Freder van Holk Die Faust der Erde
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhau...
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Freder van Holk Die Faust der Erde
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus. 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright (c) 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse. Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg. Franz-Josef-Straße 21,
A-5020 Salzburg
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier. Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 33 9616 29, Telex 02 161024
Printed in Germany
Dezember 1978
Scan by Brrazo 03/2006
1. Flugplatz Hongkong. Sun Koh, begleitet von Nimba und Hal, betrat den Hangar, in dem sein Flugzeug überholt wurde. Die beiden Monteure, die an der Maschine arbeite ten, kamen herunter und tippten an die Mützen. Der ältere von ihnen setzte sich auf eine Werkzeugkiste und frühstückte. Der jüngere – er war noch keine dreißig und hieß Jed Pidgeon – kam heran. »Guten Morgen«, grüßte er freundlich. »Wir ha ben Sie verständigen lassen, weil um neun Uhr ein Gespräch für Sie kommt.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. Sun Koh fragte erstaunt: »Über Bordfunk?« »Ja.« Sun Koh blickte den Monteur fragend an. »Hof fentlich hören Sie keine Geisterstimmen?« Jed Pidgeon grinste unbefangen. »Ich war gerade auf Ihrer Welle, als der Anruf kam. Ich habe mich natürlich gemeldet…« »Augenblick«, unterbrach Sun Koh. »Wieso wa ren Sie gerade auf unserer Welle?« Jed Pidgeon blinzelte. »Sie werden sich deswegen hoffentlich nicht auf regen, Sir. Es war schließlich Ihr Vorteil. Ich bin nun
einmal der Elektriker – und Funker nebenbei. Ich habe mir gedacht, daß das Aggregat auch überholt werden soll. Und als alter Praktiker weiß man natür lich Bescheid. Am Sender sind einige Stellen, an de nen Metall auf Metall arbeitet. Das gibt immer feine Kratzer.« »Und?« »Der Schlüssel!« platzte Jed Pidgeon heraus. »Mich hat der Schlüssel interessiert.« »Schnüffler!« zensierte Hal laut. »Wer hat angerufen?« fragte Sun Koh. »Hm, einen Namen hat er nicht genannt.« »Und was hat er gesagt?« Der Monteur grinste vorsichtig. »Hm, eine Menge, aber das betraf hauptsächlich mich. Es paßte ihm nicht, daß ich auf der Welle war. Manche Leute scheinen sich einzubilden, daß sie die ganze Weisheit für sich allein gepachtet haben. Ich habe ihm natürlich contra gegeben. Unsereins kommt schließlich auch in der Welt herum, und ich habe zu fällig bis vor zwei Monaten auf einer IonosphärenStation gearbeitet. Da lernt man solche Sachen. Mich wunderte bloß, daß Sie schon darauf eingestellt sind. Natürlich weiß jeder Funker Bescheid, aber das ist der erste Apparat, an dem ich einen Gleitschlüssel nach Zeit und Ort gefunden habe.« Sun Koh lächelte. »Sie nehmen es mit Ihrer Unter suchung genau. Nun, das ist ja schließlich Ihre Auf 6
gabe. Der Anruf soll also um neun Uhr wiederholt werden?« »Ja. Ich habe versprochen, Sie zu verständigen.« »Danke, Mister Pidgeon«, sagte Sun Koh. Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk und stieg die Gangway hinauf. Hal und Nimba blieben, wo sie waren. Nach einer Weile fragte Nimba: »Was ist eigentlich mit dem Schlüssel? Ist da etwas Besonderes dabei?« »Nicht die Spur«, meinte Hal. »Das ist bloß ein Neunmalgescheiter, der sich wundert, daß andere auch wissen, was er weiß.« »He!« »Etwa nicht?« stichelte Hal. Jed Pidgeon sagte: »So einfach ist das nicht. Wer den Schlüssel dort oben ausgearbeitet hat, kennt sich besser aus als die Professoren von unserer Ionosphä ren-Station. Das ist nämlich ein mächtiger Unter schied, ob man nach Schnauze über die Skala geht, wie man das als Funker gewöhnlich tut, oder ob man einen genau stimmenden Schlüssel zur Hand hat. Dazu gehört ein Haufen Testarbeit.« »Hä?« sagte Nimba. »Mach den Mund zu, Nimba«, riet Hal wohlwol lend. »Du gehörst auch zu denen, die ihre Wurst es sen, ohne vorher Lebensmittelchemie studiert zu ha ben. Er meint, daß die Kurzwelle, mit der wir senden und empfangen, ihr Tücken hat. Die Dinge liegen 7
nicht so einfach, daß man mit einer bestimmten Kurzwelle vierundzwanzig Stunden lang um die Erde herumfunken kann. Du kommst meinetwegen mit einer 20-Meter-Welle von zwanzig bis vierundzwan zig Uhr großartig durch, und dann vielleicht noch einmal von sechs bis acht Uhr, aber in den Zwi schenzeiten ist nichts zu machen. Die Welle ver schwindet glatt und bringt keine Verbindung. Mit einer anderen hast du vielleicht von Mitternacht bis Morgen und von Mittag bis Abend Verbindung, aber in der restlichen Zeit geht sie wie in Löschpapier hinein. Wenn du also Dauerverbindung haben willst, brauchst du eine Tabelle, aus der man ersieht, welche Welle zu einer bestimmten Zeit über eine bestimmte Entfernung hinweg mit Sicherheit trägt. Das ist der Schlüssel, von dem er redet. Klar?« »Sicher«, sagte Nimba. »Ich frage mich bloß, war um die Wellen so unregelmäßig durchkommen.« »Dich darfst du nicht fragen«, erwiderte Hal, »denn du weißt es ja nicht. Aber unser Oberschlau kopf hier wird es dir sagen. Er hat nämlich auf Iono sphäre studiert.« »Es hängt tatsächlich mit der Ionosphäre zusam men«, sagte Jed Pidgeon. »Das ist eine Schicht von 100 bis 300 Kilometer Höhe, von der die Kurzwellen immer wieder reflektiert werden, so daß sie im Zick zack zwischen der Ionosphäre und der Erde um die Erde herumgehen. Die Reflektionsschicht liegt aber 8
mal höher, mal tiefer, je nach dem Sonnenstand, und zu bestimmten Zeiten ist sie für eine bestimmte Wel le überhaupt nicht da, sondern läßt sie durch oder verschluckt sie.« »Und wenn die Ionosphäre den Schluckauf hat, hörst du eben nichts«, erklärte Hal. »Unsinn!« brummte Nimba. »Wenn die Welle im Zickzack zwischen der Ionosphäre und der Erde hinund hergehen würde, müßte sie unhörbar sein, sobald sie sich jeweils oben an der Ionosphäre befindet. Das gäbe dann so alle hundert oder zweihundert Kilome ter stumme Zonen. Genau das stimmt aber nicht. Wenn ich auf einer Welle bin, und ich fliege mit achthundert über das Meer, kann ich sie stundenlang ununterbrochen hören. Wäre eine schöne Schweine rei für die Funker auf den Schiffen, wenn sie nur dort Verbindung bekämen, wo die Welle gerade auf die Erde herunterspiegelt.« »Wau!« murmelte Hal. »Was sagen Sie jetzt, Sie Weisheitsschlauch?« Jed Pidgeon staunte. Sun Koh führte inzwischen oben in der Kanzel ein Gespräch. Es war Manuel Garcia, der sich meldete. »Na, endlich!« kam seine unsympathische Stimme aus der Ferne. »Ich dachte schon, ich müßte halb Hongkong nach Ihnen absuchen.« »Wie geht es Miss Martini?« fragte Sun Koh. 9
»Wenn sie nicht von meinem Bruder Juan entführt wurde, den ich immer noch unter den Lebenden wähne, urlaubt sie bei einer Freundin. Ich wollte Ih nen aber von einem ›Time‹-Bericht erzählen …« »Was ist damit?« »Nun, da geht es um eine einige Wochen alte Ge schichte, die Sie mit Atlantis ein erhebliches Stück weiterbringen kann.« »Was läßt Sie das vermuten?« fragte Sun Koh. »In der Story geht es um den Untergang des Schif fes ›Oakland‹, wenigstens nach den Aussagen eines Kapitäns Krotthoff, der als einziger Überlebender wieder auftauchte. Die ›Oakland‹ geriet südlich der Oster-Insel in ein Seebeben oder etwas ähnliches …« »Das ist für uns nicht wichtig.« »Was denn, was denn? Wenn Sie sich nicht für diesen Krotthoff interessieren …« »Kommen Sie endlich zur Sache, Manuel!« dräng te Sun Koh. »Na also«, sagte Manuel Garcia zufrieden. »Also, die ›Oakland‹ ging südlich der Oster-Insel unter. Ka pitän Krotthoff behauptet nun, er hätte im Augen blick der Katastrophe vor dem Schiff eine Insel ge sehen, die auf keiner Karte eingetragen ist. Auf der Insel hätte sich ein silberner Turm befunden, und auf dem Turm hätte er deutlich zwei Menschen wahrge nommen. Klingt sonderbar, nicht?« Sun Koh blieb sachlich. »Sie haben den Aufent 10
haltsort dieses Kapitäns ermittelt?« »Hm, ich habe natürlich ein bißchen herumgefragt. Wie ist denn das Wetter bei Ihnen?« »Wo ist er?« fragte Sun Koh mit drohender Stim me. »In Hongkong.« Manuel Garcia seufzte. »Was dachten Sie, warum ich Sie anrufe? Sie sind ihm am nächsten, und da dachte ich …« »Ich werde ihn suchen.« Sun Koh gab ihm noch einige Anweisungen für dringende Forschungsarbei ten in den Labors, dann unterbrach er die Verbin dung mit dem quasseligen Mann. Der Sekretär des US-Konsulats, an den Sun Koh ge riet, war ein salopper junger Mann. Er schüttelte Sun Koh die Hand, nötigte ihn in einen Korbstuhl, stellte den halben Inhalt eines Barschränkchens bis zu den Eiswürfeln auf den Tisch und hängte sich mit einem Bein locker über eine Sessellehne. Dann erst nahm er den Faden auf, den Sun Koh ihm zugeworfen hatte. »Also Kapitän Krotthoff … Tja, er lebt im Augen blick bei einem Flittchen, aber ich denke nicht, daß ihm das etwas ausmacht. Manche Leute vertragen es sogar, unter Pygmäen zu leben. Sie kennen die Ge schichte?« »Nein.« »Hm, dann ist es vielleicht besser, wenn ich Sie unterrichte. Ich weiß nicht, was Sie von Krotthoff 11
wollen …« »Er verlor sein Schiff?« Der Sekretär nickte und schwenkte sein Glas, so daß die Eiswürfel klirrten. »Die ›Oakland‹. Sie fuhr im Auftrag eines gewis sen Kennan, der sich mit seiner Tochter an Bord be fand. Eine Art Expeditionsschiff. Tiefseeforschung und solche Sachen. Nach dem Bericht Krotthoffs ge riet das Schiff südlich der Oster-Insel in einen schweren Wirbelsturm, gegen den es sich mit Not und Mühe hielt. Es kam jedoch nicht heraus, sondern wurde einen ganzen Tag und länger mitgenommen. Dann kam die Katastrophe. Die Wolkenwände rissen plötzlich auf, und Krotthoff sah wenige Meilen vor sich eine bergige Insel, auf die das Schiff direkt zu getrieben wurde. Auf der Höhe des Inselberges ent deckte er einen runden Silberturm, und als er das Glas ansetzte, sah er auf dem Turm zwei Menschen, vermutlich Männer. In der gleichen Sekunde muß das Schiff auf Klippen oder Korallenbänke geraten sein. Krotthoff wurde mit einem Ruck von der Brük ke geschleudert, schlug irgendwo mit dem Kopf an und verlor das Bewußtsein.« »Ein Silberturm?« »Nun, das dürfen Sie vielleicht nicht wörtlich nehmen. Krotthoff selbst glaubt an nassen Stein, auf den durch eine Wolkenlücke etwas Sonne fiel. Das gibt einen ähnlichen Eindruck.« 12
»Die Position?« »Nur die letzte, die vor Ausbruch des Wirbel sturms aufgenommen wurde. Damit ist nicht viel zu machen. Der Sturm hat das Schiff sicher Hunderte von Kilometern mitgenommen.« »Die Insel ist auf seiner Karte verzeichnet?« »Nein, aber das braucht nicht viel zu besagen. Im Pazifik gibt es bestimmt noch Hunderte von Inseln, die auf keiner Karte zu finden sind, und dieses Ge biet südlich der Oster-Insel ist verkehrstechnisch ge sehen ein riesiges Loch. Dort kommt nur selten ein Schiff hin, und es ist schon denkbar, daß es dort un bekannte Inseln gibt. Nur – ein Turm und Men schen …« »Die ›Oakland‹ ging unter?« »Sieht so aus. Halten wir uns an den Bericht Krotthoffs. Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem der Boote der ›Oakland‹, zusammen mit einem halben Dutzend Männer der Besatzung, die ihn aufgelesen und mitgenommen hatten. Nach ihren Berichten wurde das Schiff von Klippen aufge schlitzt, aber dann vom Sturm knapp an der Insel vorbeigetrieben und versank. Wer konnte, ging über Bord oder versuchte, mit einem Boot loszukommen. Die Männer hielten sich aber für die einzigen, denen es gelungen war, mit einem Boot abzukommen. Und sie hatten weder Wasser noch Lebensmittel in nen nenswerten Mengen bei sich.« 13
»Schwer.« »Die übliche Tragödie in einem kaum befahrenen Gebiet. Sie befanden sich schon auf glatter, stiller See irgendwo im Pazifik, als Krotthoff zu Bewußt sein kam. Und sie hatten nichts als ein paar Ruder, um weiterzukommen. Um es kurz zu machen: Sie verhungerten, verdursteten, wurden wahnsinnig. Krotthoff blieb als letzter übrig. Er hatte mehr zuzu setzen als die anderen, körperlich und wohl auch wil lensmäßig. Nach Wochen entdeckte ein Liberianer zufällig das treibende Boot und nahm Krotthoff auf – einen halbirren Schwerkranken aus Haut und Kno chen. Der Liberianer hatte keinen Arzt an Bord und lud ihn auf einer der Paumotu-Inseln ab.« »Krotthoff wurde gesund?« »Ja. Ein Pflanzer und einige Eingeborene brachten ihn wieder auf die Beine. Das dauerte jedoch viele Monate. Schließlich schlug er sich nach Hongkong durch. Die ›Oakland‹ war seit neun Monaten ver schollen, als er endlich hier auftauchte und sich den Behörden stellte. Die Situation war für beide Seiten schwierig. Sein Bericht konnte stimmen und auch wieder nicht. Man konnte ihm offiziell nichts nach weisen, aber andererseits – hm, also jedenfalls war es für ihn auch nicht besonders erfreulich. Es wird ihm schwerfallen, wieder ein Schiff zu finden. Wenn Sie mit ihm persönlich sprechen wollen …« Er schlenderte zu seinem Schreibtisch, schrieb die 14
Adresse auf und gab sie Sun Koh. Wenig später ver abschiedete sich Sun Koh. Das Hotel, in dem Krotthoff wohnte, konnte nur mit viel Toleranz als Hotel bezeichnet werden. Es lag mitten im chinesischen Viertel und erwies sich als ein schmales dreistöckiges Gebäude, das aussah, als würde es im nächsten Moment altersmüde in die Knie gehen. Es war jedoch nicht schmutziger und unansehnlicher als seine Umgebung und gab gerade den richtigen Hintergrund ab für das wirre, bunte Treiben auf der schmalen Straße. Im Erdgeschoß befand sich ein größerer Raum für die Gäste, der Bar, Restaurant oder Tanzdiele sein konnte. Am Fenster quetschten sich einige Chinesin nen die Nase breit, um den Wagen zu bewundern, hinter dessen Steuer Nimba wie ein Filmstar saß. Neben dem Lokal führte ein enger, dämmriger Gang in das Haus. Am Ende fand Sun Koh neben einer Treppe ein Stehpult und dahinter einen jungen Chinesen, der ihn wie eine Erscheinung anstarrte. »Kapitän Krotthoff?« »Zweiter Stock, Zimmer acht«, brachte der Chine se heraus, drehte sich ein Stück und starrte hinter Sun Koh her. Das Innere des Hauses war überraschend sauber und erinnerte schon eher an ein Hotel. Es bereitete keine Mühe, den angegebenen Raum zu finden. Sun Koh klopfte und trat auf einen Zuruf hinein. 15
Das Zimmer war klein, dürftig eingerichtet, aber ebenfalls sauber. Auf dem Metallbett lag ein Mann in Hose und Hemd. Er blinzelte verschlafen; dann schnellte er auf und kam auf seine Füße. Jetzt war der Raum nicht mehr klein, sondern winzig. Krotthoff war ein breitschultriger Hüne um die Vier zig, der ganz danach aussah, als könnte er die Wände auseinandertreiben. Sein rotblondes Haar und sein energisches, trotziges Gesicht wirkten in dieser Um gebung geradezu gefährlich. »Kapitän Krotthoff?« vergewisserte sich Sun Koh. »Ja.« »Sun Koh. Bitte, setzen Sie sich wieder.« Krotthoff ließ sich mechanisch auf die Bettkante sinken und wies mit einer Handbewegung auf den einzigen Stuhl, der sich im Raum befand. »Man hat mir Ihre Geschichte erzählt, Kapitän. Ich sehe keinen Grund, sich in diesem Viertel zu ver stecken.« »Verstecken?« wiederholte Krotthoff rauh. »Da von ist keine Rede. Ich wohne hier, weil es billig ist und ich nur wenig Geld habe. Was wünschen Sie?« »Sie sahen kurz vor dem Schiffbruch eine unbe kannte, aber bewohnte Insel. Ich suche jemand, der mich auf diese Insel bringt. Sind Sie in der Lage, die Insel wiederzufinden?« »Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere, der die letzte Position der ›Oakland‹ kennt«, antwor 16
tete der Kapitän ruhig. »Letzten Endes ist es eine Frage der Geduld. Die Insel mit dem Turm kann sich nach jeder Richtung tausend Kilometer von der letz ten Position befinden. Das bedeutet, daß ein Gebiet von einigen Millionen Quadratkilometer abzusuchen ist, also etwa ein Gebiet von der Größe Europas. Stellen Sie sich vor, Sie müßten mit einem Schiff in Europa einen mäßigen Hügel finden, der sich eben sogut bei Rom wie bei London befinden kann. Nicht einfach, Sir.« »Ein Flugzeug wäre nützlicher als ein Schiff, nicht wahr?« »Sicher, aber kein Flugzeug bringt soviel Aktions radius auf, wie in diesem Fall notwendig wäre. Man müßte doch ein Schiff als Stützpunkt mitschicken.« »Ich verstehe. Ein Schiff und ein Flugzeug. Sie le gen wohl nicht zufällig Wert darauf, noch einmal jene Gegend aufzusuchen?« In die Stimme des Kapitäns kam ein drohender Unterton. »Was glauben Sie, warum ich hier in Hongkong herumhocke? Ich bin in San Francisco zu Hause. Ich habe hier auf ein Schiff gewartet, mit dem ich auf die Suche gehen kann.« »Warum?« »Ich lasse mir nicht gern nachsagen, daß ich phan tasiere. Ich weiß, was gewisse Leute denken, und ich möchte sie ganz gern mit der Nase auf die Insel drü cken. Abgesehen davon – die ›Oakland‹ ging in un 17
