wie ein unschuldiges Tier zur Schlachtbank führte. Kurz danach verdunkelte sich die Welt für Wyl. Wyl kam schlagartig wieder zu Bewusstsein, doch er war verwirrt und desorientiert. Er brauchte einige Augenblicke, um zu merken, dass er mit einem Seil an einem Baum festgebunden war, mit dem Kopf nach unten hing und sehr erfolgreich verprügelt worden war. Alles tat ihm weh. Das schwermütige Heulen einer Eule verriet ihm, dass sich nur wenige vernünftige Menschen nachts in diesen Wäldern herumtreiben würden. Offenbar hatten die Verbrecher ihre Blasen entleert, um ihn aufzuwecken - das brennende Jucken in seinem Gesicht zeugte davon. Ihr Trick hatte funktioniert. Er schüttelte den Kopf - wenigstens waren seine Arme frei -, und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Nicht weit entfernt lag das blaue Schwert in seiner Scheide. Verdammt! Diese Kostbarkeiten kriegt ihr nicht Er befühlte seine Brust und spürte erleichtert, dass sie seine versteckten Messer noch nicht entdeckt hatten. Wieder staunte er über Wevyrs Arbeit - diese Waffen waren so dünn und flach, dass es ihn nicht überraschte, dass seine Angreifer sie nicht bemerkt hatten. Verstohlen öffnete er einen Knopf seines Hemdes. Die Männer drehten sich um. »Es wird Zeit für ein wenig Spaß«, sagte der Gaukler. Jerico ging näher auf Wyl zu. 215
»Ich nehme an, ihr habt bereits meine Geldbörse, und wie ich sehen kann, auch mein Schwert«, sagte Wyl in Romens ruhiger Art. »Ist euch mein Leben so wichtig?« »Uns nicht«, erwiderte Jerico.
Wyl spürte, wie ihn eine eisige Kälte überkam. Also ging es hier überhaupt nicht um Geld. »Wem dann?« Jerico grinste. »Jemandem von ganz oben. Wir sind lediglich das ausführende Organ.« »Nun, was er euch auch zahlt, ich zahle das Dreifache«, schlug Wyl vor. »Nein, Koreldy«, sagte Jerico entschlossen. »Ich lege Wert darauf, meine Arbeit umsichtig zu erledigen, und ich treibe nie ein Doppelspiel mit einem Kunden, mit dem ich eine Vereinbarung habe. Dieser Grundsatz hat mich am Leben erhalten.« »Aber nicht unbedingt reich gemacht«, erwiderte Wyl, der auf Zeit spielte, während sein Verstand fieberhaft arbeitete. Romens Instinkte sagten ihm, dass er die drei Männer näher zu sich locken musste, bevor er einen Angriff wagen konnte. Aber Romens Erfahrung sagte ihm ebenfalls, dass er bestenfalls das Seil durchtrennen und einen von ihnen ausschalten konnte. Vielleicht konnte er einen weiteren verletzen oder gar töten, doch er hinge dann immer noch wie ein Schwein am Strick, das darauf wartete, die Kehle aufgeschlitzt zu bekommen. Der Gaukler lachte und trat nach vorn. »Wie willst du überhaupt wissen, Söldner, wie viel wir wert sind?« »Das weiß ich nicht«, gestand Wyl. »Also gut«, sagte Jerico, während er einen Dolch aus seinem Gürtel zog. »Uns bleibt jetzt noch die hässliche Aufgabe, dir einen Finger abzuschneiden.« 216
»Weshalb?« »Der Mann, der uns für deinen Tod bezahlt, will es so.« »Nun, wahrscheinlich hält euch Gaunerpack diese Vorsichtsmaßnahme davon ab, ihn zu betrügen.« Jerico machte einen Schritt auf ihn zu. »Von einem Auftragsmörder zum anderen: Das Wort Gaunerpack ist eine Beleidigung.« Die Männer waren nun in Reichweite. Er würde sich den Anführer schnappen. Ihm blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken - wenigstens würde er noch einen von ihnen mit in den Tod reißen. Die Schurken standen nah genug, damit er selbst benommen und mit dem Kopf nach unten hängend sicher war, einen von ihnen zu treffen. In einer geschmeidigen Bewegung verschränkte Wyl die Arme, zog beide Messer und benutzte den Schwung, eines auf den Mann zu schleudern, von dem er glaubte, er sei der Anführer. Im selben Augenblick stürzte sich ein riesiger Schatten aus der Dunkelheit und umfing den Gaukler, der schreiend vor Angst zu Boden ging. Entsetzt hielt Wyl sein zweites Messer eng an die Brust gepresst und war auf einen Angriff gefasst. Das gurgelnde Röcheln eines sterbenden Mannes wurde durch das tiefe, kehlige Geräusch eines Tieres überdeckt, das an Fleisch riss. Wyl wirbelte erneut am Seil herum und sah, dass Jerico immer noch am Boden lag, während sein Begleiter sich vor Schmerzen krümmte. Und dann verstummte auch dieser. Das Tier jagte nun den dritten Mann, der unvernünftigerweise tiefer in den Wald und seinen sicheren Tod rannte.
Wyl vernahm einen unterdrückten Schrei, bevor es im Wald wieder ruhig wurde. 217
»Knave?«, fragte er erschrocken in die Dunkelheit hinein und zuckte zusammen, als der Hund an seiner Seite auftauchte. Sein warmer Atem roch nach Blut. Wyl hievte sich mühsam nach oben, um das Seil zu erreichen, und zerschnitt es. Sein Körper fiel wie ein Sack zu Boden, und Knave zeichnete sich deutlich über ihm ab. Einen kurzen Augenblick lang packte ihn Angst. Der Hund hatte gerade zwei Männer zu Tode gebissen. Er könnte dasselbe mit ihm anstellen, schoss es durch seinen immer noch benebelten Verstand. Doch stattdessen leckte ihn Knave und setzte sich neben ihn, wobei sich ihm ein freudiges Winseln entrang. Wyl zitterte. Er blickte zu den Toten und wieder auf den Hund. Knave hatte ihm das Leben gerettet, darüber bestand kein Zweifel. Aber woher ist er gekommen, und wie hat er mich finden können! Er versuchte aufzustehen und fiel sofort wieder hin. Er musste mehrere gebrochene Rippen haben. Anscheinend hatten seine Angreifer doch ein wenig Spaß mit ihm gehabt - auch wenn er sich an kaum etwas erinnern konnte. Knave stöberte im Unterholz herum und kehrte mit einer Flasche im Maul zurück. Wyl hatte den verräterischen Jongleur daran nippen sehen und nahm dankbar einen Schluck von der Flüssigkeit, die sich als starker Likör herausstellte. Er spürte, wie er langsam seine Kehle hinabrann, bevor sich die tröstliche Wärme entfaltete. Aufmerksam betrachtete Knave ihn. »Vermutlich ist Fynch nicht bei dir«, bemerkte er, während sich der Hund mit dem Kopf auf den Pfoten hinlegte. »Hm, habe ich mir schon gedacht. Ich muss wohl annehmen, dass wenigstens er meine Anweisungen befolgt 217
hat und bei Valentyna geblieben ist, wohin auch du auf der Stelle zurückkehren wirst.« Der Hund knurrte und drängte sich näher an ihn. Wyl durchsuchte die Leichen, um herauszufinden, wer diese Männer waren. Es gab keine Hinweise, doch dann erkannte er einen von ihnen wieder: Es war einer von Celimus' Männern! Sein Verstand spielte ihm keinen Streich, davon war er überzeugt. Beim Leichenschmaus nach seinem eigenen Begräbnis hatte er einen kurzen Blick auf ihn erhascht. Und das erklärte vielleicht auch das undeutliche Gefühl der Bedrohung, das ihn den ganzen Tag nicht losgelassen hatte. Er erinnerte sich nun; er hatte den Mörder am Morgen gesehen, als er nach Orkyld gekommen war. Ein Geräusch - der Schrei eines Mannes - hatte seine Aufmerksamkeit erregt, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Das war es also! Celimus hatte einen Mörder auf ihn angesetzt. Es war der König, der seinen Finger wollte. Unbewusst blickte er auf seine Hände hinab und betrachtete den Siegelring. Das Schmuckstück und der Finger, an dem er saß, sollten wahrscheinlich der Beweis für seinen Tod sein. Wyl schnaubte
verächtlich, und Wut überdeckte nun seine Erschöpfung. Er würde Celimus ein Andenken schicken. Schwerfällig erhob er sich, nahm sein Schwert wieder an sich und trennte ohne auf seinen brennenden Schmerz zu achten - mit einer einzigen kraftvollen Bewegung Jericos Kopf vom Körper. Er zog dem toten Mann das Hemd aus und wickelte den Kopf einige Male darin ein, wobei er hoffte, dass das Blut nicht zu rasch zu sehen wäre. Glück 218
licherweise war es ein schwarzes Hemd, das das Durchsickern eine Zeit lang verbergen würde. Angewidert rollte er die Leichen in die Büsche. Wölfe oder andere Aasfresser würden sie schon bald finden -was ein passendes Ende für sie wäre. Es kümmerte ihn nicht. Wyl wankte aus dem Wald, mit Jericos Kopf in Händen, der eine besonders ironische Botschaft für Celimus sein würde. Er verbrachte eine Stunde damit, einen geeigneten Behälter im Abfall der Stadt zu finden, und als er zufrieden war, versteckte er die Kassette und ihren widerwärtigen Inhalt, die er so bald wie möglich verschicken wollte. Erst dann brach er zusammen. 218
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A LS W YL DIESES M AL wieder zu Bewusstsein kam, lag er in einem Bett. Zuerst glaubte er zu träumen, da Erinnerungen an eine hässliche Nacht zurückkamen. Er berührte die Federdecke, doch sie war real genug, um ihn davon zu überzeugen, dass er sich diese behagliche Umgebung nicht einbildete. Der würzige Duft, der ihn einhüllte, roch entschieden nach einer Frau. Da beugte sich seine Besitzerin zu ihm herab. Er kannte sie. »Schlag mich nicht schon wieder, Arlyn«, krächzte er und lächelte schief. Sie lachte diesmal aus vollem Halse. »Ich bin versucht, Romen. Was in Shars Namen ist gestern Nacht passiert?« »Eine lange Geschichte. Würdest du mir glauben, wenn ich dir erzählte, es sei alles deinetwegen geschehen?« »Nein, denn du bist ein Lügner, Betrüger und ein nichtsnutziger Schurke, den ich aus meinem Bett werfen werde, sobald er wieder laufen kann.« Er zuckte zusammen. »Wie schlimm steht es um mich?« »Der Arzt sagt, du wirst mindestens ein paar Tage lang nicht aufstehen können.« »Dann bin ich dir also vollkommen ausgeliefert«, sagte Wyl und überraschte sich selbst. Er mochte Frauen sehr, doch 218
normalerweise brachte er in ihrer Gegenwart keinen Ton heraus. Er dachte an Valentyna und erinnerte sich an den Wonneschauer ihrer Berührung und wie es ihm die Kehle zugeschnürt hatte, als sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Und dennoch lag er im Bett dieser Frau und spielte den spitzbübischen Schmeichler, indem er Romens Selbstbewusstsein nutzte.
»Ein Mynk für deine Gedanken«, sagte Arlyn und wrang ein Tuch in einer kleinen Wasserschüssel aus. Behutsam legte sie das Leinen auf sein Gesicht, wobei ihre Miene auf einmal zärtlich wurde. »Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie sehr es mir leidtut«, sagte er leise. Arlyn hielt inne und betrachtete ihn mit grünen Augen. »Du hast mich sehr verletzt.« Wyl griff mit Romens großer Hand nach ihrer und hielt sie an seine Brust gepresst. »Ich weiß. Es gibt so viel zu erklären.« »Aber noch nicht«, sagte sie, nahm einen Becher und reichte ihn dem Kranken. »Der Arzt hat angeordnet, dass du dich ausruhen und gesund werden sollst. Trink das hier!« Er kam ihrem Befehl nach und verzog angewidert das Gesicht. »Schlaf jetzt«, ordnete sie an, und ein Lächeln erhellte ihr Antlitz. »Arlyn«, sagte er schläfrig. »Wie bin ich hierhergekommen?« »Ein riesiger schwarzer Hund hat dich bis zu meiner Türschwelle gezogen«, erwiderte sie empört. Er lachte, und allmählich übermannte ihn der Schlaf. »Er heißt Knave.« 219
»Von mir aus könnte es auch König Celimus sein«, hörte er sie sagen, während das helle Morgenlicht aus seinem Bewusstsein schwand. »Ich habe ihm gesagt, dass er nicht ins Schlafzimmer kann. Er ist draußen.« »Vielen Dank«, sagte er und schlief ein. Zwei starke Grundbedürfnisse weckten Wyl. Es dämmerte bereits. Er war am Verhungern, doch noch dringender als das Verlangen seines Magens war das Drängen seiner Blase. Er müsste sich beeilen oder würde vor Arlyn einen Narren aus sich machen. Verzweifelt suchte er den Raum nach dem Nachttopf ab, und nachdem er ihn gesichtet hatte, schleppte er sich aus dem Bett. Arlyn musste ihn gehört haben, denn sie betrat genau in dem Moment das Zimmer, als er fertig war. »Du solltest nicht aufstehen«, schalt sie ihn. Er blickte sich um. »Es war dringend«, gab er verlegen zu. »Lass mich dir etwas zu essen bringen, und dann werden wir reden.« Arlyns Speisen waren köstlich, und während Wyl aß, wollte er ihr Fragen stellen, wusste jedoch, dass er das aus Angst, seine Unwissenheit preiszugeben, nicht konnte. Romen war offenbar in die Falle getappt und zweifelsohne kaltherzig aus Arlyns Armen geflohen. Sein Auftreten und die Ungezwungenheit im Umgang mit anderen zeichnete das Bild eines Frauenhelden. Wyl war genau das Gegenteil. Er musste versuchen, das Übel wiedergutzumachen, jedenfalls in ihren Augen. Nachdem Arlyn ihm beim Essen geholfen hatte, brachte 219
sie eine Schüssel mit parfümiertem Wasser, damit er sich Hände und das Gesicht waschen konnte. Dann setzte sie sich neben ihn aufs Bett. »Also gut, Romen. Wirst du mir erzählen, was schiefgelaufen ist?«
Wyl hatte nachgedacht und beschlossen, eine derart außergewöhnliche Lüge zu spinnen, dass sie sich unter keinen Umständen selbst die Schuld geben konnte, so herzlos verlassen worden zu sein. Er atmete tief ein. »Ich bin ein gebrandmarkter Mann, Arlyn. Ich habe Orkyld nicht verlassen, weil ich dich nicht heiraten wollte, sondern weil ich um mein Leben fürchten musste.« Welche Ausrede Arlyn auch erwartet hatte, so gewiss nicht diese. Sie schwieg weiterhin, trotz der offensichtlichen Fragen auf ihrem Gesicht, und Wyl führte seine Geschichte fort: »König Celimus will meinen Tod. Ich vermute, es hat etwas mit der Freundschaft zu tun, die ich mit seinem ehemaligen General Wyl Thirsk hatte.« »Seinem ehemaligen General?« »Er ist tot. Ermordet von Männern, die auf den ausdrücklichen Wunsch des Königs geschickt wurden.« Sie wollte etwas sagen, besann sich dann aber. »Doch hier kommt das Schlimmste«, fuhr er fort. »Was gestern Nacht passierte, war nur ein Überfall von vielen. Der erste geschah kurz, nachdem ich dich verlassen habe. Sie haben mich aufgespürt und dachten, ich sei tot, doch in Wirklichkeit war ich nur bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich mein Gedächtnis verloren.« Er bewegte sich auf dünnem Eis, aber er musste überzeugend sein. Arlyns Hand flog an ihre Kehle. Die Geschichte funktionierte. Er hasste sich für seine Lügen, aber er wäre verdammt, würde er das Risiko eingehen, die Frau noch 220
einmal zu verletzen. Dies hier gab ihr wenigstens die Würde zurück, die sie verdiente. »Ich konnte mich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern.« An diesem Punkt musste er vorsichtig sein. »Wie lange war ich eigentlich weg?«, fragte er beiläufig, als versuche er die Antwort selbst zu finden. Bereitwillig sagte sie es ihm, ohne seine raffinierte List zu durchschauen. Wyl zwang sich zur Ruhe. Welch ein Mistkerl Romen gewesen war! »Ist es wirklich so lange her?«, murmelte er stattdessen. »Ich habe einen Großteil der Zeit in einem Kloster verbracht, wo ich mich von den Messerstichen erholt habe, vor allem jedoch damit beschäftigt war, mich selbst wiederzufinden.« Er dachte schon, sie würde weinen, aber dann fasste sie sich. »Und dein Gedächtnis?« »Ich habe noch nicht alles zurückerlangt, weshalb ich dich um Verzeihung bitten muss, wenn ich mich vielleicht manchmal etwas vage ausdrücke.« Diese hübsche Ausrede gestattete ihm, Fehler zu machen. »Oh, Romen, das sind fürchterliche Neuigkeiten, und da habe ich gedacht... oh, schon gut. Und letzte Nacht ist es erneut passiert?« Er nickte. »Ich war eine Zeit lang in Sicherheit und vielleicht ein wenig zu zuversichtlich. Aber es hat mich nach Orkyld gezogen. Es hat mich zu dir gezogen, Arlyn, doch ich kann mich an nichts erinnern, was zwischen uns geschehen ist. Ich schäme mich. Es tut mir so leid, dich verletzt zu haben.« Seine Aufrichtigkeit ließ sie dahinschmelzen, und Wyl verabscheute sich. Es war genug.
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»Was ist mit den Männern geschehen, die dich letzte Nacht angegriffen haben?« »Sie sind davongelaufen, als Knave sich ins Getümmel stürzte«, log er. Seine letzte Lüge, das versprach er sich. »Wäre er nicht gewesen, wäre ich sicherlich tot. Wo ist er überhaupt?« »Er versetzt die Leute in Angst und Schrecken.« Wyl lächelte und wusste, dass er nun seine Abreise ansprechen musste. »Ich bin ein Flüchtling und werde es bleiben, bis es Celimus gelingt, mich zu töten. Ich habe schon zu lange in Orkyld verweilt und muss verschwinden. Wenn ich hierbliebe, würde ich dich in Gefahr bringen.« »Sie würden auch mich töten?« Er zuckte mit den Schultern, was ihm Schmerzen bereitete. »Sie sind unbarmherzig. Der König bedient sich gemeiner Halsabschneider skrupelloser Mistkerle. Keine Ehre.« »Wohin kannst du gehen?« Dieses Mal schüttelte Wyl den Kopf. »Ich habe vor, ständig auf Reisen zu bleiben. Vielleicht überquere ich das Meer. Und aus diesem Grund kann ich dich nicht heiraten, meine Liebe. Ich weiß auch nicht, wann ich dich das nächste Mal sehen werde oder ob das überhaupt noch einmal geschieht.« »Romen, ich will ehrlich zu dir sein. Nach all der Zeit glaube ich nicht, dass wir diese besondere Zuneigung, die wir einmal füreinander empfanden, wieder aufleben lassen könnten. Es ist schon zu lange her.« Ihre Worte waren Musik in Wyls Ohren. »Aber können wir dich nicht hier verstecken?«, fragte sie und nahm seine Hand. »Nein. Das ist zu gefährlich. Sie sind mir auf den Fersen. 221
Ich muss sie erneut abschütteln. Sobald ich gehen kann, werde ich abreisen. Vergib mir.« »Egal, wie es zwischen uns steht, es war schrecklich für mich, dich gestern so schwer verletzt zu sehen.« »Nächstes Mal wird ihnen ihr Anschlag nicht missglücken«, sagte Wyl und hoffte, es sei der letzte Nagel, den er in den erbärmlichen Sarg ihrer Beziehung treiben musste. Sie sammelte sich. »Wie kann ich helfen? Geld?« »Ich habe Geld. Ich will, dass du mich vergisst. Verwisch jede Spur meines Aufenthalts, nachdem ich fort bin, und sag jedem, der weiß, dass ich hier bin, sie sollen ihre fünf Sinne beisammenhalten und keine Fragen beantworten.« Sie nickte. »Niemand hat gesehen, dass du zu mir gekommen bist.« »Gut. Ich werde morgen bei Anbruch der Nacht abreisen.« »Schon so bald?« »Wärst du so freundlich, mir meinen Beutel zu reichen?«, bat er. Es war eine kleine Ledertasche mit einem langen Riemen, damit man sie am Körper tragen konnte. Sie gab sie Wyl, der darin herumstöberte, bis er schließlich Ylenas Brosche herausfischte. Sie würde sie nicht vermissen, und das Kleinod ging an
einen würdigen Menschen, der ihm das Glück gebracht hatte, das seine Schwester ihm gewünscht hatte. »Das ist für dich. Ich erinnere mich, sie ausgesucht zu haben, weiß aber nicht mehr, wo oder wann das war«, log er und lächelte betrübt, als er sie ihr in die Handfläche legte. »O Romen, sie ist wunderschön!« »Dann wird sie ihrer Besitzerin gerecht«, sagte er, diesmal in aller Aufrichtigkeit. »Behalt sie als Erinnerungsstück für das, was wir einst teilten.« 222
Sie küsste ihm die Hand, die immer noch mit ihrer verflochten war, und konnte nichts dagegen tun, ein Aufflackern von Begierde für den gut aussehenden Schurken zu verspüren, der halb nackt in ihrem Bett lag. »Dann muss ich das Geschenk erwidern.« Bei dem Gedanken, ein Geschenk von einer Frau zu erhalten, wich Wyl zurück. »Oh?«, entfuhr es ihm. »Das Einzige, was ich gerade zur Hand habe«, sagte sie und knöpfte ihm das Hemd auf. Am nächsten Tag hielt Romen Arlyn fest an sich gedrückt, doch es war Wyl, der sie zärtlich zum Abschied küsste. Ihre fürsorgliche Pflege hatte ihn für kurze Zeit sich selbst vergessen lassen. Neben ihr zu liegen und das unvergleichliche Gefühl ihrer Haut an seiner zu genießen, hatte ihn in einer Flut aus Zuneigung den Verstand verlieren lassen. Obwohl seine Verletzungen ihn behinderten, hatten sie die beiden nicht davon abgehalten, sich zu lieben. Sie halfen Wyl, seine Ungeschicklichkeit zu kaschieren. Wäre er gesund gewesen, hätte sie gewusst, dass er nicht Romen war, oder wenigstens nicht der Romen, den sie einst gekannt hatte. Wyl Thirsk hatte schon seit geraumer Zeit mit keiner Frau geschlafen. Das letzte unvergessliche Abenteuer war eine junge Seifenmacherin in Pearlis gewesen, die Stoneheart mit ihren Produkten belieferte. Es war eine kurze Liebelei zwischen zwei jungen unerfahrenen Menschen gewesen. Er hatte sie ab und an im Palast gesehen und war einmal dabei, als ein Pferd vor ihr scheute und sie ihren 222
Korb mit Seifen vor Schreck fallen ließ. Wyl hatte zwei Pagen herbeigerufen, die ihr beim Aufheben helfen sollten, und sich dann liebenswürdig für das launische Tier entschuldigt. Das Mädchen hatte ein reizendes Lächeln und seine Entschuldigung verlegen angenommen. Als er sie das nächste Mal in einem der besseren Gasthöfe der Stadt traf, war sie weniger schüchtern. Sie lud ihn in den winzigen, stickigen Raum über ihrem Laden ein, wo sie mit ihrem Vater lebte, und zog sich aus. Es war schnell vorüber, aber trotzdem unvergesslich. Wyl stöhnte laut, als er den Höhepunkt der Lust erreichte, und sie hatte den Anblick seiner Ekstase mehr genossen, als selbst viel zu spüren. Er hatte ihr gedankt und einige Münzen in die Tasche gesteckt, damit sie sich neuen Stoff für ein Kleid oder Schleifen fürs Haar kaufen konnte. Er glaubte, er würde sie wiedersehen, doch ihre Wege hatten sich nie mehr gekreuzt. Ein
halbes Dutzend weiterer freudloser, meist rasch vorübergehender Liebesabenteuer - mehr aus der Notwendigkeit denn etwas anderem heraus hatte er schon fast aus seinem Bewusstsein verbannt. Mehr erotische Erfahrungen hatte er in den vergangenen Jahren nicht gemacht. An Arlyn würde er sich jedoch immer erinnern ... »Ich kann nicht zurückkommen«, flüsterte er, während er sie im Arm hielt und darauf achtete, seinen Körper nicht zu fest an ihren zu pressen. Sie nickte, hatte sie sich doch schon vor Langem damit abgefunden, dass Romen kein fester Bestandteil ihres Lebens sein konnte. »Ich weiß. Bleib gesund.« Und mit einer letzten Bitte um Verschwiegenheit reiste Wyl ab. Ebenso wie er war auch sein Pferd froh, nicht mehr 223
eingesperrt und endlich wieder auf der staubigen Straße zu sein. Sie trödelten nicht, und er sah sich nicht um, obschon er vermutete, dass Arlyn ihm immer noch nachblickte. »Noch ein weiterer Auftrag«, versprach er dem Tier, während die Straße eine Kurve machte und sie endlich außer Sichtweite kamen. Wie er vorausgesehen hatte - obwohl er nicht sagen konnte, warum er derart überzeugt gewesen war -, traf er auf Knave, der genau dort im Unterholz auf ihn wartete, wo sie den Behälter mit dem Kopf des Auftragsmörders versteckt hatten. Sie saßen einige Augenblicke beieinander, während Wyl den Hund streichelte und sich Gedanken über das verzauberte Tier machte. Es schien sinnlos zu sein sich einzureden, Knave gehöre nicht zu Myrrens magischer Welt, und dennoch - wenn er es einem Fremden hätte erklären wollen, würde der ihn wahrscheinlich auslachen. Schließlich setzte er zu sprechen an und war froh, dass es ihm nicht mehr seltsam vorkam, Knave Anweisungen zu geben. Der Hund schien ihn sowieso immer zu verstehen. »Du weißt, dass du zurückkehren musst«, sagte er streng. »Geh zu Fynch. Beschütz Valentyna, bis ich komme«, fügte er hinzu, in der Hoffnung, seine Instinkte gäben ihm recht. Die Witwe Dyk hatte ihm geraten, Fynch und Knave in seiner Nähe zu behalten, und trotzdem hatte er beide fortgeschickt. Knave musterte ihn durchdringend. Dann bellte er einmal. Wyl wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Aber als sein Hund ihm die Hand leckte und dann davonsprang, wobei er sich einmal wie zum Abschied umdrehte, nahm Wyl an, dass der Hund ihn verstanden hatte. Als er das Tier forteilen sah, verspürte er ein trauriges Stechen. Mit Knave 223
fühlte er sich ungeheuer sicher, wenn nicht sogar unbesiegbar. Und genau deshalb musste der Hund zurück zu Valentyna - vielleicht konnte Knave ihr dieselbe Geborgenheit bieten? Er ritt zurück in die Stadt, wo die Kutschen in den Süden abfuhren. Ein Fahrer stimmte für einen angemessenen Preis zu, den Behälter, den Wyl nun sorgfältig in mehrere Leinensäcke gewickelt hatte, nach Pearlis zu bringen. »Wo soll ich es abliefern?«, erkundigte sich der Mann.
»Beim Palast.« »Für wen ist es?« »Lasst es einfach am Haupttor bei den Wachen. Sie erwarten es schon.« »Keine Nachricht?« »Sie liegt bei«, log er. »Es ist für einen hochrangigen Adligen. Berührt es bitte nicht - Ihr würdet es bitter bereuen, wenn Ihr Euch an dieser wichtigen Fracht zu schaffen macht.« »Gütiger Shar! Was ist dort nur drinnen?«, fragte der Kutscher. Wyl wusste, für den Mann war die Versuchung, einen kurzen Blick darauf zu werfen, riesig. Er musste ihm einen guten Grund liefern, es zu unterlassen. »Es ist das Amulett einer Hexe«, erklärte er und freute sich innerlich über den erschrockenen Gesichtsausdruck des Mannes. Gut. Es schien, als sei die Angst vor den Flüchen einer Hexe im Norden noch weit verbreitet, obschon der Einfluss der zerquischen Anhänger abgenommen hatte. »Wenn es von jemand anderem als dem wahren Besitzer betrachtet wird, erblindet derjenige.« Dank dem Himmel, dass es dem Rest, der noch von Romen in ihm steckte, so leicht fiel, die Wahr 224
heit zu verdrehen, dachte Wyl. Er war immer noch erstaunt, wie leicht ihm solche Lügen über die Lippen gingen. Der Mann sah aus, als würde er den Behälter am liebsten aus der Kutsche werfen. »Seht her, ich gebe Euch ein zusätzliches Goldstück für Eure Unannehmlichkeiten. Ich danke Euch für Eure Hilfe und habe mich ebenfalls nicht um den Inhalt gekümmert. Ich habe auch nicht hineingesehen - ich bin bloß der Bote bis hierher«, fügte Wyl hinzu, und das Geld schien die Befürchtungen des Mannes zu zerstreuen. »Wie lange wird es dauern?« »Etwa vier Tage, Sir.« »Dann eine gute Reise«, rief Wyl, als der Kutscher abfuhr. Das Wetter wurde entschieden kühler, als Wyl allmählich in die höheren nördlichen Gebiete des Königreichs vordrang. Er war froh um den Mantel. Sie bewegten sich in einem gleichmäßigen Tempo, damit das unebene Gelände Romens verletzten Körper nicht unnötig zusetzte. Wyl war Arlyn dankbar, die ihm etwas von dem bitter schmeckenden Heiltrank eingepackt hatte. Die unverdünnte Medizin war noch widerwärtiger als das Gebräu, das sie ihm an ihrem Bett eingeflößt hatte. Trotzdem nahm er morgens und abends einen Schluck davon, da es ihm Linderung schenkte. Er reiste zweieinhalb Tage durch zunehmend kargeres Land, das immer steiniger wurde. Er entsann sich, dass die Dörfer weit verstreut lagen und es in diesem Teil des Nordens keine größeren Städte gab. Wyl interessierte sich im Moment für keinen dieser Orte. Seine Gedanken waren voll und ganz auf Yentro gerichtet, wo die Witwe Ilyk her 224
stammte. Dabei musste es sich wohl um ein kleines, unbedeutendes Dorf handeln.
Eine halbe Tagesreise später erreichte er eine geschäftige Grenzstadt. Verblüfft brachte er das Pferd zum Stehen. Dies hier war ohne Zweifel eine größere Handelsstadt, und die Geschäfte gingen rege. Seine erste Station waren die Ställe. Dann machte er sich auf die Suche nach einem anständigen Gasthaus. Viel zu viele Leute schwirrten um ihn herum, als dass er sich hätte Sorgen machen müssen, bemerkt zu werden, und die Bevölkerung war so bunt gemischt, dass Wyl sicher war, als gewöhnlicher Reisender durchzugehen. Er irrte sich gewaltig. »Er ist es, das schwöre ich«, sagte der Mann ehrerbietig. Der Angesprochene saß beim Essen. Er kaute bedächtig und dachte über das nach, was er gerade gehört hatte. Seine Männer waren verlässlich, besonders sein Freund und Berater Lothryn, der gerade mit ihm sprach. Er kratzte sich am Bart, den er sich erst kürzlich zur Tarnung hatte wachsen lassen. Also war Romen Koreldy zurückgekehrt. Weshalb? Undurchdringliche grüne Augen blickten Lothryn an. »Warum jetzt?« Lothryn zuckte die Schultern. Es gab keinen plausiblen Grund dafür, dass Koreldy in den Norden zurückgekommen war. »Spionage?«, schlug er instinktiv vor. »Das war auch mein erster Gedanke. Vielleicht spioniert er für Celimus. Das morgravianische Balg hungert also nach mehr Gebirgsblut«, überlegte er. »Wir haben den letzten Einfall dieser nutzlosen Spione vereitelt - Haldor stehe dem morgravianischen König bei, wenn das die Sorte Dumm 225
köpfe ist, mit der wir es weiterhin zu tun bekommen! Nur der Anführer taugte etwas als Soldat. Wir werden sie alle töten, Lothryn. Und wir werden das Reich des Gebirgsvolks weit über die Razors ausdehnen. Merk dir meine Worte!« Lothryn erwiderte nichts, sondern wartete, dass sein Gegenüber die unausweichliche Entscheidung traf. Sie folgte geschwind. Der kräftige Mann mit dem goldenen Haar schob seinen Teller fort - er hatte keinen Hunger mehr. Dann erhob er sich zu seiner ganzen einschüchternden Größe und blickte auf seinen treuen Stellvertreter, seinen Freund seit mehr als dreißig Jahren. »Schnapp dir Myrt und noch jemanden. Verfolg ihn ein paar Stunden lang. Lass uns herausfinden, was er vorhat. Dann nimm ihn gefangen. Ich erwarte dich in der Höhle.« Lothryn nickte. »Wird erledigt, Mylord.« Aus seinem dunklen Versteck heraus beobachtete Lothryn, wie Romen Koreldy die Scharlachrote Feder betrat und sich laut Gastwirt glücklich schätzen konnte, das letzte Zimmer des Hauses ergattert zu haben. Es war teuer, aber Wyl sehnte sich nach etwas Bequemlichkeit und wollte sich nach den Tagen im Sattel erholen. Er musste seinen Rippen unbedingt etwas Zeit gönnen, richtig zu verheilen. Er trug noch immer ein blaues Auge zur Schau, mit dem er sich eine weitere Bemerkung des neugierigen Mannes hinter dem Tresen einfing. »Eine Dame hat es nicht besonders freundlich aufgenommen, als sie mich dabei erwischte, wie ich ihre beste Freundin küsste«, bemerkte Wyl zwanglos und zwinkerte dem Wirt zu, ohne zu wissen, dass er seit seiner Ankunft in Yentro verfolgt wurde.
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Der Mann lachte. »Dann hat sie aber einen guten Schlagarm, Sir. Das würde ich an Eurer Stelle nicht noch einmal versuchen.« »Ich glaube nicht, dass sie mich wiederhaben will«, sagte Wyl schelmisch und fügte hinzu: »Auch wenn sie ein weiteres Veilchen wert wäre.« Sie lachten beide. »Ich könnte eine Massage gebrauchen. Gibt es ein solches Etablissement hier in der Nähe?« »Ja, Sir. Sobald Ihr es Euch in Eurem Zimmer bequem gemacht habt, werde ich Euch den Weg zeigen. Es ist gleich neben der Badeanstalt.« Wyl nickte. Er ging die Stufen langsam hinauf, denn immerhin war er vorgewarnt worden, dass es vier Treppenabsätze bis zu seinem Zimmer waren. Diese waren zwar glücklicherweise kurz, doch er brach trotzdem auf seinem Bett zusammen, erleichtert über sein leichtes Gepäck. Er schnallte das Schwert ab, zog das Hemd aus und legte den versteckten Gürtel und die Messer ab. Welche Erleichterung! Er lehnte sich zurück und schlummerte augenblicklich ein. Als er erwachte, stellte er fest, dass er tatsächlich fest geschlafen hatte, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Er musste rasch herausfinden, ob sich die Witwe Dyk in Yentro aufhielt. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Er wollte nach Briavel, um die Königin zu treffen, und dann das Versprechen seiner Schwester gegenüber einlösen und Alyds Überreste von Rittylworth nach Felrawthy überführen. Er hoffte ebenfalls, Ylena zurück in die Sicherheit von Argorn und ihren eigenen Leuten bringen zu können. Und trotzdem nagte die Frage des Verrats an ihm. Sollte er wirklich den Versuch unternehmen, die Krone zu stürzen? Er musste aufhören, über all das nachzudenken, was noch vor ihm 226
lag, oder er würde erdrückt werden. Er rief sich Gueryns Rat ins Gedächtnis, sich nacheinander um seine Angelegenheiten zu kümmern. Sein Lehrer hatte ihm beigebracht, einen klaren Kopf zu bewahren und sich auf die wichtigste Frage zu konzentrieren. Prioritäten setzen Er konnte jetzt Gueryns Stimme hören. Das Wichtigste war, die Witwe zu finden. Alles andere würde folgen. Gähnend und sich behutsam streckend, versteckte er seine Waffen im Bettlaken, und nachdem er sich angezogen hatte, verschloss er sorgsam die Tür und eilte die Treppe hinab, wo der Gastwirt gerade zwei Dienstmägden Anweisungen erteilte. Er bemerkte, dass Wyl ihn beobachtete. »Heute ist sehr viel Trubel, Sir.« »Ist etwas Besonderes los?« »Es ist unser jährlicher Handelsmarkt. Ich dachte, Ihr seid vielleicht deshalb hier. Niemand kommt ohne einen Grund nach Yentro.« Wyl vernahm die Neugierde in der Stimme des Mannes. »Nun ja, womöglich könnt Ihr mir helfen. Ich bin nämlich in Yentro, um der Witwe Ilyk eine Nachricht zu überbringen. Kennt Ihr sie vielleicht - sie ist sehr alt und stammt aus diesem Ort?« »Leider nicht, aber ich bin selbst noch neu hier, Sir. Habe die Feder erst vor ein paar Monaten gekauft.«
Wyl machte eine beiläufige Handbewegung, als sei es bedeutungslos. »Ich kann mich woanders erkundigen, vielen Dank. Und nun zu der Wegbeschreibung?« Der Gastwirt erklärte ihm ausführlich, wie er die Badeanstalt finden könne, und Wyl war froh, dem wachsamen Blick des Mannes zu entkommen. Die Wegbeschreibung 227
stimmte haargenau, und voller Vorfreude auf das köstliche Wonnegefühl, das ihm nur eine fachkundige Massage verschaffen konnte, bemerkte er wieder den dunkelhaarigen Fremden nicht, der ihm in sicherer Entfernung folgte. Schon bald aalte er sich in parfümiertem, dampfendem Wasser. Er zahlte für einen Privatraum, da er seine Verletzungen lieber nicht dem Rest der Männer zeigen wollte, die ihr Bad genossen. Nachdem er sich das Haar eingeschäumt hatte, klingelte er. Eine junge Frau kam herein und goss frisches warmes Wasser über seinen Kopf, das nach Gardenien roch und unvermittelt eine ferne Erinnerung hervorrief, die jedoch verschwommen blieb. Er suchte in seinem eigenen Gedächtnis und erkannte, dass die Erinnerung nicht seine war. Jemand in Romens Leben hatte anscheinend diesen Duft verwendet. Er behielt es im Hinterkopf und bemerkte, dass die Frau geduldig mit einem trockenen Leinentuch auf ihn wartete. Wyl zwang sich, wegen seiner Nacktheit nicht peinlich berührt zu sein. Romen wäre einfach aus dem Zuber gestiegen und hätte sich wahrscheinlich noch für sie geräkelt, dachte er, und fand den Mut stillzustehen, während sie seinen Körper abtrocknete. »Mir ist aufgefallen, dass Ihr verletzt seid, Sir«, sagte sie, wobei ihre großen Augen zu seinen schlimmsten Wunden glitten. »Ja«, erwiderte er, ohne näher darauf einzugehen. »Bitte seid bei der Massage um meine Rippen herum besonders sanft.« Sie nickte ernst, bevor sie auf einen Tisch zeigte, auf dem er sich ausstrecken sollte. Er kam ihrer Aufforderung nur 227
unter Schwierigkeiten nach. Nachdem sie verschiedene Duftkerzen angezündet hatte, erwärmte sie Öl darüber, goss es in ihre Handinnenflächen und strich es vorsichtig auf seine Haut. Wyl spürte, wie sich sein Körper unter ihrer Berührung entspannte. Sie arbeitete schweigend, ließ die verletzten Bereiche aus und konzentrierte sich stattdessen auf seine schmerzenden Pobacken, Beine und Schultern. Ihre Finger waren stark und geschickt. Schließlich löste sich Wyl aus seiner angenehmen Benommenheit und fragte: »Ich suche die Witwe Ilyk ... Kennt Ihr sie?« »Nein, Sir.« Die Antwort war zu schnell gekommen, entschied er. »Wie schade. Ich habe eine Nachricht aus dem Süden für sie. Ich habe einer Dame mit Namen Thirsk versprochen, sie zu überbringen.« Wenn sie die alte Frau kannte, würde es ihr nicht schwerfallen, sich den Namen Thirsk zu merken, und die Seherin würde vielleicht zustimmen, ihn zu treffen. Es folgte eine Pause, als würde sie nachdenken. »Es tut mir leid, aber ich kann Euch nicht helfen, Sir.«
Er beließ es dabei - immerhin war er jetzt sicher, dass die Witwe Ilyk in Yentro keine Unbekannte war. Wyl hoffte, seine Instinkte würden ihn nicht täuschen, was das Mädchen betraf, und merkte rasch, dass er recht behalten sollte. Nach der Massage tauchte er kurz in ein lauwarmes, salzhaltiges Becken, das sich neben seinem Privatzimmer befand. Das Wasser weckte ihn aus seinem schläfrigen Zustand, in den er geglitten war. Er zog sich an und verließ das Gebäude, wobei ihm nicht entging, dass ihm das junge Mädchen folgte, das ihn massiert hatte. Sie wartete, bis sie um eine Ecke gebogen waren, bevor sie ihn aufhielt. 228
»Ich kenne die Nichte der Witwe Ilyk, Sir«, rief sie ihm zu. »Fahrt fort.« »Ich habe ihr eine Nachricht zukommen lassen. Die Witwe Ilyk wird Euch heute treffen.« Er verbarg seine Freude. »Vielen Dank«, sagte er und gab ihr einen Silbertaler, um ihr für ihre Hilfe zu danken. Offensichtlich hatte sie noch nie zuvor so viel Geld in Händen gehalten, denn ihre Augen funkelten. »Wie werde ich sie finden?«, fragte er. »Meine Freundin ... ihre Nichte Elspyth wird Euch hier in Kürze treffen. Ich habe ihr genau beschrieben, wie Ihr ausseht.« Romens hinreißendes Lächeln war wie ein heller Sonnenstrahl. »Ich hoffe, Ihr habt ihr gesagt, wie attraktiv ich bin?« Trotz ihres ernsten Wesens lachte sie. »Das habe ich. Auf Wiedersehen, Sir.« »Vielen Dank«, sagte er und fügte hinzu: »Ihr habt ausgezeichnete Hände.« Das Mädchen hastete fort, doch er erhaschte einen kurzen Blick auf ihre errötenden Wangen. Lothryn stand nahe genug, um die Aufregung der Frau zu bemerken. Er sah auch das Aufblitzen von Silber. Sie war die Masseurin - das wusste er bereits. Allerdings wurde keine Masseurin für ihre Dienste derart fürstlich bezahlt, außer sie gehörte zu einem Bordell, das ganz besondere zusätzliche Annehmlichkeiten bot. Lothryn beobachtete sie eingehend, während sie mit der Münze spielte. Es war viel Geld für ein Mädchen wie sie. Seine Augen verengten sich nachdenklich. 228
»Für welche Information habt Ihr gerade gezahlt, Koreldy?«, flüsterte er zu sich selbst, als er bemerkte, dass es seine Beute nach dem Verschwinden des Mädchens nicht eilig hatte, die zugige, kalte Ecke zu verlassen, an der er jetzt stand. »Dann warten wir eben«, murmelte Lothryn. Er drehte sich zu seinen Gefährten um, die unauffällig über ihrem Bier saßen. Lothryn gab ein Zeichen, dass sie warten sollten. Sie nickten und wandten sich von Lothryn weg. Die drei Männer des Gebirgsvolks, die Romen belauerten, passten perfekt hierher. Hätten sie ihre Lieblingsgewänder getragen, wären sie verdächtig, doch Cailechs Männer hatten geeignete Kleidung angelegt, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Lothryn machte sich nichts vor: Die Menschen aus dem Norden Morgravias konnten erkennen, wer er oder seine
Landsleute in Wirklichkeit waren, doch ihre einfache Verkleidung machte es ihnen leichter, als Händler aus den Bergen - wenn auch illegale durchzugehen. Das war immer noch besser, als sie für barbarische Krieger zu halten. Es war eine erfolgreiche Handelswoche gewesen, überlegte er. Der König würde erfreut sein und wie gewöhnlich das Gold aus dem Verkauf der beliebten Pferde, die in den Razors aufgezogen wurden, vor allem in Saatgut und Waren für das Gebirgsvolk umtauschen. Papier und Stifte standen diesmal ganz oben auf der Einkaufsliste des Königs - er war fest entschlossen, Kinder mit den richtigen Gerätschaften schreiben zu lassen. Seine Pläne für die Zukunft waren tatsächlich hochfliegend, aber weshalb auch nicht?, fragte sich Lothryn. Cailech hatte eine Vision für ihr raues Bergreich, und wenn sie jemand in die Tat umsetzen könnte, dann wäre es dieser Mann. 229
Lothryn hatte Cailech von klein auf geliebt, und obwohl er nur selten diesem Gedanken nachhing, wusste er, er konnte sich etwas darauf einbilden, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Seit sie laufen konnten, hatten sie zusammen gespielt und waren unzertrennlich geworden. Und jetzt herrschte Cailech. Ein selbst ernannter, großartiger König; und Lothryn war sein zuverlässiger, treuer Stellvertreter. Lothryn lächelte. Das Leben war gut eigentlich sogar fast vollkommen, wären da nicht die zunehmenden Schwierigkeiten mit dem neuen König von Morgravia. Celimus hatte sie bereits herausgefordert. Es war beinahe einer Kriegserklärung gleichgekommen, als er einen Trupp Spione in das Gebiet des Gebirgskönigs geschickt hatte. Und Lothryn machte sich heimlich Sorgen, dass Cailechs allseits bekanntes Temperament zu turbulenten Zeiten führen könnte. Der König sprach sogar schon laut aus, dass sein Volk die fruchtbaren südlichen Ländereien verdiente, damit sie dort ihr Getreide anpflanzen und ihre Kinder großziehen könnten. Es war ein kühner Traum, den Lothryn nicht unterstützte. Er hatte Cailech wieder und wieder nahegelegt, dass ihr Volk in der sicheren Undurchdringlichkeit der Razors bleiben sollte. Ihr landwirtschaftlich nutzbares Land war begrenzt, aber fruchtbar; ihre Tiere fett und gesund; die Menschen glücklich. Aber er wusste, Cailech wollte mehr. Cailech wollte immer mehr - schon als kleiner Junge hatte er große Träume. Und jetzt wollte er dem neuen Monarchen von Morgravia eine Lektion in Herrschaftsangelegenheiten erteilen. Lothryn schüttelte den Kopf. Wenn sie tatsächlich versuchen wollten, den Süden einzunehmen, dann sollten sie seiner Meinung nach zuerst das schwächere Briavel angreifen, um so Morgravia geschickt einzukreisen. 229
Er schüttelte erneut den Kopf, um die Kriegsgedanken zu verscheuchen. Im Moment wollte er nur aus Morgravia verschwinden und zurück in die Berge eilen, wo schon bald sein Kind auf die Welt käme. Er beobachtete Koreldy, der in der Kälte auf und ab schritt, und lächelte über dessen Unbehagen. Anscheinend war der Mann während seiner Zeit im Süden weicher geworden. Eine junge Frau kam auf ihn zu. Lothryn hatte sie nie zuvor
in Yentro gesehen, aber das war nicht unbedingt überraschend. Sie ist liebreizend, dachte er, klein, aber fein. Er grinste in sich hinein. »Los«, murmelte er leise, als die junge Frau stehen blieb, um mit Romen zu sprechen. Lothryn drehte sich um, fing den Blick seiner Begleiter auf und nickte. Es war an der Zeit, ihrer Beute zu folgen. 230 22
E LSPYTH TAUCHTE hinter dem Mann auf, den man ihr beschrieben hatte. Sie hatte ihn eine Zeit lang beobachtet und sich gefragt, was er wirklich von ihrer alten Tante wollte. Seine Geschichte war ein Trick, da war sie sicher, doch ihre begabte Tante hatte den Namen Thirsk wiedererkannt, war überrascht gewesen und hatte augenblicklich zugestimmt, den Fremden zu treffen. Weshalb sie selbst so argwöhnisch war, konnte sie nicht sagen. Ihre Tante hatte gerade erst die lange Rückreise in ihre Heimat angetreten. Sie war schwach und zerbrechlich, und Elspyth war müde. Sie hatte genug vom Jahrmarkt und dem mühsamen Leben auf der Straße. Sie liebte den rauen Norden, und Yentro schien allein in der kurzen Zeit, die sie fort gewesen waren, doppelt so groß geworden zu sein. Sie war nicht sicher, ob der Süden wusste, wie sehr dieser Ort aufblühte, und Elspyth wollte hier sein, um es zu genießen. Sie liebte ihre Hütte am Fuß des Gebirges und störte sich meist nicht an dem einsamen Leben, obschon sie davon träumte, eines Tages eine Familie zu haben. Warum habe ich nur das Gefühl, dass dieser Fremde uns Scherereien bringen wird?,
dachte sie, als sie auf ihn zuging. »Koreldy?«, fragte sie. 230
Er drehte sich um und blickte von seiner stattlichen Höhe auf sie herab. Ihre Freundin hatte bei ihrer Beschreibung nicht übertrieben. Elspyth spürte, dass vor ihr ein Mann stand, der die Gesellschaft von Frauen genoss. »Ihr seid die Nichte?«, erkundigte er sich freundlich. Sie nickte. »Vielen Dank für Euer Kommen«, sagte er und verbeugte sich. Elspyth würde sich nicht von seinem Charme bezirzen lassen. »Folgt mir.« »Ist es weit?«, rief er ihrem Rücken zu, denn sie hatte sich bereits umgedreht und war losgegangen. »Warum? Seid Ihr lahm?« Sie wollte nicht unhöflich sein, doch sein gelassenes Lächeln stand in vollkommenem Widerspruch zu ihrer Laune. Er nahm es ihr jedoch nicht übel - sondern lachte sogar. »Nein. Nein, das nicht, aber ich bin verletzt.« Sie wandte sich mit einem erstaunten Gesichtsausdruck um. »Ich bin von einigen Straßenräubern verprügelt worden. Es sind meine Rippen«, erklärte er. »Unsere Hütte liegt am Fuß des Gebirges.« Wyl war nicht schlauer als zuvor, begehrte allerdings nicht weiter auf. »Ich werde es sicherlich schaffen.« Sie gingen in Richtung Norden aus Yentro hinaus und hielten sich dann ostwärts. Wyl bereute, nicht wenigstens seine Messer bei sich zu tragen, aber er
hatte nicht damit gerechnet, die Stadt zu verlassen. Elspyth schritt voraus, doch er holte sie mit Romens langen Beinen allmählich ein, bewunderte währenddessen ihren wohlgeformten Hintern und die Art, wie sie die Hüften beim Gehen wiegte. Schließlich war er neben ihr. 231
»Noch eine Meile«, warnte sie ihn. »Wann seid Ihr heimgekehrt?«, fragte er, hauptsächlich, um ein Gespräch zu beginnen, merkte dann jedoch, dass es ein Fehler war. Sie funkelte ihn zornig an. »Woher wisst Ihr, dass wir fort waren?« Ja, wie konnte Romen davon wissen ? Dummkopf! »Äh ... ich habe Eure Tante auf dem morgravianischen Turnier gesehen.« »Oh?« »Sie hat sich dort mit einem Freund von mir getroffen«, fügte er hinzu und hoffte, dass es reichte. »Meine Tante erkrankte am Abend des Turniers. Am nächsten Tag haben wir die lange Heimreise angetreten.« »Nun, das hier ist eine wunderschöne Gegend«, sagte Wyl und versuchte, die Unterhaltung von diesem ungewöhnlichen Tag fortzulenken. »Ich kann verstehen, warum Ihr wieder nach Hause wolltet.« »Wirklich?« Er nickte. »Ich mag die Städte selbst nicht besonders.« Es kam ihm vor, als sei das der erste ehrliche Satz seit Tagen. Elspyth schwieg, und Wyl hatte schon bald wieder mit sich zu kämpfen. Der Schmerz war zurückgekehrt. »Was ist das?«, fragte sie, als sie sich zu Wyl umdrehte, der am Straßenrand stehen geblieben war, um sich etwas aus einer Flasche in den Mund zu träufeln. »Etwas, um den Schmerz zu stillen.« Er zog eine Grimasse, als das scheußlich schmeckende Gebräu seine Kehle hinabglitt. Bei seinem Gesichtsausdruck legte sie die Stirn in Falten. 231
»So schlimm?« Er nickte. »Darf ich mal?«, fragte sie und streckte die Hand aus. Wyl reichte ihr die winzige Flasche, und sie roch an dem Inhalt. »Starkes Zeug. Ich habe etwas anderes, das Euren Magen weniger angreifen wird. Vielleicht wollt Ihr es ja mal probieren.« Er nickte dankbar, als seine Augen das strohgedeckte Dach einer Hütte ausmachten, die teilweise hinter einem Hügel und ein paar Bäumen versteckt lag. Es schien, als meinte es Shar gut mit ihm. Sie waren da. Elspyth führte ihn aus dem grellen Sonnenlicht, das für den Norden eigentümlich war, in die Dunkelheit eines kleinen Häuschens. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und zeigte auf einen sauberen Tisch und Stühle. Die junge Frau verschwand im hinteren Teil der Hütte und tauchte einige Augenblicke später wieder auf. »Meine Tante wird Euch jetzt empfangen.«
Wyl hatte nicht bemerkt, dass er vor Anspannung die Luft angehalten hatte. Er folgte Elspyth in das hintere Zimmer, das sogar noch dunkler war, und der vertraute Duft von Räucherstäbchen versetzte ihn zurück in das Zelt der Seherin auf dem Jahrmarkt. »Willkommen«, krächzte die alte Frau. Wyl verbeugte sich höflich vor der Witwe Ilyk, obschon sie blind war. Aus irgendeinem Grund glaubte er, sie würde seine guten Manieren in jedem Fall spüren. »Elspyth, meine Liebe. Würdest du uns bitte etwas Wein holen?« Ihre Nichte warf Wyl einen kurzen Blick zu, als sie aus dem Zimmer ging. Ihr finsterer Gesichtsausdruck sollte ihn 232
wohl warnen, die alte Frau nicht unnötig zu ermüden. Mit anderen Worte: Beeil dich! Andererseits schickte ihre Tante sie offensichtlich Wein holen, um einige ungestörte Minuten mit ihm zu haben. »Es ist nett von Euch, mich zu empfangen, Witwe«, sagte Wyl. Die alte Frau schwankte ein wenig, während ihre weißlichen Augen über seine Schulter hinwegstarrten. »Euer Name ist mir nicht bekannt, Romen Koreldy, aber ich kenne Wyl Thirsk. Diesen Mann umgab eine Aura.« Wyl spürte, wie ihn ein Frösteln überkam. Sie war ganz offensichtlich keine Hochstaplerin. »Keine Aura um mich?« »Nicht, dass ich sie wahrnähme«, sagte sie, und ein leises Lächeln umspielte ihren Mund. »Woher kommt Ihr?«, fragte sie. »Grenadyn, Madam«, antwortete er. »Ursprünglich«, fügte er wahrheitsgemäß hinzu. »Ja, ich höre ein leichtes Trällern in Eurer Stimme. Eine angenehme Stimme, die zu einem gut aussehenden Mann gehört, so wurde mir berichtet«, sagte sie und bekam beim Schmunzeln Lachfältchen um die Augen. »Das liegt im Auge des Betrachters, Madam«, erwiderte Wyl. »Ihr habt anscheinend einen weiten Weg auf Euch genommen, um mich zu finden. Wie kann ich Euch helfen?« »Berührt meine Hände«, schlug Wyl vor. »Warum?« »Macht Ihr das nicht so?« »Manchmal. Bisweilen höre ich einfach zu.« 232
»Wem?« »Oh, den Stimmen um die Person; der Aura, die den Menschen umgibt. Ich mag hinzufügen, dass Ihr mir verschlossen bleibt.« »Bitte, nehmt meine Hände«, forderte er sie auf. »Wenn Ihr es wünscht«, stimmte sie zu und beugte sich vor. »Ich nehme an ...« Bei der Berührung vergaß sie augenblicklich, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Stattdessen stieß sie ein entsetztes Keuchen aus. »Witwe Ilyk?«
Jetzt zitterte sie. Er spürte ihre Angst unter seinen Fingern und sah, wie die Kleidung an ihrem zerbrechlichen Körper bebte. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte keinen Ton heraus. »Witwe Ilyk!«, wiederholte Wyl erschrocken. »Ihr seid es«, sagte sie im Flüsterton. »Es ist eingetreten, Wyl Thirsk.« Erleichterung durchflutete ihn. »Ihr erinnert Euch.« Ein Hauch von Traurigkeit lag in seiner Stimme. »Ich könnte Euch niemals vergessen. Wann?« Wyl erzählte ihr, was geschehen war. »Ein Fluch oder ein Geschenk, Wyl Thirsk?«, wollte sie wissen. »Ich bin nicht sicher. Es hat mir das Leben gerettet, aber gleichzeitig wurde ein anderes genommen.« »Er hätte Euch auf jeden Fall getötet.« »Das stimmt. Er war, glaube ich, ein guter Mann.« »Ihr werdet ihn zu einem besseren Menschen machen«, tröstete sie ihn, da sie seinen Kummer spürte. »Ihr habt mich ausfindig gemacht, da Ihr Fragen habt.« »Ja.« 233
»Ich werde sie Euch so gut wie möglich beantworten, doch ich warne Euch, ich weiß nicht viel.« Er nickte. »Seid Ihr eine Hexe?« Sie kicherte. »Nein, mein Junge. Ich habe keine magischen Kräfte. Nur das zweite Gesicht.« »Aber Ihr verkleidet Euch absichtlich als Hochstaplerin?« Die alte Frau zuckte die Achseln. »Ich kann nicht riskieren, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ihr habt das Leiden all jener mit eigenen Augen gesehen, die dieser Kräfte beschuldigt werden. Diese dunklen Zeiten liegen jetzt hinter uns, Shar sei gedankt, doch ich finde es immer noch leichter, mein Talent zu verbergen, als es offen zur Schau zu stellen. Wenn Menschen glaubten, ich könnte tatsächlich ihr Leben vorhersehen, würden sie mich wohl dafür fürchten, was ich ihnen sagen könnte. Sie wollen lieber glauben, dass die Wahrsagerei bloß ein harmloser Spaß ist.« Wyl verstand. »Sagt mir, was die Verwandlung ist.« Die Witwe seufzte, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und ließ seine Hand los. »Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich kann es nicht so beantworten, wie Ihr das gerne hättet. Alles, was ich Euch erzählen kann, ist, dass es keine Reue, kein Mitgefühl kennt ... und Ihr keinerlei Kontrolle darüber habt.« »Kann ich es wieder loswerden?« »Nein.« Sie hatte nichts hinzuzufügen. »Also werde ich für mein restliches Leben Romen Koreldy bleiben«, murmelte er. Es war keine Frage. Er verspürte große Trauer, und trotzdem hatte er tief in seiner Seele nichts anderes erwartet. 233
»Ich verfüge nicht über das Wissen, das zu bestätigen oder abzustreiten«, sagte sie bekümmert.
Wyl stand auf und schritt in dem winzigen Zimmer auf und ab. Er wagte nicht, sofort etwas darauf zu erwidern. »Elspyth!«, rief die Witwe, und ihre Nichte erschien im Türrahmen. »Bring den Wein, meine Liebe.« Die junge Frau kam mit einem Tablett in den Raum. Nachdem sie es abgestellt hatte, verschwand sie stillschweigend. »Trinkt!«, befahl die Seherin. »Er wird helfen.« Wyl stürzte den süßen Wein hinunter und genoss das Gefühl der zuckerigen Wärme. Die Witwe hatte recht, das Getränk beruhigte ihn. »Warum hat Myrren mir das angetan?« »Ich nehme an, sie hat etwas in Euch gesehen, Wyl. Vielleicht ein Bedürfnis? Ein brennendes Verlangen? Wer weiß das schon? Es könnte sogar sein, dass sie etwas von Euch wollte ... womöglich sollt Ihr etwas erreichen.« »Alles wegen einem Schluck Wasser«, sagte er und lachte traurig in sich hinein. »Da muss noch mehr dahinterstecken, aber was es ist, kann ich nicht erraten.« Wyl nippte weiter vom Wein. Die Mischung aus Alkohol und Heiltrank machte ihn langsam benommen. Er setzte sich wieder. »Erzählt mir von dem Hund.« Sie formte mit dem Mund einen kleinen Kreis, als hätten sie gerade ein geheiligtes Thema angeschnitten. »Er ist sehr mächtig.« »Ist er verzaubert?«, fragte Wyl und versuchte, es wie die vernünftigste aller Vermutungen klingen zu lassen. »Nicht er selbst.« 234
»Was wollt Ihr damit sagen?« »Er ist ein Sprachrohr für Magie.« Wyl verstand ihre Worte zwar nicht, drängte die Witwe jedoch fortzufahren. »Was noch?« »Behaltet ihn in Eurer Nähe. Das habe ich Euch schon einmal gesagt. Ich habe es damals ernst gemeint und tue es heute immer noch.« »Und der Junge?« »Seltsam.« »Er ist seltsam?«, fragte sich Wyl laut. »Nein. Es ist seltsam, dass ich ihn nicht lesen kann. Ein vielschichtiges Kind mit einem klugen Verstand. Er ist sehr empfänglich für Magie, obwohl er das nicht weiß. Aus diesem Grund hat der schwarze Hund ihn ausgewählt. Vertraut dem Jungen. Allmählich versteht er Knave ... und Euch.« Sie klang, als fiele sie in eine Trance, doch Wyl bedrängte sie weiter. Er fürchtete sich, war jedoch gleichzeitig fest entschlossen, jede noch so kleine Information aus ihr herauszupressen. »Meine Schwester, sie ...« »Schwebt in großer Gefahr. Ihr glaubt, Ihr habt sie gut versteckt, aber er wird sie finden.« Wyl war verblüfft. Woher konnte sie all das wissen? Er war auf einmal zornig, wollte etwas gegen die Wand werfen, auf sie, gegen die dumme Hütte ... Ylena war in Sicherheit ... bei Bruder Jakub. Jetzt hörte sich die Stimme der Frau verträumt an. »Jakub kann weder sie noch sich selbst beschützen«, leierte sie. »Und die andere Frau - die Königin. Sie ist stark, aber ihr Reich ist schwach. Es macht sie verletzlich.«
Das war für Wyl keine Offenbarung, doch es erschreck 235
te ihn trotzdem, dass sie es laut aussprach. »Ihr dürft mit niemandem darüber reden«, warnte Wyl sie. »Ich bin nur eine Schaustellerin auf dem Jahrmarkt«, sagte die Frau, die nun konzentrierter wirkte. »Niemand nimmt mich ernst.« »Gibt es jemanden, der mir helfen kann?«, fragte er verzweifelt. »Sucht Myrrens Vater auf!« Ihre Stimme war schroff. Auf einmal klang sie tiefer. »Den Arzt?« »Nein! Er ist nicht ihr richtiger Vater«, sagte die dunkle Stimme verärgert. »Sucht den Hexer auf.« Wyl spürte, wie sich die Welt um ihn herum drehte. Das war zu viel. Er wollte gerade noch mal nach dem Vater fragen, als sie plötzlich schrie: »Wyl! Hütet Euch vor dem Barbaren! Er kennt Euch. Er kommt... er wird Euch holen ... wird Euch holen ...« Ihre Stimme verhallte zu einem Flüstern, und dann schien die Witwe ohnmächtig zu werden. »Elspyth!«, brüllte Wyl. Die Frau kam ins Zimmer gerannt, beugte sich über ihre Tante und hob ihre geschlossenen Augenlider an, bevor sie die kühlen Hände der alten Frau rieb. »Sie verbietet mir, diesem Treffen beizuwohnen, aber seht Euch nur an, was es mit ihr anstellt. Es zehrt an ihren Kräften. Eines Tages wird es sie umbringen. Rasch, helft mir mit dieser Decke ... sie friert.« Wyl kam ihrer Bitte nach, und gemeinsam wickelten sie die ausgezehrte alte Frau in einen dicken Wollschal. »Wird sie sich wieder erholen?« »Das hoffe ich. Dieses Mal ist sie zu weit gegangen, hat zu viel sehen wollen. Sie wird nun einige Stunden schla 235
fen«, antwortete Elspyth nüchtern. »Sie wird Euch nichts weiter geben können«, fügte sie hinzu, und es klang, als wolle sie ihn herausfordern. Wyl schluckte. Die Witwe hatte ihm schon viel verraten, und nichts davon war erfreulich. »Sie ist wirklich eine Seherin«, sagte er, nickte und sah ein wenig ehrfurchtsvoll zu der winzigen Frau, die in einen Kokon aus Decken eingewickelt war. »Und wenn Ihr das jemals außerhalb dieses Zimmers behaupten solltet, werde ich Euch zur Verantwortung ziehen, Koreldy«, flüsterte Elspyth. »Denkt daran, dass Ihr es wart, der sie aufsuchte.« Auf einmal war ihm schwindlig. »Ich hätte den Wein nicht auf die Medizin trinken dürfen«, sagte er und suchte nach Halt. Elspyth packte ihn. »Ihr solltet an die frische Luft«, schlug sie vor, erpicht darauf, ihn bald loszuwerden. Als sie hinaus unter einen dunkler werdenden Nachmittagshimmel traten, wurde Wyls Welt zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage schmerzhaft schwarz. Der Stock traf ihn so hart, dass er nicht einmal die Zeit hatte zu reagieren ... oder Elspyth rufen zu hören. Es spielte auch keine große Rolle, denn ihr Schrei wurde so rasch abgeschnitten, wie er sich in ihrer Kehle
gebildet hatte. Der Schlag des Mannes war derart fest, dass sie bewusstlos war, noch bevor sie neben dem bäuchlings liegenden Romen Koreldy zu Boden ging. »Nehmt beide mit«, sagte Lothryn, der bedauerte, dass sein Gefährte die Frau geschlagen hatte. »Wir reiten sofort zur Feste.« 236
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CELIMUS WAR NICHT NUR von der Frau und ihrem kriecherischen Verhalten, sondern auch von ihren lächelnden Eltern und wissenden Blicken gelangweilt. Glaubten sie tatsächlich, dass ihre Tochter in seinem Leben eine Rolle spielen würde? Narren! Sie war nichts weiter als eine billige Ablenkung. Und jetzt hatte sich der Reiz des Neuen verflüchtigt. Er schob sie fort. »Lass mich in Ruhe!«, befahl er, ohne ihren Schmollmund zu beachten. »Sofort!«, schrie er, als sie sich nicht augenblicklich bewegte, und es bereitete ihm Freude, Angst in ihrem Gesicht aufblitzen zu sehen, während sie ihre Kleidung zusammensammelte und floh. Schon bald würde Jessom kommen - ein Mann, den Celimus in die neu geschaffene Position des Kanzlers berufen hatte. Der Mann in mittleren Jahren war vor einigen Wochen in Stoneheart aufgetaucht und hatte seine Referenzen für eine Stellung beim König vorgelegt. Celimus interessierte sich nicht für Jessoms Vergangenheit - die mehr als fragwürdig war -, sondern nur für seine kompromisslose Bereitschaft zu dienen, und er hatte bereits bewiesen, dass er einen aalglatten, gerissenen Verstand besaß - und den Hang zur Intrige. 236
»Soll ich ihre Sachen zu ihrem Familiensitz zurückschicken lassen, Sire?«, fragte Jessom, während er ein Tablett mit süßem Gebäck und dem Lieblingssaft des Königs aus der Parillionfrucht absetzte. Er war gekühlt, genauso, wie Celimus es mochte. »Ich habe mir die Freiheit erlaubt, dem Diener zu sagen, dass ich Euch Euer Frühstück bringe«, sagte er als Erklärung und war nun damit beschäftigt, die Vorhänge am Bett des Königs zurückzubinden. Celimus fühlte sich geschmeichelt, dass Jessom seine Bedürfnisse so rasch verstanden hatte. »Ja, bitte. Sie ödet mich an. Entzieht ihr länger das Besuchsrecht.« »Wie Ihr wünscht, Sire. Ich werde Euch in Kürze in Eurem Arbeitszimmer sehen, Majestät«, sagte der Kanzler und ging zur Tür. »Nein, wartet. Nun erzählt schon, was gibt es für Neuigkeiten aus Briavel?«, fragte Celimus, ohne jedoch welche zu erwarten. Er erhob sich und schlüpfte in einen Morgenrock, den Jessom für ihn aufhielt. »Keine Veränderungen, Majestät. Unser zweiter Bote ist mit denselben höflichen Worten zurückgeschickt worden. Ihre Majestät, Königin Valentyna, dankt Seiner Majestät, König Celimus, aus vollem Herzen ... blablabla.« Celimus hätte beinahe gelacht. Jessom hielt stets Maß. Er wusste genau, wann er sich Freiheiten herausnehmen durfte und wann er den unterwürfigen Höfling spielen musste. »Was haben sie vor, Jessom?«
»Das ist bloß meine Meinung, Sire, aber ich denke, sie möchte Euch auf Abstand halten.« »Sind meine Avancen ihr derart zuwider?« »Ja, Sire«, erwiderte er und reichte seinem König einen Becher mit Saft. 237
Celimus schritt zum Fenster und nippte gedankenvoll. »Weshalb? Sie hat mich nur ein einziges Mal getroffen, und damals war sie ein kleines Kind.« »Ich vermute, dass unser geliebter verstorbener General etwas mit ihrer Einstellung zu tun haben könnte, Sire.« »Nein, das glaube ich nicht. Meinen Quellen zufolge hat Wyl die Erlaubnis ihres Vaters errungen.« »Aber er hat nicht ihre gewonnen, Majestät«, warnte ihn Jessom. »Weil er die Angelegenheit nicht mit ihr besprochen hat«, hielt Celimus ihm entgegen. »Das hätte er vielleicht tun sollen, Sire«, sagte Jessom, verbeugte sich höflich und bot dem König den Teller mit den Süßspeisen an. Celimus winkte ab. »Das stimmt. Doch das spielt sicherlich keine große Rolle?« Der Mann zuckte mit den Schultern, und Celimus bemerkte, dass Jessom ganz augenscheinlich noch mehr zu dem Thema zu sagen hatte, sich jedoch zurückhielt. »Sprecht offen.« »Nun, die junge Frau ist jetzt die Königin, Sire ... und es gibt keinen König oder Gatten, der ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Kein Vater, der etwas von ihr verlangen könnte. Sie ist die ranghöchste Entscheidungsträgerin im Reich. Ich denke, dass Valentyna wahrscheinlich ganz allein bestimmt, wen sie als Verehrer in Betracht zieht.« »Aber sie kennt mich überhaupt nicht!«, jammerte Celimus. »Ach, und genau das ist der Punkt«, sagte Jessom. Es war eine absichtlich vieldeutige Behauptung. Träge ordnete der Mann etwas auf dem Kaminsims und wartete auf die Antwort. 237
Celimus wusste, dass sein Diener wartete. Er dachte darüber nach, wie viel ihm die Meinung des älteren Mannes plötzlich bedeutete, und wünschte, er wäre weniger auf ihn angewiesen. »Erklärt, was Ihr damit meint, Jessom.« »Nur Folgendes, Sire: Vielleicht solltet Ihr Euch nicht länger auf Dritte verlassen. Geht selbst nach Briavel, Mylord. Präsentiert Euch. Eine Frau will umworben werden, Majestät. Gebt ihr das Gefühl, sie sei etwas Besonderes ... Begehrenswertes ... Geliebtes.« Jessom hatte sich nun für den Gegenstand erwärmt. Auf einmal war er der Lehrer, der seinen Schüler anleitete. »Hier handelt es sich nicht um eine Bettgespielin, Majestät. Sie ist Euch ebenbürtig. Sie ist das regierende Oberhaupt des Landes, das ihr zu beherrschen sucht. Ihr müsst eine sehr direkte Annäherung suchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau Eurem Aussehen oder Charme widerstehen kann, Sire. Setzt Eure Waffen gut ein. Wenn Ihr wollt, dass Valentyna Euch heiratet, fragt sie persönlich. Lockt sie mit Euren honigsüßen Worten und umwerfenden Geschenken. Bringt all die Pracht und Herrlichkeit Morgravias nach Briavel. Erlaubt ihr, Eure Stärke
zu sehen und macht Ihr deutlich, wie ihr eigenes Reich von dem heiligen Bündnis einer Heirat zwischen diesen beiden großen Nationen profitieren kann.« Er hielt nur lang genug inne, um Luft zu holen. »Sie will Frieden, Majestät, seid versichert. Ich nehme an, Valentyna ist bereits insofern beraten worden, dass es nur einen Weg gibt, ihn zu sichern. Aber sie spielt die kokette Jungfrau, Sire. Ihr müsst diese Frau standesgemäß umwerben.« Celimus war verblüfft und musterte den Mann eingehend. Jessom hatte recht. Briefe und Boten würden ihm 238
nicht weiterhelfen. Er, der König von Morgravia, musste die Sache selbst in die Hand nehmen. Jessom sprach weiter. »Neuigkeiten aus dem Norden besagen, dass das Gebirgsvolk immer kühner wird, Sire. Ich vermute, dass Cailech seine Muskeln spielen lassen und einen ersten Angriff außerhalb der Razors wagen wird.« »Das glaubt Ihr wirklich?« Der Mann nickte. Celimus wusste, dass diese Möglichkeit bestand. Abgesehen von den Berichten der Soldaten im Norden, die vom Herzog von Felrawthy angeführt wurden, hatte sein eigener Vater ihm die dringende Notwendigkeit aufgezeigt, die nördlichen Grenzen zu verstärken. Wochen vor seinem Tod hatte Magnus seinem Sohn in bestimmtem Tonfall geraten, dass Briavel nicht länger der Fokus Morgravias sein sollte. »Eine neue Bedrohung erhebt sich«, hatte er gewarnt. »Cailech wird in seiner Bergfeste allmählich ruhelos.« Celimus hatte dies natürlich längst gewusst, doch es war ihm recht, dass sein Vater glaubte, er habe keine Ahnung von den politischen Wirren in Morgravia und den Nachbarländern. In Wahrheit erzürnte es ihn, dass Cailech dem Wahn erliegen könnte, ein Weltreich zu errichten. Ein Barbar! Und was käme als Nächstes?!
Überdies ärgerte es Celimus, mit welcher Leichtigkeit Cailech und seine Männer nach Morgravia hinein- und wieder hinausschlüpften. Ein Teil von Gueryns Aufgabe bestand darin, die Wege aufzudecken, die sie benutzten -eine gefährliche Mission, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Es war die ganze Zeit über Celimus' Ziel gewesen, dass Gueryns Trupp gefangen genommen wurde. Seine neuesten Befehle für den Herzog von Felrawthy, je 238
den Bewohner des Gebirgsvolks zu töten, der auf der falschen Seite der Grenze gefunden wurde - eingeschlossen denjenigen, die unabsichtlich herübergestolpert waren -, war ein absichtliches Komplott, um den Zorn des Gebirgskönigs zu schüren. Felrawthy und die Legion hatten sich geweigert, unschuldige Frauen und Kinder niederzumetzeln, weshalb Celimus Söldner angeheuert hatte, die die öffentlichen Hinrichtungen vollzogen. Da Cailech von der grausamen Behandlung gehört hatte, die man seinem Volk angedeihen ließ, war Celimus sicher, dass der Gebirgskönig mit gleicher Brutalität zurückschlagen würde, fände man Morgravianer in den Razors. Alles war nach Plan verlaufen, und Celimus war hocherfreut, als das Gerücht zu ihm drang, Gueryn und seine Spione seien tatsächlich gefangen genommen und aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zu Futter für die Gebirgs-wölfe
verarbeitet worden. Doch noch etwas anderes entzückte ihn. Falls Cailechs Wut mit solch einfachen Mitteln wie dem Töten einiger seiner Berghuren und Bälger manipuliert werden konnte, wie leicht müsste es dann werden, den hitzigen König in einen Krieg gegen Morgravia zu locken - oder besser noch gegen Briavel. Sein verschlagener Verstand kreiste gierig um diese Idee. Wenn ein solches Unterfangen gelänge, könnte er bewerkstelligen, dass Morgravia zu Briavels Rettung käme und Briavel dadurch tief in der Schuld seines Nachbarn stünde. Celimus war vollkommen sicher, dass seine Legion mehr als fähig war, gegen jede Armee, die Cailech über die Grenze brachte, zu obsiegen. Und er war überzeugt, Briavel in seinem momentan geschwächten Zustand zermalmen zu können. Mit diesem gerissenen Plan hätte er mit einem Schlag 239
zwei Monarchen vernichtet und wäre der Notwendigkeit einer Ehe entronnen. Allerdings gab es keine Einwände gegen einen Ersatzplan, und es wäre klug, die Verbindung mit Briavel und die anschließende Machtergreifung auf jeden Fall im Gedächtnis zu behalten. Jessoms Räuspern riss den König aus seinen verschwörerischen Überlegungen. »Ich werde Briavel einen Staatsbesuch abstatten«, sagte Celimus entschlossen, »aber ich werde nicht die Legion mitnehmen. Lasst uns zwanglos vorgehen. Wir wollen die Königin doch nicht erschrecken. Stattdessen müssen wir die Überwachung der nördlichen Grenze verstärken.« Jessom nickte, und Celimus hasste sich selbst, als er merkte, dass die Zustimmung des Mannes ihn mit Stolz erfüllte. »Ihr trefft eine weise Entscheidung, Sire«, sagte Jessom. »Möchtet Ihr, dass ich die Vorbereitungen in die Wege leite?« Celimus war froh, wieder das Kommando übernehmen zu können. »Ja, fangt an, aber haltet mich auf dem Laufenden. Ich möchte so rasch wie möglich abreisen.« »Ich werde einige Tage brauchen, Sire.« »Wie Ihr meint«, sagte der König und machte eine lässige Handbewegung, als sei es ihm vollkommen gleichgültig. Als sich Jessom verbeugte und schon zurückziehen wollte, ertönte ein Klopfen an der Tür. Einer der vielen Sekretäre des Königs erschien. Er flüsterte Jessom etwas ins Ohr, der daraufhin die Tür schloss. »Am Haupttor wurde etwas für Euch abgegeben, Sire.« »Und? Lasst es her aufbringen!« 239
»Anscheinend handelt es sich um etwas Grausiges, mein König. Sie wollten, dass ich zuerst Eure Zustimmung einhole.« »Grausig?« »Ein Behältnis mit einem Kopf, Sire«, erwiderte Jessom so gelassen, wie ein anderer eine Schachtel Gebäck angekündigt hätte. »Wessen Kopf?« Celimus zog den Morgenmantel aus und griff nach seiner Kleidung. »Das kann ich Euch nicht sagen, Majestät.«
Celimus schüttelte abwesend den Kopf. Seine Gedanken wirbelten wild herum. »Ich möchte den Kopf sehen.« »Wie Ihr wünscht, mein König. Ich werde mit Euch kommen.« Der Behälter wurde in den Privatgarten des Königs gebracht, den Magnus früher so leidenschaftlich gepflegt hatte. Celimus selbst gab sich kaum damit ab, doch da er wusste, was sich gehörte, hatte er ein Gespann Gärtner beauftragt, die sich um die Kunstwerke des verstorbenen Königs kümmerten. Die Schachtel wurde von einem peinlich berührten älteren Angehörigen der Garde vor ihm abgesetzt. »Wer?«, wollte Celimus wissen. Der Mann fuhr sich über die Lippen. »Sire, entschuldigt vielmals, aber ich kenne den Mann nicht.« »War der Lieferung ein Schreiben beigefügt?«, fragte Jessom und betonte seine Worte, als spräche er mit einem Tölpel. »Es tut mir leid, Mylord«, sagte die Wache, die absichtlich lieber seinen König anredete als den Neuankömmling, den die meisten hassten. »Sobald wir bemerkten, was sich 240
in dem Paket befand, hielten wir es für angebracht, uns nicht daran zu schaffen zu machen.« »Sehr gut«, sagte Celimus, den es schon längst nicht mehr interessierte. »Lasst mich den Kopf sehen.« Die Säcke wurden geöffnet, und der Mann griff vorsichtig hinein. Dann hob er Jericos Kopf heraus. Celimus hatte das Gefühl, ein Messer würde ihm im Magen herumgedreht. Romen war also entkommen. Dort draußen befand sich ein gefährlicher Mann, der von Celimus' Verrat wusste. Er merkte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, und war froh, Jericos Auftrag so geheim wie möglich gehalten zu haben. Er vermutete jedoch, dass Jessom nicht so unwissend war, wie er vorgab. »Prüft erneut, ob eine Nachricht beiliegt!«, befahl Jessom. Der Mann blickte in die Kassette, doch sie war leer. Celimus zwang sich, gespielt sorglos mit den Schultern zu zucken. »Und niemand hat eine Ahnung, wer das ist?«, erkundigte er sich. Die beiden anderen Mitglieder der Garde, die das Behältnis begleitet hatten, schüttelten ängstlich die Köpfe. »Nun, unser König kennt diesen unglückseligen Kerl nicht. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Streich. Werdet ihn los. Verbrennt ihn«, befahl Jessom. »Majestät, ich werde persönlich Erkundigungen über diesen beleidigenden Vorfall anstellen.« Celimus hatte sich bereits umgedreht und wollte weggehen. Zorn stieg in ihm empor, und der Parillionsaft schien in seinem Magen zu verklumpen. Außer Hörweite blieb er mitten in einem Innenhof stehen. »Jessom. Das war der Kopf eines Auftragsmörders, 240
den ich auf einen Abtrünnigen angesetzt hatte - einen gefährlichen Mann. Der Name des Abtrünnigen lautet Romen Koreldy.« Jessom hatte vermutet, dass Celimus genau wusste, wessen Kopf er gerade zu sehen bekommen hatte. Jessom selbst war der Mann fremd. Das war ärgerlich gewesen, doch er war froh, dass sich Celimus ihm nun anvertraute. »Ihr habt mir gegenüber den Namen Koreldy schon einmal erwähnt, Sire.« »Ja, er hat uns verlassen, kurz bevor Ihr zu uns gestoßen seid. Ich will Koreldy tot sehen, Jessom. Ich werde Euch persönlich damit betrauen. Heuert jeden an, den Ihr braucht, zahlt, was verlangt wird. Aber tötet ihn, und zwar rasch. Seid Ihr diesem Auftrag gewachsen?« Der Diener machte eine Geste, als würde ihm die Angelegenheit keinerlei Schwierigkeiten bereiten. »Natürlich, Sire. Ich werde mich darum kümmern. Ah ... darf ich einen Vorschlag unterbreiten, Mylord?« Celimus' Augen verengten sich zu Schlitzen. »Nur zu.« Wachsam blickte sich Jessom um. »Ich kenne jemanden. Einen überaus fähigen Spion, der sich für unsere Zwecke in jeden gesellschaftlichen Kreis einschleichen kann. Was Morgravia braucht, Sire ... was Ihr braucht, ist jemand, der Euch über alles Wichtige in Briavel auf dem Laufenden hält. Mit solchen Informationen könntet Ihr Euch in aller Ruhe auf den Norden oder andere privatere Angelegenheiten - wie etwa diesen Koreldy - konzentrieren.« »Um wen handelt es sich?« Der Diener legte den Finger auf die Lippen. »Das sollte am besten geheim bleiben. Je weniger Ihr darüber wisst, desto weniger Schaden kann der Krone erwachsen. Erlaubt 241
mir, dass ich mich darum kümmere. Ihr wisst dann nichts und könnt es ohne zu lügen bezeugen.« Celimus musste zugeben, dass Jerico recht hatte. »Und kann dieser Mann Romen Koreldy aufspüren? Sollte ich ihn darum bitten?« »Wenn Koreldy während der heiklen Verhandlungen nach Briavel kommt, so wird unser Spion davon wissen, sobald Koreldy den Fuß in das Reich setzt.« »Kann dieser Spion auch töten?« »Besser als jeder andere, Sire.« »Dann veranlasst es! Zahlt, was auch immer er verlangt!«, befahl Celimus, bevor er davon stolzierte. Jessom lächelte in sich hinein. Es war perfekt - Celimus nahm an, bei dem Spion handele es sich um einen Mann. Nun, das würde sie erfreuen - ebenso wie ihr neuer Auftrag. 241
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ELSPYTH KAM als Erste wieder zur Besinnung. Als sie erwachte, befand sie sich auf einem Pferd, festgebunden an den Mann, der es ritt. Die Nacht war sternenklar und so kühl, dass sie augenblicklich wusste, nicht mehr in der Nähe ihrer Heimat zu sein. Nur im Gebirge war es derart kalt.
