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John Christopher, Jahrgang 1922, in der Nähe von Liverpool geboren, war schon im Alter von 10 Jahren ein eingefleischter SF-Fan. Kurz nach dem 2. Weltkrieg gewann er den Atlantic-Award des Rockefeller-Instituts. Danach entstanden ungezählte Kurzgeschichten und 1955 der erste Roman »The Year of the Comet«. »The Death of the Grass« war der erste große Katastrophenroman von Christopher. Doch es ist nicht die Katastrophe an sich, die ihn als Autor interessiert, sondern wie Menschen damit fertig werden. Ein zweites Thema ist für Christopher »die Bedrohung« von außen. Dazu zählen die Invasionsromane wie die »Monstertrilogie«. Sein Roman »The Guardians« (Die Wächter) wurde 1970 mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.
Die Feuerkugel, dieser riesige gleißende Ball aus Licht, verändert die Ferien, die Brad und Simon miteinander verbringen, mehr als ihnen recht ist. Als das Unbekannte auf sie losrast, stürzen sie zu Boden; nachdem sie wieder zu sich gekommen sind, stellen sie fest, daß sie in einer Welt sind, in der alles anders ist. Eine Parallelwelt, in der die Macht des Römischen Reiches ungebrochen ist. Dort ist die Geschichte anders verlaufen, als die beiden Jungen sie in der Schule gelernt haben. Der Islam hat sich nie als Religion entwickelt, es gab keine Renaissance, keine Industrielle Revolution. Simon bekommt das ganz deutlich zu spüren. Er wird von Reitern gefangengenommen und als Sklave verkauft. Nach einer Ausbildung als Gladiator soll er im Circus sein Leben verteidigen. Brad dagegen trifft es besser - er wird von einer christlichen Patrizierfamilie wie ein Sohn aufgenommen. Schließlich interessiert sich der Bischof von Londinium für die beiden und es entsteht ein Plan, wie die rechtlosen Christen das Römische Reich aus den Angeln heben können.
John Christopher – Die Feuerkugel
John Christopher
Die Feuerkugel Aus dem Englischen von Hans-Georg Noack
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Christopher, John: Die Feuerkugel / John Christopher. Aus d. Engl, von Hans-Georg Noack. – 1. Aufl. – Würzburg : Arena, 1983. Einheitssacht.: Fireball)dt.‹ ISBN 3-401-04016-2
1. Auflage 1983 © der deutschsprachigen Ausgabe bei Arena-Verlag Georg Popp, Würzburg Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Fireball bei E. P. Dutton, New York © 1981 by John Christopher Deutsch von Hans-Georg Noack Schutzumschlag und Gegentitel von Pieter Kunstreich Lektorat: Heinz Seeger Gesamtherstellung: Tagblatt-Druckerei, Haßfurt e-Book by Brrazo 10/2010 ISBN 3-401-04016-2
1 Die Großmütter saßen im Wohnzimmer beim Tee und redeten von alten Zeiten, damals, im Krieg. Simon hörte Bruchstücke ihres Gesprächs: »… einmal, als wir zum Tanzen gegangen sind und die ganze Nacht im Luftschutzkeller am Broadway hocken mußten …« Das war die amerikanische Oma, denn so unterschied Simon sie von seiner eigenen Großmutter. Er hörte ein leises Lachen. »Ich konnte ihn nie ausstehen!« Diesmal war es Oma. Für die beiden war wohl alles in Ordnung: Sie konnten sich über vieles unterhalten, hatten eine ganze Vergangenheit zu bereden. Lustlos starrte er vor sich auf das Schachbrett. Er spielte jetzt seit zwei oder drei Jahren Schach, und als Brad zugegeben hatte, daß seine Bekanntschaft mit dem Spiel erst vom vergangenen Winter herrührte, schien sich eine gute Gelegenheit zu bieten, es diesem Brad einmal zu zeigen. Es hatte auch alles recht gut angefangen. Nach den ersten Eröffnungszügen war Simon im Vorteil gewesen. Aber seither hatte sich die Lage verändert: Ihm blieben nicht nur weniger Figuren, sondern Brad hatte seine Kräfte auch zu einem starken Angriff gesammelt. Vor diesem Besuch hatte es viel umständliches Gerede gegeben, das Simon jetzt für reine Propaganda hielt. Man hatte ihm beinahe einreden wollen, alles sei nur zu seinem Wohl geplant worden, nicht etwa, um den beiden Großmüttern ein Wiedersehen und Brads Mutter ein paar Ferienwochen mit seinem neuen Stiefvater in Europa zu ermöglichen. Es mußte doch großartig für ihn sein, seinen amerikanischen Vetter für ein paar Sommerwochen bei sich zu haben. (Einmal-um-die-Ecke-Vettern, hatte sein Vater erklärt. Eigentlich waren Simons und Brads Mütter die Kusinen, aber dadurch wurde der Besuch selbstverständlich nicht weniger interessant.) Dabei konnte man neue 9
Erfahrungen sammeln und gleichzeitig viel Spaß haben. Und wenn die Familien sich erst einmal neu kennengelernt hatten, ergaben sich gewiß noch vielerlei andere Möglichkeiten. Vielleicht konnte er im nächsten Jahr sogar einen Gegenbesuch in Vermont abstatten? Simon schaute wieder auf das Brett und entdeckte eine Möglichkeit, die ihm bisher entgangen war. Springer auf d5. Damit war Brads Dame bedroht, und wenn er die Dame zog, blieb ein Bauer ungeschützt, und zudem wurde Simons Dame frei zum Wechsel auf die andere Seite. Er führte den Zug aus. Trotz aller Propaganda war Simon von dem Plan nicht gerade begeistert gewesen. Erstens unternahm die Hälfte seiner Klasse – dabei auch sein bester Freund Grendall – eine Kreuzfahrt nach Griechenland, und er wäre gern auch dabei gewesen. Zweitens bedeutete der Besuch, daß er sein Zimmer mit Brad teilen mußte, und nach zehn Wochen in einem Internats-Schlafraum wollte er sein Zimmer mit keinem Menschen teilen. Nicht einmal mit Grendall, und erst recht nicht mit irgendeinem amerikanischen Vetter, der wahrscheinlich unaufhörlich laut redete. Er hatte seine Einwände bei seiner Großmutter und seiner Mutter heftig vertreten und gehofft, er könne damit etwas erreichen. Durch einen glücklichen Zufall stimmten die Daten des geplanten Besuchs aus Amerika und der GriechenlandKreuzfahrt fast überein. Und die Einladung zur Kreuzfahrt war schon in den letzten Ferien gekommen, ehe von dem amerikanischen Besuch überhaupt die Rede gewesen war. Man konnte den Amerikanern also durchaus sagen, alles sei schon festgelegt, von Unhöflichkeit oder mangelnder Gastfreundschaft konnte also gar nicht die Rede sein. Tatsächlich hatte Vetter Brad (Einmal-um-die-Ecke-Vetter) dadurch sogar noch den Vorteil, daß er ein Zimmer für sich allein haben konnte. Als Simon jedoch seinem Vater mit diesen Überlegungen kam, wurden seine Hoffnungen schnell und endgültig zerstört. 10
Die Kreuzfahrt, so schien es, kam für ihn ohnehin auf keinen Fall in Frage. Die Zeiten waren schlecht, und die zusätzliche Ausgabe konnte man sich nicht leisten. Es war schon schwierig genug, mit der letzten Erhöhung des Schulgelds fertig zu werden, von der man erst an diesem Morgen erfahren hatte. In den Augen seines Vaters war ein Ausdruck, den Simon nur zu gut kannte, und so hatte er erst gar keine weitere Auseinandersetzung versucht. Da es andere Aussichten nicht mehr gab, hatte er sich vielmehr die größte Mühe gegeben, dem bevorstehenden Besuch die besten Seiten abzugewinnen. Als es dann zwei Wochen nach Beginn der Sommerferien soweit war, hatte er Zeit genug gehabt, sich in seiner eigenen Gesellschaft zu langweilen, so daß er sich sogar ein wenig auf Brad freute. Die ersten Tage waren ein wenig verwirrend gewesen, denn außer Brad waren da auch noch seine Mutter und sein Stiefvater (die in einem benachbarten Hotel übernachteten, tagsüber aber das Haus bevölkerten), und seine Großmutter. Aber Simons erster Eindruck war günstig. Brad war kleiner als er, schmaler und drahtiger, mit hellem Haar, blauen Augen und einem freundlichen Lächeln. Eigentlich, so fand Simon, sah Brad englischer aus als er selber mit seiner grobknochigen Stämmigkeit und den dunklen Haaren und Augen. Außerdem war Brad auch keineswegs so lebhaft und laut, wie man sich einen Amerikaner meistens vorstellte. Vielmehr neigte er dazu, Simon die Gespräche führen zu lassen; aber das konnte auch ein Ausdruck von Schüchternheit sein, die allerdings auch keine sehr amerikanische Eigenschaft gewesen wäre. Pflichtschuldigst tat Simon sein Bestes, um seinen Vetter aufzulockern. Er erkundigte sich nach dem amerikanischen Football, erfuhr jedoch nur, daß Brad sich nicht sonderlich für Football interessierte. Er ging zu Baseball über, doch Brad leugnete auch jedes Interesse an Baseball. Simon erkundigte 11
sich, ob Brad denn überhaupt irgendeinen Sport triebe, und war durchaus bereit, großmütig zuzugeben, daß Sport eben nicht jedermanns Sache sei, und es sei nicht gerade ein Fehler, wenn einer für Sport nichts übrig habe. »Ja, Schifahren«, antwortete Brad, »und Tennis und Golf und Surfing. Und Windsurfen auch.« In diesem Augenblick spürte Simon zum erstenmal ein Unbehagen, das von Feindseligkeit nicht weit entfernt war. Brads Eltern traten ihre ausgedehnte Reise an – London, Paris, Schweiz, Rom und endlich Jugoslawien, wo Brads Stiefvater alte Familienbande zu erneuern hatte. Das klang verlockend. Verlockender jedenfalls als Simons eigene Aufgabe – oder Zwangsarbeit –, transatlantische Beziehungen zu zementieren, doch er widmete sich voller Entschlossenheit diesem Ziel, wenn es ihm auch an großer Begeisterung fehlte. Die beiden Großmütter frischten ihre Erinnerungen an den Bombenkrieg, an den Boxeraufstand oder an was auch immer auf, und sie schienen für die schauerlichsten Geschehnisse ganz Feuer und Flamme zu sein, wenn sie darauf zu sprechen kamen. Daß die Jungen sich für derlei Dinge weniger erwärmen konnten, schien ihnen gar nicht in den Sinn zu kommen. Simon war darauf vorbereitet gewesen, großmütig und hilfreich zu sein, und es störte ihn mächtig, daß er für seinen Edelmut keinen Abnehmer fand. Er hatte sich fest vorgenommen, nichts zu tun oder zu sagen, was seinen amerikanischen Vetter beschämen oder verlegen machen konnte, und darum war es nun um so bitterer, ständig die Überlegenheit des anderen spüren zu müssen. Brads Eltern waren gerade abgereist, da hörte Simon zufällig mit, wie die amerikanische Großmutter ihrer Schwester von Brad erzählte: Sein Intelligenzquotient sei 150, er habe ein unglaubliches fotografisches Gedächtnis und könne ganze Lexikonseiten auswendig hersagen, und dabei sei er durchaus keine eng begrenzte Begabung, sondern er habe sehr vielfältige Interessen. 12
Sie habe in Reader’s Digest über den Renaissance-Menschen gelesen, der alles Wissen seiner Epoche in sich gespeichert habe. Genau so sei es mit Brad. Simons Großmutter hatte zwar wacker versucht, auch mit ihrem eigenen Enkel zu prahlen, doch Simon mußte zugeben, daß sie dabei schmählich unterlegen war; es hatte ihr einfach an gleichwertiger Munition gefehlt. Die Feindseligkeit entwickelte sich allmählich zu herzlichem Abscheu. Tatsache blieb jedenfalls, daß er noch für weitere drei Wochen mit dieser Lage – und mit Brad – zurechtkommen mußte. Er spielte also weiter so gut wie möglich seine Rolle der Liebenswürdigkeit. Als er Brad den Witz über den Indianer und die Eier erzählte, hatte er es durchaus in der Absicht getan, den Vetter angenehm zu unterhalten. (Eine ganze Reihe anderer Witze hatte er nach einigem Nachdenken gestrichen, weil sie amerikanische Gefühle verletzen konnten.) Der Witz rief keinerlei Heiterkeit hervor. Vielmehr mußte sich Simon einen Vortrag über die amerikanischen Indianer und ihre Ausbeutung durch die Europäer anhören. Brad wußte offenbar eine ganze Menge über die Indianer und ihre Geschichte, und unter anderen Umständen hätte Simon das vielleicht alles sehr interessant gefunden. Aber daß man über seinen Humorversuch einfach hinwegging und ihn dann noch der Unwissenheit und der rassischen Überheblichkeit bezichtigte – wobei Brad sich wahrscheinlich für unschuldig hielt, weil er das alles wußte und außerdem pro-indianisch eingestellt war –, weckte in Simon den Wunsch, den Vortragenden zu erwürgen. Es gab an diesem Wochenende noch einen weiteren Zusammenstoß, an dem diesmal auch seine Eltern beteiligt waren. Im Fernsehen war von gewalttätigen Gruppen die Rede gewesen, und Simon hatte von Napoleon gesprochen, der sich zugetraut hatte, den ganzen Pöbel von Paris mit ein paar 13
Schrotflintenschüssen von der Straße zu jagen. Brad hatte darauf geantwortet, solche Ideen habe auch Hitler gehabt, und plötzlich merkte Simon, daß er nicht nur mit Brad, sondern zugleich auch mit seinen eigenen Eltern in eine Auseinandersetzung geraten war. Dabei ärgerte ihn besonders, daß man ihn dazu gebracht hatte, eine Auffassung zu verteidigen, die er im Grunde gar nicht für richtig hielt, von der er jetzt aber auch nicht abweichen wollte. Verärgert ging er zu Bett, und er drehte Brad stumm den Rücken zu, als der ihm von der anderen Seite des Zimmers eine gute Nacht wünschte. Was das Schachspiel anbetraf, so merkte Simon, daß Brad diesmal länger als bisher die Stellung geprüft hatte. Bisher waren alle seine Züge sehr schnell gekommen, was Simon ebenfalls gereizt hatte. Jetzt betrachtete er das Schachbrett sehr zufrieden. Falls Brad jetzt seine Dame bewegte, ergab sich nicht nur eine gute Angriffsposition, sondern sogar ein Matt in drei Zügen. Simon sah es genau. Brad beugte sich vor, zögerte ein wenig, zog dann nicht seine Dame, sondern einen seiner Türme. Seine Hand verharrte einen Augenblick über der Figur, ehe er sie anhob. Simon vergewisserte sich noch einmal mit einem schnellen Blick, daß keine seiner eigenen Figuren bedroht war, dann schlug er Brads Dame, ehe der es sich noch einmal überlegen konnte. Dann lehnte er sich zurück und war sehr mit sich zufrieden. Brad sagte: »Turm auf h8, dann Springer auf e5. Schach und Matt, dagegen kannst du nichts mehr machen.« Simon starrte auf die schwarzen und weißen Felder und suchte nach einem Ausweg. Wie hatte er nur diesen Springer übersehen können? Innerlich beschimpfte er sich selbst, obwohl er das viel lieber lauthals mit Brad getan hätte. Aber es war wirklich ein Matt. Daran gab es keinen Zweifel. Brad sagte: »Ich war sicher, daß du es sehen würdest. Darum habe ich versucht, dich zu täuschen, indem ich so lange gezö14
gert habe. Tut mir leid. Die Regeln verbieten es zwar nicht, aber es war wohl auch nicht ganz fair.« Ganz besonders dann nicht, dachte Simon, wenn man sich einbildet, gegen einen Dummkopf zu spielen. Schweigend sammelte er die Figuren ein. Sein Schachlehrer in der Schule legte großen Wert darauf, daß man seinem Gegner gratulierte, wenn man ein Spiel verloren hatte, doch die Worte blieben Simon im Halse stecken. Er hatte bemerkt, daß im Gespräch nebenan eine Pause eingetreten war. Jetzt schaute seine Großmutter zur Tür herein. »Möchtest du noch ein Spiel?« fragte Brad. »Wie geht’s euch beiden?« fragte die Großmutter. »Gut.« Er wünschte sich ein zweites Spiel ungefähr so sehr wie einen Beinbruch, doch wenn er das zugab, behielt Brad abermals die Oberhand. Ehe er jedoch antworten konnte, sagte seine Großmutter: »An einem solchen Nachmittag solltet ihr wahrhaftig nicht die ganze Zeit im Haus hocken. Warum geht ihr nicht mal mit Tarka auf Dachsjagd?« Simon schaute zu Brad hinüber, der höflich nickte. »Gern, Mrs. Roberts«, sagte er. Ein Spaziergang mit Tarka war immer noch leichter zu ertragen als eine zweite Schachpartie. Das bedeutete zwar, die ganze Zeit Brad um sich zu haben, doch daran kam er ja ohnehin nicht vorbei. Also sagte er: »Wie du meinst, Granny. Weißt du, wo ihre Leine ist?« Das Haus lag ganz am Rande des Vororts, nur wenige hundert Meter vom freien Feld entfernt. Schweigend gingen sie darauf zu. Nach einem nebligen Morgen war es jetzt heiß – drückend heiß. Die Hitzewelle hielt schon seit einer Woche an und schien noch nicht abklingen zu wollen. Die Luft war schwer, und trotz des blauen Himmels drohten am Horizont Gewitterwolken. 15
Endlich ging die Straße in einen Feldweg über. Simon behielt Tarka an der Leine, denn auf den Weiden waren Kühe, und wenn Tarka auch nur eine winzige Dackelin war, bewies sie doch eine ganz ungewöhnliche Angriffslust. Simon fragte sich, welchen Punkt das Kreuzfahrtschiff inzwischen erreicht haben mochte. Eine der kleineren griechischen Inseln? Aber wo es auch immer sein mochte: Bestimmt war es dort schöner als hier am äußersten Rand von London und in Gesellschaft von Brad und Tarka. Sie überquerten eine Wiese und kamen dann durch ein Gatter in ansteigendes, bewaldetes Land. Simon ließ Tarka von der Leine und sah zu, wie sie auf ihren kurzen krummen Beinen hügelan galoppierte. Ihre Nase huschte über das Gras wie ein Luftkissenboot. Er hatte den Eindruck, etwas zu Brad sagen zu müssen. »Soviel wir wissen, gibt es hier keine Dachse. Das ist nur einer von Grannys Witzen.« »Sicher. Dackel, das bedeutet Dachshund. Zur Dachsjagd sind sie in Deutschland gezüchtet worden.« Anscheinend war es zuviel verlangt, wenn man Brad ein einziges Mal etwas sagen wollte, was er nicht bereits wußte. Der Donner grummelte ärgerlich und schien weit näher zu sein, als man es nach den Wolken vermutet hätte. Simon kam sich ganz verschwitzt und verklebt vor und so unvernünftig verärgert, wie dieser Donner klang. Mit deutlichem Spott sagte er: »Vermutlich sind sie deswegen eine schlechte Hunderasse, nehme ich an?« »Schlecht?« »Weil sie doch aus Deutschland kommen.« Es ärgerte ihn noch mehr, daß Brad die Anspielung auf die Auseinandersetzung vom Sonntag sofort aufgriff. »Wir haben über Hitler gesprochen.« »Ich mag die Deutschen«, sagte Simon. »Sie haben wenigstens etwas für Ordnung und Disziplin übrig. Sie sind nicht so weich 16
und schlampig wie die Leute in manchen anderen Ländern.« »Daran ist etwas Wahres. Aber wir haben trotzdem in diesem Jahrhundert zweimal gegen sie kämpfen müssen.« »Wir?« Er legte eine Menge Untertöne in diese eine Silbe. Er starrte Brad an und erntete zur Antwort nur einen fast gleichgültigen Blick. »Soweit ich mich erinnere, haben die Deutschen 1945 in der Lüneburger Heide gegenüber Feldmarschall Montgomery ihre Kapitulation erklärt. Und außerdem glaube ich mich zu erinnern, daß der damals unter dem Oberbefehl eines Burschen stand, der Eisenhower hieß.« Simon erklärte: »Unser Schulhausmeister hat gemeinsam mit Amerikanern in Nordafrika gekämpft. Sie seien feige wie die Ratten gewesen, sagte er.« Diesmal schien der Donner ganz nahe zu sein. Die beiden Jungen standen einander gegenüber. Ein Grinsen überzog Brads Gesicht, und Simon hatte recht gemischte Gefühle. Die Bemerkung tat ihm schon leid, aber die Tatsache, daß Brad die Beleidigung zu schlucken schien, entschädigte doch für einiges. Ihm blieb nicht genug Zeit, seine Zufriedenheit zu verbergen und seine Gedanken zu ordnen, denn schon lag er im Gras auf dem Rücken. Brad hatte den Schlag anscheinend aus dem Nichts hervorgezaubert, und er hatte blitzschnell zugeschlagen. Er schlug auch weit härter zu, als Simon ihm zugetraut hatte, aber daß er jetzt auf dem Boden lag, kam nur daher, daß er das Gleichgewicht verloren hatte. Er stand auf, wobei Brad ihm ausdruckslos zuschaute. »Gut«, sagte Simon. Bald wurde offenbar, daß Brad auch vom Boxen einiges verstand, obwohl er das bisher nicht erwähnt hatte. Er deckte gut, war schnell auf den Beinen und schlug einen harten Haken. Anfangs landete er mehr Treffer, vor allem im Gesicht, aber es fehlte ihm natürlich an Gewicht. 17
Sie schlugen aufeinander ein, umkreisten sich vorsichtig und strauchelten auf dem unebenen Boden. Aus den Augenwinkeln sah Simon, daß Tarka ein paar Meter entfernt stand und die beiden Jungen aufmerksam beobachtete. Die kurze Ablenkung trug ihm einen schmerzenden Hieb in die Rippen ein. Jetzt konzentrierte er sich selbst auf Körpertreffer; dort war Brads Deckung schwächer. Simon schlug Brad zu Boden, wartete, bis er wieder auf die Füße kam und schlug ihn dann nochmals nieder. Als Brad sich abermals aufrappelte, schämte Simon sich plötzlich. Sein Gegner war mindestens acht Zentimeter kleiner und vielleicht zwanzig Pfund leichter als er selbst. Er trat einen Schritt zurück, als Brad die Fäuste wieder hochnahm. »Okay, es tut mir leid«, sagte Simon. Brad beäugte ihn mißtrauisch. »Es war blöd, was ich da gesagt habe.« Brad warf ihm einen langen, nachdenklichen Blick zu, dann nickte er und grinste. Er streckte die Hand aus, und Simon nahm sie. Brad sagte: »Ich wollte dich nur aufmerksam machen, daß du blutest … Hast du das gar nicht gemerkt? Aber es ist auf jeden Fall Blut.« Simon merkte, daß ihm Blut über die rechte Wange rann, und er wischte mit dem Hemdärmel darüber. »Besser?« fragte er. »Ja, ja, es ist bloß eine Schramme.« Brad trat näher und betrachtete die Wunde. »Einen Krankenwagen brauchst du deswegen nicht, aber es wird ihnen auffallen.« »Ich bin gegen einen Ast gelaufen, oder ein Brombeerzweig hat mich erwischt.« »Irgend sowas …« Brad grinste wieder. »Ich glaube, wir hätten das schon ein paar Tage früher tun sollen.« Tarka schaute zu ihnen auf, und Simon pfiff ihr fröhlich zu. »Komm, du elender kleiner Wicht! Suchen wir Dachse!«
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In lebhaftem Gespräch gingen sie weiter. Es stellte sich heraus, daß Brad diesem Besuch mit ebenso gemischten Gefühlen wie Simon entgegengesehen hatte. Er wäre lieber westwärts gereist, nicht nach Osten. Sein Vater, der auch wieder geheiratet hatte, wohnte in Kalifornien. An der Küste nördlich von Los Angeles. »Ich meine buchstäblich an der Küste. Sein Haus steht gleich am Strand, und du müßtest einmal diese Brandung sehen! Ganz fantastisch für Surfer!« Vom Surfen verstand Simon nichts, doch das Bedauern in Brads Stimme wirkte überzeugend. »Deine Mutter wollte dich nicht fahren lassen?« fragte er. »Doch, doch, meine Mutter schon. Sie muß mich während der Sommerferien mit meinem Vater teilen, und er darf die Zeit bestimmen.« »Warum bist du dann nicht gefahren?« »Weil sie und Hank gerade erst geheiratet haben. Sie fürchtet, daß ich nicht gut mit ihm auskommen werde. Ich mag ihn ganz gern, aber ich weiß nicht, wie ich meine Mutter davon überzeugen soll. Schließlich kann ich ihm ja keine Rosen schicken.« »Wenn aber dein Vater den Zeitpunkt bestimmen kann …« »Hank hat großen Wert auf diese Europareise gelegt, und ich hätte ihnen den Spaß daran verdorben, wenn ich zurückgeblieben wäre.« »Jetzt bist du ja auch hiergeblieben.« »Ich meine wenn ich in Amerika und bei meinem Vater geblieben wäre. Mich hier zurückzulassen, macht ihr nichts aus.« »Mußte dein Vater dann nicht erst einverstanden sein?« »Ich habe ihm geschrieben, und er ist ein vernünftiger Mann.« »Sieht so aus.« Das Schweigen war nicht mehr unfreundlich. Wolken hatten sich schnell zusammengeballt und verhüllten die Sonne. Wäh19
rend des Anstiegs hatten sie kaum bemerkt, daß das Gelände immer waldiger geworden war. Jetzt drängten Büsche und Bäume sich zu beiden Seiten dicht an den Pfad heran. Tarka sprang voraus und blieb bisweilen stehen, um ein besonders gut riechendes Stückchen Boden zu beschnüffeln. Brad sagte: »Du hattest auch irgendwelche Pläne?« Simon erzählte ihm von der Schiffsreise, und Brad nickte verständnisvoll. »Ja, das ist schade.« »Hm, aber …« Er unterbrach sich, da Tarka winselnd auf sie zugelaufen kam und an ihnen vorüberfloh. Er wandte sich um und rief nach ihr, doch sie jagte weiter, so schnell sie konnte. Schon wollte Simon ihr nachsetzten, als Brad sagte: »Sieh dir das an!« Simon hörte den ungläubigen Ton in Brads Stimme und wandte sich um. Brad deutete mit der Hand, doch das war ganz überflüssig. Langsam kam es von der Stelle her auf sie zu, an der Tarka von Panik befallen worden war. Simon schien es, als sträubte sich ihm das Haar. »Was ist das?« Brad antwortete nicht. Es war ungefähr kugelförmig, etwa zwei Meter im Durchmesser und blendend weiß – weiß wie Sonnenlicht, das sich im Nebel oder auf Eis spiegelt. Aber die Sonne schien nicht. Die seltsame Kugel schien wenige Zentimeter über dem Boden zu schweben. Donner grollte, und ein dicker Regentropfen klatschte Simon ins Gesicht. Er sagte: »So etwas nennt man Feuerkugel, nicht wahr? Ich habe etwas darüber gelesen.« Die Bewegung der Kugel hatte sich verlangsamt, jetzt schien sie still zu stehen und zwei, drei Meter vor den Jungen auf dem Weg zu hocken. Das war schon eine Erleichterung, doch Simon gefiel der Anblick ganz und gar nicht. Er versuchte, sich selbst ein wenig Sicherheit einzureden, indem er sagte: »Eine Art Kugelblitz; ziemlich harmlos.« 20
Brad sagte langsam: »Ja, es muß wohl ein Kugelblitz sein. Aber Kugelblitze sind eigentlich farbig, rot oder gelb. Und nicht so groß. Sie haben nur ein paar Zentimeter Durchmesser.« Er ging einen Schritt weiter vorwärts. Erschrocken wandte Simon ein: »Ich würde das Ding erst einmal beobachten. Auch wenn es harmlos sein soll, möchte ich nichts damit zu tun haben.« »Ganz gleich, was es ist«, widersprach Brad, »wir werden so etwas kaum noch einmal wiedersehen. Also will ich’s wenigstens aus der Nähe angucken.« Der riesige Ball bewegte sich nicht, doch Simon spürte noch immer, wie sich das Haar sträubte. Das konnte an statischer Elektrizität liegen, es konnte sich aber auch um die gute altmodische Feigheit handeln, die auch Tarka in die Flucht gejagt hatte. Brad ging weiter vorwärts. Die Erinnerung an Tarka gab Simon den Gedanken ein, er sei schließlich für sie verantwortlich und müsse schleunigst nachsehen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Allerdings gefiel ihm die Vorstellung nicht, das jetzt Brad erklären zu sollen. Oder konnte er einfach stehenbleiben, während Brad sich die Feuerkugel genauer ansah? Und sich dann Brads Bericht darüber anhören? Er zwang sich mühselig dazu, die Füße zu bewegen und Brad zu folgen. Die Feuerkugel blieb an derselben Stelle, doch Simon hatte das Gefühl, auch wenn er es nicht sehen konnte, daß die Kugel sich um ihre Achse drehte. Und inmitten dieser blendenden Weiße schienen Farben zu sein – Hunderte und Tausende von winzigen, blitzenden Juwelen. Ein wenig unsicher sagte er: »Sie ist schön.« Er war nicht ganz sicher, was dann geschah – ob die Kugel wie ein Blitz auf sie zugeschossen kam, oder ob sie sich plötzlich ausdehnte. Da war nur das unheimliche Gefühl einer sehr schnellen Bewegung und völliger Stille, und dann lief ein Be21
ben durch seinen Körper, als würden jeder Muskel und jedes Gelenk heftig gezerrt. Unerschrocken, nur ein wenig verwundert, dachte er: So ist das also, wenn man auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird. Und dann war alles Weiß plötzlich schwarz.