mittelbarer Nähe der Insel zugrunde. Vielleicht ist es einigen gelungen, sich zu retten. Können Sie sich vorstellen, wie diese Leute seit fast einem Jahr Tag für Tag den Horizont absuchen und auf ein Schiff hoffen, das sie wieder in die Heimat bringt?« »Glauben Sie, hier in Hongkong ein Schiff zu fin den?« »Wenn Mister Watson nicht gestorben wäre …« Er brach mit einem Schulterzucken ab, so daß Sun Koh nachgreifen mußte. »Wer ist Mister Watson?« »Ich denke, Sie kennen meine Geschichte?« »Von einem Watson war nicht die Rede.« »Ein Freund von Professor Kennan, für den die ›Oakland‹ fuhr. Er wollte mit seiner neuen Hochsee jacht eben auf Jungfernfahrt gehen, als ich mich mit ihm in Verbindung setzte. Die Bezeichnung Jacht dürfen Sie freilich nicht so genau nehmen. Die ›Star of California‹ ist ein hochseetüchtiges Luxusschiff, ein Millionärsschiff. Watson war sofort dabei, auf die Suche zu gehen. Ich sollte hier auf ihn warten und dann das Schiff übernehmen. Bis Hongkong sollte es eine Vergnügungsfahrt für Watson und ein Dutzend Gäste sein.« »Und?« »Watson starb unterwegs an einem Herzschlag. Das Schiff liegt jetzt hier im Hafen. Die Gäste haben es verlassen. Die Mannschaft auch. Man munkelt, 18
daß es auf der ›Star of California‹ gespukt haben soll, und das vertragen Seeleute schlecht. Alles Unsinn. Für mich ist es natürlich bitter. Die Erben denken gar nicht daran, mir das Schiff anzuvertrauen oder gar noch die Mittel für eine Suchexpedition zu stiften.« »Das Schiff würde sich eignen?« »Sicher.« »Ist es verkäuflich?« »Zweifellos.« »Würden Sie es übernehmen, wenn ich es kaufe?« Der Kapitän kniff die Augen zusammen. »Das ist keine Frage, aber – haben Sie ein Vorstel lung davon, was ein derartiges Millionärsschiff ko stet?« »Offen gestanden nicht«, sagte Sun Koh. »Ich hof fe aber, daß es mein Bankkonto mit dem Ihres Mr. Watson aufnehmen kann. Kommen Sie, Kapitän. Wir wollen uns die ›Star of California‹ ansehen und dann das Notwendige regeln.« Krotthoff atmete tief auf. »Sie machen keine Um stände, wenn Sie den Weihnachtsmann spielen, nicht?« Sun Koh blickte an ihm vorbei in eine unbestimm te Ferne. »Nun, vielleicht habe auch ich ein Ziel, das ich verfolge. Also kommen Sie.« * 19
Ein Jahr zurück! George Kennan erwachte aus seiner Betäubung. Mühsam richtete er sich auf und sah sich um. Er lag am Strand einer Insel. Wenige Meter hinter ihm lie fen die Wogen des Ozeans flach aus, vor ihm und seitlich dehnte sich ein Sandstreifen, der durch die grüne Wand eines Palmenhains abgesetzt wurde. Der Himmel war noch mit schweren Wolken verhängt, die der Sturm vor sich hertrieb, aber sie hatten sich schon aufgelockert und ließen hier und da die Sonne ahnen. Mit dem Bewußtsein, daß er lebte und nicht erheb lich verletzt war, kehrte langsam die Erinnerung zu rück. Einen Tag lang war die »Oakland« im Sturmzen trum herumgewirbelt worden, bis keiner der Men schen auf ihr mehr wußte, wo ihm der Kopf stand. Dann war die Katastrophe gekommen. Innerhalb von Minuten war das Schiff gesunken. Kennan hatte kei ne Ahnung, wie und wodurch es geschehen war. Er erinnerte sich nur noch, daß jemand »Land voraus«, geschrien hatte, dann waren ein Wasserberg, eine feurige Lohe und beißende Glut vor ihm gewesen, und er war mit vielen anderen verzweifelt in das to bende Wasser hinuntergesprungen. Er hatte das Land erreicht – oder richtiger: Die Flut hatte ihn hinaufgeworfen, denn er hatte nichts 20
mit Bewußtsein unternommen, um hierher zu gelan gen. Aber die andern? Sybill? Der Gedanke durchzuckte ihn schmerzhaft. Sein einziges Kind war mit ihm zusammen in die Tiefe gesprungen. War Sybill ertrunken? Er taumelte hoch und wankte den Strand entlang. »Sybill! Sybill!« Das noch immer lebhafte Brausen in der Luft ver schlang den erschütternden Ruf. Er erhielt keine Antwort. Kennan sank in die Knie. Mit blicklosen Augen starrte er in den Sand, während sein überreiztes Ge hirn reflektierte. Hatte ihn das Meer nur deshalb aus geworfen, um ihn zu strafen, um ihn die Qualen des Verlustes tragen zu lassen? Hätte er diese Expedition nur nicht unternommen. Sybill hatte zu Hause blei ben sollen, aber sie hatte ihn überredet, und so hatte er sie gegen seinen ursprünglichen Vorsatz doch mitgenommen. Drang da nicht ein schwacher Ruf an sein Ohr? »Vater! Vater!« Er riß sich hoch und stürzte vorwärts, während er gleichzeitig gellend schrie. Um die Bäume herum sah er zwei Gestalten auftauchen. Wunder über Wunder. Das war Sybill. Und neben ihr ging Hugh Carpool, der Ingenieur der »Oakland«. 21
Vater und Tochter sanken sich weinend in die Ar me. Sie vergaßen über der Freude, sich lebend wie derzusehen, ihre Lage. Der Ingenieur mußte sie nach einer Weile daran erinnern. »Äh, Mr. Kennan, haben Sie noch jemand von der ›Oakland‹ gesehen?« Kennan schüttelte stumm den Kopf, worauf Car pool fortfuhr: »Dann schlage ich vor, daß wir jetzt erst einmal den Strand absuchen.« Sie schritten in die Richtung, aus der Kennan ge kommen war. Nicht weit von seinem ersten Platz fanden sie Jens Uhlen, den Steuermann. Er war der einzige, den sie noch entdeckten, ob gleich sie rings um die ganze Insel marschierten. Diese Wanderung gab ihnen jedoch wichtige Auf schlüsse über ihren Aufenthaltsort. »Wir befinden uns also auf einer unbekannten In sel von geringer Größe«, stellte Kennan fest, nach dem sie die Runde vollendet hatten. »Sie stellt den Ausläufer einer größeren Insel dar, die wir einige Kilometer östlich von hier liegen sa hen. Diese Insel ist bewohnt. Wir haben die Häuser unterhalb des Höhenzugs und den spitzen Turm auf der Höhe bemerkt. Es wird wohl das beste sein, wenn wir so schnell wie möglich versuchen, hinüber zu gelangen oder uns wenigstens bemerkbar zu ma chen, damit man uns hinüberholt.« »Wir kennen die Leute dort drüben nicht«, gab 22
Carpool zu bedenken. »Was, wenn man uns feindlich behandelt?« Kennan hob die Schultern. »Wir müssen es darauf ankommen lassen. Drüben müssen sich Weiße aufhalten, nach den Bauten zu schließen. Andererseits ist mir rätselhaft, wie sie auf diese Insel kommen sollten, von der man nie etwas gehört hat. Oder sind Sie der Meinung, daß wir vor einer bekannten, auf den Karten verzeichneten Insel Schiffbruch erlitten haben?« »Das halte ich für ausgeschlossen«, gab Carpool entschieden zurück. »Allenfalls kämen noch die Os ter-Insel oder Salay Gomez in Frage, aber erstens würde die Entfernung nicht stimmen, und zweitens kenne ich beide ganz genau. Diese Insel hier ist auf keiner Karte verzeichnet, darauf können Sie Gift nehmen. Warum meinen Sie denn überhaupt, daß dort drüben Weiße leben müßten?« »Weil es Steinbauten sind«, erwiderte Kennan. »Die Bauten der Südsee sehen für gewöhnlich anders aus. Ich denke ja nicht, daß wir Schwierigkeiten be kommen werden. Bemerken wird man uns ohnehin bald, aber es ist sicher besser für uns, wenn wir nicht erst lange darauf warten.« »Verhungern werden wir nicht gleich«, warf Uh len beruhigend ein. »Es gibt hier Fische und Palmen, außerdem genügend Trinkwasser. Das ist mehr, als man von einer einsamen Insel verlangen kann.« 23
»Trotzdem wollen wir nicht unnötig Zeit vertrö deln«, beharrte Kennan. »Wozu wollen wir hier Ro binson spielen, wenn wir drüben Tisch und Bett fin den können? Die Frage ist nur, wie wir die Leute am schnellsten aufmerksam machen können, falls sie bisher nichts von uns und unserem Schiffbruch be merkt haben.« »Wir schwimmen einfach hinüber«, schlug Sybill Kennan vor. »Ich bin Nichtschwimmer«, erklärte Carpool trok ken. »Ich ebenfalls«, schloß sich der Steuermann an. »Und mit mir ist es nicht weit her«, vollendete Kennan. »Dann schwimme ich allein.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Denk an die Haie und Klippen, an denen es hier sicher nicht fehlt. Aber begeben wir uns einstweilen auf die andere Seite, vielleicht bemerkt man uns auch so.« Sie schritten am Strand entlang der Ostseite der Insel zu, vier Menschen voller Hoffnung, die nicht ahnten, wie das Schicksal sie narrte. Voran ging George Kennan. Er war hochgewach sen und schlank, fast etwas schmal. Sein Gesicht zeigte klare, scharfgeschnittene Züge, eine hohe Stirn und darüber graumeliertes Haar. Sybill Kennans braunes Haar war wild zerzaust, 24
aber es paßte gut zu den leuchtenden braunen Augen und zu dem lebenskräftigen Ausdruck ihres Gesichts, zu der sonnendurchglühten Haut, durch die das Blut schimmerte, und zu den festen, weißen Zähnen. Das war kein Zierpüppchen, diese junge Frau, sondern ein warmer, lebendiger Mensch, der in Wind und Wetter nicht umfiel. Sybill Kennan durfte sich trotz der Unzulänglichkeit ihrer Kleidüng sehen lassen. Jung war sie übrigens auch, kaum älter als achtzehn Jahre. Hugh Carpool stampfte mit dem schweren Schritt des Seemannes an ihrer Seite. Er besaß das typische, etwas harte und bartlose Gesicht des Amerikaners. Er zeigte allerdings schon gewisse weiche Partien, die seine fünfzig Jahre verrieten. Fast im gleichen Alter stand wohl der Steuermann, der an der rechten Seite Sybills schritt. Während Carpool von mittlerer Größe war, konnte man Uhlen allenfalls als vierschrötig bezeichnen. Sein Gesicht war rot verwittert und derb, im Gesamtausdruck je doch recht gutmütig. Zähne und Haare existierten nur noch in wehmütigen Erinnerungen. Vom Ostrand aus konnten sie die gegenüberlie gende Insel recht gut erkennen. Der Sturm hatte nachgelassen, die Sonne begann eben durch die Wolken durchzubrechen und ihre warmen Strahlen auf die durchnäßten Körper zu werfen. In ihrem Licht sahen sie drüben einen dichtbewaldeten Hö 25
henzug mit dem herausragenden Turm, darunter, et was oberhalb des Strandes, einige graue Steinhäuser, die sich in den Wald hineinzogen. Menschen be merkten sie nicht. Sie warteten eine Weile in der Hoffnung, daß sich im nächsten Augenblick der jenseitige Strand bele ben würde. Doch nichts geschah dort drüben. Alles blieb still und unbewegt. »Seltsame Insel«, knurrte Carpool endlich ver drossen. »Entweder sind die Leute dort drüben blind, oder es lebt überhaupt niemand dort.« Kennan ließ die Hand, mit der er seine Augen be schattet hatte, sinken. »Ich muß zugeben, daß diese Häuser einen merk würdigen Eindruck von Verlassenheit auf mich ma chen. Es sind überhaupt seltsame Bauten. Ich erinne re mich nicht, jemals etwas Ähnliches gesehen zu haben, wenn auch die Entfernung keine einwandfreie Beurteilung zuläßt. Es wäre jedenfalls recht unange nehm für uns, wenn dort drüben niemand wohnen würde.« »Vielleicht schlafen sie alle?« warf Uhlen ein. »Ich werde doch hinüberschwimmen müssen«, drängte Sybill. Doch ihr Vater lehnte abermals ab. »Das wirst du sein lassen. Wir können auf einfa chere Weise feststellen, ob jemand dort drüben wohnt. Doch zunächst wollen wir noch warten.« 26
Sie bewegten sich hin und her, um den Bewohnern der Insel Gelegenheit zu geben, sie zu bemerken. Mit dieser Beschäftigung verbrachten sie eine halbe Stunde. Dann war die Geduld des Ingenieurs am En de. Er nahm Kennan beim Arm und brummte: »Hö ren Sie, Mr. Kennan, Sie wollen doch nicht etwa e wig hier herumlaufen und warten, bis wir abgeholt werden? Ich friere wie ein junger Hund, Hunger habe ich auch, und in einer Stunde ist die Sonne unterge gangen. Wir müssen uns auf die Nacht einrichten.« Kennan sah die Berechtigung dieser Mahnung ein. »Wir sind einer Meinung, Mr. Carpool. Das beste ist wohl, wenn wir vor allem ein Feuer entzünden. Das wird uns die erforderliche Wärme geben und ist das sicherste Mittel, um die Leute in den Häusern auf uns aufmerksam zu machen.« »Feuermachen ist gut«, knurrte der Ingenieur, »a ber haben Sie Streichhölzer bei sich?« Kennan sah ihn betroffen an. »Streichhölzer? Hm, richtig, wir müssen ja das Feuer anzünden können.« Sie kramten beide in ihren Taschen, konnten aber nichts entdecken, womit sie Feuer entfachen konn ten. Ratlos winkte Carpool schließlich dem Steuer mann, der mit Sybill weiter unten am Strand auf und ab ging. »Hallo Uhlen, haben Sie Streichhölzer?« Der andere grinste. 27
»Streichhölzer? Nein, die würden ohnehin aufge weicht sein. Aber ich kann Ihnen mein Feuerzeug zur Verfügung stellen.« »Gott sei Dank!« Die beiden Männer atmeten auf. Uhlen und Sybill kamen heran. Nach kurzer Be sprechung über ihre Lage gingen sie gemeinsam an die Arbeit. Sie bestanden im wesentlichen darin, daß sie Holz zusammentrugen und heruntergefallene Ko kosnüsse auflasen. Als die Sonne sank, loderte das Feuer auf. Sie hat ten es am östlichen Rand des Palmenhains entfacht. Der Schein zuckte über die hohen, glatten Stämme und schuf gespenstische Schatten. Schweigsam setz ten sie sich dicht herum. Ihren Hunger hatten sie mit dem weißen Fleisch der Nüsse gestillt, ihren Durst an dem winzigen Bach gelöscht, ihre Kleidung war tro cken, und trotzdem stand die Stimmung außerordent lich tief. Gedrückt und unlustig hockten sie zwischen der hellen Flamme und der Schwärze der Nacht im Sand. Erschöpfung und Müdigkeit lagen in ihren Gliedern, und doch kamen sie nicht zur Ruhe, weil alle vier nicht gewöhnt waren, auf der bloßen Erde unter freiem Himmel zu schlafen, vorn geröstet zu werden und hinten zu frieren. Sie litten unter der quälenden Ungewißheit ihrer Lage ebensosehr wie unter der Unbequemlichkeit ihrer Verhältnisse. In ihren Ohren lag das Prasseln und Knistern des bren nenden Holzes, aber zugleich versuchten sie, von der 28
fernen Insel einen Laut, das Zeichen eines Menschen aufzufangen. Eine Stunde nach der anderen verging. Allmählich sanken ihre Körper um und entspannten sich. Sie fie len in einen unruhigen Halbschlaf voll düsterer, ver wirrender Träume. Niemand von ihnen sah, wie sich auf der Hauptin sel ein Jüngling ins Meer stürzte und mit gleichmä ßigen, starken Stößen zu ihnen herüberschwamm. Niemand beobachtete, wie er in geringer Entfernung von ihnen aus dem Wasser stieg und sich geräuschlos an sie heranschlich. Niemand merkte, daß zwei helle, scharfe Augen ihren Schlaf verfolgten. Und doch schreckte Kennan plötzlich aus irgend einem Grund hoch und starrte um sich. Und da sahen seine Augen plötzlich den Unbekannten, der wenige Meter von ihm entfernt im matten Schein des herun tergebrannten Feuers stand. Er sah einen jungen Menschen vor sich, der auf der Grenze zwischen dem Jünglings- und Mannesal ter stehen mochte. Seine Beine waren mit einer brau nen, groben Hose bekleidet, die sich eng an die har ten Muskeln der Schenkel anlegte. Sein Oberkörper war nackt. Er war eher schlank als breit, aber die Muskulatur war kräftig ausgebildet und verriet athle tische Stärke. Dazu paßte der kraftvolle Ausdruck der leicht vorspringenden Kiefer, der festen Lippen und der kühnen Nase. Die Haare des Fremden waren 29
hell, seine Augen blau oder grau, die Haut war im Grundton weiß. Alle diese Feststellungen traf Kennan im flüchti gen Bruchteil einer Sekunde. Zu einer eingehenden Betrachtung hatte er keine Zeit, denn die Haltung des Unbekannten veranlaßte ihn, schleunigst aufzusprin gen. Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß er wenig freundliche Absichten hatte. In seiner rech ten Hand schwang er ein schweres Beil, und sein Ge sicht verriet, wozu er es benutzen wollte. Kennan wußte wohl, daß er gegen diesen Fremden nicht viel ausrichten konnte. Er war körperlich unter legen und außerdem unbewaffnet. Er wußte auch, daß ihm die Hilfe der anderen nichts nützen könnte. Trotzdem stieß er einen lauten Warnschrei aus. Sybill Kennan war schon aufgewacht, als ihr Vater aufsprang. Sie erkannte die Gefahr, warf sich mit ei nem Aufschrei dem Angreifer entgegen und um klammerte dessen Arm. »Nicht, nicht!« schrie sie. »Sehen Sie denn nicht, daß Sie einen Wehrlosen vor sich haben?« Der Arm des halbnackten Jünglings blieb mitsamt dem Beil in der Schwebe. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck des Staunens und des Suchens. Er sah aus wie ein Mensch, der urplötzlich in eine neue Situation gestellt wird und nicht fähig ist, sie zu be greifen. Es war eine seltsame Gruppe. Der Schrei Kennans 30