Sie hatte den Mann nicht gesehen, der sie geschlagen hatte, und wusste nicht, was das hier sollte, aber irgendwie erahnte sie, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Es lag an dem Fremden aus dem Süden - Romen Koreldy war schuld daran, dass sie auf dem Rücken eines Pferdes fror, an einen Mann gebunden war und ihr Weg immer höher und tiefer in die unwegsamen Razors führte. Elspyth hatte gespürt, dass Koreldy ihnen Schwierigkeiten bringen würde. Ihre Gedanken glitten zu ihrer Tante. Sie erinnerte sich, wie die alte Frau in einen tranceähnlichen Rausch gefallen war - das zumindest hatte Elspyth gehofft. Es war nicht genügend Zeit gewesen, um festzustellen, wie schlimm es diesmal um sie stand. Ihre Tante würde tief schlafen, wahrscheinlich die ganze Nacht und womöglich den Großteil des nächsten Tages. Sie würde erwachen und sich so schwach fühlen, dass sie wohl nicht gehen konnte. Sie 242
wäre eher durstig als hungrig, erschöpft und könnte sich kaum bewegen. Elspyth spürte, wie sich ihr Kummer in blanken Zorn verwandelte. Wie konnten sie es wagen! Wie konnten sie es wagen, ihr Land zu betreten, sie bewusstlos zu schlagen und dann wie irgendein Tier fortzukarren. Sie versuchte, alle Teile des Puzzles zusammenzusetzen. Warum waren sie nach draußen gegangen? Ah ja, natürlich. Dem Fremden war schwindlig geworden. Sie hatte befürchtet, er könne zusammenbrechen, und keine Lust gehabt, seinen schweren Körper in der Hütte herumzuschleifen. Deshalb hatte sie vorgeschlagen, nach draußen zu gehen, um ihn endlich von ihrem Besitz zu vertreiben. Wäre er im Haus zusammengebrochen, hätte sie sich um ihn kümmern müssen, und sie wollte nichts mit Koreldy zu tun haben. Elspyth sehnte sich derart nach männlicher Gesellschaft, dass sie sich oft fragte, ob sie je in den Genuss käme, mit einem Mann zu leben und ihn zu lieben. Die Ehe war ihr nicht so wichtig. Aber Familie schon. Abgesehen von ihrer Tante war sie allein. Wenn das alte Mädchen stürbe, hätte sie niemanden mehr. Nur noch sich und die Hütte. Das Häuschen mit einer Familie zu teilen das war ihre Vorstellung eines idyllischen Lebens. Ihre Freundin, die Masseurin, hatte Elspyth atemlos von ihrem Kunden erzählt. Aber nein, nicht Koreldy, obschon seine Augen anerkennend über ihren Körper geglitten waren; sie würde nicht riskieren, sich das Herz von einem Frauenheld brechen zu lassen. Verstohlen versuchte sie sich umzudrehen und nach ihm zu sehen. Ah, dort drüben; er war auf dem Rücken des Ersatzpferds festgebunden. Sie 242
fragte sich, ob auch er wieder bei Bewusstsein war - doch bei dem Schlag, der ihn getroffen hatte, war dies eher unwahrscheinlich. »Wenn Ihr wach seid, braucht Ihr Euch nicht mehr an mich zu lehnen«, knurrte der Mann vor ihr. Augenblicklich setzte sie sich auf. »Wer seid Ihr?« »Ich heiße Lothryn.« »Das sagt mir nichts«, erklärte sie. Daraufhin redete er kurz auf sein Pferd ein und ermutigte es, den höheren der beiden Pfade einzuschlagen, die sie gerade erreichten.
»Warum bin ich hier bei Euch?«, verlangte sie zu wissen. »Warum nicht?« »Ich meine, warum habt Ihr mich gegen meinen Willen hergebracht? Wir haben keinen Streit.« »Es sei denn, Ihr hört nicht auf zu meckern.« »Antwortet mir!«, sagte sie verärgert. »Ich wollte keine Zeugen zurücklassen.« »Nun, Ihr habt meine Tante zurückgelassen!« »Ich hatte nicht das Gefühl, ein Ritt ins Gebirge würde ihr zusagen.« »Nun, das trifft auf mich ebenfalls zu.« Er lachte und sagte nichts mehr. Sie sah, dass er zwei weitere Begleiter bei sich hatte. Es waren starke Männer -alle. Die Chancen für eine Flucht standen schlecht. Aber sie wollten Koreldy, nicht sie. Sie wagte einen beschwichtigenden Versuch. »Weshalb lasst Ihr mich nicht gehen? Ihr wollt doch nur ihn.« Er schwieg weiterhin. »Ich habe keine Besitztümer, kein Geld. Ich habe nichts, das für Euch von Wert ist.« Bei diesen Worten musste Lothryn tief glucksen. »Myrt 243
dort drüben würde das wahrscheinlich bestreiten«, erwiderte er. Jetzt war Elspyth an der Reihe zu verstummen. Eine solche Wende hatte sie nicht erwartet. Wie töricht war sie nur? Drei einsame Männer, noch dazu aus dem Gebirge. Warum nicht? Wen würde es schon kümmern? Auf einmal war Romen Koreldy der einzige Freund, den sie hatte. Lothryn schien ihre Gedanken zu lesen. »Keine Sorge. Niemand wird Euch ein Haar krümmen. Jedenfalls noch nicht.« »Wann dann?«, wagte sie zu fragen. »Erst... und nur dann, wenn Cailech es gestattet.« Elspyth wurde still. Cailech! Der König des Gebirgs-volks. Sie wollte glauben, er sei nur Stoff, aus dem Legenden gesponnen wurden. So viele Geschichten drehten sich um diesen Mann. Niemand in Yentro hatte ihn je zu Gesicht bekommen, aber andererseits: Wie hätten sie es merken sollen, falls sie ihm doch begegnet waren? Immer mehr Menschen seines Volkes ignorierten die Soldaten der Legion und fanden einen Weg in die Grenzstädte. Sie hatte selbst gesehen, wie sie dreist in Yentro ein und aus gingen. Sie blieben unter sich und bereiteten keine Schwierigkeiten, weshalb sich die Leute im Norden allmählich an diese Männer gewöhnten. Vertrauen war nicht das richtige Wort, doch ihr Gold war in den Schänken und bei Kaufleuten so gern gesehen wie das jedes anderen. Das Interesse der Gebirgsleute galt dem Handel; sie verkauften ihre Felle und Pelze, Gerätschaften und Schmuck. Nach allem, was sie wusste, könnte sich selbst Cailech unbemerkt in den Grenzstädten bewegen, ohne dass ihn jemand erkannte. Wie recht sie mit dieser Annahme hatte! 243
»Vergebt mir«, sagte sie und war trotz ihrer gefährlichen Lage fasziniert. »Mir war nicht klar, dass es ihn wirklich gibt.«
Lothryn schnaubte verächtlich. »Das könnt Ihr mir glauben.« Wyl war es leid, bewusstlos geschlagen zu werden. Dieses Mal ließ er sich nicht anmerken, dass er wieder zu Sinnen gekommen war. Es war Nacht, sehr kalt, und er lag auf dem Boden; zum Glück befand er sich neben einem kleinen Feuer, doch seine Hände und Beine waren gefesselt. Er konnte erkennen, dass Elspyth an etwas nippte. Gedankenversunken starrte sie in die Flammen. In der Nähe hörte er Männer leise miteinander sprechen und fragte sich, wie viele es waren. In dieser liegenden Position würde er nichts herausfinden können, also verlagerte er sein Gewicht. Elspyth blickte zu ihm hinüber. »Na endlich!« »Mein Kopf schmerzt fürchterlich«, gestand er, woraufhin er eine Klinge am Hals spürte. »Ich kann nicht viel mehr tun, als hier herumzuliegen; ich habe keine Kraft«, sagte Wyl, und der Druck des Schwertes ließ nach. Dann wurde er in eine sitzende Position gezogen. Sein Kopf schwirrte immer noch vor Benommenheit. »Trinkt das hier«, sagte Elspyth und reichte ihm einen Becher. »Übrigens, das ist Lothryn.« Wyl blinzelte die Verschwommenheit fort und sah zu einem großen Mann mit breiter Brust, der ihn angrinste. Der Mann kam ihm bekannt vor. »Tut mir leid wegen des Knüppels. Ich glaubte nur, Ihr würdet nicht freiwillig mitkommen«, sagte er. 244
»Ihr hättet mich zuerst fragen können«, schlug Wyl vor. Lothryn nickte. »Ja, das hätte ich.« »Warum habt Ihr das Mädchen mitgenommen?« »Anscheinend wollte er keine Zeugen«, fiel sie ihm ins Wort. Wyl dachte an die Witwe und wusste, dass sich Elspyth schrecklich um sie sorgen musste. »Lasst sie laufen.« »Das geht jetzt nicht mehr«, gab Lothryn zu. »Keine Ersatzpferde, zu weit zu gehen, zu gefährlich - kann sie doch nicht im Gebirge sterben lassen, oder?« »Ich nehme an, das geht nur in der Burg«, konterte Wyl und entlockte dem Hünen ein Lächeln. »Schön, dass Ihr Euren Sinn für Humor nicht verloren habt, Romen«, sagte Lothryn. »Ihr kennt ihn?«, schleuderte Elspyth ihm entgegen. »Wir reiten nach Hause«, gestand er. »Wie nett für Euch beide!«, blaffte sie und war verärgert über die Art, wie der große Mann über ihre scharfe Zunge lachte. Wyl zermarterte sich das Gehirn, um irgendein Detail aus Romens Gedächtnis zu erhaschen. Nichts kam. Ein Gefühl der Vertrautheit umgab den Mann, aber sonst sprudelte nichts an die Oberfläche. Gleichzeitig beschlich ihn bei der Anspielung auf die Feste eine ungute Vorahnung. Wyl konnte nicht genau ausmachen, weshalb ihn auf einmal Angst ergriff, denn Romen hatte ihm damals den deutlichen Eindruck vermittelt, dass er und Cailech gut miteinander auskamen.
Elspyths Gesichtsausdruck war ebenso feurig wie die Flammen, die es erleuchteten. »Keiner von Euch sorgt sich wirklich um mich, also lasst mich gehen - ich werde mich 245
um mein eigenes Überleben kümmern, vielen Dank. Das Gebirge jagt mir keine Furcht ein.« »Das sollte es aber«, erwiderte der Mann. »Es tötet ohne Gewissensbisse.« Sie ließ sich davon nicht abschrecken. »Ihr wollt ihn!«, sagte sie und reckte das Kinn in Wyls Richtung. »Nicht mich. Ich muss nach Hause, um meiner Tante zu helfen.« Lothryn schüttelte traurig den Kopf. »Myrt hatte nach ihr gesehen. Sie lag im Sterben. Wahrscheinlich ist sie bereits tot.« Die Worte trafen sie wie ein Schlag. »Ihr lügt!«, fauchte sie. Er sagte nichts, sondern blickte sie nur mit dunklen Augen an. Sie ärgerte sich über sein Mitgefühl. Elspyth schleuderte den Inhalt ihres Bechers ins Feuer und verließ den Platz am Feuer. Sie würde ihnen nicht die Genugtuung verschaffen, sie in Tränen aufgelöst zu sehen. Myrt folgte ihr wie ein gehorsamer Hund. »Warum bin ich hier?«, wollte Wyl wissen. Lothryn warf ihm einen überraschten Blick zu. »Habt Ihr wirklich geglaubt, er würde uns erlauben, Euch zu sichten, ohne Euch zurückzubringen? Es war dumm von Euch, in den Norden zurückzukehren, Romen.« Wyl spürte erneut Angst in sich aufsteigen. Was war los? Dieser Kerl musste von Cailech sprechen. »Also hat Cailech meine Gefangennahme befohlen?«, fragte er. Sich so unwissend zu fühlen, war schrecklich. Lothryn nickte. »Und wie weit sind wir gekommen?« »Ihr wart fast zwei Tage bewusstlos. Es tut mir leid, wir haben Euch betäubt. Morgen erreichen wir die Höhle. Esst jetzt, wir haben Euch Euren Anteil aufgehoben.« 245
Zwei Tage. Eingerechnet der paar Tage, die er für die Strecke nach Yentro gebraucht hatte, entschied Wyl, musste die Schachtel mit dem abgeschlagenen Kopf bereits bei Celimus sein. Er lächelte in sich hinein, doch er fand dennoch wenig Genugtuung darin. Dieser Ausflug ins Gebirge könnte Valentyna ihr Reich kosten. Er musste fliehen ... und zwar schnell. Sie banden ihm eine Hand los, damit er essen und seine Notdurft verrichten konnte. Obwohl er die Nachwirkungen des Schlags immer noch spürte - die Beule an seinem Ohr war so groß wie ein Ei -, fiel er wieder in einen unruhigen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, sprach Elspyth kaum mehr als zwei Worte. Sie war tief in ihren unglücklichen Gedanken gefangen, und Wyl wusste, es war besser, sie nicht zu stören. Auch er musste sich einiges durch den Kopf gehen lassen und wollte nicht zuletzt von seinen Geiselnehmern so viel wie möglich über Cailech erfahren. Die Landschaft um ihn herum war ihm schmerzlich vertraut, und Wyl hielt erschrocken den Atem an. Er spürte, wie die Dunkelheit von Romens
Vergangenheit allmählich wich. Die Razors verdrängten sie, als würde mit jedem Schritt, der sie näher in Cailechs Gebirgsheimat führte, ein weiteres zerbrechliches Band, das dieses Geheimnis verschnürt hielt, zerrissen. Jessom wartete geduldig. Das Old Plough in Sheryngham war eine beliebte Taverne bei den Kaufleuten, die ihren Geschäften zwischen Morgravia und Briavel nachgingen. Sie war stets belebt, normalerweise voller Fremder und der ideale Ort, um sie zu treffen. Er aß, ohne auf seinen Gast zu warten. Sie würde sowieso einfach irgendwann 246
auftauchen - so wie das ihre Art war. Die Mischung aus gebratenem Fleisch und in Butter geschwenkten, pürierten Pastinaken war an diesem Abend köstlich, und er bestellte eine zweite Portion, um seinen Heißhunger zu stillen. Sie hatte den dünnen, drahtigen Mann nun schon eine ganze Weile im Visier und wusste, dass er sich nicht die Mühe machen würde, sich nach ihr umzusehen. Dennoch beobachtete sie ihn. Die Gepflogenheiten von Menschen zu kennen, bis hin zu ihren Ess- und Schlafgewohnheiten, war eine Übung, die in ihrem Gewerbe oft spöttisch belächelt wurde. Aber sie war gründlich und studierte ihre Auftraggeber ebenso sorgfältig wie ihre Opfer. Jessoms Nachricht war kurz und knapp gewesen. Er zog es vor, seine Anweisungen persönlich zu übermitteln, was die Annahme zuließ, dass er wohl jemanden umbringen und nicht einfach nur beschatten lassen wollte. Doch das war ihr egal. Solange er genügend Gold mitbrachte, hatte sie keine Bedenken. Sie kam nicht umhin sich zu wundern, wie viel Nahrung ein solch hagerer Mann in sich hineinstopfen konnte. Nachdem die zweite Portion bestellt und zur Hälfte verzehrt war, entschied sie, es sei an der Zeit. Heimlich berührte sie das falsche Haar in ihrem Gesicht und überprüfte, ob es noch immer richtig klebte, bevor sie an ihrer übel riechenden Pfeife sog, die ihr zwischen den Lippen hing, dann schlurfte sie zu seinem Tisch hinüber und setzte sich. Er blickte auf und ließ sich nicht von dem Gesicht beirren, das zu ihm hinabblickte. »Kann ich Euch ein Bier ausgeben?« Sie nickte. »Die Verkleidung ist beeindruckend. Ich habe den alten 246
Mann bemerkt«, sagte er, und in seiner Stimme schwang Anerkennung mit, »aber ich dachte, es wäre zu offensichtlich. Ich würde gerne wissen, wie Ihr in Wirklichkeit ausseht.« »Lasst uns übers Geschäft sprechen«, sagte sie mit tiefer Stimme, lächelte und entblößte schwarze Zähne. Er blinzelte, tupfte sich den Mund mit einem Leinentuch ab und schob seinen Teller weg. Das Bier wurde gebracht, und sie prosteten sich zu. »Auf den Erfolg«, sagte er. Sie setzte ihren Krug ab und leckte sich vorsichtig den Schaum von den Lippen, damit der sorgfältig angeklebte Bart, den sie eigens anfertigen und aus Rostrovo hatte schicken lassen, nicht verrutschte. »Um was handelt es sich bei dem Auftrag, und für wen arbeite ich?«
Jessom legte die Fingerspitzen aneinander und stützte sein schmales, glatt rasiertes Kinn darauf. »Für die höchstmögliche Instanz.« »Ich verstehe. Und das Geld?« »Am üblichen Ort hinterlegt. Dieses Mal drei Säcke, die, so will ich meinen, Euer Honorar mehr als decken werden.« Er grinste, und ihr fiel auf einmal auf, dass er wie ein Geier aussah. Sie lächelte nicht zurück. »Lasst besser mich das beurteilen«, sagte sie mit ihrer gekünstelten Stimme. »Wer ist es?« Jessom wurde ernst und instruierte sie. »Ein Adliger aus Grenadyn, der sich jedoch seit jüngster Zeit als Söldner verdingt. Seid gewarnt, er ist gut. Sein Name ist Romen Koreldy; er ist ein geschickter Schwertkämpfer und kluger Soldat.« 247
»Und wie kam es, dass er in Ungnade fiel?« »Er besitzt gefährliches Wissen, Wissen, das der Krone schaden könnte. Er hat außerdem den morgravianischen Oberbefehlshaber der Legion auf dem Gewissen, General Wyl Thirsk.« Bei diesen Worten hob sie die Augenbrauen. »Ich habe gehört, er sei unter dubiosen Umständen gestorben.« »Koreldy hat noch dazu ein Mündel der Krone entführt. Thirsks Schwester ist mit ihm verschwunden.« Sie ging nicht näher darauf ein. »Und wie lautet mein Auftrag?« »Wir glauben, er wird nach Briavel kommen, um Königin Valentyna aufzusuchen. Ich möchte, dass Ihr seine Ankunft überwacht. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, sollt Ihr ihn töten.« »Ich werde Zeit brauchen«, sagte sie und nippte erneut an ihrem Bier. »Wenn er so geschickt ist, wie Ihr sagt, benötige ich eine ausgeklügeltere Verkleidung. Ihr werdet Euch in Geduld üben müssen.« »Wie Ihr wollt. Ich habe Eure Methoden noch nie angezweifelt.« »Ihr habt mich auch noch nie jemanden im Namen eines Dritten töten lassen.« »Das stimmt. Werdet Ihr es tun?« »Beschreibt ihn mir.« Jessom kam ihrer Aufforderung nach. Er war ebenfalls ein erfahrener Menschenkenner, und bevor er sich beim König für die Stelle beworben hatte, die er nun bekleidete, hatte er einige Zeit das Kommen und Gehen in Pearlis beobachtet und ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet, was in und um Stoneheart geschah. Er hatte Romens An 247
kunft und seine anschließende Abreise beobachtet, obschon niemand, nicht einmal der König, davon wusste. »Ihr würdet mit Eurem Talent für Beschreibungen einen guten Spion abgeben.« Er nickte. »Vielen Dank.« Sie sog an der Pfeife und blies dann einen langen, dünnen Rauchfaden aus dem Mundwinkel. Beinahe hätte er über ihre Unverfrorenheit gelächelt. Die Nachahmung eines alten Greises war ihr perfekt geglückt. »Die Bezahlung«, sagte sie.
»Ja?« »Sie reicht nicht. Verdreifacht sie.« »Gütiger Shar! Seid Ihr verrückt?« »Nein. Er kann es sich leisten, und ich vermute, es gibt kein Grenze.« Jessom musterte den alten Mann mit den Augen der jungen Frau, die unter buschigen grauen Brauen hervorblitzten. Sie war die Beste und ein Vermögen wert. »Ich werde es in die Wege leiten.« »Versucht nicht, wieder Kontakt mit mir aufzunehmen«, warnte sie ihn. »Ich werde eine Zeit lang untertauchen.« »Wie werden wir von Eurem Erfolg erfahren?« »Ihr werdet es wissen, sobald der Auftrag erledigt ist«, sagte sie, erhob sich schwerfällig vom Stuhl - genauso, wie es ein alter Mann getan hätte - und furzte laut. Nur ein Mann, der in der Nähe beim Essen saß, nahm daran Anstoß, doch sie ignorierte sein Fluchen. Als sie aus der Gaststätte humpelte, sah sie sich nicht um. 248
Sie ritten hintereinander her - Elspyth saß nun vor Lothryn auf dem Pferd und zwängten sich durch die schmälsten Felsöffnungen hindurch. Auf einmal versank Wyl in einer Flut an Gefühlen. Er konnte sie an kein bestimmtes Ereignis festmachen, doch erneut spürte er, wie sich sein Innerstes zusammenzog. Es war Angst. Aber sie mischte sich mit Verzweiflung und Schuld. Diesmal verflüchtigten sich seine Empfindungen nicht, sondern verstärkten sich stattdessen bei jedem Schritt, den sein Pferd ihn näher zur Gebirgs-feste brachte. Der ansonsten schweigsame Myrt ahmte ein Tiergeräusch nach, das in den engen Felswänden widerhallte, wo wahrscheinlich Wachtposten weitergaben, wer angekommen war. Die fünf verließen den Pass und standen auf einmal direkt vor der unnachgiebigen, steilen Gebirgsfront von Cailechs Burg. Ihren Bewohnern war sie als Höhle bekannt, war jedoch in Wirklichkeit ein atemberaubendes Steingebäude, das aus dem umgebenden Fels gehauen war und wirkte, als klammerte es sich an die Steinklippe, auf der sich die Reiter nun befanden. Elspyth betrachtete ehrfurchtsvoll ihre Umgebung. Die drei Gebirgsmänner waren die Wirkung der Burg gewohnt und einfach nur froh, zurück bei ihrem Volk zu sein. Wyl hingegen beugte sich über sein Pferd und würgte fassungslos, als das Gewicht von Romens Geheimnis ihn überwältigte. Doch immer noch blieb ihm die Wahrheit verborgen. Ein Wirbelsturm verschwommener Gedanken traf ihn: widerwärtige Erinnerungen an unschöne Tode. Dann wurden sie genauso schnell fortgeweht, wie sie gekommen waren, und ließen ihn hilflos keuchend zurück. Er forschte tief 248
in seiner Verzweiflung nach, doch nichts offenbarte sich ihm - Romens Gedächtnis lieferte dieses Mal keine Antworten. Es war erschreckend. Wie konnte er den Schein aufrechterhalten, wenn er so wenig über die Vergangenheit des Mannes wusste und mit Leuten zusammen war, die sie anscheinend gut kannten? Er übergab sich erneut, wenn auch diesmal vor
Angst. Falls er die anderen mit seiner Verkleidung nicht blenden konnte, wären Ylena und Valentyna so gut wie tot, und alles, was ihm am Herzen lag, würde von dem Verrückten zerstört werden, der sich als König von Morgravia aufspielte. »Romen!«, rief Elspyth, schockiert über sein Benehmen. »Lasst ihn«, sagte Lothryn ruhig. »Dieser Ort, und besonders die Weinberge in Racklaryon, bergen für ihn dunkle Erinnerungen.« Sie drehte sich um und sah ihren Geiselnehmer an. Er war ein Mann weniger Worte, und dennoch spürte sie die Güte, die er geschickt hinter seinem schroffen Verhalten zu verbergen suchte. Sie war jetzt in seinen Augen zu sehen, und er sah erst Romen an, dann sie und schließlich weg. »Werdet Ihr es mir erzählen?«, fragte sie außerhalb von Romens Hörweite und war überrascht, als der Gebirgsmann antwortete. »Es hat hier in den Razors sinnlose Tode gegeben. Er macht sich dafür verantwortlich.« »Und ist er es?« »Ja«, erwiderte Lothryn, und sie wusste, sie würde nicht mehr aus ihm herausbekommen. »Und heute ist er zum ersten Mal zurück - hat er sich deshalb übergeben?« »Wahrscheinlich.« 249
Es hatte keinen Zweck, Romens Vergangenheit weiter zu verfolgen, doch nun, da sie Lothryn zum Reden gebracht hatte, wollte Elspyth nicht so schnell wieder aufgeben. »Habt Ihr Familie?« »Ja.« »Eine Frau?«, fragte sie. »Ich bin verheiratet. Unser Kind sollte schon auf der Welt sein. Er ist überfällig.« »Er?« »Sie ... mir ist das egal.« »Ihr klingt beunruhigt - seid Ihr es?« »Nein.« Erneut war sein Tonfall endgültig. Sie war erstaunt, ihm überhaupt so viel entlockt zu haben. Waren sie tatsächlich derart verschieden? Hier befolgte er die Befehle seines Anführers, aber tief in seinem Innern sorgte er sich um seine Familie. Legenden besagten, dass das Gebirgsvolk Kinder verspeiste. So riesig und einschüchternd, wie Lothryn sein mochte - das ahnte Elspyth -, wäre er wohl gleichzeitig der zärtlichste Vater, den man sich vorstellen konnte. Er winkte der Wache, die das wuchtige Fallgitter hochzuziehen begann, um ihnen Einlass zu gewähren. »Nur ein Weg hinaus?«, fragte sie. »Nur ein Weg hinein, kein Weg hinaus«, erwiderte Lothryn. Das mächtige Eisengitter kreischte. Die Pferde trabten in einen Innenhof. Die Größe der Burg war Ehrfurcht gebietend. Männer kamen ihnen entgegen. Einige, um die Pferde zu versorgen, andere, um die Gefangenen zu begleiten.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte Lothryn, sobald Wyl, blass und beschämt, zu ihnen aufgeschlossen hatte. Myrt war be 250
reits verschwunden. »Diese Männer werden Euch zu den Zimmern führen, wo Ihr Euch frisch machen könnt.« Wyl nickte, sagte jedoch nichts. »Ich hoffe, Eure Frau und Euer Kind sind wohlauf«, rief ihm Elspyth hinterher, doch er sah sich nicht um. Wyl bedachte sie mit einem fragenden Blick, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, Ihr habt einen Plan, wie Ihr uns hier rausbekommt?«, fragte sie. Die Wachen waren an seiner Antwort nicht interessiert und schoben sie weiter, tiefer in Cailechs Fänge. 250
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MAN FÜHRTE SIE in zwei getrennte, bewachte Kammern. Die Räume wurden von hohlen Tongefäßen beheizt, die halb so groß wie ein Mann waren und in denen kleine Feuer brannten. Der Rauch wurde durch raffiniert verborgene Abzugsrohre nach draußen geleitet. Freskomalereien schmückten die weiß getünchten Wände, und selbst die Decken waren mit Weinreben und kunstvollen Rahmenverzierungen bemalt. Tierhäute lagen auf dem Boden, und geschnitzte Betten wurden von gewebten Überwürfen, einfach und wunderschön in ihren hellen Farben, geschmückt. An einem solch unwirtlich wirkenden Ort wimmelte es von Schönheit. Wyl schlummerte ein wenig. Als er erwachte, machte er ausgiebig Gebrauch von dem frischen Wasser und der speckigen Seife, die man für ihn bereitgelegt hatte. Nachdem er Romens Haar gewaschen und fein säuberlich zurückgebunden hatte, kratzte er sich über die Bartstoppeln und wünschte, er könnte sich auch rasieren. Er hatte keine Möglichkeit, seine Kleidung zu säubern, also schob er einen Stuhl ans Fenster, das ihm einen atemberaubenden Ausblick über die hübschen Auen bis zu einem See bot. Ein Gefühl - es konnte nur von Romen stammen - sagte ihm, dass 250
die Wiesen zu einer Bucht mit einem Sandstrand führten. Warum spielte das eine so große Rolle für ihn? Wyl lehnte sich im Stuhl zurück, leerte sein Bewusstsein, wie Gueryn ihn das für den Schwertkampf gelehrt hatte, und ließ alles auf sich einströmen. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, damit Shar ihn zur Wahrheit über Romens dunkle Vergangenheit führte. Er saß eine Zeit lang da, ohne an irgendetwas zu denken. Ruhig und ohne festes Ziel starrte er auf etwas, von dem er wusste, dass es wichtig war. Es lag jenseits der Wiesen, aber vor dem Meer. Es entzog sich ihm, obwohl er spürte, wie verlockend nah er der Offenbarung war. Wyl vernahm ein Geräusch von weiter unten, das seine gespannte Suche nach Romens Vergangenheit störte. Er beugte sich aus dem Fenster und sah eine Gruppe Männer Weinfässer rollen. Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl plumpsen. Auf einmal raste sein Puls. Weinl Was hatte Lothryn vorhin noch gesagt? Es war in einem Nebensatz gefallen, allerdings bedeutungsschwanger, und es hing mit Wein zusammen. Ein Ort namens Racklaryon - das war es, und der Gebirgsmann hatte behauptet, dies
sei der Grund, weshalb Romen körperlich so stark reagiert habe, als er die Burg wiedersah. Wyl erinnerte sich jetzt, wie der Rest von Romen beim Klang des Ortes widerwillig aufbegehrt hatte. Warum nur? Racklaryon. Der Name war schmerzhaft vertraut, aber er konnte nicht sagen, weshalb. Wyl sprang von seinem Stuhl auf und rief die Wache herbei, die vor seiner Kammer stand. »Wo liegt Racklaryon?«, erkundigte er sich. Die Wache nickte. »Das Land beginnt hinter den Wiesen«, erwiderte er kurz angebunden. 251
»Vor dem Meer«, fügte Wyl hinzu. »Die Weingärten führen hinab zum Meer, ja.« Wyl spürte, wie sein Herz einen Satz machte. Weingärten. Er war nahe dran. »Darf ich dorthin?« »Ich werde nachfragen«, antwortete der Mann und ließ Wyl am Türrahmen stehen. Die Wache murmelte dann einem anderen Mann etwas zu, der gerade vorbeiging. »Wir warten«, rief er Wyl zu. Wyl kehrte in sein Zimmer zurück, und schon wenige Augenblicke später klopfte die Wache an seiner Tür. »Ihr dürft«, sagte er. »Danach werdet Ihr den König treffen.« Wyl nickte. Er brauchte jemanden, der ihm den Weg zeigte, und nahm an, dass man ihm nicht erlauben würde, sich frei zu bewegen. »Werdet Ihr mich begleiten?« »Ja. Ich werde mich um die Pferde kümmern.« Als sie die Tiere von der Burg wegführten, gab Wyl es auf, seinen Begleiter in ein Gespräch zu verwickeln. Die strenge Miene und einsilbigen Antworten auf seine höflichen Fragen ließen ihn verstummen. Jetzt ritten sie schweigsam in kurzem Galopp, wobei zwei weitere Männer die Nachhut bildeten. »Ich habe nicht die Absicht, mich aus dem Staub zu machen«, versicherte Wyl. »Befehl ist Befehl«, sagte die Wache. Der Ritt war angenehm und hellte seine Stimmung für kurze Zeit auf, und so traf ihn der Schock noch heftiger, als er einen ersten Blick durch einige Bäume auf die malerischen Weingärten von Racklaryon erhaschte. Er galoppierte darauf zu und preschte durch den Hain. Seine Eskorte folgte ihm ebenso schnell. Doch schließlich, 251
als Wyl die Reihen der prächtigen Weinreben sah, die hinab zu einer sandigen Bucht führten, war es selbst für Romens verschüttetes Gedächtnis zu viel. Der Anblick zerriss den dünnen Schleier, der Romens Erinnerungen von Wyl ferngehalten hatte, und das gesamte tragische Ereignis explodierte in seinem Bewusstsein, als würde sich die entsetzliche Szene vor seinem geistigen Auge erneut abspielen. Wyl sprang vom Pferd, fiel auf die fruchtbare Erde Racklaryons, und hier, auf den Knien, die Arme gen Himmel gestreckt und schreiend vor Verzweiflung, enthüllte sich Wyl die geheimnisvolle Vergangenheit des Söldners. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Fassung wiedergewann, und er war dankbar, dass seine Eskorte ihn schließlich vom Weinberg zerrte, zurück
auf sein Pferd zwang und ihn in seine Kammer brachte, wo er starr und benommen verharrte, bis sie ihn wieder abholte. Die Männer sprachen nur das Nötigste und baten ihn mitzukommen. Wyl war froh, dass sie seine Sprache benutzten. Ihre eigene war eine kehlige verfälschte Version einer uralten Sprache aus den Ländern im Nordosten, von wo die Vorfahren der Gebirgsleute ursprünglich stammten. Wahrscheinlich beherrschte Romen diese Sprache, aber er wollte sich nicht weiter in Romens Vergangenheit vertiefen. Was er heute erfahren hatte, hätte er am liebsten nie gewusst. Seine neue Eskorte trug wie die anderen Wachtposten nichts Wärmeres als Hemden und ärmellose Lederjacken über wollenen, weiten Hosen, die in feste Stiefel gestopft waren. Wyl hingegen war dankbar für die verschiedenen Lagen Kleidung, die er in Yentro angezogen hatte. Rasch 252
machte er sich nochmals zurecht, bis er anständig und präsentabel für den König aussah. In diesem Teil der Burg gab es keine Treppen, sondern sanft abfallende, kreisförmige Rampen, die sorgfältig in den Stein gehauen waren und die Stockwerke miteinander verbanden. In regelmäßigen Abständen hingen Leuchter an den Wänden, und Wyl vermutete, dass sie den ganzen Tag über angezündet blieben, da nur sehr wenig Tageslicht in diese riesigen, höhlenartigen Hallen sickerte. Schon bald verlor er die Orientierung. Die Männer begleiteten Wyl durch einen breiten dunklen Gang, der zu einer mächtigen Eichentür führte. Wachtposten standen entlang des Korridors, und zwei kräftige Männer traten zur Seite, als Wyl und seine Begleiter erschienen. Einer klopfte polternd gegen die Eichentür, die von innen geöffnet wurde. Cailech war offensichtlich ein vorsichtiger Anführer. Im Innern verlor der große Raum jegliche Düsternis. Riesige Fenster ließen strahlendes Sonnenlicht hereinströmen und boten einen malerischen Ausblick über den See, der Tausende Wasservögel beheimatete. Im Hintergrund erhoben sich schneebedeckte Gebirge, die sich zerklüftet bis ins Tal und seine Weiden erstreckten. Darüber thronte die Burg. Hochgewachsene Kiefern säumten die Hänge, und überall standen die Frühlingsblumen in voller Blüte. Wyl war von dem atemberaubenden Panorama wie verzaubert und musste blinzelnd in die gleißende Sonne und Farbenpracht sehen, als er aus dem dunklen Korridor trat. Das Zimmer, in dem er sich nun befand, war gewaltig. Eine vertraute Stimme begrüßte ihn aus einem der vielen 252
Winkel. »Romen Koreldy. Ts, ts, ts. Ich habe dir doch gesagt, was ich mit dir anstelle, wenn sich unsere Wege noch einmal kreuzen.« Wyl drehte sich nach rechts, wo Cailech, der König des Gebirgsvolks, gelassen in der Nähe eines offenen, riesigen Kamins stand, dessen steinerner Sims kunstvoll mit Tieren und Vögeln verziert war. Der leise Anflug eines Grinsens zuckte um den Mund des Mannes. Das helle Haar des Königs war lang und offen, und ein Lederband um den Kopf hielt die Strähnen locker aus seinem ovalen Gesicht zurück. Er hatte keinen Bart, doch Wyl vermutete, dass er sich
leicht einen wachsen lassen könnte. Cailech hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein Hemd anzuziehen, sondern trug nur eine Lederjacke auf der nackten Haut, die von Sonne und Wind angegriffen war. Seine Arme waren muskelbepackt und gingen in große, raue Hände über. Der König hielt ihm jetzt eine hin, wobei die Innenfläche nach unten zeigte, wie es bei den Gebirgsleuten Sitte war. Wyl trat vor und legte intuitiv seine eigene mit der Innenfläche nach oben gegen Cailechs schwielige Hand, die seine klein erscheinen ließ. Anschließend drehte er seine Hand um, um dem selbst ernannten König seinen Respekt zu erweisen. »Um bei der Wahrheit zu bleiben, Mylord Cailech, so habe ich nicht absichtlich Euren Weg gekreuzt. Ihr habt mich aus Morgravia entführen lassen.« Harte, undurchdringliche blassgrüne Augen musterten Wyl, als der die Schultern straffte. Einen Moment lang fürchtete er, der Mann könne ihn durchschauen. »Warum wart Ihr so weit im Norden, Romen?« Seine Stimme klang freundlich, doch die Frage war unverblümt direkt. 253
Romen hatte Wyl gewarnt, dass mit diesem Mann nicht zu spaßen sei. Er ging ein hohes Risiko ein. »Das ist eine sehr lange Geschichte.« »Lass mich daran teilhaben. Ich habe es nicht eilig, und Ihr werdet sicherlich nirgendwohin gehen.« Cailech warf seinen Männern einen Blick zu, die sich daraufhin zurückzogen, obwohl Wyl bemerkte, dass sie den Raum nicht verließen. Sie setzten sich. Augenblicklich wurde Wein serviert. »Hungrig?«, fragte sein Gastgeber. Wyl schüttelte den Kopf und erinnerte sich nur zu lebhaft, wie er sich vorhin übergeben hatte. »Aber ich trinke gerne Wein mit Euch, Mylord.« Er glitt zu einem Gesprächsgegenstand, der ihm vertraut war und ihm ganz natürlich zuflog. Er hatte die Weinfässer und die Weindarstellungen in seinem Zimmer und auf verschiedenen Objekten bemerkt - weshalb Wyl glaubte, er könne dieses Thema als höfliche Gesprächseröffnung riskieren. »Sind die Ernten gut gewesen?« »Letztes Jahr üppig, und dieses Jahr scheint ebenso gut zu werden. Dieser ist einer unserer Besten von den Ebenen von Racklaryon.« Wyl zuckte bei der Erwähnung des Ortes zusammen. Er blickte über den Rand seines Kelches in die ausgeprägten Gesichtszüge, die ihn musterten. Sein Vater hatte ihn so viele Male vor der Bedrohung aus dem Norden gewarnt und geraten, dass Morgravia den König niemals unterschätzen dürfte. Wyl wusste dies nun zu schätzen, als er in das Gesicht starrte, das in einem Ausdruck erstarrt war, der aus demselben Granit gemeißelt zu sein schien wie die Gebirge, die Cailech sein Zuhause nannte. 253
Wyl wollte sich nicht noch einmal anmerken lassen, dass ihn das Wort durcheinanderbrachte. »Wie alt seid Ihr eigentlich, Cailech?«, fragte er und fiel zurück in Romens Nonchalance, die Koreldy schon so viele Male gerettet hatte.
»Welch seltsame Frage«, erwiderte der Mann und setzte dann ein Lächeln auf, das auch die Augen erreichte. Sein gesamtes Auftreten veränderte sich, und er strahlte gelassene Heiterkeit aus. »Ich würde annehmen, dass wir etwa gleich alt sind.« Wyl nickte, hatte er ihn doch ebenfalls auf etwa fünfunddreißig Sommer geschätzt. »Ihr habt viel erreicht für jemanden, der noch recht jung ist.« Cailech schnaubte verächtlich. »Ich fühle mich nicht jung.« »Erzählt mir, wie sich alles zugetragen hat... wie Ihr die Stämme vereinigt habt.« »Ich dachte, wir würden über Euch sprechen. Außerdem habt Ihr es bei Eurem letzten Besuch sicherlich von anderen gehört.« »Ich würde es gern von Euch hören«, sagte Wyl vorsichtig»Weshalb?« »Ihr meintet, Ihr hättet es nicht eilig. Ihr habt mir nie viel über Euch erzählt«, wagte er zu sagen und hielt angespannt den Atem an. Wachsam nippte Cailech von seinem Wein und schien Wyls Bitte sorgsam zu überdenken. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erwiderte der König schließlich. »Wir waren nichts weiter als ein lärmender Haufen. Eine Horde Plünderer, die eher über die Ziege eines Nachbarn in einen Streit 254
geriet, als sich die größere Beute in Nachbarreichen anzusehen und um etwas zu kämpfen, das sich lohnt.« »Wie zum Beispiel?« »Land, Pferde, Reichtum.« »Fahrt fort.« »Aus uns wäre nie mehr geworden als Vandalen, deren größter Sieg darin läge, andere Stämme auszurauben. Ich nehme an, ich hatte eine Vision.« »Wie alt wart Ihr, als Ihr diese Vision hattet?« Der König pochte nun wie in Gedanken versunken gegen den Kelch. »Ich konnte es schon seit meiner Kindheit klar vor mir sehen. Sobald ich als alt genug erachtet wurde, eine Waffe zu schwingen und den Plünderungen beizuwohnen, begann ich, diese Vision zu predigen. Bei jeder Gelegenheit flehte ich meinen Vater, den Anführer unseres Stammes, an, Gespräche einzuberaumen. Nach jedem Raubzug, egal, ob siegreich oder nicht, setzte er sich mit seinem Gegner zusammen und diskutierte - was man wohl als Friedensverhandlungen bezeichnen könnte. Diese Methode breitete sich aus, und mein Vater und ich reisten für solche Gespräche als Unterhändler zu verschiedenen Stämmen. Als sich meine Stimme zu der eines Mannes veränderte, schenkten sie mir allmählich mehr Aufmerksamkeit. Denn dies, müsst Ihr wissen, war nur der Beginn meiner Vision. Mein Plan war schon immer, die Stämme zu einem Volk, einem Anführer, einem Ziel zu vereinen.« Er merkte, dass er wieder predigend klang, und zuckte auf einmal die Schultern. »Alles Vergangenheit. Diese Burg zu bauen hat mich fast zwei Jahrzehnte meines Lebens gekostet.« »Ich war vor vielen Jahren schon beeindruckt, Majestät. 254
Heute überrascht mich ihre einfache Schönheit sogar noch mehr.« »Vielen Dank«, sagte der König. »Und Racklaryon? Wie war Euer Ritt?« Dieses Mal zögerte er nicht. »Schmerzhaft.« »Das habe ich erwartet«, erwiderte Cailech vorsichtig und wechselte dann ebenso sanft das Thema, wie sein Wein Wyls Kehle hinabrann. »Wir fragen uns, warum Morgravia Euch benutzt, um gegen uns zu spionieren.« Wyl erschrak, und die Überraschung war ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich spioniere nicht für Morgravia, Majestät. Eher würde ich mich Euch anschließen, um seinem König die Kehle aufzuschlitzen.« Jetzt war Cailech an der Reihe, verblüfft zu sein. »Tatsächlich?« »Er hat mir großes Unrecht angetan. Aus diesem Grund war ich im Norden.« Zynisch hob Cailech eine Augenbraue. »Also schön, Romen. Nun bist du dran. Erzähl mir von deiner Reise, die dich so nah an unsere Grenze geführt hat.« Bedächtig tat Wyl einen erleichterten Atemzug. Das war etwas, worüber er ohne Angst vor Fehlern sprechen konnte. Nachdem Elspyth die Gelegenheit genutzt hatte, sich zu waschen und ihr Äußeres zu richten, ließ sie sich ein gutes Mahl aus warmem Brot und dünn geschnittenem Fleisch schmecken, das sie nicht näher bestimmen konnte. Als sie den leichten, wenn auch köstlichen, süffigen Wein getrunken hatte, ertönte ein Klopfen an der Tür. Sie nahm einen tiefen Atemzug und durchquerte das Zimmer, wobei sie 255
sich die Krümel von der Kleidung wischte. Sie war erfreut, Lothryn zu sehen. »Wie geht es Eurer Frau?«, erkundigte sie sich, noch bevor er etwas gesagt hatte. Lothryns Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch sie würde nie erfahren, wie viel ihm ihre freundliche Frage bedeutete. »So gut, wie es zu erwarten ist. Die Wehen haben kurz vor unserer Ankunft eingesetzt. Die Geburt ist immer noch in vollem Gange.« Elspyth konnte die Sorge spüren, die er zu verbergen suchte. »Also nicht mehr lange, bevor Ihr die Ankunft Eures Sohnes feiern könnt«, sagte sie fröhlich. »Wenn es Haldors Wille ist«, erwiderte er leise und sandte ein Stoßgebet zum Gott des Gebirgsvolks empor. »Wurde nach mir verlangt?« »Noch nicht. Ich dachte nur, Ihr würdet gerne sehen, wie barbarisch wir in Wirklichkeit sind.« Sie runzelte die Stirn, unsicher, was er damit meinte. »Sollen wir einen Spaziergang machen?«, schlug er vor. Seine Frage überraschte sie, doch sie setzte rasch ein Lächeln auf. »Oh, das wäre nett.« Elspyth war erleichtert, dass seine Worte nichts Unheilvolleres bedeuteten. Er führte sie durch Teile der Burg, und Elspyth musste eingestehen, von den wunderschönen Ornamenten an den Wänden und der Decke, auf dem Holz und den Stoffen entzückt zu sein. »Ihr seid ein äußerst künstlerisches Volk«, bemerkte sie aufrichtig. »Viel talentierter als wir Morgravianer«, fügte sie bedauernd hinzu.
»Das Handwerk ist über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben worden«, erklärte er. Er war 256
erfreut über ihr Kompliment, ließ sich jedoch nichts anmerken. Draußen führte er sie an den geschäftigen Küchen vorbei. »Ein Fest wird gerade vorbereitet«, fügte er hinzu, um die emsige Betriebsamkeit zu erklären. Sie setzten ihren Weg jenseits der Ställe und in die Obst-und Gemüsegärten fort. Sie waren riesig, und eine kleine Armee von Menschen kümmerte sich darum. Lothryn ließ Elspyth einen kurzen Augenblick allein, um einige Äpfel aufzusammeln. Er kehrte zurück, kaute an einem roten und bot ihr einen grünen an. »Ich mag keine grünen Früchte. Von ihnen bekomme ich Magenschmerzen«, sagte er grinsend. Elspyth lächelte und nahm den Apfel. Schweigend spazierten sie weiter, während sie aßen. »Erzählt mir von Koreldy«, entfuhr es Elspyth auf einmal. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Euch irgendetwas über ihn sagen könnte, das Ihr nicht bereits wisst«, erwiderte er vorsichtig. »Bitte, Lothryn. Er ist ein Fremder. Es ist schwer genug für mich auszutüfteln, was ich hier überhaupt soll. Wenn ich mehr wüsste, könnte ich Euch vielleicht besser helfen«, schlug sie vor. Der Mann hielt kurz inne, als würde er abwägen, ob sie ihn zu hintergehen versuchte. »Wir wollen herausfinden, ob Koreldy eine Bedrohung für unser Volk ist.« »Aber Ihr kennt ihn doch bereits? Und wie kann ein einzelner Mann eine Bedrohung darstellen?« »Wir kannten ihn vor langer Zeit. Cailech möchte wissen, was er in Morgravia so treibt.« »Nun, das kann ich Euch sagen«, erwiderte sie verwirrt. 256
»Es gibt irgendeine Verbindung zwischen ihm und dem General, der kürzlich verstorben ist.« »Thirsk?« »Ja.« Lothryn schüttelte den Kopf. »Er war ein alter Mann, der eines Tages auf dem Schlachtfeld sterben würde. Verbindung hin oder her, ich kann mir nicht vorstellen, dass mein König daran interessiert ist.« »Nein. Ich spreche von dem Sohn. Sein Name war Wyl.« »Wyl Thirsk ist tot?« Sie bemerkte, wie erschrocken er war. »Nun, ja. Meine Tante und ich erfuhren auf unserer Reise von Pearlis nach Yentro von seinem Staatsbegräbnis. Ich erinnere mich, wie sie sagte, dass wir nicht zum letzten Mal von ihm gehört hätten, aber ich weiß nicht, was sie damit meinte.« Jetzt hatte sie Lothryns Interesse geweckt. »Und wie war Koreldys mit Thirsk verbunden?«
»Ich habe keine Ahnung, doch meine Tante hat es wohl gewusst. Sie hat zugestimmt, Romen zu treffen, und das nur, weil er den Namen Thirsk fallen ließ.« »Was hat Eure Tante mit dem ehemaligen General zu tun?« »Sehr wenig. Sie hat in ihm >gesehen<, als wir wegen des Turniers in Pearlis waren.« »Sie hat >gesehen« »Das ist ihre Gabe. Sie ist eine Seherin. Sie kann in Menschen hineinsehen, obwohl ich das auf morgravianischem Boden nie zugäbe.« »Verbrennen sie dort immer noch Menschen?« »Seit vielen Jahren nicht mehr, aber das uralte Misstrauen stirbt im Süden nur schwer aus. Wir im Norden glau 257
ben an übernatürliche Mächte, das haben wir schon immer.« Er grunzte. »Wir ebenfalls.« Lothryn warf seinen abgenagten Apfel fort. »Was hat sie in Thirsk gesehen?« »Ehrlich, das weiß ich nicht. Ich war nicht dabei. Es war nichts Ernstes - nur ein wenig Jahrmarktswahrsagerei, um ein paar Münzen zu verdienen.« Lothryn nickte gedankenverloren. »Was wisst Ihr noch?« »Das ist alles. Wir sind nach Hause gekommen, und wenig später ist Koreldy in Yentro aufgetaucht und hat nach meiner Tante gefragt.« »Vielleicht hätten wir die alte Dame doch mitnehmen sollen«, murmelte Lothryn reumütig. Sie nutzte seine Stimmung aus. »Ihr hättet mich nur fragen müssen, das wäre alles gewesen ... Ich hätte Euch diese Information freiwillig gegeben. Ihr hättet mich nicht bewusstlos schlagen und hierherbringen müssen, um das zu erfahren.« Er antwortete nicht, obwohl sie seine Belustigung spüren konnte. Sie spazierten weiter. Elspyth versuchte es erneut. »Was ist nun Romens Geheimnis?« Lothryn sah sie verständnislos an, und sie erwiderte seinen Blick mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck. »Es ist offensichtlich, dass er etwas verbirgt, von dem Ihr wisst. Ihr zwei habt einander freundschaftlich begrüßt. Wie kommt es, dass ein Gebirgsmensch einen grenadynischen Adligen kennt?« »Grenadyn ist nur eine kurze Bootsfahrt entfernt.« Elspyth schüttelte den Kopf. »Ihr weicht meiner Frage aus«, rügte sie ihn. 257
»Vielleicht sollte er Euch selbst von seiner Vergangenheit erzählen.« »Oh, nun kommt schon, Lothryn! Ihr habt mich nicht wegen der frischen Luft nach draußen gebracht. Vermutlich hat Cailech Euch aufgetragen herauszufinden, was ich weiß. Ich habe Euch alles gesagt. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass der Spaziergang Euch hilft, nicht mehr an Eure Frau zu denken, die gerade in den Wehen liegt. Das erste Kind? Ich vermute, es wird sich noch stundenlang hinziehen. Wir haben es nicht eilig. Redet mit mir - ich leiste Euch Gesellschaft, aber nur, wenn Ihr ehrlich zu mir seid. Ich jedenfalls habe Euch die Wahrheit gesagt.«
Es war leicht, sie zu mögen. Lothryn fand ihr aufbrausendes Wesen anziehend. Er hoffte, Cailech würde sie nicht als eine Art Beispiel für die Morgravianer schänden lassen, obwohl er zu solchen Brutalitäten durchaus fähig war; besonders jetzt, da sich der junge morgravianische König als aggressiver als sein Vater herausstellte. Magnus hatte es seinem General Fergys Thirsk überlassen, dass die Anwesenheit der Legion im Grenzgebiet als ausreichende Abschreckung genügte, aber Fergys hatte sich niemals unbarmherzig mit der Waffe gezeigt. Celimus' Verhalten stand im krassen Gegensatz dazu, und das kürzlich erfolgte Abschlachten Unschuldiger, die versehentlich über die Grenze gestolpert waren, hatte Cailech in eine unberechenbare Laune versetzt. Die Wogen hätten geglättet werden können, hätte sich Celimus augenblicklich entschuldigt, doch die Stille aus dem Süden war eisig und erdrückend. Lothryn hoffte, dass er etwas ausrichten konnte, wenn er den König später traf - vielleicht konnte er helfen, ein sich 258
zusammenbrauendes Unheil abzuwenden. Er erwachte aus seinen Grübeleien und merkte, dass Elspyth ihn anstarrte und auf seine Antwort wartete. »Na schön. Ich bin sicher, dass es ihm nicht wehtun wird«, sagte er. »Setzt Euch hierher.« Lothryn zeigte auf eine niedrige Mauer, die zu einer steinigen Weide führte, auf der die Ziegen der Feste grasten. »Er kommt aus Grenadyn und stammt aus einer wohlhabenden Adelsfamilie - wirklich reiche Leute. Es gab drei Kinder. Einen ältesten Sohn, den Erben, und dann Zwillinge, Romen und seine Schwester. Vermutlich war Romen der Wilde von den dreien und hat seine Schwester stets in Schwierigkeiten gebracht. Seine Streiche wurden im Laufe seiner Jugend immer verwegener, und es war der Bruder, der Romens Los unzählige Male verhinderte.« Elspyth lächelte. Sie hatte keine Geschwister und kannte diese Art Liebe nicht. »Sie standen sich also sehr nah.« Er nickte. »Ich erahne aus Eurem Gesichtsausdruck, dass die Geschichte kein gutes Ende nimmt.« »Nein«, gestand Lothryn. »Grenadyns südliche Insel liegt tatsächlich nicht weit von unserem Festland entfernt. Cailech verabschiedete ein Gesetz, das jedem Besucher das Überschreiten unserer Grenze ohne vorherige Erlaubnis verbot. Eigentlich war der Erlass gegen die Morgravianer und Briavellianer gerichtet, die uns Gebirgsleute wie Barbaren behandeln.« »Wenn die wüssten ...«, sagte sie und versuchte, seinen offenkundigen Zorn auf die reichen Länder im Süden zu beschwichtigen. »Ich glaube nicht, dass er sich wirklich wegen Grenadyn sorgte. Sie lagen nicht im Zwist mit uns, haben nie nach un 258
serem Land getrachtet und uns niemals einen Grund gegeben, sie als etwas anderes als freundliche Nachbarn zu betrachten.« »Bis?« »Bis einige unserer Leute versehentlich an einem grenadynischen Strand angespült wurden. Irgendein von Panik ergriffener Dummkopf ließ ausrufen, dass die Barbaren zum Plündern gekommen seien. Es war eine groteske Be-
hauptung, denn immerhin waren die Gebirgsmenschen in einem kleinen Ruderboot gekommen, doch es war Nacht, und die Schläger, die der törichte Kerl alarmiert hatte, waren betrunken. Wahrscheinlich entschlossen sie sich, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Unsere Leute kämpften so tapfer, wie das die wenigen Waffen zuließen, die sie bei sich trugen, aber sie wurden trotzdem niedergemetzelt. Sogar die Kinder, die sich im Boot versteckten. Eines dieser Kinder war die Cousine des Königs. Er liebte sie sehr.« Lothryn warf einen Stein in die Ferne. Einige Augenblicke lang war er still, und Elspyth fragte sich, ob er die Geschichte zu Ende erzählen würde. »Cailech reagierte nicht, wie man das von ihm erwartet hätte - er überraschte uns, um ehrlich zu sein, und ich nehme an, dass die Menschen in Grenadyn den Atem anhielten, während sie auf den Angriff warteten, der nie erfolgte. Stattdessen sprach er einfach nur eine Warnung aus. Seine Vorschriften waren eindeutig. Wenn jemand aus Grenadyn jemals auf unserem Land gesichtet werden sollte, würden sie ebenso schnell und mitleidlos getötet werden, wie das mit unserem Volk geschehen war.« Elspyth musste nicht mehr hören. Sie konnte den Aus 259
gang erraten, doch Lothryns Zunge war gelöst, und er schien wie besessen davon, alles zu erzählen. »Wir haben Grenadyn von Cailechs Entscheidung unterrichtet. Jeder vernünftige Mensch hat seine Warnung beherzigt - abgesehen von Romen Koreldy. Arrogant und mit einem Gefühl der Unbesiegbarkeit, das alle jungen Krieger im Übermaß besitzen, ersann er eine Wette für die Jugend der südlich gelegenen Insel. Bring eine Rebe von Cailechs preisgekröntem Wein aus den Weinbergen von Racklaryon zurück, und du gewinnst die sogenannte >Goldmedaille des Mutes<.« »Ihr müsst nicht fortfahren«, sagte sie und berührte ihn zärtlich am Arm. Ob er die Geste bemerkte oder nicht, er überging sie. »Viele nahmen seine Wette an, scheiterten jedoch. Glücklicherweise ist der Kanal, der uns trennt, recht gefährlich. Doch durch das, was Romen erzählte, nehme ich an, dass er seine Schwester unnötig anstachelte. Anscheinend hatte das Mädchen vor nichts Angst ... sie war eine würdige Zwillingsschwester, könnte man sagen. Sie war ebenso abenteuerlustig wie Romen und versuchte ständig zu beweisen, dass sie ihm ebenbürtig war. Kurz gesagt, Lily - so hieß sie - nahm die Herausforderung an. Und Romen, entzückt und prahlerisch wie eh und je, wollte sie begleiten. Sie ruderten über den Kanal. Es ist wirklich nicht besonders weit, und das Schicksal schenkte ihnen an jenem Tag ruhiges Gewässer. Als der ältere Bruder von ihrer Torheit erfuhr, war er verständlicherweise wutentbrannt und folgte ihnen.« Lothryn stützte den Kopf in die Hände. »Das mutige Mädchen schaffte es beinahe. Sie hatte die Rebe in der Hand, als sie entdeckt wurde. Der 259
ältere Bruder hatte die Geistesgegenwart, sein Schwert mitzubringen, und er führte es geschickt. Ich war dort und sah zu, wie er um ihr Leben kämpfte.«
»Und Romen?«, erkundigte sich Elspyth. »Ach, das ist der springende Punkt an der traurigen Geschichte. Er hat die Nerven verloren. Hat sich in einem Wäldchen in der Nähe des Weinbergs verkrochen, sich selbst gerettet und zugesehen, wie wir seinen Bruder und seine Schwester mitnahmen. Cailech hat ihren sofortigen Tod befohlen. Unser König hat die richtige Entscheidung getroffen - die einzige, die unter den gegebenen Umständen angemessen war -, aber mich beschlich das Gefühl, als hätten wir unseren Titel als Barbaren an diesem Tag verdient. Wir kreuzigten die beiden jungen Menschen am Weinberg von Racklaryon, nur wegen eines Büschels Weinreben. Es war ein strahlender, klarer Tag, und die Grenadyner konnten die beiden Kreuze wahrscheinlich durch ein Fernglas sehen. Der Bruder starb zuerst, doch Lily quälte sich den Tag über und die ganze Nacht hindurch und bestrafte uns. Sie rief nach Romen. Flehte ihn an, sie zu retten. Die arme, tragische Lily! Sie kämpfte bis zu ihrem letzten Atemzug gegen den Tod an, und er musste jeden ihrer Schreie gehört, musste jeden Augenblick ihres Leidens beobachtet haben.« Elspyth war jetzt starr vor Anspannung, angewidert und verzweifelt wegen der traurigen Geschichte. »Was ist dann passiert?« »Am nächsten Morgen wurden ihre steifen Körper abgenommen und verbrannt; ihre Asche wurde auf dem Wasser verteilt, das sie zu uns gebracht hatte. Romen bekam 260
das alles mit, und als es vorüber war, kehrte anscheinend seine Kämpfernatur zurück.« »Was wollt Ihr damit sagen?« »Er versuchte, Cailech umzubringen.« »Was?« »Es stimmt. Er ist ein wahrer Meister im Messerwerfen. Wusstet Ihr das nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Cailech war bei der Einäscherung zugegen, das glaubten zumindest die Leute. Messer trafen ihn mitten in die Brust und töteten ihn augenblicklich ... oder hätten es zumindest, wenn es sich bei dem Mann tatsächlich um Cailech gehandelt hätte.« »Ich kann Euch jetzt nicht ganz folgen«, gestand Elspyth. »Cailech hat Rashlyn, den Heiler des Königs, in der Nacht zuvor in seinen Steinen lesen lassen, und sie haben ihm von einem Anschlag auf sein Leben am folgenden Tag gewarnt. Er setzt großes Vertrauen in die Ratschläge, die er durch die Steine erteilt bekommt, und traf Vorsichtsmaßnahmen. Aus der Ferne konnte jeder große Mann mit langem Haar und ähnlicher Farbe einen Eindringling wie Romen täuschen. Er hat die Messer tatsächlich geworfen und den Mann getötet, doch nachdem er gefangen genommen wurde, war er unendlich bestürzt, als er die Wahrheit erfuhr.« »Wie hat er den Tag überleben können?« »Ich würde sagen, es war ein Wunder. Vielleicht hatte Cailech genug vom Töten. Er kann unbarmherzig sein, lasst Euch davon nicht täuschen, doch er ist ein scharfsinniger Denker. Mein Gefühl sagt mir, er bewunderte, dass der Bru-
der schlussendlich den Mut aufbrachte, das zu tun, was richtig war. Sie waren im selben Alter, und er begnadigte Romen. 261
Er gestattete ihm sogar, eine Zeit lang bei uns zu leben und zu arbeiten und half ihm, seinen Verlust zu bewältigen. Das schaffte Romen jedoch nie, möchte ich hinzufügen. Als er bereit war, uns zu verlassen, erhielt er seine Waffen zurück und wurde zur südlichen Grenze eskortiert. Er versprach, nie wieder nach Grenadyn zurückzukehren. Cailech machte ihm klar, dass er sterben würde, falls er jemals wieder einen Fuß in die Nähe der Razors setzen würde.« Elspyth fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Wie lange ist das her?« »Etwa zehn Sommer müssen vergangen sein.« »Und trotzdem habt Ihr ihn wiedererkannt?« »Ein Mann mit einem so unverwechselbaren Äußeren wie Romen ist schwer zu vergessen.« Sie nickte; er hatte natürlich recht. »Wird Cailech ihn töten?« »Das weiß ich nicht. Aber kommt jetzt, wir müssen zurückkehren. Er wird Euch sehen wollen.« »Ihr erwartet von mir, dass ich glaube, Ihr hättet dem morgravianischen König gegenüber keinen Treueid abgelegt, obwohl Ihr für ihn gearbeitet habt?« »Ja«, antwortete Wyl vorsichtig. »Wenn ich Euch sagen würde, ich könnte Briavel und Euer Volk gegen Morgravia vereinen, würdet Ihr mir das glauben?«, forderte er ihn heraus. »Nein«, erwiderte der König. »Ich würde ihnen sowieso nicht über den Weg trauen. Und Euch vertraue ich auch nicht. Eure Geschichte klingt an den Haaren herbeigezogen.« »Was daran könnt Ihr nicht glauben?« 261
Cailech lehnte sich in seinem Sessel zurück und drehte höchst amüsiert sein Weinglas in Händen. »Ihr wurdet von Celimus angeheuert, um Wyl Thirsk zu ermorden, was Ihr angeblich auch getan habt. Dann habt Ihr seine Leiche zurück nach Pearlis gebracht, damit der Name des Generals nicht in den Schmutz gezogen wird, weil Ihr die Vermutung hegtet, Celimus könne Lügen über Thirsks Verstrickung mit den Briavellianern in die Welt setzen ... Seht Ihr nicht selbst, wie unglaubwürdig das alles klingt, Romen?« Cailech kratzte sich mit einer theatralischen Geste am Kopf, bevor er fortfuhr: »Ihr habt am Begräbnis teilgenommen ... ach nein, wartet, eine weitere Intrige. Zuerst habt Ihr Wyl Thirsks Schwester aus dem Kerker befreit, in den Celimus sie geworfen hatte. Ihr bindet ihm einen Bären auf, indem Ihr erzählt, Ihr wolltet den Namen Thirsk entehren und mit Ihr schlafen.« Wyl nickte grimmig. Es klang tatsächlich weit hergeholt, wenn es laut ausgesprochen wurde - wie schade nur, dass es die Wahrheit war. »Aber jetzt kommt das Beste. Anschließend flieht Ihr aus Stoneheart, weil Ihr wisst, dass Celimus niemals sein Wort halten würde - und aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren Anschlag auf Euer Leben plant. Und natürlich behaltet Ihr recht, doch Ihr entkommt dem Tod, obwohl ausgebildete Auftragsmörder Euch auf der Spur sind.«
Wyl hatte nichts von Knave erzählt. Das hätte Cailechs Geduld zweifellos überstrapaziert. Lächelnd nippte der König an seinem Wein. »Ihr tötet sie und schickt dann den Kopf eines der Mörder an Celimus ... Warum? Weshalb solltet Ihr ihn überhaupt von Eurer Flucht unterrichten? Aber lasst uns zum faszinierendsten Teil des 262
Ganzen kommen.« Offenkundig amüsierte sich Cailech. »Euer tatsächlicher Plan war, die Seherin zu finden, damit sie Euch weitere Informationen gibt?« »Das stimmt«, sagte Wyl, erschrocken über all die Lücken in seiner Geschichte. Cailech brach in schallendes Gelächter aus und erhob sich, um zum Kaminsims zu schreiten. »Köstlich! Aber leider ist es zu dünn, Romen. Ihr werdet Euch etwas Überzeugenderes ausdenken müssen, wenn ich Euer Leben verschonen soll.« Ein Diener trat leise näher, und nachdem der König ihm die Erlaubnis erteilt hatte, flüsterte er ihm etwas zu. »Bring sie her«, sagte er, und der Dienstbote verschwand. Wenige Augenblicke später erschien Lothryn mit Elspyth, die vor dem Herrscher einen Kniefall machte. »Mylord Cailech«, wisperte sie ehrfurchtsvoll. Der König warf Lothryn einen Blick zu, und Wyl war schnell genug, um das verstohlene Nicken des Mannes zu bemerken. Was es bedeuten sollte, konnte er jedoch nicht erraten. »Ihr seid die Tochter der Seherin. Stimmt das?«, fragte Cailech. Elspyth verharrte in ihrer Verbeugung. »Nein, Mylord. Ich bin ihre Nichte, Elspyth.« »Nun gut. Und jetzt erzählt mir, Elspyth, was Eure Tante Romen hier gesagt hat, als sie ihn das erste Mal traf. Steht bitte wieder auf.« Sie kam seiner Aufforderung nach und sah zu dem Berg von einem Mann auf. Er war größer als Lothryn. Unbändige Intelligenz lauerte hinter seinen geheimnisvollen Augen. Er schien die Überraschung auf ihrem Gesicht zu bemerken. 262
»Mylord?« »Möchtet Ihr, dass ich die Frage wiederhole?« Wyl spürte, wie sich ihm die Haare auf den Armen aufstellten. Das war gefährlich. Denk rasch nach Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der König war schnell. Er hob den Finger an den Mund und hielt Wyl von seinem Vorhaben ab. Nervös sah Elspyth von einem zum anderen. »Nein, Sire. Ich ... ich verstehe sie nur nicht. Meine Tante hat Romen nur einmal getroffen.« Cailech warf Wyl einen verschlagenen Blick zu, sprach jedoch weiterhin mit Elspyth. »Ach! Und ich darf annehmen, dies geschah in Eurer Hütte ... am Fuß des Gebirges?« »Ja, Mylord. Vor einigen Tagen.«
»Und soviel Ihr wisst, hat Eure Tante diesen Mann nur einmal getroffen.« »Ich sage die Wahrheit. Sie erzählte mir, sie kenne weder ihn noch seinen Namen.« Wyl wusste, dass Cailech ihn jetzt mit strengem Blick musterte, und was auch immer Romen als Nächstes sagen würde, müsste überzeugend sein. Er hatte keine andere Wahl, und seine Stimme nahm einen leicht beleidigten Tonfall an. »Nun, sie hat Euch angelogen, Elspyth. Es tut mir leid.« Elspyth wandte sich zu Wyl um und funkelte ihn zornig an. »Wie könnt Ihr es wagen! Warum sollte sie so etwas tun?« Er zuckte die Achseln und drehte seine Handflächen in einer Geste der Hilflosigkeit nach oben. »Wie soll ich ihre Beweggründe kennen? Sie und ich haben uns kurz in Pearlis getroffen. Es war früher Nachmittag am Tag des kö 263
niglichen Turniers - die lange Mittagspause war gerade ausgerufen worden, und viele Menschen drängten sich an den Schaubuden vorbei. Ihr wart allerdings nicht in der Nähe, oder ich hätte mich sicherlich an Euch erinnert.« Wyl sah, wie Wut in ihr aufwallte, während er fortfuhr: »Wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, sah ich dort jedoch Thirsk mit einem Begleiter, einem Mann im gleichen Alter, Kommandant Alyd Donal. Ich glaube nicht, dass sie in das Zelt Eurer Tante traten. Zufällig hörte ich mit an, wie sie darüber sprachen, später wiederzukommen, wenn alles gut ginge oder etwas Ähnliches.« Auf Elspyths Gesicht verwandelte sich der Zorn allmählich in einsichtsvolles Verständnis. Verlegen blickte sie zu Boden. Lothryn empfand Mitleid mit ihr, als er bemerkte, wie sie auf einmal errötete. »Sire, vielleicht war es mein Fehler. Romen spricht die Wahrheit. Meine Tante merkte an, dass Thirsk mit einem Mann namens Kommandant Donal zusammen war, und sie erzählte mir ebenfalls, dass sie schon mittags an ihrem Zelt waren - sie hatte es nur erwähnt, weil sie überrascht gewesen war, dass sie sie nicht sofort besuchten, und sie wusste, dass sie zurückkämen.« »Wo wart Ihr?«, fragte Cailech. »Ich war beim Turnier.« Um Cailech wohlwollend zu stimmen, erzählte Elspyth von Celimus' Wiedereinführung des alten Ritus des Jungfrauenbluts. »Und sie nennen uns Barbaren«, murmelte Lothryn im Flüsterton. Cailechs ironisches Lächeln war ebenfalls nicht zu übersehen. »Bitte fahrt fort«, ermunterte er sie fasziniert. »Ich stand nah genug bei ihnen, um zu hören, was nach 263
dem Sieg des Prinzen geschah«, erklärte sie und sah Romen an, während Wyl bei der Erwähnung dieser unheilvollen Begebenheit innerlich zusammenzuckte. »Der General hatte anscheinend die Pläne des Prinzen vereitelt, indem er seine Schwester am Vortag verheiratet hatte. Es war offensichtlich, dass der Prinz sie auswählen wollte, und das nicht, weil er sie liebte, Sire. Sie ist natürlich eine wunderschöne Frau. Aber er liebt nur sich selbst, sagt meine Tante.«
Der König nickte. »Also hat Celimus guten Grund, Thirsk zu hassen. Demütigung ist eine wundervolle Waffe, nicht wahr, Lothryn?« Der große Mann erwiderte das Nicken. Wyl nahm ihren Gedankengang auf und führte ihn weiter aus: »Ihr gegenseitiger Hass ging sogar bis in ihre Kindheit zurück, habe ich mir sagen lassen. Er nagte schon seit einer Dekade oder länger an ihnen, doch die Sache war verzwickt - die Väter waren Blutsbrüder, und der alte König Magnus liebte Wyl, während die Beziehung zu seinem Sohn sehr angespannt war. Da steckt noch mehr dahinter, aber Celimus hat mich nicht weiter aufgeklärt.« »Na gut, lasst uns annehmen, dass ich den Großteil von dem glaube, was Ihr mir heute erzählt habt. Dann kann ich aber immer noch nicht Eure Reise in den Norden nachvollziehen.« »Cailech, Ihr messt meinen Worten zu große Bedeutung bei«, sagte Wyl und bediente sich der Vertrautheit, die wohl einst zwischen Romen und dem König bestanden haben musste. »Die Seherin erzählte mir, dass sich mein Leben mit dem einer Königin verknüpfen wird. Und dass ich bei meinem Leben schwören würde, sie zu beschützen. Zu diesem Zeitpunkt erschien mir das rätselhaft - es gab keine Köni 264
gin in einem der Reiche, die ich kannte. Dann ging ich jedoch im Auftrag Celimus' nach Briavel und traf Valentyna«, log er. »All die Begebenheiten, von denen ich Euch erzählte, geschahen anschließend, und nach dem Tod ihres Vaters wusste ich, dass dies die Königin war, von der die Seherin gesprochen hatte.« »Also kamt ihr hierher, um mehr über die Vision zu erfahren, die sie für Euch gesehen hatte?« »So einfach ist das. Allerdings konnte ich nicht mehr darüber erfahren, da die Witwe Ilyk ständig ausrief, dass der Barbar käme. Wenn ich ihr doch nur mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte.« Die beiden Männer vor ihm grinsten. »Außerdem war ihm übel von dem Heiltrank, den er gegen den Schmerz eingenommen hatte, und ich habe Wein gereicht. Wir befürchteten, er könne ohnmächtig werden, weshalb wir nach draußen gingen«, sprudelte es aus Elspyth heraus. Alle Blicke richteten sich auf Cailech. Er schluckte den Rest Wein hinunter, ohne sich auch nur im Geringsten von dem angehaltenen Atem seines Publikums oder der seltsamen Pause stören zu lassen, die er noch verlängerte, indem er sich an Lothryn wandte. »Wie geht es deiner Frau?« »Ich werde nach ihr sehen, sobald wir hier fertig sind, Mylord«, erwiderte Lothryn, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Cailech nickte, und Lothryn verließ den Raum. Der König kehrte zu ihrem Gesprächsthema zurück und verblüffte Wyl erneut durch seinen blitzschnellen Verstand. »Warum ist Euch Thirsk so wichtig, und Briavel... all das?« Cailech klang nun verärgert. 264
»Weil Wyl Thirsk, wie ich feststellen konnte, ehrlich war. Ich bin ein Fremder und sage Euch, dass Thirsk Morgravia treu ergeben war - seinem König Magnus ebenso treu ergeben wie Lothryn Euch. Ihr bewundert doch Loyalität, und wenn Ihr ihn kennengelernt hättet, dann hättet Ihr Wyl Thirsk allein dieser Eigenschaft wegen geschätzt. Außerdem hasste er Folter jeder Art«, erklärte Wyl und erwärmte sich für sein Lieblingsthema. »Falls er die Möglichkeit gehabt hätte, in die Schlacht zu ziehen, hätte er so viele Menschen wie möglich vor dem Tod verschont. Er war kein Kriegshetzer. Er war Euch eigentlich gar nicht mal so unähnlich. Eure Vision war doch, zu verhandeln und Streitigkeiten durch Gespräche und nicht durch Blutvergießen beizulegen.« »Ihr scheint sehr viel über ihn zu wissen - Ihr müsst Euch rasch nähergekommen sein?« Cailech beobachtete, wie Romen blinzelte, als sei er einen kurzen Augenblick lang perplex, dann sah er ihn müde den Kopf schütteln. »Wir waren einige Tage aneinandergekettet, dann kämpften wir Seite an Seite, um einen Monarchen zu retten, der angegriffen wurde, und schließlich haben wir gegeneinander gefochten, da selbst er verstand, dass nur einer von uns lebend aus Briavel fliehen kann. Er starb einen heldenhaften Tod und rang mir das Versprechen ab - so wie ich Euch das erklärte -, Valentyna zu beschützen.« »Ich frage Euch noch einmal: Warum ist es Euch derart wichtig?« Wyl hatte keine Antworten mehr. Es war ihm wichtig, weil er sie liebte und diese Liebe so brennend heiß war wie sein Hass auf Celimus. Cailech seufzte, als würde er ein Kind ermahnen. »Das ist wieder diese Adelssache, nicht wahr, Koreldy?« 265
»Es fließt in meinen Adern«, antwortete Wyl aufrichtig und war erleichtert, eine Ausrede gefunden zu haben. »Und ich habe einen Pakt mit ihm geschlossen. Wir haben unser Blut vermengt. Das ist verpflichtend, Cailech, und ich muss gestehen, dass ich den Treueid viel lieber Briavel schwöre als Morgravia«, log Wyl. Er fühlte sich auf einmal müde und verwirrt, und es widerte ihn an, seiner Heimat nicht mehr treu zu sein. Cailech entging nur sehr wenig, und er erkannte, dass der Kampfgeist, den er eben noch bei dem Mann, den er wider besseren Wissens mochte, gespürt hatte, plötzlich verschwunden war. »Wir werden später weiterreden. Ich muss darüber nachdenken, was Ihr mir erzählt habt. Genießt unsere Gastfreundschaft. Versucht jedoch bitte nicht, die Festung zu verlassen, oder unsere Bogenschützen werden Euch beide als Schießübung missbrauchen. Meine Wachen sind angewiesen, Euch zu töten, sobald sie Euch irgendwo sehen, wo Ihr nicht sein solltet. Verstanden?« Sie nickten. »Heute Abend halte ich ein Fest ab. Es könnte eine besondere Köstlichkeit auf dem Speiseplan stehen, die Euch ganz sicher erfreuen wird, Romen ... nicht so sehr Euch, meine Liebe«, sagte er an Elspyth gewandt. »Hiermit lade ich Euch beide zu einer interessanten Feierlichkeit ein.« 265
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WYL NUTZTE DEN NACHMITTAG zum Schlafen. Sein Schlummer wurde jedoch von Albträumen gestört, in denen eine junge Frau von einem hölzernen Querbalken hing und ihn anflehte, sie zu retten. Es wurde noch beunruhigender, als sich das Gesicht der jungen Frau, das er nur schemenhaft aus geliehenen Erinnerungen kannte, auflöste und zu einem wurde, das ihm schmerzhaft vertraut war. Nun baumelte Ylena herab, beschwor Wyl und fragte verwundert, warum er versagt hatte, sie zu beschützen. Er schreckte aus dem Schlaf auf. Sein Bettlaken war schweißnass. Ich muss diesen Gebirgen entfliehen Die Witwe hatte ihn vor der Gefahr gewarnt, in der sich seine Schwester befand, und jetzt hallte diese Warnung in seinen Träumen wider. Um seine aufgewühlten Nerven etwas zu beruhigen, ließ er sich bei seiner Toilette sehr viel Zeit und war froh, dass eine gütige Seele ihm ein neues Hemd bereitgelegt hatte. Gewaschen und erfrischt gelang es ihm, seine Ängste für den Augenblick abzuschütteln und sich darauf zu konzentrieren, Cailechs Feier zu überstehen. Wenn der König 266
an diesem Abend guter Laune war, konnte er womöglich seine Freilassung verhandeln. Elspyth konnte unmöglich schlafen und wanderte ziellos in der Burg umher, spürte jedoch, dass ihre Anwesenheit unerwünscht war und alle Blicke sie aufmerksam verfolgten. Das Gefühl der Fremde löste ein freudiges Lächeln bei ihr aus, als sie ein vertrautes, wenn auch feindseliges Gesicht sah, und Myrt auf einmal an ihr vorbeischlurfte. »Guten Tag, Myrt.« Er gab nicht viel mehr als ein Grunzen von sich, aber wenigstens blieb er stehen. Nervös wischte sie sich die Handflächen an ihrem Rock ab. »Ahm ... wisst Ihr zufällig, wo ich Lothryn finden kann? Nun, er ... er wollte nach seiner Frau schauen.« Der Mann erklärte ihr nuschelnd den Weg, und sie hoffte, sie könne ihn sich merken. Laut Myrt besaß Lothryn Privatgemächer in der Festung. Sie hatte sich schon gedacht, dass Lothryn weit mehr als ein einfacher Fußsoldat für Cailech war - augenscheinlich war er vielmehr so etwas wie ein Oberbefehlshaber. Auf ihrem Weg pflückte sie einen Strauß Wildblumen, in der Hoffnung, die frischgebackene Mutter zu erfreuen. Sie verirrte sich mehrmals, brachte allerdings den Mut auf, andere, sogar noch schweigsamere Seelen als Myrt nach Lothryns Zimmern zu fragen und musste häufig wieder umkehren. Schließlich fand sie den schmalen Durchgang, den sie ihr beschrieben hatten, und der in einen kleinen Innenhof mit mehreren, im Kreis angeordneten Steinhäusern führte. 266
An einer Haustür hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, und Elspyth nahm an, dass dies wohl das Begrüßungskomitee für das neugeborene Baby sei. Als sie sich ihnen näherte, spürte sie jedoch, dass die Leute nicht in Feierstimmung waren. Die Atmosphäre war düster. Sie bemerkten den Neuankömmling, und Elspyth geriet durch ihre starrenden Blicke und das Gemurmel in Verlegenheit. Zaghaft stellte sie sich vor und erkundigte sich nach der Familie, da sie entschieden hatte, es sei wahrscheinlich das Beste, die private Versammlung so wenig wie möglich zu stören. Eine ältere Frau, die vielleicht zur Familie gehörte - Elspyth konnte das nicht genau sagen -, sah wütend zu ihr herüber und schrie: »Geh weg, morgravianischer Abschaum!« Dann spuckte sie in Elspyths Richtung, die zu bestürzt war, um der Spucke auszuweichen, die auf ihrem Rock landete. »Du hast den Barshi über uns gebracht!« Barshi Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, was das bedeutete, war jedoch tapfer genug zu fragen, wo Lothryn sei. Die alte Frau schleuderte ihr in einer Sprache, die Elspyth nicht verstand, einen Wortschwall entgegen. Deshalb drehte sie sich von ihr weg und sprach ein Mädchen mit tränennassen roten Augen an. »Ich habe eine Botschaft für Lothryn«, log sie. »Am Trauerstein«, antwortete das Mädchen. Elspyth entfernte sich langsam. »Wo ist das?« Sie wollte die Gruppe nicht noch mehr gegen sich aufbringen. Jemand zeigte zu einem Hügel. Sie floh; ihre eigenen Befürchtungen und Ängste loderten in ihr auf, während sie zu 267
jemandem rannte, den sie kaum kannte, dem sie sich jedoch verbunden fühlte, weil er ihr ein Geheimnis anvertraut hatte. Schließlich fand sie ihn, nachdem sie zweimal hingefallen war und sich die Handflächen und Ellbogen bei dem Versuch, den steilen Abhang hinaufzuklettern, aufgeschürft hatte. Lothryn kniete auf einer flachen Granitplatte, die zum Meer zeigte. Er weinte erbärmlich, und das Geräusch seiner Seelenqual durchbohrte sie förmlich. Seine Schreie wurden durch den Wind verstärkt und in Richtung des Meeres getragen. Elspyth spürte, wie sein Schmerz sie erzittern ließ, und erst nach einigen Minuten bemerkte sie ein winziges Bündel in seinen Armen. Der Schock, dass das Baby bei ihm war, zwang sie auf die Beine. Sie stolperte wieder weiter, und auch wenn sie seinen Zorn auf sich zöge, so wollte sie doch seinen Kummer teilen. Es kümmerte sie auf einmal nicht mehr, ob er ihre Anwesenheit guthieß oder nicht. Sie eilte zum Trauerstein, legte ihm die Arme um den Hals und weinte zusammen mit dem Fremden, der sie gefangen genommen hatte. Elspyth vermisste derart schmerzlich eine eigene Familie, dass sie größtes Mitgefühl für seinen Verlust hatte. Er schreckte bei ihrer Berührung nicht zurück. Stattdessen wiegte er sie alle drei in seinem Wehklagen und klammerte sich so fest an das Bündel, dass Elspyth nicht einmal das Gesicht des Babys sehen konnte. Sie nahm das
Schlimmste an und vermutete, dass das neugeborene Leben von Haldor, dem Gott, in den Lothryn all seinen Glauben gesetzt hatte, fortgerissen worden war. Jegliches Zeitgefühl war ihr abhanden gekommen, und sie begriff, dass 268
der Tränenstrom, den sie selbst vergossen hatte, nicht nur dem Verlust des Gebirgsmannes galt, sondern auch ihrer Tante. Und auch Romen und dem schrecklichen Tod seiner Familie. Allmählich flaute der Wind ab, und sie vernahm das unverwechselbare leise Wimmern eines Kleinkinds. Sie rappelte sich hoch. Das Baby lebt\ Neue Tränen. Verbirg sie vor ihm. Elspyth trat um Lothryn herum und griff vorsichtig nach dem Baby. »Lothryn, ich bin es, Elspyth. Ich meine es nicht böse. Darf ich?« Er blickte sie mit solch kummervollen Augen an, dass sie der Mut beinahe verlassen hätte, wäre da nicht die zärtliche Geste gewesen, mit der der Hüne ihr das Neugeborene entgegenstreckte. Sie nahm das Baby, und eine neue Welle der Trauer überkam sie. Indem sie dieses kostbare Kind in Armen hielt, wurde ihr eigenes Unglück nur noch hervorgehoben, ihre eigene Sehnsucht nach einer Familie und Geborgenheit. Elspyth wiegte das leise wimmernde Baby, und ohne nachzudenken, führte sie die Spitze ihres kleinen Fingers an den Mund des Kindes. Augenblicklich begann es daran zu saugen. »Euer Baby muss gefüttert werden«, sagte sie. Seine Antwort war harsch. »Seine Mutter ist tot. Sie hat tapfer gekämpft, um bei uns zu bleiben, aber sie hat zu viel Blut verloren. Sie konnte es nicht stillen.« Elspyth schluckte hart. »Das tut mir so leid.« Sie sprach nicht weiter, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Stattdessen legte sie ihm einfach die Hand auf den Arm. Vielleicht gelang es ihr, durch die Berührung ihre Verzweiflung über den Verlust auszudrücken. 268
Er überraschte sie, indem er ihre schmale Hand mit seiner eigenen bedeckte. »Vielen Dank.« Dann nahm Lothryn, der stellvertretende Anführer des Gebirgsvolks, seinen neugeborenen Sohn von ihr entgegen und eilte davon. Elspyth blieb leer und erschüttert auf dem Trauerstein zurück, wo Lothryn den Geist seiner Frau ins Meer geworfen hatte. Später, als Elspyth erschöpft in ihre Kammer zurückkam, blickte sie aus dem Fenster zu den Weiden. Sie sah zwei Reiter. Einer war Lothryn. Der andere, unverkennbar, der König. Elspyth hoffte, dass Cailech seinem Freund mehr Trost spenden konnte als sie. »Sie hat unserem Volk einen Sohn geschenkt, Loth. Wir sollten lieber ihren Beitrag bejubeln, als ihren Tod zu betrauern«, sagte Cailech, während er über die Auen blickte, die er so sehr liebte. »Du hast guten Grund, die Geburt des Jungen zu feiern«, erwiderte Lothryn schärfer als beabsichtigt. Cailech sah seinen engsten Freund und Weggefährten an - den Mann, dem er am meisten vertraute - und schwieg. Sie tauschten bedeutungsvolle Blicke aus.