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2 Es war, als würde man durch einen Sturz in eiskaltes Wasser aus tiefem Schlaf geschreckt. Das Gefühl eisiger Nässe war so deutlich, daß Simon die Hand auf die Stirn legte und erstaunt feststellte, daß beides völlig trocken war. Nach einem Augenblick der Bewußtlosigkeit, der nur wenige Sekunden gewährt haben konnte, stellte sich die Erinnerung an das Geschehene sehr deutlich wieder ein. Alles war so real wie die Tatsache, daß er jetzt auf dem Boden lag. Er mußte gestürzt sein. Die Feuerkugel? Von ihr war nichts zu sehen. Er schaute sich um und sah einen ganz gewöhnlichen Wald an einem ganz gewöhnlichen heißen Nachmittag. Brad? Ja, Brad war gleich hinter ihm und stand gerade auf. Auch Simon kam auf die Beine. Seine Muskeln zitterten ein wenig, doch sie gehorchten ihm. Er drehte sich um, weil er Brad genau betrachten wollte. Das war eine bewußte, von seinem Willen gesteuerte Handlung. Es war alles in Ordnung. Er hob den rechten Arm und ballte die Faust. Wirklich, mit ihm war alles in Ordnung, soweit er es beurteilen konnte. »Brad?« fragte er zögernd. »Ja.« »Was ist passiert?« »Ich bin nicht sicher. Die Feuerkugel hat uns berührt, nehme ich an. Bist du heil?« »Ja. Und du?« Brad nickte. »Anscheinend sind sie wirklich harmlos. Vielleicht haben wir auch einfach Glück gehabt. Statische Elektrizität kann schon manchmal komisch sein.« Simon erinnerte sich, was ihm zuerst als ungewöhnlich aufgefallen war: die panische Flucht des Hundes. Er wandte sich um und erlebte einen zweiten Schock: da war nirgends ein Weg. Sie standen auf unberührtem Boden mitten im Wald. 23
Aber wo im Wald? Dieser riesige Laubbaum mit dem mächtigen Stamm war vorhin nicht dagewesen. Er hätte ihn sehen müssen. Er gab sich Mühe, seiner Stimme keine Erregung anmerken zu lassen, als er fragte: »Wo sind wir hier eigentlich?« »Das frage ich mich auch gerade.« Brad packte einen herabhängenden Zweig und schüttelte ihn, als wollte er prüfen, ob es ihn wirklich gäbe. »Jedenfalls sind wir nicht da, wo wir waren, als die Kugel uns getroffen hat.« »Das ist doch verrückt!« Simon zögerte. »Sowas wie ein Traum?« Brad ließ den Zweig los, kam auf Simon zu und versetzte ihm einen schnellen, aber nicht schmerzhaften Hieb in die Rippen. Er grinste. »Fühlt sich das wie ein Traum an?« »Aber was …« »Vielleicht irgendwelche verrückten atmosphärischen Bedingungen. Hast du mal davon gelesen, daß es Frösche geregnet hat? Wir sind hochgehoben und irgendwo wieder abgesetzt worden. In einem anderen Teil des Waldes.« Simon schaute zum Himmel hinauf. »Vorhin war es windstill, jetzt ist es das auch.« »Aber inzwischen? Ich war bewußtlos Nicht lange, nehme ich an, aber wie soll ich das wissen? Und wie steht’s mit dir?« »Ja, weißt du …« »Vielleicht lange genug, daß wir auf irgendeine Weise hochgehoben werden konnten.« »Und dann hat irgend etwas uns beide am selben Fleck wieder abgesetzt? Ohne alle Schrammen und Beulen?« Brad hob die Schulter. »Weißt du eine bessere Erklärung?« »Dann könnte man ja auch gleich sagen … ich weiß nicht, meinetwegen, daß wir auf einem anderen Planeten wären.« »Für mich wäre das nicht dasselbe«, widersprach Brad entschieden. »Auf einen Planeten mit einer Atmosphäre, die der unseren so ähnlich wäre? Und mit Pflanzenwuchs? Das da ist 24
eine gute, alte Eiche! Mit allem Zubehör. Sogar mit einem Eichhörnchen!« Das klang sehr vernünftig, doch es änderte nichts an dem Gefühl völliger Fremdheit, des Losgelöstseins von aller Realität, das in Simon nicht nachlassen wollte, sondern sich immer mehr verstärkte. Er ließ die Blicke rundum schweifen. Ein normaler Himmel, ein ganz gewöhnlicher Wald. Das Eichhörnchen hockte auf einem der oberen Äste der Eiche und schien sich mit den Vorderpfoten den Bart zu putzen. Nun ja, man konnte sich wohl schon fremd und irgendwie deplaziert vorkommen, wenn man von irgendeinem elektrischen Ding bewußtlos gemacht und von einem unheimlichen Wirbelwind oder dergleichen an einen fremden Ort getragen worden war. Er sagte: »Wir sollten versuchen, den Rückweg zu finden.« »Ja, aber zurück wohin? Wir haben doch keinerlei Vorstellung, an welcher Stelle des Waldes wir eigentlich sind. Oder weißt du es?« »Nein. Aber der Wald ist nicht groß. Und wenn wir erst heraus sind, dann werde ich schon wissen, wo wir sind, auch wenn wir auf der entlegenen Seite herauskommen sollten.« Brad nickte. »Du wirst wohl recht haben. Also bist du jetzt unser Pfadfinder.« Vorhin waren sie bergan gegangen, also ging Simon jetzt abwärts. Der Wald überzog einen Hang. Bergab – das war so sicher, als folgte man einem Bachlauf. Sie kamen nicht sonderlich leicht voran. An manchen Stellen mußten sie sich durch Buschwerk kämpfen oder es umgehen. Insgesamt war der Wald viel dichter als Simon ihn in Erinnerung hatte, aber den südlichen Teil des Waldes kannte er nicht gut. Sie waren jetzt schon viel länger unterwegs, als er erwartet hätte, ohne einen Waldrand erreicht zu haben. Endlich wies Brad darauf hin. »Ob wir vielleicht im Kreis gehen? Was meinst du?« 25
Es war nicht kritisch gemeint, aber es ärgerte Simon. »Nein!« sagte er kurz. »Der Wald ist klein, hast du gesagt.« »Man täuscht sich leicht. Halt endlich den Mund!« Brad schwieg gehorsam, doch Simon fing wieder an, sich Sorgen zu machen. Ganz gleichgültig, welche Richtung sie eingeschlagen hatten: Sie hätten die Bäume inzwischen längst hinter sich lassen müssen. Er ging schneller, und Brad folgte ihm stumm. Standen die Bäume dort links weniger dicht? War dort ein Stück Himmel zu sehen? Er ging darauf zu. Der Wald lichtete sich wirklich, und dort war der Himmel. Sie gingen die letzten paar Schritte schneller, standen dann auf freiem Land, den Wald in ihrem Rücken, Weide vor sich. In der Ferne weideten Schafe. Das Dumme war, daß Simon nicht die geringste Ahnung hatte, wo sie sich jetzt befanden. Er wußte genau, daß der Wald an drei Stellen von bebautem Gelände umgeben war. Nur nach Süden hin grenzte er an offenes Land. Doch das Land hier sah ganz anders aus – und außerdem: Wo lag das Dorf Ruckton mit seinem Kirchturm? »Kennst du die Gegend?« fragte Brad. Es war eine ganz unschuldige Frage, doch Simon ärgerte sich darüber. Er starrte vor sich hin, ohne zu antworten. Brad sprach weiter: »Wenn wir schon von einem Teil des Waldes in einen anderen transportiert worden sind, können wir auch noch weiter weg sein, als wir angenommen haben. Vielleicht sind wir in einem anderen Wald, in einem anderen Land sogar. Meinst du, das könnten australische Schafe sein?« »Das ist doch lächerlich!« »Ich weiß. Aber allmählich kann ich das Lächerliche nicht mehr vom Normalen unterscheiden.« Brad atmete tief. »Wo wir auch sein mögen, ich denke, wir sollten in Bewegung bleiben. Wenn wir weit genug gehen, müssen wir doch einen Ort erreichen, an dem Menschen sind.« 26
Linkerhand und geradeaus jenseits der Weide waren wieder Wälder; rechterhand standen nur einzelne Baumgruppen. Brad ging in dieser Richtung voraus, Simon folgte ihm nach kurzem Zögern. Sie kamen in die Nähe der Schafe, die ihnen erst entgegenschauten und sich dann langsam entfernten. Sie schienen ziemlich klein zu sein, hatten aber recht große schwarze Hörner. Das Land schien sich zu weiten. Die Jungen kamen in ein Tal, und in der Ferne sah Simon einen Fluß blinken. Irgend etwas blitzte in seiner Erinnerung auf, verschwand jedoch gleich wieder. »Gehen wir auf den Fluß zu«, sagte Brad. »Warum?« »Warum nicht?« Simon war durchaus klar, daß er eigentlich sagen wollte: Warum sollen wir denn gerade das tun, was du sagst? Welches Recht hast du, hier die Entscheidungen zu treffen? Brad war ein Fremder in diesem Land. Selbstverständlich vorausgesetzt, daß sie tatsächlich in England waren. Er schaute sich noch einmal um, und da sah er sie. Sie waren ungefähr eine Viertelmeile entfernt, kamen jedoch näher: Reiter. Fünf oder sechs. Er packte Brad am Arm und deutete voraus. Brad war erleichtert. »Das ist gut! Menschen! Sie können uns sagen, wo wir sind, und vielleicht wissen sie auch den richtigen Weg.« Simon fiel auf, daß sie sehr seltsam gekleidet waren. Noch waren sie zu weit entfernt, um Einzelheiten der Kleidung zu erkennen, aber irgendwie sah alles nicht richtig aus. Ganz bestimmt trugen die Männer nicht die Kleidung, an die man in der heimischen Gegend gewöhnt war. Waren das Umhänge? Er sagte: »Ja, falls wir sicher sein können, daß die Leute dieser Gegend freundlich sind. Können wir sicher sein?« Brad zögerte. »Ich verstehe, was du meinst. Vielleicht sollten wir uns lieber hinter ein paar Büschen verstecken und die Gruppe vorbeireiten lassen?« 27
Schweigend gingen sie hügelan. Dort war eine Anhöhe, hinter der sie bald den Blicken der Reiter entzogen sein mußten, falls man sie nicht ohnehin schon entdeckt hatte. Dann war da ein Ruf, unverständlich aber durchdringend. Simon schaute zurück, während sie automatisch den Schritt beschleunigten. Die Reiter hatten ihre Richtung geändert und folgten den Jungen. Und sie hatten ihre Pferde zum Galopp angetrieben. Brad hatte es auch gesehen. Er sagte: »Los, laufen! In den Wald!« Er brauchte es Simon nicht erst zu sagen. Der stürzte schon vor Brad hügelaufwärts. Sie hörten die Rufe ihrer Verfolger und spürten Hufschlag auf dem Boden. Der Waldrand war noch fünfzig Schritte entfernt – sehr lange fünfzig Meter, wenn man die berittenen Verfolger hinter sich wußte. Brad fiel zurück. Simon dachte daran, langsamer zu laufen, um den anderen aufschließen zu lassen, doch die Furcht trieb ihn weiter; ein hastiger Blick über die Schulter hatte ihm eine erhobene Faust gezeigt, in dem etwas blitzte, das wie ein Schwert aussah. Dann hörte er ein Stöhnen, schaute sich um und sah, daß Brad strauchelte und zu Boden stürzte. Simon war jetzt dicht am Waldrand, und die Reiter waren so nahe, daß er das Schnauben ihrer Pferde und die Rufe der Reiter hörte. Er lief weiter, und Zweige peitschten ihm das Gesicht. Er zwängte sich durch die Büsche, hörte Geschrei hinter sich, doch der Lärm ließ nach, während er sich weiter durch das Unterholz vorankämpfte. Als er sich endlich keuchend gegen einen Baumstamm lehnte, um wieder zu Atem zu kommen, hörte er keinen Laut mehr außer dem Gesang der Vögel. Simon ließ sich viel Zeit, mindestens eine halbe Stunde, ehe er sich vorsichtig durch den Wald zurücktastete. Oft blieb er mit angehaltenem Atem stehen und lauschte. Die letzten zehn Meter bis zum Waldrand legte er besonders vorsichtig zurück. 28
Als er endlich den Kopf aus dem Wald heraussteckte, erwartete er halb und halb, ein Triumphgeheul zu hören und bedrohliche Gestalten vor sich auftauchen zu sehen. Aber da war nichts außer einem kahlen Hang mit grasenden Schafen und einem fernen Fluß. Keine Reiter, kein Brad. Er setzte sich ins Gras und dachte nach. Er hätte ihn nicht retten können. Wenn er stehengeblieben oder zurückgelaufen wäre … bis er Brad erreicht hätte, wären die Reiter über ihnen beiden gewesen. Was hätte es Brad geholfen, wenn sie ihn selbst auch gefangen hätten? Gegen diese Überlegung ließ sich nichts einwenden. Trotzdem fühlte Simon sich nicht wohler, so oft er diesen Gedankengang auch wiederholte. Und was war aus Brad geworden? Sie hatten ihn nicht getötet, oder sie hatten doch zumindest seine Leiche mitgenommen. Die Stelle, an der er in den Wald eingedrungen und Brad gestürzt war, lag ein Stück weiter den Hang hinauf. Simon ging hinauf und untersuchte aufmerksam den Boden. Keine Blutspuren. Vielleicht waren die Reiter ganz freundliche Menschen gewesen, und er hatte sich ganz unsinnig verhalten, als er geflohen war? Er erinnerte sich an den blitzenden Stahl. Freundlich hatten sie nicht ausgesehen. Und wenn sie ihre Pferde nur angehalten hätten, um einen guten Tag zu wünschen und Brad den Heimweg zu erklären, dann wäre der doch in den Wald gekommen und hätte ihm Bescheid gesagt. Und überhaupt: Wo waren sie? Brads Vorstellung, sie könnten von irgendeiner atmosphärischen Unheimlichkeit an einen anderen Ort transportiert worden sein, kam ihm immer unvernünftiger vor. Reiter, die am Rande von London – oder sonst irgendwo in Großbritannien – Schwerter schwangen … falls sie nicht gerade in eine Gegend geraten waren, in der ein Film für das Fernsehen gedreht wurde, war das eine völlig verrückte Vorstellung. Außerdem waren nirgends Kameras oder Aufnahmeteams zu sehen. Also nicht Großbritannien. Auch nicht Europa oder Amerika. In 29
irgendeinem fernen Land mußten sie sein. In Afghanistan vielleicht? Aber wie – und warum? Ursache von allem mußte die Feuerkugel gewesen sein. Nicht dadurch, daß sie sie wie ein Wirbelsturm hochgehoben und an einem anderen Ort wieder abgesetzt hätte, sondern auf irgendeine andere Weise. War die Kugel ein Tor gewesen? Waren sie hindurchgegangen und an einem anderen Ort herausgekommen? Aber an einem Ort, an dem es Reiter mit geschwungenen Schwertern gab? An einem anderen Ort – oder in einer anderen Zeit? Ein Tor in die Vergangenheit? Oder auch in die Zukunft. Ein Tor in irgendein neues dunkles Zeitalter, nachdem die Welt sich selbst in die Luft gesprengt hatte, wie manche Menschen es seit langem befürchteten? Unglücklich und ratlos schüttelte Simon den Kopf. Im Vergleich zu solchen Gedanken war die Vorstellung, sie seien einige tausend Meilen weit nach Afghanistan versetzt worden, geradezu verlockend und tröstlich. Er blickte ins Tal hinunter. Zeit war vergangen, während sich dies alles abgespielt hatte. Es ging auf den Abend zu. Die Sonne, wenn auch hinter Wolken verborgen, mußte bald untergehen. Dämmerung und Nacht waren nicht mehr fern, und es mußte einen besseren Ort als diesen hier geben, um sie zu ertragen. Er schlug die Richtung ein, die Brad vorhin bestimmt hatte, und ging auf den Fluß zu. Dabei spürte er seinen wachsenden Hunger. Die Zeit für das Mittagessen lag lange zurück – oder Jahrtausende voraus? Er verdrängte den Gedanken und ging entschlossen weiter. Der Fluß war weiter entfernt als er geschätzt hatte, doch endlich erreichte er ihn. Es war ein von Menschen unberührter Fluß, der wirbelte und schäumte und zwischen morastigen Ufern dahinfloß. Eine Forelle schnellte empor, um unter dem sich schnell verdunkelnden Himmel noch eine letzte Fliege zu fangen. Welche Richtung einschlagen? Im Zweifelsfalle immer 30
flußabwärts. Freilich, es bedeutete wohl keinen Unterschied. Simon war müde, hungrig und sehr niedergeschlagen. Die Dämmerung verdichtete sich. Bald würde es Nacht sein, eine Nacht ohne gelbe Fenster oder Straßenlaternen, sogar ohne die kalten Lichtkegel vorüberfahrender Autos. Eine Nacht auch ohne gepflasterte Straßen und Bürgersteige. Er rutschte auf dem schlammigen Untergrund aus und fing den Sturz mit einem Knie ab. Der fast unsichtbare Fluß klang melancholisch und unfreundlich. Fast war er schon daran vorüber, als er es wahrnahm: ein flaches, beinahe geducktes Bauwerk zu seiner Rechten. Er zögerte nur kurz, ehe er sich vom Fluß abwandte, um sich das genauer anzusehen. Seine Finger ertasteten Stein, dann ein flaches Dach, das er mühelos erreichen konnte. Dieser Bau war für ein Haus nicht groß genug, nicht einmal für einen Stall. Aber es gab da eine Art Fenster, unverglast, einfach nur eine Öffnung. Simon spähte hinein. Ein Licht flackerte. Anfangs hielt er es für eine Kerze, dann sah er, daß es sich um eine primitive Öllampe handelte. Sie stand auf einem flachen Stein, andere Dinge standen daneben: einfache Teller aus gebranntem Ton, darauf ein Brot, Fleischscheiben, Obst. Der Hunger überwand die Vorsicht. Er flüsterte: »Ist da jemand?« Keine Antwort. Kein Geräusch drang aus dem Schatten dort drinnen. Simons Magen knurrte ihn an. Wenn er hineingriff, an der Lampe vorbei, konnte er das Brot erreichen. Fast war es schon getan, als sein Arm die Lampe streifte. Sie rutschte von dem Stein, fiel auf den Steinboden und erlosch. Simon stand wie erstarrt. Sein Herz klopfte heftig. Wenn jemand dort drinnen war, dann mußte er ihn jetzt aufmerksam gemacht haben. Nichts geschah. Er hörte nur das ferne Geräusch des Flusses. Das Brot dort drinnen, das Fleisch … er konnte es nicht mehr sehen, aber er wußte, daß es dort lag. Die Fensteröffnung war gerade groß genug, daß er hindurchkrie31
chen konnte. Er tat es, tastete nach dem steinernen Tisch und fand ihn. Und der Laib Brot … Er teilte ihn in zwei Hälften und brach Bissen ab und kaute darauf. Das Brot war grob und trocken, aber es war gut, es zu haben. Er fand auch das Fleisch; es schmeckte wie kalter Schweinebraten. Seine Hand berührte etwas anderes, einen Tonkrug. Vorsichtig prüfte er den Inhalt. Wein! Ein wenig sauer, aber gut gegen den Durst. Nachdem er noch einen Apfel gegessen hatte, war Simon ziemlich satt. Und sehr müde. Offensichtlich hatte es gar keinen Zweck, sich in der Dunkelheit weiterzutasten. Er konnte sich hier ein Lager suchen. Unter seinen Füßen spürte er flache Steine, doch als er sich ein wenig seitwärts bewegte, war der Boden weniger hart. Festgetretene Erde, nahm er an. Nicht gerade ein Federbett, aber Müdigkeit ist eine gute Matratze. Er rollte sich auf dem Boden zusammen. Wieder dachte er darüber nach, wo er sein mochte und in welcher Zeit, und was wohl aus Brad geworden sei. Doch er dachte nicht lange darüber nach, denn er schlief bald ein. Er schlief lange und fest. Als er erwachte, war es strahlend hell. Er schlug die Augen auf und schloß sie sofort wieder vor dem blendenden Sonnenlicht. Nachdem er schützend die Hand über die Augen gelegt hatte, sah er, daß das Sonnenlicht durch die Öffnung in der Wand fiel. Er betrachtete seine Umgebung. Der Bau bestand aus einem einzigen Raum, etwa drei Meter im Quadrat und nicht höher als zwei Meter. An den Wänden standen steinerne Gefäße auf stufenförmigen Regalen. Die Ausstattung bestand nur aus dem steinernen Tisch, auf dem noch die Überreste seiner Abendmahlzeit lagen, und ein weiterer, größerer Steintisch, auf dem eines der Steingefäße stand. Alles war von einem schweren, süßlichen Geruch erfüllt; er hatte ihn schon gestern abend bemerkt, doch er schien jetzt viel stärker zu sein. Simon stand auf und ging zu dem Tisch mit dem steinernen 32
Behälter. Der war über einen Meter lang, einen halben Meter breit und vielleicht ebenso tief. Oben war der Behälter offen, doch ein schwerer Steindeckel lag daneben. In diesem Behältnis lag eine Statue, eher eine Art Relief. Ringsum war weißer Stein, doch in der Mitte erhob sich eine menschliche Gestalt. Es war das Bildnis einer schlafenden Frau, die Hände auf der Brust gefaltet. Die Gestalt war in ein weißes Kleid gehüllt. Hinter ihrem Kopf standen kleine Tiegel und Flaschen sowie eine Bürste mit silbernem Rücken. Seltsam, dachte er. Er berührte mit dem Finger die weiße Umrahmung der Gestalt. Sie bestand nicht aus Stein, sondern aus einem weicheren Stoff. Gips? Die Gestalt war ganz hervorragend gestaltet. Im Dämmerlicht wirkten die Falten des Kleides, als wären sie aus wirklichem Stoff. Und die zarte Wölbung der Wange … Es war eine junge Frau, zwanzig Jahre vielleicht, und sehr schön. Er berührte auch die Wange mit dem Finger und zog ihn sogleich entsetzt zurück. Auch das war kein Stein. Die Wange hatte unter der leichten Berührung des Fingers nachgegeben: nicht Stein, sondern kaltes, totes Fleisch. Er wußte jetzt, wo er sich befand: in einer Grabkammer mit Särgen ringsum an den Wänden, von denen der neueste noch unversiegelt war. Brot, Wein und Früchte waren als Grabzehrung zurückgelassen worden, Totengaben waren der Schmuck und die Mittel zur Schönheitspflege. Simon spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er mußte hinaus. Die Öffnung, durch die er eingestiegen war, bot den einzigen Ausweg. Simon kletterte hinaus und stieß dabei den Steintisch hinter sich um. Es war ihm gleichgültig, wieviel Lärm er verursachte. Draußen fiel er zu Boden, rappelte sich auf und stand ein paar Augenblicke tief atmend in der frischen Luft. Dann hörte er einen schweren Schritt neben sich, doch ehe er noch den Kopf wenden konnte, um zu sehen, wer dort war, legte sich ihm ein Arm wie eine 33
Eisenklammer um den Hals und drückte ihm fast die Luft ab. Die folgenden Ereignisse waren erschreckend und verwirrend. Außer dem Mann, der ihn fast erstickte, waren da noch drei andere und sie trieben ihn hügelan, indem sie mit Stöcken auf seine Beine einschlugen. Auf dem Hügel stand ein Haus, doch in seiner Verwirrung nahm Simon davon nicht mehr wahr, als daß es ziemlich groß und rechteckig war. Am unteren Mauerrand war eine hölzerne Falltür angebracht, und durch sie wurde Simon in einen Keller geworfen. Der Aufprall auf den harten Boden nahm ihm den Atem. Die Falltür schlug zu, und Simon lag in fast völliger Finsternis. Jemand, der schon vor ihm hier unten gewesen war, redete ihn in einem seltsamen Kauderwelsch an. Er hielt es für unnötig, darauf zu antworten, und der andere drängte nicht. Simon versuchte, sich über das Geschehene klar zu werden. Man hatte ihn beim Ausstieg aus einer Familiengruft entdeckt. Gräber waren überall und zu allen Zeiten von einem strengen Tabu umgeben, das er – wenn auch unabsichtlich – verletzt hatte. Damit hatte er ein Sakrileg begangen, das in jeder beliebigen Gesellschaftsordnung mit strengen Strafen belegt war. Wieder fing sein Gefährte an zu reden. Es war noch immer ein seltsames Kauderwelsch, aber in der Wiederholung schienen doch wenigstens einige Brocken verständlicher zu werden. Ein mehrmals wiederholtes Wort kam Simon bekannt vor: »Fuggietief«, oder so ähnlich. Simon dachte über die mögliche Strafe nach. In einer primitiven Gesellschaft konnte es sehr wohl die Todesstrafe sein, und das ließ jede noch so geringe Fluchtmöglichkeit verlockend erscheinen. Zentimeter um Zentimeter tastete er sich an den Kellerwänden entlang, sie bestanden aus Steinen, die zwar kleiner waren als diejenigen, an die Simon gewöhnt war, jedoch fest zementiert. An einem Stein brach er sich einen Fingernagel ab. Steine … 34
dann Holz. Eine Tür: Das war immerhin etwas. Stück für Stück tastete er sie ab. Sie bestand aus schweren, eisenbeschlagenen Brettern. Simon fand auch einen eisernen Riegel, ein Schlüsselloch, einen dicken Metallring. Nach langen Versuchen mußte er sich eingestehen, daß die Tür entweder abgeschlossen oder von außen verriegelt war. Man mußte schon eine Art Superman sein, wenn man sie von innen öffnen wollte. Sonst wurde das Gemäuer nur noch durch die Luke unterbrochen, durch die man Simon in diesen Keller geworfen hatte. Auch diese Tür bestand aus dickem Holz und war fest verriegelt. Licht fiel durch winzige Spalten an den Rändern der Falltür, und an der Stickigkeit des Kellers war leicht abzuschätzen, wie wenig Luft eindringen konnte. Während dieser Erforschung war der Mann, der mit im Keller war, an seinem Fleck geblieben, hatte jedoch hin und wieder Unverständliches gesprochen. »Fuggietief« war mehrmals dabei, jedesmal in fragendem Ton. Plötzlich erinnerte sich Simon an einem sommermüden Vormittag. Lateinstunde. Fugitivus – ein Flüchtling. Genauer: Ein entflohener Sklave! Alles paßte zusammen. Er war in der Vergangenheit, das war klar, und auf einige hundert Jahre genau konnte er sie nun sogar bestimmen. Er befand sich in der Zeit der römischen Besetzung Britanniens. In einem Anflug von Begeisterung antwortete er, oder er versuchte es doch wenigstens. »Nonfugitivus sunt.« Der andere schien nicht zu verstehen. Er antwortete mit einer unverständlichen Flut von Wörtern. Simon versuchte es mit »Homo über«, worauf ein längeres Schweigen folgte. War es ein Zeichen von Respekt, oder verriet es nur Verständnislosigkeit? Ein neuer Wortschwall, vermutlich in lateinischer Sprache, erwies sich nicht als hilfreich. Simon gab auf und wünschte, er hätte mehr auf das näselnde Gerede seines Lateinlehrers geachtet. Verhältnismäßig sicher schien ihm zu sein, daß der Mann, der mit ihm 35
den Keller teilte, ein römischer Sklave war und ihn seinerseits ebenfalls für einen Sklaven hielt, für einen entlaufenen Sklaven. Ein Flüchtling, der in ein Grab eingebrochen war und gegessen hatte, was die Tote ernähren sollte, während sie sich darauf vorbereitete, den Styx zu überqueren. Der unsichtbare Mann unternahm einen weiteren Versuch, doch Simon fühlte sich zu tief niedergeschlagen, um noch eine Antwort zu versuchen. Viel später wurde die Luke für einen Augenblick geöffnet. Brot wurde heruntergeworfen – eine Anzahl kleiner Brotlaibe – und eine Lederflasche mit Wasser. Simon konnte sehen, daß der Tag fast vorüber war, und im schwächlichen Abendlicht sah er seinen Gefährten: einen kleinen, hageren, unterernährten Mann mit einem struppigen grauen Bart. Simon nahm ein Brot vom Boden und verschlang es gierig. Sie teilten das Wasser miteinander. Zeit verging. Simon schlief, erwachte, schlief wieder ein. Dann wurde die Luke wieder geöffnet, und es war Morgen. Man schrie von oben herunter. Der alte Mann stemmte sich durch die Öffnung, und Simon folgte ihm. Der Mann, der ihn gestern gepackt hatte, war auch heute der Anführer der Gruppe und sah zu, wie die beiden Gefangenen gefesselt wurden. Ein Strick wurde ihnen um den Hals gelegt und an Fuß- und Handgelenken befestigt. Man konnte sich gerade noch hüpfend fortbewegen, mehr nicht. Fast fühlte Simon sich ein wenig erleichtert. Sicherlich würde man doch niemanden nur deswegen sorgsam fesseln, weil man ihm den Kopf abschlagen wollte? Das Haus, so erkannte er jetzt, war ein typisch römisches Landhaus, wie es in den Geschichtsbüchern abgebildet ist. Ein offener Karren stand in der Nähe, vor den zwei Ochsen gespannt waren. Man ließ den alten Mann und Simon auf den Wagen klettern, und ein Wächter setzte sich zu ihnen. Dann wurde die Rückwand des Wagens aufgerichtet, Rufe und Peitschenknall waren zu hören, und der Wagen setzte sich in Be36
wegung. Es war eine Reise, die nicht enden wollte, und die Unbequemlichkeit wurde zur Qual. Es bedeutete eine gewisse Erleichterung, als sie auf eine gepflasterte Straße einbogen, doch bald stellten sich schmerzende Krämpfe ein. Simon versuchte, sich zum Hocken aufzurichten, doch ein Zuruf des Wächters, der mit dem Rücken an der Wagenwand lehnte, ließ ihn den Versuch aufgeben. Er konnte nicht über die Wagenwand hinaussehen. Die Sonne brannte unbarmherzig hernieder. Schweiß brach Simon aus allen Poren, und schon stellten sich die Riegen ein. Am Morgen hatte man den Gefangenen nichts zu essen und zu trinken gegeben. Der Durst wurde quälend. Vielleicht fesselte man jemanden auch, dachte Simon betreten, wenn man ihn nur an einen anderen Ort bringen wollte, um ihm dort den Kopf abzuschlagen. Dann brauchte man ihm nicht erst zu essen und zu trinken zu geben. Endlich waren andere Geräusche als das Knarren und Klappern der Räder zu hören, als die gelegentlichen Rufe des Wächters und das Schnauben der Ochsen. Da waren andere Wagen, andere Stimmen, die unverständlichen unverkennbaren Ausrufe von Straßenhändlern. Sie waren in einer Stadt. Londinium? Das schien wahrscheinlich. Gewiss war es keine kleine Stadt. Es dauerte noch recht lange, ehe der Ochsenkarren hielt, die hintere Klappe heruntergelassen wurde und man die beiden Gefangenen vom Wagen stieß und zerrte. Sie standen auf einem weiten, von Häusern umgebenen Platz. Auf der entlegenen Seite, hinter dem Gewirr der Marktstände, waren die Häuser von eindrucksvoller Größe, und vor ihnen verliefen hohe Säulengänge. Die nähergelegenen Häuser waren bescheidener, Werkstätten und Verkaufsräume lagen zu ebener Erde. Der Ochsenkarren hatte in der Nähe eines hölzernen Podiums gehalten, das einen Meter hoch und fünf Meter breit sein mochte. Ein gut gekleideter, bartloser Mann stand darauf, und neben ihm drei bärtige, nackte und gefesselte Män37
ner. Davor drängten sich Menschen, die ihre Angebote für die vorgestellten Männer hinaufriefen. Simon und der alte Mann wurden hinter das Podium geführt. Dort standen noch mehr Sklaven, die darauf warteten, versteigert zu werden. Es waren nicht nur Männer und Frauen, sondern auch einige Kinder. Alle standen in zwei Gruppen zusammen. Die eine umfaßte ungefähr fünfzig Menschen, die andere nur ein halbes Dutzend. Die beiden wurden zur kleineren Gruppe geführt. Der Mann, der sie hergeführt hatte, riß ihnen die Kleider vom Leib. Bei dem alten Mann gelang das mit einer einzigen heftigen Bewegung, bei Simon bereitete es mehr Schwierigkeiten. Der Mann betrachtete Hemd und Hose voller Neugier, stellte eine unverständliche Frage, zuckte die Achseln und ging davon. Simon schämte sich, doch das Gefühl war weit weniger stark als er erwartet hätte. Die Nacktheit in aller Öffentlichkeit erschien ihm weniger wichtig als die brutale Tatsache, daß er als Sklave verkauft werden sollte. Immerhin war das ein besseres Los als die Todesstrafe.
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3 Der Tag blieb heiß und wolkenlos. Der Durst, den Simon in den Aufregungen am Ende der Karrenfahrt vergessen hatte, stellte sich quälend wieder ein. Das, so wurde ihm klar, war eines der Kennzeichen der Sklaverei. Simon dachte an die Welt, in der er bis … bis wann? Bis vorgestern vielleicht gelebt hatte. Alle diese Rechte, die man so selbstverständlich in Anspruch nehmen konnte: Nahrung, Obdach, Arbeit, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Ein Sklave besaß nichts, oder doch nur das, was ihm Wohlwollen oder Laune seines Besitzers zubilligte. Wenn der Sklave von irgendeinem Wert war, dann gab man ihm sicher Wasser, ehe er verdurstete, aber die Tatsache, daß er im Augenblick vom Durst gequält wurde, war gänzlich unwichtig. In einen Automotor füllte man Öl nach, weil ein wertvoller Besitz zu einem bloßen Wrack wurde, wenn man den Motor trocken laufen ließ. Die Tatsache, daß er als Besitz einen Wert darstellte, würde ihm endlich zu Wasser verhelfen. Die Sklaven der größeren Gruppe wurden einzeln oder zu zweien oder dreien auf die andere Seite des Podiums geführt und ihren neuen Besitzern übergeben. Aus der kleineren Gruppe, die jetzt mit Simon sieben Menschen umfaßte, wurde niemand geholt. Die große Gruppe schmolz dahin, bis endlich die letzten beiden Sklaven, eine Frau mit einem zwei- oder dreijährigen Kind, gerufen wurden. Wenige Minuten später war die Versteigerung vorüber. Die sieben Verbliebenen hockten im heißen Staub. Zwei Soldaten bewachten sie. Sie zogen Brot und Fleisch aus den Taschen ihrer metallbewehrten Tuniken, aßen mit Hilfe ihrer Dolche und tranken Wein aus ihren Lederflaschen, ohne ihren Gefangenen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als sie es mit eingepferchten Schafen auf einem Dorf markt getan hätten. 39
Es war nicht abzuschätzen, wieviel Zeit verging. Die Wächter richteten sich plötzlich auf, als eine kleine Gruppe von Männern quer über den Platz auf sie zukam. Sie standen achtungsvoll auf und legten zum Gruß die Hände an die Waffen. Der Vornehmste der Gruppe schien ein mittelgroßer, muskulöser Mann von etwa dreißig Jahren zu sein. Er hatte ein schmales Gesicht und scharfblickende Augen. Über seiner Tunika trug er einen hellroten Umhang, der vorn von einer goldenen Spange zusammengehalten wurde. Zwei andere Männer standen respektvoll hinter ihm. Die nackten Gestalten musterte er sehr schnell. Vier von ihnen berührte er sogleich mit einem schwarzen Stab, den er bei sich trug, an den Schultern. Darunter war auch der Mann, den man zugleich mit Simon hergeschafft hatte. Die restlichen drei betrachtete er genauer. Als er vor Simon stand, legte er ihm die Spitze seines Stockes unter das Kinn, um sein Gesicht anzuheben. Dann beugte er sich nieder und knetete die Muskeln an Simons rechtem Oberarm mit harten, prüfenden Fingern. Das alles wirkte zwar ganz unpersönlich, aber doch erniedrigend. Dann trat er wieder zurück, um einen allgemeineren Überblick zu gewinnen, schließlich berührte er anscheinend wahllos einen der drei mit seinem Stock, schnarrte ein paar Kommandoworte und ging mit seinen beiden Begleitern über den Marktplatz zurück. Eine Wahl war zweifellos getroffen worden. Aber welche? Jedenfalls hatte sie keine sofortigen Auswirkungen. Die sieben wurden gemeinsam von den beiden Wächtern fortgeführt, so schnell es die Fußfesseln erlaubten. An der ersten Ecke verließen sie den Markt und gingen durch eine enge Gasse, in der es von Menschen und Pferdekarren wimmelte. Zu beiden Seiten waren Läden, kleine, kastenartige und zur Straße hin offene Verkaufsräume, in denen die unterschiedlichsten Waren feilgeboten wurden: Metallarbeiten, Tonwaren, Kleider, gekochtes 40
Fleisch, Wein. Die Gerüche waren überall stark, besonders aber, als sie an einem Laden vorüberkamen, in dem Lederwaren angeboten wurden. Niemand achtete auf die Gefangenen, genausowenig wie auf die Bettler, mit ihren mannigfachen Verkrüppelungen und Entstellungen, die an den Straßenrändern hockten und um Almosen baten. Sie bogen in eine andere, breitere Straße ein. Die ganze linke Seite wurde von einem großen Gebäude eingenommen, dessen Erdgeschoß fensterlos war, während sich weiter oben schmale, fast schlitzartige Öffnungen in den Mauern zeigten. Ein Gefängnis? Die glatte Hausfront wurde von einem Torbogen unterbrochen, breit genug, um ein Fuhrwerk einzulassen. Zu beiden Seiten der hölzernen Torflügel standen bewaffnete Wächter. Ungehindert traten sie durch das Tor, gingen durch den düsteren Gang dahinter und gelangten auf einen sonnenhellen Hof. Der Hof war voller Soldaten, die exerzierten oder sich in der Handhabung ihrer Waffen übten. Es waren mehrere Abteilungen, mit denen sich jeweils ein Instruktor beschäftigte. Simon fiel eine Abteilung auf, deren Soldaten paarweise mit Holzschwertern gegeneinander kämpften, eine andere Gruppe schleuderte Lanzen auf Puppen, die als Ziele dienten, aus Sackleinen bestanden und ungefähr die Form von Menschen hatten. Offenbar war man hier nicht in einem Gefängnis, sondern in einer Kaserne. Bedeutete das, daß man sie zu militärischem Dienst pressen wollte? In diesem Falle sah alles gleich wieder ein wenig besser aus. Um eine Winzigkeit besser freilich nur, aber jede Winzigkeit an Verbesserung war wichtig. Einer der Bewacher stieß einen kurzen Befehl aus, und schon teilten sich die beiden Gruppen. Simon, der kein Wort verstand, folgte dem Mann zu seiner Linken. Ein bellendes Schimpfen und ein Schlag ins Gesicht sagten ihm, daß er das Falsche getan hatte. Die Bewacher schienen das lustig zu finden; sie lachten – 41
ganz offenbar über ihn – ehe sie ihre getrennten Gruppen fortführten. Die fünf, die der Offizier mit seinem schwarzen Stock berührt hatte, traten durch ein Tor zur Linken. Simon und der letzte der übrigen Sklaven wurden weitergeführt. Sein neuer Gefährte war ein kleiner, stämmiger Mann von etwa zwanzig Jahren. Er hatte mit den Wächtern gelacht, und jetzt redete er unablässig und grinste Simon dabei an. Er schien irgend etwas zu fragen. Als Simon ihn nur verständnislos anschaute, zuckte der Mann die Achseln und sagte etwas zu den Bewachern. Der Posten antwortete in einem fast liebenswürdigen Ton. Es sah fast so aus, als wären die beiden besonders auserwählt worden und sollten eine etwas bessere Stellung als die anderen einnehmen. Ihr Ziel war eine Tür am Ende des Bauwerks, genau gegenüber dem Torweg, durch den sie das Kasernengelände betreten hatten. Hinter der Tür lag eine von Öllampen erhellte Halle. Eine steinerne Treppe mit eisernem Geländer führte aufwärts, und beiderseits dieser Treppe waren Türen. Durch eine davon wurden die beiden Gefangenen in einen mit Regalen ausgestatteten Raum geführt. Der Bewacher bellte einen Befehl, und da sein Nebenmann stehenblieb, tat Simon es ebenfalls. Einen Augenblick war er von Entsetzen erfüllt, als der Posten mit dem Dolch auf ihn wies. Doch mit einer schnellen Bewegung wurden ihm nur die Fesseln an Händen und Füßen durchschnitten. Sie fielen vor Simon zu Boden, während sein Gefährte auf dieselbe Weise befreit wurde. Er reckte Kopf und Schultern, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Der Raum war eine Kleiderkammer. Ein Verwalter suchte etwas für sie heraus: Unterhosen und eine Tunika aus ungebleichter Wolle. Simon trug noch seine eigenen Socken und Sandalen, und der Mann betrachtete sie mit einigem Interesse und fragte etwas. Als Simon durch Gesten andeutete, daß er nicht antworten könne, bedeutete ihm der Mann, Socken und 42
Sandalen abzulegen, und Simon bekam im Tausch dafür andere. Sie waren recht primitiv: einfach geformte Ledersohlen mit einem Riemen, der zwischen dem ersten und dem zweiten Zehen hindurchlief und einem zweiten, der sich um die Ferse legte. Der Lagerverwalter betrachtete die Sandalen aus dem zwanzigsten Jahrhundert einen Augenblick, ehe er sie in eine Tonne warf. Die Tatsache, daß Simon nicht lateinisch sprach, schien hier niemanden zu erstaunen. Freilich: Die Römer hatten niemals ganz Britannien besetzt. Vermutlich hielten sie ihn für einen Pikten, einen Schotten oder einen der wilden Kelten, die von jenseits der Irischen See kamen. Simons Überlegungen wurden dadurch unterbrochen, daß sein Gefährte und er aus der Kleiderkammer in einen anderen Raum auf der entgegengesetzten Seite der Halle geführt wurden. In ihm standen einfache Holztische und -bänke, die für etwa dreihundert Menschen ausreichen mochten, und an einer Schmalseite lag eine Küche, aus der verführerisch der Duft von kochendem Fleisch drang. Köche und ihre Helfer arbeiteten dort emsig. Simon fühlte sich ganz schwach, als sie sich diesem Teil des Raumes näherten. Erst reichte man ihnen irdene Näpfe mit frischem Wasser. Zugleich wurden Bohnen mit ein wenig Fleisch aber viel Soße auf Teller gehäuft. Jeder von ihnen bekam einen Teller und dazu einen kleinen Laib Brot. Simon konnte sich nicht erinnern, daß jemals in seinem Leben eine Mahlzeit so gut gerochen oder geschmeckt hätte. Er schlang sie gierig hinunter. Als sie fertig gegessen hatten, führte der Soldat sie weiter. Sie verließen den Speisesaal und stiegen eine Treppe hinauf. Im dritten Stockwerk deutete der Wächter auf eine Tür. Der Raum dahinter war sehr groß: mindestens fünfzehn Meter lang und fünf Meter breit. Eine Wand war in kurzen Abständen von schmalen, unverglasten aber mit Eisengittern bewehrten Fensteröffnungen unterbrochen. Der Fußboden bestand 43
aus Zement, die Wände waren weiß gekalkt. Von den Wänden her verliefen im Abstand von jeweils einem guten Meter erhöhte, steinerne rechteckige Blöcke zur Raummitte hin. Sie maßen ungefähr hundertachtzig zu neunzig Zentimeter, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, wozu sie dienten, denn an einem Schmalende jedes Steinblocks lag eine zusammengerollte Matratze. Etwa in der Mitte des Schlafsaales war die Bettenreihe unterbrochen. Dort stand ein Ofen, von dem ein Schornstein zu einer Öffnung hoch in der Wand hinaufführte. Der Wächter sagte noch ein paar Worte und ging dann hinaus. Sie hörten, wie sich seine Schritte treppab entfernten. Der andere Mann entrollte eine der Matratzen und legte sich auf ein Bett. Nach kurzem Zögern folgte Simon seinem Beispiel und legte sich auf das gegenüberliegende Bett. Die Matratze schien aus Segeltuch zu bestehen und mit Stroh gefüllt zu sein. Das war nicht gerade Luxus, aber es war immer noch besser als der bloße Stein. Durch das Fenstergitter sah Simon blauen Himmel und den Zipfel einer weißen Wolke. Er überdachte seine Lage und fing mit der erfreulicheren Seite an. Zunächst einmal war er noch am Leben, und darauf hätte er während der letzten sechsunddreißig Stunden nicht gerade hohe Wetten abgeschlossen. Man hatte ihm Wasser und etwas zu essen gegeben, und er war nicht mehr gefesselt. Er hatte sogar ein Bett, auf dem er liegen konnte. Dagegen stand die Tatsache, daß er kein freier Mensch mehr war. Offensichtlich hatte man ihn zum Dienst in der Römischen Armee gepreßt, und er zweifelte sehr daran, ob man einverstanden sein würde, ihn daraus wieder zu entlassen, auch wenn er gewußt hätte, wie er darum bitten könnte. Der Soldat hatte die beiden hier unbewacht zurückgelassen, doch das hatte nicht viel zu bedeuten. Soweit Simon beurteilen konnte, war das Haupttor der einzige mögliche Ausgang, und wenn die beiden bewaffne44
ten Wächter davor nichts dagegen gehabt hatten, sie einzulassen, würden sie wahrscheinlich ganz anders handeln, wenn man versuchen wollte, die Kaserne wieder zu verlassen. Wenn jemand wirklich unternehmungslustig war, konnte er vielleicht nach anderen Fluchtmöglichkeiten Ausschau halten. Aber gegenwärtig verspürte Simon solche Unternehmungslust ganz und gar nicht. Die Tatsache, daß man sie allein zurückgelassen hatte, war Beweis genug, daß der Wächter nicht mit einer Fluchtmöglichkeit rechnete. Zudem hatte seine letzte unverständliche Ansprache möglicherweise eine Warnung enthalten und erklärt, was ihnen widerfahren würde, wenn sie versuchten, aus diesem Schlafsaal zu entkommen. Sein Gefährte jedenfalls schien sich mit der Lage abzufinden. Nein, es war sicherlich besser, erst einmal abzuwarten, was die Zukunft bringen mochte. Es mochte unmöglich sein, aus den Kasernen zu fliehen, aber schließlich konnte man sie nicht ewig hier festhalten. Irgendwann mußte es zu einer Berührung mit der Außenwelt kommen, und damit vielleicht zu einer Chance zur Flucht. Bis dahin würde er vielleicht auch alles besser verstehen. Gegenwärtig war ihm alles ringsum fast völlig fremd, und er mußte mit dieser Welt vertrauter werden, um mit ihr fertigwerden zu können. Hilfreich würde es sein, wenn er die Sprache besser erlernte. Seine drei Jahre Latein in der Schule konnten dabei helfen. Zum erstenmal seit Stunden fragte er sich, was aus Brad geworden sein mochte. Latein wurde in amerikanischen Schulen wohl nicht unterrichtet. Der arme Brad – wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, wo sie sich jetzt befanden und in welcher Zeit. Falls er überhaupt überlebt hatte. Je länger Simon darüber nachdachte, desto mehr fand er, daß er Glück gehabt hatte. So plötzlich in eine barbarische Vergangenheit versetzt zu werden, das brachte Probleme mit sich, von denen er sich niemals etwas hätte träumen lassen. 45
Er fragte sich auch, was sich jetzt wohl zu Hause abspielen mochte. Wahrscheinlich wurde eine große Suche gestartet, wenn Brad und er nicht heimkamen. Ob man wohl immer noch den Wald durchkämmte? Ober hatte man es inzwischen schon aufgegeben? Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, daß alljährlich tausende von Menschen spurlos verschwänden. Wie viele von ihnen mochten wohl das gleiche erlebt haben wie er selbst? Selbstverständlich gab es darüber keine Berichte. Wer sich plötzlich in der Vergangenheit wiederfand, der mußte versuchen, in der neuen Umgebung zu überleben, ohne seine Herkunft zu enthüllen. Zu jeder geschichtlichen Zeit konnte man mit einer solchen Geschichte nur eingesperrt werden. Es gab überhaupt nur eine Möglichkeit: Man mußte stillhalten und versuchen, das Beste aus der Lage zu machen. Er streckte sich auf seinem Bett aus. Die anderen Bewohner des Schlafsaales exerzierten vermutlich draußen auf dem Hof. Simon erinnerte sich an seinen ersten Tag im Internat. Er war früher als alle anderen angekommen, und auch dort hatte man ihn in einen leeren Schlafsaal geführt und ihn dort warten lassen. Ganz so spartanisch wie hier war es dort freilich nicht gewesen – Federbetten waren schon besser als Steinblöcke, und die Fenster waren auch nicht vergittert gewesen – aber im Vergleich zu seinem Zimmer daheim war auch der Schlafsaal im Internat ziemlich trostlos gewesen. Und überall hatten die Tücken und Bedrohungen eines ganz neuen Lebens gelauert. Es gab schon einige erhebliche Unterschiede zwischen dem Leben eines »Neuen« in einer britischen Internatsschule und dem eines unfreiwilligen Rekruten in der Armee des Römischen Reiches, aber es gab zugleich auch gerade genug Ähnlichkeiten, um Simon mit einem Hauch von Zuversicht zu erfüllen. Hier drinnen war es kühler als draußen, aber noch immer sehr warm. Simon entspannte sich und starrte zur hohen, gekalkten Decke hinauf.