hatte die beiden anderen Männer ebenfalls aus dem Schlaf gerissen. Sie saßen mit nicht gerade geistrei chen Gesichtern im Sand und starrten auf den Unbe kannten. Sybill stemmte sich gegen den Arm des Fremden. Dann kam es hart und schroff aus dem Mund des Jünglings: »Ihr müßt sterben, Mac will es.« Sie verstanden, was er sagte, und weil sie das ei gentlich am wenigsten erwartet hatten, kam es ihnen überraschend. Dieser Fremde sprach ein schwerfälli ges Englisch, aber das lag weniger in den Worten und Sätzen als in den Bewegungen der Lippen. Er sprach wie ein Mensch, der in seinem Leben nicht viel gesprochen hat. »Wer sind Sie?« fragte Sybill. Der Halbnackte blickte sie grübelnd an, schien a ber die Frage verstanden zu haben, denn er erwiderte: »Rob.« »Rob?« wiederholte sie. »Robert?« Er nickte. Es schien ein starkes Erlebnis für ihn zu sein, seinen Namen aus dem Mund der Frau zu hö ren. »Ich heiße Sybill Kennan«, fuhr sie fort und sah ihn dabei fest an. Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern fing ihn mit seinen hellen Augen. Seine Lippen murmelten tonlos und doch zugleich irgendwie andächtig: »Sy bill, Sybill?« 31
Die drei Männer näherten sich den beiden, nach dem sie untereinander Blicke getauscht hatten. Sofort straffte sich die Gestalt des Fremden, sein Arm wur de stählern. Sybill Kennan wandte sich um und er kannte, was vorging. Sie spürte die Absicht der Männer und ahnte zugleich den Ausgang. Deshalb rief sie halb angstvoll, halb entschieden: »Nicht, bleibt stehen, es gibt nur ein Unglück.« Die drei waren vernünftig genug, es einzusehen. Außerdem gewannen sie nicht den Eindruck, daß der Fremde dem Mädchen etwas zuleide tun wollte. Deshalb verhielten sie sich still. Sybill blickte wieder in das grübelnde Gesicht Robs. »Sind Sie wirklich gekommen, um uns zu töten?« Seine Gedanken schienen aus der Ferne zurückzu kehren. »Ja.« Er nickte. »Ich soll euch töten. Mac hat es befohlen.« »Aber wir haben euch doch nichts getan«, rief sie mit leichtem Zorn. »Wir sind Schiffbrüchige, die auf den Strand geworfen wurden.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß, aber es sollen keine Fremden auf die Insel kommen. Ihre Schiffe gehen unter, und sie ster ben im Wasser, sonst müssen sie getötet werden.« »Aber warum?« »Sie sollen nicht auf die Insel.« Er wandte sich 32
dabei halb um und wies mit dem freien Arm nach der großen Insel. »Wir sind doch gar nicht dort und haben auch nicht die Absicht, sie aufzusuchen«, kämpfte Sybill unbeirrt weiter. Er dachte darüber nach, dann erklärte er schwer fällig: »Ich weiß nicht – ich muß noch einmal mit Mac darüber sprechen. Er will nur nicht, daß Fremde auf die große Insel kommen. Ich werde euch nicht töten.« Sie atmete auf und gab den drei Männern ein Zei chen. »Komm, Dad, das Mißverständnis ist beseitigt. Er will uns nichts tun. Rob heißt er.« »Kennan ist mein Name.« Der Wissenschaftler streckte seine Hand aus. Rob berührte sie, als hätte er nie von einem Hän dedruck gehört, ließ sie wieder fallen und murmelte: »Kennan?« Ähnlich wiederholte er auch die Namen der beiden anderen Männern, als müßte er sie auswendig lernen. Dann trat eine Pause ein, in der Befangenheit und Unsicherheit lagen. Niemand wußte recht, was weiter geschehen sollte. Da trat der junge Fremde plötzlich aus dem Kreis heraus, ging an das zusammengesunkene Feuer heran und warf frisches Holz auf. »Die Nacht wird kalt«, sagte er. »Du frierst, Sy 33
bill, du auch Kennan, du auch, Carpool, und du auch, Uhlen.« Ein Schimmer von Freude lag dabei auf seinem Gesicht. Es schien ihm Vergnügen zu bereiten, die fremden Namen auszusprechen. Da hellten sich auch die Gesichter der anderen auf. Das Eis war gebrochen. 2. »Star of California« … Das Herz lachte einem, wenn man das Schiff nur sah. Und wenn man gar Kapitän darauf war, hatte man allen Anlaß, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Hanns Krotthoff war es. Er dehnte sich vor Ver gnügen, während er wie so oft seine Blicke über das Deck der schmucken Jacht gehen ließ. Schmal und rassig war sie wie ein junges Mädchen, nervös am Steuer wie ein Vollblut und funkelnagelneu wie die erste Monatsrate. Watson mußte ein Schiffsnarr ge wesen sein, daß er in eine so verhältnismäßig kleine Zahl von Bruttotonnen soviel Geld gesteckt hatte. Das war keine gewöhnliche Vergnügungsjacht mehr, sondern eine künstlerische Schöpfung, die schlecht hin alle Ansprüche erfüllte. Sie lief schneller als ein Torpedobootsjäger und war zugleich luxuriös wie ein Millionärspalast. Selbstverständlich waren alle Schi 34
kanen vorhanden: von der Gasfeuerung über die elektrische Küche bis zum Parfümzerstäuber. Sun Koh hatte die Jacht für einen Bruchteil ihres Wertes erworben. Es war ein herrliches Schiff, aber es hatten sich so merkwürdige Dinge auf ihm ereig net, daß es stark in Verruf gekommen war. Dabei hatte es bisher nur eine Fahrt hinter sich. James Watson hatte es bauen lassen und von San Francisco aus darauf die Jungfernfahrt nach Hong kong angetreten. Er hatte ein Dutzend Leute als Gä ste bei sich gehabt – und keiner von diesen sah gern wieder in die Richtung, in der das Schiff lag. Der Besitzer hatte Hongkong nicht erreicht. Er war auf hoher See gestorben. Man sprach von einem Herzschlag, hob aber gleichzeitig bedeutungsvoll die Schultern. Er konnte nichts mehr erzählen, um so mehr taten es seine Gäste, nachdem sie einmal siche ren Boden unter sich fühlten. Sie schworen samt und sonders, nie wieder einen Fuß auf die Planken der Jacht zu setzen, und schilderten dann, wie es gleich hinter Frisco ausgebrochen sei. Gespukt habe es in allen Ecken, es sei ein Wunder, daß nicht alle vor Angst gestorben seien. Einzelhei ten klangen so seltsam, daß man sie nur mit Unglau ben aufnehmen konnte. Aber bei allen Zweifeln –mit der »Star of California« war etwas nicht in Ordnung. Das genügte, ihren Kauf wert bis auf ein Drittel her abzusetzen. 35
Hanns Krotthoff hatte die Arme gereckt und ge lacht. Er würde dem Spuk schon ein Ende bereiten. Er hatte die Besatzung ruhig ziehen lassen und sich eine neue Mannschaft angemustert, handfeste Kerle, die sich vor Tod und Teufel nicht fürchteten. Nur zwei hatte er übernommen, erstens, weil er für sie keinen passenden Ersatz fand, und zweitens, weil die Leute gern von sich aus bleiben wollten. Der eine war der Oberheizer und der andere der Schiffsarzt. Acht Tage nach der ersten Besichtigung war die Jacht in See gegangen. Außer dem Kapitän waren dreißig Mann Besatzung, ferner Sun Koh, Hal Mer vin und Nimba an Bord. Das Ziel war die unbekann te, geheimnisvolle Insel, die irgendwo im Großen Ozean südlich der Oster-Insel liegen sollte. Die »Star of California« befand sich jetzt nördlich der Marschallinseln. Sun Koh war mit seinen beiden Freunden schon seit einigen Tagen nicht mehr an Bord. Er hatte mit seinem Flugzeug einen Abstecher nach der Insel Ponape unternommen, von dem er heute oder morgen zurückerwartet wurde. Eben kam Carnell, der aus der alten Besatzung ü bernommene Schiffsarzt, die Treppe herauf. Krotthoff rief ihn an: »Hallo, Doktor, frische Luft schnappen?« Carnell kam langsam herangeschlendert, die Hän de in den Hosentaschen, und knurrte: »Warum nicht? Es ist wenigstens eine Abwechslung. Verflucht 36
langweilige Geschichte hier auf dem Kasten. Ihre Leute sind alle zu gesund, Kapitän.« »Seien Sie doch froh.« Krotthoff lachte. »Besser ein Arzt, der Langeweile hat, als ein Schiff voll kranker Leute.« Eine Weile starrten die beiden Männer schweigend voraus, dann sagte Krotthoff: »Der Spukgeist scheint uns ganz hübsch im Stich zu lassen, Doktor. Ich den ke, auf der Fahrt nach Hongkong war hier auf dem Schiff so viel los? Da haben Sie bestimmt nicht an Langeweile gelitten. Aber wahrscheinlich hatten Sie nur ein paar hysterische Weiber an Bord.« »Das auch«, brummte Carnell, »aber mit dem Spuk hatten die nichts zu tun. Wünschen Sie sich die Geschichte lieber nicht auf den Hals.« Der Kapitän lachte. »Denken Sie etwa, daß ich von dem ganzen faulen Zauber auch nur ein Wort glaube? Ich würde dem Spuk rasch ein Ende ma chen.« Carnell setzte zur Antwort an, aber da ertönte plötzlich hinter dem Rücken Krotthoffs eine fremde Stimme: »So siehst du gerade aus.« Der Kapitän fuhr herum. »Was?« »Sehen Sie, da geht’s schon los«, meinte Carnell. »Quatsch. Da hat sich einer von den Leuten einen Witz gemacht. Gnade ihm Gott, wenn ich den Kerl erwische.« »Großmaul«, äffte die Stimme. 37
Diesmal drehte sich der Kapitän noch schneller um seine Achse als vorher. Aber wieder erwischte er den Rufer nicht. Das Verdeck hinter ihm war leer und still. Die nächste Ecke der Aufbauten, um die jemand hätte verschwinden können, war annähernd zehn Meter entfernt. Der Mann hatte aber dicht hinter ihm gesprochen. Es war unmöglich, daß jemand im Bruchteil einer Sekunde so schnell verschwinden konnte. Und Schritte waren auch nicht zu hören ge wesen. »Mannometer«, murmelte er, »das ist doch viel leicht ein dicker Wauwau. Wo mag der Kerl nur ste cken?« »Da können Sie lange suchen«, sagte Carnell teil nehmend. »Geister sind nun mal unsichtbar.« Krotthoff wurde wild. »Reden Sie kein Blech, Doktor. Geister! Ha, daß ich nicht wiehere. Grober Unfug ist es, aber keine Geister.« »Na«, meinte der andere, »wenn Sie nur nicht Ihre Meinung noch ändern. Es hat schon manchen gege ben, der erst große Töne redete und nachher sehr kleinlaut wurde. Ich halte jede Wette, daß Sie in ein paar Tagen anders denken.« »Ich wette dagegen«, brummte der Kapitän etwas unwirsch. Der Funker kam aus seiner Kabine gestürzt und meldete, daß Sun Kohs Maschine im Anflug sei. 38
Eine halbe Stunde später setzte das Flugzeug auf dem Vorderdeck der Jacht auf. Sun Koh, Nimba und Hal sprangen heraus. Krotthoff schüttelte einem nach dem anderen die Hand. »Glücklich zurück?« »Wie Sie sehen«, rief Sun Koh gutgelaunt. »Ist hier alles in Ordnung?« »Jawohl.« »Schön, dann wollen wir uns erst mal wieder menschlich machen. In den Urwäldern dieser Inseln gibt es kein Warmwasser.« Eine Stunde später saßen sie sich im kleinen Salon gegenüber. Der Kapitän wartete geduldig, bis Sun Koh zu sprechen begann. »Die Berichte stimmen«, sagte Sun Koh. »Wir wa ren zunächst auf der Karolinen-Insel Ponape. An de ren Ostküste fanden wir die beschriebenen Ruinen. Es war ein merkwürdiger Anblick. Stellen Sie sich vor: Fünfzig künstliche Inseln von verschiedenster Größe, manche klein und nur zwei Meter über dem Wasserspiegel aufragend, andere wieder außeror dentlich groß, mit Höfen, gepflasterten Plätzen und Grabstätten aller Art. Jede einzelne aber ist umgeben von Steinmauern, die aus langen, abwechselnd kreuz und quer gelegten Basaltblöcken gebildet werden und fast gänzlich von Schlingpflanzen, Farnen und Sträuchern überwuchert sind. Die Eingeborenen nen nen diese Bauten Nanmantal. Die größten der Bauten 39
führen besondere Namen. Die eine heißt zum Bei spiel Itet, die andere Nan-Tauatsch. In diesem NanTauatsch haben wir Basaltblöcke bis zu vier Meter Länge und ein Quadratmeter Querschnitt gefunden. Die äußere Mauer umschließt hier eine Fläche von sechzig Meter Länge und fünfunddreißig Meter Brei te. Die Mauer selbst hat eine Höhe von neun Meter und eine Dicke von acht Meter.« »Donnerwetter«, murmelte der Kapitän verblüfft. »In dem Innenhof selbst«, berichtete Sun Koh wei ter, »müssen früher eine Anzahl riesiger Säulen ge standen haben, deren Trümmer wir jetzt unter Tro pengestrüpp und Farnkräutern am Boden fanden. In der Mitte erhebt sich noch jetzt ein eigenartiges Grabgewölbe, das ebenfalls aus gewaltigen Basalt säulen gebildet ist. Die Eingeborenen berichten dar über, daß es das Grabmal eines Königs sei, der im Kampf gegen Feinde aus dem Süden gefallen sei. Im übrigen scheint den Eingeborenen aber jede Erinne rung an die Erbauer dieser seltsamen Bauten ent schwunden zu sein. Die Ruinen stehen völlig bezie hungslos zu dem Leben der jetzigen Bewohner. Das ist auch ganz natürlich, denn zweifellos hat die jetzi ge Bevölkerung nichts mit den Schöpfern der künst lichen Inseln zu tun. Denselben Eindruck hatten wir auch in Lele.« »Sie waren auch noch dort unten?« »Wie vorgesehen. Da das Wetter günstig war, 40
machten die zweihundertfünfzig Seemeilen weiter nach Süden keine Schwierigkeiten. Sie wissen, daß Lele unmittelbar vor der östlichen Karolinen-Insel Kusaie liegt. Während Kusaie jedoch bis zu sieben hundert Meter in wildzerrissenen Felsen aufsteigt, ist Lele selbst flach. Diese Insel ist eine der merkwür digsten Dinge, die mir je begegnet sind. Ich hätte Ih nen den Anblick wahrhaftig gegönnt. Die ganze Insel ist ein einziger riesiger Trümmerhaufen ehemaliger gewaltiger Bauten. Rings um die Insel ziehen sich mächtige Mauern, Werften und Kaie. Weiter oben sind noch die Ruinen eines starken Schlosses zu se hen, dessen Mauern noch heute eine Höhe von sie ben Meter und eine Dicke von fünf Meter besitzen. Diese kleine Insel muß vor sehr, sehr langen Zeiten ein vortrefflich geschützter Hafen und eine unein nehmbare Festung gewesen sein. Auch hier haben die Eingeborenen nicht die geringste Überlieferung von den Erbauern. Die Ruinen, zwischen denen sie leben, sind ihnen ebensosehr Rätsel wie jenem Euro päer, der sie zuerst entdeckte.« Krotthoff schüttelte den Kopf. »Ich muß schon sagen, daß ich einigermaßen sprachlos bin. Als Sie mir in Hongkong den Reisebe richt zu lesen gaben, habe ich die Geschichte für Schwindel gehalten. Und wenn Sie es nicht wären …« »Würden Sie mich einen Lügner nennen«, vollen dete Sun Koh. 41
Krotthoff machte eine entschuldigende Bewegung. »Sagen Sie selbst, Mister Koh, klingt das nicht ge radezu phantastisch, was Sie da erzählen? Diese In seln in Mikronesien sind meines Wissen zwar alle idyllisch, aber auch nicht viel mehr. Die Eingebore nen sind nach unseren Begriffen unkultiviert. Sie le ben in Hütten aus Blättern und Holz, und nun sollen sie auf einmal so mächtige Steinbauten errichtet ha ben?« »Das hat selbst der Verfasser jenes Reiseberichts nicht zu behaupten gewagt«, sagte Sun Koh. »Jene Eingeborenen sind bestimmt nicht die Erbauer.« »Wer dann? Das nächste Festland ist Australien oder Neuguinea – na, und dort leben bestimmt auch keine Leute, die für solche Bauten verantwortlich zeichnen könnten. Der Reisende sprach ja von Japa nern, aber daran kann ich auch nicht recht glauben.« »Ich auch nicht.« Sun Koh lächelte. »Japanischen Ursprungs sind die Ruinen sicher nicht. Jener Rei sende hat die Bauten aber auch gar nicht den Japa nern zugeschrieben, sondern einem Volk, das vor den Japanern in Japan gelebt hat.« »Den Unterschied denke ich mir recht geringfü gig«, brummte Krotthoff. »Sie urteilen voreilig«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Zwei Völker können nacheinander ein Land be wohnt haben und dabei völlig verschiedenen Charak ter zeigen. Es steht jedenfalls fest, daß die Aino, die 42
jetzt in Japan leben, erst später dort hingekommen sind. Es steht ferner fest, daß vor ihnen ein mysteriö ses Volk die Insel bewohnt und sie dann aus irgend einem Grunde restlos geräumt hat. Man kann auch die Behauptung jenes Reisenden bejahen, wonach die Steinbauten auf Lele eine starke Ähnlichkeit mit den Grundmauern des alten Feudalschlosses von Osaka haben. Man kann also die Möglichkeiten offen lassen, daß tatsächlich die gleichen Leute, die einst die japanischen Inseln bewohnten, auch die Bauten auf Ponape und Lele schufen. Das alles bringt uns aber keinen Schritt dem eigentlichen Problem näher, wer nämlich jene Leute eigentlich waren.« »Und was ist Ihre persönliche Meinung?« Sun Koh hob die Schultern. »Es wäre unvorsichtig und voreilig, sich an Hand des geringen Materials eine Meinung zu bilden. Es genügt ja auch vorläufig völlig die überraschende Entdeckung, daß auf diesen weltverlorenen, ver träumten Inseln des Großen Ozeans einst ein ausge prägtes Kulturvolk geherrscht haben muß, das ohne Zweifel zwei Eigenschaften besaß, nämlich Krieg sund Seetüchtigkeit. Die Männer dieses Volkes wa ren bestimmt gute Krieger und gute Seeleute. Darauf weisen erstens ihre ausgedehnten Hafenanlagen und Schutzmauern hin und zweitens die Tatsache, daß sie es verstanden, die riesigen Steinmassen über das Meer hinweg nach Lele zu schaffen. Ich bin nunmehr 43