Beide wussten, das egal, was in dieser Sache auch zwischen ihnen stand, am besten ungesagt bliebe. Der König nickte seinem Stellvertreter voll Hochachtung zu, bevor sie ihre Pferde weiter antrieben. »Sie hat mich am Ende nicht mehr geliebt, Cailech, das stimmt«, sagte Lothryn schließlich und seufzte. »Mich schmerzt die Traurigkeit, die ich ihr bereitet habe, und der Umstand, dass der Junge keine Mutter hat.« 269
»Wir werden uns besser um ihn kümmern als jeder andere.« »Das weiß ich.« Die Männer führten ihre Pferde zum See. Cailech liebte es, am Ufer zu stehen. Hier war es friedvoll... und besonders abgeschieden. In seiner ihm eigenen Art wechselte er das Thema. »Ich würde gerne mit dir über die morgravianischen Gefangenen sprechen.« »Oh? Ich hatte darauf gewartet, eine Entscheidung von dir zu hören.« »Ich habe abgewartet, Loth. Mein Zorn sollte erst verebben.« Der große Mann schlug einen sanften Ton an. »Cailech, unsere Leute hätten nicht dort sein dürfen.« »Das mag schon sein. Aber sie hatten sich verirrt. Ich bin sicher, dass sie das vor ihren Mördern aufklärten, bevor sie starben.« »Wenn wir überreagieren, könnte das Krieg zwischen uns und Morgravia bedeuten.« »Überreagieren? Ein Dutzend Unschuldiger wurde völlig grundlos abgeschlachtet, und ein Großteil von ihnen war jung.« Lothryn schwieg, da er wusste, dass die Wut seines Königs aufloderte. Er schätzte es, wie Cailech die Jugend ihres Volkes bewunderte und förderte. Durch seine Bemühungen erreichten viele nun ein höheres Alter und brachten einander nicht durch unsinnige Stammesfehden um. Es war Cailechs Verdienst, dass die Jugendlichen ihre Energien auf die Tierzucht und Landwirtschaft verwendeten. Sein Volk konnte sich nun leicht selbst ernähren. Ihre 269
Ernten waren reich, und die Vorräte für weniger üppige Zeiten waren abgestimmter und besser organisiert. Von dem Moment an, als Cailech sich selbst zum König ernannt hatte, hatte er darauf bestanden, dass den jungen Leuten das Schreiben und die Geschichte ihres Volkes beigebracht wurde, nicht so sehr das Töten. Cailech förderte Musik, Gesang und Tanz. Er hatte immer Zeit für die jungen Menschen. Es schmerzte ihn tief, wenn einer von ihnen starb, ganz zu schweigen von einem Dutzend, das brutal niedergemetzelt wurde. Lothryn wusste besser als jeder andere, dass Cailech einen hohen Preis für ihr Leben fordern würde. Wenn er ehrlich war, so hegte er wenig Hoffnung für die unglückseligen Morgravianer, die sie gefangen genommen hatten, aber er würde trotzdem keinen Versuch auslassen. Cailech zeigte auf ein kleines Wäldchen. »Ein Wettrennen, Loth?« Ihre Pferde, die eigens gezüchtet wurden, damit sie in diesem Gelände schnell waren und dem Klima so gut wie möglich trotzen konnten, fielen in einen
halsbrecherischen Galopp. Wie nicht anders zu erwarten, gewann der König auf seiner wunderschönen Stute. »Ist sie nicht atemberaubend?«, sagte er lachend und schwer atmend vom Hochgefühl des Wettkampfs. »Sie ist großartig«, erwiderte Lothryn, der ebenso atemlos war, und tätschelte sein eigenes Tier, das sich tapfer geschlagen hatte. »Wie hast du dich entschieden, mein König?«, fügte er hinzu, fest entschlossen, das Thema nicht fallen zu lassen. Sein Freund aus Kindheitstagen wurde wieder ernst. »Ich werde ein Exempel an ihnen statuieren.« 270
»Bitte, Cailech, überleg es dir noch mal.« »Das habe ich. Während du Koreldy geschnappt hast, habe ich über nichts anderes nachgedacht. Ich habe diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen.« »Die Gefangenen in unseren Kerkern sind ebenfalls unschuldig. Sie haben lange genug gelitten. Müssen wir auf die gleiche Art reagieren wie unser südlicher Feind?« »Es sind Soldaten, keine Unschuldigen!« »Nur einer ist tatsächlich Soldat, mein König. Die anderen scheinen Bauern zu sein, die nicht mehr übers Töten wissen, als ihre Tiere zu schlachten.« »Was soll ich deiner Ansicht nach tun?«, knurrte der König. Lothryn nahm sich Zeit für seine Antwort und wartete, bis sich die Wut seines Freundes verflüchtigt hatte. »Lass sie frei. Sei nachsichtig und besser als der morgravianische König.« Aufgebracht schüttelte Cailech den Kopf. »Es ist seine Schuld! Sein Vater hätte ein solches Abschlachten unseres Volkes niemals geduldet. Der Sohn ist ein Wahnsinniger. Du weißt, all unsere Spione berichten, dass selbst die Morgravianer ihn allmählich hassen. Nein, ich kann mich vor meiner Verantwortung nicht drücken, Loth. Diesmal will ich Rache. Celimus wird meinen Zorn kennenlernen und keinen erholsamen Schlaf mehr haben. Eines Tages werde ich mir sein Land holen.« Sein Stellvertreter seufzte. Das war das alte Lied. Trotz all seiner Brillanz als gütiger König war Cailech immer noch von einem unbändigen Eroberergeist besessen. Er blieb ein Krieger, und sein Verlangen, den Einfluss seines Herrschaftsgebiets und das Land seines Volkes zu erweitern, 270
brannte hell und war tief verwurzelt. Lothryn fürchtete, dass dieses Begehren ihn eines Tages zu Fall brächte, und hatte es schon bei vielen Gelegenheiten angemerkt. Jetzt war jedoch nicht der rechte Zeitpunkt, es zu wiederholen. Das Bedauern über die Entscheidung war in Lothryns Stimme zu hören. »Was hast du vor, Mylord?« Der König erklärte es ihm. Doch er hatte keine Freude an den Ausführungen. Cailech war kurz angebunden, sprach zornentbrannt und weigerte sich, seinen Plan zu rechtfertigen. Lothryn hatte sich nie zuvor leerer gefühlt. Nie hätte er gedacht, dass Cailech sein Volk in solche dunkle Abgründe führen würde.
Er konnte sich nicht zurückhalten. »Das ist verrückt!«, sagte er und lief Gefahr, den König zu beleidigen. »Ich werde ...« »Cailech! Das ist Wahnsinn, das sage ich dir. Möchtest du unseren Feinden einen Grund zur Vergeltung liefern?« »Wir sind bereit!«, fauchte der König. »Dass noch mehr unserer Leute sterben? Bist du sicher? Ist es das, was du willst? Denn Krieg wird folgen, mein König. Hast du über dem Plan etwa den Verstand verloren?« »Sei vorsichtig, Loth!« Lothryn beherzigte die leise Warnung. »Cailech, wir kennen uns seit unserer Kindheit. Ich bin dir durch alle Prüfungen auf dem Weg zur Krone gefolgt und habe mich nie um die Erfüllung meiner Pflicht gedrückt. Es gibt niemanden, der dir treuer ergeben ist.« »Das weiß ich«, fuhr ihn der König an. »Aber ich kann diesen Plan nicht gutheißen. Er lässt dich in meiner Wertschätzung sinken«, wagte er zu sagen. Dann 271
wurde sein Tonfall flehend. »Mein König, das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Es ist unter deiner Würde.« Unbehaglich verzog Cailech das Gesicht. »Ich möchte ihnen eine Lehre erteilen, die sie nicht vergessen. Die Morgravianer haben unsere Kinder ermordet, Loth. Jetzt werde ich in der einzigen Sprache antworten, die sie verstehen. Es ist schrecklich, da stimme ich dir zu, aber ich werde es nicht zulassen, dass mein Volk von diesem neuen und arroganten König im Süden drangsaliert wird. Wenn ich diesmal keine angemessene Vergeltung übe, wird er denken, ich sei weich - vielleicht sogar verletzlich.« »Was spielt das für eine Rolle? Er bedeutet uns nichts!« »Natürlich spielt das eine Rolle!« »Könntest du damit leben?« »Du kennst mich gut genug.« Und dann dämmerte es Lothryn. »Das war nicht deine Idee, nicht wahr? Dein Verstand arbeitet ganz anders.« Cailech zuckte kurz mit den Schultern. »Und was, wenn es Rashlyns Vorschlag wäre - er hat recht!« Lothryn zog eine Grimasse. Rashlyn war der Barshi des Königs. Die Gebirgsleute hatten schon immer an Magie geglaubt. Wenn ein Herrscher seinen eigenen Barshi oder Zauberer hatte, wurde dies als Segen erachtet, denn diese Menschen waren rar. Doch Lothryn verspürte eine Abneigung gegen Rashlyn, seit dieser in die Razors gekommen war und sich durch Schmeichelei Zutritt zu Cailechs Aller-heiligstem verschafft hatte. Rashlyn hatte sich allerdings in Geduld geübt. Nach Jahren des zaghaften Ratgebens und Wartens, während denen er den abergläubischen Hang des Königs ausnutzte, hatte er schließlich Cailechs Vertrauen gewonnen. Jetzt fühlte er 5"
sich unberührbar. Er wusste, dass Lothryn ihn hasste, war jedoch sicher, unter dem Schutz des Königs zu stehen. Seine Macht über Cailech wurde mit jedem Jahr größer; aber seine neueste Idee war abscheulich. Lothryn beharrte auf seiner Meinung und fuhr sich mit der Hand durch das dicke Haar, das die Farbe von nassem Sand hatte. »Sie werden uns als Barbaren beschimpfen.« Der König stieß ein bitteres Lachen aus. »Du meinst die Morgravianer und Briavellianer? Das tun sie doch bereits! Das kümmert mich nicht mehr.« »Und das wird ihnen einen guten Grund liefern, es zu glauben, Mylord. Wenn du so handelst, beschmutzt du das Ansehen unseres Volks, und trotzdem wirst du es tun, nicht wahr, weil du weißt, dass sie Rashlyn, blind wie sie sind, folgen ... wie auch du?« Er hatte die Grenze nun endgültig übertreten. Lothryn erwartete einen Wutausbruch. Stattdessen war der Blick des Königs so kalt wie ein Gebirgsfluss im Winter. Cailechs Worte schnitten wie Eis durch Lothryns hitzige Verzweiflung. »Lass mich allein, Loth, bevor du etwas sagst, das wir beide bereuen könnten. Sorg dich auch nicht um die Reaktion unseres Volkes. Rashlyn wird sich heute Abend um den Wein kümmern, und unsere Leute werden ausgelassen mit mir feiern.« Lothryn sagte kein weiteres Wort, da er sich selbst nicht über den Weg traute er wusste nicht, was passieren mochte, wenn er weiter mit seinem Monarchen sprach, einem Mann, den er von ganzem Herzen liebte. Er würde ohne zu zögern für Cailech sterben, aber er war nie zuvor erschrockener über einen Plan oder enttäuschter von seinem Freund gewesen als in diesem Augenblick. Rashlyn musste gebremst werden. Lothryn hatte schon immer an den Ab 272
sichten des Mannes gezweifelt. Jetzt hatte Lothryn einen triftigen Grund, den Tod des dunklen Zauberers herbeizuwünschen. »Stell sicher, dass Koreldy und das Mädchen beim Fest heute Abend anwesend sind.« Die Stimme des Königs riss ihn aus seinen Gedanken. Lothryns Wangen brannten vor Wut, als er die Worte und die darin verborgene Drohung vernahm. 272
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SIE FANDEN SICH in der Höhle ein, der riesigen Halle, um die die Burg gebaut war und die ihr ihren Namen verliehen hatte. Dies war das Herzstück der Feste, und im Moment sah dort alles nach ausgelassener Festtagsstimmung aus. Lodernde Fackeln erleuchteten den Weg hinab zu dem zentralen Platz, wo viele Dutzend auf Böcken stehende Tische aufgebaut waren. In der Mitte gab es keine große Feuerstelle; stattdessen säumten mehrere Tonöfen mit ihren raffiniert verborgenen Abzugsrohren den Raum, in denen kleine Feuer brannten und die Gäste wärmten. Unzählige wunderschöne Lampionblumen, die nur im Norden vorkamen, waren zuvor geschnitten und kunstvoll in der Halle drapiert worden, hoch über den Köpfen der Gäste. Im Blütenkelch einer
jeden Blume war eine winzige Kerze entzündet, und die Flammen ließen die Blütenblätter der rosaroten Kelche nicht nur prächtig erleuchten, sondern erfüllten und wärmten die Luft mit ihren wohlriechenden Düften. Es war wahrlich eine wunderschöne und majestätische Kulisse. Die aufgeblaseneren südlichen Reiche konnten noch viel von diesen »Barbaren« lernen, musste sich Wyl erneut eingestehen. Das Zentrum der Halle war ausgespart, und im Moment 5H
befanden sich dort Tänzer, die einen traditionellen Reel vorführten. Er war kraftvoll und fröhlich; die Musik war laut, hallte von den Wänden wider und verstärkte die festliche Atmosphäre. Die Tänzer, die in farbenfrohe Gewänder gekleidet waren, bewegten sich mit ihren komplizierten, schnellen Schritten zum Rhythmus der großen Bergtrommel, die von zwei kräftigen Stammesmitgliedern geschlagen wurde. Cailech, der auf einer Empore saß, erstrahlte in einer rabenschwarzen Tracht, die seine hochgewachsene Statur hervorhob und einen prächtigen Gegensatz zu seinen hellen goldenen Locken bildete. Er trug heute ein Leinenhemd unter der kurzen Jacke, und eine dünne Silberkette ersetzte das Lederband um seinen Hals. In der eleganten Schlichtheit seiner Aufmachung wirkte er ganz und gar wie ein König. Das sanfte Laternenlicht ließ seine kantigen Gesichtszüge weicher erscheinen und gestattete Wyl einen flüchtigen Blick auf den jungen Idealisten, den Romen früher gekannt hatte. Der König wirkte an diesem Abend stolz und strotzte vor charismatischer Stärke, die ihn zu einem solch überzeugenden Anführer machte. Cailech war außerdem in bester Laune, sang lautstark mit und genoss die fröhliche Ausgelassenheit seines Volkes. Wyl saß zu seiner Rechten - ein Platz, der normalerweise von einem Ehrengast eingenommen wurde -, doch ihm war bewusst, dass er kaum mehr als ein Gefangener war. Er bemerkte Elspyth, die blass und schweigsam an einem entfernten Tisch Platz genommen hatte. Sie quittierte sein Eintreffen mit einem Nicken, sagte jedoch nichts und lächelte kaum. Ihr war der Stuhl neben Myrt zugewiesen worden. Lothryn war nirgends zu sehen. 273
Die Musik erstarb, und tosender Applaus erscholl, angeführt von Cailech. Eine Truppe Kinder kam im Gänsemarsch herein. Sie würden für ihren König ein Lied singen und brauchten Hilfe, sich richtig aufzustellen, damit er ihre süßen Gesichter sehen konnte. Wyl nutzte den Moment, um sich nach Lothryn zu erkundigen. »Ach, eine traurige Geschichte. Seine Frau ist heute bei der Geburt ihres Kindes gestorben«, flüsterte Cailech zurück, während er die Kinder weiterhin mit einem Lächeln bedachte. Dann sah er Wyl an. »Es ist allerdings ein Junge -stark und stolz -, ein weiterer Krieger, der im Krieg gegen den Süden kämpfen kann.« Sein Grinsen galt nur Wyl, und da lag noch etwas in seinem Lächeln, etwas Geheimnisvolles. Doch Wyl hatte nicht die Absicht, das Thema weiterzuverfolgen. »Ich vermute, dass Lothryn sehr bald zu uns stoßen wird«, fügte der König hinzu. »Wie könnt Ihr so herzlos über seinen Verlust sprechen?«
»Es war kein Verlust«, erwiderte Cailech abrupt. »Die beiden haben nicht zusammengepasst. Sie waren nicht füreinander bestimmt, und ihre Beziehung war zum Scheitern verurteilt. Ich habe ihm das gesagt, bevor er das Gelübde ablegte, aber sie trug bereits sein Kind unter dem Herzen, und er war entschlossen, ihm ein Vater zu sein. Das Kind starb wenige Tage nach seiner Geburt, ebenso wie das nächste. Sie hat nie ihr Lächeln zurückgewonnen - und ging durchs Leben, als wäre ihr jeder Tag eine schwere Last. Loth hoffte, das dritte Kind könne etwas Freude in ihr Leben bringen - ich ebenfalls, denn sie hatte einen ausgezeichneten Stammbaum vorzuweisen. Ihr Vater und sein Vater vor ihm waren Stammesführer.« 274
»Ihr Tod war also ein Segen?« »Das habe ich nicht gesagt, Koreldy. Er wird nicht spurlos an ihm vorübergehen, denn er liebte sie auf seine ganz eigene Art. Aber Lothryn wird sich erholen. Ich muss ihm helfen, eine Mutter für den Jungen zu finden.« Wyl schüttelte den Kopf. »Und Ihr, Cailech. Hat bisher keine Frau Euer Herz berührt?« Bei dieser Frage glitt ein Schatten über das Gesicht des Königs. Einen Moment lang schienen sich die Augen des Mannes zu verdunkeln ... und dann verschwand es wieder. »Ich möchte nicht, dass Loth das besondere Ereignis heute Abend verpasst«, war die einzige Antwort des Königs. Wyl beließ es dabei. Es machte keinen Unterschied, ob sich Cailechs Herz jemals genug erwärmte, um einen anderen Menschen zu lieben. »Welches besondere Ereignis?« »Schsch, die Kleinen sind bereit«, sagte Cailech und drehte sich der Mitte der Halle zu. Die Kinder sangen glockenrein - es war eine bewegende Ballade über die Not der Gebirgsleute in den frühen Jahren, als sich die Stämme gegenseitig bekriegten. Wyl schenkte dem Lied nicht viel Beachtung, obwohl er bemerkte, dass Cailech sowohl vom Text wie auch vom Auftritt entzückt war; ganz offensichtlich liebte der König die Kinder seines Volkes. Stattdessen dachte Wyl über das nach, was noch vor ihm lag, und wie er am besten die Gründe für seine Freilassung vorbringen könnte. Er musste Cailechs Vertrauen gewinnen, und dazu musste er ihm glaubhaft machen, dass seine Abneigung gegen die Morgravianer ebenso groß 274
war wie die des Königs. Die Kinder hatten ihr Lied beendet und nahmen ihren Applaus entgegen. Cailech sprang auf und klatschte laut. Fieberhafte Anstrengung lag unter der festlichen Stimmung verborgen, fand Wyl. Romens scharfe Auffassungsgabe bemerkte sie im glasigen Blick der Leute oder ihrem Lachen, das ungestüm und viel zu laut war. Er verwarf seine Frage, als der König wieder Platz nahm und ihn ansah. Man schenkte ihm Wein ein, und der erste Gang, gedünsteter Fisch, wurde serviert, während eine Musikgruppe ein Lied anstimmte.
»Ich hoffe, Ihr habt Euch auf eine lange Nacht eingestellt ... eigentlich ja auf zwei«, sagte Cailech. »Das Fest geht morgen weiter. Die Fische wurden heute in meinen Flüssen gefangen. Genießt das Essen.« Wyl entschied, es sei das Beste, die gute Laune des Königs auszunutzen. Nach dem Fisch wurde eine köstliche Platte mit Fleisch gereicht, dessen schlichtes Aroma durch Kräuter und Gewürze eine kräftige Note erhielt. Jetzt war es an der Zeit, einen ersten Versuch zu unternehmen. »Seid Ihr nun überzeugt, dass ich nicht für Celimus spioniere?« Cailech nippte an seinem Wein und ließ sich von der unvermittelten Frage nicht aus der Ruhe bringen. »Habt Ihr mir noch mehr zu sagen, was mich davon überzeugen könnte?« »Celimus und ich haben nichts füreinander übrig ... darauf gebe ich Euch mein Ehrenwort.« »Und trotzdem habt Ihr für ihn gearbeitet, diesem hässlichen Plan zugestimmt...« »Ja! Für Gold, Cailech - nichts weiter als Gold.« Wyl 275
musste seine Stimme senken, aus Angst, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Cailech schwieg, doch Wyl fühlte sich unter seinem abschätzenden Blick unbehaglich. »Was wollt Ihr?« Wyl versuchte es erneut. »Wie kann ich Euch beweisen, dass ich niemandem außer mir selbst verpflichtet bin?« »Oh, ich glaube Euch, dass Ihr Groll gegen Celimus hegt. Das tun wir doch alle«, sagte er. »Aber wie sieht es mit der Königin von Briavel aus?« »Wenn ich Celimus schwächen kann, indem ich ihr helfe, dann werde ich das tun«, erwiderte er. »Warum macht Ihr Euch überhaupt die Mühe, Romen, wenn Geld das Einzige ist, das Euch reizt?« »Um abzurechnen«, antwortete er. »Was kümmert es Euch?« Wyl seufzte. »Celimus geht es um mehr als nur um Macht. Das verstehe ich. Es liegt in der Natur eines Mannes, mehr Land, mehr Reichtum, mehr Macht zu wollen.« Cailech nickte, sagte jedoch nichts. »Wenn niemand Valentyna hilft«, fuhr Wyl fort, »dann wird Celimus in Briavel einmarschieren. Die Legion ist stark, und die Königin hat keine Kriegserfahrung. Ich mag ein Grenadyner sein, aber nach seinem mehrfachen Verrat sträubt sich alles in mir dagegen, dass er sich einen weiteren Morgen Land oder eine weitere Goldmünze für seine Schatztruhe einverleiben kann.« Der König dachte nach und sagte: »Es wäre töricht von Celimus, die neue Königin zu unterschätzen, wie unerfahren sie auch sein mag. Manchmal reicht schon Leidenschaft allein.« 275
Wyl stimmte dieser weisen Aussage zu, insbesondere, als er sich wieder ins Gedächtnis rief, wie stur und entschlossen Valentyna auf ihn gewirkt hatte. Wenn irgendeine junge Königin eine Armee anführen könnte, dann wohl sie.
»Dennoch«, widersprach er, da er darauf bedacht war, von Valentyna abzulenken, »wenn meine Dienste ihr gegen Celimus helfen, werde ich sie ihr gern anbieten, obschon meine Preise inzwischen gestiegen sind.« Er hatte die letzten Worte absichtlich angefügt, um den Schein aufrechtzuerhalten, dass ihm tief im Innern keines der beiden Reiche am Herzen lag. »Dorthin soll Eure Reise also gehen, Koreldy? Zurück nach Briavel? Um der jungen Königin Eure kostspielige Waffe zu einem hohen Preis anzubieten?« »Ja«, antwortete Wyl und hoffte, dies sei die Antwort, die der Gebirgskönig hören wollte. Er bemerkte, dass jemand Cailech ein Zeichen gab. Romens stets wachsamen Augen entging nicht viel. »Ich verstehe. Bei all Eurem aufgestauten Hass gegen Morgravia werdet Ihr Gefallen an meiner Überraschung finden.« Der König bot Wyl keine Möglichkeit nachzufragen. Stattdessen erhob er sich und ließ seinen Krug laut auf den Tisch knallen. »Geliebtes Volk«, sagte er und brachte die Menschen so zum Schweigen. »Mein Volk«, betonte er in fürstlicher Manier. »Ich habe heute Abend eine Überraschung für Euch. Um unsere Toten zu ehren ... all jene, die beim letzten Mond von den Südländern ihrer unschuldigen Leben beraubt wurden, habe ich unsere Küche gebeten, im Gedenken an sie ein besonderes Gericht vorzubereiten.« Er machte eine dramatische Pause. Obschon Wyl den 276
Grund nicht kannte, durchzuckte ihn Angst. Er wusste, wie unberechenbar der König war. Cailech fuhr fort, doch sein Lächeln erreichte nicht die Augen. »Lasst Euch etwas Neues und Fremdes auf unserer Speisekarte schmecken.« Erneut ließ er den Krug herabsausen und ermunterte sein Volk, es ihm gleichzutun. Das taten sie auch. Der Gebirgstrommel wurde ein trauervoller Ton entlockt, und die Menge stimmte im Takt mit ein. Wyl hatte nicht den leisesten Schimmer, was hier vor sich ging, und keiner von Romens Erinnerungen konnte er entlocken, was diese Zeremonie bedeuten könnte. Er vermutete, man würde dem König ein großartiges Gericht auftischen - jemand hatte angedeutet, dass sogar Schwan auf der Speisekarte stand, was in Morgravia nur hochrangigen Würdenträgern und der Königsfamilie vorbehalten war. Konnte es das sein? Das tief bewegende Gebirgshorn ertönte über dem Schlagen der Trommeln. »Seht dort hinüber«, flüsterte Cailech, in dessen Stimme wilde Kälte lauerte. »Sie kommen.« Wyl folgte den gierigen Augen des Königs, da bot sich ihm ein derart überwältigender, grässlicher Anblick, dass er zu zittern begann. Sogleich drehte er sich zu Elspyth um, die die Hand vor den Mund hielt und mit weit aufgerissenen, ungläubigen Augen auf das schreckliche Spektakel sah. Auf einem Präsentiertisch wurden Menschen hereingerollt, die noch lebten, jedoch so drapiert waren, als seien sie tote Tiere, die man nur braten musste. Es waren fünf, vier Männer und eine Frau - alle nackt. Die Frau lag ausgestreckt auf dem Tisch, die Hände waren auf das Holz gena 276
gelt, um sie in dieser Stellung zu fixieren, die Füße waren gefesselt. Gewürze waren über sie gestreut. Alle Männer bis auf eine waren wie Schweine angerichtet - Hände und Füße zusammengebunden - und wurden von den kräftigsten der Barbaren auf Spießen hereingetragen. Der letzte Mann, der am Hals, den Händen und Füßen angekettet war, hatte den Kopf gesenkt. Er schlurfte hinter den anderen her, eine erbärmliche Figur, das traurige Finale dieser verstörenden Aufführung. Wyls Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Er bekam kaum noch Luft. »Cailech?«, krächzte er, aber der König beachtete ihn nicht. »Seht alle her!«, schrie Cailech seinem Volk entgegen. »Morgravianisches Fleisch für Eure Mägen!« Das Volk, das Wyl als Schöpfer hochentwickelter Kunst bewundert hatte, begann nun rhythmisch zu klatschen und den Opfern Verwünschungen entgegenzuschleudern. Er ließ die Atmosphäre der Halle auf sich wirken. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, nähme er an, dass die Menschen unter dem Einfluss von Rauschmitteln standen. Seine Aufmerksamkeit wurde auf einen Mann in einem dunklen Gewand gelenkt. Kleine Augen, beinahe schwarz, beobachteten das Schauspiel mit einem hungrigen Ausdruck. Seine Hände waren vor der Brust gefaltet, und ein zottiger Bart verbarg die Form seines Mundes, während ebenso ungezähmtes Haar sein Gesicht umrahmte. Die Augen des Mannes huschten zwischen den Gefangenen und Cailech hin und her. Wyl sah, wie er nickte, und dann hörte er den König Befehle erteilen. »Schmiert sie mit Öl ein!«, grölte Cailech. »Entfacht die Feuer!« Er schluckte den Inhalt seines Kruges hinunter, ließ 277
ihn mit einem Knall auf den Tisch donnern und wischte sich den Mund ab. Seine Augen brannten nun mit einer Leidenschaft, die sich Wyl nicht erklären konnte. »Nehmt sie und wartet auf mein Signal«, ordnete der König an. »Alle außer dem Angeketteten. Der bleibt hier. Bindet ihn an die andere Seite meiner Halle an, damit ich mich an ihm weiden kann.« Wyl hielt nach dem seltsamen dunkelhaarigen Mann Ausschau, doch er war bereits verschwunden. Dennoch war Wyl sicher, dass er bei den Geschehnissen des heutigen Abends die Fäden gezogen hatte. Wer ist er? Warum sollte Cailech
auf sein Geheiß hin handeln?
Die Tische wurden hinausgerollt, und der zurückgebliebene Mann, dessen langes, fettiges Haar von grauen Strähnen durchzogen war und sein schmutziges Gesicht verdeckte, wurde grob an die Wand gekettet, wie man das vielleicht mit einem Hund täte. »Musik!«, rief Cailech, und ein fröhlicher Jig ertönte. Er drehte sich um und sagte dann im munteren Plauderton zu Wyl: »Als Nächstes gibt es Schwan. Unsere Spezialität, wenn Ihr Euch erinnert, Romen.« Der König lächelte grimmig und setzte sich. Allmählich begannen die Gäste wieder laut miteinander zu sprechen und zu lachen, als sei das, was gerade vorgefallen war, eine völlig normale Unterbrechung bei jedem Gebirgsfest. Aber Wyls eigenartiger Eindruck - dass das Volk unter Drogen stand - erschien ihm immer plausibler. Man musste
ihnen nur beim Tanzen zusehen - ihre Bewegungen waren zu hektisch und wild. Irgendetwas stimmte mit ihnen nicht. Wyl, der immer noch keinen zusammenhängenden Satz 278
herausbekam, blickte sich um und bemerkte, dass Lothryn sich endlich zu Elspyth und Myrt gesellt hatte. Augenscheinlich hatte er alles mitbekommen, denn sein Gesicht war eine Maske unverhohlener Verachtung. Elspyth stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Wyl räusperte sich, doch seine Nerven gingen mit ihm durch. »Cailech«, sagte er leise. »Wer sind diese Menschen?« »Morgravianer. Ihr solltet lieber mit mir jubeln, anstatt den Anschein zu erwecken, als wolltet Ihr den Fisch wieder von Euch geben.« Wyl ballte die Fäuste unter dem Tisch, um ruhig zu bleiben. Morgravianer! Welch Grauen!
Er musste mehr erfahren und zwang seine Stimme, nicht zu zittern. »Soldaten?« Cailech nickte, während er an einem Stück Brot kaute. »Die Frau ist ihre Hure.« »Wie habt Ihr ...?« »Fergys Thirsk hatte die Grenzpatrouillen immer weiter verstärkt. Celimus ging in die Offensive und schickte einen Trupp Spione herüber, vielleicht mit der Absicht, sie Plünderungen durchführen zu lassen.« Er lachte spöttisch. »Sie glauben, sie kennen die Berge ... Sie wissen gar nichts! Die Narren, die wir aufgriffen, waren Bauern, nicht einmal Soldaten. Wir können ihre Grenze mit so vielen Leuten stürmen, wie es mir passt, wenn ich den Befehl dazu gebe.« »Und wirst du das?« »Vielleicht. Wer kennt schon die Launen der Barbaren, die das Fleisch ihrer eigenen Art essen?«, sagte er mit Hass in der Stimme. Wyl wusste, dass Cailech auf die Geschichten anspielte, 278
die sich um das Gebirgsvolk rankten. Er hatte sie selbst schon gehört... und sie früher auch geglaubt. Jetzt, wo er bei ihnen war, erschien es ihm mehr als offenkundig, dass dies nicht das allzeit herumhurende, kannibalische, aggressive und unterentwickelte Volk war, das solch beliebte Mythen den Morgravianern weismachen wollten. »Warum tut Ihr das? Um Euren Standpunkt zu verdeutlichen?« »Genau!«, sagte Cailech leise und verärgert. »Celimus hat den Befehl erteilt, jeden Gebirgsmenschen töten zu lassen, der gesichtet wird. Er ist nicht gerade wählerisch, und ihn interessiert auch nicht, ob es sich dabei um Kinder handelt. Sie haben vor Kurzem ein Dutzend Unschuldige abgeschlachtet. Wenigstens beschränke ich mich darauf, nur Soldaten gefangen zu nehmen!« Wyl hatte nichts von Celimus' neuestem Gesetz gehört, aber es klang glaubhaft. »Cailech, die meisten Menschen in den südlichen, dicht besiedelteren Gebieten Morgravias wissen nicht einmal, wie ein Gebirgsmensch aussieht oder dass Ihr tatsächlich existiert.« Er versuchte, Cailech mit Vernunft zu erreichen.
»Nun, für den morgravianischen König scheinen wir wichtig genug zu sein. Ich habe mindestens zwei Dutzend Leute verloren, seit er den Thron bestiegen hat, zu viele von ihnen Kinder, Romen, die unabsichtlich die unsichtbare Grenze übertraten. Kinder!« Er stand jetzt kurz davor zu schreien, und seine Untertanen sahen zu ihnen herauf und fragten sich, was ihren König so verärgern könnte. Wyl handelte rasch. Er konnte nicht riskieren, dass Cailech rasend vor Zorn wurde. Romens Gedächtnis warnte ihn, dass der Mann unberechenbar wurde, wenn er einen Wutausbruch bekam. »Seid still, Mylord. Ihr bringt Euer 279
Volk ganz durcheinander. Das hier ist eine Feier, nicht wahr?« Der König kippte seinen Wein hinunter und zwang sich zu schweigen, während er sich langsam beruhigte. Wyl nutzte die Gesprächspause, während die Geräusche des Festes um sie herumwirbelten. »Nun einmal ehrlich, Ihr habt doch nicht wirklich vor, die Leute zu essen?« Der König schwieg weiterhin. »Cailech, Ihr sagtet selbst, diese Menschen seien nichts weiter als Bauern, keine Soldaten! Ihr könnt sie nicht derart bestrafen - sogar im Krieg gibt es Gesetze, die eingehalten werden müssen. Celimus ist der Schuldige, diese Menschen sind unschuldig!« Wyl bemerkte, dass ein Flehen in seiner Stimme lag ... was auch dem König nicht entging, der ihn nun mit einem einschüchternden Blick bedachte. »Und die Menschen, die ich verloren habe? Waren sie etwa nicht unschuldig?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber das schwang darin mit.« »Ich bitte um Verzeihung. Das war nicht meine Absicht. Zumindest Soldaten verdienen einen ehrenvollen Tod. Und die Frau sollte überhaupt nicht ihr Leben lassen müssen.« »Für einen Grenadyner scheinst du sehr um das Leben der Morgravianer besorgt zu sein.« »Je älter ich werde, desto mehr liegt mir das Leben aller Menschen am Herzen.« Eine Frau mit einer lieblichen Stimme begann leise eine bewegende Ballade zu singen, und Wyl war erleichtert, dass sich die Zuhörer beruhigten. »Ich dachte, Ihr tötet ohne Gewissensbisse für Geld?«, fragte Cailech, während er sich zu der Frau umblickte. 279
»Ich muss es trotzdem nicht mögen«, erwiderte Wyl. Bei diesen Worten lächelte der König endlich und amüsierte sich aufrichtig. »Ihr überrascht mich immer wieder, Romen. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich Euch so lange habe leben lassen.« »Ich bin dankbar für Eure Nachsicht, Mylord«, sagte Wyl ernst und hob ehrerbietig seinen Kelch. »Darf ich mit dem Gefangenen sprechen?« Er war erleichtert, dass sich Cailech nicht weiter über das Aufessen der Gefangenen ausließ. Vielleicht war alles nur reines Theater - mit dem Zweck, sein Volk weiter aufzuwiegeln.
»Nur zu. Der dort ist ein zäher Bursche. Wir haben versucht, seinen Geist zu brechen, aber er ist stark.« »Wer ist das?« Cailech zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert das schon? Jemand Hochrangiges, wenn man bedenkt, wie er sich für die anderen eingesetzt hat ... und die Schmerzen für sie ertrug.« Es war eine kryptische Aussage. Wyl fragte nicht nach. »Was habt Ihr mit ihm vor?«, wollte er wissen und fürchtete sich auf einmal vor der Antwort. »Rashlyn hat vorgeschlagen, ihn Stück für Stück zu kochen. Wir werden ihm zuerst die Hände und Füße abhacken und jeden Tag etwas frisches Fleisch von seinem jämmerlichen Kadaver abschneiden. Und vielleicht werde ich sogar auf deine Geschichte zurückkommen, Koreldy. Ich werde seinen Kopf - natürlich gebacken - an Celimus schicken, damit er nicht länger lügen muss, wenn er behauptet, wir äßen unsere Feinde. Er wird wissen, dass es der Wahrheit entspricht!« Wyl überging die Phrasendrescherei. »Wer ist Rashlyn?« 280
»Mein Barshi. Er berät mich, könnte man sagen.« Das Wort Barshi sagte Wyl nichts. Er merkte es sich, um später bei Lothryn nachzufragen, hatte jedoch eine sehr genaue Vorstellung, wer dieser Barshi war. »War der heutige Abend seine Idee?« Der König antwortete nicht. Wyl zweifelte nicht daran, dass Cailech ein unbarmherziger Herrscher war, spürte aber gleichzeitig, dass er zu intelligent war, um sich zu einer solch grauenhaften Tat herabzulassen, ohne von irgendjemandem beeinflusst worden zu sein. Ganz offensichtlich übte dieser Rashlyn irgendwie Macht über den König aus. Wyl drehte sich vom Tisch weg und verbeugte sich steif vor Cailech, während ein gefüllter und kunstvoll mit Federn bestückter Schwan zum königlichen Tisch gebracht wurde, was einen Beifallssturm auslöste. Nach Fassung ringend blieb Wyl kurz bei Lothryn stehen, um ihm sein Beileid über den Verlust seiner Frau auszusprechen. Der Gebirgsmann nickte nur rasch, bevor er wieder zu seinem eigentlichen Anliegen zurückkam. »Es tut mir leid, dass Ihr dieser dunklen Tat heute Abend beiwohnen musstet.« »Anscheinend könnt Ihr der Sache nichts abgewinnen.« »Ich glaube, der König möchte nicht einmal mehr mit mir sprechen, nachdem ich ihm offen und ehrlich meine Meinung gesagt habe.« Wyl nickte. »War der Mann mit dem Bart und dem langen Haar Rashlyn?« »Ja. Er ist äußerst gefährlich.« »Das habe ich mir schon gedacht.« »Leider.« 280
»Wo ist Elspyth?«, erkundigte sich Wyl, als er bemerkte, dass sie fort war. »Ich glaube, Cailechs Überraschung war zu viel für sie.« »Seine Vorgehensweise ist unklug«, sagte Wyl, da er wusste, dass Lothryn ein vernünftiger Mann war.
»Mir gefällt es ebenso wenig wie Euch, aber ich habe alles in meiner Macht Stehende versucht. Er ist fest entschlossen, auf diese verabscheuungswürdige Art Vergeltung zu üben. Ihr kennt Cailech. Wir haben kürzlich viele Leben verloren, und trotz all meiner Ratschläge rückt er keinen Zentimeter von seiner Meinung ab. Natürlich ist er im Unrecht. Sein Tun wird nur weiteres Leid auf unserer Seite nach sich ziehen, doch er ist stolz und trauert um die Kinder, die gestorben sind. Sie haben sie zum Spaß getötet... Gebirgsmenschen gelten in den Augen der Morgravianer weniger als Tiere.« Wyl seufzte. Es schien unmöglich, dass die Männer unter seinem Oberbefehl ein solches Grauen verüben könnten. Außer sie unterstehen mir nicht, ermahnte er sich. Wahnsinn regiert in den Bergen, und Wahnsinn regiert in Morgravia -angewidert stellte er sich die handverlesenen Offiziere vor, die im Norden ihren Dienst taten. Dann blickte er zu der erbärmlichen, angeketteten Figur, die an der Mauer kauerte. Etwas ließ ihm keine Ruhe mehr; etwas, von dem er wusste, dass es wichtig war. Aber er war zu aufgewühlt. »Würdet Ihr Euch um Elspyth kümmern? Sie verdient es wirklich nicht, diesem Schauspiel beizuwohnen.« Lothryn nickte und war auf einmal wieder schweigsam. Wyl dankte ihm und ging in Richtung des Morgravianers, dessen Kopf zwischen seinen Knien hing. Er war ein hoch 281
gewachsener Mann, das konnte Wyl sehen. Dünn und muskelbepackt. Offenbar hatte er einst hart trainiert. Als er näherkam, spürte Wyl erneut, wie etwas sein Gedächtnis kitzelte. Was ist los? Was versuchen meine Gedanken heraufzubeschwören?
Jetzt konnte er den schmutzigen, ungewaschenen Soldaten riechen. Es erinnerte ihn daran, wie er Ylena gefunden hatte, und kalte Wut packte ihn. Er fragte sich, wie viele Schläge dieser Mann auf sich genommen hatte, um die anderen zu schützen. Wyl wollte sich hinabbeugen und mit dem Mann reden, doch eine Wache hielt ihn davon ab. »Es ist schon in Ordnung, Bore«, ertönte eine Stimme von hinten. Es war Lothryn. »Cailech überlässt wohl nichts dem Schicksal«, sagte Wyl in scharfem Tonfall, während er von Lothryn einen Schritt beiseite gezogen wurde. »Niemals, Romen. Das solltet Ihr wissen.« Wyl nickte, und sein Zorn vermischte sich mit Verzweiflung und einem kleinen Aufflackern von Weisheit, die ihn davon abhielt, etwas zu entgegnen. Er würdigte die Wache keines Blickes und kauerte sich hin. Der überwältigende Gestank des Soldaten hätte ihn beinahe wieder aufstehen lassen, doch er streckte die Hand aus und hob den Kopf des Gefangenen, um in ein geschundenes Gesicht zu blicken, das er nur zu gut kannte. »Gueryn!« »Bist du das, mein Junge? Bist du das, Wyl?«, krächzte der Mann, der offenkundig in einer Art Delirium und noch dazu blind war, da man ihm die Augenlider zusammengenäht hatte. »Ihr kennt ihn?«, fragte Lothryn überrascht.
Wyl hatte keine Kraft zu antworten, weder Lothryn 282
oder, was noch wichtiger gewesen wäre, Gueryn. Er hatte ihn Wyl genannt! Seinen Lehrer in diesem Zustand zu sehen - diesen tapferen Mann aus Argorn, der Morgravia so treu ergeben war und der Familie Thirsk so hingebungsvoll gedient hatte - war unerträglich. »Wyl?«, erkundigte sich der übel zugerichtete Mann erneut und ließ den Kopf wieder hängen, eingeschüchtert und mutlos. »Er fragt die ganze Zeit über nach jemandem namens Wyl. Muss wohl sein Sohn sein«, bemerkte die Wache. »Wünschte nur, wir hätten ihn auch geschnappt.« Sein bösartiges Lachen ertönte im falschen Moment. Wyl reagierte schnell. In der nächsten Sekunde hatte Romen Koreldy die Kehle des Wachtposten mit den großen Händen umschlossen und drückte fest zu. Verzweifelt schlug der Mann um sich und schleuderte das Tablett einer Bediensteten mit geröstetem Schwanenfleisch hoch in die Luft, bevor es mit einem lauten Krachen auf den Steinboden knallte. Wyl wurde von hinten gepackt, und ein Mann, der stärker war als er, hinderte ihn daran, noch größeren Schaden anzurichten. »Habt Ihr den Verstand verloren?«, rief Lothryn und drehte Wyl die Arme auf den Rücken. Es war zu spät. Cailech war von der Empore gesprungen und rasch zu ihnen geeilt. »Bei Haldors haarigem Arsch! Was ist hier los?«, knurrte er. In der höhlenartigen Halle war es still geworden - abgesehen vom Murren der Dienerin, die sich über das Tablett mit Schwanenfleisch beugte und die Stücke eifrig aufsammelte. Lothryn schickte sie weg. »Koreldy!«, schrie Cailech und zwang Wyl, ihn anzuse 282
hen. »Ihr wagt es, einen meiner Männer in meiner eigenen Feste anzugreifen?« »Eine seiner Äußerungen hat mich beleidigt, Mylord«, erwiderte Wyl, dessen Gedanken wie wild umherwirbelten. Er wusste, er brauchte einen gewichtigen Grund, um seine Tat zu erklären. »Er kennt den Gefangenen«, krächzte Bore. Cailechs Kiefer arbeitete heftig. »Hinaus!«, befahl er, und Wyl wurde grob von Lothryn außer Hörweite der neugierigen Zuschauer geschoben. Sie ließen Bore hustend und seine verletzte Kehle massierend zurück. »Wer ist er?«, verlangte der König zu wissen. »Sein Name ist Gueryn le Gant«, sagte Wyl, der froh war, nicht mehr in der Nähe seines alten Freundes zu sein, während er Romens einzigartiges Talent für Lügen benutzte. »Er stammt ursprünglich aus Grenadyn. Ich bin mit ihm zusammen aufgewachsen.« Gueryn war nur ungefähr zehn Jahre älter als Koreldy, erkannte Wyl. Er musste vorsichtig sein. »Was in Haldors Namen hat er sich dann dabei gedacht, morgravianische Farben zu tragen?« Wyls Blick glitt zu Lothryn, der ausdruckslos hinter seinem König stand. Von dieser Seite hätte er keine Hilfe zu erwarten. Stattdessen spielte er auf Zeit.
»Das kann ich erst beantworten, wenn ich mit ihm gesprochen habe. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen«, log er. »Hol ihn her!«, sagte Cailech über die Schulter hinweg, und Lothryn gehorchte. Wyl wusste, dass Romens sonst so ungezwungenes Lächeln ihn gerade im Stich ließ. Und auch Cailech war es 283
nicht entgangen, als er einen bedrohlichen Schritt nach vorn trat. »Wenn ich herausfinden sollte, dass Ihr lügt, Koreldy, wird es das letzte Mal sein. Euch wird dasselbe Schicksal ereilen wie Eurem nackten Freund.« Der zitternde Gueryn wurde vor den König gezerrt. Vielleicht glaubte er weitere Schläge zu erhalten, mutmaßte Wyl, da das hellere Fackellicht eine Vielzahl blauer Flecke am ganzen Körper offenbarte. Lothryns Gesichtsausdruck zeigte, dass er mit den brutalen Rachegelüsten seines Herrschers nicht einverstanden war. Die zugenähten Augenlider wiesen die Handschrift Rashlyns auf. Aufgewühltes Stimmengewirr hinter ihnen ließ Wyl sich umdrehen: Elspyth versuchte, sich durch die Wachen zu kämpfen. Als Cailech seinem Stellvertreter einen fragenden Blick zuwarf, flüsterte dieser ihm rasch etwas zu. »Erlaub es. Sie könnte von Nutzen sein.« Elspyth durfte zu ihnen treten. Sie wandte sich vom Gefangenen ab und funkelte stattdessen Cailech an. »Ach, Elspyth. Ich habe Euch gewarnt, dass die heutige Feier wohl nicht ganz Euren Geschmack treffen dürfte. Jetzt könnt Ihr uns vielleicht helfen. Würdet Ihr bitte den armen Kerl hier ansprechen und ihm in meinem Namen eine Frage stellen? Es könnte sein, dass er auf die Stimme einer Frau reagiert - daran hätten wir schon früher denken sollen, nicht wahr, Loth?« Er grinste, doch sein Stellvertreter erwiderte nichts. Elspyth drehte sich um und erhaschte einen seltsamen Ausdruck in Romens Gesicht. Schmerz war darin zu lesen, doch sie war nicht sicher, was er von ihr wollte. »Redet sanft mit ihm«, erklärte Cailech. »Fragt ihn, wer Romen Koreldy ist«, fügte er hinzu und warf Wyl einen 283
verschlagenen Blick zu. Seine Augen spiegelten zugleich etwas Bedrohliches und eine Warnung wider. Sie sah zu dem zitternden Mann. Es war nicht Angst, die ihn zum Erschaudern brachte. Soweit sie das beurteilen konnte, war er krank, und das war auch kein Wunder, wenn man seinen geschundenen Körper betrachtete. Elspyths Herz zog sich beim Anblick dieses tapferen Soldaten, der augenscheinlich seine Geheimnisse nicht preisgegeben hatte, schmerzhaft zusammen. Würde er sich zu seiner vollen Größe aufrichten, wäre er ein eindrucksvoller Mann und zweifelsohne stolz, dachte sie. Sie war den Tränen nahe, als sie seine Augenlider bemerkte, die so grausam zusammengenäht worden waren. Sie hatten geblutet, und das Blut war nun verkrustet. Entzündete Wunden hatten sich um die durchstochene Haut gebildet. Der Tod wäre womöglich die
barmherzigere Alternative gewesen. Als sie merkte, dass die drei Männer sie beobachteten, drängte sie den Gedanken beiseite. »Wie heißt er?«, fragte sie und wandte sich an Wyl. Cailech gestattete Romen nicht zu antworten, was Elspyth seltsam vorkam. Noch vor einer Stunde hatten sie sich freundlich miteinander unterhalten - und jetzt lag eine aggressive Spannung zwischen den beiden. »Gueryn«, erwiderte Lothryn und bedachte sie mit einem angedeuteten Lächeln, aus dem sie wieder Mut schöpfte. »Gueryn, könnt Ihr mich hören?«, wollte sie wissen. Sofort wandte er die blinden Augen Elspyth zu. Er nickte. Cailechs Gesicht nahm den Ausdruck grimmiger Vorfreude an. Endlich würde der Mann etwas verraten ... und 284
alles, was es dazu gebraucht hatte, war die Berührung einer Frau. »Ich heiße Elspyth, Gueryn. Ich bin Morgravianerin, aus der Stadt Yentro.« Als er den Akzent in ihrer Stimme erkannte, quoll eine einzelne Träne zwischen den Nähten seiner Lider hervor, und Wyls Herz zerbrach. Mehr konnte er einfach nicht ertragen. »Alle für einen, Gueryn!« Er schrie das Familienmotto der Thirsks aus vollem Halse heraus. Er hätte es vorhersehen müssen, aber er war so damit beschäftigt, Gueryns verwirrten Geist zu erreichen, dass Cailechs Faust ungehindert Romens zerbrechliche Rippen traf, die unter dem festen Schlag erneut zersplitterten. Wyl krümmte sich und fiel auf die Knie, während der Schmerz ihn mit scharfen, grellen Lichtern durchzuckte. Er brach in einer Ecke zusammen, konnte nur unter großen Schwierigkeiten atmen und hoffte verzweifelt, dass die Lunge nicht in Mitleidenschaft gezogen war. Er konnte nicht sehen, dass Gueryn ein wenig gerader dasaß und einen Hauch größer wirkte. Sein Mund war zu einer festen Linie gefroren, die Wyl als Kind so oft gesehen hatte, wenn Gueryn unzufrieden mit ihm war. Mit dem Familienmotto hatte Wyl etwas viel Wichtigeres erreicht, als sich nur eine gebrochene Rippe einzufangen. Alles war so schnell gegangen, dass Elspyth nicht einmal die Zeit geblieben war zu schreien. »Ein Geräusch, junge Frau, und mit Euch geschieht das Gleiche«, flüsterte Cailech. »Das ist auch alles, wofür Ihr gut seid, Mylord«, fuhr Elspyth ihn an. »Frauen zu schlagen! Menschen zu quälen! Ihr hattet mich eine Zeit lang an der Nase herumgeführt, aber 284
jetzt erkenne ich, dass Ihr im wahrsten Sinne des Wortes ein Barbar seid. Ihr besitzt keinerlei Mitgefühl. Tötet mich, wenn Ihr das müsst. Ich werde Euch nicht Eure dreckige Arbeit abnehmen. Ich bin Morgravianerin und stolz darauf. Ich werde mich nicht vor dem Gebirgsvolk verneigen. Ich würde lieber sterben, als meine Landsleute zu verraten. Glaubt mir, wenn ich sage, dass ich meinem König misstraue, doch ich liebe mein Volk. Ich will weder Euch noch Euren Stämmen Schaden zufügen, aber ich werde nicht zulassen, dass Ihr mich oder meine Landsleute weiter foltert. Ich werde Euch nicht helfen, diesen
Mann zu bedrängen oder den Söldner zu demütigen. Ihr könnt in Eurer eigenen barbarischen Art herausfinden, was Ihr wissen wollt.« Elspyths lange Rede hatte alle überrumpelt. Ihre Augen funkelten vor leidenschaftlichem Zorn; ihre Brust hob und senkte sich bei jedem keuchenden Atemzug. Hätte Wyl die Kraft besessen, hätte er Elspyths feurigen Monolog bejubelt. Er war überzeugt, dass der König sie nach dieser schrecklichen Beleidigung ebenfalls schlagen würde. Stattdessen grinste er höhnisch. »Bring sie alle in den Kerker, Loth. Sie können dasselbe Schicksal über den glühenden Kohlen teilen. Wir werden es jedoch erst morgen ausführen. Ehrlich gesagt ist mir für heute der Appetit vergangen.« 285
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EIN UNAUFMERKSAMER BEOBACHTER hätte annehmen können, dass der Gebirgskönig allein war und tief in Gedanken versunken an einem Feuer saß, das er weder zu seiner Behaglichkeit noch für das Licht schätzte. Neben ihm stand ein unberührter Becher mit warmem Wein. Cailech war verärgert. Immer noch verärgert über Lothryn, der vor dem Fest seinen Plan angezweifelt hatte. Er liebte Lothryn. Niemals würde er einen treueren Untertan oder besseren Freund finden. Aber es schien, dass sie nicht mehr dieselbe Vision teilten. Lothryn war mit dem zufrieden, was sie erreicht hatten. Cailech wusste, dass der Rat seines Freundes lauten würde, von nun an einfach ein glückliches Leben zu führen und klug zu regieren. Sich um sein Volk zu kümmern. In den Bergen ihrer Heimat zu gedeihen. Beinahe konnte er es Lothryn sagen hören. Doch Cailech wollte mehr. Er war immer noch ehrgeizig. Obschon er jetzt in seinem vierten Lebensjahrzehnt war, war das Feuer in seinem Innern nicht erloschen. Ohne es zu wissen, teilten er und Celimus den gleichen Traum. Sie konnten sich beide ein blühendes Imperium jenseits ihrer eigenen Landesgrenzen vorstellen. Cailechs hätte sich im Idealfall vom Norden bis ganz zum Süden des Kontinents 285
erstreckt, wobei es sich nach Osten und Westen ausgeweitet hätte, um die wichtigtuerischen Morgravianer und die naiven Briavellianer einzuschließen, die ihrer nördlichen Grenze kaum Aufmerksamkeit schenkten. Keines der Reiche war je schwächer gewesen. Beide hatten junge Thronfolger, die erst kürzlich gekrönt worden waren. Es war ein kluger Schachzug von Celimus, Valentyna einen Heiratsantrag zu machen. Und sie würde ihn annehmen, ihre Länder und die Stärke ihrer Armeen vereinen. Rashlyn hatte recht. Wenn Cailech einen Teil des fruchtbaren, leicht zu bewirtschaftenden Landes südlich der Razors für sich einfordern und einige seiner Leute zum Umsiedeln in ein müheloseres Leben in wärmeres Klima überreden wollte, dann müsste er sich beeilen. Möchte ich das?, fragte er sich. Möchte ich wirklich, dass unser Volk verweichlicht? Wäre er ehrlich zu sich, hätte er sich eingestehen müssen, dass er in Wahrheit nur den neuen König von
Morgravia demütigen und besiegen wollte. Celimus stellte eine Bedrohung für den Frieden und Wohlstand aller dar, und wenn er seinen Kopf durchsetzen und Valentyna heiraten würde, gäbe er sich erst zufrieden, wenn er die Menschen hoch oben im Norden gezähmt hatte. Da war Cailech sicher. Celimus war den Berichten zufolge ehrgeizig und kein Feigling. Unerfahren, aber zweifelsohne habgierig und mit einem Verstand gesegnet, der ihn sein eigenes Imperium erbauen und seinen zukünftigen Sohn nicht nur über die südlichen Reiche herrschen ließe, sondern womöglich auch über die Gebirge. In seinen Grübeleien tauchte Koreldy auf, der die Neugier des Königs geweckt und Mitleid mit den morgravianischen Gefangenen erfleht hatte. Das war das Volk, das ihm 286
angeblich keinen Deut wert war. Und dann die Geschichte mit Valentyna, der er seine Dienste anbieten wollte. »Alles sehr großherzig und selbstgerecht«, murmelte der König. »Aber was verbirgst du, Koreldy?« Cailech war überzeugt, dass Koreldy ihm nicht die Wahrheit sagte. Der Mann kam ihm verändert vor. Natürlich waren viele Jahre verstrichen, seit sie sich gesehen hatten, aber es gab sehr greifbare Unstimmigkeiten in diesem neuen Koreldy. Der alte Romen war unerhört selbstsüchtig und furchtbar selbstsicher gewesen. Der Tod seiner Schwester hatte zwar seinen Tribut gefordert, aber sein Charakter war derselbe geblieben. Der Romen von heute war weit weniger arrogant. Die prahlerische Art war immer noch vorhanden, doch es lag jetzt ein Zögern darin, vielleicht sogar Abgeklärtheit, die Cailech nicht ergründen konnte. Außerdem - und das war die größte Eigentümlichkeit - hatte Koreldy ihn noch nicht zu einer Partie Agrolo herausgefordert, und er konnte nicht glauben, dass Romen nun zu reif war, um den Wettstreit auf dem Spielbrett zu suchen. Als sie jünger waren, hatte Cailech Romen das Spiel erklärt, der es mit verbissener Leidenschaft geliebt hatte. Man musste ein hohes Maß Konzentrationsfähigkeit besitzen, und den Drang, Risiken einzugehen - und nur wer bereit war, seinen Einsatz zu verlieren, hatten eine wahre Chance auf den Sieg. Romen war ein Mann, der immer gewinnen wollte, und er konnte nicht vergessen haben, wie Cailech ihn bei ihrer letzten Begegnung vernichtend geschlagen hatte. Immerhin hatte er seine gesamte Geldbörse gewonnen, verdammt noch mal, und seine Ländereien drüben in Grenadyn! Nicht, dass er sie jemals eingefordert hätte. 286
Nein, grübelte der König. Mit Koreldy war entweder eine außergewöhnliche Verwandlung vonstatten gegangen, oder sie hatten es mit einem Hochstapler zu tun. Ihm war nicht aufgefallen, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Kein Hochstapler, mein König«, ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ich habe ihn mir genau angesehen. Es ist Koreldy.« »Bist du sicher?« »Was könnte es sonst sein? Vermutest du einen Zauber?« »Ist das möglich?«
»Nein. Ein Zauber erfordert ungeheuere Fähigkeiten, Cailech«, sagte die Stimme, die nicht mehr ganz so unterwürfig klang. »Wer könnte deiner Ansicht nach über ein solches Talent verfügen?« Der König zuckte die Achseln. »Es war nur ein Gedanke.« »Ein unmöglicher. Es gibt nur einen weiteren Menschen, der womöglich solche Macht besäße, und der ist tot.« »Elysius.« Eine dunkle Gestalt schälte sich nun aus den Schatten, und Rashlyns Gesicht wurde vom Schein des Feuers erleuchtet. »Wer sonst«, sagte er entschieden. »Und du vergisst, dass ich Koreldy ebenso gut kenne wie du.« »Aber du hast ihn nie wirklich kennengelernt, nicht wahr?« »Nein. Ich habe ihn aus der Entfernung beobachtet. Dennoch würde ich wissen, wenn es nicht derselbe Mensch wäre.« »Ist es derselbe Mensch, Rashlyn? Ich stimme dir zu, dass auch ich bemerken würde, wenn er sich äußerlich verändert hätte. Allerdings ist da etwas anderes. Aber ich be 287
sitze nicht dein Gespür - ich kann es nicht festmachen«, sagte er frustriert. »Ich spüre nichts weiter, als dass er uns Schwierigkeiten bringen wird, mein König.« »Er kann nichts tun. Ich habe ihn in meinen Kerker werfen lassen.« »Und Lothryn, Cailech? Kannst du ihm trauen?« Cailech sah seinen Barshi nun zum ersten Mal an. Es war ein böser Blick, der viel aussagte. »Vergib mir, Mylord«, entschuldigte sich der Zauberer und verbeugte sich zerknirscht, bevor er sich zurückzog. Sie waren in dieselbe Zelle gesperrt worden. Der Raum war groß, aber es gab nichts weiter als einen Eimer. Ein schmaler Fensterschlitz versorgte sie dürftig mit kühler Luft, und die Wände waren von schleimiger Nässe überzogen. Eine einzige Kerze war gnädigerweise von Lothryn entzündet worden; er hatte nichts gesagt und sich geweigert, Elspyths Flehen zu erhören, doch Wyl spürte, dass der Hüne tief unglücklich über alles war. Wachen hatten ihnen die Hände gebunden, und obwohl Lothryn die beiden Männer gefesselt gelassen hatte, hatte er das Seil um Elspyths Handgelenke gelöst und war sogar noch lang genug geblieben, um sie zu reiben. Dann war er verschwunden, aber nicht, ohne Koreldy einen letzten Blick zuzuwerfen, der Wyl trotz seines hervorragenden Gespürs und seiner Erfahrung ein Rätsel war. Die schwere Eichentür fiel mit eisiger Endgültigkeit ins Schloss. »Bindet mich los«, bat er Elspyth und sah dann angstvoll zu Gueryn. 287
Sie mühte sich mit den Knoten ab. »Ich nehme an, Eure Rippe ist wieder gebrochen?« Er nickte. »Ich werde es überleben.« »Es war ausgesprochen dumm von Euch, den König zu erzürnen. Welcher Teufel hat Euch da nur geritten?« »Liebe, Treue, Freundschaft?«; erwiderte er.
Sie bemerkte die Traurigkeit in seiner Stimme. »Liebe! Für wen?« »Ihn.« Seine Hände kamen frei, und er legte einen Finger an die Lippen, um Elspyth zu bedeuten, ruhig zu sein. »Gueryn?«, flüsterte er. Der Mann zuckte nicht einmal. Wyl versuchte es erneut, aber ohne Erfolg. Elspyth, die nie lange still sein konnte, entschied sich einzugreifen. »Hier spricht Elspyth, Gueryn. Wir sind im Moment allein. Der Mann, der gerade mit Euch redet, ist ...« Sie durfte ihren Satz nicht beenden. »Ich bin es, Gueryn. Wyl.« Elspyth fuhr erschrocken zusammen. Romen sah sie nicht an, sondern beobachtete eindringlich Gueryns Reaktion, die nicht lange auf sich warten ließ. Der Mann drehte ihm sofort das geschwollene Gesicht zu. »Wyl?« »Ich bin hier.« »Wann ... wie ... deine Stimme ... es ist...« »Ich weiß. Es gibt viel zu erklären, aber jetzt musst du mir vertrauen.« »Wie kann ich das?« Wyl dachte angestrengt nach. »Du hast Ylena nach dem Tod meines Vaters ein weißes Kätzchen geschenkt, mich jedoch im Arbeitszimmer des Generals lange und tröstend 288
umarmt, was ich nie vergessen habe. Du warst unglücklich, meinen Vater nicht auf das Schlachtfeld begleiten zu können, doch du liebtest unsere Familie ... liebtest mich genug, um deine Karriere aufzugeben, als er dich bat, mich in seiner Abwesenheit zu erziehen und zu unterrichten. Dafür habe ich dich geliebt. Ich glaube, du hast meine Mutter bewundert, nur ein wenig mehr, als die Pflicht es dir abverlangt hätte, und ich vermute, sie wusste es. Sie ...« »Hör auf!«, sagte Gueryn. »Genug ... genug«, fügte er mit einer Stimme hinzu, die Wyl mehr schmerzte, als der alte Soldat das für möglich gehalten hätte. »Hat er dir wehgetan?« »Nicht so sehr wie dir, mein alter Freund.« Überraschenderweise stieß Gueryn ein krächzendes Lachen aus. »Wyl ... mein Junge ... ich hätte nie geglaubt, dich wiederzusehen.« »Und mir wurde gesagt, du seist so gut wie tot.« »Celimus?« »Ja.« »Das sieht ihm ähnlich.« Er hustete. »Bedeckt ihn mit Eurer Jacke. Er ist krank«, tadelte Elspyth im Flüsterton, während sie immer noch versuchte, aus dieser Unterhaltung schlau zu werden. »Kein Entkommen, Wyl. Ich habe es versucht. Alles ist gesichert«, warnte ihn Gueryn, als er die tröstende Wärme von Wyls Jacke spürte. Wyl sagte nichts dazu. »Warum haben sie dir die Augen zugenäht?« »Weil Cailech nicht mochte, wie ich ihn ansehe. Er sagte, er könne nur Verachtung in meinem Blick lesen. Er hatte recht.« 288
»Ich nehme an, du kannst von Glück reden, dass er sie dir nicht ausgestochen hat«, bemerkte Wyl zornig.
»Das hebt er sich für morgen Abend auf. Anscheinend wird es nur einem an den Kragen gehen. Er sagte, ich dürfe nicht verpassen zuzusehen, wie ich aufgegessen werde.« Er wiegte sich vor und zurück. »Was ist aus uns geworden, Wyl? Futter für die Barbaren.« »Erzähl mir alles«, bat Wyl. Gueryn erzählte seine Geschichte von dem Moment an, als der verhasste Celimus ihn nach Norden in die Gefangenschaft befahl. »Das war alles geplant. Celimus wollte es so.« Wyl nickte wissend. »In Shars Namen, das schwöre ich. Er hat mich absichtlich mit Männern, die ich nicht kannte, in die Razors beordert, um das Land dort auszukundschaften. Felrawthy war rasend vor Zorn, doch es war hinter seinem Rücken eingefädelt worden. Wir wissen alle, dass man nur die besten Fährtenleser und erfahrensten Soldaten auf eine solch gefährliche Mission schickt. Doch die Männer waren offenkundig unbrauchbar und besaßen kaum kriegshandwerkliches Geschick. Frisch von den Feldern geholt, würde ich sagen. Sie machten so viel Lärm und waren nicht fürs Gebirge geboren. Es war nicht die Frage, ob wir aufgegriffen werden, sondern einfach nur, wann. Das wusste ich in dem Augenblick, als uns die Befehle gegeben wurden. Die Frau war wahrscheinlich ein besonderer Leckerbissen von Celimus. Sie wurde dafür bezahlt, uns zu folgen.« Mitleidig drückte Wyl seinem Freund die Schulter, und Gueryn hob den Arm, um die Hand mit seiner eigenen zu bedecken. Es war ein bewegender Moment für sie beide, als 289
sie erkannten, wie tief Celimus seine stolze Legion hatte sinken lassen. Dem König verpflichtet, hatten sie keine andere Wahl, als seine scheußlichen Befehle auszuführen. »Und Elspyth mit der lieblichen Stimme ... wer seid Ihr, meine Liebe?« »Unglückseligerweise gefangen in dem Netz Eures Freundes Koreldy«, erwiderte sie. »Nicht, dass ich im Moment wüsste, wer er ist.« »Hast du dich verkleidet, Wyl?« »Ja«, entgegnete er und war froh um diese Ausrede. »Was ist dir geschehen? Wirst du mir alles erzählen?« »In Bälde, Gueryn. Jetzt solltest du dich ausruhen. Du atmest so schwer. Bitte, schlaf.« »Er hat recht«, stimmte Elspyth ihm zu. »Ihr zittert vor Fieber, Sir.« »Gut. Ich hoffe, ich habe die Pest und werde ihnen morgen ein feines Mahl bescheren - indem ich den ganzen Gebirgsabschaum anstecke.« Wyl hatte vorgegeben zu schlafen. Ihm war nicht nach reden, oder vielmehr danach, Elspyth eine Erklärung abzugeben. Sie bedrängte ihn nicht, obwohl er eine Zeit lang ihren verärgerten Blick spürte, bis auch sie erkannte, dass etwas Ruhe eine gute Idee war. Es schien, als seien bereits viele Stunden vergangen, seit die Tür hinter ihnen geschlossen worden war. Darm war ein Geräusch zu hören.
Ein leiser Aufprall. Wyl lauschte gebannt. Da war es schon wieder, dieses Mal jedoch lauter und begleitet von einem Grunzen. Er vernahm das Klirren von Schlüsseln und bemerkte dann in dem schwachen, sterbenden Kerzen 290
licht, wie sich die Türklinke bewegte. Im nächsten Moment sprang er auf und blickte sich nach etwas um, das er dem Eindringling über den Kopf ziehen konnte. Da seine eigene Faust als Waffe nicht taugte, war der Eimer das Einzige, was blieb. Glücklicherweise war er leer. Er schnappte ihn sich, blies die Kerze aus und verbarg sich hinter der Tür, als der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Nachdem die Tür aufgestoßen wurde, betrat eine große Gestalt, deren Umriss durch das gespenstische Fackellicht vom Korridor aus angestrahlt wurde, den Raum. Die Tür war so breit, dass Wyl hervortreten musste - er dankte der Reichweite von Romens langen Armen -, um mit dem Eimer den Kopf des Eindringlings zu treffen. Die Waffe verfehlte das Ziel nicht und zerbrach, was von einem lauten Fluchen begleitet wurde. Elspyth stieß einen Schrei aus. »Verdammt noch mal, Koreldy! Musste das sein?«, flüsterte Lothryn verärgert und rieb sich den Kopf. »Was habt Ihr erwartet?«, erwiderte Wyl, der nicht mit der vertrauten Stimme gerechnet hatte. »Dass ich mich widerstandslos braten lasse?« »Nun, bevor Ihr mich das nächste Mal schlagt, bedenkt bitte, weshalb ich flüstere.« Elspyth sprang auf und warf sich Lothryn in die Arme. »Ich wusste, Ihr würdet mich nicht sterben lassen!«, sagte sie. »Das hätte ich einfach nicht gekonnt«, sagte er, und seine Stimme war auf einmal sanft. »Lothryn, das ist alles sehr rührend, aber was in Shars Namen geht hier vor?«, zischte Wyl. »Ich befreie Euch«, flüsterte der Mann. »Beeilt Euch und 290
weckt Euren Freund. Ich habe warme Kleidung mitgebracht.« Wyl wollte den Kopf schütteln und seine Gedanken ordnen. Lothryn, ein Verräter an Cailech! Kaum zu glauben! Der Gebirgsmann schien seine Gedanken zu erraten. »Ich stimme Cailech nicht zu. Auch ich trauere um unsere Toten, aber unsere Feinde abzuschlachten, führt uns zu unseren dunkelsten Tagen zurück.« Behutsam schüttelte Wyl Gueryn, der verwirrt und ermattet erwachte. Das Fieber hatte seinen Körper immer noch im Griff. »Loth, es ist glatter Selbstmord, was Ihr da tut.« »Ich weiß. Hier ist der Schlüssel für die Fußketten. Helft ihm jetzt lieber beim Anziehen; Ihr müsst diese Kleidung überziehen, damit es aussieht, als gehörten wir alle dem Stamm an. Beeilt Euch! Ich habe die Wachen betäubt, aber man weiß nie, wie lange einem das Glück hold ist.« »Wer ist der Mann, der uns hilft?«, fragte Gueryn verwundert. »Lothryn«, antwortete Elspyth mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. Auch sie zog sich die Männerkleidung über, die Lothryn gebracht hatte.
»Ihr wart es, der versucht hat, meinen Willen zu brechen«, sagte Gueryn. »Und glücklicherweise ist es mir nicht geglückt. Eure Untertanentreue ist stärker als meine«, erwiderte Lothryn. »Ich verneige mich trotzdem vor Eurem Mut.« »Ihr könnt mir später danken, wenn wir dann noch am Leben sind«, sagte er grimmig. »Können wir den anderen helfen?«, fragte Gueryn mit klappernden Zähnen. 291
»Es ist zu spät. Wir würden unser Leben riskieren, um sie zu retten.« »Wir können sie doch nicht zurücklassen. Er wird sie essen!« Lothryn seufzte. »Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass er das tun wird. Heute Abend war er aufgebracht und wütend. Ihr habt ihn so schon früher erlebt, Koreldy.« Wyl nickte. »Aber er wird sie töten. Die Flucht mit mir ist Eure einzige Hoffnung. Ist jeder bereit?« Seine Gefährten nickten, obschon Gueryn jetzt entschieden verwirrt war, da er genau wusste, dass Wyl den Gebirgskönig nie zuvor getroffen hatte. »Waffen?«, erkundigte sich Wyl. »Keine außer meinen. Niemand wird getötet. Entweder kommen wir hier heraus, ohne jemanden von meinem Volk zu verletzen, oder wir sterben bei dem Versuch. Hier ist Euer Bündel.« Wyl blieb nichts anderes übrig als zu nicken. »Dann sind wir bereit.« »Habt Ihr meine Kleidertasche mitgebracht?«, erkundigte sich Elspyth bei ihrem Befreier. Wyl lachte. Was für eine typisch weibliche Frage! Elspyth verstand sein Grinsen. »Mir ist nur eingefallen, Romen Koreldy - oder wer auch immer Ihr sein mögt -, dass Ihr womöglich ein Schmerzmittel braucht. Ihr müsst natürlich nichts nehmen. Mein Schlaf ist es ja nicht.« Kleinlaut murmelte Wyl eine Entschuldigung, die sie jedoch überging, da Lothryn tatsächlich an ihre Tasche gedacht hatte und sie ihr nun zuwarf. »Hier«, sagte sie und drückte ihm grob die kleine Flasche in die Hand. »Sie gehört Euch.« 291
Er nippte ein paarmal daran und spürte, wie das betäubende Gefühl den Schmerz zu stillen begann. Er gab auch Gueryn davon zu trinken. Das Mittel würde das Fieber nicht senken, doch es würde die qualvolle Pein seiner anderen Verletzungen lindern. »Leise«, ermahnte Lothryn sie, als er und Wyl den leidgeprüften Gueryn gemeinsam trugen. Die frühe Morgenstunde gereichte ihnen zum Vorteil. Die Burg war nur leicht bewacht, derart groß war Cailechs Glaube an die Uneinnehmbarkeit der Feste. Sehr wenige Morgravianer wussten überhaupt von ihrer Existenz -und dann auch nur aus alten Sagen -, und noch weniger kannten den Weg dorthin. Die meisten würden sowieso mit einem Pfeil durch die Kehle sterben, denn Cailech hatte Wachtposten mit Adleraugen überall an den Pässen, die zur Festung führten, verteilt.
Die kleine Gruppe schlich sich auf Zehenspitzen an den liegenden Soldaten vorbei, die wahrscheinlich durch dieselbe Droge das Bewusstsein verloren hatten, die Lothryn auch bei den Wachen im Kerker angewendet hatte. »Ich habe den Wachtposten am Tor vorgewarnt, dass ich mich mit drei unserer Männer auf den Weg mache. Sprecht kein Wort. Ich werde das Reden übernehmen. Und Ihr, Elspyth, müsst das Haar unter der Haube verstecken und das Gesicht bedeckt halten. Wir sind alle tot, wenn sie argwöhnisch werden sollten.« »Auch du solltest den Kopf einziehen«, flüsterte Wyl Gueryn zu. Lothryn hatte alles gut geplant. Sie trugen einen besonderen Umhang mit Kapuze, der von den Gebirgsleuten angezogen wurde, wenn sie in höhere Lagen reisten. Diese 292
Kapuze würde ihnen nun einen prächtigen Dienst erweisen - das hofften sie zumindest. »Werden wir die Flucht zu Fuß versuchen?«, flüsterte Wyl. »Nein. Die Pferde wurden bereits gesattelt. Glaubt Ihr, er kann reiten?« »Tut nicht so, als sei ich altersschwach. Ich kann reiten. Würde Euch noch bei jedem Wettrennen schlagen - selbst ohne Augenlicht!«, knurrte Gueryn, bevor die beiden ihn zur Ruhe ermahnten. Lothryn führte sie zu den Ställen, wo sich ein junger Bursche den Schlaf aus den Augen rieb. »Sehr spät für Euch, um noch aufzubrechen, Loth«, sagte der Junge. »Ein geheimer Auftrag, Junge. Das habe ich dir doch schon erklärt. Du solltest das für dich behalten, erinnerst du dich? Erzähl es niemandem.« »Nicht einmal dem König, Loth?«, scherzte der Junge. »Er weiß davon«, erwiderte Lothryn, und sie alle konnten sich die eisige Berührung von Cailechs Zorn vorstellen, die sich bereits nach ihnen ausstreckte. Lothryn lenkte den neugierigen Stallburschen ab, indem er ihn bat, die Sattelgurte seines Pferdes fester zu ziehen, während die anderen aufstiegen. Mit letzter Kraft schaffte es Gueryn, sich ohne Hilfe auf sein Pferd zu hieven, und ließ sich in den Sattel fallen. Elspyths Fuß glitt am Steigbügel ab, doch die nackte Angst ließ sie in Windeseile wieder hinaufklettern, wohingegen Wyl es ohne Probleme gelang, da keinerlei Schmerzen seine Bewegungen einschränkten. Er zweifelte allerdings nicht daran, dass seine Rippe noch vor Morgengrauen wieder zu pochen beginnen würde. 292
Lothryn flüsterte dem Jungen einige Abschiedsworte zu, bevor er ihm stillschweigend zuwinkte. Der Junge tat es ihm gleich, dann gähnte er und eilte zurück zu seiner Schlafstätte. »Das war der einfache Teil«, murmelte Lothryn. »Folgt von nun an meinem Beispiel.« Sie führten die Pferde ruhig aus den Ställen, dann brachte Lothryn sie zum Torhäuschen. Beim Näherkommen zogen sie die Kapuzen noch tiefer ins Gesicht.
»Ho!«, rief Lothryn dem Mann zu, der verschlafen das Gesicht aus dem Fenster reckte. »Was soll denn das?«, fragte die Wache. »Tut mir leid wegen der späten Stunde, Dorl. Wir müssen einen Auftrag des Königs erledigen.« »O ja, und was könnte das sein, Lothryn?« »Du sollst deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken. Es wird dich eines Tages noch mal in große Schwierigkeiten bringen«, erwidert Lothryn, dessen Stimme belustigt klang. Dorl antwortete gut gelaunt: »Es ist meine Aufgabe, neugierig zu sein.« »Ja, aber nicht, wenn es um Cailechs Privatangelegenheiten geht.« »Also schön. Aber nur einen kurzen Moment. Ich wollte gerade zu Abend essen, habe bloß auf meine Ablösung gewartet.« »Wer übernimmt die Schicht?« »Ich glaube, Bore ist auf dem Weg hierher«, rief Dorl, während er an der Kurbel drehte, die das Tor öffnete. Wyl und Lothryn warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu. Bore würde ein Problem darstellen. »Obwohl ich gehört 293
habe, dass irgendwas beim Fest vorgefallen sein muss. Er ist wohl verletzt worden.« »Hab ich nicht mitbekommen«, log Lothryn. »Nun komm schon, Dorl. Streng dich ein bisschen an!« Lothryns Bemerkung entlockte der Wache ein missbilligendes Grunzen, doch da begann sich das Tor langsam und mit protestierendem Quietschen zu heben. Lothryn wollte nicht noch länger warten, schnalzte, und das Pferd setzte sich in Bewegung. Es sträubte sich, bis sich das Tor ganz geöffnet hatte, doch der Reiter ließ nicht locker, sodass das Tier gehorchte und den Kopf senkte. Elspyth war als Nächste an der Reihe und war erleichtert, dass ihr Gaul einfach Lothryns Pferd folgte. »Bei Haldors Zorn, ihr habt es aber eilig!«, rief Dorl ihnen zu. »Die Angelegenheiten des Königs können nur selten warten«, rief Lothryn zurück und hoffte, dass Gueryn den Fingerzeig verstand und schnell nachkäme. Das tat er. Wyl, der die Nachhut bildete, bedankte sich beim Torhüter, indem er schweigend die Hand hob. »Haldor führe euch«, verabschiedete er sie. Lothryn gab eine ähnliche Antwort und spürte, wie Erleichterung ihn durchflutete, als sich das Tor schneller öffnete. »Reitet!«, sagte er über die Schulter zu seinen Begleitern. Sie brachen auf dem steinigen Untergrund in einen kurzen Galopp aus und flogen über den ersten Pass. »Seht nicht hinunter, Elspyth«, warnte er sie. »Das werde ich nicht«, rief sie grimmig zurück, hielt die Zügel fest umschlossen und starrte auf den Rücken des Gebirgsmannes, der ihr Herz gewonnen hatte, ohne dass er sich auch nur die geringste Mühe gegeben hätte.