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Geweckt wurde Simon vom Geräusch eiliger Schritte und einem lauten Stimmengewirr. Er richtete sich zum Sitzen auf und sah, wie die Männer zur Tür hereinströmten. Die meisten setzten sich erschöpft auf ihre Betten, legten Schuhe und Ausrüstung ab, streckten sich aus und redeten miteinander. Die meisten waren nur mittelgroß, hatten aber starke Muskeln und sahen gesund und kräftig aus. Die meisten waren schwarzhaarig und von dunkler Hautfarbe. Der große rothaarige Mann, der jetzt eintrat, war eine auffällige Ausnahme. Als der Rothaarige am Fußende des Bettes stehenblieb, auf dem Simon saß, dachte der, dem großen Mann habe es nicht gefallen, so angestarrt zu werden. Da es zu spät war, den Blick abzuwenden, versuchte Simon es mit einem Lächeln. Der Rotkopf ließ sich dadurch nicht besänftigen. Er stieß eine lateinische Wortflut hervor, die keineswegs freundlich klang. Simon hob die Hände, um anzudeuten, daß er nichts verstand. Das rief aber nur einen neuen, ebenso feindseligen Ausbruch hervor. Simon schüttelte den Kopf und lächelte noch immer, um seinen guten Willen zu beweisen. Das fleckige Gesicht unter dem roten Haarschopf verzog sich noch grimmiger, und im nächsten Augenblick war der Fremde einen Schritt nähergetreten und hatte Simon einen Hieb versetzt, der ihn am Unterkiefer traf und ihn zwischen den Betten zu Boden fallen ließ. Der Schlag nahm ihm nicht das Bewußtsein, aber Simon war doch recht benommen. Während er dort lag, sah er, daß der Rothaarige mit einer deutlich besitzergreifenden Geste einen Fuß auf die Bettkante gestellt hatte. Der Grund für den Zorn und die Tätlichkeit des anderen wurde ihm klar. Er hatte ungewollt das Bett des Kelten belegt (bei dieser Haarfarbe konnte es sich nur um einen Kelten handeln), und sein Lächeln, mit dem er auf die Schelte geantwortet hatte, war nicht als Freundlichkeit, sondern als Herausforderung aufgefaßt worden. So ungerechtfertigt der Schlag auch sein mochte, war es 47
doch sinnlos, sich einen Feind zu schaffen, vor allem zu einem so frühen Zeitpunkt. Simon rappelte sich auf, lächelte wieder und streckte diesmal die rechte Hand aus. Der Kelte übersah die Hand. Sein Gesicht sah jetzt noch gemeiner aus, falls das überhaupt möglich war. Er sprudelte noch mehr Latein hervor. Es klang wie ein Befehl. Simon hätte gern allem gehorcht, was von ihm verlangt wurde, wenn er nur herausgefunden hätte, was man von ihm erwartete. Aber so konnte er nur abermals lächeln und diesmal beide Hände mit aufwärts gewandten Handflächen als Zeichen der Hilflosigkeit ausstrecken. Er sollte niemals erfahren, was er falsch gemacht hatte. Vielleicht drückte seine Geste nach keltischem Brauch etwas Gemeines oder Beleidigendes aus. Was er aber sehr schnell erfahren sollte, war, daß Rufus (denn das war der Name des Kelten) immer auf der Suche nach einem Streit war, vor allem, wenn der mögliche Gegner kleiner oder schwächer war als er selbst. Er sprang auf Simon zu, schleuderte ihn gegen das nächste Bett und umklammerte seinen Hals mit einem Würgegriff. Da Freundlichkeit sich als verheerend erwiesen hatte, blieb nur die Möglichkeit, sich zu wehren. Das war aber leichter gedacht als getan. Der Kelte war einige Jahre älter, größer, schwerer und viel stärker. Simon zerrte an dem Arm, der seinen Hals umklammerte, doch vergebens. Er suchte mit den Füßen nach einem Halt, der ihm ermöglichen könnte, den Kelten abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Der Griff um seinen Hals war so eng, daß er kaum noch atmen konnte. Noch einmal versuchte er, mit den Füßen zu stoßen, aber er spürte schon, wie die Schwäche sich durch seinen ganzen Körper ausbreitete. Nachgeben war so viel leichter als kämpfen. Er merkte, wie seine Willenskraft erlahmte, und spürte zugleich, daß der Würgegriff noch enger wurde. Dann, als ihm schon schwarz vor Augen wurde, spürte er einen neuen heftigen Schlag. Ein anderer griff ihn jetzt an, und er hätte ihm gern ge48
sagt, daß er sich keine Mühe mehr zu machen brauchte, es sei sowieso schon alles vorbei. Keuchend und nach Luft ringend kam Simon wieder zu sich. Der Kelte hatte seinen Würgegriff aufgegeben; jetzt lag er auf der anderen Seite des Betts am Boden. Eine Gestalt beugte sich über ihn und hielt den Arm für den Fall zum Schlag erhoben, daß der Kelte versuchen sollte, wieder auf die Beine zu kommen. Der Rotschopf sah nicht so aus, als wollte er es versuchen. Während Simon langsam aufstand, betrachtete er seinen Retter. Er war alt, mindestens vierzig, sein schwarzer Bart war graugesprenkelt. Er war nicht größer als Simon, eher einen Zentimeter oder zwei kleiner, aber er hatte gewaltige Arme und einen riesigen Brustkorb. Sein breites, häßliches Gesicht mit der gebrochenen Nase zeigte auf Stirn und rechter Wange tiefe Narben. Unter normalen Umständen wäre Simon ihm viel lieber als dem Kelten aus dem Wege gegangen. Selbst jetzt, da dieses entstellte Gesicht sich ihm zuwandte, war er nicht ganz sicher, daß der Mann den anderen nicht nur deshalb niedergeschlagen hatte, weil er allein das Recht für sich beanspruchen wollte, hier andere Leute umzubringen. Der Versuch, sich aus einer brenzligen Lage durch ein Lächeln herauszuwinden, hatte sich vorhin als Fehlschlag erwiesen. Simon stand vor dem breitbrüstigen Mann und versuchte, keinerlei Bewegung zu zeigen und zugleich seine Knie am Zittern zu hindern. Ein langer, prüfender Blick ruhte auf ihm, dann folgte irgendeine Äußerung, die halb Frage, halb Tadel zu sein schien. Simon sah den Mann hilflos an; jedenfalls wollte er diesmal nicht den Fehler machen, es mit irgendwelchen Gesten seiner Hände zu versuchen. Zu seinem Erstaunen verzog sich das Gesicht des anderen zu einem breiten Grinsen, das ein lücken- und schadhaftes Gebiß enthüllte. Eine Hand legte sich um seine Schulter, doch dieser 49
Griff war offenbar freundlich gemeint. Der große Mann sagte jetzt: »Este mihi nomen Bos.« Auch das war verwunderlich, zum erstenmal, seitdem er in die Vergangenheit versetzt worden war, verstand er etwas ganz deutlich. »Meine Name ist Bos.« Simon lächelte zurück und tippte sich auf die Brust. »Este mihi nomen Simonus.« Bos nickte zustimmend und wiederholte: »Simonus«, um dann einen lateinischen Wortschwall folgen zu lassen, in dem Simon sogleich wieder verloren war. Der Mann hatte eine Tätowierung auf der Brust. Einen Fisch? Unwichtig. Zumindest für den Augenblick war jetzt nur wichtig, daß er in dieser feindlichen und beunruhigenden Welt einen Verbündeten gefunden hatte.
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4 In den nächsten Tagen beglückwünschte Simon sich immer wieder dazu, Bos kennengelernt zu haben, der ihn offenbar mochte. Unter dessen Schutz fühlte Simon sich geborgen; niemand im Schlafsaal wollte in Schwierigkeiten mit Bos geraten, wenn es sich vermeiden ließ. Besonders der Kelte ging ihm aus dem Wege und begnügte sich mit einem haßerfüllten Blick auf Simon, wenn Bos es gerade nicht sehen konnte. Aber der große Mann gewährte nicht nur Schutz, sondern auch Hilfe und Anleitung. Durch ihn begriff Simon schnell, wie das Leben in der Kaserne verlief. Sogar auf dem Exerzierplatz behielt Bos ihn im Auge, und der Ausbilder, der die neuen Rekruten meistens lauthals beschimpfte, ließ Simon in Ruhe. Auch er wollte es trotz seines höheren Ranges nicht mit Bos verderben. Die Vorteile waren vielfältig. Bos sorgte dafür, daß Simon passende Stiefel bekam und lehnte das erste Paar ab, das man ihm geben wollte. Der Verwalter war schnell mit einem anderen Paar zur Hand, zu dem Bos befriedigt nickte, nachdem er es eingehend betrachtet und das Leder mit seinen mächtigen Fingern geprüft hatte. Es fiel Simon bald auf, daß nicht nur Bos größere Portionen erhielt, wenn sie nach ihrem Essen anstanden, sondern er ebenfalls. Allmählich erlernte er die Sprache. Bos schien seine Unwissenheit belustigend zu finden. Er nannte bereitwillig die lateinischen Namen der Gegenstände, auf die Simon deutete, und er verlor nicht die Geduld, wenn er sie immer noch einmal wiederholen mußte. Vielleicht fühlte er sich geschmeichelt, weil er um Hilfe gebeten wurde: Das Lateinische war – wie Simon bald erfuhr – nicht seine Muttersprache, und wenn er auch keineswegs dumm war, so blieben doch seine geistigen weit hinter seinen körperlichen Kräften zurück. 51
Als sie gegen Ende des zweiten Tages auf dem Exerzierplatz eine kurze Pause einlegten, kam ein Vorratswagen durch das Haupttor gerollt. Simon deutete fragend darauf. Zwei weiße Ochsen zogen den Karren, und er fragte nach dem Namen der Tiere. Bos grinste ihn seltsam an. »Boves«, brummte er. Ja, selbstverständlich, dachte Simon. Wie hatte er das vergessen können? Er erinnerte sich, wie der gute alte Lateinlehrer den Ursprung des Wortes bovine erklärt hatte. Von bos, bovis – ein Ochse. Bos grinste noch immer wie geschmeichelt, und plötzlich begriff Simon. Bos! Er deutete erst auf das Tier, dann auf den Mann. »Tu – bos!« Bos brüllte vor Lachen und schlug sich mit den flachen Händen auf die breite Brust. Offenbar war er stolz auf den Namen, den man ihm gegeben hatte. Die Ausbildung bestand aus allgemeiner körperlicher Ertüchtigung und aus Waffenübungen. Simon erhielt ein Holzschwert und mußte damit zunächst auf eine hölzerne Puppe einschlagen, die man palus nannte. Er schlug begeistert, doch ein wenig ziellos darauf ein, und der Ausbilder mußte ihm zeigen, wie man schlagen und stechen sollte und auf welche Stellen dabei zu zielen war. Simon gab sich Mühe, allen Anweisungen zu folgen. Er wußte, daß da irgendein Ziel war, daß die Fertigkeiten, die er erwerben sollte, im entscheidenden Augenblick nicht gegen eine hölzerne Puppe, sondern gegen einen Menschen aus Fleisch und Blut eingesetzt werden sollten. Bei dieser Vorstellung ließ er seine Gedanken nicht lange verweilen. Ehe eine Armee in die Schlacht zog, mußte sie zum Schlachtfeld geführt werden, und wenn sie erst die Kasernen hinter sich hatten, gab es sicher auch eine Möglichkeit zum Entweichen. Was danach kommen würde, war noch unklar, aber es war jedenfalls besser 52
als alles, was geschehen konnte, wenn er Soldat bliebe. Im Laufe der Zeit lernte er mehr und mehr. Zum Beispiel genug Latein, um ein spärliches Gespräch mit Bos zu führen. Bos, so schien es, kam ursprünglich aus dem Norden und war schon als Junge von einer römischen Gruppe geraubt worden. Er nannte Simon seinen ursprünglichen Namen, doch als der ihn wiederholte, reagierte Bos kaum darauf. Bos genügte ihm. Simon versuchte herauszufinden, was ihm zwischen damals und jetzt widerfahren war, doch das Gespräch versiegte. Simon beharrte: Wie war Bos zu einem Soldaten, zu einem miles Romanus geworden? Bos war erstaunt. Sein Gesicht verriet seine Verständnislosigkeit. Simon durchforschte seinen kleinen lateinischen Wortschatz, um sich verständlich zu machen. Man mußte mit dem Einfachsten beginnen. Soldaten – sagte er und deutete auf Bos, auf sich selbst und auf die anderen Männer ringsum. Sie alle seien Soldaten – römische Soldaten. »Milites?« Mit dem Verstehen kam die Belustigung, die als schwaches Grinsen begann und sich zu einem brüllenden Gelächter steigerte. Als er wieder zu Atem kam, sagte Bos etwas, das Simon nicht verstand, worauf der große Mann langsam und deutlich wiederholte: »Milites non sumus, Simonus – Gladiatores sumus!« Jetzt war es an Simon, verblüfft zu sein, doch als er endlich begriff, verspürte er keinerlei Lust zum Lachen. Kasernen und militärische Ausbildung bedeuteten Armee. Bisher hatte er das für sicher gehalten. An die römischen Gladiatoren hatte er noch gar nicht gedacht, die auch in Kasernen lebten und im Umgang mit Waffen ausgebildet wurden. Vorbei war es mit seinem Plan, möglichst bald zu desertieren, wenn sie erst die Kasernen verließen, um in den Kampf zu ziehen. Dieses hier war eine Legion, die aus den Kasernen in den Circus zog, einen Circus, in dem es keine Clowns gab, sondern blutige Kämpfe Mann gegen 53
Mann, bei denen der Verlierer sterbend im Staub zurückblieb, während der Sieger nicht mehr als einen Aufschub gewann. Er hatte mißdeutet, was sich seinerzeit auf dem Marktplatz abgespielt hatte. Seine kleine Gruppe war nicht zurückgelassen worden, um zum Armeedienst gepreßt zu werden, sondern man hatte sie gemeinsam an den Leiter der örtlichen Gladiatorenschule verkauft. Bos bemerkte die Betroffenheit des Jungen, und wenn er sie auch nicht verstand, bemühte er sich doch, sein Verständnis zu zeigen. Simon hatte die üblichen Schwierigkeiten, das zu verstehen, was der große Mann ihm sagen wollte, doch das mehrmals wiederholte Wort felix ließ ihn begreifen, daß Bos behauptete, er sei glücklich. Simon ließ seine Skepsis erkennen, während Bos sich weiter mit wortreichen und kaum verständlichen Erklärungen abmühte. Er sprach über Simon und die anderen, die mit ihm in den Schlafsaal gekommen waren. Sie hätten Glück gehabt, daß man sie für die Schule ausgewählt habe, daß sie stark genug seien, um Gladiatoren zu werden. Ganz besonders Simon, der zwar groß und kein Schwächling, aber für eine Aufnahme in die Gladiatorenschule doch noch sehr jung sei. Deshalb habe er auch eine Chance. Man würde ihm ein Schwert geben und damit eine Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen. Ihm ging es nicht wie den anderen, die man an jenem Tage zu den Kasernen geführt hatte. Er spuckte in den Staub und wollte mit dieser Geste das Schicksal andeuten, das jene erwartete. Simon dachte an die fünf, die an jenem heißen Nachmittag neben ihm gekauert hatten, besonders an den kleinen alten Mann, der mit ihm zusammen im Keller gewesen war. Was aus ihnen wohl würde, fragte er Bos. Bos hob die Schultern. »Damnati ad bestias.« Simon verstand genug Latein, um zu wissen, was das bedeutete. Verurteilt, zu den Tieren zu gehen – waffenlos in die Are54
na geschickt und von hungrigen Löwen zerfetzt und verschlungen zu werden. Und das nur zur Erheiterung des Publikums. Fast empfand er sich nun selbst als glücklich. Während der nächsten Tage und Wochen gewöhnte Simon sich allmählich an sein neues Leben. An der Spitze stand Gaius Turbatus, der lanista oder Übungsleiter, mit uneingeschränkter Autorität. Das war der Mann im roten Umhang, der Simon auf dem Forum ausgewählt hatte. Er tauchte häufig, doch in unregelmäßigen Abständen auf, manchmal allein, manchmal von seinen Stellvertretern begleitet. Er beobachtete die Fortschritte seiner Schüler sehr aufmerksam mit scharfen, kalten Augen. Manche Männer wurden ausgesondert, wenn er dem Ausbilder ein kurzes Wort zuwarf, und sie wurden nie wieder gesehen. Auch sie waren zu den Tieren verurteilt, wie Bos erklärte, weil sie den Rang von Gladiatoren nicht erreicht hatten. Die Ausbilder waren zumeist gealterte Gladiatoren. Abgesehen von der gemeinsamen Ausbildung, überwachten sie auch die Einzelübungen, von denen es sehr viele gab. Manche, deren Ausbildung sich nicht auf dem Exerzierplatz, sondern in einer Arena hinter den Kasernen abspielte, hatten mit Pferden zu tun; die essedarii zum Beispiel, die von pferdebespannten Wagen kämpften. Alle anderen kämpften zu Fuß, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Es gab verschiedene Arten schwer bewaffneter Kämpfer, die alle als secutores bezeichnet wurden. Ein secutor parmularius hatte zum Beispiel einen kleinen Schild, während ein scutarius einen großen Schild trug. Dann gab es die thraeces, die zu leichten Schilden eine Art Sichel führten, und die retiarii, die bei weitem die herausragenden Gestalten während der Kämpfe waren. Sie trugen weder Helme noch Brustpanzer, sie fochten barhäuptig in ihrer Tunika, und sie waren nur mit einem Netz ausgerüstet, das sie ihrem Gegner überzuwerfen suchten, mit 55
einem Dreizack und mit einem kurzen Dolch. Anscheinend nahmen sie es nicht nur mit schwer bewaffneten Fußkämpfern auf, sondern sogar mit essedarii. Ihre Meisterschaft und damit ihr Vorteil lagen in ihrer Behendigkeit; ihr Ziel war es, den kräftigeren Feind zu umtänzeln, ihn zu reizen, wütend zu machen und endlich zu erschöpfen. Erst dann griffen sie an, warfen ihr Netz über ihn, stachen ihn mit ihrem Dreizack und erstachen ihn mit ihrem Dolch. Simon war nach Bos’ Meinung nicht der Typ für einen retiarius – trotz seiner Jugend zu kräftig gebaut und nicht schnell genug auf den Füßen. Simon empfand über dies Urteil kein großes Bedauern. Ihm behagte der Gedanke überhaupt nicht, in die Arena zu gehen; doch wenn es schon sein mußte, dann wollte er zu seinem Schutz doch lieber mehr haben als ein Stück Netz. Außer den Gladiatoren und ihren Ausbildern gab es noch viele andere Männer im Lager, und die armen Teufel im Nordflügel hatten nichts anderes zu tun, als auf ihre Begegnung mit den Löwen zu warten. (Oder mit Tigern und Wölfen, fügte Bos hinzu, gelegentlich auch darauf, von gereizten Elefanten zu Tode getrampelt zu werden, wenn das auch selten war.) Dann gab es viele Hilfskräfte, die in dieser kleinen Welt ihre Rollen zu spielen hatten: Köche und ihre Helfer, Lagerverwalter, Schuhmacher, Schneider, Ärzte und Krankenpfleger … sie schienen zahlreicher zu sein als die Gladiatoren, doch es war schwer, ihre Zahl zu schätzen. Sie durften uneingeschränkt ein- und ausgehen, und für einen Augenblick spielte Simon mit dem Gedanken, einfach als einer von ihnen das Lager zu verlassen; doch er gab diesen Plan wieder auf. Die Wächter schienen jedes einzelne Gesicht hier zu kennen, und ein mißlungener Fluchtversuch, dessen war Simon sicher, bedeutete genau wie ein Versagen in der Ausbildung das Urteil, zu den wilden Tieren geschickt zu werden. 56
Über das alles versuchte er nicht mit Bos zu reden. Trotz der wenigen Worte, mit denen sie sich verständigen konnten, war es Simon klar geworden, daß Bos die Dinge so hinnahm, wie sie waren. Nachdem man ihn als Kind geraubt hatte, war er lange Sklave eines Bauern gewesen, ehe man ihn nach dem Tode seines Herrn an die Gladiatorenschule verkauft hatte. Seither hatte er einige Jahre als secutor gekämpft, hatte Dutzende von Einzel- und Massenkämpfen überlebt. In keinen davon wäre er wohl freiwillig gegangen, doch er wehrte sich auch nicht gegen seine Lage und hätte wohl jeden für verrückt gehalten, der ihm eine Flucht vorgeschlagen hätte. Doch wenn Simon seine eigenen Gedanken auch nicht Bos anvertrauen konnte, so konnte er doch von ihm lernen. Beispielsweise lernte er, daß die strenge Bindung an das Lager für gewöhnlich nur für solche wie ihn selber galt, die bisher noch nie gekämpft hatten: die tirones. Die veterani, zu denen Bos gehörte, durften zumeist kommen und gehen, genau wie die Hilfskräfte. Eine Ausnahme davon galt nur im letzten Monat vor den Spielen. Waren die Spiele erst vorüber, so würde es also eine gewisse Erleichterung geben, und Simon selbst würde dann ebenfalls schon ein veteranus sein. Bos sprach voller Erwartung, doch ohne Ungeduld von den Dingen und Plätzen, die er Simon in der Stadt zeigen wolle. Es handelte sich um Londinium, wie Simon vermutet hatte. Es gab da vor allem eine Weinschenke, in der Bos sich heimisch fühlte, soweit ihm das überhaupt möglich war. Seine Freundin bewirtschaftete sie. Simon würde ihr bestimmt gefallen. Und sie hatte eine jüngere Schwester. Mit einer Geste deutete er weibliche Schönheit an und kniff ein Auge zu. Simon spielte die Rolle, die von ihm erwartet wurde. Die Hauptsache war, daß er erst einmal aus diesem Lager heraus57
kam. Das Danach wollte er lieber für sich behalten. Eines war sicher: So verlockend die Weinschenke und die jüngere Schwester auch sein mochten – sie konnten ihn nicht dazu verlocken, das Leben eines Gladiators weiterzuführen. Sie wogen auch nicht das Risiko auf. Er dachte auch daran: Alles hing davon ab, daß es ihm wirklich gelang, den Schritt vom uro zum veteranus zu tun. Das hieß, daß er bei den Spielen kämpfen und siegen mußte. Wie seine Zukunftspläne auch aussehen mochten: Jetzt kam es darauf an, daß er ein kräftiger und geschickter Gladiator wurde. Das war etwas anderes als eine drohende Klassenarbeit oder ein bevorstehendes Cricketspiel. Hier ging es um Tod und Leben. Um sein Leben. Weil er daran immer dachte, gab Simon sich bei der Ausbildung so große Mühe, wie er es noch nie zuvor getan hatte und wie er es sich selbst niemals zugetraut hätte. Er übte nicht nur während der langen Zeit, die vom lanista dafür bestimmt wurden, sondern auch während seiner freien Stunden. Bos war damit sehr einverstanden, und er ermutigte und half ihm dabei. Er sagte ganz offen, daß die Chancen für Simon nicht gerade günstig stünden. Die meisten Niederlagen erlitten zwangsläufig stets die tirones. Zudem war Simon viel jünger als die meisten anderen, und er war zwar groß und kräftig gebaut, hatte aber seine Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen. Deshalb begrüßte Bos seine Begeisterung und trieb Simon an, sobald er einmal nachzulassen begann. Auch bei den Köchen nützte Bos seinen Einfluß, damit Simon erheblich mehr von dem Fleisch bekam, das einmal täglich den Brei aus Gerste und Bohnen ergänzte. Der große Mann setzte seinen ganzen beruflichen Ehrgeiz in Simon, und er betrachtete ihn so zufrieden, wie ein Bauer einen preisgekrönten Stier. Wichtiger noch war, daß er Simon alle Tricks seines Berufs beibrachte – alle die Täuschungen und Finten, die er in den langen Jahren seiner Kämpfe erlernt hatte. Er hatte bereits dafür 58
gesorgt, daß Simon nach der Zeit der Grundausbildung ihm als secutor parmularius zugeteilt werden sollte. Der Vorteil, einen leichteren und weniger sperrigen Schild tragen zu müssen, sei viel wichtiger als der geringere Schutz, selbst wenn man gegen einen scutarius zu kämpfen hatte, und gegen einen retiarius wurde der Unterschied sogar noch deutlicher. Ganz besonders, so fügte er hinzu, für einen Jungen wie Simon. Einen Trick zeigte er dem Jungen nur, wenn sie nicht auf dem Exerzierplatz waren und niemand ihnen zuschaute. Er war nützlich im Kampf gegen einen retiarius und eine letzte Hilfe, wenn man im Netz gefangen war. Man mußte sich dann auf eine ganz gestimmte Weise fallen lassen und über die Schulter abrollen. So entfernte man sich weit genug von seinem Gegner und gewann vielleicht genug Zeit, um sich aus dem Netz freizuschneiden. Bos besorgte ein Netz, so daß sie gemeinsam in einem ungenützten Vorratsraum üben konnten. Es war sehr mühsam, und es kamen dabei Muskeln ins Spiel, von deren Existenz Simon bisher noch gar nichts geahnt hatte. Die Übungen währten sehr lange, ehe Bos zufrieden brummte. Im Zusammenhang damit geschah noch etwas anderes. Als sie sich in einer Pause ausruhten, hob und senkte sich Bos’ mächtige Brust unter seinen Atemzügen, und zugleich schien sich der gezeichnete Fisch zu bewegen. Anfangs hatte Simon sich ein wenig über die Tätowierung gewundert, doch später war sie so selbstverständlich geworden wie das Trompetensignal im Morgengrauen und das körnige Brot. Anfangs hätte er auch nicht gewagt, nach der Bedeutung dieses Fisches zu fragen, doch jetzt war er sicher, daß Bos eine solche Frage freundlich aufnehmen würde. Bos schien von der Frage weder überrascht noch peinlich berührt zu sein. Er sagte nur: »Christianus sum.« Das hätte eigentlich keine große Überraschung sein sollen. Simon erinnerte sich, daß der Fisch eines der ältesten christli59
chen Symbole war. Es fiel ihm nur schwer, eine solche Bemerkung mit einem Mann wie Bos in Verbindung zu bringen, wenigstens nicht mit einem Mann, der in einem Ruf wie Bos stand. Wie konnte er sein Christentum damit in Einklang bringen, daß es sein Leben lang seine Aufgabe war, andere Menschen zu töten? Es schien ihm, zumal im Hinblick auf seine geringen Lateinkenntnisse, besser, das Thema nicht weiter zu verfolgen. So sage er nur: »Et ego.« Bos sah ihn an, und nun war er überrascht. Simon nickte bekräftigend. »Christianus sum.« Das große Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und im nächsten Augenblick fühlte Simon sich mit einer Kraft umarmt, daß er fand, man hätte Bos lieber nach einem Bären benennen sollen, nicht nach einem Ochsen. Er verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was Bos sagte, doch er begriff, daß der große Freund ihn nach den Spielen zu einem Priester bringen wollte. Das könnte nützlich sein, dachte Simon. Was der Priester auch davon halten mochte, daß Bos ein Gladiator war, würde er doch bestimmt einem Jungen helfen, aus diesem Dienst zu entweichen. Wieder fragte er sich, in welchen Abschnitt der Vergangenheit er geraten war. Vermutlich vor dem Sieg des Christentums in Rom; doch er hatte vergessen, in welchem Jahr die Christen hier die Führung übernommen hatten. Und im Vergleich zu dem, was kaum noch eine Woche voraus lag, war es auch gar nicht so wichtig. Wenn Bos auch sein ständiger Begleiter war, hatte Simon doch auch andere Menschen im Lager, besonders im Schlafsaal, kennengelernt. Abgesehen von dem Kelten, der sich zurückhielt, kam er mit allen gut aus. Dabei war ihm durchaus klar, daß seine Freundschaft mit Bos dabei eine Rolle spielte. Am besten gefiel ihm Tulpius, der Sklave, den man gemeinsam mit ihm aus den Sieben auf dem Forum ausgewählt hatte. In einer Welt 60
wie dieser bedeuteten gemeinsame Erlebnisse – die bösen wie die weniger glücklichen – eine Verbindung, die zu festen, wenn auch vorübergehenden Freundschaften führen konnten. Jedenfalls sprach er recht oft mit Tulpius, der im Gegensatz zu Bos von Geburt an ein verna, ein Sklave gewesen und auf einem großen Landgut aufgewachsen war. Auch er war verkauft worden; nicht beim Tode seines Herrn, sondern weil das Landgut aufgelöst wurde. Die Gründe dafür wußte er nicht genau zu sagen. Es gab Gerüchte, die wissen wollten, es sei zu großen Verlusten im Seehandel gekommen. Jedenfalls war Tulpius dann in einem sehr viel kleineren Haushalt gewesen, und zwar in der Stadt, nicht auf dem Lande. Es hatte ihm nicht gefallen. Insgesamt waren sie nur sechs Sklaven gewesen, und das bedeutete viel mehr Arbeit als er bisher gewohnt gewesen war. Dann war sein neuer Herr ermordet worden. Man hatte niemals beweisen können, wer der Täter gewesen war. Der Mord war auf der Straße gleich vor dem Haus geschehen. Es war schon ein Glück, daß die Tat draußen verübt worden war, nicht etwa im Hause. Der Magistrat hatte die übliche Regel nicht angewandt, daß alle Sklaven eines Ermordeten zu töten seien (weil sie ihren Herrn nicht gut genug beschützt hatten). Nur der Oberste der Sklaven war getötet worden, und die anderen Sklaven hatte man an den lanista verkauft. Tulpius hatte Glück gehabt. Er war jung und stark, und so hatte man ihm ein Schwert gegeben und ihn nicht zu den wilden Tieren geschickt. Bos hatte sich nie dafür interessiert, wie Simons Leben vor seinem Eintritt in die Gladiatorenschule verlaufen war; er war überhaupt nicht neugierig. Aber Tulpius stellte Fragen. Die Tatsache, daß Simon die lateinische Sprache so schlecht beherrschte, kennzeichnete ihn sogleich als einen Barbaren, als einen, der aus der Fremde kam. So hatte er nur gesagt, er käme aus einem Land jenseits des Meeres, ohne anzudeuten, ob er damit Irland, 61
Skandinavien oder Thule meinte. Er sei von Piraten gefangen und nach Britannien verkauft worden. Tulpius fand das glaubwürdig; es war eine ganz alltägliche Geschichte, wie sie sich im Römischen Reich oft genug zutrug. Er stellte weitere Fragen nach Simons früherem Leben, und der erfand Antworten, so gut er konnte, und er verbarg sich hinter seinem mangelhaften Latein, wenn die Fragen zu heikel wurden. Doch das war selten; man wußte hier wenig von Ländern außerhalb des Römischen Reiches, also konnte Simon beinahe sagen, was ihm in den Sinn kam. Seit einer Woche war das Wetter schlecht, und die meisten Übungsstunden hatten in strömendem Regen stattgefunden, doch die Morgendämmerung des Tages, an dem die Spiele stattfinden sollten, verhieß einen schönen Tag. Beim Trompetensignal erwachte Simon mit einem seltsamen Gefühl der Erregung, in das sich Furcht und düstere Vorahnungen mischten. Am Abend zuvor hatte es eine besondere Mahlzeit mit viel Fleisch gegeben. Sogar Weinkrüge waren an den Tischen von Hand zu Hand gereicht worden. Man hatte viel geprahlt, gelacht und gesungen. Simon hatte scheinbar an allem teilgenommen, doch ihm war bewußt, wie makaber diese Situation war. Hier sangen und lachten Männer gemeinsam, die morgen darauf aus sein würden, einander zu töten. Der Tag der großen Abrechnung war gekommen, und Simon war zutiefst überzeugt, daß alle seine Mühen unzureichend und zwecklos gewesen sein mußten. Die Atmosphäre im Schlafsaal hatte sich geändert. Es herrschte gespannte Stille anstatt der üblichen Gespräche und Neckereien. Alle anderen waren älter als Simon, die meisten sogar viel älter, und die Mehrzahl hatte Kampferfahrung. Bos legte ihm die Hand auf die Schulter, lächelte ihm zu und sagte ein paar ermutigende Worte, aber auch er sah ernst aus und war noch schweigsamer als sonst. Es war 62
unheimlich und schrecklich, in das Morgenlicht hinauszuschauen, während die Sonne über dem Ostflügel des Lagers aufging, und genau zu wissen, daß man alle Aussicht hatte, den Sonnenuntergang nicht mehr zu erleben. In Reihen marschierten sie von den Kasernen zum Circus. Bewaffnete Wächter gingen neben dem Zuge her. Es war sinnlos, an Flucht zu denken. Trotz des frühen Morgens waren die Straßen bereits von Menschen gesäumt. Manche jubelten, andere spotteten. Simon fragte sich, ob Brad unter diesen Menschen sein mochte, doch es erschien ihm unwahrscheinlich. Vielleicht hatte Brad gar nicht überlebt, und wenn er doch noch am Leben war, dann gewiß als Sklave, nicht als einer der Stadtbewohner, die sich auf das Fest freuten. Doch ein solches Schicksal war immer besser als jenes, dem Simon entgegenging. Die geschwungene weiße Mauer des Circus ragte vor ihnen auf. Durch ein offenes Tor traten sie in einen dunklen, von Fackeln an den Wänden spärlich erleuchteten Gang. Eine Zeitlang führte der Tunnel abwärts, dann wieder aufwärts. Dann traten sie in die Arena, das Sonnenlicht blendete sie, und ringsum ertönte das Geschrei vieler Menschen. Soweit Simon es beurteilen konnte, war nicht ein einziger Sitz leer geblieben. Der Zug der Gladiatoren bewegte sich auf eine der Längsseiten des Amphitheaters zu, wo eine purpurverkleidete Empore stand. Die Gestalt in der Mitte, die eine Toga in leuchtendem Purpur trug, mußte der Gouverneur sein. Sie marschierten mit zum Gruß erhobenen Armen vorbei und riefen den traditionellen Gruß »Morituri te salutamus!« Wir, die wir sterben werden, grüßen dich! Simon öffnete gehorsam den Mund, doch er brachte kein Wort hervor. Der Sand unter seinen Füßen glänzte golden im Sonnenlicht. Ehe der Tag zu Ende ging, würde er von viel Blut befleckt sein. Nachdem sie das Amphitheater umrundet hatten, wurden sie 63