außerordentlich gespannt auf Tonga und auf die Os terinsel, besonders auf die letztere, denn dort sollen ja Inschriften zu finden sein. Aber nun berichten Sie über die Ereignisse während unserer Abwesenheit.« Der Kapitän schob ihm das Logbuch zu, das er schon mitgebracht hatte. »Es ist überhaupt nichts Besonderes vorgefallen. Sie finden hier die üblichen Eintragungen.« Sun Koh schob das Buch zurück. »Danke, dann kann ich mir die Einsicht sparen.« »Wollen Sie nicht von Ihrem Geist erzählen?« er kundigte sich Carnell, der bisher schweigend im Hin tergrund gesessen hatte. Krotthoff fuhr ihn wütend an: »Sie müssen natür lich von dem Quatsch anfangen. Es gibt wahrhaftig Gescheiteres zu besprechen.« »Was ist?« fragte Sun Koh. Der Kapitän war etwas verlegen. »Nichts, Sir. Es hat sich nur einer von den Leuten einen dummen Witz erlaubt und hinter meinem Rük ken Bemerkungen gemacht, als ich mich vor Ihrer Ankunft mit dem Doktor unterhielt.« »Warum spricht dann Mister Carnell von einem Geist?« Der Arzt war schneller als der Kapitän mit der Antwort bei der Hand. »Weil einer unmittelbar hinter Mister Krotthoff sprach und trotzdem auf weite Sicht nichts von ei 44
nem Menschen zu sehen war.« »Der Kerl ist ausgerissen«, knurrte der Kapitän. Carnell hob die Schultern und grinste. »Ausgerissen ist gut. Es ist Ihnen wohl gar nicht bewußt geworden, daß ich Ihnen gegenüberstand und jeden hätte sehen müssen, der sich Ihnen auf zehn Meter Entfernung genähert hätte. Ich versichere Ih nen aber, daß ich wohl die Stimme hörte, aber auch nicht einen Augenblick lang eine Spur von einem Menschen wahrnahm.« Sun Koh sah die beiden Männer prüfend an und sagte langsam: »Meine Herren, ich verstehe Sie noch nicht ganz. Nach Ihrer Darstellung haben Sie, Herr Kapitän, unmittelbar hinter sich sprechen hören, oh ne den Urheber entdecken zu können. Und Sie, Mi ster Carnell, sind der Überzeugung, daß es sich um eine ähnliche Erscheinung handelt wie jene, die Sie auf der ersten Fahrt dieses Schiffes kennengelernt haben.« »Jawohl«, bestätigte der Doktor, »es war ein Geist.« »Ach«, meinte Hal, »dem Kapitän hat vielleicht der Magen geknurrt.« Sun Koh sah ihn verweisend an. »Laß deine Bemerkungen, Hal.« Der sommersprossige Junge zog eine teils ent schuldigende, teils vorwurfsvolle Miene. »Verzeihung, Sir, ich meinte doch nur, daß es 45
Quatsch ist mit dem Geist. Sie glauben doch nicht etwa selbst, was der Doktor da sagt?« Carnell wandte sich mit einer Erregung, die die anderen zum Lachen brachte, zu Hal hin. »Du willst natürlich wieder alles besser wissen als ein erfahrener Mann. Für dich gibt es sowas wie Gei ster nicht. Warte nur ab, wenn du erst einmal hinter den Ohren trocken geworden bist, dann wirst du schon anders über solche Sachen denken.« »Das sollte mich schwer wundern«, meinte Hal grinsend. »Ich will Sie nicht beleidigen, Doktor, aber an den Schwindel von Geistern, Spiritismus und so weiter glaubt der älteste Papa nicht mehr. Das hat man früher den Leuten weismachen können, aber heute ist der ganze Humbug zu sehr bekanntgewor den.« Carnell war durchaus nicht beleidigt, sondern lachte nun ebenfalls. »Du hast noch keinen Respekt im Leib, mein Jun ge. Aber warte nur ab, das wird sich alles ändern. Schwindel ist Schwindel, aber Geist bleibt trotzdem Geist.« »Und Geschäft bleibt Geschäft«, ergänzte Hal doppeldeutig. Aus der ersten Begegnung zwischen Rob und den Schiffbrüchigen wurden Dutzende und Hunderte. Mehr und mehr verlor Rob die Scheu vor den Frem 46
den und bewegte sich bald ohne Argwohn unter ih nen wie unter guten Freunden. Er sorgte in wahrhaft rührender Weise für sie. Die Gestrandeten waren alle miteinander nicht übermäßig für eine Robinsonade begabt, außerdem lebten sie nicht auf einer üppigen Insel, die alle Bedürfnisse deckte. Er war es, der einige Hütten baute, er ver sorgte sie mit brauchbarem Werkzeug, er brachte Stoffe, aus denen sich Sybill Kleider nähen konnte, er deckte die an sich kärgliche Tafel mit Braten, Brotfladen und Früchten, die er von der Hauptinsel brachte. Rob war schlechthin unentbehrlich. Nur eins tat er nicht: Er erlaubte und half ihnen nicht, die große Insel aufzusuchen, von der er kam. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bevor Kennan die Gründe begriffen hatte. Für ihn war dieser blonde Jüngling ein Rätsel, das er zäh zu lösen versuchte. Das gelang ihm im gleichen Maße, wie der sprach lichen Ausdruck Robs Fortschritte machte. Kennan unterhielt sich stundenlang mit Rob und erreichte es auf diese Weise, daß der Gedankenausdruck Robs immer klarer und flüssiger wurde. Die entscheidende Unterhaltung, die über die nächste Zukunft der Schiffbrüchigen entschied, fand naturgemäß schon recht frühzeitig statt. »Wo befinden wir uns eigentlich?« fragte Kennan den jungen Mann. »Du stehst auf Rona«, sagte Rob bereitwillig. 47
»Und wie heißt die große Insel?« forschte der Amerikaner weiter, während er hinüber deutete. »Barra.« »Barra?« wiederholte Ingenieur Carpool verwun dert, der bei der Unterhaltung zuhörte. »Kommt Ihnen der Name bekannt vor?« fragte Kennan. Carpool nickte. »Barra ist eine Insel in der Gruppe der Neuen He briden oder Western-Inseln, die nordwestlich vor Schottland liegen. Wenn ich nicht irre, gibt es dort auch eine winzige Insel mit dem Namen Rona.« »Das wäre bemerkenswert«, meinte Kennan nach denklich. »Aber wir wollen weiter hören. Warum willst du uns eigentlich nicht auf die große Insel, die du Barra nennst, hinüberlassen, Rob?« »Mac würde euch töten.« »Wer ist Mac?« Rob schien die Frage nicht zu begreifen. »Ist er alt oder jung?« »Er ist viel älter als ich.« »Ist er der Anführer der Menschen, die auf der In sel wohnen?« Wieder grübelte Rob und suchte nach Ausdrücken. »Es ist niemand auf Barra«, erwiderte er schließ lich unbeholfen. Kennan sah ihn erstaunt an. »Niemand? Niemand außer dir und Mac?« »Es gibt niemand auf der Insel außer uns beiden.« »Unglaublich. Wie seid ihr denn 48
auf die Insel gekommen?« »Ich weiß es nicht. Wir waren schon immer da.« »Warum wollte Mac uns töten lassen, und warum verbietet er, daß wir auf die Insel kommen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Rob. »Mac will es nicht.« »Ich weiß es nicht – ich weiß es nicht.« Kennan mußte diese Redewendung noch oft hören. »Hast du gesehen, wie unser Schiff unterging?« fragte er weiter. »Ja.« »Wie geschah das?« »Der Vulkan brach aus«, gab Rob überraschend klar und sachlich Antwort. Kennan blickte wieder nach Barra. »Diese Insel stellt wohl ein vulkanisches Gebilde dar, aber sicher hat es hier seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden keinen Ausbruch gegeben. Der Krater ist anscheinend völlig geschlossen und abgerundet. Du mußt dich irren, Rob.« Rob schüttelte den Kopf. »Der Vulkan liegt unter dem Wasser. Nur manch mal schießt das Feuer für kurze Zeit hoch. Das ist weit dort draußen, wo dein Schiff versank.« Kennan verstand. Die »Oakland« war also un glücklicherweise gerade in einen solchen Ausbruch hineingelaufen. Solche Unterwasserbeben mit gele gentlichen Ausbrüchen über den Spiegel des Meeres hinweg sind gar nicht selten. In den Weltmeeren ent 49
stehen alljährlich Dutzende neuer Inseln infolge vul kanischer Ausbrüche, die nach kurzer Zeit wieder versinken. »Warum seid ihr beide, Mac und du, auf der Insel geblieben? Warum habt ihr sie nicht verlassen?« »Warum sollen wir Barra verlassen?« fragte Rob verwundert. »Nun, um zu den anderen Menschen zu gelan gen!« Rob schüttelte wie so oft den Kopf. »Mac will nicht zu den anderen Menschen, sie sind alle schlecht. Außerdem ist es so weit, daß nie mand über das Meer hinwegkommen kann.« »Habt ihr es versucht?« »Nein.« So ging das Gespräch oft genug im Kreis, mit im mer neuen Fragen und Antworten. Kennan ließ sich die Mühe nicht verdrießen, und Rob schien Gefallen am Sprechen zu finden. Im Laufe von Tagen und Wochen rundete sich das Bild. George Kennan gewann eine immer klarere Vorstellung von allem, was mit diesem Rob zusam menhing, zumal sich Rob nicht scheute, die Antwort auf offengebliebene Fragen von dem geheimnisvol len Mac zu holen. Er brachte sie freilich auch nur soweit, als Mac sie geben wollte. Vieles mußte sich Kennan selbst zu sammenreimen, vieles konnte er nur vermuten. 50
Es ergab sich folgendes Bild: Zunächst hatten die beiden Bewohner von Barra weder mit dem Turm noch mit den Häusern zu tun. Diese Bauten waren Überreste eines ausgestorbenen Volkes, Zeugen einer untergegangenen Kultur. So lange man sie nicht selbst gesehen und durchforscht hatte, ließ sich wenig darüber sagen. Mac und Rob wußten jedenfalls nichts darüber, wenn sie auch in einem der steinernen Häuser wohnten. Die Einzel stücke, die Rob gelegentlich mitbrachte, vor allem Schmucksachen, gaben keinen Zusammenhang mit einem bestehenden Kulturkreis. Andererseits stamm ten Stoffe und Werkzeuge, die Rob von der großen Insel herüberschaffte, sicher von Schiffen, die in frü heren Zeiten in der Nähe der Insel untergegangen waren. Sie trugen die Stempel europäischer Firmen und waren möglicherweise Strandgut von dem glei chen Schiff, mit dem die beiden zu der Insel gekom men waren. Es bestand bald kein Zweifel darüber, daß die bei den Männer selbst Schiffbrüchige waren. Der Schiff bruch mußte allerdings recht weit zurückliegen. Rob versicherte nachdrücklich, daß er sich nicht daran erinnern könne. Er mußte also damals sehr jung, ein Kind in den ersten Lebensjahren gewesen sein. Mac hatte ihn aufgezogen. Der Charakter dieses Mannes wurde vielleicht vom Menschenhaß, viel leicht auch von Menschenscheu beherrscht. Es 51
schien auch nicht ausgeschlossen, daß er wichtige Gründe besaß, sich vor den Menschen zu verbergen. Kennan erwog, daß er ein Verbrecher sein könne, der die ewige Einsamkeit dem Aufenthalt in einem Ge fängnis vorziehe. Auf alle Fälle war sein Menschen haß groß genug, um keine Begegnung mit den an dern Schiffbrüchigen zu wünschen. Zweifellos sah er es nicht gern, daß Rob sich dauernd auf der kleinen Insel Rona aufhielt. Und noch weniger Zweifel gab es, daß er mit allen Mitteln zu verhindern suchen würde, daß die Schiffbrüchigen die große Insel betra ten. Aus Robs Darstellung ging hervor, daß die »O akland« das zweite Schiff gewesen war, das die bei den von der Insel aus gesichtet hatten. Die Ankunft des ersten Schiffes lag rund zehn Jahre zurück. Auch dieses war dem unterseeischen Vulkan zum Opfer gefallen. Rob wußte aber nicht mehr, ob es damals Schiffbrüchige gegeben hatte und was aus ihnen ge worden war. Der unterseeische Vulkan brach mit einer gewis sen Regelmäßigkeit aus, wobei die Inseln von hefti gen Erdstößen erschüttert wurden. Er konnte natür lich nur Schiffe gefährden, die sich in einem Aus schnitt aus der Umgebung der Insel bewegten. Ei genartigerweise schien aber gerade dieser Ausschnitt besondere Anziehungskraft zu besitzen. Kennan er fuhr erst sehr viel später, daß der Insel umfangreiche Klippengebiete vorgelagert waren, die bis dicht an 52
die Oberfläche reichten, daß gerade in jenem gefähr lichen Ausschnitt die offene Einfahrt lag und daß dort eine starke Wechselströmung arbeitete. Wie furchtbar der Vulkan sein Werk verrichtete, erlebten sie eines Tages in grauenhafter Weise. Am frühen Morgen sichtete Carpool die Rauch fahne eines Dampfers. Freudig teilte er es den ande ren mit. Von nun an hingen aller Augen in fiebernder Erwartung am Horizont. Bevor das Schiff selbst über die Kimme kam, verdunkelte sich jedoch der Him mel, und eines der furchtbaren Unwetter zog herauf, wie sie in der letzten Zeit schon mehrere kennenge lernt hatten. Damit war das Schiff ihrer Beobachtung entzogen. Trotzdem gaben sie die Hoffnung nicht auf. Wenn es einmal gelang, den Dampfer auf die Insel und auf sie aufmerksam zu machen, würde das Schiff sicher früher oder später nach dem Abflauen des Sturmes zurückkommen und sich um sie kümmern. Der Holzstoß, der seit Wochen bereitlag, flammte trotz Regen und Sturm auf. Sie deckten das Feuer mit ihren Körpern, bis es stark genug war, um den Güs sen zu widerstehen. Sie hofften, daß es etwas nützen würde, weil sie hoffen wollten. Jeder von ihnen sah aber, wie der Sturm das bißchen Feuer zerriß und wie wenig das Feuer durch die Dunkelheit des strömen den Regens zu dringen vermochte. Den ganzen Tag hielten sie sich trotz stark fort 53
schreitender Erschöpfung draußen und spähten nach dem Schiff, ohne es ein einziges Mal mehr zu be merken. Gegen Abend traf ein mächtiger Erdstoß die Insel, so daß sie im ersten Schreck fürchteten, das Ende sei gekommen. Ein zweiter Stoß, dann flammte draußen auf dem Meer eine rote Feuergarbe auf, breitete sich fächerförmig aus und brach wieder zusammen. In dem Feuerschein sahen sie das Schiff, nach dem sie so viele Stunden ausgeschaut hatten, wie es den Bug schräg nach oben richtete. Dann sanken sie wie betäubt zusammen. Am nächsten Tag trieben einige Trümmerstücke des Schiffes am Strand von Rona an. Von ihrer Hoffnung war nichts geblieben. Bei einer ähnlichen Katastrophe mochte Rob auf die Insel gekommen sein. Nach seinen Worten war er damals ein Kind gewesen, und seine Wesensart be stätigte das. Rob besaß nicht die geringste Anschau ung von der Welt außerhalb dieser Insel. Mac hatte es wohl absichtlich vermieden, ihn einzuführen. Die Seele des jungen Menschen war noch gänzlich unge formt und sein Geist ein Brachland. Es fehlte ihm das Wissen um unzählige Dinge, die seinen Altersgenos sen selbstverständlich waren, es fehlte ihm das Erle ben sozialer Beziehungen und damit ethische Wer tungen und große Teile der Gefühlsskala. Aber sein Wesen war gut und edel. Es wurde Ken 54
nan zur köstlichen Freude, Rob mit den Begriffen und Denkweisen einer fernen Welt vertraut zu ma chen, seine Seele zu formen und die Anschauungen seiner eigenen Seele einzupflanzen. Er spürte, daß er Erfolg hatte. Rob nahm willig und freudig auf und ließ sich im besten Sinn formen. Nach Monaten war er wie ein junger Baum, der im mer neue Blüten trieb. Natürlich verfügte er noch immer über keine planvoll anerzogene Bildung, mit der Schrift haperte es sogar noch gewaltig, aber er besaß eine hervorragende natürliche Intelligenz und wußte genau so viel, wie ihm sein väterlicher Freund in tausend Gesprächen geboten hatte. Und das war sicher mehr, als Hunderttausende seines Alters ihr geistiges Eigentum nennen konnten. Kennan hatte seine helle Freude an ihm. Aber auch seine Sorge. Sie stieg im Laufe der Monate immer häufiger in ihm auf, je öfter er Rob mit Sybill zusammen sah. Und sie waren oft zusammen. Es konnte kaum ein schöneres Bild geben, als wenn diese beiden zusammenstanden. Kennan las in der Seele Robs wie in einem offe nen Buch, und Sybill konnte keine Geheimnisse ver bergen. Er wußte, was es bedeutete, wenn sich die beiden nach wilder Jagd oder Schwimmtour oft schweigsam und nachdenklich gegenübersaßen, wenn sie sich manchmal scheu von der Seite her mu 55
sterten, wenn manche einfache Bewegung plötzlich wie eine Liebkosung aussah. Er wußte, warum Sybill zeitweise jäh in ihren Stimmungen umsprang, er deu tete Blicke und Worte. Während die beiden jungen Menschen sich erst ahnten und noch weit entfernt von Deutung oder Einverständnis waren, fühlte er bereits die Gewiß heit. Rob liebte Sybill, und Sybill liebte Rob. Es war im Grunde genommen kein Wunder. Beide standen im Alter der treibenden Kräfte, und beide waren aufeinander angewiesen. Beide schienen für einander bestimmt zu sein, so gut ergänzten sie sich. Täglich kamen sie einander näher. Was Rob an Kul tur und Erziehung gewann, das gewann Sybill an Na tur und an Freiheit von vergangenen Bindungen. Kennan seufzte manchmal, wenn er in stiller Nachtstunde an einer Palme lehnte, über das Meer hinaussah und dabei das Schicksal dieser beiden be dachte. Was sollte werden, wenn sich die beiden ihrer Liebe bewußt werden? Was konnte er dagegen tun? Vielleicht waren sie noch für Jahre, vielleicht für immer verurteilt, hier auf der Insel leben zu müssen. Dann war es unmöglich, die zwangsläufige Entwick lung aufhalten zu wollen. In der Einsamkeit des Weltmeeres würde dann hier ein neues Geschlecht entstehen. 56