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»Glaubt Ihr, man wird uns folgen?«, fragte Wyl. »Natürlich werden sie das«, sagte Lothryn. »Cailech wird uns von nun an für immer suchen.« Vielleicht fünfzehn Minuten später hörte Wyl hinter sich Hufgetrappel. Er schrie Lothryn zu, dankbar, dass er nun flacheres, übersichtlicheres Gelände sehen konnte. »Reitet, was Ihr könnt!« Das ließ sich niemand zweimal sagen. Den vier Pferden wurden die Sporen gegeben, und Wyl rief Gueryn Orientierungshilfen zu, der trotz seiner Blindheit furchtlos galoppierte. Sein Tier folgte gehorsam Lothryns Pferd, und als die Kapuzen der Reiter zurückgeweht wurden und ihre wahren Identitäten unter dem Vollmond zum Vorschein kamen, hörten sie ein zorniges Brüllen hinter sich. Bore holte allmählich auf und schwang ein Schwert in der Hand. Lothryn hatte keine andere Wahl, als seine Waffe aus der Scheide zu ziehen, herumzuwirbeln und sich dem laut schreienden Mann in den Weg zu stellen. Auch Wyl wandte sich um, doch er fühlte sich hilflos ohne sein Schwert. Die anderen verlangsamten ihr Tempo, und Elspyth zog Gueryn in den Schutz eines zerklüfteten Felsvorsprungs. Wyl schrie Lothryn entgegen, er solle ihm die Waffe geben. »Kämpft nicht gegen Euren eigenen Mann. Lasst mich. Ich habe guten Grund, ihn zu töten. Ihr nicht.« »Ich habe nicht die Absicht, ihn zu töten«, rief Lothryn zurück. »Ich verstehe. Lasst mich«, flehte Wyl, der sich vorstellen konnte, wie schwer dieser Verrat für Lothryn wohl sein musste. Schließlich schleuderte der Gebirgsmann Wyl das Schwert 294
entgegen, der es mühelos in der Luft auffing und dann vom Pferd sprang. Ihm blieb nur ein kurzer Augenblick, um sich zu sammeln, bevor sich Bore auf seinen Landsmann stürzte, fest entschlossen, ihn zu erschlagen. Er zielte mit seinem Schwert auf Lothryns Kopf, verfehlte ihn nur um Haaresbreite und hätte sein Vorhaben mit einem zweiten Hieb in die Tat umgesetzt, hätte Wyl ihn nicht abgelenkt, indem er die Waffe schwingend auf ihn zurannte. Stattdessen glitt Bore nun vom Pferd und trat Wyl gegenüber. »Du Verräter!«, schrie Bore Lothryn entgegen, während er seinen neuen Gegner umrundete. »Wie konntest du uns nur derart betrügen?« »Weil Cailech im Unrecht ist.« »Ist es falsch, den Feind zu töten?« »Es ist falsch, Unschuldige abzuschlachten.« »Seit wann kümmert dich eine morgravianische Seele?« Wyl ließ ihnen Zeit. Während Bore ihn weiterhin umkreiste, sah Wyl schon, dass sein Gegner im Vergleich zu ihm selbst schwerfällig war; ihm fehlte die Geschmeidigkeit. Bore, das spürte er, würde sich einfach auf ihn stürzen. Wyl hatte keine Angst vor ihm. »Seit jetzt, Bore«, erwiderte Lothryn. »Schlaf einfach mit ihr, Loth, und die Sache ist erledigt. Ich werde dir auch dabei helfen. Du weißt, dass du keine Gnade von Cailech erwarten kannst.«
»Kein weiteres Wort über sie, Bore«, warnte ihn Lothryn, »oder ich werde das Schwert an mich nehmen und die Angelegenheit beenden.« »Und du glaubst, ich fürchte mich vor dir?«, entgegnete er. »Nein«, fiel Wyl ihm ins Wort, den das Gespräch allmäh 295
lich ermüdete. »Aber vor mir solltet Ihr Euch fürchten, Bore, da Eure Beleidigungen noch nicht vergessen sind. Wie geht es eigentlich Eurer Kehle?« Borcs Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Wenn das hier vorüber ist«, rief er Lothryn zu, »werde ich sie vor deinen Augen nehmen.« Wyl ahmte den Ton von Eltern nach, die ein Kind ausschimpfen. »Welch hässliche Sprache, Bore! Mal sehen, ob du ebenso schmutzig kämpfst, wie du redest.« Eine blitzschnelle Abfolge surrender Schwerthiebe ließ Bore stöhnend zu Boden gehen. Er hielt sich das Bein, und aus einer Wunde, bei der Sehnen und Muskeln durchtrennt waren, strömte Blut. Auch sein Arm war verletzt. »Das sollte ihn ein wenig aufhalten«, sagte Wyl zu Lothryn, der ihn ehrfurchtsvoll ansah. »Ich wusste, Ihr seid geschickt, Koreldy, hatte aber keine Ahnung, wie gut Ihr seid.« »Ich habe einige Tricks von einem neuen Freund gelernt«, erwiderte Wyl. »Ich vermute, er soll am Leben bleiben?« Lothryn nickte. »Lasst ihm etwas Wasser zurück.« Das taten sie und ritten augenblicklich weiter, wobei ihnen Bore wüste Verwünschungen hinterherrief. Nachdem sie außer Sichtweite der Wache waren, hielt Lothryn erneut an. »Was ist los?«, fragte Wyl. »Wir müssen den Rest der Dunkelheit ausnutzen, um so weit wie möglich zu fliehen«, warnte sie Lothryn. »Als Bore unsere Verfolgung aufnahm, hat Dorl sicher keine Zeit vergeudet, zum König zu laufen. Auf jeden Fall werden die Wachen nun geweckt sein und Alarm geschlagen haben, 295
dass ihr drei entkommen seid. Cailech wird nicht abwarten - er hat gewiss schon einen Suchtrupp ausgeschickt.« Elspyth spürte neue Angst in sich aufsteigen. »Was heißt das?« »Er will damit sagen, dass wir schleunigst verschwinden müssen, nicht wahr?«, krächzte Gueryn. Lothryn nickte und sah Wyl an. »Dann lasst mich zurück!«, befahl Gueryn, »Ich bin euch nur ein Klotz am Bein.« »Hör auf!«, rief Wyl. »Hier wird niemand zurückgelassen. Lothryn ... sagt mir das Schlimmste.« »Wir müssen über die Berge. Die Pferde können uns nur ein Stück weiterbringen. Den Rest werden wir zu Fuß zurücklegen müssen. Es ist sehr gefährlich.« »Wachtposten?« »Nein«, sagte er mit düsterer Miene, »die sind unser geringstes Problem. Die wahre Gefahr geht von den Ekons aus.«
»Ihr wollt damit sagen, es gibt sie wirklich?«, fragte Elspyth. Wyl hatte noch nie von ihnen gehört. »Ekons ... ein anderer Stamm?« Lothryn stieß ein schroffes Lachen aus. »Eine andere Spezies. Ich kann nur hoffen, Ihr werdet sie nicht zu Gesicht bekommen, geschweige denn gegen sie kämpfen müssen. Hier«, sagte er und nahm ein in Sackleinen eingewickeltes Bündel aus seinem Gepäck. »Ihr werdet das hier brauchen.« Wyl vernahm das beruhigende Klirren von Metall. »Meine Waffen?« Der Barbar nickte. »Ich habe sie aus Eurem Zimmer im 296
Gasthof in Yentro gestohlen. Ich hegte große Hoffnungen, sie behalten zu können, aber wenn ich ehrlich bin, sind sie ein wenig zu elegant für den Kampfstil der Gebirgsleute«, gestand Lothryn. »Sind die Messer scharf?«, erkundigte sich Gueryn. Es war eine seltsame Frage. »Sehr!«, versicherte Wyl. »Gut. Dann kannst du meine Augen von den Nähten befreien.« Seine drei Begleiter warfen sich rasche Blicke zu. Es hatte nicht wie eine höfliche Bitte geklungen. »Tu es!«, befahl Gueryn mit einer Strenge, an die sich Wyl nur zu gut erinnerte. »Ich werde es tun«, schlug Elspyth vor. »Ich habe eine ruhige Hand.« Vorsichtig reichte Wyl ihr einen der Dolche. »Bei Mondlicht kann ich nicht besonders gut sehen«, gestand sie ihrem Patienten. »Nun, dann sind wir schon zu zweit«, erwiderte er barsch. »Tut, was Ihr könnt.« Er legte sich auf den Rücken, und sie dankte Shar innerlich für den Vollmond in dieser Nacht. Gueryn stand große Schmerzen aus, denn die Stiche waren bereits getrocknet. Sie gab ihr Bestes, sie mit Wasser zu befeuchten und aufzuweichen, doch die heikle Aufgabe wurde durch die äußeren Umstände noch weiter erschwert. Wevyrs ausgezeichnete Klinge war der einzige Segen. Eine Berührung, und der schwarze Faden war sauber durchtrennt. Allmählich und qualvoll wurden Gueryns geschwollene Augenlider befreit. »Es ist nicht perfekt«, gab sie zu, als sie die vereinzel 296
ten Fäden bemerkte, die immer noch in seiner Haut steckten. »Für mich ist es das. Vielen Dank, meine Liebe, und Ihr seid genauso hübsch, wie ich mir das aufgrund Eurer lieblichen Stimme vorgestellt habe.« Sie lächelte über sein Kompliment. Gueryn suchte nun nach dem Mann, der vorgegeben hatte, sein geliebter Wyl Thirsk zu sein, und erblickte lediglich einen hochgewachsenen Fremden. »Ihr seid nicht Wyl.« Bittere Enttäuschung durchzuckte den alten Soldaten. »Gueryn - es gibt so viel zu erzählen, aber wir haben keine Zeit.« Allmählich dämmerte es Gueryn le Gant. »Spart Euch die Worte für ein anderes Mal auf. Danke, dass Ihr mir geholfen habt... Ich nehme an, Ihr seid der Romen Koreldy, von dem Cailech unbedingt wollte, dass ich ihn identifiziere. Wenn Ihr nicht das Motto der Thirsks gerufen oder im Kerker
vorgegeben hättet, Wyl zu sein, hätte ich womöglich meinen Kampf gegen ihn, gegen das Fieber, gegen den Schmerz verloren.« Er lächelte zaghaft. »Ihr wisst sicherlich, dass Ihr Wyl Thirsk in keiner Hinsicht ähnelt, aber trotzdem erinnert Ihr mich sehr an ihn.« Wyl schüttelte den Kopf. Er wollte sich Gueryn unbedingt anvertrauen und ihm alles über die verblüffende Wende in seinem Leben erzählen, doch er wusste, dass ihm sein alter Freund im Moment keinen Glauben schenken würde. Es brauchte besonderes Fingerspitzengefühl und viel Zeit. Gueryns Blick war bereits zu Lothryn weitergewandert. »Unsere Augen werden sich wiedersehen«, sagte er trocken. »Wäre ich stark genug, würde ich gegen Euch kämpfen.« 297
Der Hüne lächelte und bot ihm die Hand, um Gueryn auf die Beine zu helfen. Wyl sah mit Sorge, wie schwach der Soldat tatsächlich war. »Also schön«, sagte er, »dann werden wir also unser Glück über die Berge versuchen.« Lothryn nickte. »Er wird es nicht erwarten. Er wird der logischsten Spur folgen und annehmen, dass wir so schnell wie möglich fortkommen wollen.« Elspyth stöhnte auf. »Er wird einfach zwei Trupps Fährtenleser losschicken, oder?« Lothryn warf Wyl einen Blick zu. Elspyth hatte recht, aber er wollte sie nicht noch weiter entmutigen. Die Chancen für eine Flucht über die gefährlicheren Gebirge und den Kampf gegen Cailechs Männer und die Ekons standen im günstigsten Fall schlecht. Doch der direkte Weg, der sich die Razors hinabschlängelte, war ungleich gefährlicher. »Cailech wird keine zwei Trupps Fährtenleser losschicken, wenn er der frischen Spur von vier Pferden folgen kann«, sagte Gueryn entschlossen, wobei er krampfhaft versuchte, nicht zu husten oder sich anmerken zu lassen, wie schlecht es ihm ging. »Das verstehe ich nicht«, sagte Wyl. »Koreldy, Eure Chancen verringern sich mit jeder Sekunde. Wenn wir ihnen eine deutliche Spur liefern und sie keinen Grund haben, sie anzuzweifeln, werden sie der Fährte blindlings folgen - Scherz beiseite.« »Nein!«, sagte Wyl, der auf einmal verstand, worauf das hinauslief. »Doch!«, erwiderte Gueryn ebenso bestimmt. »Ihr drei geht zu Fuß übers Gebirge. Sie werden es nicht vermuten, wenn Ihr Eure Spuren am Anfang geschickt verbergt. Ich 297
werde die Pferde nehmen und sie hinunterführen, weg von Euch. Ihr werdet einen Tag gewinnen, vielleicht sogar zwei, wenn Ihr Euch beeilt. Außerdem seid Ihr ohne mich schneller.« »Gueryn, ich kann das nicht erlauben«, erklärte Wyl. »Warum? Ihr habt mir nichts zu sagen, Grenadyner. Wir sind einander zu nichts verpflichtet, aber ich werde das für Euch tun, da ich es will. Bringt Euch in Sicherheit und warnt die Legion vor Cailechs Drohung, keine Gefangenen zu verschonen. Die Legion darf nicht mehr leichtsinnig in den Norden geschickt werden - vielleicht könnt Ihr Celimus wenigstens davon überzeugen.«
Es gab so viel zu sagen, so viel, das er ihm erzählen wollte. Wyl spürte, wie ihn kalte Trostlosigkeit packte. »Du wirst sterben! Und zwar vollkommen sinnlos.« Gueryn lächelte auf die Art, die Wyl daran erinnerte, wofür er diesen Mann liebte. »Viel lieber sterbe ich bei dem Versuch, die Bastarde zu überlisten vergebt mir, Lothryn -, als über ihren Kohlen gebraten zu werden. Ich werde meinen Tod einfordern, mein Sohn, und ich werde ihnen beim Sterben ins Gesicht lachen. Bitte, geht. Lasst mich das als Dank für Euch tun, da Ihr mich aus dem Kerker geholt habt.« Lothryn nahm Anteil an Koreldys Schmerz. »Es ist ein guter Plan, Romen.« Wyl blickte zu seinem alten Freund und Lehrer, kämpfte die Gefühle nieder und zwang die Tränen zurück, die ihm in die Augen traten, denn er hätte sie nicht erklären können. Er nickte. »So soll es sein.« Gueryn streckte Wyl die Hand hin. »Ich werde die Pferde so weit bringen, wie es mein kränklicher Körper zulässt, 298
und dann noch weiter. Ihr kanntet anscheinend jemanden, der mir sehr viel bedeutet - Wyl Thirsk. Die Vorfreude, seine Geschichte zu hören und zu erfahren, wie es ihm geht, wird mich am Leben erhalten. Vielleicht werden wir uns wiedersehen, Koreldy ... wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.« 298
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GUERYN VERLIESS SEINE GEFÄHRTEN und führte ihre Pferde hinter sich her. Wyls letzter Blick auf ihn erfasste gerade noch, wie sein Freund einen Schluck aus der kleinen Flasche nahm, die er dem alten Soldaten in die Hand gedrückt hatte. Gueryn hatte die Medizin dankbar angenommen, um den Schmerz zu lindern und ein wenig Kraft zurückzugewinnen. Keiner gestand laut ein, dass das Fieber ihn wahrscheinlich töten würde, bevor seine Häscher es konnten, doch sie alle dachten es. Wyl wollte sich nicht länger mit diesem Gedanken quälen. Stattdessen vertrieb er all das aus seinem Geist und ging in grimmiger Stille hinter Lothryn und Elspyth her. Jeder trat in die Fußstapfen des anderen, und Wyl hatte einen Tannenzweig bei sich, um weitere Spuren so gut wie möglich zu beseitigen. Er ignorierte den Schmerz in seiner Rippe und den peitschenden Wind, der an ihm zerrte, sondern konzentrierte sich allein darauf, seine Schritte zu zählen und so viele wie möglich zwischen sich und Cailechs Feste zu bringen. Als das erste Licht des Frühlingsmorgens sanft den Himmel erstrahlen ließ, hielt Lothryn an. »Wir sollten uns einige Stunden ausruhen. Nicht weit von hier gibt es eine Höhle, wo wir uns ein wenig hinlegen können.« 298
»Können wir das riskieren?«, fragte Wyl nachdenklich. »Wir müssen, damit uns genügend Kraft für die dünnere Luft und das unwegsamere Gelände bleibt. Das hier ist gar nichts im Vergleich dazu.« »Es ist ganz einfach«, sagte Elspyth in einem Tonfall, der ihre Worte Lügen strafte.
Sie setzten ihre Bündel ab und holten etwas getrocknetes Essen heraus, das Lothryn vorsorglich eingepackt hatte. Sie waren nicht hungrig, aber der Gebirgsmann war beharrlich. »Vergesst den Hunger. Euer Körper braucht die Nahrung, selbst wenn Euer Kopf Euch das Gegenteil weismachen will. Zwingt Euch dazu«, sagte er, und sie kamen seinem Rat nach. Jeder kaute auf einem Stück getrocknetem Fleisch, getrockneten Früchten und etwas Brot. Sie tranken ausgiebig, da sie wussten, dass es viel frisches Wasser auf dem Weg gäbe, mit dem sie ihre Vorräte auffüllen könnten. »Ruht Euch jetzt aus. Nur zwei Stunden«, warnte sie Lothryn. Wyl drehte Elspyth den Rücken zu, die sich schamlos in Lothryns Arme gekuschelt hatte. Sie fühlte sich sicher in seiner Umarmung, und sie wusste gleichzeitig, dass sie irgendwie auch dahingehörte. Fast augenblicklich kam der Schlaf über sie alle. Er träumte. Er kannte das Zimmer; den Geruch von Schweiß und Angst, von Fäkalien und Urin ... und seltsamerweise den Geruch von Begierde. Wyl war wieder er selbst; rothaarig, jung und verängstigt, als sie Myrren das grässliche Strappado hochhievten. Er hörte das Knacksen 299
ihrer Schultergelenke, als sie ihre zerbrechlichen Arme auskugelten, aber sie schrie nicht. Sie gab nicht einmal ein Stöhnen von sich, als ihre Ellbogen brachen. Stattdessen machte das Publikum Geräusche, während es erschauderte, sich krümmte und sich den Schmerz vorstellte, auch wenn Myrren ihn nicht mit den Umstehenden teilen wollte. Sie war natürlich nackt. Wahrscheinlich war das notwendig, um das rein männliche Publikum zu erfreuen. Er sah das Funkeln in den vielen Augen, doch ihr schien es nichts auszumachen. Myrren sah immer nur Wyl an. Während der Folter hatte sie die Lider meist fest geschlossen, aber wenn sie sie ab und an für einen kurzen Moment öffnete, ruhte ihr versonnener Blick nur auf ihm. Damals hatte er nicht gleich bemerkt, wie sich ihre Lippen in einem fortwährenden Strom leiser Worte bewegten. Worte, die wahrscheinlich bloß sie kannte. Hexenworte, stellte er auf einmal in seinem traumähnlichen Zustand mit einer neu gewonnenen Klarheit fest. Wyl hörte Lymbert den schrecklichen Befehl »Fallen lassen!« rufen, und dann, als würde sie hundertmal langsamer fallen als in Wirklichkeit, wurde er Zeuge, wie Myrren herabsank. Und erneut verzog er in seinem Traum das Gesicht, denn er wusste, was nun folgte, wusste, dass sie sie fürchterlich verletzen würden. Plötzlich kam sie mit einem widerwärtigen Schlingern in der Luft zum Stehen, und ihre Lippen zuckten vor quälender Pein, als ihre Gliedmaßen, Muskeln und Sehnen schmerzhaft gedehnt wurden und schließlich rissen. In diesem Moment drang eine neue Dimension in den 299
Traum ein. Alles in der Folterkammer schien zu verharren. Myrrens blutunterlaufene Augen flogen auf, und sie sprach nur zu ihm. »Finde meinen Vater!«, befahl sie. Wyl erwachte zitternd in Romen Koreldys Körper.
Sie hatten weniger als zwei Stunden geschlafen, aber es hatte ausgereicht. Wieder ließ Lothryn sie ein wenig Käse und einige Nüsse essen, die sie mit etwas Wasser hinunterspülten. Nachdem sie behutsam alle Spuren ihres Aufenthalts beseitigt hatten, drängten sie weiter. Elspyth hielt nun unverhohlen Lothryns Hand - was wahrscheinlich der Grund für ihre gehobene Laune war. Nicht, dass es Wyl tatsächlich interessiert hätte. Seine Gedanken waren bei Gueryn und der Frage, ob sie sich jemals wiedersähen. Gueryn kämpfte sich zäh voran. In den tieferen Lagen war es wärmer, aber das Fieber hatte ihn wieder ganz im Griff und brannte sich ungezügelt durch seinen zitternden, schmerzenden Körper. Gierig nippte er ein weiteres Mal an der Flasche, obschon er wusste, dass das Mittel die Folgen des Fiebers nicht lindern konnte. Es kümmerte ihn jedoch nicht. Sein einziger Wunsch war, weiter aufrecht zu sitzen und die Pferde vorwärtspreschen zu lassen. Jeder Meter, den er vorankam, würde das Leben seiner Freunde um eine Minute verlängern. Inständig hoffte er, dass sie bereits weit fort waren. Außerdem erwartete er jeden Augenblick einen Pfeil in seiner Kehle. Er war überrascht, es überhaupt so weit geschafft zu haben. Um sich vom Tod abzulenken, dachte er über Koreldy nach. Dieser Mann war eigenartig. Warum sah ihn der Grenadyner mit so viel Mitgefühl an? Nein, kein Mitgefühl. Das 300
Wort war viel zu schwach. Es war Liebe. Koreldy war ihm auf eine ganz besondere Art verbunden, und dennoch wurde Gueryn nicht schlau aus ihm. Sich für Wyl auszugeben, war ein geschickter Schachzug; das musste man ihm lassen. Koreldy hatte ihm die Demütigung erspart, von Cailech aufgegessen zu werden. Allein der Gedanke daran ließ Galle in ihm aufsteigen. Was für ein Ende! Er hatte es Romen und dem mutigen Lothryn zu verdanken, dass er nun ehrenhaft sterben, die Feinde überlisten und vielleicht, wenn alle Hoffnung geschwunden war, sich ihnen stellen und kämpfen durfte, wobei er tapfer sein Ende finden würde, so wie jeder Soldat der Legion. Der Grenadyner hatte ihm nichts verraten - auch wenn er, das musste sich Gueryn eingestehen, kaum eine Möglichkeit gehabt hätte, mehr zu sagen. Dem Mann hatte viel auf der Zunge gebrannt, das hatte Gueryn in seinen traurigen grauen Augen lesen können. Wie konnte das nur sein? Und dann traf es ihn. War Wyl tot? War es das? Er hatte Koreldys Mitgefühl falsch gedeutet. Der Mann hatte sich vielleicht einfach bloß gesträubt, die Nachricht zu überbringen. Er wusste, dass sie Gueryn großen Schmerz bereiten würde und er womöglich seinen spärlichen Lebenswillen verlor. Wyl tot? Nein!
Gueryn sackte im Sattel zusammen. Was sonst sollte es sein? Wenn Celimus bereit war, seinen Tod zu planen, dann musste sein eigentliches Ziel Wyl lauten. Gueryn war gar nicht wichtig genug, um solche Aufmerksamkeit zu verdienen. Sein benebelter Verstand lichtete sich allmählich, und grenzenlose Wut bemächtigte sich seiner. Der neue König 300
von Morgravia hatte ihn, als er noch der Prinz war, absichtlich von Wyl getrennt und dann damit begonnen, ihrer beider Leben zu zerstören. Je länger er darüber nachgrübelte, desto mehr Sinn ergab es. Welch perfiden Plan hatte Celimus ausgeheckt, um Wyl zu töten? Es hätte nicht auf morgravianischem Boden geschehen können - dafür war ihm die Legion zu treu ergeben. Ein Aufstand wäre ausgebrochen, hätte die Armee auch nur die leiseste Ahnung von solch einem schändlichen Verrat. Aber Celimus war verschlagen. Also hätte er es so eingefädelt, dass sich Wyl außerhalb der Landesgrenze befände. Außerdem hätte er einen Fremden beauftragt -zweifellos einen Ausländer -, der seine schmutzige Arbeit verrichtete. Für die richtige Summe Gold wäre es ihm ein Leichtes, Söldner anzuheuern. Söldner! Gueryn ließ die Zügel locker. Hatte Elspyth Koreldy während der Auseinandersetzung mit Cailech nicht einen Söldner genannt? Ja! Gueryn ließ die Szene vor seinem geistigen Auge nochmals vorüberziehen. Dem Sinn nach hatte Elspyth auch noch gesagt, sie würde sich weigern, den Söldner noch weiter gedemütigt zu sehen. Romen Koreldy, der Wyl offensichtlich gut genug kannte, um den Schlachtruf der Familie Thirsk zu kennen, war ein Söldner! Gueryn war sich bewusst, dass er riesige Sprünge machte und womöglich an der falschen Stelle landen könnte, aber der Gedanke, dass Romen entscheidende Informationen über Wyl zurückhielt, war zu verlockend. Er musste am Leben bleiben. Er musste erfahren, was mit seinem geliebten Jungen geschehen war ... Und was war mit Ylena, seinem wunderschönen Mädchen? Auch sie schwebte in Gefahr, doch er hoffte, dass Alyd genügend Verstand 301
aufbrachte, um sie wenigstens von Stoneheart wegzubringen. Ja, ihr Gatte war vernünftig und fähig; sein Scharfsinn war sein größtes Kapital. Er würde ihr Leben nicht aufs Spiel setzen. Während seine fiebrigen Gedanken herumwirbelten, traf ihn schließlich der seit Langem gefürchtete Pfeil mitten in den Rücken und ließ ihn aus dem Sattel gleiten. Gueryn fiel wie ein Stein, wobei sein Kopf mit einer solchen Wucht auf den gefrorenen Gebirgsboden auftraf, dass sich augenblicklich tiefe Dunkelheit über all seine Erinnerungen an Wyl ausbreitete. Wyl führte sie jetzt an - es war nicht mehr nötig, ihre Spuren zu verwischen -, und sie erklommen gerade eine steile Anhöhe, als er auf einmal mitten in der Bewegung innehielt, woraufhin die anderen mit ihm zusammenprallten. »Romen, was ist los?«, erkundigte sich Lothryn. Wyl lauschte. Es war kein äußeres Geräusch, das er gehört hatte, sondern eine innere Stimme. Etwas hatte nach ihm gerufen. Aber sie war so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war und durch eine Woge der Traurigkeit ersetzt worden, die er sich nicht erklären konnte. »Gueryn ist tot«, sagte er leise und wusste, dass es stimmte. Elspyth nahm seine Hand. »Das kannst du nicht wissen.« Zu viel hatten sie schon zusammen durchgestanden, sie wollte keine gespielte Distanz vortäuschen.
Lothryn versuchte, ihre Zuversicht zu untermauern. »Seine Chancen standen schlecht, da stimme ich zu, aber er hatte einen großen Vorsprung.« 302
Wyl sah zu seinen Freunden, und Romens Augen verdunkelten sich. »Ihr seid nicht ich, ihr könnt nicht wissen, was ich fühle ... ihr wisst ja nicht einmal, wer ich bin!« Elspyth und Lothryn warfen sich einen beredten Blick zu - offenbar kamen sie überein, ihn besser in Ruhe zu lassen. Ihm war klar, dass seine Worte keinen Sinn ergaben. »Ich gehe voran«, sagte Lothryn und drängte sich vorbei. »Sie werden jetzt kommen«, warnte sie Wyl und schwieg. Dann folgte er wieder einmal in den Fußstapfen eines anderen Mannes, immer tiefer hinein in die bedrohlichen Razors. »Wenn er tot ist, werde ich dich an deinen Eiern aufhängen!«, donnerte Cailech und zeigte auf den Bogenschützen. Blitzschnell sprang er von seinem Pferd. »Untersuch ihn!«, rief er dem Mann zu, der dem gestürzten Soldaten am nächsten stand. Sie warteten, wobei der Bogenschütze ängstlich den Atem anhielt. »Er lebt, Mylord. Jedenfalls noch.« »Schafft ihn zurück zur Feste. Bringt die Heiler her und findet Rashlyn. Sofort!« Die Männer hasteten in verschiedene Richtungen. Gueryn wurde in Decken gehüllt; sie gingen behutsam vor, um den hässlichen Pfeil, der aus seiner Schulter ragte, nicht zu berühren. Er wurde auf ein Pferd gelegt und sofort auf dem Weg zurückgebracht, auf dem er zu fliehen versucht hatte. Der Mann, der ihn führte, schluckte hart und sandte ein stilles Gebet zu Haldor, damit dieser ihm half, den Gefangenen lebend zurück zur Burg und in die Hände der Heiler zu bringen. Denn er zweifelte nicht daran, dass der Kö
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rüg seine Drohung wahr machen würde, falls der Mann in seiner Obhut verstarb. Cailech drehte sich zu einem seiner Vertrauten um; dass es nicht Lothryn war, schmerzte ihn mehr, als er im Moment zugeben wollte. »Also hat er uns hereingelegt. Wohin sind sie wohl gegangen?« Der Mann war es nicht gewohnt, nach seiner Meinung gefragt zu werden. Er war Cailech treu ergeben und ein zuverlässiges Stammesmitglied, aber er hätte es vorgezogen, wenn der ruhige Lothryn jetzt dem prüfenden Blick des Königs ausgesetzt wäre. Lothryn wüsste, wie man mit Cailech und seinen Launen umzugehen hatte. Er selbst war ein Mitläufer ... jemand, der Befehle ausführte und keine eigenen Entscheidungen traf. Die grünen Augen des Königs waren immer noch auf ihn geheftet. Er räusperte sich. »Mylord, falls Lothryn bei ihnen ist...« »Er ist bei ihnen! Verräter!«, erzürnte sich der König. Der Mann setzte erneut an. »Wenn das der Fall ist, Mylord, könnte ich mir vorstellen, dass er sie über die hohen Pässe führt.« »Warum nicht über das Hundsbein?«
Der Untergebene wollte den Vorschlag seines Königs nicht mit einem lässigen Achselzucken abtun und war froh, dass Cailech es nicht bemerkt hatte. »Lothryn kennt das Gebirge wie kein anderer, Mylord. Ich an seiner Stelle würde die gefährlichste Route nehmen, da ich so die besten Chancen hätte. Er kennt den Haidorpass.« Cailech ließ sich die Worte einige Augenblicke durch den Kopf gehen, während alle anderen erneut den Atem anhielten. Dann nickte er. »Ich stimme dir zu, Myrt. Ein weiser Rat.« 303
Erleichtert seufzte Myrt leise auf. Sein Gesichtsausdruck gab seine Gefühle jedoch nicht preis, während er auf Befehle wartete, die auch prompt kamen. »Du nimmst deine Männer und folgst dem Haidorpass. Mag er euch beschützen. Wenn du sie aufspürst, kannst du Koreldy und die Frau töten, wenn du willst. Lothryn soll allerdings zu mir gebracht werden. Ich werde ihn persönlich zur Rechenschaft ziehen.« Cailech zeigte auf einen weiteren seiner Männer. »Du, Drec. Nimm noch zehn Mann und geh zum Hundsbein, nur zur Sicherheit.« Der Mann verbeugte sich kurz und stieg wieder auf sein Pferd. »Erstattet mir bei Einbruch der Dunkelheit in der Burg Bericht«, befahl Cailech. »Habt ihr Vögel mitgenommen?« Sie nickten. »Benutzt sie und haltet mich auf dem Laufenden. Schickt auch Vögel zu den Aussichtspunkten. Von nun an brauchen sie nur noch das Leben von Loth zu schützen. Verstanden?« Cailech wartete nicht ab. Er wendete sein Pferd und galoppierte zurück zu seiner Feste. Aus diesem Gueryn le Gant würde er schon noch Antworten herausbekommen. Geschützt unter einem schneebedeckten Vorsprung an der zerklüfteten Felswand legten sie eine Rast ein. Lothryn zwang sie trotz ihres Protests zu einer Ruhepause. Er versicherte ihnen, es sei notwendig, denn am Nachmittag lag ein anstrengender Aufstieg vor ihnen. Sie spürten, dass Gueryn es wohl so weit geschafft hatte, wie es ihm möglich gewesen war. Cailechs Männer, wenn nicht sogar der König selbst, hatten ihn aller Wahrscheinlichkeit nach schon geschnappt... tot oder lebendig ... das spielte keine Rol 303
le. Sein Leben war vorüber, doch er hatte ihnen kostbare Zeit verschafft, die sie weise nutzen wollten. Elspyth fand, dass Romen ausgezehrt aussah. Wut und Kummer waren ihm deutlich anzusehen. Vielleicht konnte sie es aus ihm herauslocken. »Was hast du gemeint, als du sagtest, wir wüssten nicht, wer du bist?«, fragte sie unvermittelt. Er blickte vom Boden auf, den er die ganze Zeit über angestarrt hatte. »Vergiss, was ich gesagt habe«, erwiderte er. Elspyth hatte Angst, ihr war kalt, und vor allem war sie verärgert. »Nein!«, fauchte sie. »Romen, mein Leben hat sich deinetwegen vollkommen auf den Kopf gestellt, und jetzt... ich könnte sogar sterben, und das auf schreckliche Art. Ich werde es nicht einfach vergessen, nur weil du das verlangst. Du kannst mich nicht herumkommandieren. Du benimmst dich schon seit unserem
ersten Treffen seltsam. Meine Tante hat bloß zugestimmt, dich zu sehen, weil du mit dem Namen Thirsk um dich geworfen hast. Und dann behauptest du vor dem armen Gueryn, du seist Wyl Thirsk. Er hat dir geglaubt - bis er wieder sehen konnte und dich als den Betrüger enttarnt hat, der du bist. Lauter Geheimnisse umgeben dich. Warum erzählst du uns nicht die Wahrheit?« Lothryn versuchte in seiner ruhigen Art einzugreifen, aber sie schüttelte seine sanfte, zurückhaltende Hand ab und funkelte ihn an. »Er hat nichts als Lügen zu bieten. Er würde uns jederzeit verraten! Wir riskieren unser Leben für ihn.« »Dann lasst es«, sagte Wyl so barsch wie möglich. »Welche Alternative bleibt uns, Koreldy?« Sie brüllte nun. »Lothryn hat alles aufgegeben.« 304
»Schsch, du wirst noch eine Schneelawine auslösen«, sagte Lothryn in spöttischem, aber liebevollem Ton. Sie wollte Koreldy noch mehr sagen und ihn weiter beschimpfen, doch ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, und es war, als habe sie dadurch Schleusen geöffnet. Wyl schämte sich. Seine eigene Wut verebbte in dem Moment, als er sie zusammenbrechen hörte. Lothryn sagte nichts - das musste er auch gar nicht -, aber als er Wyl anblickte, lag ein Vorwurf in seinen Augen. »Elspyth, du würdest mir sowieso nicht glauben«, sagte Wyl, drehte die Handflächen nach oben und zuckte die Schultern. »Warum versuchst du es nicht einfach?«, forderte sie ihn heraus. Ihre Stimme war immer noch weinerlich, jetzt jedoch durch Lothryns Umarmung gedämpft. Er wollte seine eigenartige, angsteinflößende Geschichte so verzweifelt mit jemandem teilen, dass sich ihr Angebot auf einmal verlockend anhörte. »Sag aber später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, ermahnte er sie, als er ihnen zu erzählen begann, wie Wyl Thirsk und Romen Koreldy eine Person wurden. Als Wyl geendet hatte, war das einzige Geräusch in den ruhigen Bergen das unheimliche Schreien eines großen Adlers, der hoch über ihnen seine Kreise zog. Elspyth starrte auf ihre Stiefel, doch Wyl bemerkte, dass Lothryn ihn mit einem harten, durchdringenden Blick musterte. »Magie! Pah!«, sagte Wyl, als könne er seine Leidensgeschichte selbst nicht mehr hören. »Ich wusste, du bist nicht der Koreldy von früher«, gestand Lothryn auf einmal mit leiser, ernster Stimme. Wyl wartete. »Ich habe es auf die vielen Jahre geschoben, die 304
seit damals vergangen sind, aber tief in meinem Innern wusste ich, dass mehr dahintersteckte. Du warst anders.« Lothryn zuckte die Achseln und atmete aus, als habe er lange die Luft angehalten. »Cailech hat es als Erster gespürt. Das Gesicht war dasselbe, nur älter und attraktiver; die Stimme war die gleiche, und dein Verhalten ganz Romen Koreldy. Doch der Mensch innen drinnen hatte sich verändert. Er wusste es.« »Wie das?«, fragte Elspyth fasziniert. »Der Romen, den ich kannte, war witzig, gesellig und vor allem egozentrisch. Der Romen vor uns ist... kompliziert«, sagte er und hatte Schwierigkeiten, die
richtigen Worte zu finden. »Was ich auszudrücken versuche: Dieser Romen hier sorgt sich um seine Mitmenschen. Das hat der andere nicht. Dieser Romen ist nicht darauf aus, im Mittelpunkt zu stehen, Elspyth. Der Romen, den ich einst kannte, hätte dich so schnell nackt zwischen seinen Laken gehabt, wie eines seiner Messer die Luft durchschneidet.« Sie sah entsetzt aus. »War er so gut?« »Keine Frau, nicht einmal die zynischeren Gebirgsfrau-en konnten ihn abweisen, aber um es noch klarer zu sagen - er konnte keiner Frau widerstehen. Es war, als müsse er sie alle erobern. Er liebte sie nicht, empfand nicht einmal besonders viel für sie. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb Cailech Romen mochte - sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.« Wyl runzelte die Stirn. »Ich mag Frauen«, sagte er zu seiner Verteidigung. »Aber du hast in der Hinsicht niemals eine Bemerkung fallen lassen«, gab Elspyth zu und hob die Augenbrauen. »Bin ich nicht hübsch genug?« 305
»Das ist der springende Punkt«, sagte Lothryn. »Es hätte für Romen keine Rolle gespielt. Er hätte trotzdem mit dir angebändelt. Nur zu seiner Unterhaltung hätte er mit einer Frau geflirtet, mit ihren Gefühlen gespielt und ihr Vertrauen gewonnen. Du hast weder in Yentro noch hier einer Frau Avancen gemacht, und es wäre bei Elspyth so einfach gewesen.« »Ich kann für mich selbst sprechen, vielen Dank«, sagte sie und funkelte Lothryn wütend an. »Ich bin nicht leicht zu haben, aber ich verstehe, was du meinst.« »Da ist noch mehr«, sagte Lothryn, der sich für das Thema erwärmte. »Romen wusste ausgezeichnet mit seinen Messern umzugehen - niemand konnte ihm in der Hinsicht das Wasser reichen. Er war ein geschickter Schwertkämpfer, aber niemals so brillant wie vorhin, als ich dich mit Bore gesehen habe.« Wyl zuckte mit den Schultern. »Der Mann war bestenfalls schwerfällig.« Es gefiel ihm, dass Lothryn sein Grinsen erwiderte. »Und hier in den Bergen hast du Agrolo mit keiner Silbe erwähnt«, gestand der Hüne. »Cailech hat einen scharfen Verstand. Er hat es ebenfalls bemerkt.« »Was ist Agrolo?«, erkundigte sich Wyl und sah die Antwort auf dem Gesicht seines Gefährten. »Da hast du es«, sagte Lothryn. »Bist du aus diesem Grund zu meiner Tante gekommen?« Wyl nickte. »Ich weiß nicht, warum ich Romen Koreldy bin oder was ich in seinem Körper mache. Damals, in dem Palast in Briavel, hätte ich sterben, hätte meine Seele zu Shar fahren sollen. Ich hoffte, deine Tante könne mir mehr erzählen.« 305
»Hat sie das?«, fragte Elspyth. »Nein. Sie wusste allerdings, dass ich nicht Koreldy bin. Als sie mich berührte, erkannte sie mich.« Er fuhr sich mit den Händen durchs lange, weiche Haar, an das er sich wegen der strohigen roten Mähne, mit der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte, noch nicht gewöhnt hatte. »Sie hat mir geraten, Myrrens Vater zu finden. Ich hatte einen Traum, vielleicht war es aber auch
eher ein Albtraum, während wir in der Höhle rasteten. Es war Myrren. Sie sprach zu mir und befahl mir das Gleiche - ihren Vater zu finden.« »Und wo ist er?«, fragte sie. »Keine Ahnung. Ich kenne auch seinen Namen nicht. Es gibt keine Spur, der ich folgen könnte«, erwiderte Wyl und wünschte inständig, seine Stimme verriete nicht so deutlich, wie verzweifelt er war. Seine beiden Gefährten tauschten besorgte Blicke aus. »Und was nun?«, fragte Lothryn und versuchte, aufmunternd zu klingen. »Von hier fliehen. Meine Schwester in Sicherheit bringen. Zurück nach Briavel gehen und Valentyna beschützen. Das hört sich doch ganz einfach an, oder etwa nicht?«, wollte er wissen. Elspyths Gedanken glitten zurück zu dem alten Soldaten. »Also ist Gueryn tatsächlich dein ehemaliger Freund und Lehrer?« Er nickte. »Er ist... war wie ein Vater für mich.« »Das tut mir leid. Ich hätte seinem Vorschlag niemals zustimmen dürfen ... ihn allein ziehen zu lassen«, gestand Lothryn. »Nein, Lothryn. Das ist nicht deine Schuld. Ohne dich wären wir heute Abend das Festmahl für deine Leute.« Er 306
rang sich ein Lächeln ab. »Ihr beide glaubt mir? Unfassbar!« »Meine Tante glaubt dir ... und ich vertraue ihren Fähigkeiten. Wie könnte ich anzweifeln, was du uns erzählst?«, sagte Elspyth. »Wir im hohen Norden glauben an Magie, auch wenn wir es nicht immer zugeben.« Lothryn nickte. »Es gibt Mächte auf Erden, die stärker sind als Könige und Königinnen und nichtige Streitigkeiten über Ländereien. Haldor hat zu mir gesprochen, indem er mir schließlich meinen Sohn gab. Es war ein Geschenk der Götter. Ja, ich glaube an Götter und ihre magischen Kräfte. Durch die Hexe Myrren, von der du erzählt hast, sprechen die Götter zu uns und sagen, was sie in der Welt verändert haben wollen.« »Vielen Dank«, erwiderte Wyl und war erleichtert, endlich jemandem die Wahrheit gesagt zu haben, und noch dankbarer, dass seine Freunde ihm ohne zu zögern geglaubt hatten. »Ich wüsste nur zu gern, was von mir in Bezug auf diese Gabe erwartet wird.« »Vertrau deinen Instinkten«, riet ihm Lothryn weise. »Und was ist mit Rashlyn - hat er wirklich magische Kräfte?« Lothryn nickte. »Er ist ein Zauberer, das steht außer Frage. Aber er hat einen schlechten Einfluss auf Cailech.« »Woher stammt er?« »Das weiß niemand - wenn Cailech es wissen sollte, hat er es mir jedenfalls nie anvertraut. Und Rashlyn tut immer schrecklich geheimnisvoll«, antwortete Lothryn und nickte nachdrücklich, als Wyl überrascht die Augenbrauen hob. »Allerdings kannte er Koreldy. Es ist verblüffend, dass er die Hexenmagie an dir nicht wahrnahm. Cailech hätte mir 306
sicherlich von Rashlyns Vermutungen erzählt, hätte er geglaubt, du seist ein Betrüger.« Wyl zuckte mit den Schultern. »Das alles verstehe ich nicht.«
»Wie sollen wir dich eigentlich ansprechen?«, fragte Elspyth verwundert. »Bis wir in Sicherheit sind, würde ich vorschlagen, dass ihr mich Romen nennt«, sagte Wyl und schulterte sein Bündel. »Kommt!«, sagte Lothryn und half Elspyth mit ihrem Gepäck. »Und jetzt Ruhe. Schont eure Kräfte - wir werden sie am Haidorpass brauchen.« 307
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IMMER WIEDER GLITT GUERYN aus seinem traumännlichen Zustand, war jedoch nie lange genug bei Bewusstsein, um auf seine Umgebung zu reagieren. Weiches Licht berührte jetzt seine Sinne, und dann gesellten sich gedämpfte Stimmen hinzu. Quälende Schmerzen begleiteten seine kurzen wachen Momente, und allein das ließ ihn zurück in die Dunkelheit fliehen ... in Sicherheit. Allmählich wurden die Phasen, in denen er bei Bewusstsein war, länger, bis er die Stimmen unscharfen Gesichtern zuordnen konnte, zu denen tastende Hände gehörten. Das Licht, das durch seine flatternden Augenlider drang, stammte wohl von Kerzen. Der Schmerz war allumfassend, doch immer öfter konnte er ihn eine Zeit lang ertragen, ohne sich in eine andere Bewusstseinsebene flüchten zu müssen. Er merkte, dass er auf dem Bauch lag, mit dem Gesicht zur Seite gedreht, und dass sich murmelnde Menschen an seinem Rücken zu schaffen machten. Langsam, sehr langsam, wie Blut, das durch dicken Stoff sickert, kehrte sein Gedächtnis zurück. Er war von einem Pfeil getroffen worden - hatte es sogar erwartet und den Tod akzeptiert. Warum bin ich noch am Leben? Wo bin ich? 307
»Trinkt«, sagte eine weit entfernte Stimme. Er wurde auf die Seite gerollt, und brennende Schmerzen durchzuckten ihn. Ein kunstvoll geschnittenes Schilfrohr diente als Halm, damit er aus dem ihm angebotenen Becher trinken konnte. »Was?«, stöhnte er. Mehr brachte er nicht heraus. Er schien irgendetwas Sinnvolles gemurmelt zu haben, denn der Mann antwortete: »Mohnsamen.« Und dann überfiel ihn wieder das Vergessen, und der Schmerz driftete in die entgegengesetzte Richtung. In gleichmäßigen Abständen wurde dieser glückselige Zustand unterbrochen - sehr zu seiner Verärgerung. Und die vertrauten Finger wickelten die Verbände auf und stachen tief in seine wütende Wunde. Er wusste, dass sie nach einer Infektion suchten und auf den verräterischen Geruch warteten, der dort entspringen würde, wo der Pfeil ihn getroffen hatte. Anscheinend hatte er ihn dieses Mal verschont, was Gueryn bedauerte. Der Tod, das wusste er, war sein Freund. Der Mohnblumenlikör, den er so dankbar hinunterschluckte, war nur zu rasch verdünnt, bis er seine bittere Gegenwart kaum mehr schmecken konnte. Allmählich hatten sie es geschafft, dass er völlig zur Besinnung kam, die
Gesichter der Heiler sehen, mit seinem Schmerz umgehen ... gesund werden konnte. Einmal merkte er, dass er wach war und in das ledrige Gesicht eines Mannes starrte - er war nicht besonders alt, aber gleichzeitig auch nicht jung, irgendwie zeitlos. Gueryn war eingeschüchtert, denn der Fremde hatte Unmengen dunkles Haar. Auf seinem Kinn, um sein Gesicht. Wild und zerzaust. 308
»Guten Morgen«, sagte der Mann. Gueryn versuchte zu sprechen, hustete jedoch stattdessen, und ein neuer Schmerzanfall löste das Husten ab und ließ ihn keuchend und schwitzend zurück. »Redet nicht. Ich bin Rashlyn, der Heiler von König Cailech ... unter anderem«, sagte er. Gueryn stöhnte. Cailech Er war zurück in der Gebirgs-feste. »Ihr müsst einen starken Lebenswillen haben, mein Freund. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass Ihr für Haldors Arme bestimmt seid.« Haldor sei verdammt, dachte Gueryn und wünschte, er könne es laut sagen, war jedoch zu schwach. Rashlyn korrigierte sich selbst. »Ach, entschuldigt vielmals. Ihr seid natürlich ein Mann Shars. Nun, lasst uns einfach sagen, Ihr hättet nicht überlebt, wenn da nicht Euer außergewöhnliches Verlangen wäre, am Leben festzuhalten.« Er lächelte traurig, doch die Worte, die nun folgten, passten nicht zu dem Lächeln - sie klangen grausam. »Welch Schande! Ich fürchte, der Tod wäre viel gütiger.« »Dann tötet mich jetzt«, gelang es Gueryn zu murmeln. Der Heiler amüsierte sich. »Ich hänge zu sehr an meinem eigenen Leben, um das zu tun«, sagte er, bevor er wieder ernst wurde. »Cailech muss erfahren, dass Ihr erwacht seid. Seid tapfer, Morgravianer. Er hat großen Respekt vor mutigen Menschen.« Als er endlich wieder auf den Bauch gerollt wurde, blickte Gueryn weg. »Dieser Umschlag darf den ganzen Tag über nicht entfernt werden«, ermahnte ihn Rashlyn. Gueryn schwieg. Er hatte die feste Absicht, sich die Heil 308
kräuter vom Leib zu reißen, sobald er stark genug dafür war - in der Hoffnung, dass sich seine Wunde infizierte. Als lese er Gueryns Gedanken, fügte Rashlyn hinzu: »Man wird Euch die Hände verbinden, tut mir leid ... nur für den Fall, dass Ihr Eurer Genesung selbst im Wege steht. Cailech wäre darüber nicht erfreut.« Der Mann klatschte, und Diener erschienen, um Gueryn, der bäuchlings lag, an die Bahre zu binden. Sie verrichteten ihre Arbeit gründlich. Diesen Fesseln würde er nicht so leicht entkommen. Er hatte keine andere Wahl als stillzuliegen und zu warten - vollkommen bei Bewusstsein und mit ausreichend Zeit, um darüber nachzugrübeln, was Cailech mit ihm vorhatte. Er verharrte viele Stunden in derselben Position. Der anfangs heiße, unangenehme Umschlag war abgekühlt und lag nun kalt und klamm auf seiner
Haut. Er war sogar eingenickt, um kurz darauf benommen und erschrocken aufzuwachen. Die Sonne hatte sich bewegt, stand jetzt nicht mehr im Zenit, sondern versank hinter den Bergen und warf ein rosafarbenes Schimmern an den Himmel. Nachdem die Abenddämmerung eingesetzt hatte, erschien Cailech. Er kam allein, was seine Präsenz noch Unheil verkündender erscheinen ließ, als wäre er von seinen Handlangern umgeben gewesen. Er legte keinen Wert auf Etikette. »So trifft man sich wieder, Soldat.« »Leider«, erwiderte Gueryn. Seine Stimme war nun glücklicherweise fester und klarer. Er war fest entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen, obwohl sein Hals, der langsam steif wurde, so sehr schmerzte, dass er sich nach mehr Mohnblumenlikör sehnte. 309
»Eure Gefährten sind tot«, erklärte der König unvermittelt. Fiebrige Angst schoss durch Gueryn hindurch, doch er gebot ihr Einhalt, kontrollierte und drängte sie zurück, da er auf einmal glaubte, es sei nur ein Täuschungsmanöver Cailechs. »Ich glaube, das ist eine List.« »Wie kommst du darauf?« Der König klang wahrhaft interessiert ... und amüsiert, was Gueryn noch mehr verärgerte. Das Lächeln des Königs strafte ihn Lügen. »Warum sollte ich mit solch mächtigen Heilmitteln am Leben erhalten werden, wenn die anderen - die Euch sicherlich mehr am Herzen liegen - tot sind?« »Ihr seid zu streng mit Euch selbst, le Grant. Ihr liegt mir am Herzen.« »Tatsächlich? Vor wenigen Tagen - vergebt mir, wenn mich mein Zeitgefühl trügen sollte - wolltet Ihr mich am Spieß braten.« »Damals wusste ich nicht, welch großes Interesse Romen Koreldy Euch entgegenbringt«, erwiderte der König verschlagen. Gueryn wusste, dass er nur ein Spielzeug war. »Was wollt Ihr von mir? Ich habe Euch nichts zu bieten als meinen freudigen Tod.« »Der Tod wäre jetzt zu einfach, Soldat. Ihr seid lebend viel mehr wert.« »Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb.« »Das habe ich Euch doch schon gesagt.« »Warum ist Koreldy Euch so wichtig?« »Er hat mein Vertrauen missbraucht.« Seine Belustigung war verschwunden und hatte einer siedenden Wut Platz gemacht. Selbst aus seiner liegenden Position konnte Gue
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ryn sehen, wie unbändiger Zorn in den Augen des Gebirgskönigs funkelte. »Ich kann Euch nicht helfen«, erwiderte er ungerührt. Hätte er den Kopf wegdrehen können, hätte er es getan. »Erzählt mir von Koreldy!«, befahl ihm Cailech. »Das ist das Beste, Mylord. Ich kenne diesen Mann nicht so gut wie Ihr, Sir.« »Trotzdem, erzählt mir, was Ihr wisst.« Wie Gueryn den Mut aufbrachte zu lachen, konnte er später nicht mehr sagen. Er begriff, dass es den König ärgerte, und wünschte, er hätte die Kraft, es zu wiederholen - lauter und länger. »Ich weiß nichts. Er ist ein Fremder.«
»Ihr lügt! Ich habe doch gesehen, wie er Euch erkannte. Selbst einem Narren wäre seine Sorge um Euch aufgefallen ... und ich bin kein Narr, le Gant.« »Dann stellt Ihr mich vor das gleiche Rätsel wie er, mein König. Ich habe den Namen Romen Koreldy bis zu dem Zeitpunkt, als er am Abend Eures Fests mit mir sprach, nie zuvor gehört. Ich war blind, wie Ihr Euch sicherlich erinnern könnt, Sire, also wusste ich erst, dass er ein Fremder war, als der Faden entfernt wurde. Ich kann Euch versichern, dass ich den Mann nie zuvor zu Gesicht bekommen habe. Wenn ich ehrlich bin ...« Er stockte kurz, bevor er hinzufügte: »Habe ich ihn mit jemandem verwechselt, bis ich ihn dann mit eigenen Augen sah.« Gueryn beobachtete, wie die Verwirrung des Königs über seine letzte Bemerkung in Faszination überging, als ihm offenkundig ein neuer Gedanke kam. Der König schürzte die Lippen, erbleichte und rang nach Fassung. Gueryn glaubte schon, Cailech wolle ihn schlagen. Das hätte ihn nicht ge 310
kümmert, insbesondere jetzt nicht, da seine Wunde wieder zu schmerzen begann. »Geheimnisse! Ich will die Wahrheit, Gueryn le Gant«, befahl Cailech. »Die habe ich Euch schon gesagt. Ich kenne keinen Romen Koreldy. Warum er sich für mich interessiert, kann ich Euch nicht erklären. Weshalb er sich meinetwegen so große Umstände gemacht hat, ist mir ein Rätsel. Und weshalb mir einer Eurer treuesten Männer bei der Flucht geholfen hat, ist mir ein noch größeres Mysterium.« Gueryn konnte kaum glauben, dass er kurz davor stand zu grinsen. Er genoss es, Lothryns Verrat als Waffe gegen Cailech zu nutzen. Der König verzog das Gesicht und ballte die Hände zu Fäusten. Ah, da habe ich wohl ins Schwarze getroffen, dachte Gueryn erfreut. Cailech zeigte zur Tür, die Gueryn von seiner Position aus nicht sehen konnte. Schritte näherten sich, und auf einmal wurde er losgebunden und von zwei riesigen Wachen auf die Füße gezogen. Er war zu schwach, um sich zu wehren, zu benommen, um sich selbst auf den Beinen zu halten, und die Übelkeit, die ihn überkam, da er so plötzlich hochgerissen wurde, hätte ihm beinahe das Bewusstsein geraubt. Doch es war die Ankunft der entsetzten und schmerzlich bekannten Frau, die seine Aufmerksamkeit erregte und ihn fest in ihrem Bann hielt. Es war Elspyth. Verletzt und zerlumpt. Sie schluchzte. »Siehe da, eine weitere stolze Morgravianerin. Allerdings habe ich meinen Männern erlaubt... nun ja, wie soll ich sagen, sie ein wenig weich zu klopfen«, sagte Cailech, der sich umdrehte, um Gueryn scharf zu beobachten. »Ich habe auch Lothryn ... er ist im Moment noch Gast in meinem Kerker. Aber es ist wahr, dass Koreldy mir entschlüpft ist.« 310
Gueryn ignorierte ihn. »Elspyth«, murmelte er. Jegliche Hoffnung war nun zerschmettert, doch die Frau antwortete nicht. Elspyth wirkte verwirrt und desorientiert. Er bemerkte hässliche Striemen auf ihrem Gesicht und einen Schnitt an ihrem Haaransatz, der stark geblutet hatte und nun antrocknet war. Sie sah misshandelt, mitgenommen und verängstigt aus. Ihre Lippen waren schrecklich geschwollen und aufgeplatzt.
»Wir haben ihr die Zunge herausgeschnitten, le Gant. Es tut mir leid, dass sie nicht mit Euch reden kann«, sagte Cailech und zeigte auf die Wache, die sie festhielt. Der Mann riss ihr den Kiefer weit auf und offenbarte eine schwarze und blutige Masse, die einstmals ihr hübscher Mund gewesen war. Auch einige Zähne waren ihr bei der Folter eingeschlagen worden. Wellen rasenden Zorns schlugen über Gueryn zusammen. Er spürte, wie Verzweiflung an seiner Wunde zerrte und wütend sein Blut dorthin pumpte. Gueryn wollte sich auf diesen verabscheuungswürdigen Mann stürzen, der einer Frau ... einer Unschuldigen ... solche Gräuel antun konnte. »Shar wird Euch dafür verrotten lassen. Euer Name soll bespuckt und schlussendlich vergessen werden«, brüllte er und beachtete die Schmerzen nicht. »Ich fürchte mich nicht vor Eurem Gott, le Gant. Aber Ihr solltet mich fürchten.« »Was wollt Ihr hören?«, schrie Gueryn, der spürte, wie seine Wunde wieder aufplatzte. Warme Flüssigkeit rann seinen nackten Rücken herab. »Ich möchte wissen, in welcher Beziehung Ihr zu Romen Koreldy steht«, erwiderte Cailech sanft und erweckte ab 311
sichtlich den Eindruck, als sei er gelangweilt, während er einen riesigen Dolch aus dem Gürtel zog. Er starrte ihn einen Moment lang an, bevor er wieder mit hochgezogenen Augenbrauen zu Gueryn blickte. Gueryn sah von der mitleiderregenden, blutenden Elspyth zu dem Mann, der anscheinend ihr Scharfrichter war. Nichts in Cailechs Gesichtsausdruck verriet Gueryn diesmal, dass es sich wieder um ein Täuschungsmanöver handelte. Die gefährlich wirkende Klinge lag locker in der großen Hand des Mannes, und es war offenkundig, dass er nicht zögern würde, sie bei dieser lieblichen Frau einzusetzen, die Gueryn mit solcher Zärtlichkeit behandelt hatte, und über deren schmutzige Wangen nun wahre Tränenströme liefen, als habe auch sie verstanden, was hier gerade ausgehandelt wurde ... was es bedeuten würde, wenn Gueryn den König nicht zufriedenstellte. Ungläubig schüttelte Gueryn den Kopf. Er war hilflos. Er konnte das Leben der Frau ebenso wenig retten wie sein eigenes. All die Jahre der Kampfausbildung, all sein Geschick und Talent, das ihm stets geholfen hatte, all seine Arroganz, weil er aus einer Adelsfamilie stammte und gute Beziehungen zu einer derart wichtigen und mächtigen Familie besaß, waren auf einmal wertlos. Er konnte ihr nicht helfen. Sie würde sterben, weil er so hilflos war ... wertlos ... alles war sinnlos. Er hob den Kopf, um dem versengenden Blick seines Peinigers zu trotzen König Cailech. »Ich flehe Euch an, Mylord. Lasst sie in Ruhe.« »Ich verliere langsam die Geduld mit Euch, Gueryn le Gant. Sie stammt aus Morgravia. Für mich ist sie nicht mehr als minderwertiger Abschaum.« 311
Die Worte waren so scharf wie die Klinge, die der König hielt. Erneut stieg Wut in Gueryn le Gant empor. »Romen Koreldy kannte einen Mann namens Wyl Thirsk, für dessen Familie ich arbeitete. Das ist unsere einzige Verbindung. Ich
habe Koreldy noch nie zuvor gesehen - ich kann Euch nicht mehr erzählen ... und das würde ich auch nicht, wenn ich es könnte!« Er bereute seinen Tonfall und seine harschen Worte in dem Augenblick, als sie ihm aus dem Mund heraussprudelten. Zorn - normalerweise ein Gefühl, das er gut unter Kontrolle hatte - verriet ihn und die Frau. Entsetzt beobachtete er, wie sich Cailech seelenruhig umdrehte und die Klinge in Elspyths Magen rammte. Während sie sich vor Schmerz krümmte, trat der König für einen Moment beiseite, um sicherzugehen, dass Gueryn auch ja mitbekam, wie er die Blutspritzer wegwischte, die seine Jacke getroffen hatten. »Lasst ihn zusehen«, sagte er, und die Wachen stellten sie aufrecht hin, während Cailech mit der Klinge, die immer noch in Elspyth steckte, weiter ihren Bauch aufschlitzte. Ihr Gesicht wurde aschfahl und wächsern, und ein schreckliches Geräusch entrang sich ihrer Kehle, das sich in ein Gurgeln verwandelte, als Blut emporschoss und aus ihrem zerfetzten Mund rann. Seelenruhig zog Cailech die scharfe Klinge aus der Frau heraus und wischte sie an ihrer Kleidung ab. Ihr Kopf sank nach vorn. Die Wachen und ihr König wichen dem Blutschwall absichtlich geziert aus und drehten beim Geruch nach ausgeweideten Gedärmen angewidert die Köpfe weg. Gueryn konnte den Blick nicht von der entsetzlichen Szene abwenden. Er beobachtete, wie Elspyths Lebenssaft in einer dicken Linie langsam, 312
aber erbarmungslos zu seinen Stiefeln sickerte, sich dann um einen von ihnen sammelte, schließlich bis zu seinen Füßen durchdrang ... und ihn für immer mit ihrem Tod zeichnete. Ihn für immer daran erinnern würde, dass er Elspyth getötet hatte. Sie zuckte und stöhnte noch einmal, bevor sie ihren letzten erbärmlichen Atemzug tat. Die feurige Elspyth mit der sanften Stimme und den zärtlichen, ruhigen Händen war tot. »Schafft sie fort. Werft sie den Wölfen zum Fraß vor. Wir sollten ihnen einen Vorgeschmack auf frisches morgravianisches Fleisch geben.« Als sie weggezogen wurde, überrumpelte Gueryn seine Wachen und stürzte sich auf den König. Doch Elspyths Blut wurde ihm zum Verhängnis. Er rutschte aus, und noch bevor er Cailech erreichen konnte, gaben seine Beine unter ihm nach, und er fiel aufs Gesicht. Seine Wunde brach wieder auf, und er wurde bewusstlos. Als er erwachte, stellte er fest, dass er ein noch trostloseres Dasein zu fristen hatte. Cailech hatte ihn erneut in den Kerker gesperrt. Doch dieses Mal gäbe es kein Entkommen. Cailech saß grübelnd da und starrte in seinen gewürzten Wein. In den Schatten seines großen Zimmers, von dem aus man eine herrliche Aussicht auf den See hatte, wartete geduldig Rashlyn. So verharrten sie schon seit geraumer Zeit; es war für beide nichts Neues. Schließlich schleuderte der König seinen tönernen Kelch zum Kamin, wo er mit einem lauten Krachen zersplitterte und die Stille durchbrach. 312
Rashlyn setzte rasch zum Sprechen an. »Der Zauber war effektvoll, Mylord. Die Ähnlichkeit war außergewöhnlich.« »Aber es hat nicht geklappt, Rashlyn! Er ist immer noch nicht zusammengebrochen.« »Vielleicht war es zu effektvoll?«, fragte der Zauberer. Cailech drehte sich zu seinem Mann um. »Was meinst du damit?« Rashlyn zuckte die Schultern. »Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm nach ihrem Tod sinnlos erschien, weiter zu kooperieren. Vielleicht hätte er nie gedacht, dass du tatsächlich so weit gehen würdest, Mylord?« »Glaub mir, er wusste es. Und er hat ihren Tod zugelassen. Du hast recht, die Ähnlichkeit war außergewöhnlich -nie wäre er auf den Gedanken gekommen, es könnte sich um jemand anderen handeln. Wer war es denn überhaupt?« »Die morgravianische Hure, die wir zusammen mit ihm gefangen nahmen.« Cailech nickte. »Warum beschützt er Koreldy?« Verärgert stieß der König mit dem Fuß eine kleine hölzerne Sitzbank um. »Beruhige dich, Mylord«, beschwichtigte ihn Rashlyn. »Schick mehr Männer aus. Die Steine offenbaren mir, dass sie den Haidorpass genommen haben. In der Zwischenzeit müssen wir gut nachdenken. Dann wird es zu uns kommen ... wir werden eine Lösung finden.« Stunden später - Gueryn hätte nicht sagen können, ob es Tag oder Nacht war wurde die Tür aufgerissen, und Cailech zeichnete sich bedrohlich im Torbogen ab. Gueryn 313
stellte sich schlafend, doch den König interessierte das nicht. Er wusste ganz genau, dass der Morgravianer ihn hören konnte, und war nun voller Tatendrang, da er sein Dilemma gelöst hatte. Rashlyns Ratschlag war klug. Lass ihn am Leben. Wenn er Koreldy so wichtig ist, dann benutz ihn als Köder. »Ich hoffe, es gefällt Euch hier drinnen, Soldat, denn das ist von heute an Euer Zuhause. Macht Euch mit den Granitwänden vertraut, heißt die Feuchtigkeit willkommen und empfangt die Dunkelheit mit offenen Armen. Es gibt kein Licht für Euch, keine Wärme ... ich werde Euch gerade mal so viel Nahrung überlassen, wie Ihr zum Überleben braucht.« »Warum macht Ihr Euch dann überhaupt die Mühe? Koreldy ist aus Eurem Netz entschlüpft. Er wird nicht wiederkommen«, sagte Gueryn, ohne sich überhaupt zum König umzudrehen. Es war sein einziges Mittel, ihm zu zeigen, dass der morgravianische Kampfgeist noch in ihm steckte. »Solange Ihr am Leben seid, wird Koreldy meiner Feste nicht widerstehen können.« »Ich kenne ihn nicht!«, knurrte Gueryn mit der wenigen Kraft, die er noch besaß. »Ah, aber er kennt Euch, le Gant, und er hat Euch einmal gerettet - er wird es auch ein zweites Mal tun.« Die Tür schloss sich mit einer schrecklichen Endgültigkeit. Gueryn weinte. Rashlyn hatte recht. Der Tod wäre viel gütiger. 313
3i
DIE DREI MÜHTEN SICH weiter den Berg empor. Lothryn hatte recht behalten, als er sie vor dem Haidorpass gewarnt hatte. Dies war erst sein Anfang, und schon jetzt war das Klettern gefährlich. Die Luft war so dünn, dass sich die Gespräche auf ein Minimum beschränkten, und nur gelegentlich war ein seltsames Grunzen zu vernehmen, das das Wohlbefinden der anderen überprüfen sollte. Wyls Gedanken kreisten um Gueryn. Obwohl Lothryn fest davon überzeugt war, dass Cailech ihn töten würde, war Wyl anderer Ansicht. Romens Scharfsicht - besser gesagt der winzige Rest, der noch davon übrig war - versicherte ihm, dass der Gebirgskönig niemanden umbringen würde, der ihm bei der Suche behilflich sein könnte. Cailech ist zu gewitzt, ermahnte er sich. Aber warum sollte er Gueryn verschonen? Weil Gueryn für Cailech ein Fremder war, bis Wyl behauptete, ihn zu kennen ... davor war er nichts weiter als ein hochrangiger morgravianischer Soldat, dessen Tod ihm ein Gefühl der Genugtuung verschafft hätte. Jetzt, überlegte Wyl, könnte Cailech ihn als wichtig genug erachten, um ihn am Leben zu erhalten, wenn auch nur, um Koreldy zu verspotten. 314
All dies war natürlich nur eine Annahme. Wyl hatte eine Vorahnung gehabt, dass sein Lehrer tot war. Keiner von ihnen konnte wissen, ob Gueryn die Flucht überlebte. Die Wahrscheinlichkeit, dass er dem quälenden Fieber trotzte, war gering genug. Dennoch klammerte sich Wyl an den Gedanken, dass Gueryns Geist stärker als sein Körper war, und Cailechs Gewitztheit die Oberhand gewinnen würde über sein Verlangen, den Durst nach Vergeltung zu löschen. Wyl glaubte, dass der Gebirgskönig Gueryn nur am Leben lassen würde, um herauszufinden, was er über den Fluchtweg seiner Gefährten wusste. Im Grunde war Wyl klar, dass Cailech in Wirklichkeit nach Koreldy und Lothryn trachtete. Im Vergleich zu solch einer verlockenden Beute war Gueryn uninteressant, doch wenn sein Leben dabei helfen könnte, die anderen zu fassen, würde Cailech nicht zögern, ihn zu benutzen. Er wurde aus seinen verwirrenden Gedanken gerissen, als Elspyth auf einmal stehen blieb. Sie atmete schwer, schlug jedoch Lothryns Ratschlag in den Wind, flacher zu atmen. Der Gebirgsmann eilte zurück zu der Stelle, wo sie auf einem Stein zusammengesackt war. »Ich brauche einen Augenblick«, flehte sie. Lothryn nickte. Es passte ihm zwar überhaupt nicht, aber er wollte weder kostbaren Atem noch Kraft verschwenden. Er zeigte zu einem kleinen Kreis aus Geröllblöcken, die nur wenig Schutz boten, ihnen allerdings eine Pause von dem eisigen Wind gönnten. Er half Elspyth wieder auf die Beine, und die drei brachen dankbar im Steinkreis zusammen. »Wenn du mir jetzt rätst, etwas zu essen, muss ich mich übergeben«, warnte sie stockend und beäugte Lothryn. 314
»Kein Essen. Trinken ist wichtiger. Das braucht unser Körper.« Sie trank in kleinen Schlucken aus dem Schlauch, den er ihr anbot.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Wyl, der froh war, der Umklammerung des Windes für einen Moment entkommen zu sein. »Hat Cailech eigentlich einen Heiler, dem er vertraut?« Lothryn nickte. »Mehr als einen Heiler. Rashlyn.« »Ah, natürlich. Erzähl mir, was du von ihm weißt.« Der Hüne seufzte. »Er ist gefährlich, wie ich schon sagte. In früheren Zeiten, als wir noch eigenständige Stämme waren, hatte jeder seinen eigenen Barshimon. Der Barshi, wie er für gewöhnlich genannt wird, wurde bei jeder Gelegenheit herbeigerufen, von der Segnung einer Geburt bis zum Verfluchen eines Feindes. Er machte Weissagungen, interpretierte Visionen, las in den Steinen, führte Zauber aus ... und heilte.« »Du sagst, nur in früheren Zeiten?« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht waren die Magier früher überzeugender, oder, was wahrscheinlicher ist, der Großteil von ihnen waren Betrüger. In den letzten Jahrhunderten haben wir herausgefunden, dass echte Zauberer eine Seltenheit sind ... die meisten von uns treffen ihr gesamtes Leben niemanden, der die wahre Gabe besitzt.« »Und Rashlyn?«, fragte Wyl. »Wie ich schon sagte, er ist einer der wenigen echten Magier. Und ehrgeizig.« »Du glaubst, er benutzt Cailech.« Lothryn nickte. »Das weiß ich, und nicht für gute Zwecke.« 315
Elspyth schaltete sich ein: »Eine der Frauen hat mir das Wort Barshi entgegen geschleudert, als ich bei der Geburt deines Sohnes nach dir sehen wollte.« Augenblicklich bereute sie es, sein Baby erwähnt zu haben. Lothryn lächelte traurig. »Ja, das Wort Barshi kann auch benutzt werden, um die Dunkelheit... böse Dinge ... herbeizurufen«, sagte er achselzuckend. »Sie brauchten jemanden, den sie für den Tod meiner Frau verantwortlich machen konnten. Du warst ein leichtes Opfer ... und eine Fremde.« »Also ist Rashlyn Cailechs Barshi?«, schlussfolgerte Wyl. »Er ist der Barshi für das gesamte vereinte Gebirgsreich«, räumte Lothryn ein. »Du klingst nicht gerade, als würde dir das gefallen«, wagte Wyl laut zu vermuten, obwohl er schon wusste, dass es der Wahrheit entsprach. »Ich hasse ihn. Er besitzt keine Seele. Ich habe nur allzu oft gewünscht, dass sich Cailech nicht mit einem solch dunklen Mann eingelassen hätte.« Wyl nickte. Diesen Wissensschatz würde er gut aufbewahren. »Aber er ist ein Heiler?« »Ja. Ich weiß langsam, worauf du mit dieser Unterhaltung hinauswillst, Koreldy. Du glaubst, Cailech würde Gueryns Leben verschonen ... es sogar mit den mächtigen Heilmitteln des Barshis retten?« »Du kannst meine Gedanken lesen!« »Du bist sehr leicht zu durchschauen, wenn du Wyl Thirsk bist. Falls du Cailech überlisten willst, musst du durch und durch Romen sein«, riet ihm Lothryn. »Er hat recht«, stimmte ihm Elspyth lächelnd zu. »Jetzt, 315
wo Loth es erwähnt, fällt mir auch auf, dass du zwischen den Persönlichkeiten hin und her gleitest. Ich glaube ganz sicher, dass da zwei von dir sind. Als Wyl scheinst du nackt zu sein, zu ehrlich.« Wyl überdachte, was sie gesagt hatten. »Weise Worte. Ich muss daraus lernen.« »Wenn es dir irgendein Trost sein sollte, so hat Rashlyn die Macht, Gueryn zu retten, falls Cailech es wünscht. Aber wahrscheinlich würde der Soldat den Tod vorziehen, wenn er wüsste, was ihn nach seiner Rettung erwartet«, fügte Lothryn hinzu. »Cailech wird diesen Weg nur wählen, falls er davon profitieren kann.« »Das kann er«, sagte Wyl. »Er kann mich zurücklocken.« »Romen, nein!«, rief Elspyth. »Gueryn hat eine Entscheidung getroffen. Er hat sein Leben gegeben, um dich zu retten. Von uns beiden einmal abgesehen, wollte er, dass du freikommst. Sein Opfer wäre sinnlos, wenn du in Erwägung ziehen solltest zurückzukehren.« »Ich habe nicht vor, sofort umzudrehen«, versicherte Wyl. »Ich habe allerdings das eigenartige Gefühl, dass Gueryn bloß am Leben erhalten wird, damit er Koreldy zurück zu Cailechs Burg führt. Ich war auf dem Fest so leicht zu durchschauen. Es war augenfällig, dass ich Gueryn gut kenne und ihn sehr mag. Cailech ist zu gewitzt, um solche Dinge nicht zu bemerken.« Lothryn nickte. »Ihm entgeht nichts.« »Wenn Gueryn am Leben ist - und das glaube ich wirklich -, wird er wohl aus einem einzigen Grund Cailechs Gefangener bleiben: als Köder für Cailechs Feinde.« »Falls du das glaubst, darfst du ihm nicht in die Falle gehen«, erklärte Elspyth. 316
»Wir müssen weiter«, warnte Lothryn, und sie rappelten sich erschöpft hoch und traten hinaus in den beißenden Wind. »Benutzt die Enden eurer Kapuzen«, schrie Lothryn gegen das Geheul an. »Wickelt sie um euren Mund. Ihr müsst der eisigen Luft so gut es geht trotzen.« Sie folgten seinem Beispiel. »Wir dringen jetzt in das Gebiet der Ekons ein. Seid auf der Hut!« Das erste Anzeichen, dass eines oder mehrere dieser Tiere in der Nähe waren, kam einige Zeit später, als sich Lothryn auf einmal versteifte, anhielt und in die Luft schnupperte. »Was?«, formte Wyl lautlos, darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. »Ekon«, erwiderte Lothryn auf dieselbe Art. Elspyths Gesichtsausdruck machte nur zu deutlich, dass sie sich wunderte, wie er das wissen konnte. »Der Gestank«, flüsterte er. »Riechst du es nicht?« Wyl und Elspyth reckten die Nase und sogen die Luft ein. Ein schwacher Hauch nach etwas Moderigem und Widerlichem streifte sie, und sie nickten. »Noch nicht nah genug, um eine Bedrohung darzustellen. Aber wenn wir ihn riechen können, dann kann er uns auch riechen. Er wird uns verfolgen.« »Was können wir tun?«, fragte Elspyth. »Der Abstand ist alles, was wir haben«, gestand Lothryn. »Aber wenn er noch andere herbeiruft...« Er sprach nicht weiter.
»Lasst uns gehen«, sagte Wyl, schlug ein scharfes Tempo an und übernahm die Führung. 317
Cailechs Fährtensucher hatten eine weite Strecke zu Pferd zurückgelegt, aber das Gelände wurde rasch zu unwegsam für ihre wertvollen Tiere. Sie wussten es noch nicht, aber sie holten schnell auf, denn ihre Beute kam zu Fuß viel langsamer voran. »Sie sind hier vorbeigekommen - und zwar erst vor Kurzem«, rief der Anführer seinem Stellvertreter zu. Er untersuchte die Fußabdrücke und abgebrochenen Zweige der Büsche, dort, wo das Trio vor nicht allzu langer Zeit in dem Steinkreis eine Rast eingelegt hatte. »Schick einen Vogel«, sagte er. »Der König soll erfahren, dass sie den Haidorpass genommen haben und wir ihnen folgen.« Der Mann nickte. »Wird sofort erledigt.« Myrt, ein enger Freund Lothryns, wandte sich um und blickte blinzelnd zu den schneebedeckten Gipfeln der Razors. Er verabscheute es, diese Mission anzuführen - immerhin wusste er, wie sie enden würde. Aber er verabscheute Lothryns Verrat noch mehr, und auch, dass deshalb nun seine eigene Loyalität infrage gestellt wurde. Es war kein Zufall, dass Cailech ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Der König überprüfte Myrts Treue und sein Zugehörigkeitsgefühl zum Stamm. Cailech würde aus Myrts Verhalten schließen, wie tief seine Freundschaft im Vergleich zu seiner Zuverlässigkeit der Krone gegenüber war. Myrt verzog bei dem Gedanken das Gesicht. »Bindet die Pferde an, von hier ab gehen wir zu Fuß«, befahl er. Wyl und Lothryn halfen Elspyth gerade einen rutschigen Steilhang hinauf, als sie ein Geräusch hörten, das Lothryn derart erschreckte, dass er beinahe ihre Hand losgelassen hätte. 317
»Das ist unser Ekon. Er ruft einen weiteren herbei. Sie jagen oft zu zweit.« »Wie nah?«, fragte Wyl, während sie Elspyth auf eine flachere Ebene zogen. »Zu nah. Es ist sinnlos zu fliehen, sie sind viel schneller und gewandter als wir.« »Können wir uns verstecken?«, keuchte Elspyth, die immer noch außer Atem war. »Nützt nichts«, war die knappe Antwort. »Nun gut«, sagte Wyl, warf sein Bündel auf den Boden und zog das blaue Schwert aus der Scheide, die er am Rücken festgebunden hatte. Instinktiv glitt seine Hand zu den Messern an seiner Brust. »Dann stellen wir uns ihnen entgegen und kämpfen.« Lothryn ließ sein Gepäck ebenfalls fallen und holte eine Armbrust heraus. »Ich hatte mich schon gefragt, was du da mit dir herumträgst«, gestand ihm Wyl. »Das hier könnte wirksamer sein als deine wunderschöne Waffe«, sagte Lothryn.