in die Dunkelheit zurückgeführt. Als sie in den Tunnel traten, hörte Simon das Fauchen und Brüllen der wilden Tiere und atmete ihren herben Geruch ein. Stunden des Wartens standen bevor. Die Morgenstunden gehörten den Tieren, die entweder miteinander kämpften oder ihre hilflosen menschlichen Opfer zerfetzten. Leichte Unterhaltung – Clowns und Gaukler – folgten darauf. Dann, am Nachmittag, begannen die wichtigen Kämpfe. Die blutigen Kämpfe der Gladiatoren. Simon war während des Zuges durch die Arena von Bos getrennt worden, doch als sie nun in einer der Seitenzellen neben dem unterirdischen Tunnel saßen, kam der große Mann zu ihm und sagte: »Ich habe gute Nachricht!« Simon sah ihn an. Die einzige gute Nachricht, die er sich vorstellen konnte, war – abgesehen von der Wiederkehr der Feuerkugel, hinter der sich das England des 20. Jahrhunderts verbarg – allenfalls noch die Meldung, daß Goten und Vandalen an die Tore der Stadt pochten. Bos sagte: »Du wirst gegen einen anderen tiero kämpfen, nicht gegen einen veteranus.« Das war immerhin besser als nichts. »Gegen wen?« Bos hob seine breiten Schultern. »Nicht gegen einen veteranus, das ist die Hauptsache. Ich habe Burro, dem Ausbilder, gesagt, daß du ein besonders vielversprechender Junge bist. Es wäre schade, dich hier zerfleischen zu lassen, ehe du wirklich zeigen könntest, was in dir steckt. Er hat es dem lanista vorgetragen, und der lanista hat zugestimmt.« Er drückte Simons Arm. »Und nun mach mir keine Schande!« Obwohl Simon die bevorstehenden Ereignisse nicht gerade voller Ungeduld erwartete, schlichen die Stunden quälend langsam dahin. Kein Geräusch aus der Arena drang in die Zelle, doch Simon konnte sich das Blutbad nur zu deutlich vorstellen. Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit, und als eine Mahlzeit gebracht wurde – Brot und kaltes, zähes Fleisch –, lehnte er zunächst ab. Doch davon wollte Bos nichts wissen. Ein Stück 64
Fleisch, so erklärte er, könne den ganzen Unterschied zwischen Töten und Getötetwerden bedeuten. Simon erstickte fast an den Bissen. Und dann war doch unerwartet und erschreckend der Augenblick gekommen. Sie wurden hinausgeführt, und wieder begrüßte sie ein Aufschrei des Publikums. Wieder umrundeten sie die Arena. Diesmal wurde ihr Zug musikalisch von Trompeten, Hörnern, Flöten und Saiteninstrumenten begleitet, die eine Art Marsch spielten. Zum zweitenmal entboten sie dem Gouverneur ihren schrecklichen Gruß, der dankte ihnen dafür, indem er ein kleines Tuch schwenkte, und der größere Teil des Zuges strebte wieder dem Tunnel zu. Das waren die Kämpfer, die erst später an der Reihe waren. Als man seine Abteilung zurückhielt, begriff Simon mit einem jähen Brennen in der Magengrube, daß er zu den ersten Kämpfern zählen würde. An vier Stellen der Arena sollten gleichzeitig vier Kämpfe eines secuator gegen einen retiarius stattfinden. Der Hauptkampf fand unmittelbar unter dem Platz des Gouverneurs statt und wurde vom lanista beaufsichtigt. Simon wurde von einem der Helfer des lanista zum östlichen Teil der Arena geführt. Dort wartete er, das Schwert umklammert, während auch die retiarii an ihre Plätze geführt wurden. Er erkannte seinen Gegner, als der gerade den ersten Schritt auf ihn zukam, und hoffte, daß er sich geirrt hätte. So übel konnte man ihm doch nicht mitspielen! Aber es war Tulpius, der ihm gegenüberstand, das Netz in der linken Hand, den Dreizack in der rechten. Das Orchester war in der Mitte der Arena stehengeblieben. Jetzt spielten die Musikanten wieder eine aufreizende Musik, die an den Nerven zerrte. Simon sah Tulpius in das gespannte Gesicht, das keinerlei Anzeichen des Erkennens verriet. Die Musik spielte weiter und weiter, während die Zurufe aus dem Publikum wachsende Ungeduld verrieten. Noch einmal schwoll 65
sie gewaltig an, dann verstummte sie. Eine Sekunde oder zwei herrschte Stille, selbst die Zuschauer schienen den Atem anzuhalten. Dann schrillte ein Trompetensignal, und zugleich erhob sich begeistertes Geschrei. Der Kampf hatte begonnen. Tulpius umschlich Simon gewandt wie eine Katze. Simon drehte sich auf der Stelle, um den Gegner nicht aus den Augen zu verlieren. Tulpius sprang vor, schwang sein Netz aufwärts, stieß einen Schwall lateinischer Worte hervor. Simon sprang zurück. Das fallende Netz streifte seinen Schildarm. Wieder umkreisten sich die Kämpfer. Die Zeit bedeutete nichts mehr. Sie war nur noch eine Folge von Augenblicken, die höchste Konzentration erforderten. Einmal schrien die Zuschauer auf. Ein Kampf war schnell beendet. Das lenkte Simons Aufmerksamkeit für einen Augenblick ab. Das Netz zuckte hernieder, fast hätte es ihn eingefangen. Als Simon zurücksprang, währe er fast gestrauchelt und gestürzt. Tulpius hörte nicht auf zu reden. Simon fühlte sich im Nachteil, weil er nicht antworten konnte, doch wenigstens verstand er nicht viel von den Beschimpfungen, die zum Kampf gehörten, wenn der Tonfall auch nur zu deutlich war. Er dachte daran, wie Tulpius ihm am Vorabend den Weinkrug gereicht und ihm freundschaftlich zugetrunken hatte. Das Netz zuckte herab, und er sprang zurück. Das Netz wurde zur Besessenheit. Es machte ihn verrückt. Es hypnotisierte ihn. Er fragte sich, ob ein Stier vor dem Tuch des Matadors so empfand. Er sah nichts mehr als das Netz. Nichts anderes war in seinem Bewußtsein. Das Netz war der Feind, nicht der Mensch, der es schwang. Mehr als das ständige Ausweichen und Zurückspringen schien das Netz ihm die Kräfte erlahmen zu lassen. Der Wunsch, es mit dem Schwert zu zerhauen, um dem ständigen Schwingen und Flattern ein Ende zu bereiten, wuchs mit jedem Augenblick. Endlich ließ er sich 66
nicht mehr beherrschen. Simons rechter Arm bewegte sich fast so, als wäre er selbständig, mit eigenem Wollen und Wünschen. Das Schwert zuckte dem quälenden Netz entgegen. Das Netz schwang zur Seite, wirbelte durch die Luft, zuckte, senkte sich. Simon fühlte es über seinem Kopf, ganz leicht und körperlos zunächst, doch dann wurde es schnell zu einem verknoteten Tau, das sich um ihn legte, ihn fesselte, ihn unwiderstehlich niederzog. Er verlor das Gleichgewicht, stürzte, und wenn er erst am Boden lag, dann war alles schnell vorbei. Zu seiner Überraschung blieb sein Kopf ganz klar. Er dachte nicht an seinen nahen Tod, sondern daran, wie enttäuscht Bos sein würde. Bos … Er erinnerte sich an die Übungen im Lagerraum. Fallen, abrollen, das Schwert seitwärts ausgestreckt … Er schlug auf den Boden, rollte rückwärts … Jetzt der Sprung. Er spannte die Muskeln, atmete tief, schnellte empor. Er stand auf den Füßen, schwankend, keuchend, aber aufrecht. Das Netz hing nur noch locker um ihn. Der Sprung hatte es aus Tulpius’ Griff entrissen. Simon schlug mit seinem Schwert aufwärts, das Netz zerriß und fiel nieder. Er hörte das Geschrei der Menge rundum. Tulpius stand wenige Schritte entfernt, das Gesicht jetzt vor Angst erstarrt, den Dreizack in der Faust. Er bewegte sich nicht, als Simon angriff, und unter einem Schwerthieb flog der Dreizack meterweit davon. Der Helfer des lanista stand neben Simon und schrie etwas. Er verstand es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Auch die Menge schrie. Nicht nur die Menschen in der Nähe, sondern alle, die rings um die Arena saßen. Es war ein gemeinsamer Aufschrei, wie in einem Fußballstadion. Ein einziges Wort wurde ständig wiederholt. Nicht missos – laß ihn frei – sondern iugula – durchschneide ihm den Hals! Der Aufseher packte Simon beim Arm und zerrte ihn herum. Dann deutete er mit dem Arm dorthin, wo der Gouverneur auf der Empore saß. Bis dorthin war es weit, doch die Geste war 67
unmißverständlich. Der Daumen deutete gegen die Brust: Töte ihn! Auch der Kampf vor der Empore war schon beendet. Der retiarius war Sieger geblieben. Ein maskierter Helfer beugte sich über den am Boden liegenden secutor, senkte ein glühendes Eisen, um zu prüfen, ob der Mann wirklich tot sei. Die Schreie hörten nicht auf: »Iugula … iugula … iugula …« Der Helfer des lanista schrie ebenfalls. Simon ließ sein Schwert fallen und wandte sich ab. Zwei Tage später hockte er nackt im Staub des Forums. In der Nacht hatte ein Gewitter getobt, doch die Sonne, die von einem fleckenlos blauen Himmel herabbrannte, hatte den Boden schon wieder getrocknet, und die Hitze wurde schnell unerträglich. Simon war gefesselt wie eine ganze Reihe anderer. Vom Gerüst, das hinter ihnen aufgebaut war, hörten sie die Stimme des Auktionators, der die zum Verkauf angebotenen Sklaven anpries. Simon dachte an sein letztes Zusammentreffen mit Bos, der die große Hand durch das Zellengitter gestreckt hatte. Bos war bitter enttäuscht gewesen, vor allem aber verständnislos. Simon war sein Schüler gewesen, hatte als secutor eine große Zukunft vor sich gehabt, und Simon hatte ihn im Stich gelassen. Er konnte den Grund dafür nicht begreifen. Und selbst wenn sein Latein dafür ausgereicht hätte, wäre eine Erklärung wohl unmöglich gewesen. Das war eine ganz andere Welt. Das Töten war schon seit langer Zeit der Beruf, den Bos ausübte. Bos sagte immer wieder dieselben Worte, bis Simon endlich verstand. Der große Mann hatte ihm noch einen letzten Dienst erweisen können. Er hatte bei dem lanista für ihn gebeten, und da er seinen eigenen Kampf gewonnen hatte, war der lanista bereit gewesen, ihn anzuhören. Anstatt zu den wilden Tieren geschickt zu werden, sollte Simon auf den Sklavenmarkt kommen. 68
Für Bos schien es zwischen diesen beiden Schicksalen keinen großen Unterschied zu geben. Ein secutor, der nach einem gewonnenen Kampf nicht zum Töten bereit war, konnte ebensogut tot sein. Simon hingegen sah sehr wohl einen Unterschied und war seinem unglücklichen Freund dankbar. Vor den wilden Tieren in Sicherheit und zugleich der Gladiatorenschule entronnen zu sein, das war mehr, als er zu hoffen gewagt hätte. Welches Los ihm das Sklavendasein auch bescheren mochte – es war besser als alles, war ihn hier erwarten würde. Der Wächter kam und zerrte ihn auf die Füße. Er ging um die Bretterwand herum und stieg die Stufen zum Podium hinauf. Der Auktionator, ein großer Mann mit einem schmalen, harten Gesicht, knurrte einen Befehl, und da Simon ihn nicht befolgte, hob er ihm erst den einen, dann den anderen Arm empor und drehte Simon im Kreise. Man sollte ihn von allen Seiten genau betrachten können. Der Versteigerer pries in einem langen Wortschwall Simons Vorzüge an. Simon vermied es, die Menschen anzusehen, die sich vor ihm drängten. Seine Erleichterung, kein Gladiator mehr zu sein, war nicht so stark, daß sie auch dieses Erlebnis überdauern konnte. Er fühlte nur noch Scham. Man bot für ihn. Jemand trat nahe heran und starrte ihn an, und Simon schaute blicklos zum Himmel. Endlich noch ein Gebot, der Zuschlag des Auktionators, und es war vorüber. Der Wächter stieß ihn die Stufen hinunter dorthin, wo Simons neuer Besitzer wartete. Er sah zwei Gestalten, einen Mann und einen Jungen. Beide trugen sie kostbar bestickte Kleider. Simon wollte sie noch immer nicht anschauen, doch er verbeugte sich tief, wie er es von anderen Sklaven gesehen hatte. Der Junge sagte darauf in englischer Sprache: »Gut, Simon! Das bewahrt dich wenigstens heute davor, ausgepeitscht zu werden!«
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5 Die Villa stand auf einem kleinen Plateau am Rande eines Hügels und blickte nach Südosten. Bis jetzt hatte Simon nur einen Eindruck von Geräumigkeit und Luxus gewonnen. Er saß mit Brad im impluvium, dem mittleren Hof, genauer gesagt, sie lagen halb hingestreckt auf Liegen, die aus Eichenholz bestanden und mit Kissen überhäuft waren. Sobald er sich bewegte, bemerkte er, wie weich der Stoff der Tunika war, die man ihm gegeben hatte, nachdem er sich nur in eine Decke hatte hüllen können, als man ihn aus der Stadt geführt hatte. Ein Diener brachte ein kunstvoll bemaltes Tablett mit einem großen Krug aus rosafarbenem Glas und zwei schönen Gläsern und stellte es auf den schmalen Tisch zwischen Simon und Brad. Brad schenkte beiden ein, dann hob er sein Glas. »Prosit! Ich glaube, das bedeutet: Möge es dir zum Wohle gereichen.« Er trank einen Schluck. »Nicht schlecht, wie?« Das Getränk bestand hauptsächlich aus Zitronensaft, doch es waren auch andere würzige Säfte hinzugefügt. Die von der Kost im Gladiatorenlager fast zerstörten Geschmacksnerven kamen wieder zu ihrem Recht. Simon antwortete: »Viel besser als nicht schlecht. Und nun erzähl mir, wie das alles hier gekommen ist.« Auf dem Wege hierher hatte er auf Brads Drängen seine eigene Geschichte erzählt. Dazu hatte man ihm nicht lange zureden müssen. Die Erleichterung, endlich einen Zuhörer zu haben, der seine Worte verstand, hatte ihn gesprächig gemacht. Aber jetzt war er neugierig. Brad berichtete bereitwillig. Der Reiter, der ihn am Waldrand aufgegriffen hatte, war auf dem Heimweg von der Jagd gewesen. Daß sie den Jungen gefolgt waren, war eigentlich nur aus Neugier geschehen. Aber da sie Brad nun einmal gefangen hatten, meinten sie, auch ein paar Münzen an ihm verdienen zu 70
können, wenn sie ihn verkauften. So beschlossen sie, die Nacht in einem Gasthaus zu verbringen und ihn am nächsten Morgen in die Stadt zu bringen. Simon unterbrach ihn. »Moment mal!« Brad sah ihn fragend an. »Wie kannst du das alles wissen – ich meine, was sie planten?« »Weil sie es besprochen haben. Ich lag mit dem Gesicht nach unten quer über dem Sattel, aber ich konnte alles recht gut verstehen.« »Willst du etwa behaupten, sie hätten Englisch gesprochen?« Brad lächelte. »Vielleicht hatten sie einen leichten englischen Akzent, da sie nun einmal von dieser Insel stammten, aber sie haben gutes Lateinisch gesprochen.« »Aber … Ich dachte immer, in den amerikanischen Schulen lernt man kein Latein?« »In den meisten nicht. In meiner auch nicht. Aber vor ein paar Jahren habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren, und ich habe es in meiner freien Zeit gelernt. Ich will nicht behaupten, daß ich sehr weit damit gekommen bin, aber ich konnte jedenfalls verstehen, was die beiden Kerle beredeten.« Simon erinnerte sich, wie er an den armen Brad gedacht hatte, der mit einer völlig fremden Welt fertigwerden müsse, und er fühlte sich ein wenig gereizt. »Weiter!« verlangte er. Die Männer hatten Brad im Gasthaus bei sich behalten und ihm auch zu essen gegeben, als sie ihr eigenes Abendessen einnahmen. Sie waren im Grunde keine schlechten Kerle gewesen, fand Brad, aber ein entlaufener Sklave war eine leichte Beute und konnte nach einer erfolglosen Jagd einen kleinen Gewinn einbringen. Nach dem Essen saßen sie noch trinkend und würfelnd im Speiseraum zusammen. Ein anderer einzelner Mann war noch da. Er saß ganz in der Nähe an einem Tisch, und Brad bemerkte, wie der Mann nicht so sehr ihn selbst, wohl aber seine Jeans verwundert betrachtete. Den anderen war daran nichts 71
ungewöhnlich erschienen, oder sie hatten zumindest kein Wort darüber verloren. Der Fremde fragte sie, wo sie Brad gefunden hätten. Sie sagten es ihm und fügten hinzu, sie wollten ihn in die Stadt bringen und ihn dort verkaufen. Der Mann sah ganz so aus, als wollte er etwas sagen, aber endlich lächelte er nur bedauernd und wandte sich ab. Bei der Bewegung entstand ein leises, klingendes Geräusch, und Brad sah, daß der Mann an einer Halskette ein kleines goldenes Kreuz trug. Sehr leise, aber doch so, daß seine Stimme weit genug trug, sagte Brad: »Christus ascensus est.« Christ ist auferstanden. Es wirkte. Der Mann mit dem Kreuz wandte sich ihm wieder zu, und er begann Verhandlungen mit den Reitern, die nicht lange währten. Beide Seiten kannten ungefähr den Preis für einen Jungen in Brads Alter und Zustand auf dem Sklavenmarkt. So war Brad zum Eigentum von Quintus Cornelius Ericius geworden, von dem Manne, der am Morgen auch Simon auf dem Markt gekauft hatte. Es gab mancherlei Fragen zu stellen, doch eine, die sich sofort aufdrängte, konnte nicht warten. »Aber wie ist es dazu gekommen? Woher wußtest du, daß ich dort sein würde? War es nur ein Zufall?« »Wir haben unter den Leuten herumgefragt. Ich hatte mir gedacht, du könntest vielleicht auf dem Sklavenmarkt auftauchen, und eine Zeitlang haben wir dort nach dir Ausschau gehalten. Es gibt nicht viele Sklaven, die nicht lateinisch reden, und dein Alter engte es noch weiter ein. Aber wir hatten kein Glück, und ich glaubte schon, du wärst ums Leben gekommen. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß ein Menschenleben hier weniger wert ist als dort, woher wir kommen. Dann, vor ungefähr einer Woche, sprach ein Mann, der weiß, wie sehr Quintus Cornelius nach einem barbarischen Jungen Ausschau gehalten hatte, im Bad mit Gaius Turbaus …« 72
»Dem lanista!« »Richtig. Mit dem Kerl, der die Gladiatorenschule leitet. Er erzählte von einem jungen Barbaren, der zu ihm gekommen sei und als secutor eine große Zukunft habe. Jede Wette wolle er auf ihn halten, hat er gesagt. Das klang interessant. Und als du dann in der Arena diese Sensation ausgelöst hast …« »Warst du dort?« Brad schüttelte den Kopf. »Für Christen ist die Arena verboten, und nach allem, was ich über die Kämpfe gehört habe, tut mir das durchaus nicht leid. Aber du warst tatsächlich das Stadtgespräch, und es ist erstaunlich, wie schnell sich Neuigkeiten hier auch ohne Telefon verbreiten. Quintus Cornelius hielt die Aussichten für gering. Wenn sie dich nicht gleich an Ort und Stelle in Stücke gehauen hätten, meinte er, dann bestimmt ein paar Augenblicke später, als du die Arena verlassen hattest. Aber dann hat er Erkundigungen eingezogen und erfahren, daß du verkauft werden solltest. Also sind wir zum Forum gereist, und den Rest weißt du ja.« Er schaute Simon belustigt an. »Der Bart hat mich fast getäuscht. Schön ist er ja nicht, aber verwirrend.« Simon strich über das Haar, das an seinem Kinn sproß. »Ich könnte ihn behalten.« »Dann kommst du in Schwierigkeiten. Barte haben nur die Sklaven. Hast du das noch nicht bemerkt?« »Ich dachte, nur die Gladiatoren.« »Gladiatoren und Sklaven. Die Unfreien. Freie Männer rasieren sich.« Simon zog die Augenbrauen zusammen. »Aus dem Geschichtsunterricht erinnere ich mich daran nicht.« Brad sah ihn fragend an. »Wirklich nicht?« »Aber wir sind doch frei, nehme ich an? Quintus Cornelius …« »Christen haben keine Sklaven. Nur Diener. Oft genug gibt es da kaum einen Unterschied. Aber den Dienern des Quintus 73
Cornelius scheint es gut zu gehen. Und wir jedenfalls sind keine Diener.« »Was sonst?« »Gäste.« »Für wie lange?« Brad hob die Schultern. Im rechteckigen Becken, das die Mitte des impluviums einnahm, stieg Wasser aus zwei Springbrunnen auf und plätscherte zurück. Große Goldfische schwammen zwischen den Wasserpflanzen. Durch das offene Dach sah man einen blauen Himmel und den Teil einer weißen Wolke. Die Keramikkacheln waren mit den Bildern spielender Delphine geschmückt, die Wände trugen Heiligenbilder. Ganz ähnliche Gemälde hatte Simon in der Nationalgalerie gesehen. Alles war still, friedlich und voller Luxus, doch irgend etwas störte ihn. »Ich weiß nicht …«, sagte er. »Was?« »Das ist doch ein christliches Haus, nicht wahr? Und Quintus Cornelius ist ein reicher Mann.« Simon zögerte. »In der Gladiatorenschule ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe. Bos, der mir geholfen hat. Er war auch Christ. Aber zugleich ist er ein Gladiator, und es ist sein Beruf, Menschen zu töten.« »Das könnte man von den Soldaten auch sagen. Viele Soldaten in unserem Land waren auch Christen.« »Das ist nicht dasselbe. Ich habe versucht, herauszufinden, wo und vor allem wann wir sind. Diese Feuerkugel … Irgendwie sind wir durch sie hindurch in das Römische Reich hineingezogen worden, nicht wahr?« »Richtig.« »Aber in welches Jahr? Ich erinnere mich, daß Konstantin im Jahre 324 Alleinherrscher wurde. Danach wurde das Christentum zur Staatsreligion, also müssen wir jetzt früher leben. Aber wir leben auch in einer Zeit, in der Christen nicht verfolgt wer74
den. Und Bos scheint es durchaus nicht schwierig zu finden, Gladiator und Christ zugleich zu sein, und ich finde, das klingt nicht gerade nach der Art der ersten Christen.« Brad grinste. »Du möchtest wissen, in welchem Jahr wir leben?« »Es wird nicht viel ändern, aber wissen möchte ich’s doch.« »Keine Schwierigkeit. Neunzehnhunderteinundachtzig!« »Willst du etwa behaupten, ich hätte alles bloß geträumt? Wessen Traum ist das alles? Deiner oder meiner? Ich habe jedenfalls nicht geträumt!« »Nun gut, denken wir einmal darüber nach. Das Christentum ist nicht die Staatsreligion. Welche Religion ist es dann?« »Sie haben hier eine ganze Menge verschiedener Götter. Alle diese Tempel überall …« »Hast du von irgendeinem Gladiator den Fluch ›Bei Julian!‹ gehört? Natürlich nicht von Bos, aber von einem anderen?« »Ja.« »Und wer ist damit wohl gemeint?« »Ich hab nicht darüber nachgedacht. Julius Caesar vielleicht? Den haben sie doch zum Gott gemacht.« »Julianus, nicht Julius. Um genau zu sein: Flavius Claudius Julianus. Geboren 331, Kaiser von 331 bis 363. Julian, der Abtrünnige. Er hat die christliche Herrschaft Konstantins rückgängig gemacht und das Heidentum wieder eingeführt. Aber er war erst zwei Jahre Kaiser, als er in den Krieg gegen die Perser zog. Anfangs erging es ihm dabei gut; dann wurde er im Kampf verwundet und starb. Die Christen gewannen wieder die Oberhand, und dabei blieb es dann.« »Ich begreife noch immer nicht …« »Ich habe aus unserem Geschichtsbuch von der anderen Seite der Feuerkugel zitiert. Auf dieser Seite verlief alles anders. Julian wurde nicht im Alter von kaum mehr als dreißig Jahren getötet. Er gewann die Schlacht und kämpfte weiter gegen die 75
Perser. Er tat auch noch manches andere. Zum Beispiel verlegte er den Regierungssitz von Byzanz, wohin Konstantin ihn gebracht hatte, wieder nach Rom. Das ganze Reich hat er neu organisiert. Er starb erst, als er schon fast achtzig Jahre zählte, und bis dahin hatte er alles ziemlich sicher eingerichtet, und so ist alles auch seither geblieben.« Simon fragte sich, ob es sich um irgendeinen komplizierten Scherz Brads handeln konnte. Aber war denn das Leben in einer Welt, die es niemals gegeben hatte, denn wirklich etwas anderes als ein Gefangensein in der Vergangenheit? Er fragte: »Eine Wenn-Welt?« »Nur daß von hier aus betrachtet die Wenn-Welt jene ist, aus der wir gekommen sind. Versuch doch einmal, den Menschen etwas von der Industriellen Revolution zu erzählen, von Panzerwagen und Fernsehen, ganz zu schweigen von so einfachen Dingen wie etwa, daß es in Rom keinen Kaiser, wohl aber einen Papst gibt. Das ist gar nicht so einfach!« »Du meinst, du hast es bei Quintus Cornelius versucht?« Brad nickte. »Hältst du das für klug?« »Ich bin mir noch nicht sicher. Es kam einfach so. Er interessierte sich für meine Jeans. Ein solches Kleidungsstück und solchen Stoff hatte er noch nie gesehen. Und dann war da noch der Reißverschluß. Der hat ihn ganz verwirrt. Für einen so alten Burschen ist er ein kluger Kopf, und für einen Römer ist er sehr weltoffen. Er fragte mich: Wie heißt das Land, aus dem du kommst, und in dem man eine so schwierige Metallarbeit beherrscht? Vielleicht hätte ich lügen können. Ich hätte behaupten können, ich käme aus demselben Land, von dem Plinius behauptet hat, daß die Menschen dort die Köpfe unter den Armen trügen. Aber ich glaube, das hätte er mir nicht abgenommen. Und er hatte schon so viel für mich getan, daß ich ehrlich zu ihm sein wollte. Jedenfalls wollte ich alles noch weitertreiben, 76
und ich zeigte ihm meine Uhr. Ich hatte sie in der Hosentasche versteckt, ehe die anderen sie gesehen hatten.« Die Uhr, die bei Simon beträchtlichen Neid ausgelöst hatte, war eine Quarzuhr mit Kalender und Wecker. Er versuchte sich vorzustellen, wie so etwas auf einen Menschen wirken mußte, der gewohnt war, die Zeit nach Sonnen- oder Wasseruhren zu messen. »Und wie hat er das aufgenommen?« fragte er. »Er hielt die Uhr für Zauberei. Lange genug hat es gedauert, bis er begriff, wozu sie überhaupt da war. Die arabischen Ziffern sind in dieser Welt niemals eingeführt worden, so sagten die Zahlen ihm gar nichts, doch die leuchtenden Zahlen faszinierten ihn, sobald ich ihm die Funktionen erklärte. Besonders der Wecker! Sicher war er, daß so etwas weder aus dem Römischen noch aus dem Chinesischen Reich stammen konnte, und es erschien ihm noch unwahrscheinlicher, daß Barbaren so etwas geschaffen haben könnten. Damals dachte ich noch genau wie du, wir seien in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Quintus Cornelius konnte sich mit dem Gedanken abfinden, daß ich aus irgendeiner fernen Zukunft käme, weil das noch die einleuchtendste von allen möglichen Absurditäten war. Als wir dann weiter miteinander sprachen, sammelten sich die Widersprüche. Die Datierungen zum Beispiel. Sie bezeichnen die Jahre hier so, wie die Römer es vor der Einführung des Christentums taten. A. U. C, nicht A.D. Ab urbe condita – seit der Gründung der Stadt. Und so habe ich herausgefunden, daß Rom vor zweieinhalb Jahrtausenden gegründet wurde. Und daß Britannien für zwei Jahrtausende, nicht nur für wenige Jahrhunderte, römische Kolonie war. Er verstand es fast im selben Augenblick wie ich. Wenn man sich erst damit abgefunden hat, daß jemand aus der Zukunft kommt, ist wahrscheinlich die Vorstellung einer parallelen Welt nicht mehr so schwierig. Für einen Römer ist er wirklich sehr aufgeschlossen. Wahrschein77
lich hat es damit zu tun, daß er Christ ist. Sie werden geduldet, aber sie gehören doch nicht richtig dazu.« Simon hatte sich bemüht, die Lage richtig zu verstehen. Zögernd sagte er: »In dieser Welt ist das Römische Reich niemals zusammengebrochen, also …« Er schwieg, und Brad fiel ein: »So steht es mit einer ganzen Reihe von Dingen. Es gab zum Beispiel keinen Mohammed. Und falls es ihn doch gab, so ist er jedenfalls unbekannt geblieben und unbemerkt gestorben. Es gibt keinen Islam. Und aus dem Islam stammten wahrscheinlich die Ideen, die zur Renaissance führten und später zu Wissenschaft und Technik. Diese Welt hier hat sich in zweitausend Jahren kaum verändert. Einige kleiner Verbesserungen – wie etwa in der Glasherstellung – aber nichts wirklich Umwälzendes.« »Ich verstehe immer noch nicht, wie das geschehen konnte.« »Das alte Ägypten bestand Jahrtausende, ohne daß sich viel veränderte. In China war es nicht anders. Wir halten schnelle Veränderungen für selbstverständlich, aber tatsächlich sind sie recht ungewöhnlich. Statische Zivilisationen sind anscheinend viel natürlicher. Und Julian – der Julian, der überlebte, hat zur Festigung seiner Welt gute Arbeit geleistet. Armee und Reich hat er völlig reformiert. Von Juden und Christen einmal abgesehen, muß jedermann Militärdienst leisten. Damit wurde die Armee wieder zu einer Bürgerarmee. Man brauchte keine Söldner mehr. Und er erließ ein Gesetz, wonach der Nachfolger eines Kaisers niemals aus derselben Provinz stammen durfte, auch wenn die Herrschaft immer in Rom ausgeübt wird. Er löste auch das Christenproblem, und das ist wohl sein wichtigstes Werk.« »Wie meinst du das – er löste es?« »Das Grundproblem war doch, daß Juden und Christen an einen einzigen Gott glaubten und es für die schwerste Sünde hielten, einem anderen Gott zu dienen oder ihn auch nur anzu78
erkennen. Aber der römische Kaiser galt als Gott, und jeder hatte ihm einen Eid zu leisten. Christen und Juden weigerten sich. Was die Juden betraf, so machte das nicht viel aus, denn nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer zerstreuten sie sich und lebten nur noch in kleinen, isolierten Gruppen. Aber die frühe Christenheit war ausgedehnter und dynamischer. Sie drang in das Herz Roms ein. Der oberste Bischof war der Bischof von Rom. Die Christen verkündeten lauthals ihre Weigerung, vor dem Gott-Kaiser das Knie zu beugen. Diejenigen, die sich weigerten, wurden zu Märtyrern, und die Märtyrer führten den Christen neue Gläubige zu. Die Römer konnten darin nur einen Kreis ohne Ende sehen. In dieser Welt hat Julian alles gut geregelt. Er verkündete, kein lebender Mensch könne zum Gott erhoben werden, auch nicht der Kaiser. Das schloß selbstverständlich auch ihn selber ein. Der Treueeid wurde damit zu einem Eid auf einen Herrscher, nicht auf einen Gott. Die Christen wurden nicht mehr verfolgt, sondern toleriert. Von öffentlichen Ämtern sind sie ausgeschlossen, aber dafür will wohl niemand sterben. Die Bewegung verlor an Kraft. Julian wurde nach seinem Tode als letzter Kaiser zum Gott erhoben. Aber das war nicht mehr wichtig. Es störte die Christen nicht, solange man sie in Ruhe ihren eigenen Gott anbeten ließ.« Brad schenkte die Gläser wieder voll. Rund um das Becken standen Topfpflanzen, einige davon waren sehr groß. Ein Vogel kam durch das offene Dach geflogen und setzte sich auf einen Zweig. Ein Spatz. Die Vögel hatten sich nicht verändert. Simon bedankte sich. Das Getränk war sehr angenehm. Die ganze Umgebung strahlte Behaglichkeit und Luxus aus. »Was hatte es mit dieser Feuerkugel auf sich? Mit einem Kugelblitz hatte sie jedenfalls nichts zu tun.« Brad schüttelte den Kopf. »Nein. Man müßte schon ein Einstein sein, wenn man auch nur versuchen wollte, das alles zu 79
verstehen. Diese parallelen Welten existieren nebeneinander, nehmen denselben Raum und dieselbe Zeit ein, und sie sind doch getrennt. Mit scheint, daß dazu irgendeine Grundlage gehört, ein Medium, wie die alte Vorstellung des Aethers. Vielleicht wird es dadurch möglich, daß die beiden Welten sich an bestimmten Punkten aneinander reiben, und die Feuerkugel war das Ergebnis einer solchen Berührung.« Simon fand, daß man schon erheblich klüger sein müßte als er selbst, wenn man verstehen sollte, wovon Brad sprach. Er sagte: »Also warten wir auf eine neue Berührung, damit wir wieder nach Hause können?« »Da müßten wir vielleicht lange waren. Und könnten wir dann sicher sein, an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren? Wenn es eine Parallelwelt gibt, halte ich es für möglich, daß es eine riesige Anzahl solcher gleichzeitigen Welten gibt. Wir kämen vielleicht in eine Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hätte, oder in eine andere, in der die Pest die Menschheit ausgerottet hätte.« »Also sitzen wir fest?« Brad nickte. »Aber was tun wir? Vermutlich können wir doch nicht immer die Gäste des Quintus Cornelius bleiben?« »Es ist gar nicht schlecht hier.« Brad reckte sich. »Es gibt viel zu erleben. Und Quintus Cornelius möchte, daß wir mit seinem Bischof reden – dem Bischof von London. Er ist zu irgendeiner Konferenz nach Rom gefahren, oder er ist schon wieder auf dem Rückweg. Er muß schon bald in London, das heißt in Londinium, eintreffen.« »Und dem sollen wir erzählen, daß wir aus einer Parallelwelt kommen? Bist du sicher, daß er uns nicht als Zauberer verbrennen lassen wird oder so etwas?« »Auch darin unterscheiden sich diese Christen von unseren. Sie haben niemals angefangen, Menschen zu verbrennen. Quintus Cornelius glaubt nicht, daß es zu irgendwelchen theologi80
schen Streitigkeiten kommen wird. Mehrere Welten bedeuten ja noch nicht mehrere Götter.« Schritte näherten sich über den gekachelten Boden. Brad stand auf, und Simon folgte seinem Beispiel. Wie er nach den leichten Schritten schon vermutet hatte, kam ein Mädchen zu ihnen. Sie mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre sein und trug ein Kleid, das wie weiße Seide aussah, in Falten von ihrer Schulter fiel und von einer goldenen Brosche zusammengehalten wurde. Um das Handgelenk trug sie eine feine goldene Kette, und ihre Sandalen waren goldgefärbt. Brad redete so schnell in lateinischer Sprache auf sie ein, daß Simon nicht folgen konnte. Sie antwortete lächelnd. Sie hatte schwarzes Haar und graue Augen, und als sie lächelte, bemerkte Simon, wie schön sie war. Es war ihm auch klar, warum Brad so schnell auf das Geräusch ihrer Schritte reagiert hatte und warum er sich über ihre Anwesenheit so sehr zu freuen schien. Brad wandte sich ihm zu. »Simon, das ist Lavina, die Enkelin des Quintus Cornelius.«