Doch die Einsamkeit schien fast das kleinere Übel. Schwerer und verwickelter wurde das Problem erst, wenn eines Tages doch die Rückkehr in die Heimat erfolgte. Würde es dann gelingen, Rob in die neuen Verhältnisse überzuführen, ihn einzugewöhnen und zu einem Amerikaner zu machen? Würde sich Sybill nicht plötzlich in das zurückverwandeln, was sie ge wesen war? Würde nicht die Kluft zwischen den bei den Menschen, die er hier zusammen gab, trotz aller Liebe aufreißen, so daß keine Überbrückung erfolgen konnte? George Kennan konnte sich diese Fragen nicht be antworten. Er ließ sie offen und trug sie als seine Sorgen. Carpool und Uhlen wußten natürlich darum, da sie ja ebenfalls Augen im Kopf hatten. Gelegent lich sprachen sie auch gemeinsam darüber, aber ei nen Rat konnte keiner von beiden geben. So vergingen die Monate, einer nach dem anderen. Ein Schiff wurde nicht wieder sichtbar. Und dann, ohne daß es ihnen recht bewußt wurde, war plötzlich ein volles Jahr in die Ewigkeit hinabge sunken. 3. Hal Mervin war sehr müde und schlief entsprechend schnell ein. Er wußte nichts von Sorgen und Nervosi tät. Er schlummerte tief und fest wie ein junges Tier. 57
Trotzdem erwachte er mitten in der Nacht. Ein un gewohntes Geräusch mußte ihn aufgeschreckt haben. Da er auf dem Rücken lag, bemerkte er zunächst nur die niedrige Decke und ein Stück der inneren Wand, auf die durch das Bullauge ein matter, zer streuter Schein von außen fiel. Es war ein gelbliches, weiches Licht, und es war so schwach, daß man den Raum eher als dunkel denn als hell bezeichnen muß te. Immerhin waren die Gegenstände leidlich zu er kennen. Hal wälzte sich langsam auf die Seite. Er wußte, daß ihn etwas Außergewöhnliches geweckt hatte, und wollte nun sehen, was es gewesen war. Er hatte die Drehung noch nicht vollendet, als er zusammen zuckte. Das war doch die Höhe! Mitten im Raum stand ein Geist! Hal sah ein langes, hemdähnliches Gewand, unter dem Füße erkennbar waren. Der Kopf über dem Ge wand war ein Männerkopf mit hohlen Backen und auffallend glühenden Augen. Dieser Kopf bewegte sich langsam hin und her, als wollte er Verwunderung und Tadel zum Ausdruck bringen. Hal Mervin sprangen fast die Augen aus dem Kopf. So etwas war ihm denn doch noch nicht vor gekommen. Mitten in der Kabine und nur ein paar Meter von ihm entfernt! 58
Und jetzt begann der Geist auch noch zu sprechen. Mit rauher, heiserer Stimme dröhnte er: »Ich grüße dich auf dem Weg ins Totenreich. Mache dich be reit.« Hal fauchte: »Das könnte dir so passen. Wer bist du?« »Ich bin der Geist des Fliegenden Holländers. Ma che dich bereit.« Hal holte tief Atem. »Du sprichst ganz hübsch amerikanisch für einen Holländer, mein Lieber. Mach du dich bereit, näm lich zu verschwinden, sonst bringe ich dir das Flie gen bei.« Mit einer gleichgültigen Feierlichkeit, die fast et was Unheimliches an sich hatte, sagte der Geist: »Mache dich bereit, deine Stunde ist gekommen.« Hal wurde wütend. »Deine auch! Verschwinde, sonst…« Er richtete sich auf und griff nach seiner Pistole, die auf dem Nachttisch lag. Sie war geladen. Er legte den Sicherungsflügel um. Während er die Beine her umschwang und sich auf die Bettkante setzte, legte er an und vollendete: »… sonst knalle ich dir eine Kugel auf den Pelz, daß dein Hemdchen aus der Fa çon kommt. Ich zähle bis drei. Eins – zwei…« »Mache dich bereit!« widerholte der Geist hart näckig. » …drei!« Hal schoß. 59
Es war ein sicheres Ziel – aus höchstens drei Me ter Entfernung in die rechte Schulter. Der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen. Der Geist pendelte weiter mit dem Kopf hin und her, als hätte er nichts gespürt. Das war um so erstaunlicher, als Hal ganz deutlich gehört hatte, wie die Kugel weich eingeschlagen war. Hal spürte nun kalten Schweiß auf der Stirn. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Er wollte sich mit seinen Händen Gewißheit ver schaffen. Er zog sich zum Sprung zusammen. Plötz lich hörte er hinter sich ein höhnisches Meckern. Er ruckte herum. Hinter ihm befand sich die glatte Wand. War das nur eine Täuschung gewesen? Er drehte sich wieder um. Der Geist war ver schwunden, die Kabine leer. Spurlos verschwunden. Dabei hatte sich bestimmt die Tür nicht bewegt. Durch das Bullauge konnte er auch nicht entwichen sein. Hal zuckte zurück, als er den Kopf unwillkürlich zum Bullauge herumdrehte. Durch das runde Fenster starrte ein Gesicht herein. Das gleiche Gesicht, das er eben noch mitten in der Kabine gesehen hatte. Jetzt sah es freilich gräßlicher aus, weil es sich von drau ßen gegen die Scheibe preßte und die Fleischteile verschob. »Zum Teufel!« fluchte Hal und schoß. Das Gesicht verschwand. 60
Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen. Das elek trische Licht flammte auf. Im Türrahmen erschienen Sun Koh, Nimba, Krotthoff und zwei Matrosen. »Was ist geschehen?« fragte Sun Koh besorgt. Die Hand des Jungen, die die Pistole hielt, senkte sich langsam. Sein Gesicht war blaß. Seine Lippen zitterten vor Wut und Scham. »Was ist vorgefallen?« wiederholte Sun Koh seine Frage. Da raffte sich Hal zu einer Antwort auf und sagte kläglich: »Lachen Sie bitte nicht, Sir. Ich habe mich eben mit einem Geist herumgeschlagen.« Sun Koh musterte ihn erstaunt. »Mit einem Geist? Du hast wahrscheinlich ge träumt?« Hal schüttelte den Kopf. »Ich war so wach wie jetzt. Dort hat er gestanden, dort an dieser Stelle.« Nimba tippte vielsagend gegen seine Stirn. Krotthoff schickte einen seiner Leute nach dem Schiffsarzt. Hal berichtete nun ausführlich, was er erlebt hatte. Den anderen fiel es nicht leicht, ihn ernst zu nehmen. Als Hal geendet hatte, sagte Sun Koh: »Du hast also den zweiten Schuß gegen das Fenster gezielt. Wir wollen sehen, ob wir den Einschlag feststellen kön nen. Die Scheibe müßte ja eigentlich durch den Schuß zertrümmert worden sein.« Die Scheibe war ganz. Dieser Umstand war den 61
anderen auch schon aufgefallen. Bei näherer Betrach tung entdeckte man allerdings, daß sie tatsächlich von einer Kugel getroffen worden war. Das Geschoß hatte jedoch nur einige feine Risse in das Glas ge sprengt und war dann zu Boden gefallen. »Ein bemerkenswert zähes Glas«, stellte Sun Koh nachdenklich fest. »Splittersicheres Glas modernster Konstruktion«, erläuterte der eben eintretende Doktor von der Tür her. »Es besteht aus zwölf aufeinander verleimten Schichten und ist widerstandsfähig wie eine Panzer platte. Wir haben verschiedene Scheiben im Schiff, gegen die mit dem gleichen geringen Erfolg geschos sen wurde.« Sun Koh sah ihn prüfend an. »Was wollen Sie damit sagen?« Carnell hob die Schultern. »Es gab auf der ersten Fahrt dieser Jacht eine gan ze Reihe beherzter Männer, die den Geistererschei nungen ins Gesicht schossen und dabei die Glas scheiben trafen.« Eine Pause entstand, dann gab Sun Koh leicht spöttisch zurück: »Welche Voraussicht vom Erbauer des Schiffes, daß er vorsorglich die gefährdeten Scheiben aus solchem Glas herstellte.« Fast schien es, als zuckte der Doktor zusammen, als würde sein Gesicht bleicher. Doch seine Stimme klang gelassen, als er erwiderte: »Watson hatte sei 62
nen Spleen. Er wollte von allen Dingen das Modern ste haben, selbst wenn es eigentlich überflüssig war.« Sun Koh wandte sich wieder an Hal. »Den ersten Schuß hast du in dieser Richtung abgefeuert?« »Ja, Sir.« Der Neger warf ein: »Es ist ihm sicher so ergan gen wie mir damals in der Sonnenstadt.« Sun Koh nickte. »Daran dachte ich auch. Man hat ihn mit einem stereoskopischen Lichtbild genarrt. Dann müßte der Einschlag der Kugel hier an dieser Wand zu sehen sein.« Er brauchte nicht lange zu suchen, um zu einem niederschmetternden Ergebnis dieser Nacht zu kom men. Es war nicht das geringste von einem Kugelein schlag zu sehen. Die Wände waren glatt und unver sehrt. Betroffen sahen sich die Männer an. »Das ist erstaunlich«, sagte Sun Koh schließlich. »Entweder deine Erscheinung war von Fleisch und Blut, dann müßten wenigstens Blutstropfen zu sehen sein, obgleich es dann unerklärlich wäre, wieso der Mann so schnell verschwinden konnte. Oder deine Erscheinung war eine Bildspiegelung nach Garcias System, dann aber müßte an der Wand der Einschlag deines Schusses zu finden sein. Zwei Möglichkeiten, und doch scheint keine von beiden zu stimmen.« 63
»Warum lassen Sie die dritte Möglichkeit außer acht?« erkundigte sich Carnell. »Weil es keine Geister gibt«, antwortete Sun Koh kurz. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Sie sollten sich durch die Tatsachen eines Besse ren belehren lassen. Der Junge hat geschossen. Wo ist der Mann? Wo sind die Kugeln? Die einzige Er klärung ist, daß er es mit einem Geist zu tun gehabt hat. Ein Geist vermag alles. Der kann die Kugeln mit der Hand auffangen und in die Tasche stecken. Wä ren Sie nur auf der ersten Fahrt mit dabei gewesen. Ich sage Ihnen, da hat man noch ganz andere Dinge probiert. Mit Kugeln hat man den Geist gespickt, und er hat nur gelacht. Gefüllte Wasserflaschen hat man ihm in der Aufregung an den Kopf geworfen, und dann ist er mitsamt der Flasche verschwunden.« »Das ist alles Schwindel«, entgegnete Hal wütend. Zwischen Sun Kohs Brauen stand eine feine Falte. Nach einigem Hin und Her leerte sich die Kabine. Sun Koh blieb allein zurück. Nachdem er das Licht gelöscht hatte, legte er sich auf Hals Bett und wartete auf die geisterhafte Erscheinung. Er wartete vergebens. Fast zwei Stunden später kam aus Nimbas Kabine ein wildes Auf brüllen. Da raste Sun Koh hinüber. Nimba und Hal waren trotz aller Aufregung wie 64
der eingeschlafen. Der Neger auf seinem Bett, der Junge auf dem Diwan. Plötzlich erwachte Nimba von einem schleifenden Geräusch. Er riß die Augen auf und starrte unmittel bar auf die gleiche weißgekleidete Gestalt mit den glühenden Augen, die Hal so eingehend beschrieben hatte. Hal schlief. Einen Augenblick lang fühlte der Neger das über mächtige Bedürfnis, den Kopf unter die Decke zu stecken und sich tief einzuwühlen, aber er gab ihm nicht nach. Mit verzweifelter Willensanstrengung griff er zur Pistole. Da fiel ihm ein, daß Hal schon nutzlos geschossen hatte. »Mach dich bereit…«, begann der Geist zu mah nen. Da gab es einen Knacks in dem Neger. Sein hel denhafter Mut schoß glühend über die eingeborene Furcht empor. Er warf mit jähem Ruck die Decke beiseite, zog im Aufhocken seinen Körper zusammen und warf sich mit einem weiten Sprung auf die Er scheinung. Er erreichte sie. Seine Hände packten die Schul tern, dann fand sein fliegender Körper harten Wider stand, prallte ab … Plötzlich war es stockdunkel. Ein kräftiger Schlag traf Nimbas zurückstürzenden Körper, eine eiserne Hand klammerte sich wie eine 65
Zange um seinen Knöchel und preßte ihn schmerz haft. Da war es um Nimbas Besinnung geschehen. Die Angst wurde übermächtig in ihm, die Furcht stach wie Wahnsinn in sein Gehirn. Mit einem verzweifelten Ruck riß er sich los und brüllte gleichzeitig hemmungslos auf. Sein Fuß wur de frei, und er stürzte nach vorn an die Wand. Dort blieb er liegen, den Kopf in die Arme vergraben. Plötzlich war wieder das gewohnte matte Licht im Raum. Und schon rüttelte Sun Koh an der verschlossenen Tür. Hal sprang auf und öffnete. Sun Koh war kaum herein, als er wieder zuschloß. »Was ist geschehen?« fragte Sun Koh. »Nimba! Was ist mit Nimba?« Hals Stimme war heiser und fahrig. »Ich glaube, er ist besinnungslos vor Schreck. Er muß vor Furcht geschrien haben.« »Erzähle.« »Ich weiß so gut wie nichts. Als ich aufwachte, war es stockdunkel, keine Spur von Licht. Dann hör te ich einen dumpfen Schlag, dann Nimbas Auf schrei, und plötzlich wurde es wieder hell, und Nim ba lag dort an der Wand.« Sun Koh kniete neben dem Neger nieder und legte ihm die Hand auf die Schulter. 66
»Nimba, bist du verletzt?« »Der Geist! Der Geist!« stöhnte Nimba. »Er hat mich angefaßt, ich muß sterben!« Sun Kohs Stimme wurde scharf. »Nimba, mach dich nicht lächerlich. Es ist nichts von einem Geist zu sehen.« Mit einem Ruck warf sich der Neger herum, seine Augen gingen durch den Raum. Sein Gesicht zeigte grenzenlose Verblüffung. Unsicher deutete er nach vorn. »Dort, Sir, dort hat er gestanden, ganz deutlich. Und ich habe ihn gefühlt, habe ihn in den Händen gehabt, aber dann packte er mich.« »Du hast die Erscheinung angesprungen?« fragte Sun Koh. »Ja. Ich wollte nicht schießen, weil das schon bei Hal zwecklos gewesen war. Deshalb sprang ich. Ich kam schlecht an, weil ich gelegen hatte, aber ich fühlte mit meinen Händen die Schultern und prallte gegen den Körper.« »Du fühltest den Geist? Das genügt wohl eigent lich als Beweis, daß er keiner war.« »Ich weiß nicht, Sir. Jedenfalls prallte ich ab, und dann wurde es dunkel, und er schlug mich. Ich stürz te und fühlte plötzlich seine Hand wie aus Stahl an meinem Knöchel. Da habe ich mich losgerissen und geschrien. Ich weiß nicht, warum – aber das war auch kein Mensch. Und nun ist er auf einmal ver 67
schwunden.« Sun Koh schüttelte den Kopf. Die Angelegenheit wurde immer rätselhafter. Draußen rüttelte es an der Tür. Man hörte ver schiedene Stimmen. »Schließ auf«, gebot Sun Koh dem Jungen. Hal öffnete die Tür. * Kapitän Krotthoff wollte sich nach dem zweiten Zwischenfall noch etwas zur Ruhe legen und schritt deshalb den langen Gang entlang auf seine Kabine zu. Plötzlich schlug ihm jemand von hinten auf die Schulter. »Hallo, alter Freund!« Krotthoff wandte sich um und riß dann verblüfft die Augen auf. Der Gang war völlig leer. Eine Weile stand der Kapitän reglos, dann knurrte er ärgerlich: »Da soll doch der Teufel dreinschlagen! Der ganze Kasten scheint verhext zu sein.« »Ganz richtig«, entgegnete eine Stimme an seiner Seite. Krotthoff preßte sich an die Wand und warf for schende Blicke um sich. Entdecken konnte er freilich nichts. »Ist jemand da?« fragte er endlich laut. »Nein«, kam es spöttisch zurück. 68
Der Kapitän antwortete nicht. Er wartete. Viel leicht gab sich der Spuk doch eine Blöße. Als er zehn Minuten lang reglos gestanden hatte, gab er es auf und ging weiter. Er wollte gerade die Tür zu seiner Kajüte auf schließen, als er einen gräßlichen Schrei hörte, der förmlich das Blut in den Adern gerinnen ließ. Es klang, als würde ein Mensch bis zum Wahnsinn ge foltert. Der Schrei ging in ein langgezogenes, ent setzliches Stöhnen über, schwoll wieder bis zum Aufbrüllen an und verebbte von neuem in Seufzen und Wimmern. Krotthoff war sich im klaren, daß der Schrei nur aus der Kabine kommen konnte, die wenige Meter von seiner Kajüte lag. Diese Kabine aber war leer. Sie wurde nicht gebraucht, da sich nur wenig Gäste an Bord befanden. Nachdem er eine kurze Erstarrung überwunden hatte, stürzte er auf die Kabine zu. Tatsächlich, hinter dieser Tür erklangen die schrecklichen Laute. Als sie sich als verschlossen erwies, hämmerte er wild mit den Fäusten gegen die Tür und schrie: »Aufmachen! Was ist los? Wer steckt dort drin?« Das Wimmern brach nicht ab, sondern steigerte sich. Da nahm Krotthoff den kurzen Anlauf, den ihm die Gangbreite bot, und warf sich mit der Wucht sei nes schweren Körpers gegen die Tür. Sie zitterte und schwankte, aber sie wich nicht. 69
Erst beim dritten Ansturm, als sich schon der Gang mit erregten Männern füllte, gab sie nach. Sie brach splitternd aus dem Schloß und gab den Blick in das Innere der Kabine frei. Im gleichen Augenblick verstummte das gräßliche Schreien. Krotthoff half mit seinen Händen nach und drück te die Tür vollends zurück. Der Anblick, der sich ihm bot, machte ihn für die nächsten Stunden sprachlos. Er hatte gehofft, noch rechtzeitig zu kommen, um einen Menschen aus den Händen seiner Mörder rei ßen zu können oder einen Gequälten von der Grenze des Wahnsinns zurückzuholen. Er hatte ein wüstes Durcheinander, eine grausige Stätte, Widerstand und Kampf erwartet. Und statt dessen? Die Kabine war leer. Bett und Möbel befanden sich in bester Ordnung. Das Fenster war geschlossen. Eine feine Staubschicht bewies, daß der Raum länge re Zeit nicht betreten worden war. Lange, sehr lange stand Kapitän Krotthoff mit he rabhängenden Armen da. Dann wandte er sich schroff um, schob die Leute beiseite, die hinter ihm hereingekommen waren, passierte die zersplitterte Tür und ging mit schweren Schritten davon. Man stellte ihm Fragen, aber er winkte wortlos ab. Er ging in seine Kajüte, schloß die Tür hinter sich 70