Die Männer warfen sich ein vielsagendes Lächeln zu, das alle Soldaten der Welt austauschten, wenn sie einander vor dem Kampf Mut zusprachen. »Was hast du Gueryn noch mal zugerufen?«, erkundigte sich Lothryn. »Alle für einen ... das Familienmotto der Thirsks und ihr Schlachtruf«, erwiderte Wyl stolz. »Dann alle für einen, Wyl Thirsk«, sagte Lothryn. Wachsam standen sie Rücken an Rücken. »Er wird nicht sofort losschlagen. Wenn sie zu zweit sind, werden sie uns eine Zeit lang beobachten.« 318
»Elspyth, du versteckst dich«, befahl Wyl. »Das ist doch offenbar ganz sinnlos. Gib mir eine Klinge!«, konterte sie. »Nein!« Lothryn war unnachgiebig. »Wir reichen ihnen. Du versteckst dich erst mal, und sobald du eine Chance bekommst, läufst du weg. Wage ja nicht, mir in diesem Punkt zu widersprechen.« Lothryns finsterer Blick genügte, um eine weitere Diskussion im Keim zu ersticken. Sie schnappte sich die Bündel und verbarg sich in einer Spalte in der Felswand. Und damit fanden sich die beiden Männer allein auf einem eiskalten Plateau wieder, während sie auf ihren sicheren Tod warteten. »Ich wollte dir die ganze Zeit schon etwas zu deinem Sohn sagen, Lothryn. Es tut mir leid, dass du ihn zurücklassen musstest.« »Er ist in guten Händen.« Wyl hätte es dabei belassen sollen, aber da ihn sein ungeschickter Versuch, das Thema anzusprechen, in Verlegenheit gebracht hatte, fuhr er fort: »Ich fürchte, wir haben dich genötigt, die schlimmste aller Wahlen zu treffen. Blut sollte immer wichtiger sein als Pflicht.« Es folgte eine peinliche Stille, bis Lothryn etwas sagte. »Er ist nicht von meinem Blut«, flüsterte der Mann. Die Worte trafen Wyl wie ein Faustschlag, und er war froh, dass sie Rücken an Rücken standen und mit den Augen die Felsen nach irgendeinem Anzeichen der Tiere absuchten. »Er ist nicht mein Sohn. Meine Frau hat ihn als unseren geboren, aber er wurde von jemand anderem gezeugt. Die Pflicht kam vor dem Blut«, gestand der Gebirgsmann. 318
Wyl war verwirrt. »Was meinst du damit?« »Ich bedauere zutiefst, zugestimmt zu haben. Ich habe zugelassen, dass meine Frau benutzt wurde. Vielleicht versuche ich hier gerade, diesen Fehler wiedergutzumachen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Wyl. »Er ist Cailechs Sohn.« »Was?« »Ich habe es bisher niemandem erzählt. Ich hasse mich dafür, aber ich war so schwach, Cailechs Wunsch zu erfüllen. Du hast mir dein Geheimnis anvertraut. Also werde ich es dir gleichtun. Cailech rang mir das Versprechen ab, ich solle schwören, es sei der Tod unserer ersten beiden Säuglinge gewesen, der unsere
Ehe zerstörte. Aber es hatte nichts damit zu tun, vielmehr fühlten wir uns nach dieser Tragödie enger verbunden als je zuvor. Ertyl sah meine Kapitulation vor Cailech als Verrat an. Sie beschuldigte mich vieler Dinge, wobei der schmerzhafteste Vorwurf wohl gleichzeitig der Wahrheit am nächsten kam dass ich Cailechs Marionette sei. Sie sagte, ich habe keinen eigenen Willen mehr. Und dass mich das in ihren Augen herabsetze.« »Warum hast du so etwas dann überhaupt zugelassen?« Wyl wusste, er sollte Lothryn diese Frage nicht stellen, doch die Worte sprudelten einfach aus ihm heraus. »Mein König hat es wegen des Stammbaums von mir verlangt. Ertyls Vater war der stärkste der Stammesführer, bevor Cailech sie vereinte. Er glaubt an Stammbäume. Sein Blut und das von Ertyls Familie würde eine mächtige Verbindung hervorbringen.« »Cailech wirkt auf mich zu ... ich weiß auch nicht. Zu in 319
telligent, respektvoll und loyal, um einen solchen Vorschlag überhaupt zu äußern.« Dieses Mal schnaubte Lothryn nur, obwohl Wyl seinen schmerzlich verzogenen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Natürlich war das nicht seine Idee.« »Verdammt!«, fluchte Wyl, als es ihm allmählich dämmerte. »Rashlyn?« »Er empfahl es - anscheinend hatte er eine Vision -, und Cailech befolgte seinen Rat.« »Wo befindet sich der Junge jetzt?« »Er wurde mir weggenommen. Cailech möchte, dass er außerhalb meines Einflusses aufwächst. Er wird das Kind in seiner Nähe lassen - immerhin ist er der Vater. Ich hätte ihn wie mein eigenes geliebt, denn er war ein Teil Er-tyls. Als es mir am Tag seiner Geburt entrissen wurde, passierte etwas mit mir ... und dann gaben mir wohl das Fest und die anschließenden Vorfälle den Vorwand, den ich brauchte.« »Du meinst zurückzuschlagen?« »Nun ... ihn wissen zu lassen, dass ich immer noch einen eigenen Kopf habe. Er hat mir zu viel genommen - meine Frau starb seinetwegen. Und mein Sohn ist jetzt ohne Mutter.« »Wie heißt das Kind?« »Aydrech... goldener Krieger.« »Wir werden am Leben bleiben, Lothryn, und wir werden den Jungen aufwachsen sehen, das verspreche ich.« Der Gebirgsmann gab ein leises Grunzen von sich, doch bevor er etwas erwidern konnte, wurden sie von Myrt und den anderen gesichtet, die den Steilhang heraufgeklettert kamen. 319
»Lothryn!«, schrie Myrt. »Du Verräter!« »Lauf, Elspyth!«, brüllte Lothryn. »Du auch, Wyl, das ist unsere einzige Chance.« Elspyth stürzte wie ein aufgeschrecktes Reh aus ihrem Versteck, stürmte angsterfüllt den Bergrücken hinab und verschwand im Unterholz. Wyl weigerte sich. »Wir stehen das gemeinsam durch.«
In diesem Augenblick sprangen die Ekons von ihrem Aussichtspunkt oberhalb des Plateaus herab, und ein fürchterliches Chaos brach aus. Es war ein Blutbad. Die langen und wendigen Körper der Ekons landeten mühelos auf der flachen Ebene. Ihr weißes Fell war mit dunkelbraunen Streifen durchzogen, eine ausgezeichnete Tarnung in dieser Umgebung. Gelbe Augen saßen über einem gewaltigen, knurrenden Mund; ihre Tatzen waren riesig, und ihre Wirbelsäule war stark genug, um die Tiere sogar auf zwei Beinen gehen zu lassen. Die beängstigenden, rasiermesserscharfen Zähne waren einschüchternd genug, doch ein Widerhaken an der Spitze ihrer mächtigen, hin und her sausenden Schwänze konnte ein schnell wirkendes, lähmendes Gift injizieren, das die Ekons wohl zu den tödlichsten Geschöpfen machte, die sich Wyl vorstellen konnte. Hätten sie Flügel, wären sie perfekt, staunte er. Da er vor Schreck wie betäubt war, konnte Wyl bloß zusehen, wie das Duo sogleich zwei der Gebirgsmänner mit den Zähnen und dem Schwanz töteten. Weitere zwei, die mit gezogenen Schwertern auf sie zurannten, ereilte dasselbe Schicksal. »Sie sollten es besser wissen«, sagte Lothryn beinahe im 320
Plauderton, während er sich langsam anschickte, seine Armbrust mit einem gefährlich aussehenden Bolzen zu laden. »Myrt!«, rief er ruhig. »Benutzt Bögen!« Myrt nickte, blaffte Befehle und versammelte die restlichen Männer um sich; da wurde ein weiterer zu den Göttern geschickt. »Romen«, flüsterte Lothryn. Wyl konnte kaum die Augen von dem Gemetzel abwenden. »Du musst gehen. Kämpf ein andermal. Nimm Elspyth mit. Du wirst an einem Ort herauskommen, den wir Straplyn nennen - ein schmaler Wildwechsel, der in euer Reich führt. Bringt euch in Morgravia in Sicherheit.« »Lothryn, ich kann diese Männer töten! Ich kann uns eine echte Chance verschaffen.« »Nein! Das ist der richtige Weg. Mein Volk wird nicht sterben. Geh - bevor sie überhaupt merken, dass ihr fort seid. Rette sie für mich. Sie werden mich nicht töten. Cailech wird sich dieses Vergnügen nicht nehmen lassen. Ich habe keine Angst.« Myrt blickte sich um. »Beeil dich, Loth, schieß den Pfeil ab!« Männer schrien, die Tiere rissen Fleisch, und Aasgeier kreisten bereits über der grauenhaften Szene, während Lothryns Worte in Wyls Bewusstsein drangen. »Er wird dich foltern!« »Es gibt nichts, das er aus mir herausbekommen möchte. Nein. Er wird mich nicht foltern. Aber er wird mich für meine Tat bezahlen lassen. Bitte, Wyl... flieh, für uns alle. Lass das hier nicht umsonst gewesen sein.« Als der Hüne ihn Wyl nannte, war der Bann gebrochen. Lothryn sah, wie seine Worte ihn erreichten, und nutzte 320
die Gelegenheit. Er schob Wyl fort und rannte zu seinem Freund Myrt. Seite an Seite feuerten sie ein letztes Mal Todespfeile auf die Tiere, während die Männer
um sie herum starben. Wyl drehte sich um und rannte weg, auch wenn er sich dafür hasste. Keiner bemerkte, wie er den windgepeitschten Abhang hinabeilte ... es kümmerte im Moment niemanden. Außer Wyl. Er gelobte wiederzukommen und Gueryn und Lothryn zu befreien, falls sie noch am Leben waren, oder wenn nicht, schreckliche Rache an dem Gebirgskönig zu üben. Achtzehn Männer starben an diesem Tag am Steilhang. Die Ekons wurden mit Pfeilen durchlöchert, bevor auch sie fielen. Nur vier der Gebirgsleute konnten sich damit brüsten, einen Ekonangriff überlebt zu haben. Schließlich wandte sich Myrt an Lothryn. »Wir sollen dich lebend zurückbringen.« »Das dachte ich mir schon.« »Du hast ihn natürlich fortgeschickt.« »Ja. Ich bin froh, ihn überhaupt so weit gebracht zu haben.« »Warum, Loth?« Lothryn wusste, dass Myrt nicht Koreldys Flucht meinte. »Oh, das ist kompliziert, mein Freund. Lass dich nicht in das Netz aus Intrigen hineinziehen. Bleib immer reinen Herzens. Bleib dem Stamm treu.« Lothryn streckte ihm die Handgelenke entgegen, und Myrt nickte widerstrebend einem seiner Männer zu, damit er ihn fesselte. »Hat der morgravianische Soldat überlebt?« »Cailech hat ihn verschont - aus Gründen, die nur er allein kennt.« 321
Lothryn spürte Genugtuung in sich aufsteigen. Wyl hatte recht behalten. »Und ich? Gibt es einen Plan?« »Ich bin nicht sicher, ob ihn irgendjemand von uns kennen möchte«, gestand sein Freund traurig. 321
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WYL MACHTE SICH SORGEN, weil er Elspyth nicht finden konnte. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sich seine Angst um sie vervielfacht, dennoch wagte er nicht, ein Feuer zu entzünden, das Cailechs Fährtensucher oder, noch schlimmer, einen neugierigen Ekon anlocken könnte. Er hoffte, Elspyth wäre genauso vernünftig. Außerdem musste er rasch einen Unterschlupf finden, bevor sich die Dunkelheit völlig herabsenkte. Zum Glück befand er sich bereits in niedrigeren Lagen der Razors, sodass die Luft milder war und er wieder normal atmen konnte. Sein kampferprobtes Gehör und seine Instinkte witterten die Gefahr, noch bevor er sie sah. Das Geräusch kam von hinten. Blitzschnell war sein Schwert aus der Scheide und zeigte auf Elspyths Kehle. »Um Shars willen! Du hast mich geschnitten«, klagte sie, obschon der wilde Ausdruck in ihren Augen verriet, dass sie mit dem dicken Ast in der Hand viel Schlimmeres vorgehabt hatte. »Ich dachte, du seist einer der Fährtenleser. Den Sternen sei gedankt, dass du ihnen entkommen bist.« Er steckte das Schwert wieder ein. »Lass mich nachsehen, wie tief der Schnitt ist.«
»Es ist nichts, wirklich«, sagte sie, und er bemerkte, dass 322
die Wunde schon sehr bald zu bluten aufhören würde. Elspyth sah so erschöpft aus, wie er sich fühlte. »Wo ist Lothryn ... kommt er?« Das würde nicht leicht werden. »Nein.« Elspyth ließ den Ast fallen und ballte instinktiv die Hände zu Fäusten. »Tot?«, fragte sie mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Jetzt wirkte sie einfach nur am Boden zerstört. »Er hat dich fortgeschickt, nicht wahr, so wie er mich hat loslaufen lassen?« »Lothryn ist zu tapfer für diese Welt. Wir hatten die Möglichkeit zu fliehen, aber er wollte nicht, dass ich einen seiner Männer töte. Er hat sich entschieden, Cailech entgegenzutreten.« Mit hängenden Schultern setzte sie sich auf den laubbedeckten Boden. Sie weinte leise; ihre Wunde war längst vergessen. Wyl kniete sich hin und nahm sie in den Arm. »Ich weiß, dass ihr euch sehr gern hattet.« »Cailech wird ihn hinrichten«, murmelte sie durch ihre Tränen. »Das glaube ich irgendwie nicht, Elspyth. Ich kann es dir nicht versprechen, aber ähnlich wie bei Gueryn habe ich das Gefühl, dass Lothryn dem König lebend von größerem Nutzen ist... natürlich nur, wenn Cailech seinen Zorn im Zaum halten kann.« »Aber er wird ihm wehtun«, flüsterte sie. »Vielleicht, doch er ist stark. Er wird es überleben. Davon bin ich überzeugt.« Sie wischte sich übers Gesicht und versuchte, sich wieder 322
zusammenzureißen. »Also gehen wir einfach weiter?«, fragte sie trocken. »Fürs Erste«, schlug er so sanft wie möglich vor. »Aber ich gebe dir mein Ehrenwort. Ich werde zurückkommen.« Sie wandte sich ihm zu, und ihre nassen Augen suchten in seinen nach dem Zeichen einer List. »Schwör es!« »Ich schwöre es, und zwar auf alles, was mir heilig ist. Ich werde zurückkehren, das verspreche ich.« »Du meinst mit anderen Männern?« »Mit einem Plan, und sobald ich gerüstet bin, mit Cailech fertig zu werden.« »Und was geschieht in der Zwischenzeit?« Wyl hatte nicht weiter als bis zu ihrer Flucht gedacht. Jetzt, da ihre Freiheit zum Greifen nah war, durchdachte er seine Möglichkeiten. Elspyth wartete und wühlte geistesabwesend in ihrem Bündel, um die Stille zu füllen. Es war Lothryns Gepäck. Sie hatte es irrtümlicherweise bei der Flucht mitgenommen. Darin fand Elspyth ein wenig Nahrung. Sie war nicht mehr hungrig und bot sie Wyl an. Ihm war ebenfalls der Appetit vergangen, doch er tat ihr den Gefallen und kaute beim Reden, wobei er nichts schmeckte. Doch er spürte, dass sein Körper die Energie brauchte. »Na gut. Mein Plan sieht folgendermaßen aus: Sobald
wir Morgravia erreichen, trennen wir uns. Du darfst nicht nach Hause gehen, Elspyth. Im Moment ist es noch zu gefährlich. Sie wissen, wo deine Hütte ist...« »Aber meine Tante!«, protestierte sie. »Sie haben nichts gegen sie. Wenn sie tot sein sollte ...« Er sah, wie sehr seine Worte ihr in die Seele schnitten. »Vergib mir, doch es muss gesagt werden. Sie könnte tot sein. Und wenn nicht, dann ist sie in Sicherheit. Du jedoch nicht.« 323
»Wohin soll ich dann gehen?« »Reise zu einem Ort namens Rittylworth.« Sie nickte. »Davon habe ich gehört. Dort gibt es ein Kloster, nicht wahr?« »Ja. Gut. Dorthin sollst du dich wenden. Bruder Jakub wird dir helfen. Aber du musst dich beeilen. Versprich mir das.« »Ich verspreche es«, sagte sie verwirrt. »Und was dann?« »Meine Schwester, Ylena Thirsk, befindet sich in dem Kloster. Du musst sie mit dir nehmen. Erklär ihr und Jakub, dass Romen Koreldy darauf gedrungen hat. Erwähne Wyl Thirsk mit keiner Silbe. Verstehst du, was ich sage?« Entrüstet wehrte sie sich. »Du sprichst unsere Sprache, also verstehe ich dich natürlich.« »Verzeihung. Ich bin ebenso besorgt um Ylena wie um dich. Halt dich nordwestlich. Du darfst ihr auf gar keinen Fall erlauben, zum Familiensitz der Thirsks in Argorn zurückzukehren. Ihr müsst nach Felrawthy. Ich werde dir sagen, was du dem Duke erzählen sollst, sobald du dort bist. Es ist wichtig, dass du ihm Informationen übermittelst - ich werde alles in einem Brief für ihn niederschreiben. Er wird euch den Schutz bieten, den ihr beide aus unterschiedlichen Gründen benötigt.« »Ich bin verwirrt.« »Vertrau mir einfach.« »Und wohin wirst du gehen, wenn ich das fragen darf?« »Nach Briavel. Ich habe der Königin ein Versprechen gegeben, das ich nun einlösen muss.« Sie verschränkte die Arme und musterte ihn misstrauisch. Aber er gab ihr keine weiteren Erklärungen. »Ich muss mich darauf verlassen, dass du mein Geheim 323
nis für dich bewahrst, Elspyth. Niemand darf wissen, dass Romen Koreldy in Wirklichkeit Wyl Thirsk ist, besonders nicht Ylena. Keiner wird dir glauben oder überhaupt nur den Versuch unternehmen, dich zu verstehen - die Tatsache, dass du mir glaubst, ist sowieso schon eine Art Wunder. In Felrawthy, wo dich niemand kennt, bist du sicher, solange du unser Geheimnis nicht verrätst. Ich werde mich so bald wie möglich mit dir in Verbindung setzen und das Versprechen, das ich dir gegeben habe, nicht brechen. Du musst jedoch Geduld aufbringen.« Am nächsten Tag erreichten sie bei Anbruch der Nacht Straplyn, so wie Lothryn das vorausgesehen hatte. Der Pfad war tatsächlich wenig mehr als ein Wildwechsel, der im Nordwesten nach Morgravia führte. Erfrischt durch den Erfolg, es so weit geschafft zu haben, fühlten sie sich nicht müde genug, um zu
schlafen. Sie kamen überein, die ganze Nacht weiterzuwandern, bis sie bestimmen konnten, wo genau sie sich in Morgravia befanden. Es war eine sternenklare Mondnacht und im Vergleich zur Kälte im Gebirge sehr mild. »Es riecht sogar wie zu Hause«, bemerkte Elspyth gedankenvoll. Schließlich stellte er die Frage, die ihn schon lange bewegte. »Wirst du zurechtkommen?« »Ja, du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich war, abgesehen von meiner Tante, mein ganzes Leben lang allein. Lothryn und ich haben nie die Möglichkeit bekommen, darüber zu sprechen, was wir füreinander empfinden. Aber wir haben es trotzdem gefühlt. Wenn es Shars Wille ist, dass wir zusammen sein sollen, dann wird es geschehen.« 324
»Du bist wundervoll, Elspyth. Weißt du das?« Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu und grinste. Offenkundig genoss sie seine schmeichelnden Worte. »Nein, wirklich«, betonte er. »Du bist mutig und ehrlich, stark und loyal. Du und Lothryn seid euch in vielerlei Hinsicht ähnlich und verdient einander.« Er ergriff ihre Hand. »Ich werde dich nicht im Stich lassen. Wenn er lebt, werde ich ihn zu dir zurückbringen.« Elspyth drückte ihm die Hand. Seine Berührung war tröstlich und erfüllte sie mit einem Gefühl der Freundschaft. »Und du bist ungemein attraktiv, Romen Koreldy, aber ich bevorzuge dennoch den anderen Mann in dir ... Wyl Thirsk.« Nun war Wyl an der Reihe, rot zu werden. »Romen hilft mir jedoch dabei, all das zu sein, was ich nicht bin«, gestand er. »Ich hätte gerne Wyl, den Mann, kennengelernt. Ich habe dich beim Turnier gesehen. Du bist ein ausgezeichneter Schwertkämpfer.« »Ich war allerdings ein bisschen klein, nicht wahr?«, sagte er. Wie immer gelang es ihm nicht, das Kompliment einer Frau so anzunehmen, wie Romen das getan hätte. Sie lachte. »O nein, geh nicht zu streng mit dir ins Gericht. Man sagt, es gäbe dort draußen für jeden von uns jemanden«, munterte sie ihn auf. »Du musst nur mich und Lothryn ansehen. Was für ein seltsames Paar wir abgeben - er so riesig und ich so winzig.« »Ich glaube an Liebe auf den ersten Blick.« »Gibt es jemanden, den du liebst, Wyl?« »Ja.« Ihm blieb keine andere Wahl, als ehrlich zu sein. Jetzt, da er in Freiheit war, bedeutete es ihm alles, zu Valen 324
tyna zurückzukehren. »Aber sie ist unerreichbar. Weit über meinem Stand. Eine Beziehung, die unmöglich funktionieren kann ... und wahrscheinlich nur in meinem Kopf existiert«, sagte er. »Verdammt dazu, eine unerwiderte Liebe zu bleiben«, fügte Wyl mit einer dramatischen Geste hinzu -in der Hoffnung, seiner Bemerkung die Traurigkeit zu nehmen. »Ach, die Königin«, sagte sie intuitiv. Er sah Elspyth an, erschrocken darüber, dass sie auch sein anderes Geheimnis durchschaut hatte.
»Ich habe recht, nicht wahr?«, sagte sie und tippte sich auf die Nase. »Eine Frau kann solche Sachen erraten. Weiß sie davon?« Es war eine gewichtige Frage. Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. »Nein und nein. Sie kannte mich als Wyl und glaubt nun, er sei tot, aber sie hat Romen Koreldy nie getroffen.« »Wyl... darf ich dich so nennen?« »Natürlich.« Es tat gut, seinen eigenen Namen zu hören. »Darf ich vorschlagen, dass du ab und an einen Blick in den Spiegel wirfst? Auf die Gefahr hin, es könne eine Untertreibung sein, muss ich doch anmerken, dass der Körper, in dem du lebst, eine wahre Augenweide ist. Du weißt doch im Moment gar nicht, was sie von dir halten wird.« »Das weiß ich nicht, aber ich spüre, dass sich die Königin in größter Gefahr befindet. Ich muss zurück nach Briavel.« »Jetzt verstehe ich deine Motive besser. Vielen Dank für deine Ehrlichkeit.« Sie zeigte auf einen Meilenstein weiter vorne. »Dort, Wyl! Jetzt können wir feststellen, wo wir sind.« 325
»Du besitzt scharfe Augen«, räumte er ein, und zusammen eilten sie zu dem kleinen Steinpfeiler. »D in vier Meilen«, las er. »Weißt du, wo D liegt?« »Das müsste Deakyn sein, was bedeutet, wir befinden uns etwa zwanzig Meilen von Yentro entfernt.« »Und mehrere Tagesreisen für dich von Rittylworth. Können wir in Deakyn Pferde bekommen?« »Ja, ich denke schon. Es ist nur ein Dorf, aber es liegt an der Hauptstraße Richtung Süden. Dort gibt es ein Gasthaus namens Penny Whistle, und Pferde sollten wir dort auch auftreiben können.« »Unser Problem ist natürlich, dass wir für sie zahlen müssen. Man hat mir meine Geldbörse abgenommen, als Cailech uns gefangen nahm. Verdammt!« »Aber sie haben nicht an meine gedacht«, sagte sie und griff unter ihre Röcke. Wyl musste sie umarmen. Es tat ihnen beiden gut, sich lachen zu hören. »Gut, von mir aus können wir weitergehen«, sagte er und sah, wie sie nickte. »Währenddessen kannst du mir alles über Wyl erzählen und wie er sich in Romen verwandelte. Ich will alles darüber hören ... und diesmal jedes Detail.« Sie hatten ihre Umhänge versteckt, um jede Verbindung zum Gebirgsvolk abzuschütteln. Die Reisenden, die nun vor dem Gastwirt standen, waren staubig und zerzaust, aber glücklicherweise zuckte er nicht einmal mit der Wimper, als sie in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages das Penny Whistle erreichten. Draußen war es noch dunkel, und der Wirt war zu sehr mit Gähnen beschäftigt, um 325
auch nur die geringste Neugierde zu zeigen. Sie besaßen Münzen, und das reichte ihm. Wyl und Elspyth teilten sich ein Zimmer, um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und schliefen augenblicklich ein. Später, nachdem sie sich gewaschen und etwas hergerichtet hatten, gönnten sie sich ein herzhaftes Mittagessen, da sie das Frühstück verpasst hatten. Elspyth
opferte dann ihr gesamtes restliches Geld, um Wyl ein Pferd für seine lange Reise zu erstehen. »Vielen Dank«, sagte er, nachdem sie den Stallmeister bezahlt hatte. »Ylena hat Geld. Nimm es. Aber behalt stets im Gedächtnis, wie zerbrechlich sie ist womöglich ist sie sowieso noch nicht in der Lage, sich anständig um sich selbst zu kümmern, und deine Begleitung wird ein wahrer Segen sein.« Elspyth hatte nicht tief geschlafen. Bei Wyls Geschichte drehte sich ihr immer noch der Kopf, und der Schreck saß ihr noch in den Gliedern. Ylenas Schicksal hatte ihr Herz berührt. Sie wollte glauben, dass Lothryn seine Marter überlebte, doch der Gedanke, wie brutal Ylenas Gatte ermordet worden war, ließ sie Erschaudern. »Nun, hast du den Brief für den Duke?« Sie klopfte sich auf die Rocktasche. »Wie hätte ich ihn vergessen können, wo ich doch mit ansehen musste, wie du dich den ganzen Morgen über damit abgemüht hast?« Wyl grinste. »Ich bin geschickter mit dem Schwert.« »Du machst dich jetzt also auf den Weg, nicht wahr?«, fragte sie. Eigentlich hatte es nicht so traurig klingen sollen. Er nickte. »Ich muss.« »Oh, das habe ich ganz vergessen!«, sagte Elspyth auf einmal und errötete, weil sie so vergesslich war. »Ich habe 326
heute Morgen im Gasthof zufällig zwei Reisende belauscht. Sie kamen aus Pearlis. Anscheinend plant der König, Briavel einen Staatsbesuch abzustatten.« Wyl wirkte erschrocken. »Wann?«, fragte er und packte sie an den schmalen Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich hatte das Gefühl, als stünde er unmittelbar bevor, wenn er nicht schon unterwegs ist. Sie schienen aufgeregt zu sein, redeten über eine mögliche Verbindung zwischen den Ländern und endlich Frieden.« »Ich muss gehen«, sagte er, und seine Gedanken wirbelten herum. »Versuch möglichst, auf belebten Strecken zu reisen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, schließ dich anderen an, die nach Süden wollen. Eine Frau, die allein reist, ist schutzlos.« »Wyl, mir wird nichts passieren. Lass einfach wie versprochen von dir hören. Ich habe kein Geld mehr, das ich dir für die Reise geben kann.« »Ich komme schon zurecht«, sagte er, doch seine Gedanken waren bereits in Briavel. Dann beugte er sich hinab, küsste sie auf die Wange und freute sich, als sie ihn auf einmal fest umarmte. »Pass auf dich auf, Wyl.« »Und du hältst dich und Ylena aus jeglichem Ärger heraus. Geht einfach nach Felrawthy. Ich treffe euch dort.« Sie nickte und ließ ihn los, wobei sie ein tapferes Lächeln aufsetzte, während sie ihm nachwinkte. 326
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WYL DRÄNGTE SEIN PFERD unnachgiebig voran. Wieder verließ er sich auf seine Intuition, die ihn durch das fremde Gebiet führte, und war dankbar, dass Koreldys Geist -wenn auch nur dunkel - ihn ihm weiterlebte. Er ritt zwei Tage querfeldein durch mehrere Grafschaften, immer in südöstlicher Richtung, bis er auf die Grenze zwischen Morgravia und Briavel stieß. Auf hartem Untergrund zu schlafen, machte Wyl nichts aus, obschon er sich gut vorstellen konnte, dass er einen fürchterlichen Anblick bot, als die briavellianische Garde ihn schließlich nach weniger als einem halben Tagesritt in Valentynas Reich aufspürte. Wenigstens war es beruhigend, dass die Sicherheit im Palast funktionierte. Seine erschöpfte und staubige Erscheinung schien seine Geschichte Lügen zu strafen, dass die Königin ihn erwartete. Allerdings untermauerten Koreldys höfliche Umgangsformen und sein gestochener Akzent die Behauptung, er sei von adligem Blute, was die Wachen davon abhielt, ihn vollkommen zu ignorieren. Seine Glückssträhne riss nicht ab, als einer der Männer seinen Namen wiedererkannte. Und es kam noch besser: Der Mann, bei dem es sich um Liryk handelte, war von Valentyna angewiesen worden, Koreldy 327
augenblicklich nach Werryl zu bringen, falls er irgendwo aufgegriffen werden sollte. Mit Liryks Genehmigung wurde ihm gestattet, sich dem Wachtrupp anzuschließen, der mit Steuern und Briefen aus verschiedenen Grafschaften im Gepäck zurück in die Hauptstadt eilte. Es folgten ereignislose Tage, während denen Wyl gut aß und schlafen konnte, ohne sich um einen Hinterhalt von Straßenräubern Sorgen machen zu müssen. Er genoss es, wieder unter Soldaten zu sein. Absichtlich bedrängte er sie nicht mit Romens einnehmender Persönlichkeit, sondern war stets bereit, ihnen bei den anfallenden Arbeiten wie dem Auf- und Abbau des Lagers zu helfen, und leistete den Fußsoldaten Gesellschaft. Meistens blieb er jedoch für sich allein. Erst gegen Ende ihrer Reise erfuhr Wyl, dass Liryk nicht bloß ein hochrangiger Offizier war, sondern vielmehr der Oberbefehlshaber der briavellianischen Garde. Er bekam es bei einer Mahlzeit in einem Gasthof mit, der augenscheinlich mit dem Treiben der Soldaten wohlvertraut war, denn die jungen Bedienungen lächelten und spaßten mit den Männern. »Ihr habt einen sehr hohen Posten inne, wenn Ihr derartige Aufgaben übernehmt«, bemerkte Wyl und stocherte in seinem gebratenen Hühnchen. Liryk hatte die Pastete gewählt und schaufelte geschickt eine Gabel voll Rind mit Soße in den Mund. Er sparte sich den Teig bis zum Schluss auf, und Wyl musste lächeln. Ylena besaß dieselbe Eigenart. Er fragte sich besorgt, wie es ihr ginge und betete zu Shar, dass ihr Geist stark genug wäre, um Elspyth in ihrem Leben willkommen zu heißen. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass Liryk etwas sagte. 327
»... Ich blühe dabei auf. Hasse es, im Palast eingesperrt zu sein. Ich nehme diese Aufträge an, wann immer es möglich ist, obwohl mir allmählich bewusst
wird, dass ich immer seltener dazu Gelegenheit bekommen werde. Ich muss in der Nähe der Königin bleiben.« Wyl nickte. Schon jetzt mochte er den Mann sehr und war froh, dass Valentyna auf seine Erfahrung und sein Wissen zurückgreifen konnte. »Außerdem«, fuhr Liryk fort, »ist es ein Albtraum, derart viele Männer nach Werryl zurückzuordern. Ich habe sie persönlich zusammengetrommelt, weil ich für den Staatsbesuch des morgravianischen Königs so viele Soldaten in der Stadt haben möchte, wie wir entbehren können.« »Ihr traut ihm nicht?« »Ihr meint, abgesehen von der Tatsache, dass wir Todfeinde sind?« Beide Männer lachten. Liryk wedelte mit der Gabel vor Wyls Nase. »Ihr friedfertigen Grenadyner konntet die Feindseligkeiten zwischen unseren Reichen nie nachvollziehen. Doch auf einmal müssen wir höflich und diplomatisch sein, wo sie uns noch vor wenigen Jahren auf dem Schlachtfeld niedergemetzelt haben. Ich war dort -musste mit ansehen, wie Hunderte unserer Jünglinge starben und wofür? Damit Morgravia sagen konnte, sie hätten diesmal gewonnen! Pah! Ich mag den jungen König nicht besonders, aber mir gefällt die Idee einer Hochzeit, weil sie Frieden bedeutet.« Wyl legte das Hühnerbein auf den Teller. »Wie weit stehen die Verhandlungen?« Liryk verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Koreldy, ich kann die Angelegenheit nicht mit Euch besprechen. Lasst Euch jedoch so viel gesagt sein: Der Großteil unseres Volkes 328
würde die Verbindung begrüßen, und zwar aus gutem Grund.« Wyl nickte. »Ich verstehe. Wann erreichen wir Werryl?« »Morgen Nachmittag.« »Und der König?« »Wir erwarten seine Ankunft in etwa einer Woche. Anscheinend verlangsamt er seine Reise absichtlich, um in Städten entlang des Weges haltzumachen.« »Damit sie den Mann bejubeln können, den sie eigentlich hassen«, sagte Wyl und bereute seine Worte schon im nächsten Augenblick. Liryk beäugte ihn argwöhnisch. »Unseren letzten Aufenthalt werden wir in Crowyll einlegen. Es ist ein großer Ort, der etwa zehn Meilen nördlich der Hauptstadt liegt. Besitzt übrigens das beste Bordell in ganz Briavel. Ihr solltet mal vorbeischauen, Koreldy ... um ein wenig Dampf abzulassen«, sagte er. Liryk wusste, wovon er sprach. Wyl hatte in seinen Tagen noch nicht viele Bordelle besucht, erkannte aber schon bald, dass das elegante Steingebäude in Crowyll, auf dessen Schild der Name Verbotene Frucht zu lesen war, eines der feinsten Etablissements seiner Art war, und das nicht nur in diesem Land. Wyl hatte das Gefühl, als seien die Briavellianer in Bezug auf Sex nicht so prüde wie ihre mächtigeren Nachbarn. Dieses Volk genoss die Freuden im Leben in vollsten Zügen, und Wyl war verblüfft, wie Liryk seine Männer - viele von ihnen verheiratet - ermunterte, ein paar Stunden mit einer begehrenswerten Frau zu verbringen. 328
Wyl sprach ihn darauf an, und Liryk zuckte nur mit den Schultern. »Die Männer sind schon seit vielen Wochen unterwegs. Sie müssen sich ein wenig entspannen, bevor sie zur harten Disziplin zurückkehren, die ihnen der königliche Besuch auferlegt. Normalerweise hätten sie nach dem Auftrag einige Tage frei, aber nicht dieses Mal. Sie haben sich also eine Nacht der ... äh ... Entspannung verdient. Dann werden sie wieder hart für mich arbeiten.« Wyl spürte, wie seine strenge Erziehung zutage trat. »Ich frage mich bloß, ob das ihre Frauen genauso sehen.« Liryk lachte. »Ihr überrascht mich, Koreldy. Eigentlich wirkt Ihr wie ein Mann von Welt. Was die Frauen nicht wissen, kann ihnen nicht wehtun.« »Und Ihr? Habt Ihr vor, bei der ... äh ... angebotenen Entspannung teilzunehmen?«, fragte Wyl und blickte sich neugierig in dem sogenannten »Willkommenszimmer« um. Hier wurden die Männer eingeladen, ein paar Bier oder Gläser Wein zu genießen, den von den Frauen vorgetragenen Liedern zu lauschen und dann zu den intimeren Tätigkeiten überzugehen. In Briavel wie auch in Morgravia begann ein solcher Abend üblicherweise mit einem Bad, danach folgten das Einreiben mit Öl und eine Massage. »Natürlich, aber ich bin unverheiratet und fühle mich demnach frei von jeglicher Schuld«, sagte er. »Ich habe mein Herz an das recht interessante Wesen dort in der Ecke verloren ... sie scheint ihr Geld wert zu sein, obwohl ich fürchte, sie hat nur Augen für Euch, Koreldy.« Wyl wies die Worte mit einem Knurren zurück, sah jedoch trotzdem zu ihr hinüber. Sie war faszinierend, wenn auch keine klassische Schönheit wie Ylena, die den Männern den Kopf verdrehte. Doch die Frau ihm gegenüber be 329
eindruckte ihn nicht nur durch ihre bloße kraftvolle Präsenz, sondern ebenso durch ihr hübsches Äußeres. Sie beobachtete Wyl, während sie eine kleine Gruppe Männer unterhielt, dabei den Kopf schief legte, sobald sie über ihre Witze lachte, und ihr schulterlanges Haar neckisch zur Seite strich. Die meisten briavellianischen Frauen trugen das Haar lang. Dennoch war ihres sehr attraktiv und passte irgendwie zu ihrer hochgewachsenen, leicht muskulösen Statur. Fasziniert von ihrer katzengleichen Art, konnte er den Blick nicht von ihr lassen. Er hätte ihre geschmeidigen Bewegungen nicht anders beschreiben können. Wyl spürte, dass sie flink und wendig war, obschon sie den Anschein von Geruhsamkeit erwecken wollte. Als sie ihren Gästen die Getränke brachte, bewegte sie sich so leichtfüßig und elegant wie eine Tänzerin ... oder sogar wie jemand, der in der »Einfachen Kriegskunst« ausgebildet war. Gueryn hatte nie viel Zeit für die Kampfstile ohne Waffen verwendet - bei denen Hände und Füße eingesetzt wurden, um den Gegner zu verletzen - oder diejenigen ohne Schutzkleidung, bei denen es stattdessen auf Schnelligkeit und Stärke ankam. Infolgedessen hatte Wyl diese Techniken nie erlernt - obwohl er dieses Manko eines Tages hatte nachholen wollen. Viele der jüngeren Soldaten, die allmählich höhere Positionen einnahmen, hatten die Einfachen Kriegskünste studiert, und Wyl hatte während eines Schaukampfs in Pearlis selbst gesehen, welche Verletzungen ein solches Können einem Feind zufügen konnte. Er hatte
sich geschworen, sich dieses Wissen anzueignen -sobald das königliche Turnier vorüber war. Mit Bedauern dachte er daran, dass er keinen jungen, beweglichen Kör 330
per mehr besaß und diese Fähigkeiten wohl nicht mehr erlernen würde. Die Beine der Frau waren lang und dünn. Ihre nackten Arme waren muskulös geformt, ihr Bauch war flach und straff. Sie hatte viel Mühe darauf verwendete, Kondition und Stärke aufzubauen und sich beweglich zu halten. Verlegen drehte er den Kopf weg, als sie ihn dabei ertappte, wie er sie unverhohlen anstarrte. Romen hätte nicht weggesehen, ermahnte er sich. Romen hätte ihrem Blick standgehalten und ihr ein sinnliches Lächeln zugeworfen. Wyl war von sich enttäuscht. Da ließ ihn erneut ein nagender Gedanke innehalten. Je länger er in Romens Körper lebte, desto weniger blieb von Romen übrig. Als er sich damals verwandelt hatte, hatte sich alles, aus dem Wyl bestand, zu einem festen Ball verdichtet, und er war auf die Persönlichkeit und den Charakter des Grenadyners angewiesen gewesen. Doch Wyls Eigenheiten kamen immer stärker durch, und allmählich wurde es schwieriger, manchmal sogar unmöglich, Koreldy in ihm aufzuspüren. Bedeutete diese Veränderung, dass Romen schlussendlich verloren war? Hatte sich das, was von ihm übrig gewesen war, einfach im Laufe der Zeit verflüchtigt? Antworten könnte er nur von Myrrens Vater erhalten, dem Hexer - das hatte jedenfalls die Witwe Ilyk gesagt. Jemand stieß Wyl im Vorbeigehen aus Versehen mit dem Ellbogen an, was ihn aus seinen Gedanken riss. Erneut musste er feststellen, dass sein Blick wie magisch zu der Frau glitt. Ihre Augen waren von einem weichen Nussbraun, und zusammen mit dem dunklen Goldton ihres Haars war die Mischung betörend. Ihre Gesichtszüge waren nicht außergewöhnlich schön, das musste er zugeben, 330
doch ihr lebhaftes Auftreten war unendlich anziehend. Es mangelte ihr auch nicht an Selbstbewusstsein, und ihr Publikum lauschte ihren Worten mit hingerissener Aufmerksamkeit. Ihre Zuhörer schienen sich jedenfalls bestens zu amüsieren. Die Männer eilten schließlich mit ihren auserwählten Partnerinnen aus dem Zimmer. Die hinreißende Frau löste sich bedächtig von ihren Verehrern und suchte nach einem Grund, um Wyl anzusprechen. »Ihr seht nicht aus, als gehörtet Ihr zu dieser Gruppe«, sagte sie. Sie hatte eine tiefe Stimme und strömte einen betörenden Reiz aus. »Aber Ihr seid herzlich willkommen. Es ist ein Augenschmaus, dass uns jemand so Attraktives wie Ihr einen Besuch abstattet.« Ihre Direktheit machte Wyl sprachlos, und er wünschte verzweifelt, Romen würde an die Oberfläche emporsteigen und ihn retten. Seine Hoffnung wurde nicht erfüllt, und er bemerkte, wie ein müßiges Grinsen über ihr Gesicht huschte. »Woher seid Ihr, Fremder?«
Er war froh, mit einer Frage, die er mechanisch beantworten konnte, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu bekommen. »Äh, Grenadyn.« »Dann seid Ihr weit fort von zu Hause. Habt Ihr einen Namen?« »Koreldy!«, entgegnete jemand für ihn. Es war Liryk, der in ausgelassener Stimmung zu sein schien. Wyl war sicher, dass sich der ältere Mann im Palast ganz anders verhalten würde. »Quält Euch nicht mit ihm herum, meine Liebe. Wir älteren Männer bedeuten viel mehr Spaß.« Er zwinkerte ihr zu. 331
Doch sie hatte es nicht gesehen. Sie hatte den Blick nicht von Wyl gewandt, und er fühlte sich verpflichtet, auf eine Frage zu antworten, von der er gar nicht wusste, ob sie überhaupt gestellt worden war. »Nur zu, ihr beiden! Ich bin schon zufrieden, diesen ausgezeichneten Alsave zu genießen. Ich habe seit vielen Monaten keinen so guten Wein mehr getrunken«, log er und bereute noch im selben Moment seine lahme Ausrede. »Nun, da habt Ihr's«, sagte Liryk und strahlte die Frau an. »Und wie lautet Euer Name, mein Liebchen?« »Hildyth«, erwiderte sie, während sie immer noch Wyl mit ihren schmalen durchdringenden Augen beobachtete. Liryk vergeudete keine Zeit mit unnötiger Konversation. »Kommt, Hildyth, uns bleiben nur wenige Stunden.« Und mit diesen Worten führte er sie fort. Sie drehte sich noch einmal um. »Wie schade«, sagte sie zu Wyl. »Ich glaube, wir hätten Spaß miteinander gehabt.« »Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte er und gewann etwas Fassung zurück. »Ich hoffe, das ist ein Versprechen.« Ihre Stimme erregte ihn an Stellen, an die er am liebsten nicht erinnert worden wäre. Er nickte, und wieder zuckte ein süffisantes Lächeln um ihre Mundwinkel, als sie sich umdrehte und ihn mit seinem Wein zurückließ. Nach seinem Treffen mit Hildyth fühlte Wyl sich ein wenig angeschlagen. Er hatte keine Lust, zurück zum Gasthof zu gehen, den Liryk für diese Nacht ausgewählt hatte. Stattdessen machte er einen einsamen Spaziergang zurück ins Feld, wo einige der Fußsoldaten ihr Lager aufgeschlagen hatten. Im Moment zog er die Gesellschaft die 331
ser Männer einer Hure oder seinen eigenen aufgewühlten Gedanken vor. Am nächsten Morgen, als sich der kleine Trupp versammelt hatte, war Wyl überrascht, dass Liryk - normalerweise ein Ausbund an Ordentlichkeit - nach seiner Nacht in Crowyll äußerst mitgenommen aussah. Der ältere Soldat erspähte ihn. »Shar sei gedankt, Ihr seid unverletzt!« »Natürlich. Was ist geschehen?« »Es gab einen Zwischenfall im Gasthof, in dem wir übernachtet haben. Wo wart Ihr eigentlich?« »Ich bin hierher zurückgekommen. Ich wollte gestern Nacht nicht allein sein.« »Und das war auch gut so. Ein Feuer ist ausgebrochen. Ich dachte schon, wir hätten Euch verloren.« Wyl runzelte die Stirn. »Wir haben Rauch gesehen - sind alle unversehrt?«
Liryk seufzte. »Ja, unsere Jungs sind wachsam. Selbst bei diesen Anlässen stelle ich Wachen auf, sodass das Feuer rasch entdeckt wurde. Ihr hattet Glück, im Lager zu sein.« »Oh?«, fragte Wyl. »Das Feuer brach genau neben Eurem Zimmer aus. Von dem Flügel des Gasthofs ist nichts mehr übrig. Euer Zimmer ist völlig ausgebrannt und als Erstes eingestürzt.« »Wie kam es zu dem Brand?« Der Soldat zuckte mit den Schultern. »Das scheint niemand zu wissen. Eine unbeaufsichtigte Öllampe, sagt man, aber das ist nur eine Vermutung. Es gibt keinerlei Beweise. Wie dem auch sei, wir reisen jetzt ab.« Wyl vergaß den Vorfall augenblicklich, denn seine Stim 332
mung hob sich bei dem Gedanken, Valentyna wiederzusehen. Die Auftragsmörderin stand inmitten der restlichen Schaulustigen und machte ähnliche Geräusche der Verzweiflung und Entrüstung darüber, dass das Crowylls Old Oak einen solch herben Schlag erlitten hatte. Alle warteten mit morbider Faszination darauf, die verkohlten Überreste der armen Seelen zu sehen, die von dem Feuer eingeschlossen worden waren. Der Wirt stand bei den Einwohnern der Stadt und versicherte ihnen, dass der Gasthof in der letzten Nacht recht leer gewesen sei - nur einige Soldaten seien dort abgestiegen. Er rieb sich die Augen, erschöpft vom Kampf gegen die Flammen, der die ganze Nacht gedauert hatte. Zu seinem Glück war der zerstörte Teil des Gebäudes durch einen Gehweg vom Haupthaus des Gasthofs getrennt. »Wir haben heute Morgen durchzählen lassen. Alle außer einem einzigen Gast waren auffindbar«, erklärte er. »Wer ist es?«, fragte jemand. »Oberbefehlshaber Liryk sagte, es sei ein Fremder, kein Soldat. Er reiste nur mit ihnen. Ein Mann aus Grenadyn -mit dem Namen Koreldy«, antwortete er, darauf bedacht, die Befürchtungen zu zerstreuen, einer der ihren sei umgekommen. Es wäre eine Tragödie für sein Geschäft, wenn sich herumspräche, dass er unachtsam mit seinen Lampen umging. Der Wirt verstand es nicht - er hatte alles überprüft, bevor er sich zu Bett gelegt hatte. Es war ein allabendliches Ritual, jeden Korridor abzuschreiten, die Dochte zu kürzen und Kerzen auszublasen, die von den Gästen unabsichtlich auf den Gängen vergessen worden waren. Noch verblüf 332
fender war der Umstand, dass er nur wenige Öllampen gleichzeitig brennen ließ, und er konnte sich nicht erinnern, am vergangenen Abend überhaupt eine entzündet zu haben. Vielleicht war es eines der Mädchen gewesen, aber weshalb hätte die Lampe in der Nähe dieses Zimmers brennen sollen? Allerdings musste er sich eingestehen, dass er müde, nicht ganz bei der Sache gewesen war und sich nicht einmal entsinnen konnte, ob er den Fremden in sein Zimmer hatte zurückkehren sehen. Einer seiner eigenen Leute trabte zu ihm. »Gastwirt Jon.«
Er wurde aus seinen düsteren Gedanken gerissen und blickte auf. »Irgendwelche Neuigkeiten?« »Nein. Wir haben in den Trümmern herumgestochert, können jedoch nichts retten, Sir.« »Das habe ich mir schon gedacht. Wie steht es denn mit dem ...«, sagte er zögerlich. »... Leichnam?«, beendete er schließlich mit Rücksicht auf die Zuhörer seinen Satz. »Keine Spur davon. Wenn der Grenadyner im Zimmer war, ist er ebenfalls in Flammen und Rauch aufgegangen.« Die wachsame Mörderin lauschte gebannt, runzelte dann die Stirn und drehte sich um. Die Sache war zwar riskant gewesen, doch es hatte sich gelohnt, Öl vor der Tür zu Koreldys Zimmer und gleichzeitig in dem leer stehenden Raum genau darunter zu entflammen. Die zusätzliche Vorsichtsmaßnahme, ein Feuer vor seinem Fenster zu entzünden, war genial gewesen. Es hätte keine leichte Fluchtmöglichkeit gegeben. Mit etwas Glück waren alle Spuren von Romen Koreldy in Flammen und Rauch aufgegangen, wie das der Bursche gerade gesagt hatte. Aber die Auftragsmörde 333
rin war zu gründlich, um sich allein auf Vermutungen zu stützen. Sie wollte die andere Hälfte ihres Goldes, das sie bei Jessom abholen konnte, wenn er in Kürze mit König Celimus nach Briavel kam - wobei jeder hier annahm, es sei ein Verlobungsbesuch. Sie wollte glauben, dass ihr Opfer nichts weiter als Asche sei, doch ihre Instinkte flüsterten ihr zu, dass dem nicht so war. Im nächsten Moment löste sie sich aus der gaffenden Menge und kehrte verunsichert auf ihr Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin wurde sie von ihrer inneren Stimme gewarnt - und bei ihrer Arbeit ging sie nie auch nur das geringste Risiko ein -, dass es weiser sei, in der Stadt zu verweilen, bis Koreldys Tod bestätigt wurde. 333
34 F YNCH VERGRUB SEINE KLEINE H AND in dem dichten Fell an Knaves Hals. Der Hund drehte den Kopf und blickte zu ihm auf - mit dunkelbraunen, weisen Augen. Es war, als könne das Tier seine Stimmungen, seine Gedanken erspüren. Noch erstaunlicher war jedoch, dass Knave ihm immer öfter bei Entscheidungen behilflich zu sein schien. Während der Junge über seine Probleme nachgrübelte, wurde er gewahr, dass Knave in seine Gefühle eingreifen ... Gedanken und Ideen in seinem Verstand aufblitzen lassen konnte. Er wusste nicht, wann diese Absonderlichkeit zum ersten Mal aufgetreten war und konnte es sich auch nicht erklären. Also versuchte er es gar nicht, obschon er Valentyna davon berichtet hatte. Hätte er es jemand anderem erzählt, hätte er nur Spott und Hohn geerntet. Es wäre sowieso eine abstruse Behauptung, denn die Menschen um ihn herum glaubten nicht mehr an Magie. Magie war der Stoff, aus dem Märchen gesponnen wurden. Geschichten, um kleine Kinder zu ängstigen und den Barden etwas zu geben, womit sie ihre Lieder würzen konnten.
Aber Zauberei musste irgendwann einmal existiert haben, schlussfolgerte Fynch, denn abergläubische Menschen 334
machten immer noch einen großen Bogen um Pfützen, aus Sorge, ihre Seele könnte in dem Wasser gespiegelt werden. Oder sagten abwehrende Sprüche auf, wenn sie bemerkten, dass ihre Butter ranzig geworden, ihre Milch sauer oder das Salz verschüttet worden war. Am besten gefiel ihm jedoch der Aberglaube, dass man am Tag vor einer Vollmondnacht etwas Violettes tragen sollte. Fynchs Mutter behauptete, eine besondere »Verbindung« zur Geisterwelt zu haben und etwas in ihrem ältesten Sohn entdeckt - sie hatte ihm nie verraten, was -, das ihn anfällig für übernatürliche Dinge machte. »Sie können mit dir sprechen«, hatte sie ihn gewarnt. Viele Menschen hatten seine Mutter überspannt genannt, eine nette Umschreibung für verrückt, wie Fynch später herausfand. Doch er wusste, dass es nicht stimmte. Es war lediglich ihre »Verbindung«, die sie seltsam erscheinen ließ. Sie hatte Stimmen gehört und Visionen erlebt, aber nie mit jemandem darüber gesprochen, eingeschlossen seinem Vater, und sich nur ein einziges Mal ihrem Lieblingssohn Fynch anvertraut. O ja, er war einer der wenigen Morgravianer, die fest an das Vorhandensein von Magie glaubten. Valentyna, die vielleicht nicht ganz so zynisch wie der Großteil ihrer Mitmenschen war, hatte ihm zögerlich zugestimmt, dass Wyl immer noch bei ihnen war und seine Verbindung mit Romen Koreldy weit weniger offenkundig, als der Grenadyner ihnen das weismachen wollte. Fynch wusste nicht genau, ob sie einfach nur ein Kind aufheitern wollte, doch er wollte glauben, dass sie seine Gedankengänge nachvollziehen konnte, selbst wenn sie nicht wirklich daran glaubte. Ihr Gespräch über Wyls Ver 334
bindung mit Romen hatten sie seit dem ersten Morgen nach Fynchs Rückkehr auf der Brücke nicht mehr angesprochen. Knave hingegen betrachtete sie nun in einem anderen Licht. »Er wurde auf jeden Fall berührt«, hatte sie kürzlich zugegeben, obwohl sie niemals die Ausdrücke Magie oder Verzauberung in den Mund genommen hätte. Das Wort »berührt« fasste es für die Königin perfekt zusammen, war gewöhnlich genug und half ihr, das zu verarbeiten, was sie gerade eingestanden hatte, ohne weitere Erklärungen abgeben zu müssen. »Er hat einer Hexe gehört«, hatte Fynch erwidert, es jedoch dabei belassen. »Es gibt Augenblicke«, hatte sie ihm bei einem ihrer vielen langen gemeinsamen Spaziergänge gebeichtet, »da habe ich das Gefühl, als könne Knave bis tief in mein Innerstes schauen. Klingt das dumm?« Er hatte den Kopf geschüttelt und genau gewusst, was sie meinte. Ihm hatte es gereicht. Valentyna hatte in ihrer eigenen unbeugsamen Art die Möglichkeit von Magie in Betracht gezogen - denn nur mit Hexerei konnte er Knaves Sonderbarkeiten begründen. Das Verhalten des Tiers war in den letzten Wochen immer weniger vorhersehbar geworden. Der Hund war schon kurz
nach ihrer Ankunft in Werryl wieder verschwunden. Um genau zu sein, wurde er bereits am nächsten Morgen vermisst, nachdem er die Nacht bei Valentyna verbrachte hatte - das jedenfalls behauptete sie, als sie Fynch weckte, weil sie sich Sorgen um das Ausbleiben des Hundes machte. Fynch war in den darauffolgen 335
den Tagen untröstlich gewesen. Und dann, am vierten Tag, war Knave wieder im Palast aufgetaucht. Nach der ersten Welle der Aufregung und vielen vergossenen Freudentränen hatte Fynch den riesigen Hund ausgeschimpft. Allerdings hatte er damit gewartet, bis sie allein waren. »Wo bist du gewesen?«, rief er, während er den großen Hundekopf in seinen kleinen Händen hielt. Knave warf ihm einen eigenartigen Blick zu. Etwas in den Augen des Hundes jagte ihm Angst ein, und dann wurde ihm auf einmal schwindelig. Selbst jetzt erschauderte er bei der Erinnerung ... er sah das Blut, als Romen jemandem den Kopf abschlug. Der Söldner war ebenfalls verletzt. Dann bemerkte er Knave, der den bewusstlosen, leblosen Romen fortzog - Fynch wusste nicht, wohin. Die Vision verblasste, und er starrte erneut in die Augen des Hundes. »Du warst bei Romen! Er ist verletzt. Wo ist er?« Eine Stimme, weit entfernt und leise, legte sich über seine Gedanken. »Fürs Erste in Sicherheit«, sagte sie und verhallte. Er schüttelte den Kopf. Er hatte sich die Stimme sicher eingebildet - oder etwa nicht? Fynch glaubte sogar, er habe sie sich nur ausgedacht, um sich nach der verstörenden Vision zu beruhigen. Knave hatte daraufhin laut gebellt, um Fynchs Aufmerksamkeit zu erregen. Es hatte fast den Anschein, als zöge er Fynch zurück in die Gegenwart. Danach verhielt er sich wieder ganz normal und trottete brav neben dem Jungen her. Es gab immer wieder Momente, in denen Fynch fast vermutete, er würde bloß fantasieren und Knave sei nichts weiter als ein lebhafter, überdrehter Hund. 335
Valentyna genoss es, Fynch bei sich zu haben. Sie benutzte ihn oft als Laufburschen für private Botengänge, und der heutige Tag unterschied sich nicht von anderen, sondern begann damit, dass er wichtige Nachrichten für sie überbrachte. Sie war jedoch seltsam rastlos und außerstande, ihren königlichen Pflichten nachzukommen. Schließlich schlug sie vor, einen kurzen Ausritt durch die wunderschönen Wälder um Werryl zu unternehmen. »Ich bin fest entschlossen, dass du lernst, wie man mit einem richtigen Pferd umgeht«, hatte sie schon anfangs gesagt und ließ es sich nicht nehmen, ihn zu unterrichten. Folglich ritten sie häufig gemeinsam aus - Valentyna brauchte wenig Ermutigung, um auf den Rücken eines Pferdes zu springen. Inzwischen wurden sie natürlich stets von einem halben Dutzend anderer Reiter begleitet, aber ihre Eskorte ging diskret vor, und es gab Augenblicke, in denen Valentyna der prickelnde Wonneschauer der Freiheit überkam und sie sich frei von jeglicher Verantwortung glaubte. Ihre Beziehung zu Fynch hatte sich derart vertieft, dass sie das Gefühl beschlich, er sei der Bruder, der ihr nie vergönnt gewesen war, den sie sich aber
immer gewünscht hatte. Trotz seiner jungen Jahre passten sein ernstes Wesen und seine rasche Auffassungsgabe ausgezeichnet zu Valentynas Intelligenz, und sie liebte es, ihn um sich zu haben, sich lautstark über neue Ideen auszulassen oder Probleme zu besprechen und Lösungen zu finden. Es ging selten um Staatsangelegenheiten - sie besaß viele Berater, die ihr bei solchen Dingen halfen. Nein, Fynch war ein Seelenverwandter. Er war ihr engster Freund, ihr treuester Untergebener. 336
Sie führten Gespräche über das Leben, die Liebe, ihre Hoffnungen für Briavel, die Pferdezucht, Gärten und besonders darüber, wie sie ihren äußerst steifen und formellen Verwalter ärgern konnten. Heute bemerkten sie die Eskorte, auf der Oberbefehlshaber Liryk beharrte, kaum. Die Wälder um Werryl waren zu dieser Jahreszeit atemberaubend schön. Es war Valentynas Lieblingsgegend für einen Ausritt, auch wenn sie nicht im wilden Galopp reiten konnte, wie sie das eigentlich gerne tat. Stattdessen schlugen sie ein gemächlicheres Tempo an, wobei Valentyna gelegentlich Fynchs Haltung und seine Zügelführung korrigierte, doch hauptsächlich genossen beide ihre Freiheit und den Frieden. Später, als sie gegen ihre Pferde lehnten, während die Tiere durstig aus dem rasch fließenden Waldbach tranken, erzählte Fynch ihr eine lustige Geschichte über sein früheres Leben als Kanaljunge in Stoneheart. Sie brach in lautes Gelächter aus und streckte die Hand aus, um ihm liebevoll über den Arm zu streicheln, als sie spürte, wie sich sein Körper auf einmal versteifte. Ihr Lachen gefror. »Fynch?« Er schwieg. Seine Hand war zu Knave geglitten - was nicht unüblich war, denn die beiden waren unzertrennlich -, aber Valentyna bemerkte verwundert, wie das Tier zu ihr emporsah. Da war es wieder, dieser verstörende Blick des Hundes, der bis in ihr Innerstes vorzudringen schien. Sie waren miteinander verbunden - Valentyna berührte Fynch, während der Junge Knave festhielt und sich die Augen des Hundes mit ihren verwoben. Mit aller Gewalt löste sie sich von dem durchdringenden Blick des Tieres. Da bemerkte sie, dass Fynchs Mund schlaff herun 336
terhing und er wie benommen in die Ferne starrte, aber die Anspannung in seinen Armmuskeln spürte sie immer noch. Er zitterte leicht. Sie packte ihn an den Schultern. »Fynch!«, schrie sie. »Ich bin's, Valentyna. Bitte, Fynch, rede mit mir.« Sein kleiner Körper sackte in sich zusammen, und hätte sie ihn nicht festgehalten, wäre er hingefallen. Sie hob ihn auf - er war so leicht, dass es ihr keinerlei Mühe bereitete -und eilte zum weichen Gras in den Schatten einer ihrer Lieblingseichen. »Rawl!«, rief sie einen ihrer Männer herbei. »Bitte bring etwas Wasser.« Augenblicklich löste sich der Mann aus der Gruppe Soldaten, die in der Nähe standen, und kam mit einer Flasche herbeigeeilt. Sie benetzte ihr Taschentuch und strich damit über das Gesicht des Jungen. Sobald Fynch die Augen aufschlug, schickte sie den Mann wieder fort. Knave saß wie gewöhnlich bei ihnen - neben dem Kopf des Jungen -, und sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu,
während sich Fynch mühevoll aufsetzte. Sofort stützte er den Kopf in die Hände, als würde er ihn schmerzen. »Was ist los?«, fragte sie schließlich. »Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt.« »Es ist wieder geschehen«, murmelte er kaum lauter als im Flüsterton. »Wieder?« Das ist schon einmal geschehen? »Sieh mich an«, sagte sie, und er tat es. »Was ist gerade passiert?« Fynch schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht erklären.« »Dann versuch es nicht zu erklären, sondern erzähl es mir einfach.« 337
»Ich hatte eine Vision.« Damit hatte sie nicht gerechnet. »Und was hast du gesehen?« Er sah sie an und konnte in ihren Zügen weder Belustigung noch Unglauben ausmachen. Dort war Besorgnis zu lesen, aber gleichzeitig unverhohlenes Interesse. Er entschied sich, ihr alles zu erzählen. »Ich habe dich gesehen.« Immer noch kostete es ihn Überwindung, die Königin zu duzen, aber sie hatte sturköpfig, wie sie war - darauf bestanden. »Mich?« Er nickte. »Du warst mit Celimus zusammen.« Sie schürzte die Lippen. »Was haben wir getan?« »Einer Hinrichtung zugesehen.« Fynch merkte, wie sie mit einer Entgegnung rang. Also fuhr er fort. »Er hat dich geküsst, nachdem es vorbei war.« Das war zu viel für sie. Valentyna war froh, die Wache fortgeschickt zu haben. »Fynch, was ist hier los?« »Ich habe dir doch gesagt, ich kann es nicht erklären.« »Und du sagst, das ist dir schon einmal widerfahren?« »Ja. Beim letzten Mal habe ich Romen gesehen, aber irgendwie war er Wyl Thirsk.« Die Königin lehnte sich zurück, legte die Arme um die Knie und zog sie nah an die Brust - Fynchs Worte waren beunruhigend. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?« »Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet... oder geträumt.« »Fynch, du bist der vernünftigste Mensch, den ich kenne. Du würdest dich nicht von einem Traum täuschen lassen.« »Es war beängstigend.« 337
»Erzähl mir von dem anderen Traum«, sagte sie, wobei sie sich auf einmal wie die Erwachsene vorkam, die ein Kind tröstete. »Ich habe Romen gesehen. Er war verletzt, aber er hat jemandem den Kopf abgeschlagen. Ich habe das Gefühl, dass es noch einen Toten gegeben haben könnte, allerdings bin ich nicht sicher.« Ihr kam es vor, als habe er einfach nur einen Albtraum gehabt. Sie blieb geduldig. »Deine Träume sind brutal. Öffentliche Hinrichtungen und private Enthauptungen.« Sie schüttelte ihn sanft. »Und was noch?« Fynch wirkte nun aufgelöst, beinahe wütend auf sich selbst. »Ich habe Romen angesehen, doch ich hatte den Eindruck, es sei Wyl.«
Sie gab sich größte Mühe, nicht herablassend zu klingen. »Du weißt, wie unsinnig das klingt.« »Natürlich. Aber es ändert nichts daran, was ich gesehen oder wie ich mich gefühlt habe, Majestät.« »Nun, du hast schon einmal angedeutet, dass eine starke Verbindung zwischen Wyl und Romen besteht. Könnte es nicht sein, dass du das einfach bloß sehen wolltest?« Sie ärgerte sich selbst über den beschwichtigenden Ton, der sich in ihre Stimme schlich. »Ja, Majestät. Ich habe mir auch schon gesagt, es sei reine Einbildung.« In seiner Stimme lag kein Sarkasmus, nur Ehrlichkeit. Sie blickte zu Knave, der sie eindringlich anstarrte, und sah dann wieder rasch zu Fynch. »Es war, als seien sie beide zusammen gewesen.« »Gibt es da noch mehr? Du wirkst so zögerlich«, ermunterte sie ihn. 338
»Ich habe eine Stimme gehört. Sie war sehr leise, und wiederum dachte ich, ich hätte sie mir bloß eingebildet. Sie beantwortete eine Frage, die ich Knave gestellt hatte.« Die Königin machte einen tiefen Atemzug. »Fang von vorne an, Fynch.« Jetzt war er an der Reihe zu seufzen. »Ich war wütend auf Knave, weil er einfach so weggelaufen ist. Du weißt schon, so wie du mit den Pferden sprichst?« Sie nickte. »Nun, ich rede ebenso mit ihm und habe ihn gefragt, wo er war.« »Und?« »Dann hatte ich die Vision. Ich war erschüttert und muss etwas im Sinne von >Du warst also bei Romen, und er ist verletzt< gemurmelt haben. Ich glaube, ich habe Knave gefragt, wo Romen ist.« »Und eine Stimme hat dir geantwortet ... Willst du das damit sagen?« Er nickte. »Sie flüsterte, er sei >fürs Erste in Sicherheit^« Dann verzog er das Gesicht. »Ich weiß, was du sagen willst.« »Oh?« »Du wirst mich fragen, ob es Knave war, der mir antwortete und mich dann als verschroben abstempeln, wie man das mit meiner Mutter getan hat.« Sie blickte auf ihre Hände. »Ich kenne deine Mutter nicht, Fynch. Aber ich kenne dich schon sehr gut und würde dich als nichts anderes als intelligent und vernünftig bezeichnen.« Er schwieg, doch sie spürte, wie erfreut er über die Bekräftigung war, dass er nicht verrückt wurde. Valentyna konnte sich nicht zurückhalten. »Und?« 338
Ein leises Lächeln umspielte seinen Mund. »Nein. Nicht Knave hat zu mir gesprochen.« »Also jemand anders - wer?« Er zuckte die Achseln. »Es war ein Mann, das ist alles, was ich weiß.« Valentyna wusste nicht, was sie sagen sollte - Gespräche über Magie verunsicherten sie immer -, weshalb sie sich auf sichereres Terrain begab und zu der jüngsten Vision zurückkehrte. »Und in der zweiten Vision hast du mich mit Celimus zusammen gesehen?« Fynch nickte. Er schwieg und zupfte das Gras um seine Füße heraus.
»Noch etwas anderes als der Kuss, Fynch?«, fragte sie und hielt ihm die Flasche hin. Er nahm sie, führte sie jedoch nicht an den Mund. »Ich kenne den Mann natürlich nicht, den er hinrichten ließ, aber es wurde mit einem Schwert ausgeführt.« »Also ein Adliger?« »Wahrscheinlich. Allerdings sah der Gefangene dich an.« »Ich kenne ihn!« »Das weiß ich nicht.« Obwohl sich Valentyna dagegen sträubte, war sie fasziniert. Sie streckte die Hand nach der Wasserflasche aus und nahm einen Schluck. »Beschreib ihn mir.« »Ich bin nicht sicher, ob ich ...« »Oh, nun komm schon, Fynch. Du besitzt ein prächtiges Erinnerungsvermögen. Denk scharf nach!« Er schloss die Augen und verkniff das Gesicht ... das süße, ehrliche Gesicht, das sie so liebte. »Ein großer Mann. Sonnengegerbtes Gesicht. Herbe Gesichtszüge.« 339
»Haar?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. Seine Augen waren immer noch geschlossen, während er sich zu konzentrieren versuchte. »Ich erkenne die Farbe nicht. Es ist zurückgebunden und dunkel vor Schweiß. Er ist halb tot.« »Ich dachte, sie seien gerade dabei, ihn zu exekutieren?« »Das stimmt. Er ist bereits gehängt und ausgepeitscht worden.« Fynch schlug die Augen auf. Es gab nichts weiter, was er ihr hätte mitteilen können. »Nun, das ist ziemlich verwirrend.« »Am besten sollten wir nicht mehr darüber reden, Majestät«, schlug Fynch vor. »Du hast sowieso schon zu viele Sorgen.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist schlimm genug, dass Celimus herkommt ... er kann jeden Tag hier sein - und es besteht kein Zweifel, auf was er bei unserer königlichen Unterredung hinauswill.« »Du kannst ihn nicht heiraten, Majestät.« »Das weiß ich, Fynch, glaub mir«, belog sie ihn ebenso sehr wie sich selbst. Eine Hochzeit war die einzige Lösung für einen sicheren Frieden. Sie spürte die zunehmende freudige Erwartung bei ihrem Volk. Sie alle wollten, dass die Heirat stattfand ... dass die jungen Briavellianer überlebten, alt wurden. »Ich möchte ihn nicht heiraten!« »Und dennoch habe ich die Befürchtung, du könntest es tun«, sagte er und fühlte sich nun noch schrecklicher. Sie sah Fynch an, und der Schrecken über seine tiefe Überzeugung lastete schwer auf ihr. Sie sah, welch kleiner und verängstigter Junge er war, der dennoch immer Mut zeigte und für sie stark war. Seine Augen fanden schließlich ihre. »Es tut mir leid, Majestät.« 339
Knave drängte sich näher an Fynch, und die Bewegung des Tieres entging Valentyna nicht. Teilweise gab der Hund ihr ein Gefühl großer Sicherheit, doch
bei anderen Gelegenheiten, wie gerade eben, fürchtete sie sich fast vor ihm. Mit dieser fast unmerklichen Bewegung teilte der Hund ihr oder Fynch etwas mit sie war nicht sicher, glaubte jedoch, dass es ihr galt. Glaub dem Jungen, schien der Hund zu sagen. Glaub der Vision. Sie musste vernünftig sein und Fynchs Worte nicht einfach als verrücktes Geschwätz abtun. Fynch hatte sie damals nicht im Stich gelassen, und darüber hinaus liebte sie den Jungen und vertraute ihm. »Es muss mir gelingen, für unser Reich Frieden zu schließen, ohne Morgravia zu beleidigen. Ich kann mir nicht einmal den Gedanken an Krieg leisten - wir sind zu schlecht ausgerüstet. Eine Heirat ist der diplomatischste Weg.« Sie wirkte traurig. »Vielleicht könnte ich lernen, ihn zu lieben.« »Nein, Majestät, dazu wärst du nie imstande. Du könntest den Celimus, den ich kenne, nie lieben.« »Womöglich könnte ich ihn ändern?« Die Worte klangen hohl. »Da lernen noch eher Schweine fliegen, Majestät«, sagte er und wurde mit einem Lächeln belohnt. Er hatte es nicht lustig gemeint, war jedoch froh, dass sich die Anspannung löste. »Wie fühlst du dich jetzt?«, erkundigte sie sich. »Mein Kopf schmerzt, aber ansonsten geht es mir gut«, erwiderte er. »Lass uns meine Visionen vergessen«, fügte er hinzu. »Du hast schon genug damit zu tun, den König von Morgravia willkommen zu heißen, auch wenn seine Avancen es nicht sein mögen.« 340
Während sie zustimmend nickte, trat ein Bote vom Palast näher. »Was gibt es?« »Eure Majestät.« Der Jüngling verbeugte sich. »Reiter. Oberbefehlshaber Liryk und sein Trupp sind nur noch zwei Meilen vom Palast entfernt. Er hat eine Nachricht vorausgeschickt, dass ein Mann namens Romen Koreldy bei ihnen ist und Ihr ihn erwartet.« Bei dieser Neuigkeit hob sich Fynchs Stimmung schlagartig. »Vielen Dank, Ivor.« Sie schenkte dem Jungen ein Lächeln. Er war zu einem der besten Boten im Palast geworden - immer kurz angebunden und präzise. Sie erinnerte sich an seine Geburt und wie er beinahe an dem Fieber gestorben wäre, das damals in Briavel wütete. Seine Eltern waren der Krankheit erlegen, und der König hatte darauf bestanden, dass das Baby im Palast aufwuchs. Bei der Erinnerung an ihren Vater verlor sie wieder jegliche Hoffnung. Sie hatte das anfängliche Gefühl der Panik überwunden, als sie begriffen hatte, dass er von ihr gegangen war, und nun versuchte sie, mit dem Verlust zurechtzukommen. Sie wusste, sie würde es schaffen und dem Reich eine gute Königin sein ... sie hatte viel gelernt, aber wie sehr sehnte sie sich in diesem Moment nach seiner Führung - besonders nach dem, was Fynch ihr gerade von seiner Vision erzählt hatte. Sie bezweifelte nicht, dass Fynch ehrlich war - zu etwas anderem wäre er gar nicht fähig -, doch das ließ das, was er gesehen hatte, in einem noch unerklärlicheren und beängstigenderen Licht erscheinen. Celimus küsst Mich Der Mann, der den Tod ihres Vaters geplant hatte. Tief in ihrem
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Innersten, sicher verschlossen in ihrem Herzen, wusste Valentyna jedoch, dass sie diesen Mann höchstwahrscheinlich heiraten musste. Den Mann, den sie nicht kannte und nicht lieben konnte - den sie geradezu hasste! Wie konnte sie Celimus nach all dem heiraten, was sie von Wyl und Fynch über ihn erfahren hatte? Sie hätte alles darum gegeben, ihren starken Vater an ihrer Seite zu haben, und obwohl sie es nur ungern zugab, so war sie froh über die Neuigkeit, dass Romen Koreldy zurückgekehrt war. Die Worte in seinem Brief brannten hell in ihrer Erinnerung.
Ich werde bald zu Euch kommen - ich gehöre ganz Euch, meine Königin. Meine Loyalität Euch gegenüber wird niemals ins Wanken geraten. In der Zwischenzeit vermache ich Euch ein besonderes Geschenk. Ich überlasse Euch den Hund, Knave, der Euch immer ergeben sein wird. Vertraut ihm und seinem treuen Begleiter Fynch. Sie werden Euch beschützen. Seid tapfer, wunderschöne Valentyna.
Sie vertraute Fynch, und egal, wie sehr Knave sie manchmal ängstigte, wusste sie doch, dass der Hund ihr niemals Schaden zufügen könnte. Koreldy glaubte, die beiden beschützten sie, und jetzt kam er nach Briavel, um ihr seine Dienste anzubieten. Ihr wurde gleich leichter ums Herz. »Rawl, wir reiten zurück beeilt Euch alle.« Als sie sich in den Sattel schwang, sah sie Fynch an. »Romen ist hier. Du musst dir also keine Gedanken mehr machen.« Er lächelte, doch sie konnte an seiner Miene ablesen, dass er immer noch verwirrt und besorgt war. »Du kannst schon mal vorreiten, Majestät.« Valentyna nickte, gab dem Pferd die Sporen und schlug 341
einen raschen Galopp an. Die anderen Reiter folgten ihr geschwind. Fynch wusste, dass auch Knave ungeduldig war und lospreschen wollte. »Du willst ihn sehen, nicht wahr, Junge?« Knave rührte sich nicht, sondern wartete auf Fynchs Signal. »Dann geh schon. Ich bin bald zurück.« Der Hund lief querfeldein zum Palast und kam vor den Reitern dort an. 341
35 V ALENTYNA HINTERLIESS A NWEISUNGEN für Romen Koreldy bei ihrem Kanzler, bevor sie die Haupttreppe zum ersten Stock hinaufstieg. Absichtlich verlangsamte sie nun das Tempo, als sie durch den Korridor zum ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters schritt, das gleichzeitig als Empfangszimmer für wichtige Gäste benutzt wurde. Hier kam sie ihren täglichen Pflichten nach und herrschte über das Reich, wie schon ihr Vater und sein Vater vor ihm. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind bei jedem Fenster hochgesprungen war, um einen kurzen Blick auf die Welt außerhalb des Palasts zu erhaschen. Diese Lebhaftigkeit hatte ihren stocksteifen Lehrer verärgert, doch seine Verwarnungen hatten sie nie dazu gebracht, ihre Neugierde zu zügeln. Und jedes Mal, wenn sie dorthin begleitet wurde, um einen Gast zu treffen oder einfach einige wenige kostbare Minuten
des Morgens mit ihrem Vater zu verbringen, hatte sie wieder dieses ungezügelte Verhalten an den Tag gelegt. Valentyna besaß nur wenige unscharfe Erinnerungen an ihre Mutter. Sie konnte sich den zarten würzigen Duft ihres Parfüms und den Klang ihres Lachens ins Gedächtnis rufen. Es war ihrem sehr ähnlich, das hatte jedenfalls ihr 342
Vater behauptet. Und sie erinnerte sich an ein Schlaflied. Ihre Mutter sang es ihr immer vor, wenn sie als Kind krank war oder nicht einschlafen konnte. Dann streichelte sie ihr übers Haar und summte es leise. Doch der Rest war ein verschwommener Fleck. Wären da nicht das Porträt in der großen Halle oder das Miniaturbild auf dem Schreibtisch ihres Vaters, würde sie die Gesichtszüge ihrer Mutter nicht kennen oder die verblüffende Ähnlichkeit, die zwischen ihnen bestand. Ihre Mutter war während einer weiteren Schwangerschaft gestorben. Es hatte Komplikationen gegeben -vermutlich eine Blutvergiftung. Valentyna war damals viel zu jung, um die Einzelheiten zu begreifen. Sie wusste nur, dass die Frau mit dem lieblichen Lachen, die ebenso schön sang und roch wie sie aussah, eines Nachts nicht zu ihr kommen konnte. Am folgenden Tag saß ihr Vater mit Tränen in den Augen an ihrem Bettchen und erklärte ihr, dass ihre Mutter nun in Shars Obhut sei. Anscheinend war es ein Junge, der lang ersehnte Sohn und Thronfolger, der im Schoß ihrer Mutter verstorben war. Valor hatte bitterlich geweint, als er ihr von den Ereignissen der vergangenen Nacht erzählte. Sie hatten sich aneinandergeklammert und zusammen bittere Tränen vergossen. Von diesem Augenblick an waren sie einander alles, was auf Erden noch zählte. Als sie am Fenster seines ehemaligen Zimmers stand, löste sie sich aus ihren Grübeleien und strich über die Rückenlehne seines abgenutzten Schreibtischstuhls. Von diesem Raum aus konnte sie in den großen Burghof blicken und die Ankunft von Liryk und seinen Männern beobachten. Seine Anwesenheit war schmerzlich vermisst worden, doch sie verstand sein Verlangen, die Sicherheit des Lan 342
des einschätzen zu wollen und so viele ihrer Soldaten wie möglich zurück nach Werryl zu beordern, damit sie für den morgravianischen Besuch gewappnet waren ... nur für den Fall der Fälle. Seinen Angaben zufolge brachte Celimus nur eine kleine Eskorte mit - aber das bedeutete immer noch zwei Kompanien morgravianischer Soldaten auf ihrem Boden. Sie würde jedenfalls keine Risiken eingehen. Sollten Schwierigkeiten auftreten oder Briavel getäuscht werden, wären sie dieses Mal gegen alle Eventualitäten gewappnet. Sie hielt Ausschau nach Koreldy, und obwohl sie abgesehen von Fynchs Beschreibung keine Anhaltspunkte hatte, konnte sie ihn mit Leichtigkeit ausmachen. Es half natürlich, dass sich seine Kleidung von denen der Soldaten unterschied, doch selbst aus dieser Entfernung war klar, dass Fynch ein ausgezeichnetes Bild des Mannes gezeichnet hatte. Wieder einmal erfüllte es sie mit Erstaunen, dass ein so kleiner Junge derart genaue Angaben machen konnte.
Ich sollte nicht überrascht sein, schalt sie sich. Fynch entgeht einfach nicht die kleinste Kleinigkeit.
Valentyna beobachtete, wie Koreldy ihre Nachricht übermittelt wurde. Er sollte augenblicklich zu ihr gebracht werden. Eine Palastwache forderte ihn höflich auf, seine Waffen abzugeben, die er ihr bereitwillig überreichte - darunter auch zwei seltsam aussehende Messer, die er unter dem Hemd hervorzog. Ohne genau zu wissen weshalb, lächelte sie still in sich hinein, während sie die Szene von ihrem Aussichtspunkt aus verfolgte. Vermutlich hatte sich die Wache gerade entschuldigt und gefragt, ob sie ihn rasch durchsuchen könne - Befehl war Befehl -, aber Liryk trat dazwischen und schickte den pflichtbewussten Wachtpos 343
ten mit einer raschen Handbewegung fort - diese Vorsichtsmaßnahme erschien ihm wohl überflüssig. Nach einer kurzen Diskussion mit dem Soldaten trat dieser mit den Waffen unterm Arm weg. Valentyna fiel die freundliche Kameradschaft zwischen Liryk und Koreldy auf - auch das war ein gutes Zeichen. Sie vertraute Liryk blind, und er hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, diesem fremden Mann nah genug zu kommen, um sich ein grobes Bild von ihm machen zu können. Sie erinnerte sich, wie negativ Liryk und der alte Krell Koreldy gegenüber eingestellt gewesen waren. Aber Fynch hatte sie überzeugt, dass Koreldy auf Briavels Seite stand und vertrauenswürdig war. Die beiden Männer im Innenhof tauschten einige Worte aus, ein rasches Lachen erscholl. Dann entfernte sich Koreldy und folgte dem Pagen. Schon bald vernahm sie Schritte. Das einzige äußere Zeichen, das ihre plötzliche Nervosität preisgab, war ihr Zurückstreichen des widerspenstigen Haars. Auf einmal wünschte sie, sie hätte sich wenigstens die Zeit genommen, es zu kämmen. Aber egal, sie gehörte nicht zu den Menschen, die ihrem Äußeren große Beachtung schenkten, und der Gedanke verflog beinahe so rasch, wie er aufgekommen war. Ein Klopfen an der Tür ertönte, dann trat ihr Kanzler ein. »Majestät, Romen Koreldy ist für eine Unterredung hier.« »Vielen Dank, Krell, er soll hereinkommen.« Er nickte. »Ich werde die Erfrischungen sofort hochschicken, Majestät.« Sie lächelte ihm dankbar zu. Seine Intuition ebenso wie seine Erfahrung waren unersetzlich für sie. 343
Valentyna blieb ein wenig verunsichert beim Fenster stehen. Es ärgerte sie, dass sich ihr eigentlich unerschütterliches Selbstvertrauen mit einem Schlag in Luft aufgelöst hatte. Und als Romen Koreldy schließlich ins Zimmer trat, verstand sie allmählich den Grund dafür. Sie starrten einander den Bruchteil einer Sekunde länger an, als es die Etikette vorschrieb. Romens Augen funkelten - es schien ihr, als kenne er sie bereits und sei froh, sie wiederzusehen. Ein verwirrtes Lächeln spielte um ihren Mund, während sich das Schweigen in die Länge zog. Koreldy hatte sich nicht bewegt, seit sich die Tür leise hinter ihm
geschlossen hatte. Er bemerkte ihre leichte Verlegenheit und durchmaß nun rasch den Raum, bevor er vor ihr kniete und ihre Hand nahm. »Königin Valentyna.« Er küsste ihr die Hand, und wieder kam ihr in den Sinn, dass er sich ein oder zwei Augenblicke länger Zeit ließ, als unbedingt nötig gewesen wären. »Eure Majestät, ich biete Euch wie versprochen meine Dienste an.« Er hielt den Kopf auch weiterhin gesenkt, und ihre Hand lag noch immer in seiner. Ganz offensichtlich war er nicht gerade darauf erpicht, sie loszulassen, und wenn Valentyna ehrlich zu sich war, so war auch sie nicht in Eile. »Seid willkommen, Romen Koreldy. Es ist uns eine große Freude, Euch bei uns zu haben.« Jetzt richtete er sich zu voller Größe auf und überragte Valentyna, was sie überraschte. Normalerweise konnte sie den meisten Männern direkt in die Augen schauen oder musste den Kopf sogar senken. Doch um seinen grauen Blick zu treffen, musste sie das Kinn ein klein wenig recken - eine seltene und angenehme Erfahrung. 344
Gefühle, die sie nicht genauer bestimmen konnte, stiegen in ihr auf und drohten, ihre Seelenruhe zu stören. Im selben Moment erkannte Valentyna, was ihre ansonsten unerschütterliche Gelassenheit aus dem Gleichgewicht gebracht hatte: er. Schon als sie ihn vorhin heimlich beobachtet hatte, war etwas in ihr geweckt worden. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben verstand Valentyna, was es bedeutete, sich stark zu einem Mann hingezogen zu fühlen. Oh, als kleines Mädchen hatte sie öfter für ältere Männer geschwärmt. Sie erinnerte sich, wie sie sich in einen Stalljungen mit rotbraunem Haar verliebt hatte, da war sie kaum älter als zehn Sommer gewesen; und einer der Knappen hatte es sogar einmal gewagt, ihr einen Kuss abzuluchsen. Sie hatte ihn daraufhin getreten. Als sie zwölf war, hatte es einen Lehrer gegeben, der ihr den Atem verschlagen hatte, sobald er gelächelt oder sich zu ihr hinabgebeugt hatte -aber seitdem war da niemand gewesen. Kein einziger Mann, der ihr Herz wie wild hätte schlagen lassen. Das neue Gefühl verunsicherte sie, denn es ließ sie innerlich schwach werden, genauso, wie sich ihre Knie im Moment anfühlten. Aber Schwäche würde ihr beim Regieren nicht weiterhelfen. Seine wissenden Augen beobachteten sie eindringlich. Valentyna hatte einen arroganteren Mann erwartet. Krell hatte Koreldy kurz bei seinem ersten Besuch getroffen und ihn als prahlerischen, selbstbewussten Zeitgenossen mit einem einnehmenden Lächeln beschrieben - jemanden, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Davon spürte sie im Moment nicht viel, doch es war noch zu früh, um sich eine Meinung zu bilden. Koreldy räusperte sich, und sie bemerkte erschrocken, dass die Stille zwischen ihnen zu lange gewährt hatte. Sie sollte etwas sagen. 344
»Vielen Dank, dass Ihr zurückgekommen seid.« Jetzt lächelte er breit, was ihn vollkommen veränderte. Seine Augen leuchteten, und hübsche Fältchen kräuselten die gebräunte Haut um seine Augen und den Mund.
»Ich konnte nicht fernbleiben«, erwiderte er. Ich könnte mich in diesem Lächeln verlieren, dachte sie. Valentyna wurde durch ein Klopfen an der Tür gerettet, und Krell kündigte die Erfrischungen an, die von einem Dienstboten auf einem großen Tablett hereingetragen wurden. Erleichterung durchflutete sie. »Ihr müsst nach Eurer Reise durstig sein«, sagte sie zu ihrem Gast. »Bitte vergebt meine Aufmachung, Majestät, wir waren seit mehreren Tagen unterwegs.« »Das spielt doch keine Rolle«, erwiderte sie und dankte dem Diener mit einem leichten Kopfnicken, der daraufhin das Zimmer verließ. »Auch ich bin heute Morgen ausgeritten.« Sie wollte Koreldy sagen, dass sie seine staubige Erscheinung mochte, den Geruch nach Pferden, sein unrasiertes Kinn und das widerspenstige Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Er strotzte geradezu vor allem, was sie an einem Mann attraktiv fand. Hier steht ein Mann, an den man sein Herz verlieren könnte.