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6 Je besser Simon seinen Gastgeber Quintus Cornelius kennenlernte, desto besser gefiel er ihm. Er war Christ, aber auch – wie Simon bald merkte – ein stolzer Römer. Seine Familie konnte ihren Stammbaum zweitausend Jahre bis in die Zeit der Römischen Republik zurückverfolgen; er zeigte Simon in einem Glaskasten aufbewahrte Schmuckstücke, die einer seiner ersten bekannten Vorfahren bei einem Triumphzug in Rom getragen hatte. Er war auch stolz auf die lange Geschichte seiner Familie in der britischen Provinz. Sie lebte hier seit tausend Jahren. Damals war ein Cornelius als Gouverneur aus Rom nach Britannia gekommen. Er hatte sich zum Christentum bekehrt und deshalb sein öffentliches Amt und seinen Rang als Senator aufgeben müssen. Seine Nachkommen waren in Britannien geblieben und hatten in aller Stille und Behaglichkeit ihr Land bebaut. Wenn er von dieser Zeitspanne sprach, kamen einem die neunhundert eher wie neunzig Jahre vor. Sein Stolz war schlicht und unpersönlich. Er bezog sich mehr auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart. Davon gab es jedoch eine Ausnahme: seine Enkelin Lavinia. Er hatte einen Sohn gehabt, doch der war von der Pest dahingerafft worden, drei Jahre nachdem Lavinias Mutter im Kindbett gestorben war. Lavinia war so eher eine Tochter als eine Enkelin für ihn. Jeder Blick bewies, wie stolz er auf sie war. Simon verstand das gut. Schön war ein ganz unzulängliches Wort, um sie zu beschreiben. Das Anziehende ihres Gesichts, der schmalen, geraden Nase, des dichten schwarzen Haars, in dem immer Lichter zu funkeln schienen, der großen grauen Augen, der zarten Haut, die bisweilen leicht errötete – das alles war weit weniger wichtig als ihre Lebhaftigkeit. Sie lächelte gern. Und doch zeigte ihr Gesicht häufig einen Ausdruck, als 82
schaute sie in eine ferne, wunderbare Traumlandschaft, die nur ihr bekannt war. Die Jungen kamen ihr rätselhaft vor, doch Simon bezweifelte, daß sie alles glaubte, was sie von ihrer Welt erzählten und von der Art, wie sie in diese hier gelangt waren. Immer wieder dachte sie sich neue Fragen nach dem Herkunftsort der beiden aus, und jedesmal brach sie über die Antworten in ungläubiges Gelächter aus. Ein Wagen, der ohne Pferde fuhr, auf luftgefüllten Reifen und sechsmal so schnell wie ein von vier feurigen Pferden gezogener Wagen? Bilder, die unsichtbar durch die Luft wanderten, tausende von Meilen weit, und dann an einer Wand wieder lebendig wurden? Aber es war schön, ihr Lachen zu hören. Weniger schön war es, stumm dabeizusitzen, während Brad ein anscheinend fehlerfreies Lateinisch sprach. Meistens konnte Simon nur eben ahnen, wovon die Rede war. Aber dann kam ihm gerade dazu eine glänzende Idee. Er erklärte, wie unbefriedigend ein solcher Zustand für ihn sei, und sie war sofort bereit, ihm Unterricht zu geben. Jetzt sah Brad nicht eben zufrieden aus. Er wollte gern an den Stunden teilnehmen, doch damit war Lavinia nicht einverstanden; ein Lehrer sei besser als zwei. Simon stimmte ihr eifrig zu. Erfolgreich war er auch beim Reiten. Lavinia, eine römische Dame, ritt selbstverständlich nicht selbst, doch sie kam zur Weide am Ende des Gartens, um den Jungen zuzuschauen. Brad hatte das Reiten mit Hilfe eines Stallburschen gelernt, und er hielt sich für einen Anfänger nicht schlecht. Simon hingegen hatte mehrere Jahre Reitunterricht hinter sich, und trotz der unangenehmen Entdeckung, daß diese Welt noch nicht darauf gekommen war, den Steigbügel zu erfinden, ritt er bald ein recht lebhaftes Pferd, während Brad sich mit einer lammfrommen Stute begnügen mußte. Lavinia war beeindruckt, und sie sagte es auch. 83
Zehn Tage war Simon schon in der Villa, als der Bischof zu Besuch kam. Er kam an einem düsteren Morgen. Immer wieder schütteten graue Wolken Regenschauer über das Land. Der oberste Diener richtete den Jungen aus, daß sie zu Quintus Cornelius und Bischof Stephanus in das tablinum kommen sollten. »Macht euch erst ein wenig frisch«, sagte Mandarus, der fast mehr als Freund des Hausherrn gelten konnte denn als sein Diener. »Ein Besuch Seiner Heiligkeit bedeutet eine große Ehre.« Das tablinum öffnete sich zum impluvium hin und war Arbeitszimmer und Bibliothek zugleich. Quintus Cornelius hielt sich gern allein in diesem Raum auf. Simon war noch niemals hier gewesen. Die beiden Männer saßen nebeneinander am Tisch und waren in ein Gespräch vertieft, als die beiden Jungen hereingeführt wurden und achtungsvoll an der Tür stehenblieben. Der Bischof streckte die Hand aus, und Brad und Simon taten, was Mandarus ihnen gesagt hatte. Sie traten näher, knieten nieder und küßten den Ring mit dem großen, funkelnden Stein. Mit der anderen Hand fuhr der Bischof segnend über ihre Köpfe. Der Bischof war ganz anders als Simon erwartet hatte. Er hatte sich einen sehr alten Mann vorgestellt, älter wahrscheinlich als Quintus Cornelius, ehrwürdig und irgendwie heilig aussehend. Bischof Stephanus hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, und Simon schätzte, daß er kaum älter als vierzig Jahre sein mochte. Sein kurzer, nußbrauner Bart war ohne weiße Fäden, und seine Hand war nicht die eines alten Mannes. Seine Bewegungen waren lebhaft, und er richtete einen scharfen Blick auf die beiden Jungen. Es war der Blick eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Seine Stimme war tief und wirkte streng, doch schon nach wenigen Minuten bemerkte Simon diese Strenge nicht mehr. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Batterie von Fragen zu verstehen, die der Bischof auf die 84
beiden Jungen abschoß. Er hätte den Bischof gern gebeten, ein wenig langsamer zu sprechen, doch er fand nicht den Mut dazu. Allmählich wurde ihm klar, daß der Bischof prüfte, ob Quintus Cornelius nicht vielleicht ein paar Schwindlern aufgesessen sein könnte. Seine Art, schnell von einem Jungen zum anderen und wieder zurück zu wechseln, sollte ihm helfen festzustellen, ob sie ihre Antworten vorher gemeinsam zurechtgelegt hätten. War dies der Fall, so würden die vielen Fragen sicherlich Verwirrung stiften, und einer der beiden würde sich verraten. Mit dieser Vermutung hätte er auch durchaus recht gehabt, fand Simon, als die Befragung plötzlich endete und er sich ein wenig entspannen konnte. Das Schweigen hielt lange an. Endlich wandte sich der Bischof an Quintus Cornelius. »Das ist wirklich interessant, Quintus. Du hast gut daran getan, mich darauf aufmerksam zu machen.« Wieder betrachtete er die Jungen. Sein Gesicht war fast ausdruckslos, doch Simon empfand unter diesem Blick ein ganz seltsames Gefühl. Hätte der Bischof jetzt gesagt: »Leg dich hin, ich brauche eine Fußbank«, so hätte Simon es sofort getan und wäre sogar noch froh darüber gewesen. Er wollte den Blick abwenden, doch er konnte es nicht. »Ihr erzählt eine merkwürdige Geschichte«, sagte der Bischof. »Ihr berichtet von einer Welt voller Wunder, die fast die Vorstellungskraft übersteigen. Riesige Schiffe, die ohne Segel und Ruder die Meere kreuzen. Andere, die wie Adler durch die Lüfte fliegen und doch groß genug sind, um Hunderte von Männern und Frauen mit sich zu nehmen. Oder sie bringen Hunderttausenden den Tod.« Er zog etwas aus der Tasche seines Umhangs und hielt es in die Höhe. Es war Brads Uhr. »Diese Erzählungen könnten reine Fantasie sein, doch es handelt sich um Realitäten. In dieser Welt gibt es keine Handwerker, die einen solchen Gegenstand anfertigen könnten, die 85
ein solches Glas herstellen und es am Metall befestigen könnten. Es scheint also, daß ihr weder wahnsinnig seid noch betrügerisch. Ihr sagt, dies hier sei eine Art Uhr, und auch das ist eine Bestätigung eurer Worte. Schwindler hätten niemals etwas so Lächerliches gesagt.« Er schwieg ein Weilchen und fuhr dann fort: »Ihr sagt, daß ihr aus einem Lande kommt, das dieselben Länder und Meere hat wie das unsere, das im selben Raum und in derselben Zeit existiert und doch ein anderes ist. Das ist ein Geheimnis, doch auch im Mittelpunkt unseres Glaubens steht ein Geheimnis, das Geheimnis des menschgewordenen Gottes. Es ist nicht unsere Aufgabe, der unendlichen Schöpferkraft Gottes Grenzen zu ziehen. Wer eine Welt schaffen konnte, der konnte auch zwei Welten erschaffen oder eine Million Welten, wenn er es wollte. Aber da ist noch eine andere Frage, die mit eurer Anwesenheit hier zu tun hat. Seid ihr im Auftrage Gottes oder im Auftrag des Teufels hier?« Brad antwortete schnell: »Auch wir sind Christen, Eure Heiligkeit!« »Christen, sagt ihr, aber aus einer Welt, in der der Leib Christi, seine heilige Kirche, zerrissen ist. Es könnte auch das Reich des Teufels sein.« Simon spürte Kälte in sich aufsteigen. Er erinnerte sich, daß Brad versichert hatte, die Christen hier seien freundliche, friedliche Menschen; doch das hatte er gesagt, ehe sie dem Bischof begegnet waren. Der Bischof strich sich mit der Hand über den Bart. »Es war ein Erlaß des Kaisers Julian, daß freie Männer sich den Bart scheren sollten, Sklaven hingegen nicht. Er hat nicht von christlichen Sklaven gesprochen, doch ich habe diesen Titel erwählt. Wir dürfen unseren Herrn anbeten, wenn wir unter uns sind, doch wir dürfen seinen Namen nicht in der Öffentlichkeit verkünden. Das ist Sklaverei. Wir dürfen durch die Straßen ge86
hen, doch wir dürfen keine Prozessionen veranstalten, um unseren Glauben zu verkünden. Das ist Sklaverei. Und wir haben uns an unsere Fesseln gewöhnt, und das ist die größte Sklaverei von allen.« Er schaute die Jungen düster an, dann lächelte er plötzlich, doch dieses Lächeln gab keine Sicherheit. »Was man zum Guten nützen kann, ist gut. Jedenfalls hat Gott uns ein Zeichen gesandt. Ein Wunder hat euch hergebracht, und Gott wirkt seine Wunder nicht vergebens. Man darf sie auch nicht verschwenden. Diese Generation ist gesegnet, falls sie die Segnungen annimmt und nützt.« Der Bischof klatschte in die Hände, und diese Geste wirkte nach seinen geheimnisvollen Worten überraschend. Simon hatte den Eindruck, daß der Bischof nicht nur ein Visionär, sondern auch ein praktischer Mann sei, und er fragte sich, warum ihn dieser Gedanke noch unruhiger machte. »Haltet euch bereit. Wir brauchen Gebet und Vorbereitung. Aber ich wäre schlimmer als der Mann, der seine Talente in der Erde vergrub, wenn ich Gottes Wunder nicht für den Dienst an seiner Kirche nutzte.« Nachdem der Bischof gegangen war, bemühte Simon sich redlich, ihn zu vergessen. Die Unterrichtsstunden mit Lavinia gingen weiter, es war angenehm, mit ihr im impluvium zu sitzen oder mit ihr über die Gartenwege zu gehen, während sie ihm lateinische Wörter und Sätze vorsagte und seine Fehler verbesserte. Sogar ihr Tadel für seine Fehler freute ihn. Brad unternahm noch einen Versuch, an dem Unterricht teilzunehmen, doch Lavinia sagte ihm, er spräche bereits gut genug lateinisch. Er sah über dieses Lob nicht gerade erfreut aus und meinte, die Stunden dauerten ohnehin schon lange genug, ob sie nicht lieber gemeinsam etwas unternehmen könnten. »Geh allein, Bradus!« antwortete Lavinia. »Simonus hat noch viel zu lernen.« 87
»Ja, Bradus, geh allein!« sagte auch Simon. Und dann zu Lavinia: »Tut mir leid, daß ich so dumm bin.« »Du mußt gründlicher denken.« Sie lächelte dabei, doch Simon sagte ernsthaft: »Das werde ich.« Brad ging enttäuscht davon, wenn auch nicht weit. Er setzte Steine auf einem Brett, das einem Schachbrett ähnlich sah. Es war aber nicht Schach, sondern Latrunculi, ein Kriegsspiel, bei dem man drei Arten von Steinen zur Verfügung hatte, um das Lager des Gegners anzugreifen und das eigene zu schützen. Es hatte Simon verblüfft, wie schnell Brad die Regeln so gut beherrschte, daß er abends sogar gegen Quintus Cornelius spielen konnte. Im Augenblick schien er allerdings nicht recht bei der Sache zu sein. Lavinias Tadel, weil Simon offenbar unfähig war, einfache lateinische Redewendungen zu behalten, wurde von ihrer Bewunderung für seine Leistungen zu Pferde aufgewogen. Brad suchte irgend etwas, womit er seinerseits beeindrucken konnte, und dabei stieß er auf das Baumstammringen. Der Name rührte vielleicht daher, daß man früher wirklich auf einem richtigen Baumstamm gerungen hatte. Heute wurde dazu ein etwa vierzig Zentimeter breites Brett verwendet. Man mußte dabei nicht nur ringen können, sondern auch sein Gleichgewicht bewahren, und es war bei weitem nicht so leicht, wie es aussah. Die Villa hatte ein eigenes Badehaus, das von einem unterirdischen Ofen beheizt wurde, der im Sommer auch als Zentralheizung für die Villa diente. Das Badehaus stand gleich neben der Villa, und daneben lag der palaestra, der Übungshof. Simon und Brad rangen dort auf Brettern, die ungefähr einen Meter über dem Boden angebracht waren. Anfangs gewann Simon fast immer, weil er durch sein größeres Gewicht im Vorteil war. Aber Brad blieb emsig bei der Sache und entwickelte mit der Zeit eine Geschicklichkeit, die 88
gemeinsam mit seiner größeren Beweglichkeit den Wettkampf ausgeglichen gestaltete. Allmählich behielten sie abwechselnd die Oberhand und fielen abwechselnd in den Staub, während Lavinia Beifall klatschte. Allmählich langweilte Simon sich dabei, und so war er froh, als Brad eines Morgens vorschlug, anstatt zum palaestra sollten sie einmal zum Fluß hinunter gehen. Es war ein warmer, wenn auch grauer Tag. Obwohl die Sonne nicht schien, schwärmten Bienen über den Rosen, als sie zwischen den Gartenbeeten hindurchgingen. Das Gesumm der Bienen endete nie. Da man zum Süßen nur den Honig kannte, waren die Bienen für die Bewohner der Villa wichtig. Simon und Brad gingen durch den Küchengarten. Diener arbeiteten dort unter der Aufsicht eines Obergärtners. Dann erreichten sie den Fluß. Er war drei oder vier Meter breit, strömte recht schnell und war ziemlich tief. Am anderen Ufer bildete eine künstliche Höhle den Hintergrund zu dem Rasen, auf dem ein Gartenhäuschen stand. Es gab zwei Brücken. Eine war groß und stark und hatte ein Geländer, eine andere war viel älter und schmaler, und falls auch sie einmal ein Geländer gehabt haben sollte, so war es nun jedenfalls verschwunden. Vielleicht hatte man es beim Bau der neuen Brücke verwendet. Auch ein Teil der alten Brücke selbst fehlte, so daß die Brücke an beiden Enden einen guten Meter breit war, in der Mitte jedoch kaum noch eine Fußbreite maß. Brad ging voran. Er lief auf die alte Brücke zu, rannte schnell hinüber und schaute sich um. »Wir haben heute früh unseren Ringkampf ausgelassen! Wie wär’s? Wollen wir ihn hier nachholen?« Er kam bis zum schmalen Brückenrest zurück und nahm die geduckte Haltung eines Ringkämpfers ein. Simon begriff zweierlei. Erstens war das alles hier im voraus geplant, und zweitens standen seine Chancen nicht sehr gut, diesen Ringkampf zu gewinnen. Selbst wenn man nicht an den Fluß dachte, was gar 89
nicht so einfach war, blieb die Tatsache, daß die Brücke gut dreimal höher lag als das Brett, auf dem sie bisher geübt hatten, und Höhen hatten Simon noch niemals sehr behagt. Er erinnerte sich, daß er das Brad gegenüber einmal erwähnt hatte, als sie sich kurz nach ihrer ersten Begegnung über die Niagarafälle unterhalten hatten. Auch das hatte Brad offenbar in seinem bemerkenswerten Gedächtnis gespeichert, und jetzt war er darauf aus, es zu seinem Vorteil auszunützen. Während Simon noch zögerte, rief Brad noch einmal: »Willst du, daß ich auf einem Bein stehe?« Lavinia, die neben Simon stand, lachte leise. Wahrscheinlich nur über den seltsamen Anblick, den Brad dort oben bot, doch dieses Lachen ließ Simon noch deutlicher erkennen, was ihm bevorstand. Er hatte die Wahl, ob er die Herausforderung ablehnen und als Feigling erscheinen, oder ob er sie annehmen und sich zum Narren halten lassen konnte. Er schaute in den Fluß. Zu einem nassen Narren obendrein. Brad sagte: »Mach dir keine Sorgen, ich werde dich schon herausfischen.« Simon ging vorwärts. Er schaute nicht mehr in das Wasser, doch er konnte es nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Zusammengekauert schaute Brad ihm wartend entgegen. Auch Simon duckte sich, doch nur für einen Augenblick, dann richtete er sich auf und rannte auf Brad zu, vollführte mit dem rechten Arm eine weite, schwingende Bewegung, ehe sie aufeinanderprallten. Es gab keinen Ringkampf, sondern nur einen Zusammenstoß, ehe sie beide stürzten. Er verstärkte seinen Griff, als sie untergingen und hielt Brad fest, bis sie die Kieselsteine des Grundes unter sich spürten. Dann ließ er los. Als er auftauchte, sah er Lavinia über sich am Ufer; sie sah besorgt aus, bis auch Brad einige Meter entfernt den Kopf aus dem Wasser streckte. Simon grinste sie an, und sie lächelte zurück. Er strebte dem nächsten möglichen Landeplatz ein Stück 90
stromabwärts zu und hatte ihn fast erreicht, als sein rechtes Bein gepackt wurde, dann auch sein linkes. Mit einer Drehung zog Brad ihn unter Wasser. Im Zweikampf mußte Simon feststellen, daß Brad der bessere Schwimmer war. Der Gewichtsvorteil konnte Simon hier nicht mehr helfen. Er ging unter, kämpfte sich an die Oberfläche und wurde abermals getaucht. Zum drittenmal bekam er den Mund voll Wasser, als er nach Luft schnappte. Als Brad ihn endlich ans Ufer ließ, keuchte und spuckte er, und es war kein sehr würdevoller Anblick. Und Lavinia lachte und lachte. Die gute Nachricht kam am nächsten Morgen, als sie zum tablinum gerufen wurden. Eine Nachricht aus Londinium war eingetroffen. Der Bischof wollte Brad gern ausführlicher befragen und wollte ihn sofort bei sich sehen. »Für wie lange?« fragte Brad. Quintus Cornelius schüttelte den Kopf. »Davon war nicht die Rede. Aber sicherlich für lange Zeit, für Wochen vielleicht. Ich werde unsere Spiele vermissen, Bradus.« »Und was ist mit Simonus?« »Nach ihm wurde nicht verlangt.« Quintus Cornelius sah Simon mitleidig an. »Es tut mir leid, daß Seine Heiligkeit augenblicklich keine Verwendung für dich hat, aber …« Simon sagte erfreut: »Es ist schon gut. Bradus weiß alles und kann viel nützlicher sein als ich.« Sie sahen Brad im leichten cisium, dem leichten, zweirädrigen Wagen sitzen, der ihn schnell in die Stadt und zum Bischof bringen sollte. Lavinia sagte: »Wir werden dich vermissen, Bradus!« Brad tat sein Bestes, um ganz unbeschwert auszusehen. Simon dachte durchaus erfreut an ihre unterschiedlichen Aussichten in der nächsten Zeit. Für Brad gab es stundenlange Befragungen, unterbrochen von religiösen Belehrungen. Er konnte das fröhliche Leben in der Villa genießen und hatte nichts ande91
res zu tun, als sich zu amüsieren. Und Lavinia. Lächelnd sagte auch er: »Ja, wir werden dich sehr vermissen, Bradus!« Er grinste und fügte auf englisch hinzu: »Aber deswegen brauchst du nicht zu schnell wiederzukommen!« Der Fahrer knallte mit der Peitsche, und der Wagen setzte sich schnell in Bewegung. Simon wandte sich an Lavinia: »Du hast gesagt, du wolltest mir im Gartenhaus Gedichte vorlesen. Ich finde das eine sehr gute Idee.«
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7 Es war schön, solange es währte, doch es währte nicht lange. Vier Tage später wurde Simon wieder zum tablinum gerufen. Der Bischof hatte die Nachricht geschickt, daß er jetzt auch Simon bei sich haben wollte. Simon versuchte es mit Einwänden. »Aber ich bin für ihn doch ganz wertlos. Ich weiß nichts, was Brad nicht besser wüßte. Er hat ein phantastisches Gedächtnis – er erinnert sich an alles, was er jemals gelesen hat. Mein Gedächtnis ist dagegen furchtbar schlecht.« »Das mag richtig sein, Simonus.« Ein kleine Pause schenkte für einen Augenblick Hoffnung. »Aber Seine Heiligkeit ruft dich, und mehr ist dazu nicht zu sagen.« Er sprach ruhig, doch entschieden, und Simon erinnerte sich, daß in dieser Welt die Autorität keinen Widerstand duldete. Das bezog sich nicht nur auf Sklaven und auf Frauen und Mädchen. Ein Sohn stand zum Beispiel unter der absoluten Macht seines Vaters. Das führte dazu, daß er nicht einmal Eigentum besitzen konnte, wenn er schon selbst verheiratet war. Er lebte von einer Zahlung, die ganz von seinem Verhalten abhing. Und wenn schon von einem Sohn ein so absoluter Gehorsam verlangt wurde, wieviel mehr galt das dann für einen Jungen wie ihn? Er verbeugte sich. »Wann soll ich aufbrechen, Herr?« »Sofort«, antwortete Quintus Cornelius. »Das ist selbstverständlich.« Es gelang ihm, noch einige Minuten mit Lavinia allein sein zu können. Sie legte die Hand auf die seine. Er drückte sie und freute sich, als sie den Druck ein wenig erwiderte. »Bald werde ich zurück sein«, sagte er zuversichtlich. »Das hoffe ich. Aber Bradus ist nicht wiedergekommen, und 93
Großvater glaubt, daß er noch sehr lange fortbleiben wird.« »Bei Bradus ist das etwas anderes.« Der Unterschied lag darin, so überlegte er, daß Brad sicherlich in allen theoretischen Kenntnissen überlegen war und möglicherweise auch listiger. Vermutlich hatte ihn der Bischof in der Hoffnung rufen lassen, er könne etwas mehr wissen als das, was er von Brad erfuhr. Doch Simon hatte sich sorgfältig zurechtgelegt, wie er damit umgehen konnte. Er wußte, daß er im Verhältnis zu Brad beim letzten Gespräch einen sehr bescheidenen Eindruck gemacht hatte. Deshalb hatte der Bischof wohl auch zunächst Brad zu sich gerufen. Die Verwirrung durch die schnell abgeschossenen Fragen des Bischofs und sein unzulängliches Latein hatten dabei eine Rolle gespielt. Simon war überzeugt, daß er mit ein wenig Mühe noch viel einfältiger wirken konnte. Ein paar Tage gutwilliger Dummheit, dann würde Seine Heiligkeit sicherlich genug von ihm haben. Er fragte: »Wirst du mich vermissen?« Ein kleines Nicken. »Ja.« »Wirklich?« Sie sah ihn an. »Ja, Simon, wirklich.« Ein schneller Blick rundum bewies, daß sie nicht beobachtet werden konnten. Schnell beugte er sich nieder und küßte sie. Der Kuß landete hoch auf ihrer Wange, und sie zog sich sofort zurück, doch sie sah nicht erschrocken oder verärgert aus. Auf der Fahrt zur Villa war Simon zu sehr in das Gespräch mit Brad vertieft gewesen, um viel von seiner Umgebung zu bemerken. Im cisium, neben einem wortkargen Fahrer sitzend, konnte er alles besser betrachten. Die Einfahrt nach London war enttäuschend. Gut eine halbe Meile lang standen Reihen armseliger Hütten neben der Straße, ehe sie das Stadttor erreichten. Es war ein sehr altes Tor. An einigen Stellen bröckelten die 94
Steine, und die schweren hölzernen Türflügel sahen aus, als wären sie seit Jahrhunderten nicht mehr geschlossen worden. An der einen Seite war eine kleine Hütte als Unterkunft für den Wächter an das Tor angebaut worden, und man hätte sie abreißen müssen, wenn man das Tor hätte schließen wollen. Der Wächter war im Dienst, doch er unternahm nichts, als der cisium vorbeiratterte. Und die Stadtmauer zu beiden Seiten war schon nach wenigen Metern hinter dem Gedränge der engstehenden Häuser verborgen. Offenbar stellte sie nur noch ein symbolisches Zeichen der Verteidigung dar, wie man es in einem Lande erwarten konnte, das seit mehr als tausend Jahren in Frieden lebte. Innerhalb der Stadtmauern waren noch eine ganze Reihe halbzerfallener Bauwerke zu sehen, ehe endlich Geschäfte und neuere Bauten auftauchten. Die Läden sahen auch nicht viel anders aus als die übrigen Häuser, doch einige von ihnen hatten durchsichtige Glasfenster, und einige waren sogar zweistöckig. Treppen führten außen an ihnen empor. Es herrschte die übliche Geschäftigkeit: Verkäufer riefen ihre Waren aus, Bettler baten bisweilen schreiend um Almosen – und über allem lag eine Mischung unterschiedlichster Gerüche: Obst und Blumen, Fisch und gekochtes Fleisch, Leder und Alkohol und der üble Gestank der Gossen. Die Häuser wurden eindrucksvoller, je mehr sie sich dem Viertel näherten, in dem Simon den Markt vermutete. Die Straße wurde breiter, und sie klapperten an Häusern vorbei, von denen hinter hohen Mauern nur die Dächer zu sehen waren, vorüber an Tempeln mit mächtigen Portalen über marmornen Treppen, an den gedrungen wirkenden Badehäusern, an dem großen Rund des Circus. Jetzt lag er sicher menschenleer, doch Simon erinnerte sich an das Aufheulen der Menschenmassen, die nach Blut verlangten. Er wunderte ihn, daß die Straßen wieder armseliger wurden. 95
Der Fahrer hielt den cisium in einer recht schäbigen Straße an und bedeutete Simon, vom Wagen zu steigen. Dann ging er durch einen engen Gang in einen Hof voraus und ließ Simon dort stehen. Hier drinnen wirkte das Haus nicht einladender als von außen. Simon hatte erwartet, den Bischof in einem Palast zu treffen, in einer römischen Version der nahegelegenen Westminster Abbey. Der Fahrer kam mit Brad zurück und ließ die beiden Jungen dann allein. Simon deutete auf die Häuser. »Nicht genau das, was ich mir vorgestellt habe.« »Die Christen in dieser Welt sind unsere armen Verwandten, vergiß das nicht.« »Quintus Cornelius würde ich nicht gerade als einen armen Mann beschreiben.« »Einige Christen sind reich, aber die Kirche insgesamt muß ihre Armut bewahren.« Nach einem kurzen Zögern fragte Brad: »Wie steht es in der Villa?« »Gut.« »Und Lavinia?« »Alles in Ordnung.« Er hatte sehr kurz geantwortet, doch Brad grinste. »Scheiden tut weh, nicht wahr?« Darauf antwortete Simon nicht, und Brad ging in eines der Häuser voran und dann eine Treppe hinauf. Über eine schmale Galerie mit christlichen Wandmalereien gelangten sie in einen kleinen Raum, der zum Hof hinausschaute. Er war nur spärlich ausgestattet, doch die Wände waren auch hier reich mit christlichen Bildern geziert, und in einer Ecke hing ein bronzenes Kruzifix. Brad sagte.“ »Unser Wohnzimmer. Eine besondere Vergünstigung für auserwählte Gäste.« »Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagte Simon. »Ich denke, ich werde nicht sehr lange hier bleiben.« »Nein? Wie kommst du darauf?« 96
Simon hab die Schultern. »Du bist der von uns beiden, der das Hirn hat und die Informationen liefern kann. Ich nehme an, der Bischof braucht kaum länger als eine halbe Stunde, um alles herauszufinden, was ich ihm sagen kann.« »Wie bescheiden!« spottete Brad mit einem breiten Grinsen. »Komm jetzt. Zeit zum prandium. Aber ich hoffe, du hast keinen zu großen Appetit mitgebracht. Das Leben ist hier anders als in der Villa. Auch im Essen ist man sehr bescheiden. In der halben Stunde, die du hier verbringst, wirst du den Gürtel ein wenig enger schnallen müssen.« Auch das Zimmer des Bischofs wirkte klein und kahl, doch es stand ein größeres Kruzifix darin mit einem Strahlenkranz, der aussah, als wäre er aus Gold. Der Bischof schrieb gerade auf einer Wachstafel und fuhr in dieser Tätigkeit noch einen Augenblick fort, ehe er aufblickte. »Setz dich, Bruder Simonus.« Bruder gab ein Gefühl von Zugehörigkeit, die Simon nicht lieb war. Sein Ziel war es, dumm zu sein, aber nicht zu dumm. Eher verwirrt … Er mußte hilfsbereit wirken und doch völlig nutzlos sein. »Als Christ bist du bereits im Dienst der Kirche. Aber das Unternehmen, das vor uns liegt, ist ungewöhnlich. Hebe die Hand und schwöre in Christi Namen, daß du alles, was du hier erfährst, als Geheimnis bewahren wirst.« Simon murmelte, was von ihm verlangt wurde. Der Bischof sah ihn aufmerksam an. »Steh zu deinem Eid, sonst wird Gottes Gericht dich treffen!« »Lieber das als das Gericht des Bischofs«, dachte Simon und hörte aufmerksam zu, als der Bischof erklärte, was es mit dem Unternehmen auf sich hatte. Es fiel ihm nicht leicht, wirklich alles zu verstehen, aber es war nicht so sehr eine sprachliche als vielmehr eine psychologische Schwierigkeit. In den letzten wenigen Monaten hatte er ein Bild vom Römi97
schen Reich gewonnen, das bis zur Unkenntlichkeit anders war als die Vorstellung, die sich seine Vorfahren seit sechzig Generationen davon gemacht hatten. Die Macht dieses Reiches war unerschütterlich, sein Bestand ewig – oder so gut wie ewig. Es bedurfte einiger Anstrengung um zu begreifen, daß der Bischof eine Revolte im Sinn hatte, daß er die Römische Armee, den Kaiser und das ganze Römische Reich stürzen wollte. Die Wurzel von alledem bildete die Feuerkugel. Sie war nach der Meinung des Bischofs der Heilige Geist oder ein sehr hochstehender Engel, und sie hatte Brad und Simon seiner Meinung nach hergeführt, weil sie das Mittel sein sollten, durch das die Anhänger des Herrn die Sklaven der falschen Götter besiegen würden. Sie – Bradus und Simonus – waren Werkzeuge des göttlichen Willens. Der unablässig auf ihn gerichtete Blick des Bischofs sorgte dafür, daß er Verwirrung gar nicht vorzutäuschen brauchte. »Eure Heiligkeit … Ich möchte gern helfen … ich meine, das ist doch selbstverständlich … aber … Bradus kann Ihnen helfen … mit Informationen, meine ich … Ich meine, ich weiß eigentlich gar nichts … nichts Nützliches … Er weiß alles viel besser als ich …« Der Bischof wartete, bis er sein Stottern beendete, dann sagte er: »Das ist richtig, Simonus.« Simon unterdrückte einen erleichterten Seufzer. »Trotzdem hast du eine Rolle zu spielen. Gott ist mit uns, aber die römischen Soldaten sind im Waffengebrauch geübt. Für Menschen, die an das Kämpfen nicht gewöhnt sind, wird es schwer sein, sie zu überwältigen. Aber es gibt auch andere, die in den Künsten der Krieger geübt sind – diejenigen nämlich, die darauf vorbereitet wurden, zur Belustigung der Gottlosen zu sterben. Die Gladiatoren, meine ich. Durch Gottes Willen hast du an ihrem Dienst teilgenommen, und du hast einen Mann kennengelernt, Bos, meine ich, der Christ und Gladiator zugleich ist. Er 98
muß seine Schicksalsgenossen, die Christen wie die NichtChristen, davon überzeugen, daß sie sich alle in einem bestimmten Augenblick erheben müssen. Und du, Bruder Simonus, wirst der Bote sein, den wir zu ihm senden.« Brad fragte: »Wie ist es gelaufen, Bruder Simonus?« Simon sah ihn nachdenklich an. »Ich habe mir etwas ausgedacht.« »So? Etwas Gutes, nehme ich an. Los, ich höre zu!« »Als der Bischof in der Villa war, habe ich kein Wort davon gesagt, daß ich Gladiator war.« »Aber jemand hat es ihm erzählt? Quintus Cornelius vielleicht?« »Vielleicht. Aber Quintus Cornelius kann ihm nichts von Bos erzählt haben, denn von ihm wußte er nichts. Von ihm hat nur ein einziger Mensch etwas gewußt.« »Na, sowas. Und da behauptet man immer, die Engländer seien dumm. Ich habe das nie geglaubt. Wenigstens nicht ganz.« »Ich fände den Gedanken gar nicht so schlecht, dort weiterzumachen, wo ich vor dem Feuerball aufgehört habe, und dich zu Brei zu schlagen!« Brad lachte. »Versuch es nur! Aber meinst du nicht, daß das für ein Instrument göttlichen Willens sehr merkwürdig wäre? Glaubst du, daß du dadurch wieder zu Lavinia kommst?« Simon überlegte, dann öffnete er die schon geballten Fäuste. Manches besserte sich von selbst, wenn man sich nur Zeit ließ. »Also gut, lassen wir das, bis dieses verrückte Geschäft vorüber ist. Allzu lange kann es ja nicht dauern.« Brad betrachtete ihn fragend. »Hältst du es wirklich für verrückt?« »Wie würdest du es denn nennen, wenn jemand ein Reich stürzen will, das mehr als zwei Jahrtausende überdauert hat?« 99
»Alles endet einmal. Zwei Jahrtausende bedeuten keine größere Kraft als zwei Jahrhunderte. Julian hat gute Arbeit geleistet, als er sein Reich gefestigt hat, aber es ist unmöglich, ein System zu schaffen, das keinerlei Widerstand hervorruft. Die Christen sind nicht mehr zu Märtyrern geworden, als er auf den religiösen Treueeid verzichtete, aber das heißt noch lange nicht, daß sie in der Lage glücklich waren. Wenn eine Zündschnur sehr lang ist und langsam brennt, bedeutet das nicht, daß die Explosion dadurch weniger heftig würde.« »Und, eine einzige Legion könnte die verrückte Revolte des Bischofs niederwerfen. Eine einzige Kohorte könnte das! Und in Britannien stehen drei Legionen, und gleich jenseits des Kanals, in Gallien, stehen weitere vier. Wie willst du seine Vorstellungen nennen, wenn nicht irrsinnig?« Brad lehnte sich an das Fensterbrett. Es war um die elfte Stunde, und hinter ihm dunkelte der Himmel. »Der Bischof ist ein bemerkenswerter Mann«, sagte er. »Mag sein. Aber er müßte schon mehr als bemerkenswert sein, um es mit der römischen Armee aufzunehmen.« Brad wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich habe schnell begriffen, was er von mir erwartete. Er weiß genau, daß eine Revolte gegen die Römer unter normalen Umständen aussichtslos wäre. Aussicht auf Erfolg hat er nur, wenn es ihm gelingt, eine verheerende neue Waffe einzuführen. Seit über zwanzig Jahrhunderten hat die Welt in dieser Hinsicht nichts Neues mehr gesehen. In der Welt, aus der wir gekommen sind, war das völlig anders.« »Und was erwartet er von dir?« fragte Simon. »Sollst du ihm eine Wasserstoffbombe bauen?« Brad grinste. »Darüber habe ich noch nie etwas gelesen. Ich denke, es würde einige Zeit dauern, die Technik dazu zu entwickeln. Die Römer würden wahrscheinlich mächtig staunen, wenn sie eine 100