und hockte sich in seinen Sessel. Er war verwirrt und wütend. Und er brauchte Zeit, um das Erlebte zu ver arbeiten. Über der Tafelrunde, die sich am nächsten Tag zu sammenfand, herrschte eine merkwürdige Stimmung. Sun Koh kam als erster auf die Vorfälle der Nacht zu sprechen. »Wir haben offenbar Glück, Mr. Carnell«, wandte er sich an den Arzt. »Wir beide sind heute nacht von diesem Geist verschont worden. Was meinen Sie da zu? Zufall oder Absicht?« Der Arzt antwortete in dem gleichen heiteren Ton, in dem er gefragt worden war. »Keine Ahnung, Sir. Ich persönlich hatte jeden falls schon auf der Fahrt nach Hongkong das Ver gnügen. Und Sie werden es sicher auch noch genie ßen. Ich wüßte jedenfalls nicht, warum der Geist Sie auslassen sollte. Aber wir können uns ja einmal er kundigen.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, wir brauchen es nur mit dem Tischrücken zu versuchen. Der Geist ist so stark, daß er uns sicher sofort antworten wird.« Mit einem Schlag lag die Spannung greifbar über der Runde. Sun Koh lächelte. »Schön, ich bin einverstanden. Führen Sie uns das bitte vor.« 71
Hal Mervin platzte wegwerfend heraus: »Tisch rücken? Das weiß jedes kleine Kind, daß das Schwindel ist.« »An diese Art des Tischrückens dachte ich natür lich nicht«, sagte der Arzt. »Der Geist würde uns schön auf die Finger klopfen, wenn wir ihm Mätz chen vormachen würden. Wir dürfen weiter nichts tun, als die Finger in einer geschlossenen Kette auf den Tisch legen. Freilich – diese Tische sind eigent lich unbrauchbar, denn sie sind ja am Boden festge schraubt.« Das war richtig. Die Tischbeine saßen ausnahms los in starken Eisenwinkeln, damit sie bei den Bewe gungen des Schiffes nicht hin und her rutschten. Sun Koh sagte: »Einem Geist ist nichts unmöglich. Nach allem, was er in der Nacht gezeigt hat, dürften ihm diese Befestigungen eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten.« Der Arzt hob die Brauen. »Spotten Sie nicht. Der Geist – da…« Sie starrten alle in die angedeutete Richtung. Gleich neben der Tür stand ein viereckiges Tisch chen, das gewöhnlich zum Abstellen von Geschirr benutzt wurde. Augenblicklich war es leer. Auch dieser Tisch besaß an den Füßen die starken Eisen winkel mit den kräftigen Schrauben. Was nun geschah, grenzte an Magie. Der Tisch verließ plötzlich seinen Standplatz und 72
rutschte in das Zimmer hinein, als würde er von einer unsichtbaren Person geschoben. Die vier Eisenwin kel blieben einsam am Boden. Die gerade Bewegung ging langsam in eine Kurve über, dann zog der Tisch eine spiralige Schleife, drehte sich schnell mehrere Male an Ort und Stelle herum und glitt schließlich wieder dorthin zurück, wo er hergekommen war. Kaum eine Minute nach seiner ersten Bewegung stand er wieder ruhig und fest in den vier Eisenwinkeln, als ob er sie nie verlas sen hätte. Erst eine ganze Weile später wurde das drückende Schweigen gebrochen. »Eine Halluzination!« ächzte Kapitän Krotthoff. »Zum Verrücktwerden!« stöhnte Nimba, auf des sen Stirn Schweißtropfen standen. »Fabelhafter Trick«, sagte Hal zweifelnd und zu gleich gereizt, weil der Vorgang über sein Verständ nis hinausging. Alle drei blickten auf Sun Koh und den Schiffs arzt, die noch immer schwiegen. Endlich hüstelte der Doktor und murmelte: »Sind Sie nun zufrieden, Sir?« Sun Koh sah den Mann nachdenklich an. Nach ei ner Pause meinte er langsam: »Watson war ein selt samer Spaßvogel, nicht wahr?« Carnell erwiderte zögernd: »Kann sein, daß er sei ne Launen hatte. Aber was sagen Sie zu dem Tisch?« »Die Fähigkeiten des Geistes grenzen ans Wun 73
derbare. Er machte sogar das Unmögliche möglich.« »Ah, sehen Sie das nun auch ein?« Sun Koh nickte und erhob sich. »Gewiß, nur müs sen Sie berücksichtigen, daß das Unmögliche, sobald es tatsächlich geschieht, ein Kunstfehler ist.« Der Arzt blickte ihn verblüfft an. Sun Koh trat, gefolgt von den anderen, an das Tischchen heran und versuchte, es anzuheben. Es stand fest. »Natürlich ist es an den Eisenwinkeln ver schraubt«, sagte er mit einem Unterton von Spott. »Ich frage mich nur, wo die Schrauben waren, als der Tisch im Raum herumtanzte.« Alle sahen sich fragend an. Die Antwort kam un vermutet von der Decke her. »Das möchtest du wohl gern wissen, he?« Sun Koh blickte nicht einmal nach oben, wie es die anderen taten. Er nahm gleichmütig die Bemer kung auf. »Ich weiß es, Sie Bauchredner. Eben dar um sprach ich von einem Kunstfehler. Hal, gib mir einmal das Tischmesser.« Hal reichte es ihm. Sun Koh bückte sich und fuhr mit der Klinge von oben in die Ritze zwischen Tischbein und Eisenwinkel. Das Messer fuhr bis auf den Boden hinunter, ob gleich es von Rechts wegen durch die Schrauben hät te aufgehalten werden müssen. Genau so ging es am zweiten, dritten und vierten Tischbein. Zwischen Ei 74
sen und Holz befanden sich keine Schrauben, die den Tisch festhielten. »Das ist der Kunstfehler«, stellte Sun Koh fest. »Selbst für einen Geist ist es unmöglich, eine zer sprengte Schraube im Augenblick wieder zusam menzuschweißen. Und es ist ihm noch unmöglicher, die reparierte Schraube nach Belieben schneidbar zu machen. Der Tatbestand ist klar: Zwischen Holz und Eisen befinden sich keine Schrauben. Die Schrau benköpfe hier außen sind nur Attrappen. Trotzdem steht der Tisch unverrückbar. Auf welche Weise ist er befestigt? Es wäre interessant, darüber nachzuden ken und die Löcher, die sich genau unter den Tisch beinen zeigten, damit in Verbindung zu bringen. O der nicht, Doktor?« Der Schiffsarzt schnappte nach Luft. »Ich – ja wieso – ich verstehe nicht…« »Denken Sie darüber nach«, bat Sun Koh sanft. »Warum sollten nicht einmal Geister zum Zeitver treib werden? Manche Menschen lieben das. Es ist nur unangenehm, wenn sie es zu toll treiben.« »Sicher, sicher«, murmelte Carnell, wobei er aus sah, als fühle er sich in seiner Haut nicht wohl. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, und ich denke, daß uns der Geist nicht weiter beunruhigen wird.« »Nun, das wäre auch wieder schade. Manche Pro bleme machen nur dann Spaß, wenn man sie nicht gewaltsam zu lösen braucht. Wenn …« 75
»Feuer im Schiff! Feuer im Schiff!« gellte es plötzlich draußen auf dem Gang und oben auf dem Deck mit überlauter Stimme. Der Ruf ließ alles andere vergessen. Weg mit Tischrücken und Geistern. Jetzt brannte die Gefahr auf den Fingernägeln. Jetzt gab es nur noch das Schiff und das Leben. Sun Koh jagte als erster hinaus. Hinter ihm stürz ten die anderen durch den Gang, die Treppe hinauf und auf Deck. Oben wirbelte schon die Mannschaft durcheinan der, scheinbar wirr, doch tatsächlich nach einem fe sten Plan. Der Erste Offizier gab kühl und klar seine Befehle. »Wo brennt’s?« fragte Kapitän Krotthoff noch halb aus dem Gang heraus. »Brandherd noch nicht festgestellt!« kam die Antwort. »Löschkommandos zum Einsatz bereit, Sir.« »Ich übernehme das Kommando. Wer hat das Feuer festgestellt?« Niemand meldete sich. Einen Augenblick lang lag tiefes Schweigen über dem Deck, dann griff der Erste ein. »He, Johnson, war das nicht Ihre Meldung?« »Ich gab den Ruf nur weiter, Sir. Die Meldung kam von vorn.« »Also wer hat das Feuer bemerkt?« wiederholte 76
Kapitän Krotthoff ungeduldig. Niemand meldete sich. Kapitän Krotthoff lief dunkelrot an, aber er be herrschte sich und befahl dem Ersten Offizier, das Schiff durchsuchen zu lassen. Die »Star of California« war nicht groß. Bereits nach einer Viertelstunde wurde dem Kapitän gemel det, daß nirgends Brandgeruch oder Rauch feststell bar wären. Wieder beherrschte sich Krotthoff und schickte den Ersten Offizier zu einer zweiten und gründliche ren Untersuchung weg, aber als dieser außer Hörwei te war, ließ er eine derartige Ladung von Flüchen vom Stapel, daß selbst Hal achtungsvoll erschauerte. Niemand zweifelte mehr daran, daß man irrege führt worden war. Irgend jemand hatte sich einen Scherz erlaubt – einen sehr, sehr schlechten Scherz. Sun Koh suchte nach dem Schiffsarzt, um ihm ei nige ernste Worte zu sagen, aber Carnell war ver schwunden. Er erschien erst eine ganze Weile später wieder, nachdem sich einwandfrei herausgestellt hatte, daß keine Brandgefahr bestand. Er sah sehr ernst aus und näherte sich Sun Koh mit offensichtlicher Verlegen heit. »Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?« fragte er gedrückt. Sun Koh gab seinen beiden Begleitern einen 77
Wink, ihn mit Carnell allein zu lassen, dann sagte er ernst: »Auch dieser falsche Alarm war ein Kunstfeh ler, nicht wahr? Ich verstehe nur nicht, wie Sie ihn wagen konnten, nachdem ich Sie eben erst gewarnt hatte.« »Es war Keepmanns Schuld«, erwiderte der Schiffsarzt hastig. »Keepmann ist der Oberheizer, der schon bei der ersten Fahrt mit dabei war. Er hat auf eigene Faust gehandelt.« »Ich dachte es mir.« »Sie wissen alles?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur wenig, habe aber selbstverständlich keinen Augenblick lang an Ihre Geistergeschichte geglaubt. Es wäre mir interessant gewesen, allmäh lich hinter Ihre Tricks zu kommen, aber da diese zum Teil reichlich grob sind, ist es wohl doch besser, wenn Sie mit dem Treiben Schluß machen und mir einige Aufklärungen geben.« Carnell seufzte bekümmert. »Wenn mich der Kapitän mit seinem Unglauben nicht so gereizt hätte, wäre alles unterblieben. Sie hatten mich von Anfang an im Verdacht?« Sun Koh lächelte flüchtig. »Es blieb kaum etwas anderes übrig. Was man den Geistern nicht zutraut, muß man bei den Menschen suchen. Sie waren außer dem Heizer der einzige, der sich von der früheren Besatzung an Bord befand. Sie 78
haben vermutlich auch bei der ersten Fahrt den Spuk arrangiert?« Doktor Carnell nickte. »Ich war mit Watson recht gut befreundet. Er hatte seine Schrullen und liebte absonderliche Spaße. Vor allem war er geradezu leidenschaftlich darauf aus, Leute zu erschrecken. Deshalb ließ er sich in seine Jacht allen möglichen Unsinn einbauen. Er weihte mich ein, erledigte aber alles selbst. Seine Gäste wa ren wirklich zu bedauern. Kein Wunder, daß sie das Schiff in Hongkong fluchtartig verließen. Eigentlich war vorgesehen, daß Watson sie hinterher aufklären sollte, aber er starb unterwegs. Das Schiff wurde an Sie verkauft. Ich blieb, weil es mir auf der Jacht ge fällt. Keepmann blieb aus dem gleichen Grund. Er war auch von Anfang an eingeweiht. Die Maschine rie zu dem ganzen Spuk hängt nämlich mit an der Hauptwelle des Schiffs. Deshalb brauchte Watson unten einen Mann, der Bescheid wußte. Ich versiche re Ihnen, daß wir nicht die Absicht hatten, den Spuk wieder loszulassen. Erst durch die Redereien kam ich dann doch auf den Einfall, den Spuk auszuprobie ren.« »Schon gut«, wehrte Sun Koh ab. »Ich wundere mich, daß keiner der Gäste Watsons Erscheinungen auf den Grund ging. Die fehlenden Schrauben am Tisch mußten doch leicht auffallen.« Carnells Gesicht wurde heller, seine Stimme leb 79
hafter. »Nicht alle Leute beobachten so scharf wie Sie. Die Leute wußten nach einigen Tagen überhaupt nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Es war kein Wunder, daß sie nicht mehr genau hinsahen.« »Der Tisch wird von unten her festgehalten und bewegt?« »Gewiß. Die Verklammerung erfolgt durch starke Stahlbolzen, die sich in die Bodenlöcher einschieben. Die Bewegung erfolgt mit Hilfe eines kräftigen Ma gneten, für den im Blindboden eine besondere Appa ratur eingebaut ist. Der ganze Spuk wickelt sich selbsttätig ab, wenn man eine Leiste an der Untersei te des großen Tisches betätigt.« »Sie sind Bauchredner?« »Ja. Die Stimmen kamen allerdings überwiegend aus Lautsprechern, die überall eingebaut sind, und von Schallplatten, die automatisch ablaufen. Der Hil feschrei, auf den der Kapitän hereinfiel, wurde auf diese Weise erzeugt.« »Er spürte einen Schlag auf die Schulter?« »Das war keine Hand, sondern eine Holzleiste, die eine Sekunde lang aus der Wand herausschnellte. Ich war am anderen Ende des Ganges und beobachtete ihn. Auch die Geistererscheinungen …« »Augenblick«, unterbrach Sun Koh. »Ich will Ih nen zunächst meine eigenen Vermutungen mitteilen. Ihre Geistererscheinungen sind Puppen, die auf der 80
Innenseite eines beweglichen Bodenteils befestigt sind. Stimmt das?« Carnell war verblüfft. »Allerdings, aber wie können Sie …« »Hal hat geschossen. Irgendwo mußte sich der Einschlag seiner Kugel befinden. Da sie nicht in der Wand saß, mußte sie vorher aufgehalten worden sein. Da Menschen und Geist ausschieden, blieb nur irgendein anderer Widerstand. Ich habe den Fußbo den untersucht und eine Spalte gefunden, die meine Annahme bestätigte. Öffnen konnte ich die Klappe freilich nicht. Die gleichen Spalten entdeckte ich in Nimbas Kabine. Er ist gegen das aufrechtstehende Bodenstück geprallt. Als dieses sich wieder schloß, wurde sein Fuß eingeklemmt. Das verleitete ihn zu dem Eindruck, sein Fuß würde von einem Geist fest gehalten werden. Die Verdunkelung der Kabine bei Nimba, das plötzliche Lachen bei Hal waren nur Ab lenkungsmanöver, um die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. Das Gesicht, das Hal am Fenster sah, werden wir vermutlich auf einem großen Diapositiv rechts oder links neben dem Fenster in einem Wandschlitz finden.« »Fabelhaft, fabelhaft!« bewunderte der Arzt. »Stimmt alles haargenau. Ihr Scharfsinn bringt mei nen Geist um das ganze Vergnügen. Und ich wollte Ihnen eigentlich noch Verschiedenes vorzaubern.« »Lassen Sie das lieber sein«, riet Sun Koh. »Sie 81
werden bei Kapitän Krotthoff ohnehin einen schwe ren Stand haben.« »Er frißt mich auf, wenn ich ihm beichte.« Carnell seufzte. »Aber ich bin ihm die Aufklärung schuldig. Am besten suche ich ihn gleich auf.« Sun Koh nickte zustimmend, und Carnell machte sich auf den Weg. Was zwischen ihm und dem Kapi tän in der nächsten Stunde gesprochen wurde, erfuhr niemand. Jedenfalls lief Krotthoff den ganzen Tag wie eine Gewitterwolke herum, während der Schiffs arzt unsichtbar blieb. Am nächsten Tag war jedoch das Gleichgewicht wieder hergestellt. Der Arzt muß te es sich nur gefallen lassen, gelegentlich als Gei sterbeschwörer verulkt zu werden. Der Geist des Fliegenden Holländers machte sich nicht wieder bemerkbar. Zwischen der Tokelau- und Manihiki-Insel verließ Sun Koh mit Hal und Nimba das Schiff wieder mit dem Flugzeug. Die Jacht blieb auf südöstlichem Kurs, während das Flugzeug nach Süden abbog und Tonga anflog. Tonga ist die Hauptinsel der ganzen Gruppe klei ner Inseln, die unter dem Namen »Freundschaftsin seln« bekannt geworden sind. Sie unterscheiden sich kaum von anderen Erdfleckchen im Großen Ozean. Es sind idyllische Inseln mit einer noch leidlich na turnahen, friedliebenden Bevölkerung und verstreu 82
ten Faktoreien. Sun Koh suchte Tonga wegen eines Hinweises auf, den er in Hongkong erhalten hatte. Er war nach den Erfahrungen von Ponape und Lele nicht über rascht, als er an Ort und Stelle die Angaben, die man ihm gemacht hatte, bestätigt fand. Mitten im üppigen Tropenwald stand ein mächti ger Torbogen von ungefähr sechs Meter Höhe. Er bestand aus drei riesigen Steinblöcken, von denen jeder sechs Meter lang war und mindestens einen Quadratmeter im Durchschnitt hatte. Der obere Mo nolith lag fast fugenlos in Nuten der senkrechten Pfeiler. Um die einsamen Steine herum wucherte un gehemmt der Urwald. »Ein schlichtes Tor«, sagte Sun Koh zu seinen Begleitern, nachdem er vergeblich nach Inschriften geforscht hatte. »Trotzdem ist es eins der seltsamsten Rätsel. Wer hat dieses Tor gesetzt?« »Die Eingeborenen können es wohl nicht gewesen sein?« fragte Hal. »Nein«, lehnte Sun Koh die naheliegende Vermu tung ab. »Vielleicht hätten sie es noch fertiggebracht, die Pfeiler zu stellen, aber es ist ausgeschlossen, daß sie diesen über zweihundert Zentner schweren Schlußstein auf sechs Meter Höhe bringen und sau ber einpassen konnten. Dazu reichte weder ihr Geist noch ihr technisches Vermögen. Selbst heute würde ihnen ein derartiges Unternehmen nicht im Traum 83