Als sich Valentyna, beschämt über ihre unschicklichen Gedanken, räusperte, war Wyl heilfroh, dass Romen die Ruhe selbst war. Ohne ihn hätte er sich wie ein stotternder Jüngling benommen. Er wunderte sich, wie verblüffend unvorhersehbar Romens Wesen war; manchmal schien er sich in Nichts aufgelöst zu haben, während er gelegentlich - wie in diesem Moment - die Oberhand gewann. Valentyna wiederzusehen hob seine Stimmung und ließ sein Herz aufblühen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu 345
sein als in diesem kostbaren Augenblick. Nur sie zwei, ganz allein. Das Herz hämmerte ihm wild in der Brust, und wiederum überkam ihn das vertraute Gefühl, nur stockend Atem zu bekommen. Es waren die gleichen Gefühle wie bei ihrem ersten Treffen. Sie ist so liebreizend, dachte er, und genauso, wie ich sie
in Erinnerung hatte, mit den Haarsträhnen, die sich aus der Spange gelöst und ihr ums Gesicht wehten, ihrer Reitkleidung für Männer und ihrem natürlichen Wesen. Ich habe dich vermisst, Valentyna. Ich liebe dich mehr, als ich das je erklären könnte,
wollte er so verzweifelt sagen. Stattdessen nickte er nur, als sie ihn mit einer einladenden Geste zum Sitzen aufforderte, und begab sich zu einem kleinen Tisch und Stühlen am Fenster. Er hoffte, dass Romen nicht ebenso leicht errötete wie er früher. Sie grinste. »Ich versuche immer noch, mich an diesen Raum zu gewöhnen. Es war das Arbeitszimmer meines Vaters, müsst Ihr wissen. Ich kann seine Gegenwart oft spüren.« Er sah ihr an, wie nervös sie war. »Er war ein tapferer Mann. Wir waren ihnen zahlenmäßig unterlegen, Majestät. Es tut mir so leid, Euch enttäuscht zu haben ...« »Nicht«, sagte sie und streckte instinktiv den Arm aus, um tröstend seine Hand zu berühren. Als er nicht zögerte, ihre Hand mit der seinen zu bedecken, ergriff sie erneut ein freudiger Schauer. Sie genoss die angenehme Wärme seiner Handfläche, die durch ihre Haut strömte. Es war der sinnlichste Moment ihres Lebens. Ihr stockte bei seiner Berührung der Atem, während seine feurigen Augen sie so unverhohlen musterten.
Valentyna widerstand der Versuchung, sich erneut zu räuspern und flehte inständig, dass ihre Stimme nicht zit 346
terte. »Ich weiß, dass Ihr und Wyl Thirsk tapfer gekämpft habt, um ihn zu retten. Ich bin Euch zu tiefstem Dank verpflichtet ... ein Morgravianer und ein Grenadyner, die für einen briavellianischen König kämpfen. Welche Ironie des Schicksals!« Wyl schwieg. Ihr Schmerz war offenkundig. Die Stille dehnte sich aus. »Es gibt einen kleinen Jungen und einen riesigen Hund, die begierig darauf warten, Euch zu sehen«, sagte sie gespielt fröhlich und zwang sich, vom Tod ihres Vaters abzulenken und sich Koreldys Berührung zu entziehen. »Fynch ... geht es ihm gut?« Valentyna war von seinem ernsten Verhalten überrumpelt - das überhaupt nicht mit Krells Beschreibung des Mannes übereinstimmte -, doch sie mochte ihn dafür umso mehr. »Es scheint ihm gut zu gehen.« Die Königin klang nicht überzeugt. »Aber?«, fragte er. Sie reichte ihm einen Weinkelch und wünschte, sie hätte mit ihrer Antwort keine Zweifel aufkommen lassen. Koreldy redete mit ihr, als seien sie alte Freunde, und seine ungezwungene Art betonte diesen Umstand. Doch Valentyna kannte den Mann noch nicht gut genug, um ihm Geheimnisse anzuvertrauen. »Kein Aber. Ihm geht es gut«, bekräftigte sie, wobei sie ihn mit einem zauberhaften Lächeln bedachte. »Bitte«, sagte sie und ermunterte ihn, vom Wein zu kosten. »Es war einer der Lieblingsweine meines Vaters.« Wyl nahm einen kleinen Schluck, und Fynch war augenblicklich vergessen, als die Wärme ihres Lächelns ihn überrollte. »Er ist köstlich. Vielen Dank.« Valentyna freute sich über das Kompliment. »Vater hat 346
immer gesagt, der Wein sei am besten, wenn er noch jung ist«, gestand sie und nippte an ihrem Kelch. Dann atmete sie tief durch. Es war an der Zeit, das höfliche Geplänkel zu beenden. »Romen, darf ich offen sein?« Er nickte. »Ich bitte darum.« »Nun, es ist nur so, dass ich mich in einer heiklen Lage befinde. Ihr habt versucht, das Leben meines Vaters zu schützen - ohne jeden ersichtlichen Grund - und habt Seite an Seite neben einem Mann gekämpft, dem wir vertrauen. Einem Mann, den Ihr meines Wissens nach umbringen solltet. Wyl Thirsk starb an jenem Tag, und wir haben außer Eurem Wort nichts, das uns bezeugen kann, was sich damals wirklich zugetragen hatte. Zu Eurer Ehrenrettung kann natürlich gesagt werden, dass Ihr ihn einfach hättet hierlassen und fliehen können. Aber Ihr seid mit seinem Leichnam nach Morgravia zurückgekehrt und habt dann seine Schwester in Sicherheit gebracht, was wir nur als Zeichen für Eure Ehrlichkeit deuten können. Und jetzt soll ich glauben, dass Ihr Briavel... und mir ...« Sie spürte, wie sie errötete. »... ewige Treue schwört.« Er wollte etwas erwidern, doch sie hielt die Hand hoch. »Nein, bitte. Lasst mich das noch hinzufügen. Es muss gesagt werden. Ich muss wissen, ob Ihr es
ehrlich meint, denn ich kann mir nicht vorstellen, was Ihr aus der Sache gewinnen könnt, wohingegen ich alles verliere, wenn ich mein Vertrauen in Euch setze.« »Majestät.« Wyl nahm erneut ihre Hand - wie sehr er sich wünschte, sie zu streicheln! »Ich habe in meinem Brief geschrieben, ich gehöre ganz Euch. Ich habe es damals so gemeint und meine es immer noch so. Ich bin Euch treu ergeben, Valentyna, Königin von Briavel.« 347
»Aber warum?« »Weil Celimus falsch wie eine Schlange ist. Er fühlt sich nur sich selbst verpflichtet. Ich habe keine Familie, Majestät«, sagte Wyl. Er verabscheute sich, als er das sagte. »Ich habe keine Heimat mehr und keine Wurzeln, zu denen ich zurückkehren könnte. Ich bin ein freier Mann«, fügte er hinzu, ohne jedoch mit seiner Wortwahl zufrieden zu sein. »Ich mochte Wyl Thirsk. Er entrang mir einen Bluteid, und ich gab ihm das Versprechen, Euch mit meinem eigenen Leben zu beschützen.« »Das wurde mir berichtet.« Sie war erschüttert. »Warum hat er das von Euch verlangt?« Das war seine Chance. Vielleicht konnte er als Romen aussprechen, was er als Wyl nie über die Lippen gebracht hätte. »Weil er in Euch verliebt war, Majestät.« Sie öffnete den Mund, aber kein Laut entrang sich ihrer Kehle. Mit überrascht aufgerissenen Augen schloss sie ihn wieder. »Wir waren Fremde«, sagte sie schließlich leise und ungläubig. »Wir kannten uns nur wenige Stunden.« »Habt Ihr nie erlebt, wie es Euch den Magen umdreht und Euer Herz zu schlagen aufhört, bloß weil Ihr jemandem zum ersten Mal begegnet und wisst, dass dies der einzige Mensch auf der Welt für Euch ist?« Er sagte es mit einem fröhlichen Unterton, aus Angst, er könne sonst herablassend klingen. Wyl ließ außerdem ein umwerfendes Lächeln folgen, von dem er wusste, dass Romen es perfekt beherrschte. Augenblicklich errötete Valentyna. Sie hoffte, er könne ihre Gedanken nicht lesen. »Ich habe davon gehört«, sagte sie, ohne die Wahrheit zugeben zu wollen. Er überging ihr Unbehagen und fuhr fort: »Ich mochte 347
Wyl vom ersten Moment an.« Jetzt feilte er an seiner Lüge. »Ich habe mit eigenen Augen mit ansehen müssen, wie brutal Celimus gegen die Familie Thirsk vorging, und entschied damals, dass ich nicht Wyls Mörder sein wollte. Aber ich steckte schon zu tief in der Sache, um den Auftrag auf einmal abzulehnen. Ich durfte Celimus auf keinen Fall wissen lassen, dass ich zum Verräter geworden war. Wyl kannte meinen Befehl - Fynch hatte ihm davon erzählt.« Sie nickte. »Je besser ich ihn auf der Reise nach Briavel kennenlernte, desto mehr war ich überzeugt, dass ich ihn nicht töten könnte. Wir heckten einen Plan aus. Natürlich kannte er Euch damals noch nicht, Majestät, ansonsten wäre er ganz anders ausgefallen.« »Erzählt weiter!«, bedrängte sie ihn, gleichzeitig verlegen und fasziniert.
»Nun, nach Eurem Treffen veränderte sich natürlich alles. Er wollte Euch nicht mehr darin bestärken, Celimus zu heiraten, selbst wenn sein Scheitern das Leben seiner Schwester bedroht hätte.« Sie nickte. »Ja, das hat er uns auch erklärt. Er hat uns alles erzählt. Wegen seines Hasses auf Celimus war er wohl bereit, für den briavellianischen König zu kämpfen. Er war ein tapferer Mann, denn zum Verräter zu werden, kann einem ungeheueren Mut abverlangen, insbesondere, wenn man den Namen Thirsk trägt.« »Das stimmt«, sagte Wyl, berührt von ihrer Einsicht. »Wyl hatte miterleben müssen, wie sein bester Freund brutal ermordet wurde. Seine Schwester, die Frau dieses Freundes, musste im Blut ihres Gatten knien. Die Dauer ihrer Ehe kann in Stunden gezählt werden.« Wyls Tonfall war so rau, dass er sich räuspern musste. »Ylena wurde einge 348
sperrt und wäre nur ausgelöst worden, hätte Wyl Euren Vater davon überzeugen können, der Heirat zuzustimmen. Sein Vormund und Lehrer Gueryn ist wohl mit größter Wahrscheinlichkeit im Norden umgekommen. Wyl vermutete, dass Celimus seine Finger im Spiel hatte, und ich habe in der Zwischenzeit herausgefunden, dass er in dieser Hinsicht recht behielt. Aber er war in die Enge getrieben. Wyl hatte guten Grund, den neuen König zu hassen, und nachdem er Euren Vater und Euch, Majestät, kennenlernte, fiel es ihm leicht, trotz seiner Untertanentreue für Morgravia das fremde Briavel zu wählen.« Er beeilte sich, zum Schluss zu kommen. »Nachdem Ihr und Fynch aus dem Palast geflohen seid, ließ mich Wyl ins Zimmer und berichtete mir von dem Hinterhalt. In diesem Moment erkannte ich, dass ein Doppelspiel mit mir getrieben worden war. Er bat mich, an seiner Seite zu kämpfen, und mir blieb keine andere Wahl.« Sein Ton wurde zögerlich, da er keine alten Wunden aufreißen wollte. »Nachdem Euer Vater gefallen war und wir glaubten, alle Angreifer getötet zu haben, offenbarte mir Wyl seine Gefühle für Euch. Doch ein letzter Mann brachte Wyl um, das muss ich schmerzlich zugeben.« Die Königin stieß einen leisen, erstickten Schrei aus. »Wir hatten nur ein kurzes Mahl zusammen eingenommen - das war alles. Wie konnte er behaupten, er sei in mich verliebt?« »Majestät, wenn Amors Pfeil Euch mitten ins Herz trifft, gibt es kein Entrinnen oder eine gewünschte Zeitspanne, in der sein köstliches Gift wirken soll. Bei einigen geschieht es im Bruchteil einer Sekunde. Ich zweifle nicht daran, dass Wyls Worte aus tiefstem Innern kamen. Er war bereit, für Euch zu sterben und tat es. Aber er ließ mich den Bluteid 348
schwören, damit ich, der ich keiner Krone verpflichtet bin, Euch mit meinem Schwert und seine Schwester mit meinen Verbindungen beschütze.« Wyl zwang sich, nicht nervös auf der Lippe zu kauen oder andere Anzeichen seiner Anspannung wegen der geschickt gestrickten Lüge preiszugeben. Würde sie ihm Glauben schenken? Würde sie sein Angebot annehmen?
»Ich habe gespürt, dass er ein guter Mann war«, sagte sie und starrte aus dem Fenster, während sie darüber nachdachte, was sie gerade gehört hatte. »Ich glaube, mein Vater hat ihm vertraut, obwohl sie erbitterte Feinde waren.« »Es kann wahres Ehrgefühl zwischen Feinden bestehen, Majestät, auch wenn ich Euch versichern kann, dass Celimus keines besitzt - er schlägt überhaupt nicht nach seinem großartigen Vater.« »Oh? Ihr kennt Magnus?« »Äh, nein.« Narr »Ich habe viel von ihm gehört, und Wyl Thirsk hat mich überzeugt, dass der alte König alles war, was sein Sohn nicht ist.« Sie lächelte traurig. »Mein Vater hatte große Hochachtung vor Magnus, obschon er ihn hasste - klingt das einleuchtend?« Wyl nickte. »Und er hielt große Stücke auf Fergys Thirsk. Die beiden lieferten sich viele Schlachten«, sagte sie mit Wehmut in der Stimme. »Ich sollte Euch wohl sagen, dass mein Vater der Hochzeit ebenfalls zustimmte. Die Verbindung wird Frieden bringen.« »Das wird sie zweifelsohne - doch ein Frieden, der sehr zu Gunsten von Morgravia ausfallen wird«, warnte Wyl die Königin. Sie wandte sich vom Fenster ab und sah ihm fest in die Augen. »Fahrt fort.« 349
»Celimus möchte über Briavel herrschen. Sobald Ihr der Hochzeit zugestimmt habt, werdet Ihr jeglichen Einfluss auf Euer eigenes Reich verlieren.« Sie erschrak. »Ich würde nur zustimmen, wenn wir gemeinsam herrschen.« Valentyna beobachtete, wie Romen die Achseln zuckte und dann seufzte. »Ja, und er würde Euch das Blaue vom Himmel versprechen, bis Ihr das Gelübde abgelegt habt. Seid auf der Hut, Majestät, Celimus wird sein Wort nicht halten. Durchschaut das attraktive Äußere. Darunter lebt eine Schlange.« Sie stand auf und ging verwirrt im Zimmer auf und ab. »Er wird bald hier sein. Ich bezweifle nicht, dass er persönlich gekommen ist, um mir einen Heiratsantrag zu machen. Ich habe mir seine Avancen vom Leib gehalten, wie Ihr mir das geraten habt, aber jetzt kann ich ihm nicht mehr aus dem Weg gehen. Es gibt keine weiteren Ausflüchte ... außer ich lasse mich auf Krieg ein, was ich meinem Volk aber nicht schon wieder zumuten kann. Sie lechzen nach Frieden.« »Ich bin sicher, die Morgravianer fühlen dasselbe«, räumte Wyl ein und wusste, dass es der Wahrheit entsprach. »Was soll ich tun?«, fragte sie und wirbelte herum. Zum ersten Mal blickte Wyl hinter die königliche Fassade und spürte, wie allein sie war. Wyl erhob sich und ging auf sie zu. Er wollte sie küssen, kämpfte den Impuls jedoch nieder. »Valentyna, werdet Ihr mir vertrauen?« Sie richtete ihren blauen Blick auf ihn; fest, unerschütterlich, stark. Er liebte sie dafür. »Ihr habt uns mit Eurem 349
Schwert Treue geschworen ... mit Eurem Leben. Ja, ich muss Euch vertrauen, denn ich liebe Fynch, und er hat Vertrauen in Euch ... und Wyls seltsamer, unergründlicher Hund, der mir Angst einjagt, weil er tief in meine Seele schauen und meine Gedanken lesen kann, vertraut Euch auch. Ihr seid von
Geheimnissen umgeben, Romen Koreldy, und das beunruhigt mich, aber ja, ich muss einfach glauben, dass Ihr es ehrlich meint.« Er verneigte sich und küsste ihr die Hand. Erleichterung durchflutete ihn. »Ich meine es ehrlich, Valentyna. Lasst mich ein wenig über die Angelegenheit mit Celimus nachdenken. Wir sprechen später weiter, wenn Euch das passt, Majestät?« Sie nickte. »Vielleicht wollt Ihr zur Abenddämmerung einen Spaziergang mit mir machen? Dann können wir reden.« Er verbeugte sich. Nur äußerst ungern wollte er sich von ihr trennen, wusste aber, dass es nötig war. Er hatte dieses Mal Glück gehabt, doch bei ihrem nächsten Treffen wäre sie aufmerksamer. Er brauchte etwas Zeit, um sich zu sammeln und eine Lösung zu finden. Er war ein exzellenter Stratege - dafür war er geboren -, und Wyl wusste, er würde nie wieder so auf diese Fähigkeit angewiesen sein wie jetzt. Ihm blieben nur wenige Tage, um Celimus' Plan zu vereiteln. Wyl wurde zu seinen Zimmern geführt. Die junge Zofe, die errötete, einen Knicks machte und ein paar Worte stammelte, während sie ihm die Tür öffnete, war entsetzt, als sich ein riesiger Hund von hinten an ihr vorbeidrängelte und 350
auf den gut aussehenden Gast stürzte, der nach hinten taumelte. Obschon Wyl Knaves Begrüßung nicht erwartet hatte, verlor er nicht ganz das Gleichgewicht. »Gütiger Shar, Mylord! Das tut mir leid«, kreischte die Zofe. Knave legte seine Vorderpfoten auf Wyls Schulter und drückte ihn mit seinem Gewicht gegen die Wand. »Macht Euch keine Sorgen«, sagte Wyl zu der blassen, in Panik versetzten Dienerin. »Ich kenne den Hund. Das ist seine Art, mich freundlich willkommen zu heißen.« »Shar habe Erbarmen mit uns«, flehte sie und hoffte auf die Güte ihres Gottes. »Fynchs Hund wird uns alle noch einmal ins Grab bringen.« »Er ist ein braver Kerl. Bitte, macht Euch meinetwegen keine Gedanken. Wir beide kennen uns schon lange. Habt Ihr Fynch heute zufälligerweise schon gesehen?« »Äh, ja, Sir«, sagte sie, wagte jedoch kaum, die Augen von dem Hund abzuwenden. Sie wusste, man gäbe ihr die Schuld, wenn ihrem Gast etwas zustieße oder seine Kleidung ruiniert wäre - nicht, dass sie viel schmutziger werden könnte, entschied sie. »Er ist vorhin mit Ihrer Majestät ausgeritten, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« »Vielen Dank. Ihr könnt jetzt gehen.« »In dem Becken dort ist warmes Wasser, Sir, und frisches Leinen. Ihre Majestät beauftragte mich, auch einige Kleidungsstücke für Euch bereitzulegen. Ich hoffe, alles entspricht Euren Vorstellungen. Der junge Stewyt wurde Euch zugeteilt, Sir, er wird also jeden Botengang für Euch erledigen.« Sie machte einen höflichen Knicks. »Vielen Dank noch einmal«, sagte er, löste sich von Knave und trat in das Zimmer. Der Hund folgte ihm, sehr
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zum Missfallen des Dienstmädchens. »Ich bringe ihn später raus.« Die Zofe nickte und zog sich dankbar zurück. Er schloss die Tür und drehte sich dann zu Knave um, der auf den Hinterpfoten saß und zu ihm emporstarrte. Wyl ging in die Hocke und tätschelte den Hund. »Was bist du, Knave? Du bist kein normales Tier, das steht schon mal fest.« Der Hund genoss die Zuwendung und hechelte glücklich. Sein Herrchen stand kopfschüttelnd auf. »Ich werde mich ein bisschen frisch machen und begebe mich dann auf die Suche nach unserem jungen Freund«, sagte er zu seinem Begleiter, der sich mit einem lauten Plumpsen auf den Boden fallen ließ und abwartete. Wyl stellte seine Stiefel vor die Tür, in der Hoffnung, dass Stewyt den Wink verstand, sobald er auftauchte. Währenddessen stellte sich heraus, dass das Becken in Wirklichkeit ein riesiger metallener Badezuber war. Das Wasser war heiß, parfümiert und einladend. Anstatt sich mit einem kurzen Waschen zufriedenzugeben, aalte er sich schon bald im Seifenschaum und gönnte sich ein ausgiebiges Bad. Anspannung und Schmerzen verflüchtigten sich zusammen mit dem Dreck, der sich über viele Tage angesammelt hatte, und als Wyl schließlich aus der Oase stieg, fühlte er sich wie ein neuer Mensch. Die Vorstellung amüsierte ihn. Er war ein neuer Mensch. Koreldy hatte Valentyna gefallen - er war sicher, die Zeichen nicht falsch interpretiert zu haben. Aber da war nicht mehr viel von Romen übrig, außer seiner attraktiven Hülle und dem flüchtigen Aufblitzen seiner Persönlichkeit; der Rest war Wyl Thirsk. Dieser Gedanke entlockte ihm ein Lächeln. Womöglich bestand doch noch Hoffnung, dass er für Valentyna mehr werden könnte als nur ein treuer Kämpfer? 351
Er drängte den Gedanken beiseite und rasierte sich, wobei der Schmerz in seiner verletzten Rippe ihn zusammenzucken ließ. Nachdem er den Bart fein säuberlich gestutzt hatte, wandte er sich seinem Haar zu, kämmte die dunklen Verfilzungen aus und war froh, sich wieder sauber zu fühlen. Dann band er es zu einem festen Pferdeschwanz zurück. »Ah, das ist besser, Knave«, sagte er, und der Hund spitzte bei seinem Namen die Ohren. Wyl schnaubte belustigt. Allmählich glaubte er, dass Knave seine Gedanken hören konnte - er hätte sich gar nicht die Mühe machen müssen, sie laut auszusprechen. Er begutachtete die frische Kleidung, die man ihm bereitgelegt hatte, und war von dem einfachen Schnitt und dem neutralen Farbton angetan. Romen hätte vielleicht eine etwas farbenfrohere Auswahl vorgezogen. Wyl musste schmunzeln: Wenn man mit orangefarbenem Haar und einem unscheinbaren Gesicht aufwuchs, wollte man gewiss keine lebhaften Farben tragen und noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen; diese Vorliebe würde er wohl nie ablegen, auch wenn er nun mit einem solch attraktiven Äußeren und dunklem Haar auftrumpfen konnte. Während er in dem kleinen Nebenzimmer gebadet hatte, waren seine Stiefel geputzt und in sein Zimmer zurückgestellt worden. Und genau in dem Moment, als er sich fragte, wo der unerreichbare Stewyt stecken könnte, ertönte ein leises Klopfen. »Herein«, antwortete Wyl. Ein Junge trat ein. »Guten Nachmittag, Sir. Ich bin Stewyt.«
»Vielen Dank für die Stiefel.« Stewyt grinste. »Gibt es noch etwas, bei dem ich Euch behilflich sein kann?« 352
»Hast du in letzter Zeit vielleicht Fynch irgendwo im Palast gesehen?« »O ja, Sir. Ich habe eine Nachricht für Euch. Fynch lässt fragen, ob Ihr ihn unten am Fluss treffen könnt.« Wyl nickte, während er mit noch nassem Haar den zweiten Stiefel anzog. »Anscheinend soll Euch Knave zu ihm führen«, erklärte Stewyt achselzuckend. »Er findet Fynch immer«, erwiderte Wyl beiläufig, um jeglichen Gedanken zu zerstreuen, Knave könne irgendetwas Mysteriöses an sich haben. Je weniger Menschen das glaubten, umso besser. »Und Ihre Majestät bittet Euch, ihr später im Kräutergarten Gesellschaft zu leisten.« »Bei Sonnenuntergang?« »Nach dem Abendläuten der Kapelle.« Wyl erhob sich und stampfte mit den Stiefeln auf. »Ausgezeichnet. Nun, Stewyt, ich bin jetzt hier fertig. Wenn du dich vielleicht um den ... äh ... Zuber kümmern könntest, wäre ich dir sehr verbunden.« Der Junge verneigte sich und ging hinaus. Wyl fiel auf, dass der Junge scharfsinnige Augen hatte und während ihres Gesprächs alles mit verstohlenen Blicken in sich aufsaugte. Er verscheuchte den Gedanken, dass Stewyt ihn absichtlich ausspionierte, aber er bezweifelte nicht, dass Valentynas zuverlässiger Kanzler seinen besten Pagen mit der Aufgabe betraut hatte. Wahrscheinlich war der Junge einfach nur gut ausgebildet worden, um so aufmerksam wie möglich zu sein, sollte er je einen Bericht abgeben müssen. Es störte ihn nicht. Er hatte nichts zu verbergen außer seiner Identität, und die war perfekt getarnt. Knave winselte 352
leise am oberen Treppenabsatz und wartete, dass Wyl ihm die schmale Treppe hinabfolgte. »Zeig mir den Weg«, sagte Wyl. Er genoss den Spaziergang durch die wunderschöne Waldlandschaft. Hier draußen ritt Valentyna gerne aus, erinnerte er sich. Das hatte sie ihm jedenfalls bei seinem ersten Besuch erzählt, als er noch wie Wyl Thirsk ausgesehen hatte. Er verstand, dass sie es liebte, sich hier zwischen den Ulmen und ihren friedvollen Schatten aufzuhalten, besonders jetzt, wo die Pflichten ihrem Reich gegenüber sie derart in Beschlag nahmen. Er dachte an Fynch und fragte sich, weshalb er einen solch abgeschiedenen Ort für ihr Treffen gewählt hatte. Vielleicht fürchtete er sich oder wollte ihm unter vier Augen Neuigkeiten preisgeben. Er war nicht darauf gefasst, dass einer seiner Freunde - einem der wenigen wahren Freunde, die er besaß - feindselig auf ihn reagieren könnte. Der kleine Junge stand beim Fluss und schleuderte Kieselsteine in das rauschende Wasser. Es war das erste Mal, dass Wyl ihn bei einer so kindlichen und sorglosen Beschäftigung ertappte, und dennoch, als sich Fynch umdrehte, sah er keineswegs unbeschwert aus. »Fynch! Es tut gut, dich wiederzusehen.«
Mit eingefallenen Augen und offenkundig besorgt, reagierte Fynch nicht, sondern starrte ihn einfach an. »Ein wärmeres Willkommen wäre nett gewesen, aber ich begnüge mich auch mit einem Händeschütteln«, sagte Wyl vorsichtig und näherte sich ihm behutsam, sehr irritiert über das Verhalten des Jungen. Was ängstigt ihn nur derart?
Er ging langsam, jedoch stetig weiter, bis er nah genug war, um zu sehen, dass der Junge zitterte. Knave hatte sich 353
auf den Hinterbeinen neben Fynch niedergelassen. Welch eigenartiges Paar, dachte Wyl, meine einzigen Verbündeten. Dann beugte er sich hinab und kniete sich hin, damit er mit Fynch auf Augenhöhe war. Vielleicht war Koreldys Größe zu einschüchternd, doch das bezweifelte er. Fynch hatte nicht vor ihm Angst. Der wahre Grund für den kühlen Empfang lag in seinen Augen. Fynch vertraute ihm nicht. »Sprich mit mir ... bitte«, sagte Wyl. »Ich muss dir eine Frage stellen«, erwiderte Fynch mit düsterer Stimme. »Nur zu.« »Wirst du ehrlich sein?« Wyl nickte zögerlich. »Ich verspreche es.« »Schwöre es auf etwas, das dir lieb und teuer ist.« »Dann auf mein Leben ... Was soll das, Fynch?« »Nein. Ich glaube, dein Leben ist wertlos. Schwör es auf ihr Leben.« Wyl war sprachlos. Fynch verhielt sich nicht einfach nur seltsam. Etwas hatte ihn erschüttert und an ihrer Freundschaft zweifeln lassen. »Wen meinst du mit sie?«
»Du weißt, wen. Schwör auf Valentynas Leben, die Wahrheit zu sagen.« Wyl räusperte sich. Allmählich konnte er sich gut vorstellen, was der Junge ihn fragen wollte. Seine Intuition sagte ihm, dass Fynch sein dunkles Geheimnis erraten haben musste. Der Junge war scharfsinnig und überaus einfühlsam obwohl sich Wyl nicht erklären konnte, wie sich der kleine Kerl das alles zusammengereimt hatte. Gleichwohl ließ der entsetzte Ausdruck in Fynchs Gesicht keinen Zweifel, dass Wyl ehrlich zu ihm sein musste. Es war an der Zeit, 353
seine Masken und Halbwahrheiten abzustreifen. Fynch verdiente mehr. Er versuchte Fynch spüren zu lassen, dass er ihn ernst nahm, und sprach mit klarer Stimme. »Ich schwöre auf Königin Valentynas Leben, deine Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.« Fynch hörte auf zu zittern und atmete tief durch, während er die Hand auf Knaves Kopf legte. »Ich habe den Verdacht, dass du nicht Romen Koreldy bist, obwohl du aussiehst wie er. Ich glaube, du bist Wyl Thirsk ... und ich muss die Wahrheit erfahren. Bist du der General?« »Warum fragst du mich das?«, erkundigte sich Wyl schockiert, um die Antwort fürs Erste hinauszuzögern. »Ich hatte Visionen.« Wyl musste diese Worte erst einmal verarbeiten. Myrrens Gabe greift womöglich um sich. »Oh?« »Eine hat sich erst heute Morgen ereignet.« »Was hast du gesehen?«
»In einer habe ich dich gesehen. Du warst verletzt, hast aber einem Mann den Kopf abgeschlagen, bevor du von Knave irgendwohin gezogen wurdest - ich weiß nicht, wohin.« Alarmglocken läuteten in Wyls Kopf. Das ist nicht möglich. Wie kann Fynch davon
wissen?
»Ist das wirklich geschehen, Romen?« Sollte er die Wahrheit gestehen? Was würde das mit Fynch anrichten, besonders wenn - Shar bewahre! - Celimus in die Fußstapfen seiner Mutter träte und den zerquischen Orden in Morgravia wieder aufleben ließe. »Wie sonderbar«, bemerkte er. »Antworte mir!« Es lag ein Hauch von Verzweiflung in der Stimme des kleinen Jungen, was Wyl schmerzte. 354
»Wie könntest du mir nur glauben, selbst wenn ich dir die Wahrheit sagen würde?« Wyl hörte selbst die Resignation in seiner Stimme. Fynch runzelte die Stirn. »Knave wird mir dabei helfen. Erzähl mir alles.« Wyl ließ die Schultern hängen und stieß einen Seufzer aus. Dann setzte er sich hin und zog die Knie an die Brust. »Du warst dort, als Myrren verbrannt wurde, nicht wahr?« Der Junge nickte ernst. »Und du warst auch an meiner Seite, als ich bei ihrem Tod in Ohnmacht fiel?« Fynch zwang sich, nicht zu heftig auf Koreldy zu reagieren, der auf einmal so tat, als spräche Wyl Thirsk. Seine Frage war damit beantwortet, und Fynch spürte, wie sich ihm die Kehle vor Anspannung zusammenschnürte, als sich ihm endlich die Wahrheit offenbarte. »Ich hatte etwas Wasser bei mir und gab es deinem Freund, Gueryn. Er hatte große Angst.« Wyl nickte jetzt und rief sich diese verwirrende Zeit, so gut es ging, ins Gedächtnis. »Ich erinnere mich kaum an diese Momente. Aber ich muss dich erst noch einige Stunden vor dieses Ereignis entführen, dorthin, wo alles begann: in die Folterkammer. Bist du bereit dafür?« Fynch setzte sich mit ausdruckslosem Gesicht hin. Knave legte sich neben ihn, und der Arm des kleinen Jungen glitt instinktiv zum Hund. Wyl sah es und wurde erneut an die prophetischen Worte der alten Witwe erinnert. Er erzählte dem Jungen alles über Myrrens Prozess und wie er in das Verfahren eingegriffen hatte. »Wir redeten kurz miteinander, bevor das Feuer entzündet wurde. Sie sagte, sie wolle mir ein Geschenk machen, das ich weise nutzen sol 354
le. Sie bat mich, ihren Welpen aus ihrem Heimatdorf zu holen und aufzuziehen.« »Und du dachtest, Knave sei das Geschenk«, ergänzte Fynch und beteiligte sich nun unverblümt am Gespräch. Beide gestanden sich stillschweigend ein, dass der Mann hier Wyl und nicht Romen war. »Ja. Ich verstand es nicht; ich war ein Kind, das seinen Weg machen, erwachsen und der General werden wollte, für dessen Aufgabe ich geboren war. Ich habe ihre Worte nicht weiter hinterfragt und war entsetzt, dass ich nach so viel Folter auch noch ihren Tod mit ansehen musste.«
»Und?«, fragte Fynch ruhig. »Dann begann sie zu schreien, daran erinnere ich mich deutlich ...«Er schüttelte den Kopf. »Und danach ist alles verschwommen. Das Nächste, an das ich mich entsinne, ist Gueryn, der sich über mich beugt und mich erschrocken anblickt. Außerdem erinnere ich mich, dich kurz neben mir gesehen zu haben.« »Ich habe beobachtet, wie sich deine Augenfarbe veränderte«, erklärte Fynch nun mit fester Stimme. »Wir haben nie darüber gesprochen, aber dein Freund hat es auch bemerkt.« Wyl nickte traurig. »Es hat mir Angst eingejagt, als er es mir damals erzählte ich war mir nicht im Klaren, was ich glauben sollte. Er hat sich nicht lange darüber ausgelassen - vermutlich war er unsicher, ob er es wirklich gesehen hatte -, aber ich könnte mir vorstellen, dass es nie aufgehört hat, ihm Sorgen zu bereiten.« »Das war ihr wahres Geschenk, oder?« Es schmerzte ihn, sich all diese Erinnerungen so lebhaft ins Gedächtnis zurückrufen zu müssen. »Ja. Sie war der 355
Hexerei beschuldigt, und das nur, weil sie unterschiedliche Augenfarben hatte, und laut Gueryn und jetzt auch dir, spiegelten meine eigenen in der Sekunde ihres Todes ihre eigenartige Augenfarbe wider.« Fynch schwieg, doch er sah Wyl direkt an. Er wollte die ganze Geschichte hören - er wusste, da war noch mehr, erkannte aber gleichzeitig, dass es für den Mann vor ihm schwierig war. Er wollte geduldig sein, bis seine Frage vollständig beantwortet war. »Danach ging alles seinen gewohnten Gang«, fuhr Wyl fort. »Nun ja, alles war so normal, wie es sein kann, wenn man ununterbrochen von Celimus gequält und verhöhnt wird. Du erinnerst dich sicher daran, was du gehört hast, als du dich im Abflussloch des Aborts verstecktest? Er hat keine Zeit vergeudet und schnellstmöglich eine Situation herbeigeführt, in der ich gleichzeitig mit Valor ermordet werden konnte. Sein Plan war clever, wunderschön in seiner Einfachheit und Vollkommenheit. Er benutzte all jene, die ich liebte, um mich dazu zu zwingen, genau das zu tun, was er von mir wollte - und das war Briavel; dann mich und den König zu töten, der sich ihm womöglich in den Weg gestellt hätte; anschließend meinen Mörder Romen zu beseitigen, ebenso wie all die anderen Söldner, die mit der Mission beauftragt waren. Ironischerweise haben Romen und ich ihm die Arbeit abgenommen, die Söldner zu töten. So perfekt!« Er spie die letzten beiden Worte mit tiefster Verbitterung aus. Wyl war nun in seinen Gedanken gefangen und kümmerte sich nicht mehr darum, wie viel Schmerz ihm die Erinnerungen bereiten würden, sondern war erleichtert, sich endlich mit jemandem richtig auszutauschen. »Er ließ mich zu sich bringen Koreldy war an 355
wesend - und erzählte mir von dem Auftrag, den ich übernehmen sollte. Ich stimmte bereitwillig zu, denn es war der Schachzug eines vorausschauenden Königs, der für Frieden sorgen wollte. Außer dass ich mit Söldnern reisen sollte
und natürlich spürte, dass mir eine Falle gestellt wurde. Als ich mich weigerte, mit anderen Männern als denen meiner Legion zu reisen, zog er mich ans Fenster, damit ich der Hinrichtung von Kommandant Donal beiwohne.« Fynch konnte sein Entsetzen über diese Neuigkeit nicht unterdrücken. Er hatte nicht gewusst, dass Alyd tot war, obschon er sich verwundert gefragt hatte, wo der Kommandant steckte, als er Koreldy mit Ylena in Stoneheart getroffen hatte. Jetzt wusste er es. »Es wurde sogar noch schlimmer, Fynch. Alyds Tod machte mich nur noch entschlossener, den Mann zu stürzen, der sich nun König nennt. Aber er kannte mich ebenso gut wie ich mich selbst kenne und hatte die grandiose Vorsichtsmaßnahme getroffen, auch meine Schwester in seine Gewalt zu bekommen. Sie wurde ebenfalls in den Innenhof gezerrt, in dem ihr Gatte gerade ermordet worden war. Er hätte sie ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht, hätte ich nicht klein beigegeben.« Fynch nickte überwältigt. »Ich weiß alles bis zu dem Moment, als Valentyna und ich aus dem Palast flohen. Von da an habe ich deine Lügen aufgetischt bekommen.« Wyl stützte den Kopf in seine Hände. »Das war nicht meine Absicht, Fynch. Ich musste dich schützen.« »Du bist Wyl«, erklärte der Junge standhaft. »Ja«, gestand Wyl, blickte auf und fühlte sich auf einmal erschöpft. Eisige Stille breitete sich zwischen ihnen aus. 356
Schließlich setzte Fynch zu sprechen an. »Das ist ihr Geschenk? Ich meine, dass du nicht gestorben bist, als Koreldy dich getötet hat?« Fynchs Stimme klang erstickt - so sehr er auch glaubte, dass sich alles genau so abgespielt haben musste, so beunruhigend war es gleichzeitig, die schreckliche Vorahnung bestätigt zu wissen. Wyl nickte. »Wir schlossen einen Pakt. Wenn wir beide den Angriff der Söldner überlebten, würden wir uns ehrenhaft duellieren. Wer von uns obsiegte, würde Ylena und Valentyna mit seinem Leben beschützen. Wir legten einen Bluteid ab.« »Und Koreldy hat dich getötet?«, fragte der Junge erstaunt. Wyl verzog das Gesicht. »Ein glücklicher Zufallshieb mit seiner Waffe. Ich hatte ihn falsch eingeschätzt. Koreldy ist ein brillanter Schwertkämpfer, aber nicht so brillant wie ich.« Er musste lächeln. Romens Selbstbewusstsein schien ansteckend zu sein. Wyl zuckte nur mit den Schultern, als er Fynchs fragendes Gesicht bemerkte. »Wahrscheinlich hatte ich mehr zu verlieren und dementsprechend mehr riskiert... und bitter dafür bezahlt«, sagte er. »Und dann ... wie ist es geschehen?« Wyl blickte überrascht auf. »Oh, du meinst, wie ich zu Romen wurde? Schwer zu erklären. Er drang in meinen toten oder vielleicht sterbenden Körper ein das kann ich nicht genau sagen, weil ich bereits in seinen geglitten war. Ich bin ganz ich selbst. Meine Seele ist hier. Seine ist verschwunden.« Fynchs Augen funkelten nun vor Verwunderung. Er sprach nur ein Wort. »Magie.« »Ja.«
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Bei dieser Antwort stürzte sich Fynch auf Wyl und klammerte sich an ihn. Wyl war so überrumpelt, dass er den winzigen Jungen erst in letzter Sekunde auffangen und an sich drücken konnte, bevor er Fynchs Tränen an seinem Hals spürte. Und dann musste auch er weinen. Es war, als habe Fynchs Befragung das Schleusentor zu seinen Gefühlen wie auch seinen Erinnerungen geöffnet, und beide gaben sich ihren Emotionen hin, während sie einander festhielten. Der tapfere kleine Junge hatte fortwährend so viel Mut aufbringen müssen, und jetzt musste er sich einer neuen Herausforderung stellen. Magie war entfesselt, und obschon Wyl sein Bestes gegeben hatte, ihn davor zu beschützen, war Fynch zu gewitzt. Er hatte es ganz allein herausgefunden. Nein, es war mehr als das ... er hatte es erspürt, seinen Instinkten vertraut, Visionen gehabt und sich Sorgen um die Wahrheit gemacht, bis er sie endlich zutage gebracht hatte. Ihre Tränen versiegten, doch beide lösten sich nur widerwillig aus der Umarmung - sie brauchten einander nun, denn Fynch war der Einzige, der die Tragweite von Wyls Zwangslage verstand. Schließlich drückte sich der Junge weg, doch seine Arme lagen immer noch um Romens Hals. »Und Knave?« Wyl grinste. »Der seltsamste Hund, der je in Morgravia oder Briavel herumgestreunt ist.« »Er ist aber Teil der Magie, nicht wahr?« »Das weiß ich nicht, Fynch«, gab Wyl ehrlich zu. »Allerdings glaube ich, dass er verzaubert ist, und ja, unsere Leben sind auf jeden Fall durch Myrren miteinander verknüpft. Die Vision, die du von mir hattest...« »Sie war schrecklich.« 357
»Und gleichzeitig wahr. Knave hat mir das Leben gerettet. Ich war im Norden, in Orkyld. Wie er mich gefunden hat oder überhaupt wissen konnte, wo ich war, ist mir ein Rätsel.« »Er war drei Tage fort.« »Und davon saß er einen vollen Tag an meinem Bett und wartete, dass ich mich wieder erhole. Wie konnte er eine solche Distanz überwinden?«, fragte Wyl erstaunt. »Wahrscheinlich durch Magie«, erwiderte Fynch ernst. »Hat Celimus die Männer geschickt?« »Ja. Er wollte Romen Koreldy töten. Das will er immer noch. Ich weiß zu viel. Es werden nicht die Letzten gewesen sein, die einen Anschlag auf mein Leben wagen.« »Da ist mehr.« Fynch erzählte ihm von der zweiten Vision. »Valentyna ist mit Celimus verheiratet?«, fragte Wyl erschüttert. »Nein, das weiß ich nicht, das kann ich aus dem, was ich gesehen habe, nicht erkennen - ich war mehr an den eigenartigen Umständen der Hinrichtung interessiert. Sie war öffentlich. Ich konnte das Gemurmel der Zuschauer hören.« »Und du weißt nicht, wer das Opfer ist?«
Fynch schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn Valentyna beschrieben, aber sie kennt ihn ebenfalls nicht.« Er gab Wyl dieselbe Beschreibung: »Ein großer Mann. Sonnengegerbtes Gesicht. Herbe Gesichtszüge.« »Das trifft auf so viele Männer zu«, sagte Wyl und dachte an die Gebirgsleute. »Es erinnert mich an mindestens zwei Menschen, die ich persönlich kenne. Eines weiß ich jedoch mit Bestimmtheit - ich kann sie Celimus nicht heiraten lassen. Er wird sie zerstören.« 358
Fynch hob die schmalen Schultern. »Es war nur eine Vision, Wyl. Das heißt nicht, dass es zwangsläufig eintreffen muss«, sagte er aufmunternd und hoffte, selbst Trost in seinen Worten zu finden. »Hmm. Aber deine scheinen immer wahr zu werden, mein Freund. Übrigens, du musst mich Romen nennen.« Der Junge lächelte, und Wyl war überrascht, wie stark dies sein Auftreten veränderte. »Ich würde dich lieber Wyl nennen.« »Dann werden sie dich und den Hund schnellstmöglich wegsperren.« »Dazu müssen sie mich erst mal fangen!« »Aber diese Stimme, die zu dir spricht... das ist ein Geheimnis für sich.« »Was werden wir nun tun?«, fragte Fynch, der auf Wyls Schoß saß. Auf einmal war er wieder ein kleiner Junge, der zu dem Erwachsenen emporblickte und Entscheidungen von ihm erwartete. Wyl schlang Romens lange Arme um seinen winzigen Freund und hielt ihn fest. »Wir müssen sie beschützen. Valentyna stellt das einzige Hindernis für Celimus dar, das zu bekommen, was er will. Und nur du und ich wissen, wie grausam er sein kann.« »Er wird bald ankommen«, warnte Fynch. »Man darf dich hier nicht sehen.« »Das stimmt. Und wir werden hier sitzen bleiben, bis wir einen Plan ausgeheckt haben. Denn wir allein kennen Myrrens wahre Gabe.« »Du wirst es Valentyna nicht verraten?« »Nein! Sie ist die letzte Person, die es erfahren darf. Briavellianer misstrauen Gerede über Magie noch mehr als 358
Morgravianer. Wir fürchten uns, weil wir im Stillen daran glauben. Die Menschen von Briavel tun es einfach als Unsinn ab. Sie würde uns nicht glauben.« »Sie vertraut Knave.« »Sie vertraut dir und jetzt hoffentlich auch mir. Aber Knave jagt ihr Angst ein.« »Nun, sie glaubt, dass er auf irgendeine Art >berührt< ist.« »Das ist ein äußerst zahmes Wort, Fynch. Damit gesteht sie jedoch nicht ein, dem Thema an sich gegenüber offen zu sein. Wenn man ihr erklärte, dass eine Hexe mir das Geschenk eines zweiten Lebens gemacht hat und ich in Wirklichkeit Wyl Thirsk bin, würde man sie überfordern. So, wie es ist, ist sie bereits verängstigt und verwirrt genug. Nein, wir erzählen ihr nichts. Kann ich mich darauf verlassen, dass du unser Geheimnis wahren wirst?« Fynch nickte. »Kann es wieder passieren?« »Nein«, schnaubte Wyl. »Sie hat mir eine zweite Chance gegeben, aber dieses Leben sollte ich besser beschützen.« Auf einmal musste er an Lothryn und
Elspyth denken. »Fynch, ich habe es zwei weiteren Menschen gebeichtet. Einer davon könnte bereits tot sein. Die andere, eine Frau, war mir in den letzten paar Tagen eine große Hilfe und kümmert sich hoffentlich gerade um Ylena. Sie meint es ehrlich mit uns.« Er verriet Fynch ihren Namen. »Sie hat dir geglaubt?« »Ja. Sie und der Gebirgsmann glauben fest an Zauberei. Magie ist Teil ihres Lebens - nun ja, vielleicht sollte ich besser sagen, sie haben es akzeptiert. Elspyth wird es niemandem verraten.« »Du musst mir von deinem Abenteuer im Norden berichten, Wyl.« 359
Wyl nickte. »Das ist eine lange Geschichte - wenn wir die Zeit haben, werde ich sie dir erzählen. Doch fürs Erste musst du mich Romen nennen«, berichtigte er ihn. »Es darf dir nicht entschlüpfen, mein junger Freund. Ich bin Koreldy, obwohl auch der Name nicht in Celimus' Gegenwart genannt werden sollte.« Fynch nickte feierlich. Wyl musste die winzige Hand einfach ergreifen. »Ich danke dir für dein Vertrauen und deine Freundschaft, Fynch.« Sie verbrachten den Nachmittag in lebhafter Diskussion, entwickelten Ideen und verwarfen die des anderen. Wieder einmal war Wyl dankbar, dass Fynch einen brillanten Sinn fürs Detail hatte, denn er gab ihrer Strategie den letzten Schliff. Er würde ihren Vorschlag der Königin unterbreiten und hoffen, dass sie ihrem gewagten Plan zustimmte. 359
36 E INE LEICHTE B RISE trug den Geruch nach Minze und Basilikum herbei, und der verführerische Duft erfüllte die warme Abendluft. Er liebte dieses Licht über alles, wenn die Dämmerung hereinbrach und in ihrem Gefolge eine Horde winziger Insekten von dem Dunstschleier des weichen, sterbenden Sonnenlichts angeleuchtet wurde. Wyl wusste, dass er Valentynas strahlenden Glanz für immer mit dem Sonnenuntergang und köstlichen Parfüm der Kräuter und des Lavendels verbinden würde. »Vergebt mir, bin ich zu spät?«, fragte sie und näherte sich ihm leise. Sie trug ein einfaches, schmuckloses Kleid aus weichem, dunkelblauem Samt, das in diesem Abendlicht wunderschön zu ihren Augen passte. Das Oberteil war tief dekolletiert. Sie sah hinreißend aus. Wyl spürte, wie seine Kehle austrocknete. »Nein. Ich war zu früh hier, weit vor dem letzten Glockenschlag«, gestand er, innerlich amüsiert über ihre langen, jungenhaften Schritte, die selbst ihre weiten Röcke nicht verbergen konnten. Sie trat zu ihm, und er verbeugte sich. »Ich liebe es, zu dieser Tageszeit hier zu sein«, sagte sie und gestattete ihm nun, ihr sanft die Hand zu küssen. »Ihr unterhaltet einen wundervollen Kräutergarten.« 359
»Nicht ich«, gab sie verlegen zu. »Ich bin ein hoffnungsloser Fall, was das Gärtnern betrifft. Man kann von Glück sprechen, dass meine Mutter nicht mehr am Leben ist -andernfalls wäre sie an mir verzweifelt, denn mir wurde gesagt, sie sei eine sehr begabte Gärtnerin gewesen.« Sie bückte sich und
pflückte eine Blüte des Lavendelbusches, der den Garten begrenzte. Sie zerdrückte die Pflanze, um das Öl freizusetzen, und hielt die Hand hoch, damit Wyl den Duft erfassen konnte. Er fing ihren leicht verlegenen Blick auf, während er sich zu ihren Fingern hinabbeugte und das Parfüm einsog. »Vermisst Ihr sie?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Valentyna und spazierte langsam einen Weg hinab, der sie zu einer prächtigen Sonnenuhr führte. »Sie starb, als ich noch sehr klein war. Und Ihr? Habt Ihr Familie?« Wyl wusste nicht, warum er log, oder sagte er etwa die Wahrheit? Es fiel ihm schwer, hier eine Unterscheidung zu treffen. Er wollte unbedingt Wyl und nicht Romen sein, wenn er mit ihr zusammen war. »Mein Vater starb vor nicht allzu langer Zeit, aber meine Mutter verlor ebenfalls ihr Leben, als ich noch sehr jung war. Ich vermisse sie jedoch immer noch.« »Ihr müsst ein gutes Gedächtnis haben.« Er antwortete mit einem Nicken, das allerdings von Schmerz erfüllt zu sein schien. »Habt Ihr Brüder?« »Nein, nur eine Schwester. Meine Mutter verstarb bei ihrer Geburt.« Es war gefährlich, seine Geschichte und nicht die Romens zu erzählen. »Dann sind wir verwandte Seelen, Romen. Wir beide kennen denselben Verlust.« 360
Er bot ihr den Arm an, und sehr zu seinem Entzücken nahm sie ihn. »Standet Ihr unter starkem Druck, da ihr das einzige königliche Kind wart?« »Ja, natürlich. Nachdem meine Mutter und mein Bruder starben, begriff ich, dass ich meinem Vater mehr der Sohn denn die Tochter sein musste, obwohl jeder entschlossen war, mich wie das feinste Porzellan zu behandeln.« »Ist es das, was er wollte? ... Ich meine, hättet Ihr ein Sohn sein sollen?« »Nein. Ich bezweifle, dass er mich weniger geliebt hätte, hätte sein Sohn überlebt - vielleicht nur ein wenig anders. Ich strebte danach, ihm zu gefallen. Ich wollte immer, dass mein Vater stolz auf mich ist«, sagte sie und fügte dann mit trauriger Stimme hinzu: »Das tue ich immer noch.« Sie ging weiter, pflückte etwas Rosmarin, das sie zwischen ihren Fingern hin und her gleiten ließ und fuhr dann fröhlicher fort: »Zu Anfang glaubte ich, ich hätte ihn enttäuscht, da ich kein Junge war. Dieses Gefühl steigerte sich, weil er meine Mutter zu sehr liebte, um auch nur einen Gedanken an eine weitere Heirat und damit die Möglichkeit eines männlichen Thronfolgers zu verschwenden.« »Er war ungeheuer stolz auf Euch ... das wisst Ihr doch, oder?« Ein wenig verlegen zuckte sie mit den Schultern. »Ja, ich hatte großes Glück, dass es meinem Vater nie schwerfiel, seine Liebe und Gefühle zu offenbaren. Er sagte mir jeden Tag, wie viel Freude ich in sein Leben brächte, obschon ich überrascht bin, dass er dies einem Fremden gegenüber geäußert hat.« Wyl musste vorsichtiger sein. »Irgendwie spürten wir, dass es ein hoffnungsloser Kampf war. Vermutlich haben 360
wir alle Gedanken laut ausgesprochen, die wir normalerweise für uns behalten hätten«, log er.
Sie nickte sanft und zeigte dann auf einen kleinen Hain. »Dort befindet sich ein wunderschönes Sommerhäuschen, das mein Vater für mich gebaut hat. Ich gehe immer noch oft und gerne dorthin. Sollen wir in diese Richtung spazieren?« »Bitte. Ich würde mich geehrt fühlen, es zu sehen. Ich habe heute bereits Euren Wald bewundert.« »Meinen Wald?« Sie lachte. »Wahrscheinlich habe ich ihn tatsächlich mit Beschlag belegt. Habt Ihr Fynch dort getroffen?« »Ja.« »Und?« »Lasst mich lediglich sagen, dass ich seine Sorgen zerstreut und ihm das Versprechen gegeben habe, für immer hierzubleiben.« Er hoffte, er hatte das Richtige gesagt. »Gut. Er schien in letzter Zeit ein wenig verschlossen zu sein«, erwiderte sie vorsichtig, da sie nichts über die Visionen des Jungen preisgeben wollte, die eine solch persönliche Bedeutung für sie beide hatten. »Natürlich muntert Eure Ankunft ihn auf«, fügte sie hinzu, »sodass ich mir keine Gedanken mehr um Fynch machen muss, sondern mich mit dem König herumplagen kann. Wie sehr gleicht er einer Schlange?« »Er ist schlüpfriger als jeder Aal, das kann ich Euch versichern.« Valentyna konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Eine Schlange und jetzt ein Aal. Erzählt mir von ihm ... wie sieht er aus?« Wyl war ganz offen zu ihr. 361
»Was für eine Verschwendung«, gestand sie. »Und wenn er tatsächlich so gut aussehend ist, wie Ihr sagt, dann hat er wohl die Qual der Wahl bei der Brautschau ... auch wenn vielleicht nicht ganz so viele Königinnen darunter sind«, fügte sie wehmütig hinzu, da sie genau wusste, dass Celimus' Antrag einen politischen Hintergrund hatte. »Auf jeden Fall will er von Briavel mehr als eine Braut, Majestät. Die einzige Hochzeit, nach der Celimus strebt, ist die zwischen Briavel und Morgravia. Dann würde er das gesamte Land südlich der Razors kontrollieren ... und sobald der Süden vereint ist, besteht kein Zweifel, dass er vorhat, auch den Norden zu beherrschen.« »Also bedeutet eine Hochzeit tatsächlich das Ende«, sagte sie und bestätigte, was sie schon wusste. Sie hatte immer noch gehofft, es entspräche nicht der Wahrheit. »Darauf würde ich mein Leben verwetten. Celimus liebt niemanden und nichts außer seinen eigenen habgierigen Sehnsüchten. Ich werde nie vergessen, wie herzlos er Donal hingerichtet hat, und er hätte auch Thirsks Schwester erbarmungslos und ohne mit der Wimper zu zucken töten lassen, hätte Wyl nicht in dieser Sekunde nachgegeben. Wir dürfen nicht vergessen, dass er Männer bezahlt hat, die Euren Vater ermorden sollten.« »Oh, Romen! Lasst uns nicht mehr über Celimus sprechen. Ich kenne meine Pflichten. Lasst mich stattdessen lieber ein paar Momente des Friedens genießen.«
Sie hatten das Wäldchen erreicht. »Hier ist es«, sagte sie mit einem schwermütigen Ton in der Stimme. »Ist es nicht vollkommen?« Sie setzte sich auf einen Holzblock. Wyl besah sich den feengleichen Bau, der um den ausge 362
höhlten Stamm eines der Bäume errichtet worden war. Ein wahres Kunstwerk, das sich perfekt in den Wald einfügte -ein Schutzdach aus Blättern versteckte und schmückte es zugleich. Es war ein Zufluchtsort für ein kleines Mädchen, besonders für eines, das allein spielen musste und als Prinzessin davon träumte, einem Prinzen ebenbürtig zu sein. Es freute sie, dass er beeindruckt war. Normalerweise brachte Valentyna niemanden hierher. Dies hier gehörte ihr allein. Es war ihr privates Refugium, das sie mit niemandem teilte ... nicht einmal mit ihrem Vater. Sie war selbst überrascht, dass sie Koreldy hergeführt hatte. Warum habe ich ihm ein solches Privileg zugestanden?, fragte sie sich verwundert. Sie grübelte darüber nach, weshalb sie sich vorhin besonders viel Mühe bei ihrer Toilette gemacht und ungewöhnlich lang überlegt hatte, ob sie ihr Haar hochstecken oder offen lassen sollte. Und ihre Kleidung, wenn auch einfach, war die femininste, die sie seit Langem angezogen hatte. Diese Gedanken quälten sie nun. Eigentlich beachtete Valentyna die weiblichen Kurven ihres Körpers nicht. Nur selten betrachtete sie sich im Spiegel, und dennoch hatte sie eben lange davor verweilt und einiges Aufhebens um sich gemacht. Obschon immer noch hochgewachsen und schlank, war sie vorhin dennoch entzückt gewesen, dass sich ihre Hüften hübsch über den langen Beinen wölbten. Ihre Zofe hatte angemerkt, wie wunderschön sie in ihrem Kleid aussah. Außerdem kamen ihre Brüste besser zur Geltung, wenn sie sich eleganter kleidete. Auf einmal erfreute sie dies ungemein. Doch mehr als alles andere hoffte sie, dass es Koreldy erfreute. 362
»Entschuldigung?«, sagte sie, als ihr auffiel, dass er etwas gesagt hatte. »Ich hatte mich nur gefragt, ob ich mich wohl hinsetzen dürfte.« »Oh, natürlich. Es tut mir leid, ich war in Gedanken gerade weit weg.« Sie liebte sein Lächeln, wenn es sein Gesicht so unvermittelt erstrahlen ließ. »Woran habt Ihr gedacht?«, erkundigte er sich und machte es sich auf dem Holzblock neben ihrem bequem. Sie zögerte. Wie könnte ich ihm das bloß sagen? »Oh, ich habe mich nur an die schönen Zeiten hier erinnert, als ich klein war.« »Ich habe ebenfalls eine idyllische Kindheit genossen. Also haben wir sogar noch mehr gemein.« Eine eigenartige Stille folgte. Wären sie ein Liebespaar, vermutete Valentyna, würden sie sich wohl jetzt küssen, aber sie waren Fremde. Sie riss den Blick von seinem Mund los und verbarg rasch ihre Aufregung, indem sie das Erstbeste sagte, was ihr in den Kopf kam. »Habt Ihr bereits einen Plan ausgeklügelt, Romen?« Sie spürte, wie ihr Herz hämmerte, als er sie eindringlich mit seinen klaren grauen Augen ansah und jetzt ihre beiden Hände in die seinen nahm.
»Ich glaube, das habe ich, Majestät. Er ist riskant, aber Fynch stimmt mir zu, dass Celimus einer Herausforderung nicht widerstehen kann, wenn es um seine Männlichkeit geht - wenn man es so ausdrücken will.« »Was habt Ihr im Sinn?« »Zuerst einmal muss ich gestehen, dass es Euer junger Freund war, der diesen Vorschlag machte. Ist Euch bewusst, wie gerissen er ist?« 363
Sie lachte, und mit einem Schlag war ihre Verwirrung verschwunden, sodass sie neben ihm sitzen konnte, ohne zu zittern. »Er ist manchmal sehr ernst und blendet mich mit seinem scharfen Verstand.« »Er ist ein kluges Kerlchen, das steht fest«, sagte Wyl und zog ihre Hände in seinen Schoß. Er spürte, wie sie sich versteifte und fragte sich, ob er zu vermessen gewesen war. »Fynch empfiehlt, wir sollten ein Turnier abhalten.« »Wofür?«, wollte sie wissen, wobei sie sich jedoch kaum auf ihre Worte konzentrieren konnte, während sie auf ihre Hände hinabblickte, die in seinen lagen, da sie es nicht wagte, in seine suchenden Augen zu schauen. »Weil Celimus begeistert sein wird. Wir halten es zu seinen Ehren ab. Wir bitten ihn teilzunehmen und lassen ihn bei allem gewinnen ... stellen es jedoch geschickt an. Er darf es nicht bemerken.« »Das würde ihn sicher glücklich stimmen, aber wie kann mir das bei meiner Sache helfen, Söldner?«, erkundigte sie sich fasziniert, war aber gleichzeitig angespannt wegen ihrer Hand, die immer noch in seinem Schoß lag. »Ah, und hier folgt unser Winkelzug. Wir lassen ihn bei allem gewinnen, bis er auf den geheimnisvollen Kämpen der Königin trifft.« »Der, so nehme ich an, Ihr seid?«, fragte sie und bewies erneut, welch rasche Auffassungsgabe sie besaß. Er nickte. »Und?« »Und ich werde ihn unbarmherzig bestrafen, was ihn ungemein verärgern wird. Celimus ist für seine schlechte Stimmung berüchtigt, Majestät.« »Woher wisst Ihr das alles? Ihr seid kein Morgravianer.« 363
»Fynch entgeht nichts«, erwiderte er. »Er versicherte mir, dass Celimus Demütigungen nur schwer ertragen kann.« »Also schön, wir haben ihn also beleidigt und erzürnt -ich verstehe immer noch nicht, wie mir das weiterhelfen kann.« »Nun, sobald Celimus in dieser düsteren Laune ist, ist er zu nichts zu gebrauchen. Er sperrt sich in seinem Zimmer ein und tobt wie ein Wahnsinniger. Fynch sagt, dass er sich dann für gewöhnlich abreagiert, indem er jemandem oder etwas Schmerzen zufügt. Als er klein war, verprügelte er die Palasthunde oder Katzen, sogar jüngere Kinder. Als er älter wurde, ließ er seine Wut an Frauen aus.« Angewidert verzog sie das Gesicht, und Wyl fuhr fort: »Er wird sicher nicht in der Stimmung sein, Euch einen Heiratsantrag zu machen, nachdem ich ihn derart gedemütigt habe, weshalb wir sicherstellen müssen, dass das Turnier unmittelbar vor den formellen Gesprächen abgehalten wird.«
»Das ist er ... unser einziger Plan?« »Es ist das Beste, was uns eingefallen ist. Ich weiß, es klingt riskant...« »Riskant? Das ist Selbstmord! Warum sollte er sich in seiner düsteren Laune nicht so gekränkt fühlen, dass er uns einfach den Krieg erklärt?« »Weil er nicht dumm ist, Majestät. Er ist launisch, unberechenbar und oftmals gefährlich, aber niemals dumm, und er wird seinen Wohlstand nicht durch einen Krieg gefährden, wenn er das Land, nach dem es ihm gelüstet, durch Diplomatie und eine strategische Heirat bekommen kann. Außerdem wurde mir von meinem jungen Freund versichert, dass Celimus gelernt hat, diesen Gemütszustand zu 364
erkennen, und er sich dann aus dem öffentlichen Geschehen zurückzieht. Er wird nicht wollen, dass Ihr diese Seite an ihm beobachtet, Majestät. Ansonsten würde er wohl in Eurer Hochachtung sinken.« »Als wenn das noch möglich wäre«, schnaubte sie verächtlich. »Fynch glaubt - und da stimme ich ihm zu -, dass er sich seine Soldaten schnappen und Briavel unter dem Vorwand, wegen einer dringenden Angelegenheit oder Ähnlichem nach Hause gerufen worden zu sein, rasch verlassen wird.« »Und dann wird er den Heiratsantrag einfach durch seine Speichellecker wiederholen lassen?«, fragte sie sarkastisch, doch ihr Trotz war wie weggeblasen. Wyl sah, dass sie sich für seinen Vorschlag erwärmte, auch wenn sie sich damit auf dünnem Eis bewegten. »Das ist gut möglich, aber wir hätten uns mehr Zeit verschafft, um weitere Pläne für die Zukunft zu schmieden. Im Moment haben wir bestenfalls noch ein paar Tage. Unser Ziel lautet, seinen Antrag abzuwehren, ohne dass Ihr ihn öffentlich beleidigt.« »Seid Ihr sicher, Romen?«, beschwor sie ihn und kaute bestürzt an ihrer Unterlippe. »Nein«, sagte er und lachte, als sie ihn entsetzt ansah. Er hob ihre Finger an seine Lippen und küsste ihre Handfläche. Es war ein so kurzer Kuss, doch an Kühnheit nicht zu übertreffen. Er merkte begeistert, dass der Mut nicht von Romen Koreldy kam, sondern ganz allein von Wyl Thirsk ausging. Und Valentyna zuckte nicht zurück. »Aber ich würde ihn für Euch umbringen, wenn Ihr mich darum bittet. Er wird Euch nicht nahe genug kommen, um eine Bedrohung für Euch darzustellen. Dies ist ein rein diplomati 364
scher Staatsbesuch. Celimus wird es nicht wagen, seine hässliche Seite zu zeigen. Und genauso wenig werden es seine Berater tun.« »Wird er die List nicht durchschauen?«, erkundigte sie sich, wobei sie ihr Bestes gab, das Zittern in ihrer Stimme, das sein köstlicher Kuss hervorgerufen hatte, zu verbergen. »Nein, Majestät, denn Ihr werdet fröhlich, freundlich und stets liebenswürdig sein und Eurem Verehrer das Gefühl geben, er sei herzlich willkommen. Ihr werdet ihm ständig Komplimente machen und den starken Eindruck vermitteln, dass Ihr von seinem Aussehen, seiner Gestalt, seinem Reichtum und
Prunk überwältigt seid. Seine Eitelkeit ist schier unermesslich. Außerdem wird er nicht erwarten zu verlieren, denn er hält sich für den besten Schwertkämpfer des Landes, jetzt, da Wyl Thirsk zur letzten Ruhe gebettet wurde.« »Aber Ihr wisst es besser, nicht wahr?«, fragte sie und schüttelte besorgt und zugleich amüsiert den Kopf. Seine Augen funkelten schelmisch. »Ich weiß es viel besser, Majestät.« Sie konnte nicht länger vernünftig sein. Seine Nähe, sein Charme und sein Selbstvertrauen verführten sie. Wenn er so sprach, fühlte sie sich sicher ... nicht mehr allein. Romen würde Celimus umbringen, wenn das ihr Wunsch wäre -nicht, dass sie es vorhatte, doch allein die Vorstellung war beruhigend. Sie wagte nicht, das Wort Liebe zu benutzen, aber dies war die tiefste Zuneigung, die sie bisher für einen Mann - abgesehen von ihrem Vater empfunden hatte. Ohne noch länger darüber nachzudenken, neigte sie sich vor und küsste ihn. Wyl konnte es kaum glauben, bis er ihre Lippen auf sei 365
nem Mund spürte. Als sie sich langsam aus dem flüchtigen, zarten Kuss lösen wollte, umschloss er sie rasch mit seinem Arm und zog sie wieder an sich, damit er ihre Geste erwidern und ihr bestätigen konnte, dass sein eigenes Herz unglaublich verletzlich war, was sie betraf. Sie hatte sich mit dem Kuss bedanken wollen, auch wenn sie wusste, dass ein solcher Überschwang nicht nötig war. Doch mit Romens Beharrlichkeit wurde ihr Kuss immer leidenschaftlicher und dauerte an, bis die Grillen verstummten und die Dämmerung in die Dunkelheit hinüberglitt. In dieser Nacht hatte die Liebe zu ihr gesprochen. Der Giftpfeil Amors hat mich getroffen, kam es ihr in den Sinn, als sie sich an seine Worte von heute Vormittag erinnerte, und Valentyna wusste, dass es nie wieder einen anderen Mann als diesen für sie gäbe, den sie jetzt eng an sich gepresst hielt. Nicht nur Fynch fiel die Veränderung im Verhalten der Königin auf. Jeder, von der Zofe, die ihr die Kleidung bereitlegte, bis zu Oberbefehlshaber Liryk sah, dass Valentynas Schritte beschwingter waren und ständig ein rätselhaftes Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte. Sie wirkte abwesend, durcheinander, wenn nicht sogar - wehe denen, die es denken konnten! - glücklich. Vielleicht war ihre Trauer um ihren Vater endlich verblasst, und sie hatte sich entschlossen, es sei an der Zeit, den Kummer wegzusperren, sich dem Leben zu öffnen und den erfrischenden Optimismus wiederzufinden, für den sie bekannt war. Niemand störte sich an ihrer munteren Art. Sie hatte eine positive Auswirkung auf die Stimmung aller, und einige begannen sogar zu glauben, die bevorstehende Ankunft 365
ihres Verehrers - immerhin ein König - könne etwas mit der Veränderung zu tun haben. Heirat, Frieden, vereinte Reiche ... es war eine Mischung dieser Möglichkeiten, die die Briavellianer bei ihren Vorbereitungen für König Celimus vorantrieb. Fynch allein kam ihrem Geheimnis auf die Spur. Ohne es zu bemerken, nahm er jeden Blick, jedes Lächeln, jeden Augenaufschlag Valentynas wahr ... jede
winzige Bewegung, sobald Romen in ihrer Nähe war. Er brauchte nur bis zum Mittag des folgenden Tages, um zu verstehen, was all diese Dinge bedeuteten. Die Bestätigung kam von Wyl, der in Valentynas Gegenwart genau die gleichen Anzeichen zeigte. Also ist es gewiss. Sie haben sich verliebt. Bin ich schockiert? Nein. Kam es unerwartet? Vielleicht nicht, entschied er. Valentyna ist sich nicht gewahr, wie umwerfend sie ist - das war einer der Gründe, weshalb er sie so gerne hat -, und Wyl, der jetzt in Romens Haut steckt, ist ein atemberaubender, unwiderstehlicher Mann, schlussfolgerte er. Ich kann nicht umhin, ihn zu mögen. Warum sollte es Valentyna anders ergehen? Er fühlte sich so sicher wie schon seit vielen Monden
nicht mehr, nun, da sich seine beiden besten Freunde gefunden hatten. Sowohl seinem klaren Verstand als auch dem Kind, das er noch war, gefiel das alles sehr. Fynch beobachtete ebenfalls, wie Romen im Palast die Herzen im Sturm für sich gewann. Er war stets zu einem Scherz oder Lächeln aufgelegt und nie abgeneigt, bei allen Arbeiten zu helfen, die notwendig waren, um das Turnier auf die Beine zu stellen; er freundete sich mit jedem an, sei es nun sein Page oder der Koch. Vor allem aber fand Fynch Trost darin, dass Knave die Zuneigung zwischen Wyl und Valentyna uneingeschränkt gefiel. Fynch konnte nicht er
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klären, woher er das wusste, er spürte es einfach. Der Hund schien weniger wachsam und verspielter zu sein. Er starrte Valentyna nicht mehr auf die Art an, wie er es sonst oft getan hatte. Knave vermittelte den Eindruck, er sei entspannt - nichts weiter als ein Hund, der sich auf das nächste Herumtollen im Wald freute. Fynch ließ sich aber nicht täuschen. Knave wusste Dinge, sah Dinge und teilte Dinge mit... davon war der Junge jetzt überzeugt. Hatte etwa Knave die Visionen herbeigeführt? Das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, doch er war froh, dass seine Kopfschmerzen fürs Erste verschwunden waren. Wyls Ankunft hatte sie wohl verscheucht. Seit drei Tagen war Wyl nun in Werryl und ganz von Valentyna und den emsigen Vorbereitungen für den Besuch des Königs in Anspruch genommen. Die gesamte Dienerschaft des Palasts, eingeschlossen der briavellianischen Garde, die sich zahlenmäßig stark vergrößert hatte, war unermüdlich tätig. Der Palast funkelte, und die Pläne für das Turnier waren weit fortgeschritten; viele helfende Hände hatten die Vorbereitungen schnell vorangetrieben. Es hätte sich nicht mit dem pompösen königlichen Turnier in Morgravia messen können, das jedes Jahr abgehalten wurde, doch es war ein großes Fest und würde sicherlich eine gewaltige und aufgeregte Menschenmenge anlocken, die schon jetzt in die vielen Gasthäuser und Schänken der Stadt strömte. Wyl hatte auf ausdrückliches Geheiß der Königin im Hintergrund das Kommando übernommen, während Krell die öffentlichen Angelegenheiten abwickelte. Die einzigen Menschen, die den Namen Koreldy hörten, waren Valentynas engster Stab und das emsige Küchenpersonal. Für 366
den Großteil der Leute, die im Palast arbeiteten oder zu Besuch kamen, war der hochgewachsene dunkelhaarige Mann nur ein Bediensteter der Königin. Jemand, der eigens von Valentyna engagiert worden war, sich um alles kümmerte, kaum in der Öffentlichkeit gesehen und nie mit seinem Namen angesprochen wurde. Die morgravianische Eskorte befand sich nun seit zwei Tagen auf briavellianischem Boden, und Celimus wurde am späten Nachmittag des nächsten Tages erwartet. »Gerade genügend Zeit, um ihn in seinen Zimmerfluchten willkommen zu heißen und dann beim Bankett zu ermüden«, dachte Wyl laut, als er sich ins Gras legte. Sie waren nur zu viert. Fynch lehnte mit überschlagenen Beinen an Knave, während Valentyna, die wieder Hosen trug, neben Koreldy saß. Nahe genug, damit sie den Pulsschlag des jeweils anderen spüren konnten, entschied Fynch. Wenn er nicht anwesend wäre, würden sie wohl noch viel enger beisammensitzen oder einander sogar berühren, schoss es ihm durch den Kopf. »Du wirst natürlich nicht anwesend sein«, sagte Valentyna und sah besorgt aus. »Du kannst das, Majestät. Du weißt, dass du es kannst. Es wird alles nach Protokoll ablaufen. Wir haben sichergestellt, dass du von vielen Würdenträgern umgeben bist. Gesang, Tanz und die anderen Vorführungen werden den Abend rasch verstreichen lassen. Ich verspreche dir, er wird keine Möglichkeit finden, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.« »Und wenn es ihm doch gelingt?«, fragte sie, entschlossen, pessimistisch in die Zukunft zu blicken. »Ich habe Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, erwiderte er. 367
»Du weichst mir aus.« »Ich bin nur optimistisch. Du konzentrierst dich allein darauf, unwiderstehlich und charmant zu sein, damit er sich nicht über die Gastfreundlichkeit der Königin beschweren kann. Über den Rest zerbreche ich mir den Kopf.« Sie seufzte und sah Fynch an. »Wenn ich es mir recht überlege, darfst auch du nicht gesehen werden.« Fynch löste sich aus seiner bequemen Position und rückte von Knave weg. »Nein, Majestät. Wir können das Risiko nicht eingehen, dass er oder einer der Morgravianer mich womöglich erkennt.« »Romen, wie wirst du dich eigentlich verkleiden, wenn du dich mit ihm duellierst?« »Ist alles vorbereitet. Mach dir keine Sorgen.« Sie rupfte ein Grasbüschel aus und schleuderte es nach ihm. »Oh, du kannst einen in den Wahnsinn treiben! Wie kannst du derart selbstsicher sein?« »Soldaten werden vor einem Kampf so, Majestät«, sagte er, grinste und klopfte sich das Gras von der Brust. Am liebsten hätte er sich zu ihr gerollt, sie umgestoßen und geküsst, aber Fynch saß neben ihnen. Wie auf ein verabredetes Signal hin stupste Knave auf einmal den Jungen an, bellte und sprang umher.
»Zeit zum Spielen«, sagte Fynch achselzuckend. »Er hat sich in den vergangenen zwei Tagen wegen der ganzen Aufregung hier ein wenig vernachlässigt gefühlt. Ich lasse ihn nur rasch ein wenig im Obstgarten herumtoben. Wenn wir keinen Ball dabeihaben, jagt er auch gerne Zitronen.« Fynch stand auf, sah zu Wyl, der ihm zuzwinkerte, und lief dann dem unerhört glücklichen Knave hinterher. 368
»Was sollte das?«, erkundigte sich Valentyna stirnrunzelnd. »Er weiß es.« »Das mit uns? Wie kann das sein?« Wyl nickte und setzte sich auf. »Er ist clever, erinnerst du dich? Er will uns etwas Zeit allein gönnen.« »Er oder Knave? Immerhin hat der Hund angefangen«, sagte sie scherzhaft. Er warf ihr einen Blick zu und sah hinter ihre Heiterkeit; sie kämpfte gegen ihre Intuition an, dass Knave viel mehr als nur ein gewöhnlicher Hund war. »Beide, nehme ich an.« »Nun, dann sollten wir die Zeit nicht vergeuden, die sie uns gönnen. Wie es aussieht, werde ich wohl für die nächsten zwei Tage ohne deine Lippen auf meinen leben müssen.« Als sie den Kopf an seine Brust legte, erinnerte sich Wyl an Fynchs Vision von ihr und Celimus. Dann verbarg er sein Gesicht in ihrem dicken dunklen Haar und verdrängte den widerlichen Gedanken aus seinem Bewusstsein. 368
37 CELIMUS HATTE SICH nie selbstsicherer gefühlt. Hier war er, ritt durch Briavel, feindliches Territorium, und wurde wie ein Erlöser bejubelt. Sein Traum von sich selbst als siegreicher Kaiser über die gesamten südlichen Länder schien allmählich Wirklichkeit zu werden. Die Reise durch Morgravia hatte sich als beispielloser Triumph erwiesen. Bevor sie losritten, verkündete er auf Jessoms Vorschlag hin eine wesentliche Steuersenkung für die nächsten vier Monde als Teil seines Krönungsfestes. Es hatte wunderbar funktioniert. Die Menschen begrüßten ihn mit einem Lächeln in den Gesichtern und vollen Bäuchen. Er warf sogar Silbermünzen in die Menschenmenge, die die Straße nach Briavel säumte und ihn bat, eine Königin zurückzubringen. Bei jedem Zwischenhalt gab es kostenloses Bier und Essen für alle, die gekommen waren, um ihren neuen König willkommen zu heißen. Die Großzügigkeit war verführerisch. Wie Jessom ganz richtig aufgezeigt hatte, sollte sein Volk ihn als Wohltäter sehen, damit kein Aufstand ausbräche, wenn unerfreuliche Entscheidungen getroffen werden mussten - etwa das Anheben der Steuern. Die Menschen 368
würden glauben, dass ihr guter König eine solche Maßnahme nicht grundlos traf. »Ihr habt ihre Herzen erobert, mein König«, schmeichelte ihm Jessom, während sie Seite an Seite auf ihren edlen Pferden ritten. »Sie verehren Euch.«
Als Jessom zu seinem neuen Posten als Königlicher Berater befördert wurde, konnte niemand von Rang verstehen, weshalb Celimus einen Fremden - noch dazu jemanden, der so neu im Palast war - für die Position auswählte. Celimus lächelte. Auch er war beeindruckt. Diese Reise durch seine Grafschaften war ein Geniestreich gewesen; er fühlte sich beschwingt durch den großartigen Anblick, den er dem gemeinen Volk bescheren musste. Jessom hatte ihn zwar gewarnt, die Bezeichnung »gemeines Volk« nicht zu benutzen, sondern hatte Wörter wie »Bürger«, »Einwohner« oder sogar »mein Volk« als einnehmendere Varianten vorgeschlagen. Im Stillen hielt Celimus sie jedoch alle für Bauern, die dankbar sein sollten, vor einem solch großartigen Monarchen im Staube kriechen zu dürfen. Er wusste, dass sie die Aussicht entzückte, ihr König könne in derart jungen Jahren die Königin des Nachbarreichs heiraten. In ihren Augen war es die perfekte Verbindung, die einen Zusammenschluss der Länder und endlich Frieden für die Region mit sich brachte. Pah!, dachte er, wen interessieren schon der Zusammenschluss oder Frieden! Hier geht es ganz allein um Macht. Macht und Reichtum. Wenn ich Briavel eingeschüchtert und unter meiner Kontrolle habe, werde ich nach Norden blicken und mich um den Schurken kümmern, der es wagt, meine Grenze zu überqueren und meinen Soldaten mit dem Tod zu drohen. 369
Celimus übersah geschickt die Tatsache, dass Cailechs aggressives Verhalten lediglich eine Vergeltungsmaßnahme für die Hinrichtung seiner Leute gewesen war, oder den Umstand, dass er selbst gehofft hatte, ein ganz bestimmter morgravianischer Trupp würde gefangen genommen und umgebracht werden. Cailech wird jedes seiner Worte zurücknehmen. Nein, Cailech wird vor mir zu Kreuze kriechen, ermahnte sich Celimus. Ich werde ihm eine Falle stellen und ihn in die Ecke treiben. Ich, Celimus, werde zum Kaiser gekrönt werden!