Rakete starten sähen. Nein, ich habe eher an Schießpulver gedacht. Mörser, Kanonen, einfache Gewehre. Darin hätte ich ihm helfen können.« »Aber du hast es nicht?« »Er wollte es nicht. Es würde noch viel zu lange dauern. Der Bischof will schneller handeln.« Simon wurde neugierig. »Und wie?« »Wir haben die Geschichte der Kriege in unserer Welt durchgesprochen. Dabei sind wir auf zwei technische Entwicklungen gestoßen, die zu ihrer Zeit das Gewicht verlagert und einer Seite den Sieg gesichert haben.« »Und welche waren das?« »Steigbügel und Bogen. Der Steigbügel wurde im 8. Jahrhundert eingeführt und machte die Fränkische Reiterei zum Herren Nordeuropas. Vorher bedeutete Kavallerie nur das, was sie hier auch heute noch bedeutet: eine Möglichkeit, Soldaten schneller auf das Schlachtfeld zu bringen. Aber zum Kämpfen mußten sie absteigen. Fünfhundert Jahre später führte Edward der Erste den Langbogen ein, und bei Crecy und Agincourt wurden die bisher unwiderstehlichen Reiter massakriert. Der Langbogen blieb über zwei Jahrhunderte hinweg die beherrschende Waffe – bis die Feuerwaffen erfunden wurden. Beide Neuerungen von damals könnten wahrscheinlich den gewünschten Erfolg gegen eine Armee bringen, die seit Jahrhunderten nur geübt, aber niemals wirklich gekämpft hat. Der Bischof will sicher gehen und beide einsetzen: den Steigbügel und den Langbogen. Beide sind leicht herzustellen, und ihre Verwendung ist leicht zu erlernen. Man braucht keine Fabriken und keine komplizierten Maschinen. Eben das meine ich, wenn ich bemerkenswert sage.« Simon schüttelte den Kopf. »Ich finde es immer noch wahnsinnig. Aber wenn es überhaupt möglich wäre – wärst du 101
dafür?« »Man hat mich nicht gefragt, aber vielleicht wäre ich dafür. Hier ist eine Veränderung doch längst überfällig.« »Ich finde die Dinge, wie sie sind, gar nicht so schlecht.« »Nein? Trotz der Unwissenheit, die überall herrscht? Trotz der Grausamkeit bei den blutigen Spielen? Und wie steht es mit der Sklaverei? Hast du vergessen, wie es ist, im Staub zu sitzen und nur mit einen Stück Strick bekleidet zu sein? Oder ist Sklaverei in Ordnung, solange du nicht davon betroffen bist?« Simon antwortete nicht auf die Fragen. Es war ihm gleichgültig, was aus der Revolte des Bischofs wurde. Wichtig war nur, daß er wieder zu Lavinia konnte. Im Augenblick erreichte er das vielleicht noch am leichtesten, wenn er tat, was der Bischof von ihm verlangte. Simon hatte den Auftrag bekommen, die Taverne zu finden, doch das war nicht einfach, obwohl man ihm den Weg beschrieben hatte. Sie lag mitten in einem Gewirr verkommener Straßen östlich der Kasernen, und es war nur eine von vielen Schenken. In manchen Straßen schienen von jedem Dach die Efeuranken zu hängen. Daran konnte man erkennen, daß im Haus Wein ausgeschenkt wurde. Etwas, das an Wirtshausschilder erinnerte, gab es nicht. Zunächst geriet Simon in eine falsche Taverne, doch Bos war dort nicht unbekannt. Man schickte ihn in ein noch schäbigeres Haus in der benachbarten Straße. Ein paar Männer tranken aus metallenen Krügen. Simon fand einen leeren Becher und klapperte damit auf dem steinernen Schanktisch. Schlurfende Schritte näherten sich aus einem düsteren Gang, und eine Frau trat durch die Tür. Dabei mußte sie sich ein wenig seitwärts drehen; sie war zwar nicht groß, aber sie wog sicher an die zwei Zentner. Die Frau beäugte Simon mißtrauisch; ihr Gesicht war rund, aber nicht weich. Simon fragte nach Bos, und nach einem langen Zögern drehte die Frau sich um und rief nach ihm. Konnte das die Freundin sein, von der Bos so liebevoll ge102
sprochen hatte? Bos selbst lieferte dafür die Bestätigung, indem er eintrat und der Frau einen zärtlichen Klaps versetzte, der ihre Fleischmassen zittern ließ. Dann fragte er, während er verwundert den Kopf schüttelte: »Simonus! Bist du es wirklich?« Simon streckte die Hand aus, doch sie wurde übersehen. Stattdessen wurde er so heftig umarmt, daß ihm die Rippen krachten. Dann trat Bos einen Schritt zurück und betrachtete Simon besorgt. Er berührte Simons rasiertes Kinn, warf den beiden trinkenden Männern einen schnellen Blick zu und schob seinen Besucher durch die Tür in das Hinterzimmer. Es war hauptsächlich mit Kisten möbliert, doch es gab auch ein paar Stühle. Seine Stimme verriet, wie besorgt er war, als Bos sagte: »Weglaufen ist schon schlimm genug, Simonus. Aber sich selbst als einen freien Mann auszugeben … Dafür kann man den wilden Tieren vorgeworfen werden!« »Ich bin freigelassen worden.« Bos sah ihn mißtrauisch an. »Und ich bin als Bote Seiner Heiligkeit des Bischofs hergekommen.« »Vom Bischof kommst du?« Wieder schüttelte Bos den Kopf. Simon hatte den Auftrag erhalten, dem großen Mann erst den Eid der Verschwiegenheit abzunehmen, und er beschloß, das sogleich hinter sich zu bringen. Dabei kam er sich zwar recht närrisch vor, doch Bos nahm die Sache sehr ernst. Und zugleich schienen damit seine letzten Zweifel zu schwinden. Ernsthaft hörte er zu, als Simon zu erklären begann, was ihm aufgetragen war. Fast augenblicklich wurde er durch ein anderes Mädchen unterbrochen, das durch eine zweite Tür trat, doch Bos knurrte ihr einen Befehl zu, der sie sogleich wieder verschwinden ließ. »Das ist Macaras Schwester«, erklärte er. »Sprich weiter, Simonus!« Macara mußte die dicke Frau sein, also hatte Simon soeben das Mädchen gesehen, das Bos ihm zugedacht hatte. Es war 103
zwar dünner, gewiß, aber es hatte fettes, strähniges Haar, schwammige Haut und einen Mund voll schlechter Zähne. Simon erklärte die Lage so einfach wie möglich, sagte einfach, daß der Bischof einen Heiligen Krieg gegen Rom plane, daß er neue Waffen habe, mit denen er die Legionen bezwingen könne, und daß Bos den Auftrag habe, die Gladiatoren dafür zu gewinnen, daß sie an die Spitze des Aufstandes träten. Es klang wenig überzeugend, eher wie eine Einladung zur Katastrophe. Bos, dessen Beruf das Kämpfen war, mußte das sofort erkennen. Und warum sollte jemand, der sein Schicksal bisher klaglos hingenommen hatte, plötzlich zum Rebellen werden? Er wartete auf das bedächtige Kopf schütteln, an das er sich während der langen Ausbildung zum secutor gewöhnt hatte. Aber Bos sagte nur: »Seine Heiligkeit hat mir eine große Ehre erwiesen. Es wird so geschehen.« Freilich, er war ein Christ. Die Ergebenheit gegenüber seiner Kirche konnte stärker sein als alle beruflichen Bedenken. Er war auch ein Mann, der daran gewöhnt war, dem Tode gegenüberzustehen und alle Chancen gegen sich zu haben. Warnend sagte Simon: »Du mußt alle Gladiatoren dafür gewinnen – nicht nur die Handvoll Christen unter ihnen.« Das breite Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Das kannst du ganz mir überlassen, Simonus!«
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8 Der Bischofssitz war als Bauwerk wenig eindrucksvoll, aber doch sehr geräumig. Er umfaßte einen ganzen Block kleiner Wohnhäuser, die durch ein Gewirr von Höfen und Wegen miteinander verbunden waren. Herzstück dieser Anordnung war die Kapelle, das einzige reich geschmückte Haus. Die Wände waren golden bemalt, und die geschwungenen Wände gaben einem den Eindruck, sich im Innern eines großen goldenen Eies zu befinden. Dieses Gefühl zu empfinden, hatte Simon reichlich Gelegenheit. Zweimal täglich wurde die Messe gelesen, und man brauchte schon eine bessere Ausrede als alle, die Simon einfielen, um dabei zu fehlen. Die Morgenmesse erforderte zwar, daß man sehr früh aufstand, aber wenigstens war sie ziemlich kurz, denn sie dauerte kaum über eine Stunde. (Eine Stunde bedeutete um diese Jahreszeit etwa sechzig Minuten, doch da der römische Tag in zwölf gleiche Teile unterteilt wurde, würde die Stunde immer kürzer werden, je näher der Winter kam.) Bei der Abendmesse dauerte die ständige Folge von Psalmen, Chorälen und Schriftlesungen fast drei Stunden. Simon döste dabei vor sich hin, betrachtete die flackernden Kerzen und dachte an verlockendere Dinge – vor allem an Lavinia. Der Rest des Tages war kaum weniger langweilig. Brad verbrachte viel Zeit mit dem Bischof, doch Simon blieb es überlassen, wie er die Zeit herumbringen wollte. Derzeit bestand keinerlei Aussicht für ihn, auf das Land zurückzukehren. Andererseits war es ihm nicht untersagt, auf die Straßen zu gehen, und das tat er reichlich. Das war interessanter als im Hause des Bischofs, doch es gab einen Nachteil. Die Christen verwendeten offenbar Geld, um Dinge einzukaufen, doch niemand dachte daran, auch ihm Geld zu geben. Aus den Läden drang der Duft 105
von frisch gebackenem Brot, von noch warmem Kuchen, von gebratenem Fisch und Fleisch, und das bedeutete nach der kargen Kost eine wahre Qual, doch das billigste, was hier angeboten wurde, schien zumindest einige sestertii zu kosten, und Simon besaß nicht einmal eine Kupfermünze. Gern hätte er einen der Stände neben dem Forum besucht, in denen musiziert und getanzt wurde, aber auch dazu hätte er Geld gebraucht. Also schlenderte er ziellos durch die Straßen, beobachtete die Menschen und sah sich die Häuser an. Der Julianstempel war am eindrucksvollsten und sogar noch größer als die Tempel des Jupiter und der Venus. Er stand allein auf einem Platz, rings vom Verkehr der Stadt umgeben, und von den Seiten führten Marmortreppen zu ihm hinauf. Aus den dunklen Schatten hinter den Säulen drang Gesang, und Opferrauch kräuselte zum Himmel. Verglich man diesen prächtigen Tempel mit der armseligen Kapelle der Christen, so wurde einem erst recht bewußt, wie vermessen die Pläne des Bischofs waren. Der Herbst war angebrochen. Er brachte kühle, graue Tage mit sich. Böiger Wind trieb Regenschauer vor sich her. Simon hatte einen birrus Britannicis, etwas wie einen kurzen Mantel mit einer Kapuze, doch das Kleidungsstück war abgetragen, an manchen Stellen schon fadenscheinig geworden, und es bot geringen Schutz gegen den Nordostwind, der scharf wie ein Messer ins Gesicht schnitt, als Simon sich vom Tempel abwandte, um heimzugehen. Er fand Brad beim Packen vor und fragte: »Mußt du irgendwo hin?« »Ja.« Brads Gesicht blieb ausdruckslos. »Wohin?« »Die Planung ist abgeschlossen. Jetzt geht es an die Bewaffnung. Ich habe endlich das Amt eines Vorarbeiters bekommen.« »Auswärts?« 106
Brad zuckte die Achseln. »Das muß sein. Hier kann man doch nirgends einen Schmiedehammer schwingen und schon gar keine Langbogen lagern.« Simon sagte nichts. Ohne Brad würde es hier noch langweiliger werden. Brad fragte: »Willst du denn gar nicht wissen, wo die Werkstätte sein wird?« Simon schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt.« »Sie muß abseits genug liegen, damit neugierige Augen sie nicht entdecken. Und es muß genug brauchbares Holz in der Nähe sein. Und da ist man darauf gekommen, daß Quintus Cornelius im Tal hinter der Villa genau die geeigneten Pflanzungen hat. Bisher wurden aus dem Holz besondere Möbel gebaut.« Brad lächelte. »Gibt es irgend jemand, dem ich Grüße von dir ausrichten soll?« Am nächsten Tag erhielt Simon einen neuen Auftrag. Zwei Langbogen waren als Muster hergestellt worden. Einen davon hatte Brad mit zur Villa genommen, der andere mußte an Bos abgeliefert werden. Es regnete, als Simon aufbrach, den Bogen in einem Kleiderbündel versteckt, das er unter dem Arm trug. Es waren wenige Menschen unterwegs; wer vernünftig war, ging bei diesem Wetter nicht aus dem Haus. Simon hoffte, sich in der Taverne ein wenig ausruhen und vor dem Feuer trocknen zu können, doch Bos brannte darauf, die Waffe auszuprobieren, und so brachen sie sofort wieder auf. Sie gingen durch noch verkommenere Straßen und erreichten eine stillgelegte Ziegelei am Rande der Stadt. Sie war ungefähr hundert Meter lang und von einem brüchigen Holzzaun umgeben. Ziegelstapel standen wie Inseln mitten im Schlamm, und an einem Ende der Tongrube bot ein baufälliges Regendach einen spärlichen Schutz. Dort wickelte Simon den Bogen aus dem Tuch und reichte ihn Bos. Bos sagte: »Die Parther benutzten kleinere Bogen. Vom 107
Pferderücken aus haben sie damit geschossen. Ich habe es bei den Spielen gesehen. Aber diesen hier könnte man bestimmt nicht vom Pferd aus abschießen. Hast du Pfeile?« »Einen.« Er zog ihn hervor. Die Spitze war aus gehämmertem Eisen. Bos prüfte sie kritisch, und Simon erklärte: »Damit schießt man im Stehen. Ich zeige es dir.« Er legte den Pfeil auf die Sehne, spannte sie und ließ den Pfeil davonschnellen. Er landete gut zwanzig Meter entfernt. »Ich hole ihn zurück und versuche es noch einmal«, sagte er. »Überlaß mir das«, sagte Bos. Prüfend rüttelte er an einem der Balken, die das Regendach stützten, dann zog er ihn mit einiger Mühe aus dem Boden. Dann trug er ihn ungefähr doppelt so weit, wie Simons Pfeil geflogen war, und pflanzte ihn aufrecht zwischen einen Ziegelhaufen. Auf dem Rückweg hob er den Pfeil auf. Bos übernahm den Bogen und prüfte seine Spannkraft. Unter Simons Mühe hatte sich der Bogen kaum gekrümmt, unter Bos’ Händen gab er nach wie Gummi. »Der Pfeil soll sogar einen Brustpanzer durchschlagen können«, sagte Simon. Ohne darauf zu antworten legte Bos den Pfeil ein, spannte, zielte und schoß. Selbst das Zischen des Pfeils in der Luft klang anders: gefährlicher, zielsicherer. Zitternd schlug der Pfeil ins Holz. Bos und Simon gingen zum Ziel, um das Ergebnis zu betrachten. Der Pfeil hatte das Holz wie Pappe durchschlagen und ragte auf der anderen Seite zentimeterweit heraus. Bos nickte anerkennend und schüttelte Regentropfen aus seinem grauen Haar. »Eine gute Waffe, aber man muß erst lernen, damit umzugehen. Ich habe in Brusthöhe gezielt und kaum noch den Kopf getroffen.« »Für einen, der Muskeln hat wie du, ist der Bogen in Ord108
nung«, meinte Simon. »Mein Schuß hätte eine bloße Brust kaum geritzt.« »Das ist nur eine Frage der Übung.« Bos brach den Pfeil dicht vor der Einschußstelle ab, zog den anderen Teil aus dem Holz und reichte Simon beide Teile. »Geh zurück und sag Seiner Heiligkeit, wenn er mir fünfzig solcher Waffen gibt, werde ich die fünfzig richtigen Arme dafür finden.« Drei Wochen später trafen die Bogen ein und mußten in das Lager der Gladiatoren geschafft werden. Simon und Bos trafen sich in der Taverne. Es war ein klarer, kalter Tag mit einem Wind, der durch jeden Riß in Simons birrus fuhr. Er aber verspürte ein ganz anderes Frösteln, als sie sich der abweisenden Hausfront näherten, die er zuerst gesehen hatte, als er sich durch sommerlichen Staub gequält hatte. Wenn man sie beim Einschmuggeln der Waffen erwischte … In Gedanken hörte Simon schon das Fauchen der Löwen. Bos trieb den Packesel zur rechten Seite des Tores und plauderte liebenswürdig mit dem Wächter, der gleichgültig mit der Hand über die Bündel fuhr, die zu beiden Seiten des Esels festgebunden waren. Nachdem noch ein paar Scherzworte ausgetauscht waren, wurden Bos und Simon hindurchgewinkt. »Wie ich gesagt habe«, erklärte Bos. »Ganz einfach!« Simon atmete erleichtert auf. »Und wenn er nun alles genau durchsucht hätte?« »Davon war ja nicht die Rede.« »Du konntest aber nicht sicher sein.« »Ziemlich sicher!« Bos lachte. »Er ist einer von uns.« »Ein Christ? Aber er ist doch römischer Soldat!« »Nein, kein Christ. Noch nicht, jedenfalls. Aber er ist einer von uns, was dieses kleine Spielchen angeht.« Danach überraschte es Simon nicht mehr so sehr, daß der 109
Aufseher der Kleiderkammer, ein hagerer, dunkelhaariger Mann mit einem Spitzbart und wissenden Augen, ebenfalls zur Verschwörung gehörte. Zu dritt verstauten sie Pfeile und Bogen und legten Leinenballen darüber. Simon war beeindruckt von dem, was Bos bereits vollbracht hatte, doch zugleich wurde er dadurch an etwas erinnert, was er lieber vergessen hätte: daß sie hier mit den Vorbereitungen für etwas beschäftigt waren, das sich wirklich abspielen sollte. Was Bos als ein kleines Spielchen bezeichnete, war der Aufstand einer Handvoll Menschen gegen die Macht Roms. Spartakus, ein anderer Gladiator, hatte einmal einen solchen Aufstand unternommen. Simon erinnerte sich, wie diese Geschichte damals geendet hatte: mit dreihundert Kreuzen an der Via Appia – hundert Jahre vor der Kreuzigung Christi. Auf dem Rückweg tranken sie in der Taverne. Es war ein dunkelroter, fast schwarzer und sehr starker Wein, der von Iberien importiert sei, wie Bos sagte. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Eine Zeitlang werden wir nicht mehr gemeinsam trinken. Von morgen an haben wir keinen Ausgang mehr. Die Spiele des Julian werden vorbereitet.« Simon hatte vergessen, daß die Gladiatoren einen Monat vor den blutigen Spielen ihre Unterkünfte nicht mehr verlassen durften. Das bedeutete zumindest, daß die Vorbereitungen für den Aufstand verzögert wurden. Als er das sagte, kniff Bos ein Auge zu. »Ich kann nicht heraus, und du kannst nicht hinein. Aber römische Soldaten können beides. Keine Sorge. Alles geht weiter.« Er hätte gern erklärt, daß er sich nicht deswegen Sorgen machte, hätte Bos gern gedrängt, die ganze Sache fallen zu lassen. Aber er wußte, daß es zwecklos gewesen wäre. Er konnte sich genau vorstellen, wie sich das breite Gesicht verwundert 110
verzogen hätte. Schließlich war Simon selbst das Werkzeug gewesen, durch das Bos in den ganzen Plan einbezogen worden war. Sie tranken ihren Wein aus und verabschiedeten sich. Der große Mann umarmte Simon, und der erwiderte die Umarmung. Dann trieb er den Esel durch die Straßen, in denen erste Lampen die anbrechende Dunkelheit erhellten. Der nächste Morgen brachte Neuigkeiten, die jeden Gedanken an Bos aus Simons Kopf vertrieben: Er sollte sofort in die Villa zurückkehren. Der Grund dafür lag seiner Meinung nach darin, daß er als Kontaktmann zu Bos nicht mehr gebraucht wurde. Als er jedoch die Villa erreichte, merkte er, daß ein ganz anderer Grund entscheidend gewesen war. Unter der Führung von Marcus Cornelius, einem Neffen des Quintus, sollte eine Kavallerie-Schwadron gebildet werden, der auch Brad und Simon angehören sollten. Auf den ersten Blick konnte Simon diesen Marcus nicht ausstehen. Er war ziemlich alt, mindestens dreißig, dünn, sehr dunkelhaarig und mit einer klassischen römischen Nase. Am auffälligsten war sein ständiges überhebliches Lächeln, obwohl zu solcher Überheblichkeit nach Simons Meinung wenig Anlaß bestand. Er hatte eine hohe, näselnde Stimme, die zum Kreischen wurde, wenn er Kommandos schrie. Er war dumm, irrte sich häufig, war jedoch unfähig, es zuzugeben oder auch nur zu merken. Sie übten im offenen Feld ein Stück talabwärts, versuchten das Reiten in geschlossener Formation und vor allem den Schwertkampf zu Pferde, der durch den Gebrauch des Steigbügels ermöglicht wurde. Sie ritten gegen künstliche Ziele an, schlugen hölzerne Puppen nieder. Es machte Spaß, solange man nicht daran dachte, wozu es schließlich führen sollte und welche Rolle man selbst dann zu spielen hatte. Simon war bisher 111
überzeugt gewesen, Brad und er würden nur während der Vorbereitungszeit am Plan des Bischofs beteiligt sein. Es war eine unangenehme Überraschung, daß von ihnen auch eine Teilnahme am Kampf erwartet wurde. Er sprach diesen Gedanken aus, als sie von einer Übung heimkehrten. Brad entgegnete: »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, der Bischof würde auf irgend jemanden verzichten, den er einsetzen kann? Gerade das bewundere ich an ihm. Er ist sehr gründlich.« »Ich hatte geglaubt, er hätte genug aus uns herausgeholt!« »Genug? Es geht um Gott, vergiß das nicht.« Simon schüttelte den Kopf. »Das ist nicht unser Kampf.« »Wirklich nicht?« »Es ist nicht einmal unsere Welt!« »Du hoffst immer noch, daß die Feuerkugel wiederkommt?« »Nein, aber …« »Dann ist dies hier unsere Welt!« »Aber wir brauchen uns nicht einzumischen, um sie zu verändern!« »Nein? Da bist du wieder einmal stockbritisch! Und darüber haben wir schon oft genug gesprochen.« Sie näherten sich der Villa. »Außerdem: Wenn dir die Sache zu heiß ist, hindert dich keiner daran, von hier fortzugehen. Es gibt keine Wächter und keine Prügelstrafe.« Er grinste. »Immerhin würde dich vielleicht jemand sehr vermissen, und damit meine ich bestimmt nicht mich.« Die Tatsache, wieder bei Lavinia zu sein, tröstete über vieles hinweg. Sie hatte sich erboten, ihn weiterhin in der Schriftsprache zu unterrichten, und er hatte es bereitwillig angenommen. Um diese Jahreszeit konnte man das Sommerhaus nicht benutzen. Sie mußten im impluvium sitzen, durch das immer wieder Dienstboten und bisweilen auch der Großvater kamen. Die Fußbodenheizung arbeitete jetzt. Man spürte die Wärme der 112
Riesen, wenn man sie berührte. An klaren Tagen stieg die Luft wie Dampf vom offenen Dach auf. Anfangs versuchte Simon, Lavinias Hand zu halten, doch sie entzog sie ihm mit einem leichten Kopfschütteln und einem tadelnden Lächeln. Er glaubte, ihr Verhalten sei darauf zurückzuführen, daß sie hier jederzeit gesehen werden konnten, denn er wußte nichts von den grundlegenden Verhaltensregeln für eine junge römische Dame, auch wenn sie Christin war. Es gab genug zufällige Berührungen, um den Unterrichtsstunden stets voller Vorfreude entgegenzusehen. Und dann gab es auch die zusätzliche Befriedigung darüber, daß Brad aus dem Rennen war. Er schien sich mehr für den bevorstehenden Aufstand als für Lavinia zu interessieren, was Simon ausgesprochen schwer verständlich erschien. Insgesamt betrachtet, verging die Zeit sehr schnell. Es war eine weitere unangenehme Überraschung, als Brad eines Morgens beim Ausritt zu einer Übung sagte: »Noch zwei Tage, dann wird es ernst!« »So bald schon?« »Du hast wohl auf gar nichts geachtet, wie? Warst zu sehr mit lateinischer Grammatik beschäftigt. Marcus hat uns gesagt, daß der Aufstand beginnen soll, wenn die Spiele des Julian beginnen. Das ist neun Tage vor den Iden, also übermorgen.« Schweigend ritten sie weiter, während Simon über diese Neuigkeit nachdachte. Ein Windstoß trieb Laub über den Weg. Brads Pferd scheute, doch er beruhigte es sofort. Er hatte sich im Laufe von wenigen Wochen zu einem guten Reiter entwickelt. »Jetzt gibt es kein Latein mehr«, sagte Brad. »Und auch keine Lavinia. Jetzt geht es in den Krieg! Das Leben ist hart, mein Kind!« Lavinia schien ihm plötzlich auszuweichen. Simon hatte gewußt, daß er sie an diesem Tage nicht sehen würde, denn sie 113
besuchte eine Tante, doch er erwartete sie bei Anbruch der Dunkelheit zurück. Dann aber kam eine Nachricht, ihre Tante fühle sich unwohl, und Lavinia werde die Nacht bei ihr verbringen. Als Simon am folgenden Morgen von der Übung heimkam, war sie noch immer nicht wieder da, und der Nachmittag eines trüben und regnerischen Tages verging ohne ein Zeichen von ihr. Am Abend kam sie. Der Vater stellte ihr tausend Fragen über den Gesundheitszustand ihrer Tante, während Simon stumm dabei hockte. Endlich ging der alte Mann, und sogleich sagte Lavinia, sie müsse ebenfalls in ihr Zimmer gehen, um sich zum Essen umzukleiden. Er legte ihr die Hand auf den Arm, und sie sah ihn an. »Bitte«, sagte er. »Nur einen Augenblick!« Sie saßen im impluvium. Von den Wandnischen aus verbreiteten Lampen ihr warmes Licht. »Was ist, Simonus?« fragte sie. »Weißt du, daß wir morgen früh aufbrechen?« Sie nickte. »Ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehen werde.« »Vielleicht kommst du schon bald wieder …« »Falls ich wiederkomme …« Schritte näherten sich. Worte mußten warten. Er küßte sie. Diesmal fand er ihren Mund. Sie zog sich schnell zurück, doch sie lächelte. »Ich muß mich schnell umziehen.« Die Schritte waren nahe. »Achte auf dich, Simonus. Komm bald wieder!«
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9 Vor dem Morgengrauen ritten sie nach Londinium, blieben jedoch vor dem Stadttor. In den Hütten der kleinen Christengemeinde warteten sie und banden ihre Pferde in der Kapelle an. Brad sagte: »Ich glaube, der örtliche Priester hatte Einwendungen, doch Seine Heiligkeit hat sich darüber hinweggesetzt. Wenn das ganze Unternehmen der Ehre Gottes gilt, kann man auf kleinere Entweihungen einer Kapelle keine Rücksicht nehmen.« Sie frühstückten mit Brot, kaltem Fleisch und Wein. Simon fragte: »Schlagen wir gleichzeitig mit den Gladiatoren los?« Brad nickte. »Und wann genau wird das sein?« »Um die vierte Stunde sollen die Gladiatoren im Circus sein, also werden sie ihre Unterkunft in ungefähr zwei Stunden verlassen. Waffen werden auf dem Vorratskarren liegen. Sobald sie ganz in der Nähe des Forums sind, überwältigen die Männer die Wachen und töten sie. Dann eilen sie zum Palast des Gouverneurs, und in diesem Augenblick verbünden wir uns mit ihnen.« »Und das alles ist nach der Wasseruhr geplant, so daß es Abweichungen von gut einer Viertelstunde in beiden Richtungen geben kann. Hat dir Seine Heiligkeit eigentlich jemals deine Armbanduhr wiedergegeben?« »Wenn ich sie hätte, wäre das auch keine große Hilfe. Man braucht zwei übereinstimmende Uhren, wenn man Zeiten verabreden will.« »Glaubst du, daß du sie nach dem ruhmreichen Sieg zurückbekommst?« »Vielleicht läßt er sie auch in Gold fassen und legt sie auf irgendeinen Altar. Wenn wir schon Instrumente des göttlichen 115
Willens sind, dann gilt das wahrscheinlich auch für alles, war wir besitzen. Wenn es nach dem Bischof geht, fällt überhaupt alles unter diese Kategorie.« »Falls es überhaupt einen ruhmreichen Sieg gibt. Falls nicht, dann wird deine Uhr wohl deine geringste Sorge sein.« »Das nehme ich an.« Sie schwiegen. Die Luft war kühl. Simon legte Fleisch und Brot aus der Hand. »Ich glaube, ich kann das nicht essen.« »Du solltest aber.« Brad kaute einen Augenblick weiter, legte dann aber sein Frühstück auch nieder. »Du hast recht. Es bleibt im Hals stecken. Trinken wir einen Schluck Wein.« Simon bedankte sich und nahm die Flasche, die Brad ihm reichte. Nebeneinander trabten sie die Straße hinab, und als sie das Stadttor vor sich sahen, ließ Marcus angaloppieren. Brad und Simon waren das sechste Paar hinter Marcus. Als Linkshänder ritt Brad auf der linken Seite. Simon sah den römischen Wächter aus seiner Hütte treten. Das Schwert steckte ihm im Gürtel, und er hob eine Hand, als wollte er ein Gähnen unterdrücken. Dann blickte er verwundert der Reiterschar entgegen. Er rief etwas, doch da war Marcus schon mit erhobenem Schwertarm über ihm. Der Wächter sprang zurück, die Arme jetzt schützend vor das Gesicht erhoben. Das Schwert zuckte abwärts und traf die Schulter des Mannes. Blut spritzte hervor und befleckte Simons Bein, ehe sie in die Stadt galoppierten. Manche Leute traten vor ihre Häuser, als die Reiter vorbeipreschten, doch die meisten waren wohl zum Umzug und zu den Spielen in der Innenstadt. Aus dem fahlgrauen Himmel tröpfelte Regen, der sich dann verstärkte. Weit voraus war dumpfes Stimmengewirr zu hören. Die Reiter erreichten die breiteren, von den vornehmen Palästen der Reichen gesäumten 116
Straßen. Simon sah, daß ein schweres Tor zugeschlagen wurde. Häuser wurden zu Festungen, in denen man in einer plötzlich gefährlich gewordenen Welt um Schätze bangte. Der Hufschlag hallte von den Wänden wider. Der Tumult war jetzt näher und lauter. Es war nicht der übliche Lärm einer Menschenmenge, sondern es klang wilder: Angst, Wut und Triumph mischten sich darin. Aber wessen Triumph? Plötzlich erreichten sie die Szene der Kämpfe, wenn das laute Geschrei auch noch ein Stück weiter voraus entstand. Leiber lagen entsetzlich stumm, bewegungslos wie im friedlichen Schlaf die einen, in tödlichem Schmerz gekrümmt die anderen. Fast alle trugen römische Uniformen. Marcus Cornelius schrie: »Gott gehört der Sieg!« Und er führte seine Reiter auf das Geschrei zu. Die Menge, die vor den Stufen des Gouverneurspalastes schrie, teilte sich für sie. Simon sah Gladiatoren vor den mächtigen Säulen stehen; einer hielt die Finger in das Haar eines abgeschlagenen Kopfes gekrampft. Auch Bos stand da, auf sein Schwert gestützt, das Gesicht von einem wilden Lachen verzerrt. Jemand schrie, die Überreste der Wache hätten sich zum Julianstempel zurückgezogen, und Marcus Cornelius führte seine Truppe in diese Richtung. Er wollte sich unbedingt dafür schadlos halten, daß er zur ersten Schlacht zu spät gekommen war. Mutlosigkeit gehörte nicht zu seinen Fehlern. Die Reiter ließen die Menschenmenge hinter sich, die Christus und die Gladiatoren bejubelten. Der Regen fiel jetzt dichter und ließ das Pflaster glatt werden. Die Straßen des Tempels waren fast menschenleer, und auch die Bewohner, die sich noch sehen ließen, eilten davon. Schreiend zwang Marcus Cornelius sein Pferd die Treppe hinauf. Zwar waren die Stufen breit, und doch war dieses Vorgehen heller Wahnsinn. Es brauchte nur ein Pferd auf den nassen Steinen auszugleiten, dann riß es die anderen mit, und alles mußte 117
sich in ein lächerliches Chaos verwandeln. Doch es blieb keine andere Wahl als dem Anführer zu folgen. Und dann waren sie, so unglaublich es auch war, alle die Stufen hinaufgelangt und ritten durch die Säulenreihen in den Tempel ein. Hinter den Säulen herrschte nur schwaches Tageslicht, und weiter voraus war es dunkel, abgesehen von den schimmernden Lampen an den Wänden und dem Flackern einer Flamme vor einem Altar. Der Altar war von goldenem Schmuck überladen. Kostbare Steine funkelten im Flammenschein. Offenbar waren die Wächter nicht hier. Marcus Cornelius ließ anhalten. In dem gewölbten Raum hallte seine Stimme unheimlich wider. Eine Marmorstatue in doppelter Lebensgröße stand hinter dem Altar: Es war das Abbild eines ernst blickenden alten Mannes mit einem goldenen Kranz und einem Lorbeerzweig. Der Gott-Kaiser Julian. In der Luft hing schwerer, stechender Geruch. Simon empfand eine seltsame Ehrfurcht und vermutete, daß es ihm nicht allein so erging. Niemand sprach. Die Statue blickte auf die Eindringlinge herab, wie sie auf fünfzig Generationen von Anbetern herabgeblickt hatte. Schritte unterbrachen die Stille. Ein Mann trat aus dem Schatten im hinteren Teil des Tempels. Er war in weiße Gewänder gehüllt und hielt einen elfenbeinernen Stab in der Hand, um den sich eine goldene Schlange wand. Sein Gesicht wirkte noch älter als das des Standbildes, doch sein Schritt war fest. Er mußte zu Marcus Cornelius aufblicken, der im Sattel saß, doch dieser Blick verriet Autorität und forderte Gehorsam. In einer tiefen, klingenden Stimme sagte der Mann: »Es ist Blasphemie, den Tempel bewaffnet zu betreten. Tiere hereinzubringen, die nicht zum Gottesopfer dienen, ist eine noch schwerere Sünde. Besinnt euch, ehe Gott euch niederschlägt und euch Qualen sendet, von denen nur der Tod Erlösung bringen kann.« Die Drohung, die in einem so befehlenden Ton ausgespro118