einfallen. Im übrigen steht das Tor vermutlich schon seit Jahrtausenden so.« »Und wer hat es dann gesetzt, Sir?« Sun Koh blickte nachdenklich vor sich hin. »Wer hat die befestigten Inseln auf Ponape ge schaffen? Wer baute die Mauern und Forts? Auch hier waren keine Inschriften zu finden.« In geringer Entfernung trafen sie auf zwei Häupt lingsgräber. Es waren schlichte Steingräber, die auf dreistufigen Terrassen standen und von steinernen Umfassungsmauern umgeben waren. Auch hier wa ren keine Inschriften zu finden. Am zweiten Grab entdeckten sie einen uralten, eingeschrumpften Eingeborenen, der in seiner Ruhe stellung eher einer vertrockneten Baumwurzel als einem Menschen glich. Seine Stimme kam wie unter Asche heraus, als er auf Sun Kohs Frage antwortete: »Die Göttlichen ruhen hier, Herr, die Göttlichen, die einst auf Tonga herrschten.« »Was weiß du von ihnen?« »Nichts, Herr.« »Nichts?« Der Alte nickte. »Sie herrschten früher, als unsere ältesten Ge schichten berichten. Das war vor vielen tausend Jah ren. Wir wissen nur, daß es Göttliche waren, mehr nicht.« Die Aussage stimmte mit dem überein, was Sun 84
Koh bereits gehört hatte. Die jetzige Bevölkerung überlieferte kein Wissen um den Torbogen und die Gräber. Es handelte sich um Dinge, die vor ihrer Ge schichte lagen. Ohne das Rätsel von Tonga gelöst zu haben, stieg Sun Koh bereits nach wenigen Stunden wieder auf und flog zum Schiff zurück. Mit fast östlichem Kurs steuerte er über die Cook-Inseln und dann über die Gesellschaftsinseln hinweg auf die Paumotu-Inseln zu, die die Jacht nördlich passieren sollte. »Donnerwetter, hier gibt’s aber eine Menge In seln!« rief Hal staunend. »Das geht doch in die Hun derte!« »Sehr bescheiden«, meinte Sun Koh lachend, »du solltest besser von Tausenden sprechen. Allein schon die Paumotu-Gruppe hat rund hundert einzelne In seln. Sie ist zwar besonders umfangreich, aber dafür gibt es auch sehr viele solcher Inselgruppen.« »Die Tonga und die Karolinen kenne ich schon, die Tokelau, Samoa und Cook-Inseln habe ich von oben gesehen, und das dort sind doch die Gesell schaftsinseln. Was gibt es noch?« »Die Marschall, Ralik und Ratak, die Gilbert, Phönix und Lagunen, die Manihiki und Marquesas, die Kermandec, Fidschi und Santa Cruz, die Lovalty, Salomon und Neue Hebriden, die …« »Um Gottes willen, hören Sie auf! Die kann ich mir doch unmöglich alle merken. Hier scheint ein 85
ganzer Erdteil in lauter Stücke auseinandergesprun gen zu sein.« Sun Koh wurde plötzlich ernst und nachdenklich. »Ein zertrümmerter Erdteil«, sagte er leise. »Du hast eine Gabe, Hal, gewisse Dinge in aller Harmlo sigkeit zu erkennen, die förmlich verblüffend wirkt.« Der sommersprossige Junge riß die Augen auf. »Das verstehe ich nicht, Sir.« Sun Koh strich ihm über das rötliche Haar. »Du sprichst von einem Erdteil, der in Stücke ge sprungen ist, und hast dich noch nie ernstlich mit dem Problem, das diese Inseln dem Wissenschaftler bieten, beschäftigt. Was meinst du dazu, daß tatsäch lich ernste und gelehrte Leute diese Inseln als Rest eines großen Erdteils ansehen, der sich einst hier be funden haben soll?« »Allerhand. Aber ich finde es ganz vernünftig. Da habe ich mal gelesen, daß man eine englische Expe dition ausgeschickt hat. Sie sollte auf einer Insel Ausgrabungen vornehmen, und man hoffte, ganz alte Tiere und Affenmenschen zu finden. Wenn ich nicht irre, war das auch in der Gegend.« Sun Koh nickte. »Kann schon stimmen. Hier soll sich einst der Erdteil Lemurien befunden haben, den man als den ältesten Erdteil bezeichnet. Alles Leben auf der Erde soll letzten Endes von hier stammen. Das ist freilich eine sehr umstrittene Behauptung. Aber es ist bemer 86
kenswert, daß man hier allerlei frühe Entwicklungs formen noch vortrefflich erhalten findet. Letzten Endes hat ja ein Teil dieser Inselwelt seine Entstehung auch einer Übergangsstufe von der Pflanze zum Tier zu verdanken.« »Wieso?« »Ein Teil dieser Inseln ist erst vom Meeresgrund hochgewachsen, auch alle Inseln der vor uns liegen den Paumotu-Gruppe, ferner die Karolinen- und die Marschall-Inseln. Sie sind aus Korallen aufgebaut worden.« »Kenne ich, kenne ich«, meinte Hal eifrig. »Das Zeug ist verästelt wie Bäume und besteht aus Kalk. Wenn das Tiere sein sollen, dann haben die aber ganz verrückte Leiber.« »Du scheinst dir die Korallen recht groß vorzustel len«, sagte Sun Koh. »Es sind ganz winzige Tier chen, deren Leib mit einem Kalkpanzer umgeben ist. Zu einem Korallenzweig von einigen Zentimetern Länge gehören unzählige Tausende von Einzeltier chen, die sich nebeneinander und übereinander bauen und so den steinernen Strang bilden.« »Ach so«, sagte Hal überrascht. »Und ich habe immer gedacht, so ein Korallenbusch ist ein einziges Tier. Aber warum bauen sie so merkwürdige Bäu me?« »Ich weiß auch nicht, warum diese Milliarden von Lebewesen auf dem Grund des Meeres ihre seltsa 87
men Wälder aufbauen und sie immer höher bis an die Oberfläche des Meeres führen.« »Dann hören sie auf?« »Freilich. Außerhalb des Wassers können sie nicht leben. Aber der steinerne Wald bleibt stehen. Er verwittert, bildet Erde, darauf trägt der Wind Samen, es beginnt zu grünen und zu leben – die Korallenin sel ist fertig. Sieh nach unten, eben überfliegen wir eine solche Insel.« »Wie können Sie wissen, daß es eine Koralleninsel ist, Sir?« »Die Korallen bauen nach einem bestimmten Plan, den sie stets einhalten. Jede Koralleninsel sieht aus wie diese. Ein riesiger, ziemlich genauer Kreisbogen, der an einer Stelle offen ist. Er umschließt einen See, in dessen Mitte erhebt sich die Kerninsel, Atoll, La gune und Insel – so wiederholt es sich tausendfach.« »Wunderbar.« Hal staunte. »Da kommt schon wieder eine, da rechts noch eine.« »Wir sind bereits über den Paumotu-Inseln. Etwas nördlicher, Nimba, die Jacht kann nicht mehr weit entfernt sein.« Eine Stunde später senkte sich das Flugzeug wie der auf die »Star of California« hinab. »Nun, haben sich die Geister wieder gezeigt?« er kundigte sich Sun Koh bei Krotthoff. Der Kapitän nickte. »Jawohl, das heißt, ich habe sie mir zeigen lassen. 88
Carnell hat mir den ganzen Schwindel vorgeführt. Toll, sage ich Ihnen, so richtig, um die Leute ver rückt zu machen. Ich bin heilfroh, daß Sie die Ge schichte beizeiten abgestoppt haben. Übrigens wollte ich Sie fragen, ob die Einrichtungen zerstört werden sollen?« »Dazu liegt kein Anlaß vor. Die Spukapparatur stört uns nicht, also mag sie ruhig bleiben, wie sie ist. Vielleicht können wir sie doch noch einmal gebrau chen.« »Da wäre ich neugierig«, sagte Krotthoff schmun zelnd. Sun Koh hielt sich nur bis zum nächsten Tag auf dem Schiff auf. Er gab dem Kapitän neue Aufträge und vereinbarte mit ihm die Stelle, wo sie sich tref fen wollten, dann stieg er von neuem auf. Nimba und Hal begleiteten ihn wie gewöhnlich. * Die Oster-Insel liegt in weltabgeschiedener Einsam keit auf 110 Grad westlicher Länge und 27 Grad süd licher Breite. Völlig beziehungslos ragt sie aus annä hernd viertausend Metern Tiefe empor. Ihre nächsten Nachbarn sind, Hunderte von Seemeilen entfernt, Pitcairn im Westen und Sala-y-Gomez im Osten. Ein Punkt im Ozean ist diese Insel, aber ein recht merkwürdiger Punkt. Das hatte Hal Mervin schon 89
gleich nach der Landung heraus. Nimba war kaum aus der Maschine gestiegen, als der Junge auch schon feierlich mit einem Taschentuch angerückt kam. »Bück dich, Nimba«, befahl er dem hünenhaften Neger. Nimba grinste. »Ich werde mich hüten. Du hast wohl eine Steck nadel in der Hand?« »Quatsch«, wehrte Hal entrüstet den schmählichen Verdacht ab. »Du sollst nur deinen Kopf herunterhal ten, damit ich dir die Augen verbinden kann.« Der Neger blinzelte mißtrauisch das Tuch an, wäh rend Sun Koh von der Seite her amüsiert beobachte te, was der Junge wieder aushecken würde. »Augen verbinden«, knurrte Nimba schließlich, »wozu?« »Damit du nichts zu sehen brauchst natürlich«, be lehrte ihn Hal. »Deine Nerven sind zu zart, verehrtes Baby. Ich möchte nicht, daß du Schreikrämpfe kriegst.« »Na, paß nur auf, daß ich dir nicht zu Schrei krämpfen verhelfe«, erwiderte der andere anzüglich. »Was soll der Unfug?« Hal richtete sich beleidigt auf. »Unfug? So beschimpfst du meine mütterliche Fürsorge? Immerzu, meinetwegen stirb am Herz schlag. Hier gibt es nämlich Geister.« 90
Nimba tippte sich an die Stirn. »Wenn es bei dir wenigstens Geist geben würde. Geister? Du spinnst wohl?« Hal zuckte mit den Schultern. »Blödes Gestammle. Sieh dich nur um.« Der Neger drehte sich herum. »Au verfl…«, stieß er heraus und zuckte zusam men. »Siehste«, murmelte Hal bekümmert. »Fehlte gar nicht viel bis zum Nervenschock. Aber beruhige dich, das Ding ist aus Stein.« »Das sieht doch jeder«, murmelte der Neger ärger lich. Der plötzliche Anblick war wirklich erschreckend. Gar nicht weit von der Maschine erhob sich nämlich aus dem niedrigen Grad eine riesige Steinfigur von rund zwanzig Metern Höhe, die den Rumpf und den Kopf eines Mannes darstellte. Der Rumpf war im Grunde genommen nur ein mächtiger, roh behauener Klotz ohne Einzelheiten, eine unförmige Walze, ähnlich jenen, die Kinder als Leib eines Schneemannes formen. Der daraufsitzen de Kopf war trotz aller Grobheit gut ausgeprägt. Er zeigte ein breites, fast eckiges Kinn von unerhörter Kraft und Entschlossenheit, einen schmallippigen Mund, dessen Winkel sich nach unten bogen, dar über eine breitrückige Nase mit merkwürdig leeren Augenhöhlen, an die sich fast unmittelbar die anlie 91
genden Ohren ansetzten. Die Stirn dieses Steinkopfes sprang vor, war dann aber in halber Höhe wie mit einem Messer glatt abgeschnitten. Die obere Hälfte des Schädels fehlte. Sie war nicht etwa durch die Verwitterung zerstört worden, sondern sie fehlte von Anfang an. Der Bildhauer hatte sie weggelassen, vielleicht weil der Stein nicht größer war, denn die ganze Figur bestand aus einem Stück. Eine Kolossalstatue von zwanzig Metern, roh in ihrer ganzen Ausführung, und doch von einer unbe schreiblichen Wucht des Ausdrucks. Fast übermäch tig stark wirkte dieses Gesicht. Es war nicht das Ant litz eines primitiven Wilden, sondern das Gesicht eines Eroberers, eines harten, kühnen Feldherrn, ei nes trotzigen, unbeugsamen Herrschers. Groß und gewaltig, überragend und bei aller Einfachheit un leugbar majestätisch – das war der Eindruck, den die drei hatten. Sie schritten langsam heran. »Der Stein ist grauer Trachyt«, erklärte Sun Koh, »aus einem Stück gehauen. Eine ganz beachtliche Arbeit.« »Hm, aber ohne Schädel«, bemängelte Hal. »Wenn schon der Stein nicht reichte, konnten sie doch wenigstens ein Stück vom Bauch weglassen.« Sun Koh warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann lächelte er. »Ach so? Nun, am Stein hat es wohl kaum gefehlt, Hal. Dort liegt das Stück, das dir noch 92
fehlt.« Er wies auf eine massive Walze aus rötlichem Gestein, die halb eingesunken im dürren, gelben Gras lag. »Diese Walze saß auf dem Kopf der Statue. Sie stellt die Haartracht des Mannes dar.« Hal hob die Brauen, ging mißtrauisch um die rote Steinwalze herum und schüttelte den Kopf. »Da muß Ihnen jemand einen Bären aufgebunden haben, Sir«, sagte er vorwurfsvoll. »Der Stein hat ungefähr fünf, sechs Kubikmeter. Das ist ein Ge wicht von mindestens zehn Tonnen oder zweihundert Zentner. Die Leute hätten schon einen Kran haben müssen, um die Frisur auf den Kopf zu setzen.« Sun Koh nickte. »Sieht so aus. Die Dinge liegen aber noch viel schlimmer. Diese Figur ist annähernd zwanzig Meter hoch. Ich schätze, daß sie ein Gewicht von ungefähr fünfzig Tonnen hat. Trotzdem wurde sie nicht nur aufgestellt, sondern auch kilometerweit transportiert. Hübsch, nicht?« »Aber…« »Später, Hal. Wir wollen uns erst einmal umse hen.« Nimba, der schon ein Stück vorausgegangen war, winkte eifrig. »Sir, hier sind Inka gewesen. Sehen Sie sich das an.« Er wies auf die Stützmauer einer Terrasse. Sie be stand aus mächtigen, sorgfältig behauenen Felsblök 93
ken, die ohne Bindemittel so genau aneinander ge fügt waren, daß man nicht einmal mit dem Messer in die Ritzen hineinkam. Das war zweifellos die gleiche kunstvolle und zugleich geheimnisvolle Steinmetzar beit, die Sun Koh und seine Begleiter schon an den alten Inkabauten in den Anden kennengelernt hatten. Die Anden befanden sich aber Tausende von Ki lometern entfernt, und zwischen ihnen und dieser einsamen Insel lag eine einzige riesige Wasserwüste. »Allerhand!« murmelte Hal staunend. »Da müssen sich doch tatsächlich Inka bis auf die Oster-Insel ver laufen haben. Was meinen Sie, Sir?« »Verlaufen nicht, aber vielleicht verfahren. Und nicht einmal das stimmt. Die Oster-Insel ist nämlich von Peru aus besiedelt worden. Ich habe darüber bei den Inkas einen alten Bericht gefunden. In ihm ist allerdings nicht von der Oster-Insel die Rede, son dern die Insel wird als ›Nabel der Welt‹ bezeichnet.« »Aber wie konnten denn die Inka über ein paar tausend Kilometer Meer kommen? Sie hatten doch überhaupt keine Schiffe?« »Doch, sie hatten welche«, widersprach Sun Koh, während sie langsam den steilen Grashang, auf dem sie gelandet waren, weiter hinauf schritten. »Sie ent sprachen nur nicht ganz unseren üblichen Vorstel lungen. Es waren Schiffe aus Schilf, die von Segeln aus Schilf- und Binsenmatten getrieben wurden. Du erinnerst dich an das hohe Schilf im Titicaca-See?« 94
»Ja, aber sie konnten doch unmöglich mit ein paar Schilfkähnen über solche Entfernungen …« »Warum nicht? Zunächst einmal ist das eine ganz eigene Schilfsorte. Es ist unsinkbar, nimmt kein Wasser an und verrottet deshalb auch nicht, wenn es monatelang im Wasser liegt. Das einfachste Floß, aus einigen Schilfbündeln zusammengebunden, ist unsinkbarer und hochseefester als ein modernes Ret tungsboot. Und die Schiffe, die man sich damals bau te, waren zwar für unsere Begriffe winzig und ge brechlich, aber sie hielten sich so gut auf dem Meer wie moderne Dampfer. Wenn jene Seefahrer mit den Wind- und Meeresströmungen in dieser Gegend ver traut waren, konnten sie immerhin mit einiger Si cherheit von Südamerika zu dieser Insel und wieder zurück kommen.« »Hm, wenn es sogar einen Bericht darüber gibt?« »Ja. Es ist sogar ein Bericht über eine der ersten Reisen, die hierher unternommen wurden. Sie fand vor ungefähr fünfzehnhundert Jahren statt. Ihr Hauptzweck war, Schilfwurzeln vom Titicaca-See zur Insel zu bringen und hier einzupflanzen, damit beschädigt landende Schiffe hier ausgebessert wer den konnten. Soweit ich unterrichtet bin, gibt es hier auch das gleiche Schilf wie am Titicaca-See in gro ßen Beständen, und zwar in einem See, der sich im Innern eines erloschenen Vulkans befindet.« »Das ist auch ein Vulkan«, sagte Nimba. 95
Sie erreichten die Höhe des Berges. Vor ihnen brach der Felsen steil und tief zu einem ausgedehnten Krater ab, der schon seit Jahrtausenden keinen Aus bruch mehr erlebt haben konnte. Von hier aus hatten sie einen großartigen und zugleich bestürzenden Überblick. Im Krater und auf den Terrassen der abfallenden Wände wimmelte es geradezu von Statuen in allen Zuständen der Bearbeitung. Es mußten weit über hundert sein. Sie standen nicht, sondern lagen lang ausgestreckt. Manche waren fertig, andere nur halb fertig oder gerade erst angefangen. Es sah aus, als wären die Steinmetze mitten in der Arbeit gestört worden und weggegangen. Einige Steinbilder lagen auch oben am Kraterrand, andere waren über den abfallenden Hang verteilt, bald weniger, bald mehr sichtbar. Das erweckte den sonderbaren Eindruck, als wären diese Kolosse gera dewegs aus dem Krater herausmarschiert und dann hier oder dort gestürzt, um für ewige Zeit liegen zu bleiben. »Tolles Ding!« murmelte Hal. »Sie konnten wahr scheinlich noch nicht fotografieren und haben sich auf diese Weise verewigt.« »Wenig wahrscheinlich«, sagte Sun Koh. »Die Fi guren haben praktisch alle die gleichen Gesichter. Das sind keine Porträtbüsten, sondern irgendwelche symbolischen Darstellungen.« 96
»Aber eine strenge Erziehung müssen sie gehabt haben«, erwog Hal. »Sieh dir das an, Nimba. Das ist genau das, was dir in deinen Kindertagen gefehlt hat.« »Hä?« machte Nimba. »Die Ohren«, sagte Hal sanft. »Irgendwer hat ih nen die Ohren langgezogen.« Er hatte es wie üblich erfaßt. Die Statuen besaßen ungewöhnlich lange Ohren. Die Bildhauer mußten sich etwas dabei gedacht haben. »So viel Erfolg hat die Erziehung nie«, sagte eine fremde Stimme in der Nähe, und gleichzeitig tauchte hinter einem Felsblock ein Mann auf. Er war zierlich und beweglich, kaum älter als dreißig und schwarz haarig, wirkte intelligent und machte einen freundli chen Eindruck. Er trug eine Reithose und Halbschu he, dazu ein helles, farbenfreudiges Wollhemd, beides so sauber, als wäre es eben aus dem Schrank ge holt worden. »Ich sah Sie landen, wollte aber nicht stören«, fuhr er fort, während er herankam und sich verbeugte. Er sprach ziemlich fließend Englisch, wenn auch nicht ohne Fehler. »Pedro Sala ist mein Name. Ich bin der Lehrer von Hangaroa.« »Ich dachte, das wäre eine unbewohnte Insel?« sagte Hal. »Oh, hier gibt es ungefähr dreißigtausend Schafe und tausend Menschen, einen Flugplatz, eine Schule, 97