Celimus unterhielt sich den ganzen Weg von den fruchtbaren Ebenen Morgravias bis zu den saftigen Wiesen Briavels mit der Vorstellung über seine eigene Größe und Erhabenheit. Dieses Gefühl verblasste erst, als er Anspannung in sich aufsteigen spürte, weil er sich nun auf feindlichem Boden befand. »Glaubt Ihr, wir haben genügend Soldaten mitgebracht?«, erkundigte er sich. »Ja, Sire. Zwei Kompanien der Legion sind mehr als genug, um unwiderruflich deutlich zu machen, wer hier die größere Macht besitzt. Immerhin hat Briavel im letzten Krieg Tausende junger Männer verloren. Euer Vater hat Valor eine klare Lektion erteilt.« »Mein Vater war ein Weichling - er und dieser Idiot, Fergys Thirsk!«, schrie der König und spuckte aus. »Jeder andere Soldat, der etwas taugt, hätte den Feind vollkommen demoralisiert, indem er einen viel größeren Blutzoll erhoben hätte. So wie ich das verstanden habe, war Briavel wie benommen und hat Morgravia die Kehle offen dargeboten, die man nur noch hätte durchbeißen müssen ... und trotzdem ... trotzdem hat mein Vater Erbarmen gezeigt.« Er gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Das einzig Gute, das 369
dieser Kampf hervorgebracht hat, war der Tod von Thirsk -möge Shar seine Seele in der Hölle verrotten lassen.« Jessom erkannte, dass dies Celimus' wunder Punkt war, und besänftigte den aufgebrachten König mit honigsüßen Worten. »Dennoch wurden sie gedemütigt, Majestät, und haben sich nicht wieder erholt. Sie sind nicht in der Position, uns zu bedrohen. Wenn überhaupt, dann seid Ihr Briavels Zukunft, ihr Erlöser ... Ihr werdet zwei Ländern Frieden und Wohlstand bringen, die unzählige Kriegsausbrüche erlebt haben.« Celimus fühlte sich durch die ermunternden Worte beruhigt und stellte zufrieden fest, dass sich die Briavellianer bereits versammelten, um ihn willkommen zu heißen - er hatte mit Unruhen gerechnet, aber dieser Gedanke war unbegründet. Er sah nichts weiter als lächelnde Gesichter und jubelnde Menschen. Also war Valors Tod nie wirklich mit ihm in Verbindung gebracht worden. Einige mussten Verdacht geschöpft haben, das wusste er. Aber Valentynas Berater spielten augenscheinlich ein gerissenes Spiel. Und es kam noch besser: Die Berichte der verschiedenen Boten hatten bestätigt, dass die Königin von Briavel nicht mehr die dicke Vogelscheuche war, an die er sich aus Kindertagen erinnerte, sondern eine schlanke, anmutige Frau ... einige gingen sogar so weit, sie als kostbare Schönheit zu bezeichnen. Romen hatte demnach recht behalten. Dieser Umstand würde wenigstens die Aufgabe, einen Erben zu zeugen, weniger widerwärtig gestalten. Einen Erben zu zeugen, dessen Geburtsrecht die beiden Reiche umschloss, war im Moment sein vorrangiges Ziel. Es verzehrte ihn regelrecht. Wenn er offenen Krieg mit Cailech und den Gebirgsleuten wagen wollte, dann musste er den 370
Thron von Morgravia fest im Griff haben, oder, noch besser, ihn unwiderruflich mit Briavel verbunden wissen. Sein Sohn würde beide Reiche beherrschen - und besäße Macht, Reichtum und unzählige Männer. Es gab Momente, da wünschte er sich beinahe, sein Vater sei noch am Leben, damit er dem alten Narren zeigen konnte, was ein wahrlich großer König erreichen konnte. »Wie lange dauert es noch?«, fragte er. »Reiter sind vorausgeschickt worden, Majestät. Der Palast wird bereits wissen, dass Eure Ankunft kurz bevorsteht. Wenn ich raten sollte, würde ich auf zwei Stunden tippen.« Der König entspannte sich. Er würde sich an der schönen Landschaft ergötzen, die guten Wünsche der Menschenmenge wohlwollend empfangen und dann gestärkt ankommen, um seine junge Braut mit dem angemessenen Maß an Taktgefühl und Schmeichelei zu begrüßen. Als habe Jessom seine Gedanken gelesen, unterbrach er sie. »Mir wurde gesagt, heute Abend sei ein großes Bankett geplant, Sire.« »Müssen wir hin?« »Leider ja, Majestät. Briavel hat sich größte Mühe gegeben. Es ist eine große Ehre, die Ihr nicht ausschlagen dürft. Ihr müsst dort erscheinen.« »Nach dem langen Ritt könnte ich eine gute Mütze Schlaf vertragen.«
»Das verstehe ich, Sire. Und Ihr werdet Euch sicherlich ein wenig ausruhen können. Allerdings möchten sie Euch mit diesem Abendessen besondere Hochachtung erweisen.« »Und die formellen Gespräche?« 371
Jessom nahm einen tiefen Atemzug. Er hoffte, der König könne seine Wut im Zaum halten. »Nach dem Turnier, Sire«, erwiderte er gelassen. Celimus wandte sich im Sattel um und funkelte seinen Berater an. »Ihr spaßt?« »Nein, Sire. Ich wurde auch erst heute Morgen darüber informiert. Königin Valentyna hat von Eurer Tapferkeit erfahren und möchte Euer Können bei einem Turnier, das zu Euren Ehren abgehalten wird, hervorheben. In ihrem Brief hat sie dargelegt, wie sehr es das briavellianische Volk genießen würde, Eure Fähigkeiten zu bewundern, und wie gebührend es für den niederen Stand wäre, ihre Königin und ihren Verehrer zusammen bei einem derartigen öffentlichen Ereignis zu erleben.« Er hoffte, die richtigen Worte gewählt zu haben, um Celimus zu beschwichtigen, auch wenn Valentyna nichts dergleichen geschrieben hatte - abgesehen davon, dass das Turnier zu seinen Ehren abgehalten wurde. Celimus war jedoch beruhigt. Wie vorherzusehen war, reckte er das Kinn. »Nun ja, ich sollte den Pöbel wohl sehen lassen, wie glücklich sich die Frau schätzen kann, dass der morgravianische König ihr den Hof macht.« Jessom fiel in ein verschwörerisches Lachen ein. »Ja, Mylord, und es ist gleichzeitig eine weitere Möglichkeit, unsere Stärke zu demonstrieren, mein König. Krieg wird als eine noch unerwünschtere Wahl erscheinen, wenn sie bezeugen müssen, wie hervorragend unser Herrscher das Schwert zu führen weiß. Auch die Legion wird einen Schaukampf veranstalten.« »Ja, gut. Allerdings sollte man mich von solchen Dingen früher in Kenntnis setzen, Jessom.« 371
Es war ein sanfter Tadel, doch trotz allem ein Tadel. Jessom senkte den Kopf. »Wie Ihr wünscht, Sire. Ich möchte Euch nur so viel Firlefanz wie möglich vom Halse halten.« »Und der Heiratsantrag?« »Ihr habt am Nachmittag nach dem Turnier keine Verpflichtungen, ebenso wenig wie Ihre Majestät. Es wäre ein günstiger Augenblick, um sie auf Eure ... äh ... nennen wir es ... Zuneigung aufmerksam zu machen. Die formellen Gespräche werden dann später folgen. Es ist mein erklärter Wille, dass wir noch vor dem Abendessen alle Papiere unterzeichnet und Siegel ausgetauscht haben, Eure Majestät.« »Ausgezeichnet«, sagte Celimus. »Nun, macht weiter so. Von hier ab werde ich wohl allein vor ausreifen, Jessom.« »Natürlich, Sire. Lasst sie Euch in Eurer ganzen Pracht sehen«, sagte er und lächelte wohlwollend, als der König in raschem Galopp zur Spitze des Zuges preschte - doch die Heiterkeit in diesem Lächeln spiegelte sich nicht in seinen Augen wider.
Valentyna sah umwerfend aus. Selbst Liryk, der an ihre natürliche Schönheit gewöhnt war, musste tief einatmen, als sein Blick an diesem Nachmittag auf die Königin fiel. Ihre Wangen waren noch vom Morgenausritt gerötet und passten ausgezeichnet zu dem eng anliegenden, purpurfarbenen Kleid, das sie ausgewählt hatte. Die kräftige Farbe brachte ihre zarte, ebenmäßige Haut und das locker geflochtene, rabenschwarze Haar perfekt zur Geltung, während der weiche Stoff ihre leicht rot geschminkten, vollen Lippen und das sanfte Lächeln hervorhob, das sie aufgesetzt hatte, während sie auf den Stufen des prachtvollen Palasts wartete. 372
Liryk war beeindruckt. Sie erwies Celimus jegliche Ehrerbietung. Von keinem Monarchen wurde erwartet, seine Gäste - königlich oder nicht - persönlich vor dem Palast zu begrüßen. Somit war dies für Valentyna ein Abweichen vom Protokoll und ein geschickter und mutiger Schachzug, ihrem Besucher zu versichern, dass er wichtiger war als jeder andere. Er war stolz auf sie und wusste, dass ihr Vater es ebenfalls wäre. Sie stand allein da, hochgewachsen und aufrecht. Ihre Haltung war königlich, da bestand kein Zweifel, und Liryk wünschte, der alte Valor könnte seine herrliche Tochter sehen, wie sie Hof hielt und sich vorbereitete, einen der größten Staatsstreiche in der briavellianischen Geschichte vorzubereiten. Wenn sie den Mut fände, alles Vorgefallene hinter sich zu lassen und sich irgendwie mit Celimus zu arrangieren, würde ihre Heirat sofortigen Frieden und Reichtum für Briavel bedeuten. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte, während ihm diese Gedanken im Kopf herum wirbelten. Er ließ den Blick zu den Zinnen schweifen, wo die besten Bogenschützen des Reiches die näherkommende Kolonne genau im Visier hatte. Die Soldaten waren gut positioniert, um ein besonders starkes Erscheinungsbild abzuliefern. Die briavellianische Garde, die um den Palast aufgereiht war, war der Legion im Verhältnis zehn zu eins überlegen, und trotzdem huschten Liryks Augen umher, nahmen jede Kleinigkeit in sich auf und gingen im Geiste alle Möglichkeiten durch, falls Unruhen ausbrächen. Der Oberbefehlshaber bezweifelte nicht, dass dieser Besuch tatsächlich einer des Friedens war - ein diplomatischer Feldzug, der darauf abzielte, eine strategisch brillante Heirat zu si 372
ehern -, aber er hatte trotz allem sichergestellt, dass jeder seiner Männer bereit und konzentriert war. Dieses Mal würde es keine Überraschungen geben. Valentyna strich sich über ihre Röcke und wischte sich die feuchten Hände ab, als die Gesellschaft des Königs erschien. Sie hob den Kopf und setzte ein strahlendes Lächeln auf, während Celimus, der König von Morgravia, sein prächtiges Pferd nicht weit von ihr zum Stehen brachte. Er war unbeschreiblich schön; ein Gedanke, der ihr innerlich ein Grinsen entlockte. Hör auf, das Pferd zu bewundern und heiß ihn willkommen], ermahnte sie sich. Romen würde in Lachen ausbrechen, wüsste er, dass sie den Hengst mit weit größerem Interesse begutachtete als den Reiter.
Celimus stieg würdevoll vom Pferd und reichte einem seiner Männer die Zügel. Er starrte Valentyna eindringlich an, und obwohl sie sein dunkler prüfender Blick nervös machte, zwang sie sich zu einem Knicks, als er sich schließlich sehr tief und sehr elegant vor ihr verbeugte. Noch immer hatte er nichts gesagt, da nahm er ihre Hand und küsste sie sanft. »Eure Majestät«, sagte er und richtete sich wieder zu voller Größe auf. Die Frau, die vor ihm stand, beeindruckte ihn maßlos. »Der König von Morgravia, zu Euren Diensten.« Sie betrachtete das breite weiße Lächeln und seinen durchdringenden Blick. Es kam ihr vor, als stünde ein Jäger vor ihr, der seine Beute abschätzte. »Die Ehre, Eure Majestät, liegt ganz bei uns. Seid in Briavel aufs Herzlichste willkommen«, log sie. Ein erfrischendes Getränk aus zerstoßenen, gekühlten Parillionfrüchten wurde Celimus und seinem engsten Stab, der 373
Jessom und den gegenwärtigen General der Legion einschloss, einen schroffen Mann mittleren Alters, der keinerlei weitere Höflichkeiten außer einem knappen Willkommensgruß austauschte, im Rosengarten gereicht. Valentyna dachte an Wyl Thirsk und wie er sich wohl im Grab herumdrehen würde, sähe er seinen Nachfolger. Den Männern der Legion waren bereits ihre Unterkünfte gezeigt, ihre Pferde waren versorgt worden, und drei weniger hohe Würdenträger wurden gerade zu ihren Gästezimmern geführt. »Hast du Spione, Valentyna, da du meine Lieblingsfrucht kennst?« Sie bemerkte, dass sie sehr rasch zu den Vornamen übergegangen waren. Zwei Herrscher, vollkommen gleichberechtigt. Er täte gut daran, das im Gedächtnis zu behalten, dachte sie. »Nun, wie eigenartig, aber sie ist auch stets meine erste Wahl«, log sie mit ruhiger Stimme und erinnerte sich an Romens Rat, charmant zu sein. In Wahrheit machte sie sich nichts aus dem zu süßen Fleisch der Parillionfrucht. Dennoch nippte sie höflich an ihrem Saft. »In der Saison ernten wir sie täglich im königlichen Obstgarten.« »Es wäre ein Genuss, mit dir in diesem Obstgarten einen Spaziergang zu machen, meine Liebe«, sagte er, doch die Herablassung war nicht zu überhören. »Das wäre natürlich ein Vergnügen. Und wie war deine Reise, Celimus?« »Sehr erfolgreich, vielen Dank. Es war mir selbst als Prinz nur selten vergönnt, in die ländlichen Gegenden zu reiten, um dort Morgravianer zu treffen«, sagte er. »Sie machten mich sehr stolz, ihr Monarch zu sein.« Unter normalen Umständen würdest du dich doch keinen Deut um sie scheren, dachte sie und hielt dann inne. So wür 373
de das nicht funktionieren. Sie kannte den Mann nur durch die Augen anderer Leute und Berichte. Sei wenigstens so höflich, ehrlich mit ihm zu plaudern. Beeindruck ihn, ermahnte sie sich, schließlich ist morgen Abend alles vorüber. »Ich bezweifle nicht, dass du ein wenig Ruhe benötigst, Mylord«, sagte sie und zollte ihm absichtlich Respekt. »Vielleicht möchtest du zu deinen Zimmerfluchten geführt werden, um zu überprüfen, ob alles nach deinem Gefallen ist?«
Er nickte, erfreut über ihre plötzliche Unterwürfigkeit. Morgen würde er mit nacktem Oberkörper bei einer der Disziplinen teilnehmen. Das war einer seiner Tricks, damit die Königin und ihr Volk seinen herrlichen Körper sowie sein beeindruckendes Können als Schwertkämpfer, Bogenschütze oder Reiter bewundern konnten ... Er genoss es, seine Fähigkeiten zur Schau zu stellen. »Wir haben einen Zuber in deine Gemächer bringen lassen ... entschuldigt«, korrigierte sie sich selbst, »ein Bad, wie ihr das nennt. Du brauchst dich meinetwegen nicht zu beeilen. Du solltest dich ausruhen und dir Zeit lassen.« »Das ist sehr freundlich von dir«, erwiderte er. »Wenn ich mich nicht täusche, findet heute Abend ein Bankett statt?« »Ja. Zu deinen Ehren, Celimus. Es ist ein Privileg, dass du persönlich nach Briavel gekommen bist, und wir wollen unseren besonderen Gast mit diesem Fest huldigen.« Romen wäre stolz auf mich, dachte sie, klimperte mit den Wimpern und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Dann bis heute Abend, Mylady«, sagte er, nachdem er sich erhoben hatte, damit sie ihn in seiner vollen Größe bewundern konnte. Er ergriff ihre Hand und hauchte wiederum einen sanften Kuss auf ihre zarte Haut. »Vielen Dank für deinen herzlichen Empfang.« 374
Die anderen beiden Männer hatten sich schweigend im Hintergrund gehalten, doch jetzt traten sie zu ihrem König und verbeugten sich vor Valentyna, die ihnen kurz und höflich zunickte, bevor sie sich zurückzogen. Sie seufzte erleichtert. Die erste Hürde war genommen, aber der schlimmere Teil würde noch folgen. Sie gab ihrem königlichen Gast genügend Zeit, die prächtige Haupttreppe hinaufzusteigen, bevor sie in ihre eigenen Gemächer floh, indem sie die versteckten Geheimgänge benutzte. Romen und Fynch warteten schon auf sie. »Man darf dich hier nicht sehen«, sagte sie, doch ihr Herz schlug schneller, als sie sein wunderschönes Gesicht erblickte. Sie war ganz hingerissen von dem Gefühl, verliebt zu sein. Es verlieh ihr Stärke. Er küsste sie fest auf die Lippen. Sie schreckte schockiert zurück und sah Fynch an. »Das ist schon in Ordnung, Majestät«, sagte der Junge. »Es tut mir leid, Fynch, du verdienst es, das von uns zu wissen«, sagte Valentyna verlegen. Wyl drückte ihre Hand. »Er weiß es bereits, Liebling. Außerdem ist er unsere Anstandsdame. Wenn ich von deiner Dienerschaft entdeckt werden sollte, werde ich zusammen mit Fynch gesehen, was unserem Treffen einen ehrbaren Schein verleiht.« Erneut ließ er mit seinem bezaubernden Lächeln ihr Herz höher schlagen. »Sorg dich nicht länger und erzähl uns lieber, wie es verlaufen ist.« »Genau nach Plan«, erwiderte sie, wandte sich um, betrat ihr Zimmer und bat sie herein. »Er ist genauso, wie du ihn beschrieben hast. Arrogant, aufgeblasen, herablassend und außerordentlich gut aussehend.« »Nicht zu gut aussehend, hoffe ich?« 374
»Jeder, der mich >meine Liebe< nennt und nicht alt genug ist, um mein Vater sein zu können, ist im Innern nicht besonders attraktiv«, war ihre Antwort. »Nach außen hin ist er es in jeder Hinsicht, doch mit einem wölfischen Gehabe und kriecherischen Auftreten, das mich abstößt. Beschreibt es das einigermaßen?« »Mehr als angemessen«, erwiderte Wyl und täuschte Fröhlichkeit vor. Innerlich fühlte er sich gefährlich übermütig bei dem Wissen, dass er Celimus nah genug war, um ihn mit einem Schwert zu durchbohren. Oder noch besser er könnte Romens Dolche mit tödlicher Präzision werfen. Er hörte ein vertrautes Knurren vom Türrahmen und schüttelte den Kopf. Kann der Hund etwa Gedanken lesen? Nun, wenn dem so war, hieß Knave die Idee anscheinend nicht gut, Celimus derart offensichtlich loszuwerden. Er kümmerte sich nicht weiter um das Tier. »Geht es dir gut?«, fragte er, während er Valentynas Hand hielt. »Ja, ja, mir geht's gut. Ich muss die Festlichkeiten heute Abend überstehen, und das bereitet mir Kummer.« »Du wirst großartig sein, Majestät«, machte Fynch ihr Mut. Sie zerzauste ihm das Haar. »Ich wünschte, ihr beide könntet dabei sein«, gestand sie. »Das werden wir, auf unsere eigene Art, versprochen«, sagte Wyl. »Jetzt werden wir jedoch verschwinden und dich deinen Vorbereitungen überlassen.« »Und ich werde mein Bestes geben, verlockend auszusehen, versprochen.« Wyl drehte sich noch einmal zu ihr um. Sie liebte es, wie sein Schnurrbart dann zuckte. »Valentyna, das musst du nicht versuchen. Du bist bereits wunderschön, besonders in 375
deiner Reitkleidung, wenn dein Haar zerzaust und dein Gesicht gerötet ist. Du bist einfach die begehrenswerteste, berauschendste Frau, die ich je kennenlernen - oder lieben durfte.« Sie konnte die Tränen, die in ihr aufstiegen, nicht zurückdrängen. »Liebst du mich?« »Seit dem ersten Augenblick«, sagte er wahrheitsgemäß. »Romen ...« Ihr blieb nicht die Zeit weiterzusprechen, da sie sich in einer ungestümen Umarmung wiederfand. Fynch hatte bereits taktvoll die Tür geschlossen, wartete sicherlich zusammen mit Knave auf der anderen Seite und stand Wache. »Du musst gehen«, sagte sie und schob ihn schwer atmend fort. Er nickte und schwieg, da er nicht wagte, in diesem Moment etwas zu sagen derart voll war sein Herz. Er eilte zur Tür und verschwand. Trotz ihrer neu gefundenen Stärke hatte sich Valentyna nie verletzlicher gefühlt. Niemals zuvor hatte sie etwas so Wertvolles verlieren können wie die Liebe von Romen Koreldy. Sie hätte ihn morgen geheiratet - nein! noch heute Abend -, wenn sie könnte. Aber da war ein Bankett, das sie überstehen, und ein gefährlicher, unberechenbarer Verehrer, den sie so freundlich wie möglich auf Abstand halten musste. 375
38 HEROLDE IN PRUNKVOLLEM ORNAT bliesen lautstark auf ihren Instrumenten, um das Erscheinen der Königin anzukündigen. Bei dem Geräusch hielt Valentyna hinter den Türen den Atem an. »Dein Vater wäre so stolz auf dich«, murmelte Krell, dem es nicht gelang, ein bewundernswertes Zittern in seiner Stimme zu verbergen. Genau das hatte sie in diesem Moment hören müssen, und sie warf ihm ein schüchternes, dankbares Lächeln zu, bevor sie durch die sich öffnenden Doppeltüren und in den Großen Saal ihres Palasts schwebte. Es war das erste Mal, dass sie die Gastgeberin für ein offizielles Fest war, und sie wusste, es war nicht nur wichtig, den König von Morgravia zu beeindrucken, sondern vor allem ihre eigenen Untertanen, die nun die Führungsstärke ihrer neuen Monarchin genau unter die Lupe nahmen. Ihre Gäste rangen allesamt nach Luft, als sie die Königin zum ersten Mal erblickten, wie sie von Kopf bis Fuß wie die rechtmäßige Herrscherin aussah. Sie war atemberaubend schön in Grün und Violett gekleidet, den Farben Briavels. Augenblicklich verbeugte sich jeder oder machte einen höflichen Knicks, und sie suchte die geneigten Köpfe einzig und allein nach einem 376
Haupt ab - dem einzigen, dem es offiziell nicht vorgeschrieben war, von dem jedoch erwartet wurde, dass er ihr seine Ehrerbietung erwies. Dort war er, ebenso prächtig anzusehen in seiner Livree in den morgravianischen Farben Karmesinrot, Schwarz und Gold. Er deutete eine Verbeugung an, und sie war innerlich erleichtert, dass er sich verneigt hatte und wenigstens bis jetzt alles nach Protokoll lief. Als sie die kurze Freitreppe herabschritt, raschelte der Seidenstoff von Valentynas erlesenem Kleid, und die Juwelen, die kunstvoll hineingenäht waren, funkelten. Sie hatte es selbst entworfen, und ihre Schneiderinnen hatten Tag und Nacht gearbeitet, seit sie vom Besuch des Königs erfahren hatten. Es war viel aufsehenerregender, als sie es sich vorgestellt hatte, und für Valentyna war es ein ungewöhnliches Gefühl, selbstbewusst ein Kleid anzuziehen. Briavels Farben zu tragen durchströmte sie mit wildem, patriotischem Stolz, und sie wollte verdammt sein, wenn irgendein Monarch glaubte, er könne Briavel zerquetschen und sich das Reich einverleiben. Das weiche Licht der Öllampen brachte Valentynas Haut zum Leuchten, ihr Kleid schimmerte bei jeder Bewegung, und die Juwelen warfen ihr eigenes funkelndes Feuer zurück. Am Hals der Königin baumelte der Stein von Briavel, der seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Es war ein rechteckiger, umwerfend schöner Smaragd, der von dunklen Amethysten eingeschlossenen war und jetzt an der Kehle von Briavels kostbarstem Juwel hing. Die Menschen traten beiseite, und die Königin glitt virtuos, wie sie es gelernt hatte, an ihnen vorüber. Auf einmal 376
war sie all ihren albernen, lästigen Lehrern dankbar, die beinahe den Verstand dabei verloren hätten, diese dickköpfige Prinzessin zu unterrichten, die ihre
Pferde mehr liebte als Stickereien oder das Verfassen von Briefen. Sie näherte sich dem König von Morgravia, um ihn formvollendet zu begrüßen. Valentyna machte einen höflichen Knicks vor ihm. »Eure Majestät.« »Eure Majestät«, erwiderte er mit rauchiger Stimme. »Wie in Shars Namen hat Briavel dich so lange geheim halten können?« Sie kam nicht umhin, über seine Bemerkung zu lächeln. »Bitte, Mylord. Komm mit mir«, sagte sie und bot ihm den Arm. Celimus war - was sonst höchst selten vorkam - sprachlos. Er nahm ihren angebotenen Arm und führte sie zu der Empore, wo die Monarchen von Briavel und Morgravia zum ersten Mal im Laufe der Geschichte Seite an Seite Platz nahmen. Es war ein atemberaubender Moment, dessen Bedeutung an keinem der Gäste spurlos vorbeiging. Musik erscholl als Zeichen, dass sich nun jeder setzen durfte, und den Königen wurde etwas Privatsphäre gegönnt, da die bewundernden Augen kurzzeitig durch die Ankunft von Tabletts mit Getränken und heißen, köstlichen Vorspeisen abgelenkt wurden. »Valentyna, du bist großartig«, gestand Celimus, der nun doch die passenden Worte fand. »Vielen Dank, Mylord. Ich muss sagen, dass du heute Abend auch äußerst elegant aussiehst.« »Unsere königlichen Farben beißen sich«, sagte er grinsend. 377
Sie genoss seinen subtilen Scherz. Valentyna hatte nicht damit gerechnet dass er Sinn für Humor besaß. »Starke Farben für starke Nationen«, schlug die Königin vor. »Wobei ich doch die Hoffnung hege, wir finden einen Weg, sie zu kombinieren, um dann stolz nebeneinanderzustehen?« Es war eine Frage, die sie noch nicht zu beantworten wagte. Sie schüttelte sanft den Kopf. »Smaragdgrün, Violett, Karmesinrot und Gold ... eine verwegene Mischung.« »Eine kräftige, Valentyna. Eine, auf die wir beide stolz sein können.« Sie wurde von der Ankunft des Mundschenks gerettet. »Ah, den hier wirst du genießen, Sire. Ein trockener Bostrach aus unseren südlichen Tälern.« Klugerweise bedrängte Celimus sie nicht weiter. Es gab keinen Grund, die Königin anzutreiben. Er nippte von dem Wein und riss bei der frischen Explosion des Zitrusgeschmacks in seinem Mund die Augen weit auf. »Ausgezeichnet! Ich hoffe, du wirst Morgravia bald einen Besuch abstatten und mir erlauben, dir einige unserer köstlichen Weine zu zeigen?« Sie nickte höflich und blickte zu dem Diener, damit er ihren Kelch ebenfalls füllte. »Auf einen glücklichen Besuch in Briavel, Sire«, sagte sie und hob ihren Becher. »Auf dich, Valentyna ... denn nur du allein kannst mich glücklich machen«, erwiderte er. Sie war vollkommen überrascht von seinen Worten, was Celimus nicht entging. Er lenkte ihre Unterhaltung sofort auf ein weniger heikles Gebiet und begrüßte Liryk, der zu ihnen getreten war, um seine Aufwartung zu machen. »Guten Abend, Oberbefehlshaber Liryk.«
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Der Soldat verbeugte sich. »Guten Abend, Eure Majestät. Ich höre, Ihr jagt gerne, Mylord?«, fügte Liryk hinzu. »Ich liebe die Jagd. Wie ich sehe, habt Ihr hier in der Nähe prächtige Waldgebiete«, antwortete Celimus. »Nun, Sire, die Wälder sind mein ganzes Leben lang mein Spielplatz gewesen«, wagte Valentyna. »Mein Vater jagte in diesen Wäldern sehr erfolgreich Hirschböcke und Wildschweine.« »Wahrscheinlich werdet Ihr wohl keine Zeit für eine Jagd haben, Sire«, erwiderte Liryk, »aber vielleicht wird Euch die Königin ihren Spielplatz zeigen, bevor Ihr uns verlasst?« Valentyna wollte den alten Soldaten für diesen Vorschlag böse anfunkeln, wusste jedoch, dass es sinnlos war. Jeder um sie herum, eingeschlossen der liebe alte Krell, wollte diese Hochzeit unbedingt vorantreiben. Sie alle hatten den Umstand beiseitegeschoben, dass der Mann, der neben ihr saß und so kunstvoll in ihre Richtung lächelte, verantwortlich für den Mord an König Valor war. Sie zü-gelte ihre aufwallenden Gefühle und rief sich zur Vernunft. Valentyna wusste nur zu gut, weshalb ihre Berater diese Verbindung derart guthießen. Briavel sehnte sich nach Frieden und wollte die Bürde des Krieges und den Verlust ihrer feinen jungen Männer umgehen. Es wäre eine Chance, dass das Reich aufblühte. Und sie war die Opfergabe. Valentyna konnte Frieden und Wohlstand für ihr Volk erreichen, und dazu musste sie nur Ja zu dem Mann an ihrer Seite sagen. »Reitest du gerne, Valentyna?«, fragte der König ein wenig überrascht. Ein kleines Lachen entschlüpfte ihr. Doch es war Liryk, der die Frage des Königs beantwortete. 378
»Sire, wenn man es nicht besser wüsste, würde man annehmen, unsere Königin sei auf einem Pferd geboren.« Er hielt sich zurück, noch mehr zu diesem Thema zu sagen, nachdem er den schmerzvollen Blick seiner Monarchin auffing. Er räusperte sich verlegen. »Nun, wie dem auch sei... lasst es mich wissen, falls wir irgendetwas für Euch tun können, König Celimus. Es wäre uns eine Ehre.« Celimus grinste. »Das werde ich.« Sie beobachteten, wie sich der Soldat mit gerötetem Gesicht zurückzog. »Ich bin sicher, dass er es nur gut meinte, Majestät«, flüsterte er und lehnte sich zu ihr. Valentyna war nicht wütend. Sie hasste höfliches Geplänkel und hätte ihre Zeit lieber auf den Burgzinnen mit Liryks Männern verbracht, obschon die Soldaten solch große Ehrfurcht vor ihr hatten. »Ich weiß. Er kennt mich seit meiner Geburt. Und es ist wahr, sobald ich alt genug war zu stehen, bin ich auf Pferde geklettert.« »Wirklich?« Sie nickte ein wenig selbstgefällig. »Ich könnte dich jederzeit um Längen schlagen, Majestät.« Sie hatte nicht ganz so direkt sein wollen. Die Worte waren ihr einfach entschlüpft, was sie jetzt bitter bereute. Ihr Vater hatte sie immer für die freimütige, offene Art gerügt. »Im besten Fall ist es kokett und wird
dich in Schwierigkeiten bringen«, hatte er sie bei mehr Gelegenheiten gewarnt, als sie sich nun zu erinnern wagte. Eine ängstliche Erregung packte Valentyna, als sie auf die Antwort des Königs wartete. Sie kam, lautstark und belustigt. Celimus stellte den Weinkelch ab, brach in schallendes Gelächter aus und warf den Kopf in den Nacken. 379
»Sie scheinen sich ganz famos zu verstehen«, bemerkte Lady Plumptyn. Ihr Sohn war Offizier in der briavellianischen Garde, und sie hoffte verzweifelt, dass Ihre Majestät durch eine Heirat ein Bündnis mit Morgravia einginge, damit ihrem Sohn ein früher Tod erspart bliebe. Ihre spöttische jüngere Tischnachbarin, Lady Joy, deren Name ihre Stimmung in diesem Moment nicht widerspiegelte, legte kein so wohlwollendes Interesse an den Tag. Ihre Antwort entsprang allein der Enttäuschung, mit einem wohlhabenden, aber unglaublich langweiligen Adligen verheiratet zu sein, dessen Leidenschaft mehr beim Anblick einer rotgefiederten Brust anstelle bei dem ihres eigenen üppigen Paars entzündet wurde. »Hm«, entgegnete sie. »Sie sieht beinahe läufig aus - hast du Valentyna jemals so weiblich, geradezu kokett oder strahlend gesehen? Wie gerötet ihre Wangen sind!« Es kam Lady Joy ungerecht vor, dass eine Frau, die sich nur selten die Mühe machte, so gut aussehen konnte und gleichzeitig einen Thron innehatte, ganz zu schweigen von einem weiteren, der bald der ihre wäre. Lady Joy war geblendet von Celimus und seiner schillernden Persönlichkeit, die eine Liebe fürs Leben versprach und der in jedem Sinne ein wahrer Mann zu sein schien. Es war so ungerecht, dass Valentyna alles bekommen sollte. Lady Plumptyn lachte leise. »Es wird Liebe genannt -das geschieht, wenn man sich verliebt.« Lady Joy schnaubte verächtlich in ihren Becher Punsch. »Wie soll ich das wissen!« Keine der beiden Klatschbasen konnte ahnen, dass Valentyna tatsächlich verliebt war, allerdings nicht in den König von Morgravia. Der Mann, den sie liebte, stand in der 379
Galerie der Minnesänger und beobachtete alles - oder zumindest das, was er hinter seiner Maske erspähen konnte. »Ich denke, wir sind fast fertig für einen mitreißenden Jig, Gentlemen, danach folgt der maskierte Bombero«, ermahnte er seine Musiker, und der Konzertmeister nickte. »Sobald Ihr das Signal gebt, Sir.« Wyl blickte verstohlen zu dem erhöhten Podest und zuckte bei dem Spaß, den Celimus augenscheinlich mit Valentyna hatte, zusammen. Er hatte unbändig über einen Witz gelacht, den sie gemacht hatte, und jetzt steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten. Nun, er allein war schuld daran. Immerhin hatte er Valentyna geraten, kokett und liebreizend zu sein, und sie hielt sich nur daran. Im Bruchteil einer Sekunde entschied er, seinen Plan zu ändern. »Fynch?« »Ja?«
»Lass sofort den ersten Gang servieren.« »Aber ...« »Bitte«, sagte er in entschiedenem Ton, und der Junge hastete die Treppen zur Küche hinab, wo die überarbeiteten Köchinnen die Köpfe schüttelten. »Wir können nicht zaubern«, zischte eine von ihnen, die Fynch jedoch genug mochte, um ihn nicht auszuschimpfen. »Nun gut, nun gut«, sagte sie dann erschöpft. Die Köchin tat seinen Dank mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und zeigte auf die Gruppe, die sich in einer Ecke um die Gänse und Kapaune kümmerten. »Sind wir so weit?« Ein einstimmiger Chor aus »Ja!« erscholl. »Dann fangt mit Servieren an, meine Täubchen. Unser Königspaar soll aber die besonders schönen Exemplare bekommen.« 380
Valentyna musste sich eingestehen, dass Celimus charmanter war, als sie erwartet hatte, und aus der Nähe ebenso herzzerreißend attraktiv, wie er bei ihrem ersten Treffen gewirkt hatte. Er war tatsächlich der perfekte Mann, wie das nicht gerade subtile, zum Teil sogar unverhohlen begeisterte Starren vieler Hofdamen bestätigte. Alles an ihm war perfekt... einfach alles. Ein Maler gäbe ein Bein, um ihn als Modell zu bekommen - am besten nackt, dachte sie, und stellte sich den König als Motiv auf einem der Wandbehänge in den Badekammern vor. Bei dieser Vorstellung unterdrückte sie ein Lächeln, während sich Celimus nun zu ihr drehte. Sie blickte in die Tiefen seiner dunkelolivfarbenen Augen, doch sie waren leer. Warum sie hoffte, sie hätte dort so etwas wie Wärme und Sanftheit ausmachen können, wusste sie nicht. Valentyna wollte Celimus verabscheuen -und das tat sie auch -, aber sein Auftreten heute Abend war schwerlich das eines habgierigen, unbeirrbaren Mannes, der zu allem fähig war. Bisher war er genauso, wie ihre Hofdame Lady Jane Breck ihn beschrieben hatte: berauschend charmant. Ausgenommen in diesem Moment, erkannte Valentyna, und der frostige Gedanke ließ sogar ihr Lächeln erkalten. Seine Augen waren hart und berechenbar. In ihnen lag nichts Tröstliches. Sein breites Grinsen spiegelte sich nicht in ihnen wider. Und Valentyna vermutete, dass dieser Mann keine Sekunde zögern würde, jeden zu zertrampeln, der ihm im Weg stand ... eingeschlossen sie selbst. Er hatte sich Briavel als Ziel gesetzt, und sie war das Hindernis. Valentyna fürchtete, ihre schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich ihres Gasts wären ihr mitten ins Gesicht geschrieben, als sich seine eigene Miene bei ihrem Anblick 380
verfinsterte. Sofort hatte sie sich wieder gefasst. »Ah, sieh nur, Mylord«, sagte sie strahlend und war erleichtert, dass die berühmte gebratene Gans ihrer Köchin zusammen mit geröstetem Kapaun in die Halle getragen wurde. »Der erste Gang, einem König würdig.« Celimus' abschätzender Blick verweilte noch einen Moment länger auf ihr. Dann lächelte er. »Meine Leibspeise«, sagte er, und der Moment der Offenbarung war vergangen. Auf einmal war er wieder die charmante Fröhlichkeit in Person.
Valentyna hatte absichtlich ein Dutzend Gänge auftischen lassen, die einem königlichen Bankett alle Ehre machten. Kein anwesender Morgravianer würde ihren Tisch unbeeindruckt verlassen. Die Gänse, Enten und anderes Geflügel waren köstlich und zergingen im Munde. Eine Rinderbouillon wurde vor dem Ochsen serviert, dann folgte Wildbret. Rothirsch wurde auf riesigen Tabletts dargeboten und von einem Trupp Bediensteter mit Geweihen auf dem Kopf hereingetragen, die donnernden Applaus ernteten. Celimus lehnte sich zu Valentyna hinüber. »Welch großartiges Spektakel!«, sagte er und stimmte in den Beifallssturm für die das Geweih tragende Dienerschaft mit ein. Sie nickte lächelnd. »Zu deinen Ehren, Mylord.« Lammfleisch kam als Nächstes, das mit frischem Brot, Minzsoße und Schweineköpfen gereicht wurde. Darauf folgte Schwan, und dann das Herzstück, gebackener Storch mit ausgestreckten Flügeln, dessen Schnabel mit verschiedenen Gemüsesorten gefüllt war, was die erste Folge an Gängen beendete. Diese Köstlichkeit zwangen den Großen Saal zu einer Pause und dem bisher lautesten Applaus. An 381
schließend wurden die Teller abgeräumt, und eine zweite Runde bestehend aus köstlichem Gelee, gewürztem Wein und einer ausgezeichneten Mandelcreme wurden hereingetragen, für die Celimus der Küche Komplimente ausrichten ließ. Diesen Speisen folgte praktisch jeder Vogel am Himmel, eingeschlossen Fasan, Rebhuhn, Kiebitz, Möwe, Taube, Lerche und sogar winzige Spatzen. Dann kamen Fischgerichte, Leng, Lachs, Schellfisch, Barsch sowie Lamprete. Wieder einmal war das Herzstück der Höhepunkt -nun war es gefüllter und gebratener Tümmler und Seehund. Der Applaus war ohrenbetäubend. Zartestes Lamm-und Ziegenfleisch vervollständigten das Bankett, bevor Torten, Kuchen und Käse für all jene serviert wurden, die noch Durchhaltevermögen zeigten und weiteraßen. Ein weiteres Gespräch zwischen Celimus und Valentyna wurde von einer scheinbar endlosen Reihe an Unterhaltungskünstlern und Sängern unterbunden, die jegliche Pause des Abends füllten. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, bei dem Celimus eine privatere Unterhaltung mit der Frau, die ihn - so musste er zugeben - sehr faszinierte, nicht glücken wollte. Er hatte nicht erwartet, auch nur im Geringsten fasziniert von ihr zu sein. Ihre Zustimmung zu erlangen, ohne auf die Möglichkeit von Krieg zurückzugreifen, war seine einzige Ambition gewesen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er die Frau, die ihm Briavel überreichen würde, tatsächlich mögen könnte. Briavels Spezialität, der köstliche Honig von den berühmten Magurian-Bienen, war in vielen Speisen zu finden, am offensichtlichsten in dem sirupartigen, sagenhaft süßen Mohnkuchen. Eingetaucht in den aromatischen Ho 381
nig, gemischt mit Likör und anderen Gewürzen, waren die Kuchen ein seltener Leckerbissen für wichtige Festlichkeiten. Der Samen der Mohnblume, der darin enthalten war, förderte das Glücksempfinden im Saal, und Valentyna beobachtete, dass Celimus mehrere Stücke aß.
»Eine Naschkatze, Sire?«, kam sie nicht umhin, ihn zu fragen. »Wunderbar. Du musst das Rezept nach Morgravia mitbringen und unser Volk damit bekannt machen. Deine Speisen sind den Göttern würdig, Valentyna, nicht nur den Königen.« Sie neigte sanft den Kopf bei dem großzügigen Kompliment, das er auch schon in einer schillernden Rede zum Ausdruck gebracht hatte, die er für ihre Gäste und ihr zu Ehren gehalten hatte. Seine Worte waren ausgefeilt und perfekt gewählt, um den briavellianischen Adel für seine Sache zu gewinnen ... nicht, dass es dazu großer Überredungskünste bedurft hätte. Celimus hatte eine unleugbar betörende Ausstrahlung - man hätte eine Nadel fallen hören, derart begierig hatten sie an seinen Lippen gehangen. Wenn sie nur wüssten, dass das Blut ihres Vaters an seinen Händen klebte, dachte sie betrübt, wären sie womöglich nicht so erpicht darauf, dass ihre Königin den Mörder ihres ehemaligen Herrschers heiratete. Die Tische wurden für den Tanz abgeräumt, und das königliche Paar war eingeladen, die Gäste auf das Parkett zu führen. Valentyna liebte es zu tanzen und war glücklich, im dichtesten Getümmel zu sein. Romen hatte recht behalten; die erste Hälfte des Abends verging wie im Fluge. Sie drängte ihre Erheiterung über die Auswahl der Tänze am heutigen Abend zurück. Romen hatte alles geplant, bis hin 382
zur Musik. Der mitreißende Jig versetzte nicht nur alle in beste Stimmung und ließ sie durstig werden, was bedeutete, dass sie Unmengen des berauschenden Biers und Weins tranken -, sondern verschaffte den Männern auch wenig Gelegenheit, die Hände der Damen länger als ein paar Sekunden zu berühren. Es hielt den König auf nötigem Abstand. Valentyna fiel auf, dass sich Celimus prächtig amüsierte und der Mittelpunkt des Geschehens war, wobei jede anwesende Frau - verheiratet oder nicht danach gierte, wenige Augenblicke seiner Aufmerksamkeit zu erhaschen. Er genoss dieses Interesse natürlich und bemerkte kaum, dass keinerlei ruhige Tänze ausgewählt worden waren, bei denen sich das königliche Paar hätte nah sein können. Vielmehr schien es so, dass Celimus beim lauten Klatschen zur Musik, Jubeln und Stampfen voll in seinem Element war, denn er war ein begnadeter Tänzer, der einen solch einnehmend eleganten Bewegungsstil besaß, dass selbst Valentyna es unwiderstehlich fand, ihm zuzusehen. So weit, so gut, dachte sie in einem der seltenen Augenblicke, in denen sie Atem holen konnte. Liryk bat nun um Ruhe. Allmählich verstummten die schnatternden Stimmen und das laute Gelächter. »Eure Majestäten, verehrte Gäste. Bitte wählt Eure Kopfbedeckung für den maskierten Bombero.« Seine Worte wurden mit lautem Jauchzen und entzücktem Kreischen aufgenommen, als große Tabletts mit einer schier unendlichen Auswahl an prächtigen Masken hereingetragen wurden. Während die Gäste ihre Wahl trafen, wurden zwei gesonderte Tabletts von Bediensteten zu dem erhöhten Podest gebracht. 382
»Eure Majestäten«, murmelten sie und boten ihre Kunstwerke an. »Es ist eine hiesige Tradition, Mylord«, sagte Valentyna und lachte. »Der Bombero ist unser munterster, doch gleichzeitig sinnlichster Tanz.« »Natürlich, aber du wirst ihn mir beibringen müssen«, sagte er grinsend und griff nach der Maske in Form eines Wolfes. Sehr passend, entschied Valentyna. Sie wagte nicht, in die Galerie hochzublicken, da sie genau wusste, dass Romen sie von dort oben beobachtete. Sie suchte sich ihre Maske aus und wunderte sich über den Mangel an Sorgfalt, da ein Taubenkopf für sie angefertigt worden war. Die Bedeutung ging nicht unbemerkt an Celimus vorüber, der, scharfsinnig wie immer, sofort eine Bemerkung fallen ließ. »Jemand in deinem Gefolge hat Sinn für Humor, Valentyna.« »Was meinst du nur?«, fragte sie unschuldig und nahm seine Hand, ohne ihm die Möglichkeit zu einer Antwort zu geben. »Wir beginnen in Reihen, Sire, aber es wird wahnsinnig schnell und schwierig. Vertrau einfach deiner jeweiligen Partnerin ... sie sind sowieso alle ganz versessen darauf, dich zu berühren«, sagte sie und lächelte unter ihrer wunderschönen Taubenmaske. Die Musik ertönte, und Celimus hatte keine Gelegenheit mehr, etwas zu erwidern, da er im nächsten Moment von den sich schnell drehenden Tänzerinnen fortgeschoben wurde. Die Damen in der vorderen Reihe vollführten komplizierte Tanzschritte, während die Frauen weiter hinten mit ihren Partnern ruhiger herumwirbelten und darauf warteten, dass endlich sie an der Reihe waren vorzutreten. 383
Valentyna hörte eine vertraute Stimme, und zwar von dem Mann ihr gegenüber, der eine riesige grinsende Pferdemaske trug. »Ich liebe dich«, flüsterte er, bevor er wieder verschwand und sie mit dem Gefühlschaos atemlos zurückließ, das er tief in ihr hervorgerufen hatte. Und dennoch musste sie über seinen komischen Kopfschmuck lachen, denn wiederum war die Bedeutung recht offensichtlich - niemand liebte Pferde mehr als die Königin von Briavel. Jessom, der in der Nähe war, lächelte Celimus aufmunternd zu, was so viel bedeuten sollte wie: Alles zu seiner Zeit. Er spürte die stille Enttäuschung des Königs, der der Königin nahe sein wollte, doch dies war Diplomatie und schließlich das königliche Gebaren. Schon bald - genau genommen morgen hätten die beiden Zeit, sich in trauter Zweisamkeit zu unterhalten. Es war nicht so, als verstünden die Anwesenden nicht, weshalb sie hier waren, doch es war nötig, das vorgeschriebene Protokoll einzuhalten. Dieses Fest war ein Punkt darin, und das Turnier ein weiterer. Dann konnten sie zum geschäftlichen Teil übergehen und der jungen Königin zeigen, dass eine Heirat die einzige Möglichkeit war, ihr Reich vor der völligen Verwüstung zu bewahren. Morgravia würde den Süden vereinigen, auf die eine oder die andere Art. Eine Hochzeit wäre sicherlich die weniger schmerzhafte. Jessom sah, dass Valentyna nicht wirklich von Celimus angetan war - der, so musste der Berater zugeben, ungemein charmant war. Er fragte sich, woran das liegen konnte. Im Gegenzug bemerkte er, dass sein König großes Interesse
an der Königin zeigte. Eigentlich war Celimus mit der Vorstellung hierhergekommen, die Frau abscheulich zu 384
finden, doch Jessom konnte jeden Grund nachvollziehen, weshalb der König nun ganz anders darüber dachte. Im Geiste ging er ihre Eigenschaften durch: intelligent, offenherzig, furchtlos, bescheiden - obwohl so viel zu ihren Gunsten sprach -, jung, von königlichem Blute und anmutig. Sie besaß Stil und hatte eine betörende Ausstrahlung. Sie war wohlhabend, saß auf dem reichen Thron eines wenig besiedelten, fruchtbaren Landes. Sie könnte Celimus eine prächtige Gefährtin sein, vielleicht sogar mit ihm zusammenarbeiten, um das Kaiserreich aufzubauen, von dem Celimus träumte. Wenn sie auf Briavel verzichtete, würden sie weit größere Schätze erwarten. Er beobachtete sie eingehend. Keinen der anderen Männer im Raum bedachte sie mit besonderen Aufmerksamkeiten, was seiner Ansicht nach daraufhindeutete, dass sie ihr Herz noch nicht verschenkt hatte. Welcher Liebhaber würde es auch zulassen, dass sie heute Abend so gut aussah und von einem König umworben wurde? Und dennoch verhielt sie sich entschieden zurückhaltend. Zu keinem Zeitpunkt war sie unhöflich oder unaufmerksam; sie war einfach distanziert, was Celimus anging, und klammerte sich an sichere Gesprächsthemen, besprach die Speisen, die Musik oder das morgige Turnier, ohne sich an den wirklichen Grund heranzuwagen, weshalb diese Farce überhaupt veranstaltet wurde. Sie schaffte es sogar, ihm einige Male schallendes Gelächter zu entlocken. Nach dem Bombero folgte eine kurze Pause, und die Tänzer setzten ihre Masken ab, um mit dem Partner, bei dem sie gelandet waren, zu lachen. Als die Musiker ihre Instrumente stimmten und sich einige Paare für den nächsten Tanz aufstellten, entschuldigte sich die Königin und be 384
merkte, wie sich auch Celimus aus der Menge löste, um zu ihr zu eilen. Valentyna wusste, dass sie nun sehr vorsichtig sein musste. »Ich habe dein wunderschönes Schlachtross gesehen, Mylord. Ganz offensichtlich liebst du das Reiten.« Es war eine belanglose Bemerkung, denn sie hatte schon viel über sein Können gehört, doch es musste fürs Erste genügen. Sie war von seiner bescheidenen Antwort überrascht. »Das stimmt... doch seit ich den Thron bestiegen habe, bekomme ich keine Gelegenheit mehr, allein auszureiten. Heutzutage habe ich einen Trupp von tausend Leuten im Schlepptau«, übertrieb er. Sie nickte mitleidvoll. »O ja, ein wenig Privatsphäre vermisse ich am meisten.« »Wahrscheinlich reitest auch du nur auf den besten Pferden«, sagte er. »Nun, ich hatte viel Übung. Mein Vater züchtete immer ausgezeichnete Tiere und unterstützte mich stets darin, auf ihnen zu reiten.« »Vielleicht können wir den Ausritt zusammen unternehmen, wie dein Oberbefehlshaber es vorgeschlagen hat?« »Natürlich«, sagte sie und bereute ihre höfliche Antwort noch im selben Moment.
»Wie wäre es dann mit morgen? Das Turnier beginnt nicht vor dem späten Vormittag, und ich bin Frühaufsteher. Ich könnte mir vorstellen, deine Wälder sind bei Sonnenaufgang herrlich.« Sie war ihm in die Falle gegangen. Ihr Verhalten war töricht gewesen, das wusste sie. Wie hatte sie sich ihm nur so ungeschützt präsentieren können? Genau diese Situation hatten sie mit allen Mitteln verhindern wollen. 385
Er nahm ihre Hand, und viele Blicke im Saal beobachteten die zärtliche Geste. Er kümmerte sich nicht um den Klatsch oder was die Leute nun von ihm denken könnten. Im Moment wollte er nur ungestört Zeit mit dieser Frau verbringen - fern von Jessom oder irgendeinem anderen Berater. Er wollte entscheiden, wann und wo es geschah. Sie würde ihn in Bestform erleben. »Es würde mir sehr viel bedeuten, wenn du mich begleiten würdest, Valentyna.« Sie zögerte. Ich darf ihn auf keinen Fall kränken. Immerhin ist es bloß ein Ausritt. »Natürlich, Celimus. Es wäre wundervoll, gemeinsam einen Sonnenaufgang auf unseren Pferden zu genießen. Ich werde alle Vorkehrungen treffen.« Er lächelte, offenkundig erfreut. Ihr war übel. »Ich freue mich schon«, sagte sie und wechselte rasch das Thema. »Und jetzt, Mylord, musst du mich leider entschuldigen. Ich sollte meinem hingebungsvollen Küchenpersonal für ihre harte Arbeit heute Abend danken. Außerdem bin ich sicher, dass du nach dem langen Tag müde bist. Bitte warte nicht auf mich.« Er verbeugte sich, war allerdings ein wenig von ihrem plötzlichen Stimmungswandel überrascht. Trotzdem wollte er geduldig sein. »Bis morgen, Valentyna.« Sie machte einen höflichen Knicks und eilte rasch fort, wobei sie sich fragte, wie sie Romen diese Wendung erklären sollte. Völlig verzweifelt lag sie wach. Liryk hatte zwei Wachen vor ihren Zimmerfluchten postiert und die Soldaten auf den Gängen und Treppenfluren, die zu ihrem Flügel im Palast führten, verdreifacht. Das Schlurfen und die leisen Stimmen der Männer vor ihrer Tür ließen sie nicht einschla 385
fen. Sie war schon kurz davor, ihren Morgenmantel überzustreifen und ein wenig mit den Wachtposten draußen zu plaudern ... das wäre besser, als hier allein zu liegen und sich Sorgen zu machen. Sie hatte Romen seit ihrem heimlichen Augenblick während des Tanzes weder gesehen noch von ihm gehört. Es war leichtsinnig gewesen, ein solches Risiko einzugehen ... aber sie liebte ihn dafür. Und er liebt mich! Das hatte er zugegeben. Jetzt zählte sie im Dunkeln die Minuten und wünschte, der morgige Tag wäre bereits vorüber, während sie gleichzeitig das erste Anzeichen der Morgendämmerung fürchtete. Dann würde sie dem König von Morgravia allein entgegentreten müssen. Würde er versuchen, sie zu küssen? Der Gedanke ließ sie erschaudern. Auf einmal vernahm sie das leise Geräusch der Geheimtür, die sich langsam öffnete. Warum sie glaubte, es könne Celimus sein, der unerwartet auftauchen und ihr mitten in der Nacht einen Heiratsantrag machen könnte, war ihr später
ein Rätsel, aber glücklicherweise kostete es sie einige wenige Augenblicke, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, bevor sie zu einem Schrei ansetzte und rettete damit Romen Koreldy. »Ich bin's, Valentyna!«, zischte er, der ihre Furcht spürte. Ihr Körper entspannte sich bei der vertrauten Stimme. »Ich dachte, du seist er«, flüsterte sie. »Was machst du hier?« »Ich konnte es nicht ertragen, getrennt von dir zu sein«, bekannte er. Er streifte sich die Stiefel ab, und sie zog die Laken höher. »Was tust du da?« Ihre Stimme klang schrill und verängstigt. 386
»Ich möchte dich nur in meinen Armen halten, dich nah bei mir spüren. Ich verspreche, ich werde nichts ...« »Hör auf und keinen Ton mehr«, sagte sie und zeigte zur Tür, um ihn vor den Wachen zu warnen. »Komm her«, flüsterte sie und warf die Laken zurück. Dennoch war sie froh über die kühle Nacht, da sie ein Nachthemd angezogen hatte und sich nun tugendhafter fühlte. Nun schob er sich das Hemd über den Kopf. Es faszinierte sie, wie Männer das taten - Frauen würden stets die Knöpfe öffnen -, doch der Gedanke entschwand bei dem Anblick von Romens nacktem Oberkörper. Wyl schlüpfte neben ihr ins Bett und zog sie sanft an sich. Seine Berührung ließ sie jegliche Kontrolle über sich verlieren. Wenn es jetzt geschieht, werde ich es zulassen, dachte sie und drehte sich um, damit sie seinen hochgewachsenen, harten Körper an ihrem spüren konnte. »Vielen Dank«, flüsterte er. »Schsch«, erwiderte sie. Später klammerte sie sich fest an Romen, wusste sie doch, dass sie ihm von dem Ausritt erzählen musste, der sich in wenigen Stunden ereignen würde. Sie konnte bereits das erste einsame Gezwitscher eines Vogels hören, das den Beginn der Morgendämmerung einläutete. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. »Woher wusstest du überhaupt, wie du dieses Zimmer finden kannst?« »Fynch«, sagte er und streichelte ihr übers Gesicht. »Valentyna, wenn ich morgen sterben sollte ...« »Lass das!« »Nein, hör mir zu«, bedrängte er sie. »Wenn ich morgen 386
sterben sollte, werde ich als der glücklichste Mann des Südens sterben, weil ich dich gekannt und geliebt habe ... und dich gehalten und berührt habe wie kein anderer Mann.« Sie zitterte bei seinen Worten, die ihr Angst einjagten. »Lass uns nicht über den Tod sprechen.« »Das tue ich gar nicht. Eigentlich rede ich über das Leben und wie mir meines auf einmal deinetwegen wichtig ist.« »War es das zuvor nicht?« »Nicht, bis ich dich getroffen habe.« Sie atmete tief ein und sah ihm ins Gesicht. »Romen ... ich muss dir etwas sagen.«
»Was, Liebling?« »Es geht um Celimus.« »Du brauchst dich wegen heute nicht zu sorgen, ich verspreche ...« »Es geht nicht ums Turnier. Es geht um heute Morgen«, sagte sie, und er sah, wie verunsichert sie war. »Erzähl es mir.« Er hatte nicht aufgehört, ihr über den Arm zu streicheln, doch sie konnte nun die Anspannung in seinem Körper spüren, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte. »Er hat mich in die Ecke getrieben, und ich musste zustimmen, heute bei Morgendämmerung einen Ausritt mit ihm zu unternehmen.« Er streichelte sie auch weiterhin und setzte sich auf, zuckte jedoch bei dem Schmerz zusammen, den die Bewegung seinen gerade verheilenden Rippen zufügte. »Das entspricht nicht dem Plan.« »Es gab keinen Ausweg«, beeilte sie sich zu erklären. »Ich musste zustimmen. Andernfalls hätte ich ihn womög 387
lich beleidigt, und du hast mich gewarnt, ich solle freundlich sein ... sogar kokett, hast du geraten.« Wiederholt fuhr sich Wyl mit den Händen durchs Haar, während er über diese neue Wendung nachdachte. Es war nicht ihre Schuld, und das sagte er ihr auch, obwohl sie seine Verzweiflung spüren konnte. »Ich werde den Ritt kurz halten und eine Eskorte mitnehmen - dafür werde ich sorgen. Vielleicht kann ich das Gespräch auf belanglose Themen lenken.« Es ärgerte sie, dass er über ihre letzte Bemerkung grinsen musste. »Das spielt keine Rolle, Valentyna. Er wird dir die entscheidende Frage heute Morgen stellen. Er möchte Zeit allein mit dir verbringen, ohne seine Höflinge und Berater, und jetzt hat er es erreicht. Du darfst ihn nie und nimmer unterschätzen - das könnte dir das Genick brechen.« Valentyna nickte, wusste sie doch nicht, was sie hätte sagen oder tun können. Sie setzte sich auf und lehnte sich an seinen breiten, warmen Körper. »Ich wünschte, du hättest mir letzte Nacht meine Jungfräulichkeit geraubt, Romen. Dann könnten wir einfach die Wahrheit erzählen, und die Sache wäre ausgestanden.« Er lächelte, als habe er es mit einem Kind zu tun. »Die Dinge sind so schwarz und weiß für dich, nicht wahr? Für ihn wäre es noch nicht vorbei. Es wäre nur der Anfang des Grauens, nicht das Ende. Einen solchen Verrat zuzugeben, würde Krieg für dein Vaterland bedeuten. Er würde die volle Macht der morgravianischen Legion darauf verwenden, dich zu zerstören, und im Moment würde er sein Ziel wohl erreichen. Nein, du bist die regierende Monarchin des Reiches, das er begehrt, und so unberührt, wie der König dich will. In seinen Augen bist du vollkommen, insbeson 387
dere jetzt, da er dich gesehen hat. Gestern Abend im Großen Saal hätte niemand seine Gedanken falsch auslegen können. Er möchte dich besitzen. Deshalb habe ich aufgehört, Valentyna. Ich will dich so sehr, und dennoch kann ich dich nicht haben. Ich muss dich aus der Ferne lieben.«
»Aber nicht für immer, oder? Sag, dass es nicht so ist.« »Das kann ich nicht. Wir bewegen uns gerade auf einer steilen Klippe, und das Einzige, was zählt, ist deine Sicherheit, und dass dein Königreich überlebt. Unsere Liebe ist nebensächlich. Das weißt du. Du weißt, dein Vater würde von dir erwarten, dass du zuerst an Briavel denkst.« »Dann würde er mich ermuntern, ihn zu heiraten.« »Vielleicht«, gab Wyl zu. »Aber vielleicht auch nicht, wüsste er, was du über Celimus weißt. Wie dem auch sei, wir müssen uns den Kopf über den heutigen Morgen zerbrechen. Du solltest dich fertig machen, während ich nachdenke.« »Ich könnte doch sagen, es ginge mir nicht besonders gut?« »Nein. Du musst ausreifen. Und ich werde mir etwas einfallen lassen, wie du zu seinem unausweichlichen Heiratsantrag nicht Ja sagen musst.« 388
39 ER FÜHLTE SICH GESCHMEICHELT durch ihre echte Bewunderung für den Hengst, den er an diesem Morgen ritt. Das Tier war ein Vollblüter aus der berühmtesten Zucht in Grenadyn, einem Land, das für seine prächtigen Pferde bekannt war. »Er ist aus der Nähe noch schöner«, sagte sie und konnte nicht anders, als das großartige Tier zu berühren, dessen Fleisch zuckte und zitterte, derart begierig war es auf den Auslauf. »Wie alt ist er?« »Zwei Jahre«, erwiderte Celimus, der sich seinerseits wunderte, wie viel begehrenswerter diese Frau in der schlichten Reitkleidung aussah. Ihr Anblick gestern Abend hatte ihm schon den Atem verschlagen, doch heute Morgen war sie sogar noch betörender. »Du bist kein bisschen eitel, nicht wahr, Valentyna?«, bemerkte er. Sie spähte zu den vier Männern, die sie begleiteten, aber sie standen zu weit weg, um ihre Unterhaltung mitzuverfolgen. Celimus verschwendete keine Zeit und brachte das Gespräch sofort auf persönliche Dinge. »Dafür habe ich keine Zeit.« »Das ist höchst ungewöhnlich. Ich glaube, ich kenne 388
keine andere Frau, die so wenig Aufhebens um ihr Aussehen macht.« »Soll das etwa ein Kompliment sein, Mylord?« Sie lachte in der Hoffnung, dem Thema den Ernst zu nehmen. »Oh, das allergrößte, wirklich«, versicherte er, und diesmal lag keine Herablassung in seiner Stimme. »Die Frauen am Hof von Morgravia machen einen schrecklichen Wirbel um ihr Haar und sprechen voller Ernst über Seide und Schminke. Ihr einziger Gesprächsstoff dreht sich um ihre neuesten Einkäufe, ihr Äußeres und wen sie heiraten oder mit wem sie ihre Verwandtschaft verheiraten können. Sie langweilen mich. Aber du ... du würdest lieber über Pferde sprechen als mit den anderen Frauen Klatschgeschichten austauschen. Das spüre ich.« Sie wollte ihn der Heuchelei beschuldigen. Er besaß genug Eitelkeit für ihren gesamten Hofstaat. Stattdessen erklärte sie, weshalb sie keine Dünkel besaß. »Das stimmt. Ich interessiere mich nicht für Gewänder und schminke mein
Gesicht nicht, Mylord. Ich trage schöne Kleider nur, wenn der Anlass es verlangt, so wie gestern Abend. Ansonsten bin ich am glücklichsten in den Sachen, die ich gerade trage, und noch glücklicher auf meinem Pferd ... Sollen wir?«, fragte sie, erpicht darauf, endlich loszureiten. Sie wollte dieses Gespräch nicht weiterführen. »Vielleicht ist es einfach, den Hang zum Narzissmus zu verdrängen, wenn man so jung, intelligent und schön ist wie du, Valentyna.« Sie lächelte bei seinen Worten, aber eine eisige Kälte durchfuhr sie, als er hinzufügte: »Es wird erfrischend sein, dich als Königin an meinem Hof in Morgravia zu haben.« Valentyna antwortete nicht und gab vor, sie habe seine 389
letzte Bemerkung nicht gehört, während sie unnötig konzentriert auf ihr Pferd stieg und es sich im Sattel bequem machte. »Komm«, sagte sie, »wir können in kurzem Galopp an den Obstgärten vorbeireiten - wenn ich mich recht entsinne, habe ich dir versprochen, sie dir zu zeigen.« Celimus schmunzelte über ihr ausweichendes Verhalten. Je mehr Distanz Valentyna zwischen sie bringen wollte, desto faszinierender wurde sie für ihn. Sie war eine enorme Überraschung, denn er hatte so viel weniger erwartet. Bis gestern hatte er nur daran gedacht, ihr Reich zu besitzen. Jetzt wollte er auch sie besitzen. Er ließ sie vorausreiten und ergötzte sich an ihrem Anblick. Sie saß gut zu Pferde und hatte es fest unter Kontrolle, wie ein Mann, und dennoch schien sie im Einklang mit dem Tier zu sein. Von seiner Position aus konnte er außerdem ihren hübschen Hintern bewundern. Celimus war überzeugt, dass er ihn in Bälde genießen würde. Der Gedanke, sie zu spüren, ihr ganz nah zu sein, auf ihr und in ihr zu sein, erregte ihn augenblicklich, und er musste erst die Vorstellung wieder abschütteln, sie hier und jetzt zu nehmen - sie auf die Erde zu werfen, ihr die Reithose vom Leib zu reißen und dann von hinten in sie einzudringen. Er nahm einen tiefen Atemzug und gab dem Pferd die Sporen. Sie lachte nachsichtig über die Herausforderung. »Mir ist zu Ohren gekommen, du könntest mich jederzeit um Längen schlagen, Majestät?«, rief er. Er hob schelmisch die Augenbrauen, und auch die Herausforderung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Das besonders gutmütige Pferd, das Valentyna ritt, war 389
dem stolzen Hengst nicht gewachsen, doch sie verfolgte ihn dennoch mit Wohlwollen und stellte sicher, dass sie ihre Eskorte nicht abschüttelte. Ihre gemeinsame Zeit war beinahe um. Das dritte Vormittagsläuten hatte eingesetzt - und als Valentyna das Gefühl beschlich, sie seien lange genug ausgeritten, schlug sie höflich vor, zum Palast zurückzukehren, damit sie sich für das Turnier umziehen konnte. Sie glaubte, geschickt jede mögliche Vertrautheit umgangen zu haben, indem sie oft absichtlich zu ihrer Eskorte spaziert war und ihre Männer zu Rate gezogen hatte, als fehle ihr das Wissen, um einige der Fragen des Königs zu beantworten. Das bezog die anderen in ihre Unterhaltung ein und wiegte Valentyna in Sicherheit.
Sie wusste, dass Celimus ihre Absicht durchschaute, doch das kümmerte sie nicht. In diesem Augenblick klammerte sie sich an die Erinnerungen der vergangenen Nacht, wie sie Romen umarmt, seine nackte Haut an ihrer und seinen Mund auf dem eigenen gespürt hatte, wie seine Hände ihren Körper erforscht hatten ... diese Bilder halfen ihr durch die schwierigen Stunden. Und der Gedanke, ihn heute Nacht wieder zu berühren, würde ihr die Kraft geben, diesen anstrengenden Tag zu überstehen. Doch dann war sie für einen kurzen Moment unaufmerksam, und sie beging einen schwerwiegenden Fehler, der sie zurück in die Gegenwart holte. Valentyna hatte sich zu weit von der Gruppe abgesondert, um ein paar Äpfel für die Pferde aufzusammeln, und als sie sich beim Klang von Celimus' Stimme wieder umdrehte, waren sie allein. »Ich habe der Eskorte gesagt, sie soll die Pferde ein Stück wegführen«, sagte er und zeigte in die Ferne. »Wir würden 390
in einigen Minuten zu ihnen stoßen, um dann zurückzureiten.« Sie betete, dass sich ihre Besorgnis nicht in ihrem Gesicht widerspiegelte. »Vielen Dank. Ich nehme nur noch diesen hier mit. Ich bin sicher, dein Pferd wird den reifsten von ihnen zu schätzen wissen.« »Das glaube ich auch«, stimmte Celimus ihr zu und trat näher - viel zu nah für ihren Geschmack. »So wie auch ich«, fügte er hinzu. Valentyna versteifte sich. Sie wusste genau, was er mit dieser sinnreichen Bemerkung sagen wollte, doch sie machte den dürftigen Versuch, seine anzügliche Anspielung zu entschärfen. »Oh, dann kannst natürlich du ihn haben. Es tut mir leid, ich habe vergessen, ihn dir anzubieten«, entschuldigte sie sich und hielt ihm den Apfel hin. »Ich meinte dich«, gab er nun ohne Umschweife zu. »Du bist reif, gepflückt zu werden, Valentyna, und ich möchte nicht, dass jemand anders dich zuerst kostet«, sagte er langsam und mit fester Stimme, damit sie seine Absicht nicht missverstehen konnte. »Du weißt, weshalb ich hier bin, und ich bin froh, dass ich gekommen bin. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, welch vollkommene Königin du an meiner Seite abgeben wirst und über Morgravia und Briavel...« »Mylord, vielleicht sollten wir dieses ...« »Ich würde es aber lieber jetzt besprechen. Nur wir beide. Ich möchte, dass du meine Königin wirst. Willst du mich heiraten, Valentyna?« Er war erschüttert, als sie zu lachen begann. »Ja«, sagte sie. »Ich werde dich heiraten, Celimus, aber zuerst musst du mich gewinnen«, fügte sie in einem sanft spöttischen Tonfall hinzu. Sie wusste nicht, ob sie überzeugend genug 390
wirkte, aber Romen hatte ihr geraten, wie und wann sie diesen letzten Trick anwenden sollte, falls sie in Bedrängnis geriet. »Dich gewinnen?«, fragte Celimus, dessen Überraschung offenkundig war. »Ja, Mylord.« Ihre Stimme klang klar und selbstbewusst, und sie war dankbar dafür, denn sie führte hier eine gefährliche Farce auf. »Ich weiß nicht, wie das in Morgravia abläuft, doch in Briavel müssen sich die Männer erst das Recht auf ihre erwählte Frau verdienen.«
»Tatsächlich?«, erkundigte er sich nun scherzhafter und schloss sich ihrem plötzlich koketten Verhalten an. »Ja.« Sie legte die Äpfel in ein Leinentuch und verschnürte es. »Bei dem Turnier heute Nachmittag wirst du um mich kämpfen«, sagte sie hochmütig und kicherte dann, stolperte absichtlich und fiel gegen ihn, sodass ihre Brüste scheinbar zufällig seinen Arm streiften. Die Berührung widerte sie an. Eine weitere Welle der Lust durchlief ihn. »Ich werde um deine Hand kämpfen, Mylady«, sagte er und spielte mit. »Gegen wen werde ich antreten?« »Das Volk wird es lieben!« Sie lachte wieder. »Du wirst die Klingen mit dem Kämpen der Königin kreuzen.« »Um wen handelt es sich?« Sie zog die Augenbrauen hoch und gab vor, es sei ein großes Geheimnis. »Ah, ein Fremder in Schwarz, der nie sein Gesicht zeigt«, erklärte sie. Celimus grinste und bemerkte erst jetzt, dass Valentyna sie zurück zu ihrer Eskorte geführt hatte. »Und wenn ich deinen Kämpen schlage, bist du die meine ... habe ich das richtig verstanden?« 391
Valentyna schluckte hart. Nun wurde es gefährlich. »Ja, Sire.« »Dann bring ihn her«, erwiderte Celimus und machte eine ausladende Handbewegung. Als Valentyna seine Zuversicht wachsen sah, wünschte sie sich, Romen hätte diese List nie vorgeschlagen. Dieses Spiel sollte man mit diesem Mann nicht spielen. Das konnte sie in Celimus' dunklen, gierigen Augen sehen. Wyl beschlich das Gefühl, er befände sich erneut auf dem königlichen Turnier. Trotz der fehlenden Größe und Pracht, die in Morgravia vorgeherrscht hatten, empfand er diese schlichtere Version zu Ehren der Königin als ähnlich schicksalhaft. Er war zerstreut und nervös, weil er Celimus wieder gegenübertreten musste - nicht, weil er sich vor ihm fürchtete. Nein, er hatte mehr Angst davor, zu was er sich in der Hitze des Gefechts hinreißen lassen könnte, insbesondere da Valentyna nun sehr strikte Regeln für den Wettstreit zwischen dem König und dem Kämpen der Königin festgelegt hatte. »Romen, wie stark auch immer unsere persönliche Abneigung gegen diesen Mann sein mag, sie darf uns bei dem Ziel, das wir hier erreichen wollen, nicht im Weg stehen.« Er schwieg, und sie mochte den harten Zug um seinen Mund, den sie eigentlich so sehr liebte, nicht. »Lass uns eines klarstellen«, fuhr sie fort. »Wir wollen, dass er abreist, damit wir etwas Zeit gewinnen. Das hast du gesagt.« Wieder entgegnete er nichts, während er sein Schwert genau prüfte. Sie befanden sich in einem selten genutzten 391
Außengebäude, und Valentyna umrundete Wyl, halb verängstigt, halb wütend. Fynch, der zwischen den beiden gefangen war, hielt sich an Knave fest und beobachtete sie wachsam. Auch er war besorgt. Ihm gefiel die neue Wende nicht. Seit Tagesanbruch hatte er sich zusammen mit Romen in dem Steingebäude versteckt, das nahe des Turnierfelds lag, und die Anspannung hatte stetig zugenommen, bis die Königin von ihrem Ausritt zurückgekehrt war
und ihnen die Neuigkeit offenbart hatte. Wenn Romen den ganzen Morgen über verschlossen gewesen war, so versank er nun in eisige Stille. Sein Gesichtsausdruck war düster und hart, und die grauen Augen, die gewöhnlich glitzerten, wirkten leer. Jeglicher Humor war aus einem Antlitz verschwunden, das normalerweise davon strotzte. Valentyna akzeptierte, dass Romen über den Ausgang der Dinge beunruhigt, niedergeschmettert oder sogar bis ins Mark verzweifelt war. Auch sie quälte es, dass Celimus es klug eingefädelt hatte, allein mit ihr zu sprechen, aber das hatten sie vorhergesehen, hatten Ränke geschmiedet -und obschon der Plan in seiner Einfachheit beinahe kindisch wirkte, lag sicherlich nichts Kindisches in Romens ernster Miene. Etwas Unheilvolles lauerte dort. Was hatte er nur im Sinn? »Romen!« »Ja«, sagte er und reagierte endlich, blickte Valentyna jedoch nicht an. »Ich will hier und jetzt dein Versprechen.« »Was soll ich versprechen, meine Königin?« Sie umkreiste ihn immer noch und wusste nicht, ob sie ihn mutwillig zu verärgern suchte. Er sollte sie ansehen, sie anschreien, irgendetwas anderes tun als seelenruhig sein 392
Schwert zu reinigen. Obwohl Ruhe nicht das richtige Wort ist, oder?, dachte sie. Er befindet sich irgendwo, wo ich ihn nicht erreichen kann. Er distanziert sich absichtlich von mir.
»Zuallererst wirst du dort draußen nichts Dummes anstellen, zum Beispiel heute sterben. Versprich mir das.« »Das kann ich nicht versprechen, Majestät.« »Doch, das kannst du!«, fauchte sie, und ihre Stimme brach. »Denn ich werde kein Töten zulassen.« Fynch zitterte, aber Knave lehnte sein mächtiges und beruhigendes Gewicht gegen den Jungen. »Dann verspreche ich, heute nicht zu sterben«, sagte Wyl leise. »Warum glaube ich dir nicht?« Er sah sie mit so viel Kummer in den Augen an, dass sie sich wegdrehen musste. »Was soll ich sonst noch versprechen, Majestät?« Sie sammelte sich wieder, schlug jetzt ihren königlichen Tonfall an und befahl: »Ich fordere, dass du dem König während des gesamten Turniers nicht einmal die kleinste Wunde zufügst. Demütige ihn, so viel du willst, Romen, aber auf Briavels Boden wird kein morgravianisches Blut vergossen.« Er starrte sie an, und ihr Entschluss verfestigte sich. »Verstehst du das?«, fragte sie betont deutlich. »Ich verstehe und gebe dir mein Versprechen.« Erneut stieg ein Hauch von Zweifel in ihr auf. Er log. Davon war sie überzeugt. »Dann sehe ich dich auf dem Turnierfeld.« Er stand auf, verbeugte sich und drehte sich weg, doch sie trat zu ihm, und ohne sich um Fynchs Gegenwart zu kümmern, legte sie die Arme um Romens Hals und küsste ihn sanft auf den geschürzten Mund.
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»Nur wenige Stunden, Geliebter, und er ist verschwunden.« Der Blick in seinen Augen legte nahe, dass er ihr nicht glaubte. Romen entwand sich der Königin von Briavel und verneigte sich erneut, bevor sie das Gebäude verließ. 393
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LIRYK WAR BEEINDRUCKT von der Anzahl der Briavellianer, die nach Werryl gereist waren, um das Turnier zu verfolgen und einen Blick auf den gut aussehenden König zu erhaschen, der ihrer Königin den Hof machte. Die aufgeregte Menschenmenge sorgte für eine festliche Atmosphäre, die seit dem Hinscheiden von König Valor nicht mehr hatte aufkommen wollen. Dies würde dem Reich guttun, und er war froh, dass die Sicherheit für Valentyna und ihren königlichen Gast einwandfrei gewährleistet war. Jeder Anwesende war durchsucht worden, selbst die Männer der Legion. Niemand störte sich daran, sondern fügte sich einsichtig den Vorschriften. Der Nachmittag war bisher sehr unterhaltsam gewesen. Valentyna hatte einige höchst amüsante Wettkämpfe vorgeschlagen, die normalerweise nicht bei Turnieren zu finden waren, so auch den »eingefetteten Baumstamm«, bei dem die briavellianische Garde gegen die morgravianische Legion antrat, was für schallendes Gelächter sorgte, weil ein Soldat nach dem anderen kurzerhand im Palastmorast landete, nachdem sie von den rollenden, eingeölten Stämmen glitten. Major Belten hatte eingewilligt, auf einer riskanten Bank 393
zu sitzen - Teil einer raffinierten Vorrichtung, von Schreinern gefertigt, die vom Palast angeheuert worden waren -, die über demselben Brackwasser hing. Für einige Münzen konnten die Besucher Holzbälle aus einer gewissen Entfernung werfen und versuchen, den genauen Punkt - der ein Geheimnis war - zu treffen, der einen Hebel betätigen und den unglückseligen Major ins Wasser befördern würde. Alle Erträge würden als Almosen unter den Armen verteilt werden, und eine beträchtliche Summe kam zusammen, bevor Major Belten klitschnass wurde. Gelächter, Jubel und großer Spaß standen auf der Tageskarte neben gebratenem Fleisch und dem besten Bier des Südens, das in Briavel gebraut wurde. König Celimus bildete natürlich den Mittelpunkt des Geschehens, und die Briavellianer schienen trotz ihres guten Gedächtnisses entschlossen, ihm die Möglichkeit zu geben, sie zu beeindrucken, ihre Königin zu umwerben und ihnen Frieden und Eintracht zu bringen. Beides sehnten sie verzweifelt herbei. Valentyna hatte wieder ihr liebenswertes Lächeln aufgesetzt und darauf bestanden, an den Pferderennen teilzunehmen. Weder Liryk noch Krell hatten sie von ihrem Vorhaben abhalten können, und die Briavellianer waren kaum mehr zu bremsen, als sie sahen, dass ihre Königin in Reitkleidung erschien und sich zwischen den errötenden Soldaten einreihte, um beim Wettkampf anzutreten.
»Sie hat alles, was man sich nur wünschen kann«, flüsterte Liryk einem düster dreinblickenden Krell zu. »Fürwahr, mein Freund. Unsere Königin hat alles und noch viel mehr. Sie besitzt einen weichen Kern unter ihrer stählernen Schale. Sie ist besser als jeder Mann, denn sie 394
kann ihre weiblichen Vorzüge nutzen ... was viel wirksamer ist.« Der alte Soldat nickte gedankenvoll. Gebannt sahen sie zu und hielten den Atem an, als sich ihre Monarchin gefährlich weit von ihrem Pferd herablehnte, um bei jedem Wettbewerb, an dem sie teilnahm, die briavellianische Fahne zu ergreifen. Dies wurde natürlich mit tosendem Beifall von ihrem Volk aufgenommen, insbesondere da sie mit Freude gegen die Soldaten der morgravianischen Legion antrat. Der König lehnte es ab, an diesem besonderen Rennen teilzunehmen und gab als Begründung an, die Königin sei eine weit sattelfestere Teilnehmerin als er. Diese Galanterie ließ ihn bei den Briavellianern in ihrer Hochachtung noch weiter steigen. »Sie ist großartig«, hauchte Celimus Jessom zu, der ganz in seiner Nähe stand. »Bald wird sie mein sein«, fügte er lächelnd hinzu und winkte der jubelnden Menschenmenge zu. Celimus stellte jedoch sein Können beim Bogenschießen, Ringen und Zweikampf und einer Unzahl anderer Wettkämpfe unter Beweis, bei denen er jeden seiner Gegner überflügelte und stets den Sieg errang. Huldvoll nahm er seinen Applaus entgegen, und Jessom lächelte weiterhin wohlwollend. Alles schien sich prächtig zu entwickeln, glaubte der Berater des Königs. Celimus war in Hochstimmung, nachdem er so viele Bänder gewonnen hatte, die ihm stets von der König überreicht wurden. Und jedes Mal hatte er seine Lippen auf ihre Hand gepresst. Schließlich betrat der Zeremonienmeister die Bühne und bat um Ruhe. Es dauerte eine Weile, bis die glückliche, überschwängliche Menschenmenge verstummte. Nicht je 394
der konnte ihn hören, doch diejenigen, die ihm am nächsten standen, gaben den Kern seiner Rede in hastigem Flüsterton weiter. »Briavellianer«, begann er, »lasst uns dankbar sein, dass unser eigenes Reich und Morgravia endlich zusammengekommen sind und fröhliche Scheinwettkämpfe abhalten, anstatt tatsächlich gegeneinander in den Krieg zu ziehen.« Er hielt kurz inne, während lauter und tief empfundener Jubel erscholl. »Wir begrüßen unsere Freunde - und ich benutze das Wort nicht leichtfertig - aus Morgravia, die in Frieden zu uns gekommen sind, und ganz besonders heißen wir heute den morgravianischen Herrscher willkommen, der uns eine große Ehre erweist, indem er diese Reise in unser Land angetreten hat.« Er wartete erneut, bis der Applaus verebbte. »Ich muss wohl nicht besonders betonen, dass der erlauchte König Celimus mit seinem Besuch mehr im Sinn hat, als nur Bänder zu gewinnen.« Die Menschen kicherten wissend. »Und wir alle wünschen ihm bei seinem Vorhaben, die Hand unserer
kostbaren Königin Valentyna zu gewinnen, viel Erfolg - damit Frieden und Wohlstand in beiden Reichen herrsche.« An diesem Punkt brach die Menschenmenge in ohrenbetäubendes Geschrei aus, und der Zeremonienmeister erkannte, dass sie sich diesmal nicht so schnell beruhigen würden. Ein Blick zur Königin offenbarte, dass sie über ihre Rolle in dem Ganzen ein wenig verlegen war, so wie es sich gehörte. Er wartete geduldig ab, bis er schließlich wieder die Hand hob und nach Ruhe verlangte. »Allerdings muss sich unser gut aussehender König - wie das bei allen jungen Verehrern in Briavel üblich ist - erst noch das Recht erkämpfen, seine Auserwählte sein Eigen zu nennen.« Pfif 395
fe und lautes Klatschen folgten bei der Erinnerung an ihre hiesigen Bräuche. »Es spielt dabei keine Rolle, dass er ein Herrscher ist«, sagte er schelmisch und brachte jeden zum Lachen, »ganz zu schweigen der regierende Monarch unseres mächtigen Nachbarlandes.« Weitere Buhrufe erschollen. »In dieser Hinsicht gleicht er jedem anderen erwartungsvollen jungen Mann, der erpicht darauf ist, die schönste Frau im Reich zu heiraten.« Bei dieser unverblümten Rede errötete Valentyna. Sie hatte diese Freizügigkeit nicht gestattet, doch andererseits liebte es das Volk, und sie war froh, es nach einer solch schmerzhaften Zeit der Trauer wieder fröhlich zu sehen - obschon sie Liryk bitten würde, dass er den restlichen Tag über ein wachsames Auge auf den Alkoholkonsum des Zeremonienmeisters hatte. »Und deshalb hat Celimus, der tapfere König von Morgravia, zugestimmt, für das Recht zu kämpfen, unsere Königin seine Königin nennen zu dürfen.« Ein langes Raunen ging durch die Versammlung. Diese Wende war noch spannender, als sie sich das zuerst gedacht hatten. »Der König wird sich mit dem Kämpen der Königin um ihre Hand duellieren. Heißt unsere beiden Gegner gebührend willkommen!« Wyl lauschte der theatralischen Einführung des Zeremonienmeisters, und bei jedem seiner Worte spürte er, wie seine Wut immer höher kochte. Auf einmal fühlte er sich vollkommen leer. Celimus hatte ihm schon zu viel genommen. Und jetzt wollte er ihm auch noch Valentyna entreißen - die einzige Frau, die er jemals lieben könnte. Seine Gedanken hatten sich verdunkelt und mit bitterem Zorn und Trauer vermengt; die Gesichter von Ylena, Alyd, 395
Gueryn, Lothryn, Elspyth, Valor, Magnus und seinem eigenen Vater tauchten vor seinem geistigen Auge auf und verlangten nach Rache. »Mir gefällt das ganz und gar nicht, Wyl«, ermahnte ihn nun Fynch, der dem fieberhaften Jubel der Menge lauschte. »Du sollst mich nicht so nennen.« »Ich weiß, ich weiß. Was auch immer dir gerade im Kopf herumgeht, gefällt Knave ebenfalls nicht.« »Und Knave muss es ja wissen«, erwiderte Wyl sarkastisch. Dann sah er Fynch an und bekam Gewissensbisse, weil er so mit ihm gesprochen hatte. Nichts von allem war die Schuld des Jungen. Fynch war unschuldig, mutig und in dieses
Netz aus Verrat und Intrigen gezogen worden, wie Wasser, das einen Abfluss hinabrann. Und er litt darunter. »Es tut mir leid, Fynch. Ich wollte dich nicht verhöhnen. Auch ich habe akzeptiert, dass Knave mehr weiß, als wir uns eingestehen wollen. Keine weiteren Visionen?« Fynch schüttelte den Kopf. »Gut.« Doch Fynch ließ sich nicht so leicht ablenken. »Meine Instinkte sagen mir, dass das ein Fehler ist, Wyl.« Wyl ging in die Hocke, und Fynch konnte ihm direkt in die Augen sehen. Erstaunt betrachtete er den langweiligen schwarzen Helm, der das Gesicht seines Freundes verdeckte. »Es gibt keinen anderen Weg. Du musst mir vertrauen.« »Ich vertraue dir, Wyl. Aber ich vertraue Celimus nicht.« Der Junge vergrub die Hand in Knaves Fell, damit er auf keinen Fall zu weinen begänne. Er wollte jetzt nicht zusammenbrechen. 396
»Kopf hoch, Junge«, erwiderte Wyl, der sein Signal gehört hatte, um die Arena zu betreten. Ganz in Schwarz gekleidet, klappte Wyl sein Visier herunter und vervollständigte den geheimnisvollen Aufzug, unter dem er seine Identität verbarg. »Ihr beide lasst euch nicht sehen«, warnte er Fynch und fuhr ihm dann durchs Haar. »Ich bin gleich zurück, versprochen.« Als Wyl das Steingebäude verließ und in die Arena schritt, überkam Fynch das vertraute und angsterregende Gefühl, herumgewirbelt zu werden. Plötzlich schmerzte ihn sein Herz fürchterlich, und eine überwältigende Benommenheit packte ihn. Die Welt, die er kannte, wurde schwarz, als er Romen sah, der verblutete und schließlich starb. Dann hörte er eine Frauenstimme - es musste Valentynas sein, auch wenn er sie nicht erkannte -, aber die Stimme war weder verängstigt noch weinerlich, sondern flüsterte: Lass jetzt los. Stirb tapfer und leise.