chen wurde, war unheimlich. Marcus Cornelius antwortete nicht sofort. Der Priester hob seinen Stab. Die goldene Schlange wirkte lebendig und voller Gift. Dann rief Marcus aus: »Nur Christus ist Gott!« Und zugleich schlug er mit seinem Schwert zu, und der Priester fiel über den Altar. Das Echo des Rufes klang von allen Seiten zurück, während Blut über den Marmor floß. »Es war ein guter Kampf, Simonus«, sagte Bos, »wenn auch ein kurzer. Schade, daß du zu spät gekommen bist. Aber so Gott will, wird es ja noch mehr Kämpfe geben.« Der letzte Teil dieses Satzes kam Simon sehr merkwürdig vor, und die Aussicht auf weitere Kämpfe heiterte ihn nicht auf, was Bos oder Gott auch dazu meinen mochten. Er beschränkte sich auf ein schwaches Lächeln. Bos trank einen tiefen Schluck Wein und verlangte lauthals nach mehr. Eine Dienerin eilte herbei und nahm den leeren Becher. Sie war keine Sklavin mehr, denn der Bischof hatte alle Sklaven für befreit erklärt, doch sie verneigte sich demütig, als der große Mann ihr auf die Schulter klopfte. »Guter Wein! Chianti nennen sie ihn.« Bos reckte sich wohlig. »Im Palast des Gouverneurs Chianti zu trinken, daran kann doch nichts Schlechtes sein, nicht wahr, Simonus?« Dem konnte Simon schon leichter zustimmen. Sie waren im Wohnteil des Palastes, hinter den Verwaltungsräumen, und sie schauten hinaus auf die Gärten, in denen es eine Menagerie gab und einen Teich mit einer kleinen Insel darin. Der Teich erinnerte Simon an denjenigen, den er in St. James’s Park gesehen hatte, und er fragte sich, ob er sich jetzt wohl am selben Fleck befände – ob vielleicht gerade in diesem Augenblick berittene Soldaten die Wache vor dem Buckingham Palace wechselten. Aber nein, sie waren hier nicht weit vom Forum, und die Ruinen des Forums lagen in jener anderen Welt in der City. Also 119
gab es dort jetzt keine berittenen Wachen, sondern Börsenmakler mit steifen Hüten. Der Gedanke war fast noch unwirklicher. Das Mädchen kam mit dem Wein zurück und erntete eine weitere anerkennende Geste von Bos. Er bot auch Simon Wein an, der jedoch kopfschüttelnd ablehnte. Ein Glas war mehr als genug. Bos trank, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und die Hand an einem gestickten Seidenkissen ab. Draußen pickten ein paar junge Pfauen im winterlichen Gras. Bos wurde allmählich betrunken. Ganz glücklich erzählte er von dem Kampf und davon, daß die Wachen wie Schafe davongerannt seien. Er unterbrach sich, als Brad auftauchte. Vor ihm empfand er eine Art Scheu. Simon kannte er als Mitsklaven und Schüler, doch Brad gehörte für ihn zum Bischof und zur vornehmen Familie Cornelius. Brad sagte zu Simon: »Ich hätte mir denken können, daß du es dir hier gut sein läßt.« »Was spricht dagegen?« Brad setzte sich auf eine Couch. »Nütze es aus, so gut es geht! Es sind neue Meldungen eingetroffen. Die Dreiundzwanzigste ist auf dem Marsch!« Von den drei Legionen in Britannien war eine im fernen Norden stationiert, eine andere in Cheva, dem heutigen ehester. Die Dreiundzwanzigste stand in Venta Belgarum (Winchester). Sie war für den inneren Frieden der Provinz verantwortlich und hatte damit bisher eine leichte Aufgabe zu erfüllen gehabt. »Woher wissen sie Bescheid?« fragte Simon. Fast hätte er hinzugefügt: »Ohne Telefon«, als ihm klar wurde, daß er damit nicht nur Bos in Erstaunen versetzen würde, sondern daß er außerdem kein Wort dafür kannte. Telefon kam aus dem Griechischen, also wurde bestimmt nicht einfach telephonus daraus. Vielleicht Proculsonor? Es war unwichtig. »Durch eine Taube«, erklärte Simon. »Vom örtlichen Prie120
ster. Für den Bischof arbeitet ein dichtes Informationsnetz.« »Wird es ihm auch sagen, wie er gegen eine Legion kämpfen kann?« Er versuchte, eine mögliche Zeit auszurechnen. Von Winchester nach London – wie weit war das? Sechzig Meilen oder siebzig? Auf guten Straßen könne eine Legion wahrscheinlich fünfundzwanzig Meilen täglich zurücklegen. In drei Tagen also … »Rekruten strömen zusammen«, sagte Brad. »Keine Soldaten. Auch keine Gladiatoren.« »Aber tapfer. Und nicht nur Christen, jedenfalls keine ursprünglichen Christen. Bekehrte laufen ganz begeistert zu dem Gott über, der London gewonnen hat. Und wo es in der Stadt Holz gibt, werden Bogen ausgegeben.« »Hier war es leicht. Eine kleine Garnison, die durch ein bequemes Leben verweichlicht war. Aber eine Legion …« »Was ist schon eine Legion«, fragte Bos, »im Vergleich zur Macht Gottes? Die anderen waren Schafe, diese werden Lämmer für ein Schlachtopfer sein. Sie sollen nur kommen!« Er stellte sein Glas heftig auf den Marmortisch, und es zersplitterte bis auf einen schmalen silbernen Rand. Bos starrte auf den verschütteten Wein und auf das zerbrochene Glas, und er brach in ein brüllendes Gelächter aus. Die Straße dehnte sich pfeilgerade vor ihnen, ein langes schwarzes Band, das durch sattes Grün schnitt, südwärts auf Venta Belgarum zu, das nur wenige Meilen nördlich von London lag. Sie waren irgendwo in den inneren Stadtteilen Londons, seines Londons, wie Simon dachte. Sie standen auf einem Hügel, unter Bäumen gut gedeckt. Ein anderer Hügel lag gegenüber, und ein schmaler Bach längs der römischen Landstraße. Clapham? Brixton? Er wußte es nicht. In den Londoner Stadtteilen, die er kannte, gab es keine Bäche, doch das bedeutete nur, daß die Flüsse und Bäche unterirdisch flossen und zum 121
Bestandteil der Kanalisation in der Hauptstadt geworden waren. Die Straße war leer, abgesehen von einem gelegentlichen cisium oder einem Holzwagen, doch jetzt füllte sie sich. Aus dem Süden rückte es heran: anfangs ein einziger dunkler Schatten, dann eine Anzahl von Kolonnen, die sich in einer Richtung bewegten. Schritte gaben den Rhythmus für fernen Marschgesang. Mindestens eine halbe Meile war diese Kolonne lang. Simon betrachtete die eigene kleine Reiterschar. Eine neue kleine Truppe hatte sich an der anderen Seite des Gehölzes gesammelt. Dort standen die Bogenschützen und die Fußsoldaten zwischen den Hügeln verborgen. Insgesamt aber waren sie noch nicht einmal halb soviel wie die auf der Straße heranrückenden Truppen. Und das war eine römische Legion! Wenigstens war er beritten, und das sicherte ihm eine bessere Fluchtmöglichkeit. Ich muß zum Landhaus, dachte er, muß Lavinia finden und sie in Sicherheit bringen … Er erinnerte sich, was geschehen war, nachdem man die Revolte des Boadicea niedergeschlagen hatte. Römische Rache konnte grausam sein. Die Spitze der ersten Marschkolonne war jetzt genau unter ihnen angelangt. Simon konnte die Worte ihres Liedes verstehen, das er schon von den Gladiatoren gehört hatte. Jeder Vers handelte von einem anderen Mädchen. Er fragte sich, wann und wo überhaupt der Befehl zum Angriff gegeben werden sollte. Marcus Cornelius, der jetzt die gesamte christliche Armee befehligte, stand bei den Bogenschützen auf dem gegenüberliegenden Hügel. Das Lied endete, doch die Legion marschierte weiter. Das Schweigen wurde nur noch vom beständigen Geräusch der Füße und von einem gelegentlichen Kommandoruf unterbrochen. Näher und näher kamen sie, drohend, unaufhaltsam. Simon hörte den Befehl nicht. Er sah nur, daß der Himmel sich verdunkelte, daß sich das winterlich düstere Grau des Himmels plötzlich in Schwarz verdunkelte, weil eine Wolke 122
aus dem Hügel aufschoß, sich ausbreitete und niederfiel. Sie fiel auf die Marschsäulen und ließ deren festgefügte Ordnung im Augenblick zersplittern. Jetzt war da kein Block mehr, sondern eine Fülle einzelner Gestalten, waren Menschen, die vor Schmerz oder Schreck aufschrien, zu Boden fielen oder aus den Marschreihen flohen. Eine zweite Wolke fuhr hernieder, eine dritte folgte. Die Soldaten wußten nicht, was ihnen geschah, verstanden nicht, wie der Tod plötzlich aus dem Himmel auf sie herniederstürzen konnte. Ihre dichten Reihen boten selbst den ungeübten Bogenschützen ein sicheres Ziel. Mit lautem Kampfgeschrei brachen die Fußsoldaten aus ihrer Deckung hervor und griffen an. Galbus, ein flachshaariger Mann, der Marcus Cornelius als Befehlshaber der berittenen Truppe abgelöst hatte, gab den Befehl zum Aufsitzen. Er ließ eine Gruppe von Römern angreifen, die begonnen hatte, sich zur Verteidigung zu gruppieren. Die anderen schrien, und Simon merkte, daß auch er von der Begeisterung des Kampfes mitgerissen wurde. Die Reiter preschten in die Gruppe der Verteidiger hinein und durch sie hindurch. Ohne nachzudenken schlug Simon auf die behelmten Gestalten ein, hörte Männer schreien, spürte, daß sein Pferd über Menschenleiber strauchelte. Jenseits des Flusses versammelten sie sich, und Simon sah, daß von seinem Schwert Blut tropfte. Aber auch der Fluß war selbst blutrot und von Leichen wie von Felsbrocken übersät. Die Fußsoldaten machten nieder, was den Reiterangriff überstanden hatte. Die Nachrichten und die Revolution breiteten sich aus wie Feuer in trockenem Unterholz. In Deva versuchte der Befehlshaber der Legion, den Volksaufstand niederzuschlagen. Aber die Legion war dort schon sehr lange stationiert; die Männer kannten die Gesichter, die sich ihnen aus der Menschenmenge entgegenhoben, oft waren es die Gesichter von Verwandten. Und die Menge rief den Namen des Gottes, der den Sieg schenkte, der 123
größer war als der große Julian, weil er der Überwältiger war. Die Soldaten richteten ihre Schwerter gegen den Befehlshaber. Dann marschierten sie nordwärts, während die andere Legion südwärts vordrang. Drei Tage standen sie sich in Schlachtordnung gegenüber, doch Tag für Tag schlichen sich Männer aus der nördlichen Legion davon, um sich mit den Kameraden zu verbünden, die ihnen gegenüberstanden. Am vierten Tag trafen die Legionen nicht im Kampf aufeinander, sondern zu gemeinsamer freudiger Feier. Ganz Britannien beugte sich Christus und seinem Diener, dem Bischof.
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10 Der Bischof war nicht mit Britannien zufrieden. Er gab Anweisung, daß aus allen Häfen Schiffe gesammelt und in Portus Dubris zusammengezogen werden sollten, von wo aus der Seeweg hinüber zum Kontinent am kürzesten war. Sobald die Flotte versammelt war, sollte die noch immer anwachsende Armee dort an Bord gehen, um den Kanal zu überqueren. Es gelang Simon, das Landhaus noch zweimal zu besuchen, ehe der Marschbefehl kam. Beim erstenmal war Lavinia nicht daheim; beim zweiten Besuch war sie zwar anwesend, ihre Tante aber auch. Fabiana Cornelia erwies sich als eine große, matronenhafte Frau. Das stahlgraue Haar trug sie zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt, und die Seide ihres blauen Kleides ließ auch eher an Stahl denken. In ihrer Gegenwart wirkte Lavinia sehr gehemmt, und Simon war unter dem kalten, prüfenden Blick verlegen. Er war überrascht, als die Tante kurz vor seinem Abschied sagte: »Quintus Ericius, dein junger Barbare gefällt mir!« Ericius wurde Quintus vertraulich genannt, es war eine Art Spitzname, der soviel wie Igel bedeutete, und von dem niemand den Ursprung kannte. Quintus Cornelius legte Simon einen Arm um die Schultern. »Ja, er macht sich gut. Ich denke, wir sollten einen Römer aus ihm machen.« Simon hatte den Eindruck, daß Fabianas Stimme im Familienrat Gewicht hatte, und ihre unerwarteten anerkennenden Worte schufen einen gewissen Ausgleich dafür, daß es ihm nicht gelungen war, auch nur einen Augenblick mit Lavinia allein zu sein. Während er nach London zurückritt, überlegte er, daß jetzt ein günstiger Augenblick wäre, sich aus dem Staub zu machen, 125
wenn es nicht Lavinia gäbe. Morgen zog die Armee südwärts. Dieser Krieg war nicht sein Krieg, und die Vorstellung, daß er helfen sollte, ihn gegen die volle Macht der kaiserlichen Armee nach Europa zu tragen, behagte ihm ganz und gar nicht. In der Verwirrung, die dem Zusammenbruch der zentralen Regierung gefolgt war, inmitten der unaufhörlichen Veränderungen, die sich daraus gegenwärtig ergaben, konnte es nicht allzu schwierig sein, eine neue und sichere Identität aufzubauen. Aber es gab Lavinia, und wenn er desertierte, zerstörte er zugleich alle Hoffnungen, sie wiederzusehen. Die Straße verlief zwischen den Hügeln, auf denen sie der 23. Legion den Hinterhalt bereitet hatten. Der Fluß rieselte klar über die Steine, die grünen Hänge lagen ruhig und unbewegt im milden Westwind unter einem kaum bewölkten Himmel. Nur das Massengrab am Fuße des Hügels erinnerte daran, was sich hier vor wenigen Wochen zugetragen hatte. Ein Holzkreuz überragte das Grab. Der Bischof hatte für die Feinde ein christliches Begräbnis angeordnet, obgleich sie Heiden waren. Wichtig war nur, dachte Simon, dafür zu sorgen, daß er sicher wiederkam. Die wilde Leidenschaft, die er beim Ritt gegen die Männer der Legion empfunden hatte, kam ihm jetzt noch unwirklicher vor als die Schlacht selbst. Wirklich wichtig war nur das Überleben. Die leichte Brise hielt an, als die Schiffe aus dem Hafen von Dover in eine ruhige See stachen. Bischofswetter nannten es die Männer. Die allgemeine begeisterte Stimmung wirkte ansteckend, doch Simon vermied es, sich davon mitreißen zu lassen. Er sagte zu Brad: »Bisher hat er Glück gehabt, das ist alles.« »Und er hat sein Glück genutzt, und darauf kommt es an!« Die an Deck angepflockten Pferde wurden von den Stallburschen gefüttert und gepflegt. Simon dachte darüber nach, was für ein Chaos ein stürmisches Meer ausgelöst haben würde. Er 126
sagte: »Aber schließlich wird das Glück sich wenden. Es muß einfach!« Ihr Schiff war fast an der Spitze des Verbandes. Sie sahen das freie Wasser vor sich. Simon sagte: »Noch kein Zeichen von der kaiserlichen Flotte.« »Auch kein Zeichen von der Luftwaffe. Das hier ist nicht der Tag der großen Landung mit Radar und allen diesen Tricks. Die Kaiser hatten noch nicht einmal Zeit, Kundschafter in die Provinz zu schicken, und noch viel weniger sind Nachrichten zu ihnen zurück gedrungen. Wahrscheinlich hat Seine Heiligkeit deswegen so schnell gehandelt. Er hat den Instinkt eines Generals!« »Eigentlich soll Marcus Cornelius der Befehlshaber sein.« »Richtig. Und in wieder anderer Hinsicht stehen wir unter dem Befehl des Heiligen Geistes. Aber das wirkliche Denken und Planen ist Sache Seiner Heiligkeit. Und bisher ist das auch gut so.« »Glaubst du wirklich, daß er den Kaiser schlagen kann?« Simon merkte, daß seine eigene Einstellung sich so sehr gewandelt hatte, daß er diese Frage jetzt ganz ernsthaft stellen konnte. Brad hob die Schultern. »Man könnte natürlich mit gutem Grund dagegen wetten.« »Und dann?« »Dann?« »Was geschieht deiner Meinung nach, wenn er siegt?« »Meinst du, was mit uns geschieht?« Simon nickte. Einige Augenblicke schaute Brad auf das Meer hinaus, ohne zu antworten, und endlich sagte er: »Ich habe da eine bestimmte Vorstellung …« »Welche?« »Das hat noch Zeit.« Er sagte es so entschieden, daß Simon begriff, daß er weiter 127
dazu jetzt nichts sagen wollte. Übrigens war Simon an Brads Idee auch gar nicht so sehr interessiert. Er hatte seine eigenen Vorstellungen, und über die dachte er nach, während das Schiff weitersegelte. Die christliche Armee landete und drang südwärts vor. Nirgends war ein Feind zu sehen. Stattdessen gab es unaufhörlich neue Rekruten. Städte und Dörfer öffneten der Armee Tore und Speicher. Jeder triumphale Empfang für die Armee bewies, daß ihr die Nachricht von ihrem Vormarsch vorausgeeilt war. Das bedeutete zugleich, daß die kaiserlichen Kräfte in Gallien ebenfalls informiert sein mußten. Je mehr Tage vergingen, desto merkwürdiger fand Simon diesen Zustand. Die wahrscheinlichste Erklärung war, daß der gegnerische General den richtigen Zeitpunkt abpassen wollte, die Armee der Christen mitten nach Gallien vorstoßen zu lassen, wo er sie nicht nur leichter vernichten, sondern ihr auch den Rückzug abschneiden konnte. Als sich die gegnerische Armee endlich zum erstenmal blicken ließ, war sich Simon sicher, daß er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Er wußte nicht, wo sie waren, doch sie hatten einen weiten Weg zurückgelegt. Das ziemlich flache Land wurde hügeliger und stieg nach Südosten hin weiter an. Die kaiserliche Armee war auf den Bergen östlich der Straße postiert und hatte dichte Wälder im Rücken. Das Heer nahm eine riesige Fläche ein. Die vordere Front erstreckte sich über eine Viertelmeile, und die Soldaten standen mindestens ebenso tief gestaffelt. Um ein zentrales, von Zelten bestandenes Gebiet, von dem Lagerfeuerrauch aufstieg, waren die verschiedenen Kohorten aufgestellt. Ein größeres Zelt, in Purpur und Gold verziert, war vermutlich das Zelt des Befehlshabers. Alles sah organisiert und wirkungsvoll aus und stand in deutlichem Gegensatz zu der verblüffenden Unordnung der 128
christlichen Armee. Auch an Anzahl waren die Römer offenbar deutlich überlegen. An den aufgerichteten Adlern konnte man drei Legionen unterscheiden: Fast zwanzigtausend disziplinierte römische Soldaten. Es war schon gegen Ende des Nachmittags und zu spät, als daß es noch zu Kämpfen kommen konnte. Die Christen lagerten auf der anderen Seite der Straße, etwa dreiviertel Meilen vom Gegner entfernt. Die Lage schien Simon nicht besonders günstig zu sein: sumpfiger Boden an einem Südhang. Doch weder die äußeren Umstände noch die furchteinflößenden Reihen der Legionen schienen die Christen zu ängstigen. Während im Osten der Mond in den Himmel stieg, sangen sie unbesorgt ihre Hymnen. Der Mond war fast vollständig von einem weißen Hof umgeben. Eine Göttin Diana war der Mond in dieser Welt – nicht der abgestorbene Splitter eines Planeten, von Gerümpel der Raumfahrt übersät. Sie sangen noch immer, als die Reiterei aufbrach; man hatte einen einheimischen Führer gefunden, der sich erbot, sie in den Rücken der Legionen zu führen. Simons Ärger, schon wieder losziehen zu müssen, obwohl er sich gerade gefreut hatte, endlich ein wenig schlafen zu können, wurde durch die Zufriedenheit ausgeglichen, aus einem Gebiet herauszukommen, das wahrscheinlich genau in der Stoßrichtung des Angriffs der Legionen lag. Er schaute sich um, als sie ihre Pferde, deren Hufe man mit Tüchern umhüllt hatte, um die Geräusche zu mindern, an der Flanke des Hügels vorbeiführten. Mondlicht glänzte auf ziemlich großen Wasserflächen. Morgen würde man in Schlamm und Blut waten. Sie zogen so weit, daß er sich zu fragen begann, ob ihr Führer sich vielleicht verirrt habe oder sie absichtlich in die Irre führte. Aber abgesehen davon, daß er hundemüde war, kümmerte ihn das alles nicht sehr. Wohin sie jetzt auch zogen – auf jeden Fall war es fort vom Schlachtfeld. 129
Als endlich Halt geboten wurde, standen sie mitten zwischen Bäumen, doch das war alles, was er wußte. Er pflockte sein Pferd an, hüllte sich in seinen Mantel und richtete sich auf dem Boden zur Ruhe ein. Er spürte Moos unter sich und versuchte, sich einzureden, der Boden würde dadurch weicher, doch das gelang ihm nicht recht. Aber Müdigkeit ersetzt das weichste Federbett; er schlief fast augenblicklich ein. Im Morgenlicht konnten sie erkennen, daß sie hinter den Legionen und südlich von ihnen auf erhöhtem Gelände und durch die Bäume verborgen standen. Sie hörten die Geräusche der Armee, konnten sie jedoch nicht sehen. Hingegen hatten sie einen klaren Blick auf den tiefergelegenen Hang, auf die Straße und auf die christliche Armee. Sie fütterten die Pferde mit Heu, aßen selbst Gebäck und getrocknetes Rindfleisch. Dann warteten sie. Es war ein langes Warten. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie die Trompeten ihre gellende Herausforderung schmettern hörten und das rhythmische Stampfen der Füße begann. Es klang wie der gleichmäßige Rhythmus eines Dampfhammers, und die Erde schien unter den Tritten der vielen Füße zu zittern. Die Legionen, Eroberer der Welt, waren in Bewegung geraten. Hügelab wurden sie sichtbar: eine lange Reihe von Kohorten, immer noch eine und noch eine. Der Himmel war strahlend blau. Bischofswetter? Aber Sol Invictus war ein römischer Gott, und seine Strahlen glänzten jetzt auf blanken Schilden und erhobenen Schwertern. Die vorderen Reihen erreichten die Straße, marschierten die Straßenböschung hinauf, auf der anderen Seite wieder hinunter, ohne den Schritt auch nur für Augenblicke zu verlangsamen. Das alles sah eher nach einer bewegten Maschine als nach einer Gruppe marschierender Männer aus. Es gab kein Geräusch außer dem Marschtritt. Auch die Chri130
sten, die zuvor noch gesungen hatten, waren nun verstummt. Simon fragte sich, was sie angesichts der näherrückenden Reihen von Schilden empfinden mochten. Wieder war er froh, nicht dort unten zu sein. Der Abstand zwischen den beiden Heeren verringerte sich unablässig. Bald mußte ein zweiter Trompetenruf den Angriff verkünden. Doch ehe es noch soweit war, entstand eine unerwartete Bewegung auf der Seite der Christen. Der abnehmende Zwischenraum vergrößerte sich wieder. Die Armee des Bischofs zog sich zurück. Die Trompeten schmetterten, der Rhythmus des Marschtritts beschleunigte sich zu schnellerem Lauf. Die Armee griff im Laufschritt an. Wasser spritzte auf und funkelte im Sonnenlicht, als die Soldaten das sumpfige Gebiet erreichten. Es war ein eindrucksvoller Anblick. Doch als das Wasser aufsprühte, senkte sich zugleich die dunkle Wolke über die vorrückende Armee. Unmengen von Pfeilen schossen die Bogenschützen von der Hügelhöhe hinab. Die vorderen Linien schwankten und brachen auseinander, doch die hinteren Ränge drängten blind vorwärts. Die Kohorten prallten ineinander und behinderten gegenseitig ihre Bewegungen. Männer strauchelten und stürzten, versuchten, über die Körper hinwegzusteigen, die sich zu ihren Füßen auftürmten – und noch immer schwirrten die Pfeile, und sie blieben erst aus, als die christliche Armee sich schreiend und gnadenlos auf die verwirrten und demoralisierten Kohorten stürzte. Die Rückhut, die noch nicht die Straße erreicht hatte, versuchte, sich zur Verteidigung zu organisieren. In diesem Augenblick gab Galbus seinen Befehl, und die Reiterei preschte über den Hang voran. Ungläubig starrten die Römer den Pferden entgegen, die ihnen über den sonnebeglänzten Hang entgegengaloppierten, dann ergriffen sie die Flucht, ehe die ersten Pferde noch heran waren.
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Die Christen erreichten das Meer bei Massilia. Simon überlegte, daß es sich dabei um Marseille handeln mußte. Das Wetter brachte jetzt Stürme und heftige Regengüsse, bisweilen von Hagel oder Schnee durchsetzt, und die Armee bezog im Hafen Quartier. Zeit wurde nicht verschwendet. Neue Rekruten mußten ausgebildet werden, Gruppen wurden ausgesandt, um Verpflegung nicht nur für die Männer, sondern auch für die Pferde zu beschaffen, und man mußte Holz besorgen, aus dem sich neue Langbogen herstellen ließen. Wenn sich Eiben nicht finden ließen, verwendete man jetzt auch Eschenholz. Die Schreiner der Stadt hatten in ihren Werkstätten reichlich Arbeit, andere Handwerker fertigten Sättel und Steigbügel. Die Truppe von vierzig Reitern, die zuerst die Römer überrascht hatten, war im Verlauf des Feldzuges auf sechs Gruppen angewachsen. Galbus hatte jetzt einen Kavallerieflügel zu kommandieren, Brad und Simon hatten einen neuen Kommandeur. Er hieß Curtius, war ein dunkler, stämmiger und von Natur aus schweigsamer Mann. Simon war anfangs der Meinung gewesen, sie hätten gegenüber dem fröhlichen und herzlichen Galbus einen schlechten Tausch gemacht, doch Brad sah es anders, und allmählich kam Simon dazu, seine Meinung zu teilen. Curtius war ein sehr scharfsinniger Mann mit einem spöttischen Humor. An regnerischen Nachmittagen, wenn die Übungsstunden vorüber waren, traf er sich oft mit Brad und Simon in einer kleinen Weinschenke am Meer. Bos kam hinzu, der jetzt die Gruppe der Gladiatoren kommandierte, die an der Spitze der Fußsoldaten kämpfte. Brad war zwar jünger und hatte keinen militärischen Rang, doch er schien stets den größten Teil des Gesprächs zu bestreiten. Simon hatte das Gefühl, daß die beiden Männer sich ein wenig auf seinen schnellen Verstand verließen. Das ärgerte ihn bisweilen ein wenig, doch er sagte sich, daß es im Grunde unwichtig sei. Bald würde der Krieg vorüber sein, und dann gab es anderes zu tun, als in 132
schummrigen Weinstuben zu hocken. Über den Ausgang hegte Simon jetzt keinen Zweifel mehr. Der Triumph des Bischofs schien gesichert zu sein. Als die Herbststürme ruhigem und sonnigen Winterwetter wichen, brach die Armee erfrischt und gestärkt wieder auf. Sie wählten den bequemen Weg die Küste entlang zu einer Stadt, deren Namen Genua sich nicht verändert hatte, dann südlich nach Italien hinein. Menschen drängten sich, um der christlichen Armee zuzujubeln. Ganze Sträuße leuchtend gelber Mimosen wurden vor die Hufe der Pferde geworfen. Auch der Bischof ritt, doch benutzte er dazu kein Pferd, sondern einen Esel. Das Vorankommen wurde oft von Menschenmengen aufgehalten, die den Bischof um seinen Segen baten. Selbstverständlich gab es mancherorts auch Widerstand; der Kaiser würde Rom sicherlich nicht kampflos übergeben. Die letzte Schlacht entbrannte an einer Stelle, an der sich die Straße zwischen Hügeln hindurch landeinwärts schlängelte. Dort lagen die Römer in einem Hinterhalt. Wieder hatten Brad und Simon einen Zuschauerplatz. Die berittenen Streitkräfte hatten die Spitze des Zuges gebildet, und die Römer hatten sie vorüberreiten lassen, ehe sie ihren Angriff begannen. Sie hörten die Trompeten aufschreien, und als sie zurückblickten, sahen sie dichte Scharen von den Hügeln herab auf die Hauptmacht der christlichen Armee eindringen. Es war ein klassisch geplanter Angriff, und unter den Kriegsbedingungen, die nun schon seit über zweitausend Jahren galten, hätte die Disziplin der kaiserlichen Armee den Sieg garantiert. Doch die Flanken der christlichen Armee waren von Bogenschützen gesichert, die ihre Pfeile zischend gegen die Reihen der Angreifer sirren ließen, ehe die noch nahe genug heran waren, um ihre Speere werfen zu können. Simon bewunderte die Geschwindigkeit, mit der die Bogenschützen schossen, den Bogen wieder spannten und abermals schossen. 133
Daraus entstand ein unablässiger Hagel von todbringenden Pfeilen, ehe sich die Angreifer noch recht geordnet hatten. Die Reitergruppen teilten sich und griffen die kaiserliche Armee von beiden Seiten her an. Die Reiter der Römer benutzten die Pferde nur zum Transport; zum Kampf saßen sie ab und kämpften zu Fuß. Der Anblick von Männern, die beritten und mit erhobenen Schwertern auf sie zukamen, erschien ihnen unglaublich zu sein, doch diese neue Kampfart ließ sich nicht wegleugnen, und nach diesem in den Pfeilspitzen aus der Ferne heranschwirrenden Tod war der zusätzliche Schlag durch die Reiterei zuviel. Diese Schlacht währte nur wenig länger als die anderen, obgleich es den Römern gelang, mit der Hauptmacht der Christen ins Handgemenge zu kommen. Eine Kohorte brach sogar bis dorthin, wo das Banner mit dem schwarzen Kreuz zu Häupten des Bischofs wehte. Simon konnte gerade noch einen Blick auf den Bischof werfen, als der sich auf seinem Esel hoch aufrichtete, um einen Angreifer mit dem Kreuz niederzuschlagen, doch dann drängten sich wichtigere Gedanken in seinen Kopf. Was würde geschehen, fragte er sich, wenn trotz seines Sieges der Bischof selbst ums Leben käme, wie es dem Kaiser Julian in seiner Welt widerfahren war? Diese Gedanken waren bedeutungslos. Bald war alles vorbei, und die schwarzgekleidete Gestalt saß noch immer auf ihrem Esel, unverletzt im blutigen Getümmel, und dankte Gott für seine Gnade. Der kaiserliche Palast, ein marmornes Wunder aus Säulen und Portalen, Terrassen, Kuppeln und Gewölben erhob sich auf dem Kapitolshügel. Man hatte von dort einen Ausblick über das Forum und die ganze Stadt Rom. Das Schicksal des Kaisers war zweifelhaft. Manche behaupteten, er sei nach Süden geflohen und mit einem Schiff nach Afrika entkommen; andere wollten wissen, er sei von seinen persönlichen Sklaven getötet worden, und man habe seinen Leichnam in den Tiber geworfen. Jeden134
falls lagen Brad und Simon gemeinsam mit Bos und Curtius jetzt auf seiner Terrasse, ausgestreckt auf seidenen, goldbestickten und mit Schwanendaunen ausgestopften Kissen, und tranken den kaiserlichen Wein. Das Bischofswetter hielt sich noch immer. Unter dem blauen Himmelsgewölbe glänzten die großen Bauwerke der Ewigen Stadt in ihren unterschiedlichen Marmortönen – weiß und rosa, rot, braun und blaßgrün. An den Parkbäumen rührte sich kein Blatt, Fontänen tanzten im Sonnenlicht. Forum und Straßen waren voller Menschen, doch hier herauf drang kein Lärm, hier war nichts von den widerstreitenden Gefühlen zu spüren, die dort unten herrschen mochten. Alles war Frieden. Bald wollte man nach Britannien zurückziehen; der Bischof hatte deutlich gesagt, daß er nach der Eroberung Roms nicht die Absicht habe, hier zu bleiben. Simon hörte Brad wohlig faul zu, der von einem Plan erzählte, der ihn beschäftigte. Noch war alles unklar. Deutlich wurde nur, daß es sich um eine Art Expedition handelte. Bos und Curtius schienen daran interessiert zu sein. Sollen sie doch, dachte Simon träge. Zuerst sah er nur eine dünne Rauchsäule vom Julianstempel aufsteigen, und er dachte, wie närrisch es doch sei, daß dort offenbar noch irgendein Priester versuchte, das Heilige Feuer zu wahren. Doch die Rauchsäule wurde dicker und dunkler, und als Simon die anderen darauf aufmerksam machte, züngelten schon rote Flammen empor. Bos sagte: »Dort drüben auch!« An mehreren Stellen brannte es. Einer nach dem anderen verwandelten die Tempel sich in brennende Fackeln. Die vier sahen zu, weil es nichts anderes zu tun gab, und die Szene war von grausiger Schönheit. Von den Tempeln gingen die Feuerleger zu Palästen und öffentlichen Gebäuden über. Als die Dämmerung hereinbrach, leuchteten die Feuer noch heller auf, die das Herz des alten Roms zu Asche verbrannten. 135
11 Auf ihr Gespräch mit dem Bischof brauchten sie nur drei Tage zu warten. Das war, wie sein Sekretär erklärte, eine ungewöhnliche Bevorzugung; üblicherweise stand man sechs Wochen auf der Warteliste. Simon sah darin ein ermutigendes Zeichen und fand es auch vielversprechend, daß sie im selben kleinen Raum empfangen wurden wie beim ersten Gespräch. Nichts in Umgebung und Erscheinung des Bischofs hatte sich verändert. Er trug noch dasselbe kleine Brustkreuz, das irgendwann einmal nicht sehr gut repariert worden war, noch dieselbe abgetragene Robe und die ausgetretenen Sandalen. Auch sein durchdringender Blick war unverändert geblieben. Simon war froh, daß sie sich darauf geeinigt hatten, daß Brad für beide sprechen sollte. Der Bischof sagte: »Ihr wollt eine Gefälligkeit erbitten.« Es war halb eine Erklärung, halb eine Frage, und es klang ermutigend. Brad sagte: »Nicht für uns selbst, Eure Heiligkeit!« Der Bischof betrachtete ihn schweigend. »Für einen Freund.« »Sprich!« »Er heißt Curtius Domitius. In Eurer Armee hat er eine Reitergruppe befehligt – die Truppe, zu der auch Simonus und ich gehörten. Er hat Euch gut gedient, Eure Heiligkeit. Bis nach Rom hin hat er in jeder Schlacht gekämpft.« »Christus belohnt seine treuen Diener. Ich bin selbst ein armer Diener und habe keinen Lohn zu bieten.« »Das ist es ja gerade«, sagte Brad. »Curtius ist kein Christ. Ihr wißt ja, daß viele, die an unserer Seite kämpften, es nicht waren. Sie sind zu uns gestoßen, weil sie gegen die Sklaverei und gegen das Reich selbst waren.« Der Bischof nickte. »Er hat geholfen, die Kirche zu befreien. Und die befreite Kirche ihrerseits befreit nun und heißt freudig 136
willkommen. Da er von falschen Göttern befreit wurde, kann er nun dem wahren Gott folgen durch Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn.« »Ja«, antwortete Brad, »ich verstehe das. Doch er will nicht.« Darauf folgte ein Schweigen. Anscheinend wollte der Bischof es nicht beenden. Endlich tat es Brad. »Man hat ihm gesagt, daß er sich als Offizier der Armee dem Pendel unterwerfen muß. Er hat sich erboten, den Dienst zu verlassen, doch man sagte ihm, das sei nicht erlaubt.« Der Bischof erwiderte kühl: »Das sind Dinge, die andere zu entscheiden haben, nicht ich.« »Aber Ihr könntet helfen«, sagte Brad. »Ein Wort von Euch an Marcus Cornelius wäre genug.« Wieder entstand eine lange Pause, ehe der Bischof kalt entgegnete: »Was für ein Wort? Soll ich einem Feind unseres Herrn Gnade erweisen?« »Aber das ist er nicht! Er will nur nicht getauft werden!« »Christus hat gesagt: ›Wer nicht für mich ist, der ist wider mich.‹« Simon konnte nicht mehr schweigen. »Christus hat vieles gesagt, nicht wahr? Und fast immer hat er vom Frieden gesprochen und von der Liebe zum Mitmenschen. Glaubt Ihr wirklich, er wäre mit dem Pendel einverstanden gewesen?« Unmittelbar nach der Rückkehr aus Rom war das Pendel im hohen Staatssaal des Gouverneurspalastes angebracht worden. Dort schwang es seinen mörderischen Bogen von Wand zu Wand. Mörderisch, denn es endete in einem schweren Bleizylinder, an dem zu beiden Seiten schwere Eisenklingen angebracht waren. Ein Altar, von einer Christusfigur überragt, war vor der Stelle errichtet worden, wo das Pendel an seinem tiefsten Punkt knapp einen Meter über dem Boden schwang. Und an diesem Punkt stand ein kleiner hölzerner Verschlag, groß genug für einen Menschen, auch wenn er nur genug Raum 137