Eine weitere Stimme hallte in seinem Kopf. Die eines Mannes: Es muss sein. Da verlor Fynch das Bewusstsein. Als er wieder zu Sinnen kam, war es schon zu spät. Wyl trat in die laute Atmosphäre der Arena, wo er Celimus erblickte, der bereits sein Schwert prüfte und die Luft durchschnitt. Als Celimus den Kämpen der Königin sah, vollführte er in gespielter Ehrerbietung seine eleganteste Verbeugung vor dem Krieger. Wyl reagierte nicht. Er brachte es kaum über sich, in das Gesicht zu schauen, das er derart hasste, und drehte sich stattdessen zu Valentyna um. Sie wirkte nervös, aber das fiel nur Wyl auf. Ihre johlenden Untertanen bemerkten lediglich ihr Strahlen und Lachen. 396
Trotz seiner düsteren, kochenden Stimmung war er stolz auf sie. Er verneigte sich vor ihr. »Ein Glücksbringer, Mylady?«, fragte er, und sie zog ein kunstvoll besticktes Seidentaschentuch hervor, das sie ihm reichte.
»Mein Vater schenkte es mir. Ihr müsst es ebenso in Ehren halten, wie ich das getan habe«, sagte sie laut genug, damit es alle hören konnten. Das Gebrüll der Menge war ohrenbetäubend. Als er es entgegennahm, küsste er ihre ausgestreckte Hand. Sie blickte ihm tief ins Visier und suchte nach seinen Augen, einem Zeichen, dass er sich an ihre Abmachung hielte. »Vergiss dein Versprechen nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und er sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Wyl drehte sich abrupt um und zog den Blick der Massen wieder auf sich und Celimus. Niemand durfte ihre Besorgnis erahnen - immerhin sollte dies hier ein fröhlicher Schaukampf sein. Aber einer Person entging es nicht. Jessom spürte das Unbehagen der Königin und sah ihre tränenverschleierten Augen. Er kam nicht umhin sich zu fragen, ob hier vor ihnen der wahre Grund stand, weshalb sich Valentyna Celimus gegenüber so distanziert gezeigt hatte. Darüber würde er sich später noch Gedanken machen. »Der Kämpe der Königin, nicht wahr?«, sagte Celimus scherzend, als Wyl zu ihm trat. Der Monarch genoss den heutigen Tag und vermutete, dass der Kerl in Schwarz ihm einen tapferen Kampf liefern würde, bis er dann - wie wahrscheinlich vorher abgesprochen - theatralisch verlieren und Morgravia das Recht auf eine Heirat zugestände. Nicht, dass ich Unterstützung brauchte, um gegen dich zu obsiegen, dachte der König, der sich schon auf den Kampf freute. 397
Schweigend zog Wyl sein Schwert mit dem bläulichen Stich aus der Scheide, wobei es ein leises klirrendes Geräusch von sich gab. Die Klinge war leicht und elegant und gab Wyl das Gefühl, als sei sie mit seiner Hand verwachsen. Er wünschte, er könne sie in diesem Augenblick in Celimus rammen und das falsche Lächeln aus dem attraktiven, hassenswerten Gesicht wischen. Er prüfte weder das Gewicht des Schwertes noch machte er Übungshiebe in die Luft. Wyl wusste bereits, dass es perfekt war. »Eine beeindruckende Waffe, Sir«, bemerkte Celimus. Wyl schwieg weiterhin und verbot sich, sich noch einmal zu Valentyna umzudrehen. Sein Blick galt allein dem König von Morgravia. »Ist er stumm, Majestät?«, erkundigte sich Celimus laut genug, um die Umstehenden zu belustigen, und alle brachen in heulendes Gelächter aus. »Nein, Sire«, antwortete sie. »Er spricht eine eigentümliche Sprache«, scherzte sie und flehte innerlich, dass dieser Mummenschanz endlich vorüberging. »Nun, vielleicht versteht er die Sprache des Schwertes besser?« Mit diesen Worten wirbelte Celimus, der gerade noch lässig dagestanden hatte, wie eine Katze herum und stieß zu. Doch Wyl war vorbereitet. Er hatte Celimus diesen Trick schon so viele Male bei ahnungslosen Gegnern anwenden sehen, dass er nicht nur darauf gewartet hatte, sondern den Schlag sogar mit Leichtigkeit und gespielter Nonchalance abwehrte. Die Menschen pfiffen beeindruckt und bejubelten ihren Kämpen. Celimus wollte ihm sein Tempo aufzwingen. Er stieß ein weiteres Mal zu und ließ rasch einen tiefen Schlag folgen. 397
Wiederum war Wyl vorbereitet. Er hatte zu oft auf dem Übungsgelände in Stoneheart gegen ihn gekämpft, um von einem solch offenkundigen Kunstgriff überrumpelt zu werden. Celimus nickte der Königin zu. Dann hatte er es eben mit einem fähigen Gegner zu tun. Vielleicht hatte sie diesen Kampf auch überhaupt nicht zum Vergnügen veranstaltet. Womöglich war sie immer noch unsicher, ob sie seinen Antrag annehmen sollte, und verbarg ihre Zurückhaltung mit diesem Wettstreit. Nun, sie hatten nicht den blassesten Schimmer, gegen wen sie diesen schwarzen Krieger antreten ließen. Niemand außer Wyl Thirsk hatte ihn jemals besiegt, und dieser Narr war längst vermodert. Er würde Briavel sein Können beweisen und seinen Preis einfordern. Der wahre Kampf konnte beginnen! Valentyna hielt den Atem an, wusste jedoch nicht, ob aus Angst, Wyl könne etwas zustoßen, oder einfach nur wegen der Schönheit, die diese beiden eleganten Schwertkämpfer ausstrahlten, während sie ihre meisterlichen Fähigkeiten zur Schau stellten. Nie zuvor hatte sie etwas Derartiges beobachtet. Jedem, der dem Kampf zuschaute, erging es ähnlich. Das Geschick der beiden Männer war hypnotisierend. Und was wie ein Theaterstück begleitet von den Jubelrufen und dem Freudengeschrei des Publikums begonnen hatte, verwandelte sich rasch in ein Duell voll berauschender Intensität, sodass die Stimmen der Zuschauer zu einem leisen Flüstern erstarben. »Sie sind Künstler«, murmelte die Königin Liryk zu, der neben ihr stand, als sie erneut bemerkte, wie wunderschön sich diese beiden Männer bewegten wie die anmutigen großen Wildkatzen des Waldes, die ihr Vater ihr einmal ge 398
zeigt hatte. Die Tiere waren in exotischerem Klima beheimatet, aber ein Paar war vor vielen Jahren nach Briavel verschifft worden, als Valentyna noch ein kleines Kind war. Sie waren wild und atemberaubend schön und hatten sich so geschmeidig bewegt wie das geschmolzene Gold, aus dem die Münzen des Königs in seinem Schatzhaus gegossen wurden, und bei deren Fertigung sie einst zugesehen hatte. »Sie sind einander ebenbürtig, Majestät«, gab Liryk zu, der ebenfalls ehrfürchtig war. »Keiner hat bisher die Oberhand gewonnen«, fügte er an, bevor er leise flüsterte: »Koreldy ist verblüffend.« Nur Liryk und Krell hatte Valentyna die geheime Identität ihres Kämpen verraten, und so sollte es auch bleiben. »Schsch!«, ermahnte sie ihn, doch obwohl sie innerlich frohlockte, ihn unter ihrer strengen Stimme zusammenzucken zu sehen, wollte sie dennoch ihre Warnung abmildern. »Es ist zu gefährlich für Romen, falls er entdeckt wird«, setzte sie wispernd hinzu. Der Soldat nickte verlegen. Celimus schwitzte leicht vor Anstrengung und von der warmen Nachmittagssonne. Dies hier dauerte länger als gedacht. Er hatte angenommen, es handele sich um einen lustigen Schaukampf, der die Menschen unterhalten und ihm die Gelegenheit bieten sollte, sich mit seinem
Geschick zu brüsten. Es gab niemanden, der seinem Können ebenbürtig war, und dennoch wehrte der vermummte Schwertkämpfer jeden seiner Schläge ab. Ein nagender Gedanke ließ Celimus nicht mehr los. Er konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren, da sein Gegner das Tempo auf einmal erhöhte. Auch das erinnerte ihn 399
an etwas Vertrautes. Was ist es? Der Tanz hatte einen düsteren Zug angenommen. Der schweigsame Mann ihm gegenüber, der mit solcher Hingabe kämpfte, hatte eine Lautlosigkeit und Ruhe an sich, die er zu kennen glaubte. Das ist es! Er glaubte, seinen Gegner zu kennen. Wohlbekannte Bewegungen und Schwerthiebe blitzten unter dem extravaganten Stil des Mannes auf. Verdammt noch mall, dachte Celimus. Er kämpft stellenweise wie der rothaarige Troll Wyl Thirsk. Und wäre der Mann nicht so hochgewachsen und schlank, hätte er es beinahe geglaubt. Verbissen kämpfte Wyl weiter und suchte nach einem Fehler in der Deckung seines Gegenübers. Ihm war nicht erlaubt, dem König eine Wunde zuzufügen, aber vielleicht konnte er ihm das Schwert aus der Hand schlagen. Was auch immer geschähe, er würde den Mann erniedrigen und ihn mit eingezogenem Schwanz nach Hause schicken. Celimus schwitzte jetzt deutlich. Der Kämpe der Königin war unerbittlich. Er gestattete dem König nicht länger, seine geschmeidigen Bewegungen zur Schau zu stellen, sondern ließ ihn auf seine eigenen Angriffe reagieren. Gerade hatte er das Tempo wieder erhöht, das nun dem eines echten Kampfes glich. Celimus spürte allmählich, wie ihm ein Anflug von Angst den Nacken emporkroch. Der Mann meinte es ernst und duellierte sich nicht zum Schein! Keine Posen oder eleganten Schwerthiebe mehr; kein Ausschauhalten nach Jubelrufen und dem Grinsen des Publikums. Der schwarze Kämpe wollte ihn schlagen, doch Celimus würde das nicht zulassen. Die Stille um sie herum war greifbar, und Celimus stöhnte bei jedem Schwertschlag. Je mehr er an den orangefarbe 399
nen Bastard dachte, der ihm beim königlichen Turnier so viel Schmach bereitet hatte, desto bemühter und stümperhafter wurde sein eigener Kampfstil. Wyl konnte unterdessen nichts weiter erkennen als die unscharfen Bewegungen des blauen Schwertes. Es kam ihm vor, als müsse er gar nichts sehen. Das Schwert wusste, wohin es zielen sollte, und er wurde eins damit. Jetzt könnte er Celimus töten. Der König war erschöpft vom vergangenen Abend und dem frühen Aufstehen. Wyl konnte seine Verärgerung spüren. Er wusste, dass der morgravianische Monarch gestern Nacht Bier und Wein getrunken und ausgiebig getanzt hatte. Das Gelage während des Banketts würde seinen Tribut fordern und Celimus neben der Nachmittagshitze ein weiterer Feind sein. Wyl konnte es beobachten. Der glitzernde Schweiß auf dem Gesicht des Königs nahm immer mehr zu. Er könnte ihn auf der Stelle umbringen und Valentyna und Briavel retten, vielleicht sogar einen Anspruch auf die Legion erheben. Es gab keinen Thronerben für Morgravia. Das Reich
würde eine Zeit lang aus dem Gleichgewicht kommen, bis es einen neuen Monarchen in einer der unzähligen Adelsfamilien gefunden hätte, der eine Blutsverwandtschaft mit der Krone aufwies. Und während Morgravia in Panik versetzt war, würde Briavel seine Stärke und Ruhe wiedergewinnen. Valentyna hätte genügend Zeit, sich in ihre neue Rolle einzugewöhnen und daran zu wachsen. Ja! Bring ihn um. Beende es jetzt, egal, was danach geschieht. Töte Celimus, befahl er sich selbst. Sein Zorn war flammend und überwältigend. Tief in sich fand Wyl Stille, und sein Schwert schimmerte bei all den schnellen und wilden Hieben, mit denen er 400
nun Celimus bestrafte, blau. Er hatte das Gefühl, als würde er mit der Stärke zweier Männer kämpfen. Seiner eigenen und der von Koreldy. Vielleicht sogar der von dreien oder vieren, wollte man Valor und Gueryn der Liste hinzufügen. Celimus blieb keine andere Wahl, als die tödlichen Schläge abzuwehren. Wyl bemerkte nicht, wie Valentyna hastig vom Podium, auf dem sich zwei Throne befanden, herabeilte. Er konnte nicht wissen, dass sie nun auf sie zulief, erschrocken und vollkommen überzeugt, dass Romen sein Versprechen brechen und morgravianisches Blut auf briavellianischem Boden vergießen wollte. Alles, was er durch den schmalen Schlitz seines Visiers sah, war Celimus, der nach Luft rang, und Augen, die vor Furcht entsetzt hin und her huschten, weil der nächste Schlag derjenige sein könnte, der sein Leben beendete. Der König versuchte, einen Scheinangriff auszuführen, aber wiederum kannte Wyl den Zug. Da Romens und seine eigenen Fähigkeiten nun vereint waren, gab es keinen Hieb und keine Finte, die er nicht schon im Voraus erwartete. Mit einer einzigen schnellen Handbewegung schaffte es Wyl, dem König das Schwert wegzuschlagen. Der Monarch von Morgravia fiel stolpernd zu Boden. Die blanke Angst blitzte in seinen wunderschönen dunklen Augen auf. Jetzt, sagten Wyl und Romen scheinbar wie aus einem Munde, während Wyl das blaue Schwert mit beiden Händen fest umschlossen hielt, bereit, es dem Verräter, Mörder, treulosen Tölpel, der über eine große Nation herrschte, in die Brust zu stoßen. Wyl riss das Schwert hoch über seinen unterwürfigen Gegner, der feige brüllte, und dann hörte er 400
ganz in seiner Nähe den hysterischen, spitzen Schrei einer Frau ... einer Frau, die er liebte, und die auf einmal vor ihm stand, schwer atmend und mit einem wilden Ausdruck in den Augen, einer Frau, die ihn anschrie. »Lügner!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Du Verräter! Wirf deine Waffe weg!« Es war, als sei Wyl bei der Anschuldigung aus einer Trance erwacht. Er taumelte zurück, ließ das Schwert los und stolperte fort. Blitzschnell war Celimus wieder auf den Beinen. Valentyna rang um Fassung, Tränen liefen ihr das Gesicht hinab. Celimus berührte sie sanft, um zu überprüfen, ob es ihr gut ging.
Wyl hasste ihn mehr als jemals zuvor in seinem Leben für diese Berührung, diese gespielte Besorgnis. Warum hatte nicht er daran gedacht, ihr diesen Trost zu spenden? Weil sie seine heimtückischen Hände fortgeschoben hätte, ermahnte er sich mit tiefstem Bedauern. Wyl konnte sich unter seinem Visier atmen hören - er hätte geschworen, dass er seinen eigenen pochenden Herzschlag in der Brust vernahm. Auf einmal war er von Wachen mit gezogenen Schwertern umzingelt. Zwei packten ihn an den Armen, aber er kämpfte nicht gegen sie an; er fühlte sich nutzlos, kraftlos. Er stellte nun keine Bedrohung mehr dar. Hätte sie mich meine Aufgabe doch nur beenden lassen! Trotz seiner Atemlosigkeit war Celimus angstbleich vor Wut. Sein Gesicht war immer noch aschfahl vor Todespanik. »Er wollte mich töten!«, brüllte er den briavellianischen Oberbefehlshaber und Kanzler an, die ihrer Königin zu Hilfe kamen. Jessom kam schlitternd bei seinem König zum Stehen. Valentyna wischte sich die Tränen fort und bot all ihre 401
verborgene Stärke auf, um die Fassung wiederzugewinnen, sich zu beruhigen und zu der Königin zu werden, die sie war. »Ich habe die Aggression bemerkt, Sire«, erwiderte sie. »Er wird natürlich bestraft werden.« »Aggression? Bestraft werden! Ich werde ihn auf der Stelle vor deinen Augen hinrichten lassen«, entrüstete sich Celimus. Valentyna warf ihrem königlichen Gast einen eisigen Blick zu. »In meinem Reich wirst du so etwas nicht tun, Majestät. Am heutigen Tag wird in Briavel kein Blut vergossen.« »Außer meinem!«, fauchte er, wobei ihm Spucke aus dem Mund flog. »Ich sehe keine Spur davon, Sire. Nur deinen Angstschweiß.« Ihre Worte trafen ihn tief. »Er muss hingerichtet werden«, wiederholte Celimus. Der sanfte Druck von Jessoms beruhigender Hand, die den meisten entging, ermahnte den aufgebrachten Monarchen, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »Ich bestehe darauf.« »König Celimus«, sagte Valentyna mit frostiger Stimme. »Ich allein habe die Befugnis, über seine Bestrafung zu urteilen. Bitte, zieht euch jetzt zurück.« »Ich verlange, sein Gesicht zu sehen!«, schrie Celimus. Totenstille senkte sich über Valentyna. Wut - derart unbändige Wut, die sie lediglich bei der Nachricht über den Tod ihres Vaters verspürt hatte - war in diesem Augenblick ihr Gebieter. Romen hatte sie betrogen. Trotz seiner Liebes-schwüre hatte er sich entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. Und dieser Weg führte nun von dem fort, auf dem sie stand. Ihre Liebe, erst so kurz entflammt, war befleckt. 401
Ein Gefühl des Verrats floss wie Gift durch ihre Adern zu ihrem Herzen. »Nehmt das Visier ab«, forderte Celimus, der allmählich ungeduldig wurde. Die Soldaten, die Wyl bewachten, blickten um Erlaubnis fragend zu ihrer Königin. Sie hatte keine andere Wahl. Die Sicherheit von Briavel hing nun davon ab, diesen gefährlichen König zu besänftigen. Romen musste die Folgen seiner eigenen Dummheit und seines Treuebruches spüren.
Sie nickte, und Wyls Herz setzte aus. Er hatte sie verloren. 402
CELIMUS, DER SEINEN TRIUMPH deutlich spüren konnte, trat vor und riss seinem schweigenden Gegner das Visier vom Kopf. Wyl versuchte sich später davon zu überzeugen, dass der Schock auf dem Antlitz seines Feindes den Verlust der Frau, die er liebte, wert war. Er zwang sich zu glauben, er habe gewonnen, und hob das Kinn, sodass Celimus einen guten Blick auf das vertraute Gesicht und das süffisante, selbstbewusste Lächeln bekam. »Hallo, Celimus.« »Du!«, brüllte der König, den Ungläubigkeit packte. Doch dann überraschte er alle, selbst Jessom, der seine Stimmungsschwankungen besser kannte als jeder andere, und brach in schallendes Gelächter aus. Es war laut und bösartig ... und für Valentyna vor allem verwirrend. Sie verstand die Welt nicht mehr. »Majestät?«, fragte sie mit einem scharfen Ton in der Stimme. »Vielleicht könntest du den Scherz erklären?« »O Valentyna, mein armes, einfältiges Kind«, sagte er und wischte sich die Tränen aus den Augen, ohne sich darum zu scheren, wie die Königin vor Wut schäumte oder dass er ihren Oberbefehlshaber und Kanzler mit seinen beleidigenden Worten schockiert hatte. »Es ist köstlich, einfach köstlich, dass dein Kämpe - derjenige, der dein Leben, 402
deine Jungfräulichkeit, deine Krone beschützen soll - niemand anderer ist als der dreckige Söldner, der deinen Vater vor nicht allzu langer Zeit mit einem Schwert durchbohrte.« »Wage ja nicht, meinen Vater mit ins Spiel zu bringen!«, warnte sie ihn zischend. Ihre Stimme war scharf wie ein Messer. »Doch nur, um dich zu beschützen, mein Unschuldslamm«, sagte er. »Dieser Mann ist Romen Koreldy, ein Söldner, der mit aufgehaltenen Händen zu mir kam und ein Vermögen in Gold verlangte. Er gab offen zu, der Mörder deines Vaters zu sein; er hat sogar gestanden, unseren General Wyl Thirsk auf dem Gewissen zu haben. Und dann hat er den Leichnam unseres Generals auch noch zurückgeschleppt, damit wir es mit eigenen Augen sehen konnten.« »Du lügnerische Schlange!«, beschimpfte Wyl den König, der dieses schreckliche Lügengespinst fabrizierte, und fühlte sich dennoch hilflos, als er das Entsetzen in Valentynas Gesicht sah. Die Königin spürte ein dumpfes Kribbeln an ihrem Hinterkopf, das blinden Zorn ankündigte. Sie erkannte es, obwohl sie es erst so wenige Male in ihrem Leben erfahren hatte. »Es ist die Wahrheit, Majestät. Er versuchte, einen Sack Gold von mir zu erpressen und lachte darüber, wie er deinen Vater umgebracht hat. Dann behauptete er, er habe den Weg für Morgravia freigeräumt, damit ich ein geschwächtes Briavel überrennen könnte.« »Ich werde dich umbringen ...« Was auch immer Wyl noch sagen wollte, wurde von einem starken Arm um seine Kehle abgeschnitten. 402
Celimus hatte nun vollständig die Kontrolle über sich zurückgewonnen. Das Lächeln war wieder da, während er sich mit einem Leinentuch den Schweiß vom Gesicht wischte. »Ich sage die Wahrheit, Valentyna. Er ist ein elender Erpresser. Ich habe ihn natürlich mit leeren Händen fortgeschickt und ihn gewarnt, ich würde ihn hängen, rädern und vierteilen lassen, falls er noch einmal einen Fuß auf morgravianischen Boden setzen sollte. Obwohl es traurig ist, so hat General Thirsk selbst Koreldy als Kommandanten für die Mission nach Briavel ausgewählt. Ich bin mir sicher, du hast davon gehört, dass zwischen Thirsk und mir gewisse Spannungen herrschten, aber zu diesem Zeitpunkt schafften wir gerade unsere Unstimmigkeiten aus der Welt. Denk darüber nach, Majestät - warum sollte ich einem Mann wie Thirsk den heiklen Auftrag erteilen, in meinem Namen um deine Hand anzuhalten, wenn ich ihm nicht uneingeschränkt vertraue? Er bestand darauf, seine eigenen, handverlesenen Männer um sich zu scharen. Ja, ich fand es damals eigenartig, dass er keine Männer der Legion auswählte, doch Thirsk bestand auf den Söldnern. Er überzeugte mich, dass es missgedeutet werden und Ärger hervorrufen könnte, wenn er einen Trupp der Legion nach Briavel mitnähme. Heute bereue ich diese Entscheidung zutiefst, aber wie hätte ich mir anmaßen können, die strategischen Fähigkeiten meines Generals anzuzweifeln?«, sagte er unschuldig. »Dieser Mann, Valentyna, dein Kämpe, ist ein Lügner. Er hat mich und Morgravia betrogen, und jetzt versucht er dasselbe bei dir. Lass ihn hinrichten!« Valentyna hatte dem König bedächtig gelauscht, während sie unter der scheinbar ruhigen Miene, die sie sich aufgezwungen hatte, vor Wut schäumte. Sie hörte die Lüge 403
in seiner Stimme, trotz seines beeindruckenden Versuchs, dies zu verbergen. Niemals könnte sie glauben, dass Wyl Thirsk unehrlich zu ihr gewesen war - sie hatte ihn getroffen und den Kummer in seiner Stimme bemerkt, als er seine Geschichte erzählte. Jetzt baute sich Valentyna zu voller Größe auf und presste die Hände aneinander, um sich davon abzuhalten, ihren blinden Zorn offen zu zeigen. »Soviel ich weiß, Celimus - jetzt, da wir darauf zu sprechen kommen -, hast du General Thirsks Tod veranlasst.« Ihre Worte fielen wie Eissplitter vor ihr herab, und Wyl war nur traurig, dass keiner der Männer aus der Legion nah genug stand, um dieses Gespräch mit anzuhören. Wie schade, dachte er. Es hätte alles verändern können. »Majestät«, erwiderte Celimus ebenso kühl, erwies ihr jedoch meisterhaft den gebührenden Respekt, den diese Wendung verlangte. »Ich bin überrascht, dass du davon erfahren hast, doch ich kann es nicht leugnen. Aber was du nicht wissen kannst, ist, dass General Wyl Thirsk an Wahnvorstellungen litt. Er bereitete sich darauf vor, Briavel den Krieg zu erklären.« »Was?«, schrien Valentyna und Wyl gleichzeitig. Sie warf ihren Wachen einen kurzen Blick zu, die Wyl nun fester packten. Er sollte schweigen, während die Monarchen sprachen. »Ja, Majestät«, fuhr Celimus fort, ohne auf Romen zu achten. »Wyl Thirsk war labil. Mein Vater wusste davon und hat mich gewarnt, aber unsere beiden
Familien verbindet eine solch lange Vergangenheit, dass ich mir meine eigene Meinung bilden wollte. Ich mochte Wyl, trotz unserer Meinungsverschiedenheiten.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin mit ihm aufgewachsen.« 404
Wyl ließ Schimpftiraden auf Celimus los, weshalb Valentyna ihn fortbringen ließ. Liryk blieb keine andere Wahl, als den Befehl zu geben, Romen abführen und ihn vorübergehend einsperren zu lassen. Valentyna schmerzte Romens Verrat bis ins Herz, und diese neue Information warf ein ganz neues Licht auf die Geschichte, die man ihr erzählt hatte. Sie musste alles hören. Sie gab ein Signal, und ihre Leute riefen einen neuen Wettkampf aus - Felsbrocken werfen -, an dem jeder starke Mann im Publikum teilnehmen durfte. Damit erzielte Valentyna die Ablenkung, die sie benötigte, und die Menschen zerstreuten sich allmählich, auch wenn sie immer noch fassungslos waren, wie der Wettbewerb verlaufen war - immerhin schien jetzt bewiesen, dass der Kämpe der Königin den Monarchen hatte verletzen wollen. Allerdings lenkte der Reichtum an dargebotenen Unterhaltungen sie schon bald wieder ab, und das beunruhigte und verwirrte Murmeln verklang. Erleichtert wandte sich Valentyna wieder der königlichen Gesellschaft zu. »Vielen Dank, Liryk. Ich werde nach Koreldy rufen lassen, wenn ich so weit bin«, sagte sie und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf den König. »Wir sollten unser Gespräch im Sonnenzimmer fortsetzen.« Sie drehte sich um und eilte fort. Celimus, der immer noch vor Wut schäumte, folgte zusammen mit Jessom. Krell bildete die Nachhut, hastete aber schon bald an die Spitze der königlichen Gruppe, um die Vorbereitungen für die Erfrischungen in die Wege zu leiten. Im Sonnenzimmer war die Stille erdrückend, während kühle Getränke gereicht wurden. Als sich alle Diener entfernt hatten, wandte sich Valen 404
tyna wieder an ihren königlichen Gast, doch in der Zwischenzeit hatte sich keinerlei Wärme in ihre Stimme geschlichen. Celimus verneigte sich und fuhr dann mit seiner sorgfältig gesponnenen Geschichte fort: »Ich war fest entschlossen, Wyl jede Chance zu geben, damit er seine Befähigung beweisen konnte, die Legion zu befehligen, Majestät. Wie schon gesagt, wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, aber ich respektierte seine Fähigkeiten und seine Position. Ich wollte, dass wir wie mein Vater und sein Vater vor uns zusammenarbeiten. Ich wählte ihn für diese heikle diplomatische Aufgabe aus, damit er vor dir und deinem Vater mein Anliegen vorbrächte ... derart hoch war mein Respekt für Wyl, trotz der Gerüchte.« Er lächelte sanft. »Ich wusste, dass ich bei unserem ersten Treffen in der Kindheit keinen besonderen Eindruck auf dich gemacht hatte, und wollte die Angelegenheit behutsam angehen ... eingedenk deines Zartgefühls.« »Wofür ich dir sehr dankbar bin, Sire«, sagte Valentyna scharf. »Was wolltest du noch über General Thirsk sagen?« »Nun, laut Romen Koreldy - und ich habe lediglich sein Wort, auf das ich mich stützen kann - verschlechterte sich der Zustand des Generals während der
Reise. Wyls Wahnvorstellungen setzten ein, und er redete davon, Valor töten zu müssen, bevor es zu spät sei.« Valentyna entschlüpfte ein leises Stöhnen. Konnte Fynch ebenfalls ein Verräter sein, der zur vorher abgesprochenen Zeit aus dem Abort stürzte? Celimus war sicher, sie jetzt in seinen Fängen zu haben. »Er sprach mit den anderen Männern, die er mitgenommen hatte.« 405
»Warum hast du nicht deine eigenen Soldaten geschickt?«, fragte sie streng. »Weil ich glaubte, es könne Schwierigkeiten hervorrufen. Wie ich bereits sagte, war mir klar, dass Morgravia und Briavel uralte Feinde sind, und ich wollte nicht, dass irgendetwas dieser wichtigen Verbindung im Wege stünde, und am wenigsten der Funke, der sich beim Anblick von Soldaten der Legion in Briavel entzünden könnte. Nach all unseren Diskussionen stimmte ich zu, Thirsk habe mit dem Anheuern der Söldner eine weise Entscheidung getroffen.« Sie nickte. In seinen Worten lag eine gewisse Logik. »Wir hatten schon früher von Romen Koreldy gehört. Er war ein beeindruckender Soldat und versicherte Thirsk, die anderen Männer in seinem Trupp seien vertrauenswürdig. Und ja, ich habe Romen mitgeschickt, damit er auf den General aufpasst. Falls Wyl etwas Gefährliches täte oder etwas, das Morgravia in den Augen Briavels kompromittieren würde, hatte er meine Erlaubnis, ihn unschädlich zu machen. Es war mein eigener Vater, der mich warnte, dass Wyl Thirsk unsere Armee nicht befehligen könne. Seit einer Hinrichtung, die vor ein paar Jahren stattfand, ist er schrecklich labil, Majestät. Dies hier ist vielleicht nicht die rechte Zeit oder ...« »Nein, wahrscheinlich nicht«, unterbrach sie ihn, wusste sie doch ganz genau, dass er auf Myrrens Hexenverbrennung anspielte. Er nickte, als er merkte, dass die Königin nicht an dem Verlauf von Wyls Verfall interessiert war. »Und?« Valentyna war entschlossen, den Kern seines Berichts zu hören. Celimus zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was zwi 405
sehen deinem Vater, dir und Wyl gesprochen wurde. Mir ist zu Ohren gekommen, Wyl habe Gerüchte in die Welt gesetzt, dass ich seinen Freund, Kommandant Donal, habe hinrichten lassen und seiner Schwester dasselbe Schicksal androhte.« Er täuschte ein verletztes Lachen vor. »Das ist lächerlich, Majestät. Ylena, Shar behüte sie, ist wie eine Schwester für mich und befindet sich gerade auf ihrem Familienlandsitz.« »Und der Kommandant?« »Donal ist meines Wissens an der nördlichen Grenze. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich diese Vernehmung gutheiße, Majestät.« Eine fast unmerkliche Drohung lag in seiner Stimme. Valentyna schürzte die Lippen. Sie musste die Oberhand in dieser Unterhaltung behalten, aber es wäre nicht einfach, weiter nachzuhaken, ob Donal lebte. »Dir ist bewusst, dass Koreldy die Behauptungen Thirsks bestätigt. Er sagte, er sei in deinen Gemächern gewesen und habe Donais Hinrichtung beigewohnt.«
»Er lügt, Majestät. Koreldy ist ein Betrüger, ein Hochstapler und ein Schurke der übelsten Sorte. Kennst du seine Vergangenheit?« Sie schüttelte den Kopf und erkannte auf einmal, dass sie sehr wenig über Romen wusste. »Nun, vielleicht solltest du dir die Mühe machen, sie ein wenig zu durchleuchten. Dann würdest du herausfinden, dass er sich durch seine diebischen Machenschaften beim Barbaren Cailech ein Kopfgeld eingehandelt hat. Und Koreldys Feigheit führte dazu, dass niemand Geringeres als sein älterer Bruder und seine Zwillingsschwester seinetwegen grausam hingerichtet wurden.« 406
Valentyna schluckte hart. Wem sollte sie nur vertrauen? Als Celimus die Königin erbleichen sah, erhöhte er den Druck. »Ich habe dies herausgefunden, indem ich meine familiären Beziehungen in Grenadyn spielen ließ. Morgravia bekam einen Bericht aus erster Hand, dass Koreldy miterlebt hat, wie sein Bruder und seine Schwester für seine Sünden leiden mussten. Cailech hätte ihr Leben verschont, das wurde mir jedenfalls erzählt, hätte sich Koreldy gestellt. Doch er sah ihnen lieber beim Sterben am Kreuz zu und stahl sich dann ohne mit der Wimper zu zucken davon. Angeblich blieb er einige Zeit lang in den Razors, landete schließlich jedoch in Morgravia und treibt sich jetzt anscheinend in Briavel herum, wo er dich in seinen Bann gezogen hat.« »Du hast Koreldy also die Erlaubnis erteilt, Thirsk zu töten?« »Ja. Was Koreldy auch sein mag, so ist er ein geschickter Schwertkämpfer und befehligte die anderen Söldner. Ohne ihn waren sie einfach nur ein gefährlicher Mob. Ich habe ihm dieses Recht allerdings nur gestattet, falls Wyl etwas täte, das Morgravia zum Nachteil gereichte. Und das trat ein. Er drohte, deinen Vater bei der erstbesten Gelegenheit umzubringen. Die Behauptung, die Söldner hätten den König getötet, ist gelogen, Majestät.« »Wie kannst du das wissen, wenn du gar nicht dabei warst?« »Weil einer von ihnen entkam und mir die Wahrheit erzählte«, log er geschmeidig, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. »Das ist mir neu. Was hat der Mann gesehen, was weiß er?« 406
»Koreldy tötete Thirsk und auch Valor, um Unruhe zwischen den zwei Reichen zu stiften. Sein Ziel war, von uns beiden Gold zu bekommen. Von mir durch Erpressung. Er meinte, er würde dir eine Lüge auftischen, die du ihm mühelos abkaufen würdest, und dir dann Geld für das falsche Versprechen des Schutzes abknöpfen. Er hat also von uns beiden etwas erhalten, Majestät. Er ist skrupellos. Er kennt keinerlei Treue, nicht einmal Grenadyn gegenüber. Ich glaubte ihm, als er mich bedrohte. Die Situation zwischen uns war so heikel, dass ich es nicht riskieren konnte, wäre er mit der Lüge, ich habe den Tod deines Vaters geplant, nach Briavel gekommen. Also habe ich ihn bezahlt. Ich wünsche doch nur Frieden für unsere Region. Und ich konnte nicht wagen, ihn auf morgravianischem Boden zu töten, da ich keinen Beweis hatte, welche Lügengeschichten er dir bereits bei seiner Mission mit Thirsk erzählt haben mochte. Er ist kein vertrauenswürdiger Mann, Majestät. Deshalb bin ich kurz
danach persönlich nach Briavel aufgebrochen. Ich musste meine Hingabe für den Frieden und unsere Verbindung beweisen.« Geschickt gemacht, dachte Jessom, wenn auch zu langatmig. »Aber Koreldy hat es zurück nach Briavel geschafft«, sagte sie knapp. Celimus nickte. »Er ist uns entkommen, und wir haben seine Spur im Norden verloren. Ich habe einen Mann namens Jerico losgeschickt, damit er ihn ausfindig macht, aber Koreldy hat ihn umgebracht und mir Jericos Kopf geschickt, als höhnische Verspottung, dass ich ihn nicht fangen kann. In seinem Brief stand, er würde Briavel und Morgravia wie angedroht Probleme bereiten, doch ich habe nicht begriffen, dass es schon so bald eintreten würde. Ich 407
bedauere zutiefst, dass du auf diesen Kerl hereingefallen bist. Er hatte es wohl darauf abgesehen, mich heute zu töten, um seine Drohung in Bezug auf den Krieg zwischen unseren Ländern wahr werden zu lassen, Majestät.« »Weshalb?« »Wahrscheinlich, weil ich die Goldzahlungen eingestellt habe. Zuerst blieb mir keine andere Wahl, als seinen Forderungen nachzukommen, denn er war gefährlich, doch dann verlangte er immer größere Summen. Daraufhin habe ich Jerico auf ihn angesetzt.« Sie atmete tief ein. Es war zu viel. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. »König Celimus, ich kenne nun deine Position in all den Vorkommnissen und bitte dich um dein Verständnis und deine Geduld.« Er verstand sie nicht ganz. »Was hast du mit Koreldy vor?« »Ich muss über alles nachdenken, was du mir erzählt hast, bevor ich eine Entscheidung treffen kann. Bitte, Sire, ich bin nicht länger in der Lage, unsere diplomatischen Gespräche fortzusetzen. Ich benötige etwas Zeit, um gewisse innenpolitische Angelegenheiten zu klären, die dieses dramatische Ereignis herbeigerufen haben. Nimm bitte meine zutiefst empfundene Entschuldigung an, dass du diese fruchtlose Reise hierher antreten musstest.« Celimus konnte nicht glauben, sie in diesem Moment verloren zu haben. Allerdings spürte er, dass ihr Entschluss feststand. Etwas in ihrem Tonfall und an ihrem zusammengekniffenen Mund sagte ihm, es gäbe keine weiteren Gespräche zum Thema Heirat, bis diese Angelegenheit vollständig aufgeklärt wäre. Verdammter Romen Koreldy Ihm blieb in diesem Augenblick keine andere 407
Wahl, als ihre liebenswürdige Entschuldigung anzunehmen. Jessom flüsterte ihm genau die gleichen Gedanken ins Ohr. »Es ist besser, jetzt ihre Dankbarkeit zu verdienen und ihre Hand später zu gewinnen, als das gesamte Wohlwollen, das sie uns bisher entgegengebracht hat, zu verlieren.« Celimus räusperte sich und nickte. »Selbstverständlich, Majestät. Mein Berater hat mir gerade berichtet, dass wir zurück in Morgravia erwartet werden Schwierigkeiten im Norden. Cailech wird wagemutig, und wir müssen zusammen gegen den Barbaren antreten. Wir werden zu einem anderen Zeitpunkt weiterreden.« Er ergriff ihre Hand und fügte ernst hinzu: »Dir ist hoffentlich bewusst, dass Harmonie für unsere Reiche am besten erlangt werden kann, wenn du und ich uns in jeder Hinsicht vereinen. Wir allein können den Ton für
unseren zukünftigen Erfolg angeben und den Frieden für unsere Kinder sichern.« Er hatte natürlich recht, aber sie war dennoch erleichtert, dass er ohne großen Widerspruch gehen würde. »Vielen Dank, Sire.« »Wir werden die Vorbereitungen für unsere Abreise treffen«, sagte er und verbeugte sich höflich. »Vielleicht wärst du so gütig, mich über die Ereignisse bezüglich Romen Koreldy auf dem Laufenden zu halten. Er wird gefangen genommen und als Verräter hingerichtet, falls er nochmals einen Fuß auf morgravianischen Boden setzt. Ich schlage vor, dass du dasselbe für Briavel in Betracht ziehst.« »Ich werde über alles, was ich erfahren habe, gebührend nachdenken, Mylord, und ja, sicherlich werde ich dich von dem Ausgang unterrichten.« Er durfte nun ihre Hand küssen. »Du warst sehr verständnisvoll, Sire.« 408
»Alles Gute, Valentyna. Ich warte geduldig deine Zwangslage ab, harre jedoch gespannt deiner Entscheidung.« Valentyna nickte. »Wir werden uns bald sprechen«, sagte sie und freute sich, dass er und sein Gefolge bald fort wären und sie dem Unheil gegenübertreten könnte, das sich vor ihr zusammenbraute. »Ich werde dich in Bälde verabschieden, Mylord.« Celimus zog sich, gefolgt von Jessom, zurück. Außer Hörweite der Königin ließ er seiner Wut freien Lauf. »Wenn Koreldy nicht durch ihr königliches Urteil hingerichtet wird, will ich, dass unser Auftragsmörder eingreift und ihn erledigt, und zwar sofort! Der Finger mit seinem Siegelring soll mir innerhalb einer Woche überbracht werden, verstehst du mich?« »Es ist so gut wie erledigt, Sire.« Als Fynch das Bewusstsein zurückerlangte, ausgedörrt und durcheinander, waren die festlichen Geräusche des Turniers verschwunden. Es herrschte vollkommene Stille, und sie klang unheilvoll. Er schüttelte den Kopf, doch die dumpfen Kopfschmerzen waren immer noch da, und er erinnerte sich an das, was er in seiner Vision gesehen hatte, bevor er in Ohnmacht gefallen war. Sie beunruhigte ihn aufs Neue. Er eilte aus dem Gebäude und erbrach sich bei der Erinnerung an den toten Romen in die Büsche. Knave war nirgends zu sehen. Fynch rannte zum Palastbrunnen und zog einen Eimer Wasser hoch, das er sich ins Gesicht spritzte und mit dem er sich den Mund ausspülte, um sich ein wenig zu erfrischen. Tropfend und nur geringfügig weniger verstört, machte er sich auf die Suche nach seinen Freunden. 408
Es war einer der Pagen, der ihn schließlich fand. »Na endlich, Fynch. Sie suchen dich schon überall.« »Wer?« »Die Leute Ihrer Majestät. Ich weiß nicht, was sie von dir wollen, aber heute Nachmittag war hier die Hölle los.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Koreldy wurde als Verräter gebrandmarkt.« »Was?« Fynch spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
»So wahr ich hier stehe«, erklärte der Junge, und seine Augen funkelten vor gespannter Neugierde. »Sie verkündet gerade das Urteil. Er kann von Glück sprechen, wenn er mit dem Leben davonkommt. Das sagt man jedenfalls.« Fynch verschwendete keine Zeit, um sich noch mehr anzuhören. Er rannte los und wünschte verzweifelt, Knave wäre in seiner Nähe, da der Hund immer wusste, wo er Wyl finden konnte. Aber er hatte nicht daran gedacht, den Pagen danach zu fragen. Knave war bereits bei Wyl; war ihm nicht mehr von der Seite gewichen, seit Wyl zum Wachhaus gekarrt worden war, wo er sein Schicksal erwartete. Wyl hatte angenommen, länger ausharren zu müssen, doch es schien, dass Valentyna rasch zu einer Entscheidung gekommen war. Gerade war er in den Großen Saal gebracht worden. Plötzliche Stille legte sich über die lange Halle, als er mit verbundenen Händen zu einem Stuhl vor dem Thron geführt wurde. Er saß nun mutlos da, ohne sich darum zu scheren, die Adligen, Würdenträger oder Berater anzublicken, die alle gespannt warteten. Die Atmosphäre war unheilschwanger, und eine eisige Trostlosigkeit, ähnlich der, die Wyl zum ers 409
ten Mal im Kerker von Stoneheart kurz vor Myrrens Folter verspürte hatte, überwältigte ihn. Für die Zuschauer war es eine andere Anspannung - eine erwartungsvolle Vorahnung, gepaart mit leisem Raunen. Liryk trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Koreldy«, murmelte er und ging weiter. Wyl war nicht sicher, weshalb sich der Mann entschuldigte, erahnte es aber. Auch Krell kam vorbei, und Wyl nickte ihm zu. Der Kanzler besaß den Großmut, stehen zu bleiben. »Kanzler Krell, ich ...« »Schsch, Koreldy. Uns ist der Umgang mit Euch verboten. Jeder in diesem Saal hier wurde als Zeuge eingeladen. Sie sind bereits kurz darüber informiert worden, was vorgefallen ist, obwohl die meisten es sowieso mit eigenen Augen gesehen haben.« Der Mann verzog den Mund, doch sein Gesichtsausdruck war schon vorher ergrimmt gewesen. Dann nickte er und verschwand. Es gab nichts weiter zu sagen. Niemand sonst hatte viel mit ihm geredet, abgesehen von den Wachen, die ein paar notwendige Worte an ihn gerichtet hatten. Er war dankbar, dass Knave bei ihm im Wachhaus hatte bleiben dürfen, aber wo der Hund jetzt war, wusste er nicht. Hoffentlich bei Fynch. Er fragte sich, wo der Junge war und betete, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, ein gutes Wort für ihn bei der Königin einzulegen. Er merkte, dass seine Hoffnungen vergeblich waren, als die Hörner erklangen, eine Stimme »Erhebt Euch für Ihre Majestät« rief und er ihre eiskalte Ruhe bemerkte. Alle Anwesenden verbeugten sich tief, während Valentyna den Saal betrat. Als sich Wyl erhob und lang in das 409
Gesicht blickte, das er liebte, sah er eine Unnahbarkeit darin, die ihm das Herz gefrieren ließ. Er sah nicht nur Traurigkeit oder Enttäuschung, sondern erbitterten Zorn. Erst jetzt begann er, sich die schrecklichen Lügen vorzu-
stellen, die Celimus gesponnen haben musste, um Valentyna gegen Koreldy aufzuhetzen. Wyl wurde übel, und er sah weg. Er war nicht mehr an dem Prozess interessiert, der sein Schicksal besiegeln würde. Er hatte Valentyna verloren - das war offenkundig. Nichts anderes spielte nun noch eine Rolle. Wie Krell erwähnt hatte, waren die anwesenden Adligen bereits vor der Ankunft des Gefangenen kurz unterrichtet worden. Darum befahl die Königin ihm ohne Umschweife und mit klarer, fester Stimme, sich vor ihr aufzustellen. Wyl erhob sich und trat mit blutendem Herzen vor Briavels Herrscherin, die mit eisiger Kühle von dem flachen Podest zu ihm herabblickte. Er verneigte sich. »Meine Königin«, sagte er, doch sie beachtete ihn nicht. »Romen Koreldy, Ihr steht hier vor uns und werdet angeklagt, das Vertrauen der briavellianischen Krone missbraucht zu haben. Mir sind verstörende Berichte über Eure heimlichen Machenschaften zu Ohren gekommen, die ich zwar nicht untermauern kann, die mich jedoch mit einer Angst erfüllen, die ich nie zuvor gekannt habe. Dennoch werden wir Euch nicht hinrichten, Koreldy, wie das der Herrscher von Morgravia wünscht. Briavel lässt Gnade walten, denn ohne einen Beweis Eurer Schuld kann ich Euch nicht zum Tode verurteilen. Gleichzeitig kann ich aber Eure Anwesenheit innerhalb unserer Grenzen nicht länger dulden. Für Euren heutigen Verrat werdet Ihr des 410
Landes verwiesen und von meiner Garde zur briavellianischen Grenze begleitet.« Sie hielt nur kurz inne, um ihn anzusehen, doch er starrte zu Boden, weshalb sie fortfuhr: »Ihr mögt wählen, wo Ihr Morgravia betreten wollt. Natürlich könnt Ihr auch Euer Glück zu See im Süden wagen, im Norden in die Razors oder sogar weiter nach Osten in unbekanntes Gebiet vordringen. Wir interessieren uns nicht für Eure Wahl, obwohl ich Euch warnen sollte, dass König Celimus Euch gefangen nehmen und hinrichten lässt, sobald Ihr in Morgravia gesichtet werdet.« Dieses Mal sah sie ihn direkt an, und ihr Blick ruhte lang und traurig auf seinem gesenkten Haupt. »Shar möge uns von Eurem Anblick so schnell wie möglich befreien, Koreldy. Briavel wäscht seine Hände rein, was Euch und Euren Schandfleck betrifft.« Wyl spürte, wie sich sein Körper vor Verzweiflung verkrampfte, doch es gab nichts zu sagen, nichts zu gewinnen durch sinnloses, unterwürfiges Klagen. Er konnte das Gegenteil nicht beweisen und war durch die Lügen des Königs erneut in die Enge getrieben worden. Und obschon es ein schwacher Trost war, dass Valentyna nicht vollkommen mit Celimus' Sicht der Dinge übereinstimmte, gab es keinen Zweifel über ihr Verlangen, dass er von hier verschwand ... und aus ihrem Leben. Während er nach den richtigen Worten suchte, gab es einen plötzlichen Tumult, der die Stille durchbrach. Es war Fynch, der durch eine Geheimtür in den Großen Saal stürzte. »Nein, Majestät! Nein!«, rief er. Laute, einstimmige Empörung brach aus den Anwesenden hervor, die empört waren, dass ein Kind den Prozess störte. Doch die Königin hob die Hand und bat um Ruhe.
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»Fynch«, erwiderte sie sanft und brach mit dem Protokoll, indem sie ihn während dieses kritischen Augenblicks überhaupt ansprach. »Es ist zu spät.« »Nein, Valentyna!«, schrie er und ignorierte das wütende Gemurmel über die vertrauliche Anrede. »Du verstehst ihn nicht.« Er rannte zu ihr. »Nein, das tue ich nicht«, sagte sie, neigte jedoch leicht den Kopf, um in das tränenüberströmte Gesicht des Jungen zu sehen, der ihr ein solch guter Freund gewesen war. Werde ich ihn nun auch verlieren? »Aber er muss gehen. Ich kann ihn keinen Moment länger als nötig in unserer Gegenwart ertragen.« »Majestät«, flehte Fynch. »Das ist nicht Romen Koreldy... das ist...« »Fynch!«, rief Wyl. »Lass es gut sein, Junge.« Sie alle beobachteten den zerzausten Knaben, während sein Gesicht eine Fülle an Emotionen zeigte und dann bei etwas verharrte, das zwischen Hass und Verzweiflung lag. »Lass uns gehen, Junge«, murmelte Liryk und geleitete ihn aus dem Großen Saal. »Komm, Knave«, sagte Fynch. »Hier ist kein Platz für uns.« Fynch drehte sich nicht um und würde immer bereuen, kein einziges Wort des Abschieds für den Mann namens Romen Koreldy über die Lippen gebracht zu haben. 411
E PILOG
WYL SPÜRTE LIRYKS BEDAUERN, der sich der Vier-Mann-Eskorte anschloss, die ihn zur briavellianischen Grenze begleitete. Einer der Männer bildete stets die Nachhut und zielte mit einer Armbrust auf Koreldys Rücken. Alle wussten, dass die Waffe unnötig war; dennoch gingen sie kein Risiko ein. Sie hatten ihm keine weitere Gelegenheit geboten, mit Fynch oder sonst jemandem aus dem Palast zu reden, abgesehen von Stewyt, der ein Bündel mit Kleidung geschnürt hatte, das Wyl gehörte. Das Pferd, auf dem er ritt, konnte er behalten und es war, so sagte man ihm, eigens von Ihrer Majestät ausgesucht worden - ihr letzter Akt der Güte ihm gegenüber. Es war eine lohfarbene Stute. Er hatte sie einmal in den Ställen bewundert - es kam ihm vor, als seien seit diesem Vorfall Jahrzehnte vergangen. Aber Valentyna hatte es nicht vergessen. Er wünschte, er könnte mehr in diese Geste hineinlesen, doch als er sich an ihren eisigen Blick aus plötzlich kalten blauen Augen erinnerte, wusste er, dass sie nicht einmal mehr Freunde waren. Ihre Großzügigkeit war lediglich die Bezahlung für seine Dienste. Jetzt wollte sie ihn nicht mehr in ihrem Reich haben. Die Satteltaschen waren prall gefüllt mit Nahrung und Vorräten. Sei 411
ne Waffen befanden sich, festgeschnallt am Pferd des älteren Mannes, in Liryks Obhut, bis der Moment gekommen wäre, in dem es der Oberbefehlshaber für angebracht hielt, sie dem entehrten Gefangenen zurückzugeben. Was die Königin betraf, so war sie nach dem Verkünden des Urteils aus dem Saal geeilt, ohne Wyl auch nur eines letzten Blickes zu würdigen. Sie hatte ihm
eindeutig zu verstehen gegeben, dass Briavel in Bezug auf den Gefangenen seine Hände in Unschuld wusch. Er ritt in trostloser Stille, ohne seine Begleiter zu beachten; düstere Gedanken waren seine einzigen Gefährten. Es war früher Abend, als sie ohne die feste Absicht, vor Einbruch der Dämmerung noch eine weite Strecke zurücklegen zu können, aufbrachen - bestenfalls würden sie es bis Crowyll schaffen, das zehn Meilen von Werryl entfernt lag. Es war Valentyna wichtig gewesen, dass er augenblicklich aus dem Palast geschafft wurde. Und Wyl hatte das Gefühl, als würde ihm sowieso nichts mehr etwas ausmachen. Sollte der Soldat, der hinter ihm ritt, aus Versehen den Bolzen abschießen, wäre es womöglich sogar das willkommene Ende seines quälenden Kummers über den Vertrauensverlust seiner einzigen Liebe. Allein der Gedanke an Ylenas Sicherheit und das Bedürfnis, bei Fynch Wiedergutmachung zu leisten, ermutigten ihn, am Leben zu bleiben. Er wurde aus seinen herum wirbelnden Gedanken gerissen. Die anderen Reiter waren ein Stück zurückgefallen, bemerkte er gedankenverloren, und nur noch Liryk war an seiner Seite. »Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Wyl in die Stille hinein. »Die Tat ist von einem Verbrecher namens Arkol verübt worden - und er war ebenfalls von Celimus geschickt.« 412
Der Soldat wusste augenblicklich, wovon er sprach. »Aber Ihr könnt es nicht beweisen«, erwiderte Liryk, »was unser Dilemma ist.« »Und dennoch glaubt Ihr dem morgravianischen König?« »Öffentlich habe ich keine andere Wahl. Aber ich persönlich, Koreldy, möchte nicht glauben, dass Ihr König Valor ermordet habt, und nur für Euren Seelenfrieden - wenn es so etwas gibt - glaubt das auch unsere Königin nicht.« »Warum dann ...« Der ältere Mann schnitt ihm das Wort ab. »Was Ihr auf dem Turnierplatz heute veranstaltet habt, hat Eure Vertrautheit mit Briavel bei Weitem überschritten. Es war gleichbedeutend mit Krieg zwischen den beiden Reichen. Hätten wir Euch für eine solche Kränkung, die Ihr unserem königlichen Besuch zugefügt habt, nicht bestraft, wären wir das Risiko eingegangen, Celimus' persönlichen Zorn gegen Ihre Majestät aufzubringen. Versteht Ihr das nicht, Mann! Wir sind nicht in der Lage, so bald schon wieder gegen Morgravia in die Schlacht zu ziehen. Wir befinden uns hier auf einem steilen Abhang. Ein falscher Schritt, und wir könnten in die düstersten Zeiten fallen.« Wyl wusste, dass Liryk recht hatte. Er hatte die Folgen gekannt, noch bevor er in böswilliger Absicht auf den Turnierplatz getreten war. Und er vermutete, dass ihm Valentyna, die ihm seine Versprechen abgerungen hatte, nie wirklich vertraute. Sie hatte geahnt, dass er die Chance nutzen würde, den morgravianischen König zu verletzen. »Weshalb konnte sie nicht sagen, dass sie mich für unschuldig hält?« Wehmut lag in seiner Stimme. »Weil sie immer noch nicht davon überzeugt ist, dass Ihr 412
Thirsk nicht kaltblütig umgebracht habt... und um ehrlich zu sein, bin ich das ebenfalls nicht! Was auch immer Thirsk war, so war er nach allem, was man gehört hat, ein ehrlicher Mensch - wie sein Vater, den ich persönlich kannte. Feind oder nicht, Mord ist nicht die briavellianische Art, und Thirsk kam in Frieden.« Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Briavel verbannte ihn um Wyl Thirsks willen. Wenn sie nur wüssten! »Aber heutzutage ist Mord die morgravianische Art, und Ihr und Eure Königin werdet schnell lernen müssen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen ... oder Ihr seid verloren«, warnte Wyl ihn verärgert. »Lasst das unsere Sorge sein. Ihr habt Glück, überhaupt mit Eurem Leben davongekommen zu sein, Koreldy. Celimus verlangt nach Eurem Blut.« »Seine Drohungen lassen mich kalt. Alles, was ich weiß, ist, dass er Valentynas Verstand korrumpiert hat. Richtet ihr das von mir aus. Fleht sie an, ihm nicht zu vertrauen. Ihn nicht zu heiraten.« »Das werde ich nicht tun. Ihr wisst, dass ich diese Heirat unterstütze, damit wir endlich Frieden schließen.« »Nun, da täuscht Ihr Euch! Celimus will Briavel, nicht den Frieden. Er wird Euch geradewegs in einen Krieg gegen Cailech stürzen, das steht fest.« »Wie könnt Ihr das wissen?« »Weil ich ihn so viel besser kenne, als Ihr denkt«, sagte Wyl verzweifelt. »Er wird sie heiraten und mit Verachtung behandeln. Er wird sie zerstören ... und Briavel.« »Hört auf, Koreldy! Das muss ich mir nicht länger anhören. Wir nähern uns Crowyll, wo wir nächtigen werden. Ihr 413
solltet Euren letzten Abend in einem bequemen Bett genießen. Danach wird Euch als Matratze nur noch Gras dienen, bis wir die Grenze erreichen.« Wyl schwieg; seine Enttäuschung war überwältigend. »Irgendeine Vorliebe, was den Gasthof betrifft?«, fragte Liryk wieder freundlicher. Wyl hegte keinen Groll gegen Liryk, der ein guter Mann war. »Wie wäre es mit der Verbotenen Frucht?«, schlug Wyl scherzhaft vor, als er sich an Hildyth erinnerte. »Aha, also habt Ihr der Dame doch ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt«, erwiderte der alte Soldat und überraschte ihn. »Ja, warum nicht. Wir können es uns wohl leisten, einen Verbannten einen letzten Blick auf das gute Leben erhaschen zu lassen.« Er lachte. »Nebenbei bemerkt, in welche Richtung werden wir morgen aufbrechen?« »Morgravia, wohin sonst?«, sagte Wyl mit harter Stimme. Liryk rief Wyl ins Gedächtnis, dass er bewacht werden würde. »Keine Sorge, ich werde nichts Unüberlegtes tun.« Liryk nickte. »Gut. Das solltet Ihr auch nicht, um Eurer selbst willen. Meine Männer haben den Befehl, Euch zu töten, falls Ihr zu fliehen versucht, und es würde mir nicht gefallen, Euch als Leichnam zu sehen, wo wir uns so große Mühe gegeben haben, Euch am Leben zu erhalten.«
»Steigen wir alle hier ab?« »Es gibt auch normale Zimmer zu mieten, also ja, aber nicht alle werden in den Genuss der angebotenen Spezialitäten kommen. Ihr, mein Freund, müsst Euch jedoch keinen Zwang antun. Es ist eine Art Abschiedsgeschenk von mir. Ich hoffe, Ihr findet Vergnügen daran.« 414
Wyl rang sich für den älteren Mann den Hauch eines Lächelns ab. Es fiel ihm schwer, Liryk nicht zu mögen. »Und Ihr?« »Nicht heute Nacht, mein Sohn«, erwiderte er, und sein Blick flog hinter Wyl. »Ah, hier ist sie ja schon. Wenn ich mich nicht täusche, werdet Ihr sie Euch wohl kein zweites Mal entgehen lassen, Koreldy?« Wyl drehte sich um und wusste, dass Hildyth auf sie zuschritt. Er behielt recht. Sie wirkte etwas überrascht, ihn zu sehen - er konnte allerdings nicht sagen, was ihr verwirrter Gesichtsausdruck bedeutete. Dennoch verschwendete er keinen weiteren Gedanken daran, sondern richtete sein Augenmerk trotz seiner düsteren Stimmung darauf, wie ungemein begehrenswert sie in dem Rüschenkleid aus weißem Voile aussah. Es war durchsichtig, doch geschickte Falten des Stoffes schmiegten sich perfekt an die Stellen ihres Körpers, die sie verbergen und mit denen sie ihre Gäste aufreizen wollte. Ihr Haar, das kürzer geschnitten war als das jeder anderen Frau, die Wyl kannte, kam ihm erneut ungewöhnlich vor, und trotzdem stand es ihr ausgezeichnet. Es rahmte ihr kantiges Gesicht über den sehr breiten und eckigen Schultern ein, die nackt waren. Sie lächelte, und wiederum erinnerte die Frau ihn an eine Katze - doch dieses Mal eine, die den Vogel gefressen hatte. Ein wissender Blick lag in ihren grünen Augen, und jegliche Verwirrung, die er noch vor wenigen Sekunden in ihr zu spüren geglaubt hatte, war verschwunden. Sie hatte ihre Fassung vollkommen zurückgewonnen. »Romen Koreldy«, sagte sie und führte eine anmutige und ungemein weibliche Verbeugung aus. »Ihr erinnert Euch«, erwiderte Wyl beeindruckt. 414
»Niemals würde ich ein Gesicht wie das Eure vergessen«, gurrte sie. »Und Oberbefehlshaber Liryk. Es ist schön, Euch zu sehen, Sir.« Sie ließ den Blick wieder zu Wyl schweifen. »Ich wusste, ich könnte Euch vertrauen«, sagte sie. »Mir bei was vertrauen?« Weder seine körperliche Reaktion auf ihr kokettes Verhalten noch Romens ungezwungenes Lächeln ließen ihn im Stich. »Zurückzukehren. Ihr hattet das gesagt.« Er nickte. »Das stimmt, Madam.« »Und ich hoffe, Eure Wahl für ein wenig Entspannung heute Abend fällt auf mich?«, erkundigte sie sich. »Nun, wenn ich Euch recht verstehe, habe ich wohl ein Versprechen gegeben?« »Nicht so direkt«, räumte sie ein, »aber ich habe es als ein solches aufgefasst.« »Dann sollten wir zur Tat schreiten«, sagte Wyl. Trotz seiner schlechten Laune entzündete sich eine Glut des Verlangens in ihm.
»Meine Herren«, sagte sie, verneigte sich vor Liryk und dem anderen hohen Offizier, der sie in das Gebäude begleitet hatte, und bot Wyl den Arm an. »Ich sehe Euch in ein paar Stunden, Koreldy«, sagte Liryk und zwinkerte ihm zu. »Denkt an das, was wir vorhin besprochen haben«, fügte er hinzu. Wyl wusste, dass er eine Frau wirklich lieben musste, um die sexuelle Intimität zu genießen. Er erinnerte sich an seine Nacht mit Arlyn in Orkyld, die eine willkommene körperliche Erlösung gewesen und durch ihre Zuneigung prickelnder geworden war. Aber Valentyna hatte ihm gezeigt, 415
dass es am schönsten war, wenn Liebe mit Begierde einherging - und das Bedürfnis zweier Menschen gleich heftig entbrannte. Diese betörendste Mischung war durch nichts zu übertreffen. Nur mit Valentyna hatte er dieses berauschende Gebräu erfahren, das die Seele teuflisch süchtig machte. Wyl wusste, dass er sich von diesem Trank nie mehr erholen könnte. Er schoss durch seine Adern und würde auch weiterhin seine Gedanken und Träume vergiften. Valentyna, schrie er innerlich, als Hildyth ihn wegführte. Es hatte ihn unbeschreibliche Willensstärke gekostet, seine Leidenschaft für Valentyna zu zügeln, als sie in der vergangenen Nacht zusammen im Bett gelegen hatten. Oberflächlich bedauerte er es nun und wünschte, sie hätten einander vollständig genossen. Er allein hatte sie davon abgehalten, sich ihrer Liebe ganz und gar hinzugeben. Es war richtig, aber auch ungerecht, wenn man bedachte, dass der nächste Mann, dem sie dieses Privileg gestattete, wahrscheinlich sein Feind war. Doch jetzt, wo er die leicht nach Parfüm duftenden, schwach beleuchteten Gänge der Verbotenen Frucht entlangschritt, war er froh über seine Entscheidung. Valentyna hätte ihn nur noch mehr gehasst, hätten sie diesen letzten Schritt gewagt. So, wie die Lage war, würde sie ihn wohl niemals wieder mit einem Blick würdigen - falls sie sich überhaupt jemals wiedersähen -, der nur annähernd einem Gefühl wie Liebe entsprach. Hildyth besaß nichts von Valentynas natürlicher Schönheit, aber sie hatte etwas an sich, das Wyl besitzen wollte, wenn auch bloß für ein paar Stunden. Heute Nacht würde er ihren harten, festen Körper benutzen und sich an ihr la 415
ben, all seine krampfhaft zurückgehaltene Aggression an ihr auslassen. Und dann würde er verschwinden. Keinerlei Liebe. Nur bezahlte Lust. Hildyth führte ihn in ein Zimmer, wo ein schmales, niedriges Regal an den Wände entlanglief. Auf diesen Brettern brannten Duftkerzen, die dem Raum mit Honig und Jasmin eine gewisse würzige Note verliehen. Von einem Zuber mit heißem Wasser strömten berauschende Dampfwolken voll erfrischender Minze und Zitrone empor, die sich mit den anderen Düften vermischten und eine sinnliche Atmosphäre des Wohlbefindens schufen. In der Nähe stand ein Tisch, auf dem Wein und Zuckerwerk für ihr leibliches Wohl sorgten. Die Massagebank befand sich an der gegenüberliegenden Wand. »Wie soll ich dich nennen?«, fragte sie, und ihre Katzenaugen funkelten. »Romen sollte genügen.«
»Dann komm, Romen, lass mich dich ausziehen.« Doch zuerst griff sie hinter sich und schnalzte die Spange auf, die ihr Kleid zusammenhielt. Es fiel zu Boden, federleicht und hauchzart. Dann stand sie nackt vor ihm. Gemächlich trat sie einen Schritt von ihrer Kleidung beiseite, wobei sie sicherstellte, dass sein Blick genüsslich über ihren Körper wandern konnte. Er hatte recht gehabt. Sie bestand vollkommen aus Muskeln, was jedoch nicht davon ablenkte, welch schöne und doch sinnliche Figur sie besaß. Ihre Brüste waren nicht groß, aber voll, und auf ihren Spitzen saßen dunkle versteifte Brustwarzen. Sie drehte sich um, um ihr Kleid aufzuheben und es auf einen Stuhl zu legen eine absichtliche Bewegung, damit er ihren runden, wirklich entzückenden Hintern bewun 416
dern konnte. Sie hat die Form eines wunderschönen Musikinstruments, kam es ihm in den Sinn. Der Gedanke war in dem Augenblick verschwunden, als sie sich ihm wieder zuwandte und die dunkle weiche Triangel zwischen ihren starken Schenkeln seine Aufmerksamkeit erregte. Genau dort hoffte er in dieser Nacht Trost und Erlösung zu finden. »Ich hoffe, ich war die richtige Wahl?«, fragte sie und musste leise in sich hineinlächeln, als sie sah, worauf sein Blick ruhte. »Auf jeden Fall. Ich habe gut gewählt«, erwiderte er in Romens süffisanter Art und begann sich auszuziehen. »Darf ich?«, fragte sie. Es war eine ganz eigene, langsame und sinnliche Erfahrung, von dieser faszinierenden Frau entkleidet zu werden. Sie verharrte an einigen Stellen seines Körpers, während sie ihn von seiner Hülle befreite. Wyl spürte, wie er vor erregter Vorfreude zitterte, und war überrascht, nicht verlegen zu sein, als sie ihm die Reithosen auszog und sein hartes Verlangen nach ihr entblößte. Sie blickte hoch, und schon wieder erschien dieses verstohlene Lächeln. Er wusste, dass sie darüber nachdachte, ob sie ihm seine Erlösung hier und jetzt verschaffen sollte, doch dann entschied sie sich wohl dagegen und richtete sich zu voller Größe auf, wobei sie darauf achtete, dass seine nackte Haut ihre berührte, was einen neuen Schauder durch seinen Körper sandte. Hildyth gab ihm durch eine Geste zu verstehen, dass er sich in die Wanne legen sollte, und als er ihrer Einladung nachkam, schenkte sie ihm Wein ein. Dann folgte sie ihm ins Wasser, reichte ihm den Kelch und setzte sich auf den 416
Rand des Zubers, sodass er sich zwischen ihre Beine legen konnte, während sie ihm den Oberkörper einseifte. Wyl entspannte sich allmählich, als die rhythmischen Bewegungen ihrer weichen Finger über ihn glitten. Es war ein solcher Genuss, auf diese Art gewaschen zu werden. Während sie sein Haar einschäumte und mit starken Fingern seine Kopfhaut massierte, leerte er den Kelch mit dem ausgezeichneten Kurshor-Wein von Briavels sonnendurchtränkten Küstenhängen und spürte, wie seine feurige Wärme ihn durchströmte. Dann spülte sie sein Haar aus und ermunterte ihn, sie zu liebkosen, bevor sie vorschlug, ihn abzutrocknen. Wyl verließ die Wanne nur widerwillig. Es ärgerte
ihn, diesen lustvollen Genuss zu unterbrechen, der es ihm erlaubt hatte, seine wütenden Gedanken beiseitezuschieben und sich wie betäubt ihren Zärtlichkeiten hinzugeben. »Lass mich dich massieren, wie du noch nie zuvor verwöhnt wurdest, Romen«, murmelte sie leise. Er nickte und gestattete ihr, seinen Körper mit warmen Leinentüchern abzutrocknen. Als Hildyth ihm die Beine und den Hintern abrieb, entfachte die sanfte, und doch spröde Oberfläche des Stoffes an seiner Haut wieder sein Verlangen. Er bemerkte, dass sie ihre gemeinsame Zeit bisher in beinahe völliger Stille verbracht hatten. Sie war nicht neugierig, mehr über ihn zu erfahren, was er als angenehm empfand, und er schätzte ebenfalls, dass sie im Gegensatz zu anderen Freudenmädchen nicht ununterbrochen plapperte. Hildyth störte sich nicht an seinem Schweigen, doch kein einziges Mal wirkte es auf ihn, als würde sie ihre Arbeit gleichgültig verrichten. Wenn überhaupt glaubte er ein Band zwischen ihnen zu spüren - als seien sie an diesem 417
gemütlichen Ort ohne jegliche nichtige Worte verwandte Seelen. Sie lächelte und zeigte auf die Massagebank. Er entsprach ihrem Wunsch und legte sich auf den Bauch. Das Gesicht hatte er von ihr weggedreht. »Auf den Rücken, bitte«, sagte sie sanft, und er gehorchte. Dies war eine ungewöhnliche Position, um eine Massage zu beginnen, doch er war längst nicht mehr in der Lage, auf Einzelheiten zu achten. »Ich habe hier ein angewärmtes Gerstensäckchen, das ich jetzt über deine Augen lege. Es fühlt sich gut an und wird dir beim Entspannen helfen«, erklärte sie. Wyl nickte. Ihm war diese Praktik bekannt, und er seufzte leise, als sie das vorgewärmte Säckchen, das genau das richtige Gewicht hatte, auf sein Gesicht legte. Er hörte, wie sie einen Schrank öffnete, und dann das sanfte Klirren von kleinen Glasfläschchen. Dann vernahm er wieder ihre weiche Stimme. »Wäre Lavendelöl nach deinem Geschmack, Romen?« »Ja«, murmelte er, obwohl er wusste, dass dies gefährlich war, da es Erinnerungen an Valentyna und den Abend in ihm hervorrief, an dem sie sich geküsst und ihrer Liebe Tür und Tor geöffnet hatten. Er hörte sie das Öl zwischen den Händen verreiben und stellte sich vor, wie sich ihre Schenkel in wenigen Augenblicken um ihn schließen würden. Nach der Massage würde sie ihn in den Nebenraum führen - ein Schlafzimmer -, wo sie das Ritual beenden und ihn auf jede erdenkliche Art, die er von ihr verlangte, verwöhnen würde. Er wünschte sich nichts Komplizierteres, als die Wärme einer Frau zu spüren, die ihn festhielt, während er sich in ihr bewegte. Ver 417
sunken in seinen lüsternen Gedanken streckte er die Hände nach hinten und bettete seufzend seinen Kopf darauf. Diese Bewegung brachte seinen Körper in die perfekte Position. Er bemerkte, wie eine ihrer warmen Hände seine Brust berührte, auch wenn ihm entging, dass sie nicht ganz so ölig war, wie sie sein sollte. Und später
würde er sich sogar daran erinnern, dass er die kalte Spitze der Klinge zuerst nicht gespürt hatte, als sie in einer scharfen, schwungvollen, nach oben reißenden Bewegung zwischen seine Rippen eindrang. Er zuckte zusammen und schlug wild um sich, während die Waffe ihre todbringende Reise antrat. Das Gerstensäckchen flog in hohem Bogen von seinen Augen, doch da hatte die Klinge bereits meisterhaft und gezielt ihr Ziel erreicht - sein Herz - und es tödlich verletzt. Wyl war stark, doch Hildyth war ebenfalls überraschend kräftig, und sie lehnte sich mit ihrem gesamten Gewicht auf seinen liegenden, bereits schwächer werdenden, sterbenden Körper. Dann blickte sie Romen tief in die weit aufgerissenen, angsterfüllten silbergrauen Augen. »Schsch, Romen. Es ist endlich vollbracht«, gurrte sie und streichelte dämonisch lächelnd über seine Erektion, die rasch welkte, während er ihren zärtlichen Worten lauschte. »Lass jetzt los. Stirb tapfer und leise. Der König von Morgravia wünscht dir eine schnelle Reise zu Shar.« Sein zähes Ringen erstarb, seine Stimme verließ ihn; der Tod bemächtigte sich nun seiner, und Wyl spürte, wie Hildyth seine Lippen küsste, als sie das Messer härter und höher riss und Gewebe durchtrennte, damit sie auch sicher sein konnte, Jessoms Auftrag erfüllt zu haben. In der stillen Umarmung der Liebenden - wenn auch 418
einer blutigen - verschmolzen sie miteinander, während den sterbenden Wyl auf einmal eine erschreckend vertraute Empfindung durchzuckte. Das wogende Gefühl überkam ihn, als seine geschlossenen Lider, die den Tod akzeptiert hatten, plötzlich aufflogen und farblich unterschiedliche, erschreckende Augen zum Vorschein kamen. Hildyth starrte ihn entsetzt an - ähnlich wie Romen, als es zum ersten Mal geschehen war. Der krampfartige Schmerz war auch in ihr, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, was gerade passierte. Sie richtete sich auf und holte tief und qualvoll Atem. Wyl wusste, was geschah, obschon er es selbst kaum glauben konnte ... und es zutiefst verabscheute. Beide teilten den Tod, doch nur einem von ihnen nahm er das Leben. Wyl spürte, wie sich seine Seele anhob und ruckartig löste. Alles, was er und Romen waren, wurde aus seinem Körper gerissen, und er erhaschte einen flüchtigen Blick auf Hildyths dunkle, wutentbrannte Seele, als sie in panischer Angst hinüber in den Körper von Romen Koreldy glitt, wo sie starb. Wyl taumelte jetzt in Hildyths Körper, würgte und keuchte. Tränen der Fassungslosigkeit rannen ihm die Wangen hinab. Schon wieder! Es war schon wieder geschehen!
Er presste das brennende Gesicht auf den kalten Marmorboden und schluchzte ... heftige, herzzerreißende Schluchzer des untröstlichen Kummers, während er sich zusammenrollte und seinem Schmerz freien Lauf ließ. Später, als er sich endlich überwinden konnte, blickte er zu Romen Koreldys Leichnam ... ihm. Seinem letzten Körper. Und dann sah er an sich hinab, verängstigt und 418
verwirrt, und war in dem nackten Körper von Hildyth, der Hure, gefangen. Nein ... nicht Hildyth, erkannte er. Mein Name ist Faryl, und ich bin eine Auftragsmörderin. Er erbrach sich erneut. Schließlich - Wyl hatte jegliches Zeitgefühl verloren - beruhigte er sich wieder. Er musste nachdenken, und das schnell. Wie lange bin ich schon hier mit ihr zusammen? Er blickte zu den Kerzen. Wahrscheinlich zwei Stunden. Liryk würde ihm wohl vier Stunden gönnen, vielleicht aber auch nur drei. Er sah auf seine Hände - seine weiblichen Hände, die mit Romens Blut besudelt waren -, und ohne lange nachzudenken, sprang er in den Zuber, um sich den Tod abzuwaschen. Nachdem er ihr Kleid angezogen hatte, besah er Romens Körper. Er sah traurig und erbärmlich aus; ein überraschter Blick war der letzte Ausdruck auf seinem Gesicht gewesen. Dann schmiedete er einen Plan. Er war mager, wie immer, doch mehr hatte er nicht. Indem er sich Faryls Wissen bemächtigte, zog er die verkeilte Klinge aus Romens Körper und trennte dann - obschon es widerwärtig war und ihn größte Überwindung kostete -, den Ringfinger des Leichnams ab und stieß schließlich die Klinge wieder in die Wunde in der Brust. Er wickelte Romens Finger in ein kleines Leinentuch und versteckte das Bündel hinter einer der größten Kerzen, wobei er darauf achtete, sich die genaue Stelle einzuprägen. Dann warf er die Weinkaraffe auf den Boden, stellte sicher, dass die goldene Flüssigkeit unter der Tür hindurchfloss, die er im nächsten Moment aufriss und zu schreien begann. Er war über die hohe weibliche Stimme überrascht, die aus 419
seiner Kehle drang, aber er setzte sie äußerst wirksam ein, denn Menschen kamen von allen Seiten des Bordells herbeigeeilt, und mit ihnen auch Oberbefehlshaber Liryk, dem sich Wyl in seinem Frauenkörper absichtlich in die Arme warf. »Er ist tot... ermordet!«, kreischte Wyl. »Was?«, rief Liryk, löste sich aus ihrer Umarmung und drängte an Hildyth vorbei in den Raum. Er sackte an der Wand zusammen, bestürzt über den Anblick, der sich ihm bot. »Wie?«, krächzte er. Wyl begann hysterisch zu weinen. Sein eigener zerrütteter Gemütszustand half ihm, überzeugend zusammenzubrechen und unter Schluchzen zu reden. Die briavellianischen Soldaten verscheuchten rasch die gierigen Zuschauer und schlossen die Tür, sodass sie ungestört zuhören konnten, wie sich die Tragödie abgespielt hatte. Trotz Hildyths lautem Jammern konnten sie sich zusammenreimen, dass sie auf Wunsch ihres Kunden mehr Wein geholt hatte, und in den wenigen Minuten, in denen sie aus dem Zimmer gewesen war, musste jemand hereingekommen sein und Koreldy getötet haben. »Er hatte das hier auf den Augen«, sagte sie und hob das Säckchen auf. »Er kann nicht gewusst haben, dass nicht ich es war, die zurückkehrte.« »Habt Ihr den Mörder gesehen?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich war nur einige Augenblicke fort, aber ich habe einen Mann gesehen, der den Gang hinabrannte. Das kam mir natürlich eigenartig vor, doch ich maß der Sache keine große Bedeutung bei.« Liryk legte ihr den Arm um die Schultern. »Hildyth, Ihr müsst uns alles erzählen, woran Ihr Euch erinnern könnt.« 420
»Das ist alles, Oberbefehlshaber Liryk. Es ... es tut mir so leid. Ich weiß, er war Euer Freund. Ich habe nur den Rücken des Mörders gesehen. Dann habe ich den Wein fallen lassen. Der Mann war groß und dunkelhaarig, aber mehr weiß ich auch nicht. Der arme Koreldy.« Wyl wusste, dass sein Geplapper wirksam und echt wirkte. Er war vollkommen durcheinander. »Wie war der Kerl gekleidet? Irgendetwas Auffälliges?« »Nein, Sir. Wie jeder andere Bürger Briavels ... wie irgendein Kunde unseres Etablissements.« Erst jetzt bemerkte Liryk den fehlenden Finger. »Gütiger Himmel!«, sagte er zu seinen Männern. »Das war ein Meuchelmord.« »Wie könnt Ihr das wissen?«, stammelte Wyl. »Koreldy trug einen besonderen Ring am Finger - er hat mir erzählt, dass es ein Familienerbstück war. Er wird demjenigen, der seinen Tod befohlen hat, als Beweis dienen.« Hildyth begann wieder leise zu weinen. »Braucht Ihr mich noch, Sir? Ich fühle mich nicht gut.« »Natürlich, Ihr geht nach Hause, junge Dame. Ich lasse Euch von einem meiner Männer zurückbegleiten. Aber geht bitte nirgendwohin, womöglich brauchen wir Euch noch.« »Ich komme schon zurecht, Oberbefehlshaber Liryk, Ihr braucht auf keinen Eurer Männer zu verzichten. Vielleicht kann mich jemand von hier nach Hause begleiten«, flüsterte er, während sein Verstand wie wild arbeitete - er hatte nicht den blassesten Schimmer, wo sein Zuhause war. »Ich weiß, Ihr mochtet ihn, Sir. Das habe ich auch.« »Das stimmt. Es tut mir sehr leid, was mit ihm geschehen ist.« 420
Liryk drehte sich zu einem seiner Soldaten um und bat ihn, jemanden zu holen, der sie nach Hause bringen würde. Rasch kehrte er mit einer freundlichen Frau namens Remy zurück, die sich um die weinende Hildyth kümmerte. »Nun komm schon, meine Liebe. Ich begleite dich zu deinen Zimmern«, sagte sie und führte Wyl fort. Mit Remys tröstendem Geschnatter und unter ihrer Führung stolperte Wyl in Hildyths ungewohntem Körper zu ihren beiden Zimmern in dem dicht besiedelten Gebiet in der Nähe des Marktplatzes. Er dankte seiner Begleiterin, schloss die Tür so schnell wie möglich, ohne unhöflich zu wirken, lehnte sich dann dagegen und sog gierig die Luft ein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Myrrens Geschenk war großzügiger gewesen, als er zunächst geglaubt hatte. Jetzt war er also nicht mehr Romen, sondern Faryl. Eine Frau! Er musste aus dieser Stadt verschwinden. Aber was zuerst tun?
Wyl gewann seine Fassung zurück, wie ihm das Gueryn von Kindheitstagen an gelehrt hatte. Er beruhigte seine wie wild herumsausenden Gedanken, die er sich wie einen dichten Nebel vorstellte, bis sie vollkommen still waren. Dann konzentrierte er sich auf das Problem, wobei sein strategischer Verstand die Sache bereits vernünftig anging. Stiehl meine Waffen zurück, war seine erste Entscheidung, und dann, hol mein
Pferd. Schnapp dir den Finger. Verlass Crowyll im Schutz der Dunkelheit. Nur wohin? Such den Hexer, war seine eigene Antwort. Finde Antworten zu der Verwandlung. 421
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McINTOSH
DIE PROPHEZEIUNG DER FEUERBUND
Zweiter Roman