ließ, daß man vor dem Altar auf die Knie fallen konnte, ehe das tötende Pendel sich senkte. Einige der Geschickteren konnten ihren Körper gerade weit genug beugen, daß das Pendel sie verfehlte – wenigstens bei den ersten Schwingungen. Das Ausweichen wurde immer schwieriger, je länger das Pendel schwang, und endlich ließ die Ermüdung es unmöglich werden. Einmal waren Brad und Simon dort gewesen. Zuschauer hatten gehöhnt und gelacht und Wetten abgeschlossen, welcher Pendelschwung der tödliche sein würde. Angewidert und der Übelkeit nahe waren Brad und Simon hinausgelaufen. Gerüchte wollten wissen, der Bischof selbst habe das Pendel entworfen, nachdem ein Traum oder eine Vision ihm den Gedanken eingegeben habe. Sie hatten gehofft, daß dies nicht wahr sei; es gab in diesen Tagen viele hemmungslose Fanatiker. Immerhin hatten sie beschlossen, den Hinweis auf das Pendel sehr kurz zu fassen, um den Bischof nicht zu provozieren. Während der Blick des Bischofs sich in den seinen zu bohren schien, kam Simon der Gedanke, daß das Gerücht wohl nicht Unrecht haben mochte! Endlich sprach der Bischof: »Du bist aufsässig, Simonus! Der Teufel, das weiß man wohl, kann die Heilige Schrift zitieren. Du tätest gut daran, dich zu erinnern, daß du nicht mehr in deiner alten Welt der Gesetzlosigkeit und der Hemmungslosigkeit lebst, in jener Welt, in der jeder Narr oder jeder Knabe sich die Freiheit nimmt, das Heilige Wort zu verdrehen. Du lebst jetzt in einer Welt, die den Sieg der göttlichen Wahrheit erlebt hat, in einer Welt, in der die Kirche, der Leib Christi, geeint, unteilbar und unbesiegbar ist. Hört beide auf eure Priester und betet zu Gott, daß er euch von Zweifeln und Versuchungen befreien möge.« Er hob die Hand zu einer verabschiedenden Geste. »Ihr könnt jetzt gehen. Der Herr sei mit euch.« Draußen sagte Simon: »Das war nicht allzu gut.« »Nein.« 138
»Wieviel Zeit bleibt Curtius noch?« »Bis zum Pendel? Eher Tage als Wochen. Die Warteliste wird immer kürzer. Der Andrang nach der Taufe ist groß.« »Glaubst du, daß er sich taufen läßt?« »Glaubst du es?« Man brauchte die Frage nur zu stellen, um die Antwort zu wissen. Die Kirche hätte Curtius vielleicht allmählich überreden können, sich ihr anzuschließen, aber zwingen ließ er sich dazu bestimmt nicht, vor allem dann nicht, wenn er dazu den sonst so steifen Nacken beugen mußte. »Wir könnten es noch einmal versuchen.« Brad sah Simon fragend an. »Vielleicht sollten wir zu Marcus Cornelius gehen.« »Damit könnten wir nur Zeit verschwenden.« Das war richtig. Man konnte sich nicht einmal vorstellen, daß Marcus Cornelius etwas tun könnte, womit der Bischof nicht einverstanden wäre. Aber die schnelle Ablehnung des Vorschlages war bedrückend. »Gibt es eine bessere Idee?« fragte Simon. »Vielleicht.« »Erzähle!« »Nicht jetzt gleich. Wir brauchen erst Curtius. Und Bos.« Sie saßen in der Taverne, die jetzt Bos gehörte, nachdem er sie mit einem Teil des Goldes gekauft hatte, das ihm in Rom zugefallen war. Er hatte auch Frascatiwein mitgebracht, der von einem guten Weinberg stammte, und von dem er nun etwas in einen Krug mit einem delphinförmigen Griff füllte, der früher dem Kaiser gedient hatte. Brad berichtete vom Fehlschlagen ihres Besuchs, und Bos brummte mißbilligend. Curtius blieb stumm, doch er sah störrisch aus. Simon hatte überlegt, ob er versuchen sollte, den Mann zu überreden, er solle die Zeremonie der Taufe über sich ergehen zu lassen – sie bedeutete schließlich nichts, wenn man es nicht wollte, und schließlich 139
habe man nur einen einzigen Hals. Aber er wußte, daß der Versuch sinnlos gewesen wäre. Brad erläuterte eine andere Möglichkeit: Curtius könne aus Londinium fliehen. Man konnte es so einrichten, daß er ein paar Tage Vorsprung hatte, ehe man seine Flucht entdeckte. Immerhin war die Gefahr groß, daß er eingefangen würde – und wenn nicht, dann mußte er den Rest seines Lebens als Flüchtling verbringen. Die Christen hatten jetzt überall die Gewalt übernommen, und es sah ganz so aus, als würde die Verfolgung der Heiden sich eher noch verschlimmern. Sie hörten mit düsteren Gesichtern zu. Bos ließ die Knöchel seiner mächtigen Hände knacken. Brad sagte: »Offensichtlich ist das immer noch besser, als unter dem Pendel zu sterben. Aber wir können noch etwas anderes tun. Zunächst muß ich etwas über Simonus und mich erzählen und davon, woher wir kommen.« Simon hob den Kopf. Brad wollte Bos doch nicht etwa etwas von Parallelwelten erzählen? Brad begegnete seinem Blick ungerührt. Er sagte: »Ihr wißt, daß wir von jenseits des Meeres kommen. Ihr habt geglaubt, wir kämen von einer der barbarischen Inseln, aus den Ländern der Kelten oder der Normannen. Aber das ist nicht so. Wir kommen aus einem großen Land, größer als Britannien, Gallien, Spanien, Italien und Afrika zusammengenommen. Es liegt weit entfernt im westlichen Ozean.« Curtius starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Bos sagte: »Im westlichen Ozean gibt es kein Land hinter dem der Kelten. Dort gibt es nur noch den Rand der Welt.« »Wir kommen aus dem Land, das am Rande der Welt liegt, nicht wahr, Simonus?« Simon wußte jetzt, wie es weitergehen würde. Er nickte. »Wie seid ihr hergekommen?« fragte Curtius. »Und warum sind nicht schon andere vor euch gekommen?« 140
Das waren zwei gute Fragen, doch Brad wurde leicht damit fertig. »Der Ozean ist sehr groß. Er reicht weiter als von hier bis Ägypten, und nirgends ist ein schützender Hafen. Wir reisten von einer Küste unseres Landes zur anderen, aber unser Schiff wurde im Sturm vom Kurs abgetrieben. Wir verloren beide Segel und das Ruder und trieben wochenlang, ehe das Schiff sank. Simon und ich konnten uns auf ein Floß retten, das uns zum Glück an die britische Küste brachte, als Hunger und Durst uns schon fast umgebracht hatten.« Es klang sehr überzeugend. Bos nickte, und Curtius sah zuversichtlicher aus als bisher seit der Rückkehr nach Londinium. Brad fuhr fort: »Mit dem Gold, das wir in Rom bekommen haben, können wir ein Schiff kaufen und westwärts segeln. In unserem Lande herrscht Frieden, und die Menschen sind frei. Keine Kaiser und keine Bischöfe. Keine Sklaverei und keine Pendel. Was sagt ihr dazu?« »Ich bin kein Seemann«, antwortete Bos und grinste breit. »Aber ich kann es ja lernen.« Curtius sagte nachdenklich: »Mein Vater war Schiffskapitän. Wenn wir ein Schiff finden könnten …« »Ich habe schon eines gefunden«, sagte Brad. »Es liegt hier in Londinium und ist zwar schon zwanzig Jahre alt, aber ich habe es auf seine Seetüchtigkeit prüfen lassen. Es ist mehrmals nach Afrika gesegelt, also an tiefes Wasser gewöhnt.« »Dann hattest du das schon im Kopf, ehe ihr zum Bischof gegangen seid?« fragte Curtius. Brad nickte. »Es wäre gut gewesen, mehr Zeit zu haben, aber wie die Dinge nun einmal liegen, sollten wir wohl gleich ans Werk gehen. Wir müssen Vorräte anlegen, aber ich finde, wir sollten das nicht hier tun. In Dubris wäre es sicherer.« Bos stand auf. »Ich bin bereit. Macara wird es an nichts fehlen. Sie hat ja die Taverne und wird innerhalb einer Woche einen anderen Mann finden.« Er klopfte Simon mit einer Hand 141
auf den Arm. »Und dann wirst du mir vielleicht schon die Wunder eures Landes zeigen können. Ich nehme doch an, daß es dort auch Frauen gibt?« In einer Woche würden sie höchstens Land’s End hinter sich haben, aber das war Brads Sache. Simon sagte: »Die Wunder wird Bradus dir zeigen, Bos. Ich bleibe hier.« Er sagte es ungern, doch es mußte sogleich gesagt werden. Curtius sah ihn, wieder mißtrauisch geworden, prüfend an. »Wenn das Land so gut ist, wie Bradus behauptet, warum willst du dann nicht dorthin zurück?« Brad mischte sich ein, bevor Simon antworten konnte. Er sagte grinsend: »Was kann ihn denn wohl veranlassen, nicht in sein Land zurückzukehren? Da gibt es doch nur eines. Er hat ein Mädchen gefunden, bei dem er bleiben möchte. Stimmt’s, Simonus?« Simon nickte. Bos sagte verwundert: »Ich habe auch ein Mädchen. Und was weiter? Mädchen gibt es doch überall.« »Aber du bist älter und weiser, Bos! Er wird es auch noch lernen. Und wenn er es gelernt hat, dann wird er vielleicht ein anderes Schiff auftreiben und nachkommen.« Für einen Augenblick stand alles auf Messers Schneide, dann entspannte sich Curtius wieder und lächelte. Bos drückte Simons Arm. »Komm bald, Simonus. Werde erwachsen und komm bald!« Das übliche Gefühl der Freude und Erwartung fehlte, als Simon zum Landhaus ritt. Der Gedanke an Lavinia wurde von Erinnerungen an die anderen aus seinem Kopf verdrängt, vor allem an die letzte Begegnung am Kai. Das Schiff hieß Stella Africanus, und das war ein ziemlich eindrucksvoller Name für ein wenig eindrucksvolles Fahrzeug. 142
Es war kaum fünfzehn Meter lang, eher ein Beiboot zu dem dreimal größeren Schiff, neben dem es vertäut war. Aber es konnte von nur drei Leuten gesegelt werden, wie Brad erläuterte. Bug und Heck waren hoch im Vergleich zum niederen Mittschiff teil, an dem der Hauptmast befestigt war, der ein Hauptsegel und kleinere Topsegel trug. Das geschnitzte Heck war wie ein Schwan mit einem Stern auf der Brust gearbeitet. Er hatte den Abschied so kurz wie möglich gemacht, hatte darauf gebrannt, endlich davon zu können, hatte sich dann ganz elend gefühlt, als er Bos in das unglückliche und verwunderte Gesicht geschaut hatte. Er hatte ihnen Glück gewünscht und gemerkt, daß die Worte ganz kalt und steif herauskamen! Brad hatte sein Bestes getan, um es allen leichter zu machen, hatte auch ihm Glück gewünscht und einen Scherz angefügt, der sogar Bos zum Lächeln brachte. Simon war dann schnell zu seinem Pferd gegangen und davongeritten, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er stellte sich das winzige Schiff auf dem stürmischen Atlantik vor, während riesige Wellen auf den schmächtigen Mast einschlugen. Curtius war der einzige Mann an Bord, der seemännische Erfahrungen hatte, die er zuletzt als Junge angewandt hatte. Brad war zu seinem Vergnügen ein wenig vor der Küste von Maine gesegelt, und Bos hatte Hände, die sich leicht zu jeder Arbeit fügten, doch alles zusammen standen die Chancen mehr als schlecht. Sie mußten jetzt auf dem Meer sein und vor der Küste südwärts auf Dover zusegeln. Simon fühlte den Wind im Gesicht, der frisch vom Westen kam. Sie würden ihre Mühe haben. Der Anblick Lavinias half ihm. Mit ausgestreckten Händen kam sie ihm vor der Haustür entgegen, und sie trug ein Kleid, das Simon noch nie gesehen hatte, die schimmernd graue Seide paßte gut zum dunkleren Grau ihrer Augen. Als er ihre Hand nahm, bemerkte er, daß ihr Großvater hinzutrat. 143
Quintus Cornelius begrüßte ihn herzlich. Es war ihr erstes Zusammentreffen seit der Rückkehr aus Rom, und es war offensichtlich, daß Simon jetzt als siegreicher christlicher Krieger in einem ganz neuen Ruf stand. Erfrischungen wurden gereicht, und man plagte Simon mit zahllosen Fragen nach seinen Taten. Er antwortete mit gebührender Bescheidenheit, und alles ging gut, bis Quintus Cornelius Brad erwähnte und fragte, warum der nicht mitgekommen sei. Er hätte die Frage erwarten müssen, doch sie überraschte ihn. Er stotterte eine Antwort: »Bradus ist beschäftigt, irgend etwas für Seine Heiligkeit … vielleicht in einer Woche …« Quintus Cornelius kam ihm zu Hilfe. »Wenigstens bist du gekommen, Simonus. Und du siehst gut aus nach all deinen Abenteuern. Du scheinst größer geworden zu sein. Findest du nicht auch, daß er gut aussieht, Lavinia?« Sie lächelte. »Ja, sehr gut!« Er hatte gehofft, daß Quintus Cornelius sich zurückziehen und sie allein lassen würde, doch das Gegenteil geschah; Lavinia war es, die sich entschuldigte. Es fand an diesem Abend ein wichtiges Abendessen statt, und sie hatte sich darum zu kümmern. Quintus Cornelius blieb gesprächig. Er fragte, wie die Dinge in der Stadt stünden – er war schon einige Zeit nicht mehr dort gewesen – und Simon wagte es, die Verfolgung zu erwähnen. Quintus Cornelius runzelte die Stirn. »Solche Dinge sind nicht römische Art. Aber im Gefolge großer Ereignisse geschieht oft Böses. Aber es wird nicht anhalten, Simonus. Seine Heiligkeit wird dafür sorgen, daß alles wieder in Ordnung kommt.« Es wäre sinnlos gewesen, ihm zu sagen, daß Seine Heiligkeit der wichtigste Verfolger war. Simon schwieg, während der alte Mann fortfuhr: »Ja, wir können alles Seiner Heiligkeit überlassen. Wir sollten lieber an dich denken, Simonus. Ich habe gesagt, wir sollten einen Römer aus dir machen, und 144
damit habe ich recht gehabt, wie sich zeigt. Man muß an deine Zukunft denken. Am Anfang vielleicht in der Landwirtschaft, aber später könntest du in die Politik gehen. Und dabei kommt es auf Verbindungen an. Es ist ein Nachteil, daß du keine Familie hast, aber ich denke, daß dieser Nachteil sich überwinden läßt.« Lächelnd stand er auf. »Die Familie Cornelius ist so gut wie irgendeine andere im Römischen Reich. Kann man das jetzt überhaupt noch sagen? Aber ob es sich nun um ein Reich handelt oder nicht, die Welt ist jedenfalls noch immer römisch. Und falls du auf irgendeine Weise Mitglied der Familie Cornelius werden solltest …« Er legte Simon die Hand auf die Schulter. »Ich muß jetzt gehen, Simonus. Ich sehe dich heute abend beim Essen. Es kommt noch ein anderer siegreicher Krieger. Unser Ehrengast ist mein Neffe Marcus, dein Kommandeur. Ich denke, ihr werdet über manches zu sprechen haben.« Das Essen begann um die neunte Stunde, und erst ganz kurz vor dieser Zeit gelang es Simon, Lavinia für einen Augenblick zu sehen. Sie trug jetzt ein scharlachgesäumtes Kleid aus weißer Seide, und sie hatte ihr Haar aufgesteckt. Dadurch sah sie älter und sogar noch schöner aus. Sie standen an der Ecke des impluvium, dicht am triclinium, wo Diener die letzten Vorbereitungen für das Mahl trafen. Er versuchte, sie ein wenig beiseite zu ziehen, damit sie mehr unter sich sein konnten. Mit einem Blick auf die Diener schüttelte sie den Kopf, doch sie ließ zu, daß er ihre Hand nahm. Das machte ihn schon froh genug. Schließlich hatten sie noch viel Zeit vor sich. Wieder kamen ihm die Worte ihres Großvaters in den Sinn, die er immer wieder von allen Seiten her betrachtet hatte, seitdem sie ausgesprochen worden waren. »Falls du auf irgendeine Weise Mitglied der Familie Cornelius werden solltest …« Wie sollte das anders geschehen als dadurch, daß er eines Tages die Enke145
lin des Quintus Cornelius heiratete? Es war unglaublich, doch es war tatsächlich gesagt worden. So gab er sich damit zufrieden, ihr Komplimente über ihr Aussehen zu machen. Sie erwiderte: »Du siehst auch sehr gut aus, Simonus. Dieser Umhang ist sehr schön!« Es war ein festlicher Umhang aus blauem Satin, und er hatte schon einige Zeit damit verbracht, sich darin im polierten Silberspiegel in seinem Schlafraum zu bewundern. Stolz sagte er: »Quintus Cornelius hat ihn mir geschenkt!« Sie nickte. »Er mag dich sehr gern.« Er fragte sich, ob er erwähnen sollte, was der Großvater gesagt hatte, doch er entschied sich dagegen. Außerdem sagte sie auch schon: »Ich muß jetzt gehen, Simonus.« Er widersprach: »Wir haben noch nicht zwei Minuten miteinander geredet!« »Ich weiß, aber es ist noch so vieles zu tun. Heute abend muß für unseren Ehrengast alles vollkommen sein.« »Marcus Cornelius?« »Ja.« Sie ahmte die tiefe Stimme ihres Großvaters nach: »Der Kommandeur der christlichen Armee!« »So ein Unsinn. Der Bischof hat die Befehle gegeben, das wußten wir alle. Wußtest du, daß der Bischof auf einem Esel nach Rom eingeritten ist? Danach haben die Truppen ihren sogenannten Befehlshaber genannt: Asinus Cornelius.« Sie lachte, sagte jedoch tadelnd: »Aber, Simonus! Ich darf mir wirklich nicht anhören, was du da über Marcus sagst!« »Ich weiß, er ist dein Vetter aber ein eitler Narr bleibt er deswegen doch.« »Und mein künftiger Gatte.« Sie lächelte, und nach einem Augenblick lächelte er zurück. »Fast hätte ich dir geglaubt, aber ich finde den Scherz wirklich nicht gut.« 146
»Es sollte gar kein Scherz sein.« Sie starrte ihn an. »Hast du es wirklich nicht gewußt?« »Aber er ist doch so alt – er muß mindestens dreißig sein!« »Einunddreißig.« »Und du …« »Wäre das in deiner Welt schlecht? Aber deine Welt ist jetzt hier. Ich bin Marcus schon versprochen worden, als ich zwölf Jahre alt war. Im Sommer, wenn ich vierzehn bin, werden wir heiraten.« Seine Welt? Er fühlte sich ganz benommen, und er lächelte nicht mehr, als er fragte: »Aber … liebst du ihn denn?« »Selbstverständlich!« versicherte Lavinia. »Er wird doch mein Gatte sein.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Hör zu, Simonus! Laß niemanden merken, daß ich es dir gesagt habe; es sollte eine Überraschung werden. Großvater hat beschlossen, dich zu adoptieren und zum Mitglied unserer Familie zu machen. Ist das nicht wunderbar? Du wirst dann mein Bruder sein!« Niemand aus der Familie rührte sich, als er dem Stallburschen befahl, sein Pferd zu satteln. Doch der Diener Mandarus trat zu ihm, als er eben aufsitzen wollte. »Ihr brecht früh auf, junger Herr.« »Ja, Mandarus.« Und nach einem kurzen Schweigen. »Und ich danke dir für all deine Freundlichkeit.« »Werdet ihr bald wiederkommen?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht sehr bald.« Mandarus nickte und sein Blick war voller Sympathie. »Gott sei mit Euch!« Die anderen hatten geplant, in Dover nur lange genug vor Anker zu gehen, daß sie Ausrüstung und Verpflegung an Bord nehmen konnten. Jetzt bereiteten sie sich vielleicht schon dar147
auf vor, den Anker zu lichten – vielleicht hatten sie es schon getan. Simon verwünschte sich selbst, daß er so dumm gewesen war, nicht sofort aufzubrechen, nachdem sie es ihm gesagt hatte; er hätte schon drei Stunden vor Anbruch der Dunkelheit unterwegs sein können. Er trieb sein Pferd an, dachte an das Abendessen, das kein Ende nehmen wollte, während er neben dem eitlen Marcus gesessen und gesehen hatte, wie Lavinia ihnen beiden über den Tisch hinweg zulächelte. Der Weg verlief durch Canterbury, das hier Durovernum hieß. Er fütterte und tränkte sein Pferd und aß in einer Schenke dicht am südlichen Tor Brot und Fleisch. Wäre die Feuerkugel jetzt aufgetaucht, so hätte er hindurchtreten können, um Touristen zu sehen, die Überreste dieser Mauern betrachteten. Doch er dachte jetzt nicht an die Feuerkugel und an das, was jenseits von ihr lag. Wichtig war jetzt nur, daß schon hoher Nachmittag und er noch zwanzig Meilen vom Hafen entfernt war. Er warf dem Wirt Geld zu und lief zu seinem Pferd hinauf. Das Tageslicht verging, als er in Dover einritt, und zugleich verblaßten seine Hoffnungen. Sie vergingen vollends, als er den Kai überblickte. Keines der hier ankernden Schiffe war die Stella Africanus, doch weit draußen im Hafen strebte ein kleines Schiff dem Meer zu, und das konnte es sehr wohl sein. Niedergeschlagen wandte er sich ab. Er achtete kaum auf seinen Weg, bis er gegen einen anderen Mann stieß. Eine Stimme beschimpfte ihn und rief dann überrascht seinen Namen. Er blickte aus. »Bos!« sagte er verständnislos. »Aber hier ist doch nirgends ein Schiff! Ich habe überall gesucht.« »Wenn deine Augen nicht besser sind, ist es nur gut, daß du nicht Gladiator geblieben bist! Ein retiarius mit einem gebrochenen Bein würde dir ein Netz überwerfen, ehe du ihn noch gesehen hättest. Die Ankerplätze sind knapp, deswegen mußten wir neben einem spanischen Weinschiff anlegen. Eine gemeine 148
Bande, diese Spanier. Sie haben uns noch nicht einmal einen Schluck angeboten!« Simon war viel zu verwirrt, um etwas zu sagen. »Du hast dir Zeit gelassen, Junge. Am Abend laufen wir aus.« Bos grinste auf ihn herunter. »Aber wenigstens bist du erwachsen geworden. Komm, ich bringe dich an Bord!«
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12 Sie hatten zwei Wochen recht gutes Wetter, ehe die Stürme sie packten. Der erste Sturm verging nach wenigen Tagen, doch der zweite war heftiger und währte doppelt so lange. Simon war beim ersten Sturm seekrank, beim zweiten packte es ihn noch heftiger, doch er war zu beschäftigt, um sich damit lange aufzuhalten. Zwar bewahrte er undeutliche Erinnerungen an Kälte und Nässe, an Schmerzen und Übelkeit, doch alles wurde von einer überwältigenden Müdigkeit übertönt. Der zweite Sturm hatte sie vom Bug her gepackt, und in den nächsten vier Tagen, in denen sie weder Sonne noch Sterne sehen konnten, wußten sie nicht, wohin sie trieben. Doch als der Sturm vorüber war, befanden sie sich noch immer auf westlichem Kurs, und sobald die Segel wieder gesetzt waren, wurden sie von einem frischen südöstlichen Wind gefüllt. Die Hühner, die man in Dubris an Bord genommen hatte, waren in den stürmischen Tagen unversorgt geblieben; doch wenn manche Eier auch zerbrochen waren, blieben doch genug übrig, aus denen Brad Eier mit Schinken zubereiten konnte. Diese Zusammenstellung war für Bos und Curtius noch unbekannt, doch sie freundeten sich mit dieser ersten Kostprobe ihres künftigen Landes schnell an. Als er mit dem Küchendienst begann, empfand Simon keinen Hunger, doch als das Mahl zubereitet war, hatte der Hunger die Übelkeit abgelöst, und er aß so begierig wie die anderen. In den letzten Stunden des Sturms hatte sich eine der Ziegen den Hals gebrochen; zum Glück war es nicht der Ziegenbock. (Brad hatte die Ziegen als die nützlichsten nichtamerikanischen Tiere ausgewählt, die sie mitnehmen konnten.) Bos häutete und zerlegte das Tier mit erstaunlicher Fertigkeit, bereitete eine reichliche Mahlzeit und legte das übrige Fleisch 150
in Salz. Sie öffneten auch einen kleinen Weinkrug, doch der Wein hatte sich durch das ständige Schütteln in Essig verwandelt. Das trübte die freudige Stimmung ein wenig – besonders bei Bos, doch Brad versicherte, die Weinstöcke, die sie ebenfalls mitgenommen hatten, würden auf dem guten amerikanischen Boden sicherlich gedeihen, so daß sie in den kommenden Jahren genug Wein haben würden. Am späten Abend waren Simon und Brad allein an Deck. Simon knüpfte an ihr früheres Gespräch an, als er sagte: »Du hättest nicht denselben Namen beibehalten müssen.« »Welchen Namen?« »Amerika. In dieser Welt gibt es keinen Amerigo Vespucci. Du hättest den Kontinent irgendwie nennen können. Bradland, meinetwegen.« »Mit Simon City als Hauptstadt? Ich denke, Amerika ist gut genug. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, einige alte Dinge zu behalten, wenn man einen neuen Anfang machen will.« Die vertrauten Sternbilder blinkten wie Diamanten auf schwarzem Samt; der Mond würde erst in ein oder zwei Stunden aufgehen. Simon suchte den Großen Wagen und den Polarstern. Sie hielten noch den richtigen Kurs, segelten westwärts der Neuen Welt entgegen, während die alte Welt hinter ihnen zurückblieb. »Glaubst du, daß neue Anfänge zu etwas gut sind?« fragte er. Brad lachte. »Du redest wie ein echter Brite!« »Überleg doch, was dort passiert ist. Das war ein neuer Anfang, und alles begann mit Rache, nicht wahr? Wir haben geholfen, ein Reich zu stürzen, das über zweitausend Jahre alt war. Und die alte Tyrannei ist durch eine neue abgelöst worden, die vielleicht noch sehr viel schlimmer werden kann.« Brad schwieg eine Weile. Taue knirschten und knisterten; das Hauptsegel schlug unter einem heftigeren Windstoß. End151
lich sagte er: »Ich will das nicht bestreiten. Es besteht immer die Möglichkeit, daß etwas böse ausgeht. Aber meiner Meinung nach ist das kein Grund, es nicht immer wieder zu versuchen.« »Wahrscheinlich hast du recht.« Er gähnte. »Ja, sicher hast du recht.« »Geh unter Deck und schlaf eine Weile«, sagte Brad. »Ich rufe dich, wenn ich Hilfe brauche.« Und als Simon sich schon zum Gehen wandte, setzte er hinzu: »Ich habe dir noch gar nicht dafür gedankt, daß du gekommen bist. In den letzten drei Tagen habe ich gemerkt, daß drei Paar Hände entschieden zu wenig gewesen wären; und gefährlich obendrein.« »Nichts zu danken. Ich war froh, daß ich euch in Dover eingeholt habe. Sehr froh.« »Was ist im Landhaus geschehen?« Bisher hatte Brad nicht gefragt, und von sich aus hatte Simon nichts berichtet. Jetzt sagte er: »Sie wird Marcus Cornelius heiraten.« »Im Ernst?« Brad lachte. »Entschuldige, aber du mußt das einfach von der guten Seite sehen. Jetzt wartet vielleicht die Tochter eines Indianerhäuptlings auf dich!« Tage und Wochen vergingen. Sie erlebten einen bösen Augenblick, als sie feststellten, daß Seewasser ihre Biskuitvorräte durchweicht hatte. Besonders Curtius und Bos waren sehr niedergeschlagen. Curtius verbrachte seine arbeitsfreie Zeit nur noch auf seinem Lager zusammengerollt. Bos zeigte seine Verfassung mehr durch Worte. Er redete immer wieder vom Rand der Welt und von dem großen Wasserfall, den es dort geben müsse. Als frischerer Wind das Schiff schneller vorantrieb, argwöhnte er, eine Strömung triebe sie immer schneller dem unausweichlichen Abgrund und der Ewigkeit zu. Vor ihnen liege keinerlei Land mehr. Nach einer so langen Seefahrt könne das auch gar nicht sein. 152
Brad schaute dem großen Mann ins Gesicht. »Dort liegt ein Land, Bos. Ein großes, reiches Land, größer und reicher als alles, was du dir vorstellen kannst. Ich bin dort geboren. Hältst du mich für einen Lügner?« Bos sah ihn bedrückt an. »Erzähl mir davon, Bradus. Erzähl mir von deinem Land und seinen Wundern.« Brad erzählte. Er sprach von den großen Strömen, von den Gebirgen, die höher seien als die in Helvetien, die weiten Ebenen, in die man die ganze britische Insel sechsmal hineinlegen könnte, so daß immer noch etwas übrig bliebe. Er sprach von Bäumen die höher wüchsen als fünfzig Männer. Und von den Tieren – von unzähligen Büffeln und Antilopen, von zwei Meter großen Bären, von Wölfen und Berglöwen, von Hühnern und von Tauben, deren Schwärme mittags den Himmel verdunkelten … Selbst Simon war beeindruckt. Bos sagte: »Wenn du lügst, Bradus, dann lügst du gut. Es klingt wie Elysium, das Land der Seligen.« »Das ist es auch«, versicherte Brad ganz ernsthaft. »Genau das ist es!« Bos schüttelte den Kopf. »Aber man sagt auch, daß das Elysium ein Teil des Hades sein soll.« Er seufzte tief. »Nun sind wir einmal soweit gekommen, also können wir auch noch weiter segeln, auch wenn wir über den Rand der Welt hinaus geraten sollten.« Sieben Wochen hatten sie kein Land mehr gesehen, als der wirklich große Sturm ausbrach. Er braute sich hinter ihnen so schnell zusammen, daß ihnen kaum genug Zeit blieb, die Segel zu reffen. Das Bugsegel wurde vom Mast gerissen, ehe sie sich damit beschäftigen konnten. Es hätte die Stunde vor dem Morgengrauen sein sollen, doch an diesem Tag gab es kein Morgengrauen. Um die Mittagszeit gab es ein wenig düsteres Grau; sonst war alles nur blitzdurchzucktes Schwarz. Gewaltige Wel153
len hoben das Schiff berghoch empor und ließen es wieder in Wasserschluchten niederstürzen. Man konnte nichts anderes tun als sich festzuklammern, damit man nicht hin und her geworfen wurde. Simon wurde diesmal nicht seekrank, doch er war nicht ganz sicher, daß dies ein Fortschritt war; er konnte genauer wahrnehmen, was rund um ihn vorging und darüber nachdenken, was alles geschehen konnte. Es wurde immer wahrscheinlicher, daß die nächste Woge das kleine Schiff zerschmettern würde und sie hilflos im eiskalten Wasser treiben würden. Von einem gewissen Augenblick an sehnte er dieses Ende fast herbei. Der Sturm währte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Am Morgen ließ er ein wenig nach, um dann mit noch größerer Macht anzuschwellen. Drei Tage dauerte es, bis die Männer wieder an Deck gehen und den grauen Himmel über einem träge schwappenden Meer sehen konnten. Die Stella Africanus war in einem beklagenswerten Zustand. Der Hauptmast hatte zwar standgehalten, doch der Achtersteven mit dem geschnitzten Schwan war zerbrochen und reckte klägliche Splitter in die Luft. Die gewölbten Planken an der Backbordseite waren eingedrückt. »So schlimm ist das gar nicht«, tröstete Brad. »Es ist ein bißchen angeschlagen, aber durchaus noch seetüchtig. Der arme Neptun muß auf sein Frühstück verzichten.« Der Scherz war nicht besonders witzig, aber Bos lachte, und Simon stimmte zögernd ein. Sie waren ganz benommen von der Anspannung, vom Hunger und von der Übermüdung. Dann rief Curtius vom Heck her: »Das Ruder greift nicht. Das Blatt muß gebrochen sein.« Das beendete das Lachen. Brad fragte: »Können wir es irgendwie richten?« »Wenn wir eines der Lateinsegel vorn am Bug befestigen, können wir wohl etwas steuern, aber viel ist das nicht.« 154
Simon sagte: »Vielleicht brauchen wir gar nicht mehr viel!« Er deutete nach steuerbord voraus dorthin, wo das Grau des Himmels und das Meeresgrau zusammenstießen. »Dieser schmutzige Strich dort am Horizont – könnte das Land sein?« Sie lagerten auf einem Grasstreifen über der Stelle, an der die Stella Africanus gestrandet war. Die Wellen, die sie hereingetrieben hatten, hatten sie fest in eine kleine Felsspalte geschoben. Während des großen Sturms war eine weitere Ziege verendet, aber zum Glück war es auch diesmal nicht der Bock gewesen. Die drei Überlebenden waren sicher angepflockt und grasten friedlich. Der Hahn war mit seinen Hennen in einem Behelfskäfig untergebracht. Bos hatte eine Kochstelle angelegt und für das Feuer zerbrochene Schiffsplanken der Stella Africanus verwendet. An diesem zweiten Morgen stieg Rauch kerzengerade zu einem blauen Himmel auf, die Luft war vom Duft frischgebackenen Brotes erfüllt. Das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu haben, war noch fremd; Simon merkte, daß er ganz schwankend ging. Er und Brad wollten das Land erkunden und gingen auf einen kleinen Wald zu, der einige hundert Meter vom Ufer entfernt lag. Brad erklärte, warum er annahm, sie seien irgendwo an der Küste des Staates New York oder vielleicht in Delaware gestrandet. Er erstarrte, und beide sahen sie gleichzeitig: drei Gestalten mit bronzefarbener Haut und bunten Federn im zusammengebundenen schwarzen Haar standen dort am Waldrand zwischen den Bäumen. Brad sagte ruhig: »Ist das etwa wieder ein neuer Anfang?« Simon flüsterte: »Schaffen wir es zu den anderen zurück? Wir haben ja nicht einmal ein Messer bei uns!« Brad schaute zu den bewegungslosen Gestalten hinüber. »An dieser Küste müßten es eigentlich Algonkinindianer sein.« 155
Er ging voran, und nach kurzem Zögern folgte ihm Simon. Die Gestalten blieben unbewegt stehen. Wenige Meter vor ihnen blieb Brad stehen und hob die Hände, die Handflächen nach vorn gewendet. Er sagte etwas Unverständliches, und die Gestalten starrten ihn schweigend an. »Das falsche Wort?« fragte Brad. »Oder die falschen Indianer. Eines von beidem …« Plötzlich hob der mittlere der drei Männer ebenfalls die Hände und ahmte Brads Geste nach. Er sagte etwas. Es klang kehliger, doch es schienen dieselben Worte zu sein, die auch Brad gesprochen hatte. Brad atmete erleichtert auf. »Was war das?« fragte Simon. »Langundowoägan«, sagte Brad. Simon sah ihn fragend an. »Das ist das algonkinische Wort für Frieden!«
Fortsetzung folgt. John Christopher hat den2. Band bereits geschrieben und er ist im Nov. 82 in den U.S.A. erschienen.
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