ein kleines Krankenhaus, einen Arzt, einen Gouver neur, einen Priester und einige Nonnen und sogar einige Polizisten.« »Fehlt nur noch Coca-Cola.« »Auch das können Sie haben«, sagte der andere lachend. »Wir sind zivilisiert.« Sun Koh stellte sich und seine Begleiter vor, dann wies er auf die Statuen. »Für einen Fremden ist das sehr eindrucksvoll.« »Für mich auch«, bestätigte der Lehrer. »Ich bin Chilene und befinde mich erst seit einigen Monaten auf der Insel. Sie wissen ja wohl, daß sie chilenischer Besitz ist. Ich reite oft von Hangaroa, dem einzigen Ort auf der Insel, herüber, um hier ein bißchen Ge schichte zu atmen. Das kann man zwar überall auf der Insel, aber nirgends so stark wie hier. Die Lang ohren haben mir’s angetan. Ich würde eine Menge dafür geben, wenn ich das einzige Rätsel dieser Insel lösen könnte.« »Das einzige Rätsel?« griff Sun Koh auf. »Nun, wir sehen auf Anhieb ein Dutzend oder mehr. Sie meinen den Transport dieser riesigen Figuren?« Pedro Sala lehnte sich an einen Felsblock und schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Es ist bekannt, wie diese Steinbilder hergestellt, transportiert und aufge richtet wurden.« »Na na?« zweifelte Hal. 98
»Doch«, beharrte Sala. »Das hat man alles festge stellt und sogar praktisch erprobt. Es erscheint auf den ersten Blick alles unmöglich, aber trotzdem ist es sehr einfach. Sehen Sie her …« Er bückte sich, hob einen Stein auf und wies ihn auf den flachen Handflächen vor. Es war ein eiför miger, grober Stein, der gerade in eine Hand paßte. Er lief in eine scharfe, abgesplitterte Kante aus. »Das ist ein Handbeil, wie sie hier zu Tausenden herumliegen«, erklärte er. »Der Stein ist weniger fest als diese Kraterwände, aus denen die Steinfiguren herausgehauen wurden. Trotzdem sind diese steiner nen Handbeile die einzigen Werkzeuge gewesen, die man verwendete. Wenn Sie damit gegen den Felsen schlagen, hinterlassen sie nicht einmal einen Ein druck. Die Langohren kannten jedoch den Trick, trotzdem solche Kolosse herauszuarbeiten. Erstens näßten sie die Oberfläche des Felsens unaufhörlich und weichten sie gewissermaßen Millimeter für Mil limeter auf, und zweitens trommelten sie dicht ne beneinander unaufhörlich auf die gewünschte Linie los, bis sie genügend tief war oder eine Bruchspalte bekam.« »Das ist denkbar«, gab Sun Koh zu. »Es gehört nur eine ungewöhnliche innere Triebkraft dazu, so viel Geduld und Mühe aufzubringen. Wie wurden die Statuen transportiert?« »Sie wurden auf eine Baumgabel gelagert. Dann 99
legten sich einige hundert Männer in die Seile. Auch das wurde ausprobiert. Es geht viel besser, als man sich das vorstellt.« »Und die Aufstellung dieser Standbilder?« »Wahrscheinlich durch Hypnose«, stichelte Hal, der dem Chilenen nicht recht traute. »Das nicht«, entgegnete der Lehrer belustigt, »a ber ein Trick war natürlich dabei. Die Figuren wur den durch kräftige Hebel um Millimeter oder Zenti meter am Kopfende gelüftet. Dann schob man Steine darunter, ganz allmählich immer mehr, so daß die Figur im Laufe von vielen Tagen durch den wach senden Steinhügel schräg gestellt wurde. Man fütter te dann immer mehr Stein unter, bis der steinerne Koloß in die Senkrechte kippte und auf seiner Unter lage stand. Einfach, aber geschickt, nicht wahr?« »Und diese roten Hüte?« »Nun, der Steinberg war ja vorhanden. Er brauchte nur noch ein Stück erhöht zu werden, um den Schlußstein auch noch aufzusetzen.« »Wirklich tolles Ding!« Hal schüttelte den Kopf. »Schneewittchen ist gar nichts dagegen.« »Das sind keine Märchen«, wehrte sich der Lehrer strenger. »Die Langohren haben mit Geduld und ei nigen technischen Tricks noch andere Dinge fertig gebracht. Diese roten Schlußsteine zum Beispiel kommen von weit drüben und wurden auf Schilf schiffen oder Flößen um die Insel herumgebracht, 100
sogar zwei Stück auf einmal, obgleich jeder einige hundert Zentner wiegt. Sie haben sogar extra steiner ne Laderampen ins Meer hineingebaut, um verladen zu können.« »Wo sind sie geblieben?« fragte Sun Koh und wies mit einer Kopfbewegung in den Krater hinein. »Das sieht aus, als wäre der Betrieb fluchtartig ver lassen worden.« Der Lehrer nickte. »So ungefähr könnte es gewesen sein, doch kann es niemand mit Bestimmtheit sagen. An sich ist ja die Geschichte dieser Insel im großen und ganzen geklärt, teils durch die Überlieferungen, teils durch Aufzeichnungen auf den Rongo-rongo-Platten und teils durch die verschiedenen Funde in den Höhlen.« »Höhlen?« »Ja. Die ganze Insel wird von Höhlen und Gängen durchzogen, von denen man nur einen Teil kennt. In ihnen werden zahlreiche Stücke aus der Vergangen heit aufbewahrt, zum Teil noch streng gehütet und durch Tabus geschützt. Man hat aber schon genug gefunden, um rekonstruieren zu können.« »Und was erzählt die Geschichte der Insel?« »Sie beginnt ungefähr 500 nach Christus mit der Besiedlung durch seefahrende Inkas oder gar deren Vorfahren, die aus der Gegend des Titicaca-Sees kamen. Sie erreichten die Oster-Insel mit Schiffen aus Schilf, pflanzten das Schilf hier an und bauten 101
kunstvolle Terrassenmauern, die Sie weiter unten sehen können. Sie verschwanden irgendwann im Laufe der folgenden Jahrhunderte. Die Insel wurde von den Langohren erobert. Gleichzeitig mit ihnen oder später, vielleicht aber auch schon früher, tauch ten die Kurzohren auf der Insel auf. Die Langohren schufen diese Steinkolosse. Zwischen den Langohren und den Kurzohren muß erbitterte Feindschaft ge herrscht haben, ein ständiger Krieg, der dazu führte, daß sich das Leben in unterirdischen Höhlen mit komplizierten Zugängen verlagerte. Die Langohren zogen sich später auf jene Halbinsel dort drüben zu rück. Sie schützten sie durch einen tiefen Graben von einigen Kilometern Länge, den sie mit Reisig und Holz anfüllten, um etwaige Angreifer zu verbrennen. Das ist Ikos Graben, den man wieder freigelegt hat. Die Kurzohren kamen jedoch durch eine List auf die Halbinsel hinüber und trieben die Langohren in den brennenden Graben. Sie vernichteten sie bis auf we nige Überlebende, die sich schließlich mit den Kurz ohren vermischten. Seitdem haben die Kurzohren die Insel für sich. Das ist ungefähr vierhundert Jahre her. Sie kamen dann mit europäischen Seefahrern in Be rührung, wurden als Sklaven verschleppt und durch Krankheiten dezimiert. Die Nachkommen von dem, was übrig blieb, finden Sie drüben in Hangaroa.« »Und was ist das einzige Rätsel, das übrig geblie ben ist und Sie beschäftigt?« 102
Pedro Sala zögerte, entschloß sich jedoch dann zu antworten. »Nun, es ist wirklich ein Rätsel. Wissen Sie, war um man den Steinbildern diese roten Steine auf stülpte, die man zehn Kilometer weit drüben brechen und mit vielen Mühen herüberschaffen mußte? Sie sollen keine Hüte, sondern Haartrachten darstellen. Rote Steine!« »Jetzt aber langsam!« warnte Hal giftig. »Wenn Sie uns etwa auch noch erzählen wollen, daß diese Langohren rothaarig waren, beantrage ich den Dich terpreis für Sie.« »Sie waren rothaarig«, sagte der Lehrer kurz. »Und mehr als das: Sie waren weißhäutig und besa ßen blaue Augen. Sie hießen sogar Ohotea, und das bedeutet nichts anderes als Weißhäute.« »Mann …«, setzte Hal entrüstet an, aber Sun Koh brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und wandte sich an Sala. »Das ist sicher?« »Absolut sicher. Absolut zweifelsfrei. Im übrigen haben wir drüben in Hangaroa noch direkte Nach kommen der Langohren. Einige von ihnen sind heute noch weißhäutig und rothaarig mit blauen Augen.« »Da wird sich wohl ein Seemann verewigt haben«, murmelte Hal verächtlich. »Das ist allerdings ein Rätsel«, sagte Sun Koh ernst. »Es wird schwerfallen, die Herkunft dieser 103
Langohren zu ermitteln.« »Wem sagen Sie das?« seufzte Pedro Sala. Südlich der Oster-Insel befindet sich verkehrstech nisch gesehen ein großes Loch. Der ganze südöstli che Teil des Stillen Ozeans liegt außerhalb der übli chen Schiffahrtswege. Das ist fast so gut wie ein Ta bu. Der Kapitän eines Passagierdampfers oder eines Frachters hat seine vorgeschriebene Route, die ge wöhnlich die kürzeste Verbindung zwischen zwei Häfen darstellt. Nichts außer den Naturgewalten kann ihn veranlassen, davon abzuweichen. Wenn also ein Gebiet außerhalb der Schiffahrtsli nien liegt, bleibt es mehr oder weniger unbekannt. Das gilt besonders für jene Meeresgebiete, deren Be such sich auch nicht aus anderen Gründen lohnt, zum Beispiel, um Fische zu fangen. Das gilt nicht zuletzt für das riesige Meeresgebiet südlich der Oster-Insel. Vielleicht wird es jedes Jahr einmal von einem oder zwei Schiffen durchquert, aber was will das bei der Größe des Gebiets schon besagen? Vor rund siebzig Jahren hat einmal ein fürstlicher Forscher eine Expedition unternommen und diesen Teil des Stillen Ozeans durchsegelt. Er berichtete von rund zweihundert neuentdeckten Inseln. Er war jedoch der einzige, der sich dafür interessierte. Erst vor einem Jahr unternahm George Kennan eine Ex 104
pedition mit ungefähr den gleichen Zielen. Sie ging mit der »Oakland« unter. Und nun versuchte Sun Koh, jene unbekannte In sel zu finden, deren Klippen die »Oakland« aufge schlitzt hatten. Die »Star of California« erreichte die Position, die Kapitän Krotthoff als letzte im Logbuch der »Oak land« verzeichnet hatte, bevor der Wirbelsturm das Schiff mitnahm. Das Wetter war an diesem Tag aus gezeichnet. Nirgends zeigte sich eine dunkle Wolke. Der Himmel lag als blaßblaue Schale auf einem Dunstrand, der die flimmernde Scheibe des Ozeans ringsum einfaßte. Sun Koh stieg mit dem Flugzeug auf und stieß in das unbekannte Gebiet hinein. Er entdeckte an die sem Tag einige winzige Inseln, die wie Bergspitzen mit einem schmalen Schwemmsaum aus dem Meer herauskamen und nichts mit der gesuchten Insel zu tun hatten. Am nächsten Tag holte er weiter aus. Fast vier hundert Kilometer südöstlich von der Position der »Star of California« entdeckte er aus dreitausend Meter Höhe die gesuchte Insel. Das war kein winziges Eiland mehr, sondern eine ausgedehnte Insel von beträchtlicher Größe mit ei nem regelrechten Höhenzug, der mit Wäldern über zogen war. Sie konnte eher noch etwas größer sein als die Oster-Insel, die sich immerhin über fünfzehn 105
Kilometer erstreckte. Vor der Insel lag eine kleine Insel, von der aus Klippen ins Meer hineinliefen. Auf der höchsten Erhebung ragte ein runder, stei nerner Turm auf, etwas tiefer ein zweiter. Krotthoffs Turm! Sun Koh hielt sich seitlich und in großer Höhe, um die Bewohner der Insel nicht zu alarmieren. Er flog zum Schiff zurück. »Gott sei Dank!« sagte Krotthoff mit Inbrunst. »Jetzt fühle ich mich endlich wieder wohl. Es ist eine dumme Sache, wenn man nicht mehr genau weiß, ob man sich auf seine fünf Sinne verlassen kann. Sie haben die Position?« Sun Koh gab sie ihm. »Nehmen Sie Kurs auf die Insel, gehen Sie aber nur bis auf dreißig Kilometer heran. Das Schiff muß vorläufig außer Sicht bleiben. Ich möchte zunächst mit dem Flugzeug erkunden, wie es um die Insel steht.« Krotthoff nickte und ging seiner Wege. Hal war eifriger. »Wir könnten gleich wieder losfliegen, Sir«, schlug er vor. »Der Tag ist noch lang.« »Ja«, sagte Sun Koh. »Aber ich fliege allein. Ihr bleibt beide hier.« Hal seufzte enttäuscht. »Aber…«, begann Nimba, doch Sun Koh wehrte mit einer Handbewegung ab. »Ihr bleibt. Ich brauche euch diesmal als Reserve. 106
Wenn der Kapitän damals richtig gesehen hat, ist die Insel bewohnt, und wenn jenes Zeitungsblatt auf Yu katan etwas bedeutet, könnte die Insel ein Stützpunkt von Leuten sein, die über alle modernen Mittel ver fügen und nicht gerade unsere Freunde sind. Ich weiß nicht, ob ich unbeobachtet herankomme. Sollte ich die Bewegungsfreiheit verlieren, so ist es mir lie ber, wenn ihr sie noch besitzt. Nichts gegen den Ka pitän und die Mannschaft, aber ihr werdet eher he rausfinden, was zu tun ist.« Hal drückte seinen Brustkasten heraus. »Hm, wenn das so ist – wir holen Sie schon aus der Klemme heraus.« »Nett von dir«, meinte Sun Koh lächelnd. »Wenn ich zehn Schritte hinter Ihnen die Rücken deckung übernehmen würde …«, schlug Nimba vor, aber Sun Koh schüttelte den Kopf. Er wollte allein vorgehen. Er mußte damit rechnen, daß Gegner be reitstanden, wo immer er niederging. Unter diesen Umständen war es zweckmäßiger, das Risiko allein zu tragen und nicht auch noch seine beiden Begleiter abfangen zu lassen. 4. Groß und gewaltig ist der Ozean. Größer und gewaltiger noch der Himmel in der Bläue der Unendlichkeit. 107
Am größten und gewaltigsten aber ist der winzige Mensch, der sich den klammernden Fäusten der Schwerkraft entzieht und zwischen Himmel und O zean mit einigen Tonnen Gewicht mühelos dahin schwebt, als sei er leichter als Luft. Dreitausend Meter über dem Meer, das sich glatt schimmernd in sanfter Wölbung duckte, schoß das Flugzeug mit gedrosseltem Motor dahin. Am Steuer saß Sun Koh. Sein Gesicht war auf merksam gespannt. Während seine Hände mecha nisch die Apparate bedienten, beobachteten seine Augen voll wacher Sorgfalt die Insel, die sich mehr und mehr unter das Flugzeug schob. Tief unten stauten sich dunkle Risse im klaren Wasser. Klippen? Die Insel war gut geschützt. Aber dort zog sich eine breite Einfahrt durch die zahllosen Klippen hindurch. Es würde gut sein, sich den Ver lauf zu merken, falls die Jacht die Insel ansteuern wollte. Eine kleine Insel, die der Hauptinsel vorgelagert war. Sah es nicht aus, als ob sich dort Menschen be wegten? Nein, ihn würden sie wohl kaum sehen oder hören. Ein breiter Wasserstreifen. Jetzt lag die Insel selbst unter dem Flugzeug. Sun Koh ging in eine Spiralkurve, um nicht über das Ziel hinauszuschießen. Die Maschine senkte sich ge räuschlos auf den Höhenzug zu, der quer durch die 108
Insel lief. Wald, überall Wald. Nur unten nach dem Strand zu zeigte sich freies Gelände, aber dort schien eine Landung am wenigsten ratsam zu sein. Sun Kohs Augen entdeckten eine ansteigende Felsnase, die aus dem Wald herausstieß. Sie war kahl, ein lichter, bräunlicher Fleck in dem dunklen Grün. Vorsichtig setzte er das Flugzeug auf die Felsplat te auf. Dank seiner modernen Konstruktion konnte er senkrecht niedergehen. Dennoch ließ er das Flugzeug in die grüne Tiefe hinabrollen, um es den Blicken der Inselbewohner zu entziehen. Unmittelbar am Rand des üppigen Waldes, dort, wo die kahle Felsplatte untertauchte, brachte er die Maschine zum Stehen. Nachdem er sich flüchtig ver gewissert hatte, daß keine Menschen in der Nähe zu bemerken waren, rief er die »Star of California« an. Man spürte in Krotthoffs Stimme die verhaltene Erregung, als er sich meldete: »›Star of California‹, Kapitän Krotthoff. Sind Sie es, Mr. Sun Koh?« »Ich bin’s«, bestätigte Sun Koh sachlich. »Die Landung ist geglückt, von Menschen habe ich bis jetzt nichts bemerkt.« »Dann können wir vielleicht auch heran?« Sun Koh wehrte entschieden ab. »Sie halten sich an die Anweisungen. Ich werde jetzt das Flugzeug verlassen und einen Streifzug 109
durch die Insel unternehmen. Ich rufe wieder an, so bald ich hierher komme.« »Ich wollte, ich könnte mit drüben sein. Seien Sie nur vorsichtig.« »Keine Sorge. Also auf später.« »Hals- und Beinbruch!« Sun Koh stieg aus. Seine Füße berührten den Bo den der fremden Insel, die eine der namenlosen des Weltmeeres war. Welche Geheimnisse mochte dieses Eiland bergen? Sekundenlang stand er nachdenklich und blickte still in die Ferne. Dann straffte er sich und begann vorwärts zu schreiten, in das Dickicht hinein, das un ter den Bäumen wucherte. Das Abenteuer begann. Er wandte sich aufwärts und wanderte in die Rich tung, in der der Turm auf der höchsten Anhöhe ste hen mußte. Dort, wo das Gelände nach allen Seiten am übersichtlichsten sein mußte, wollte er mit sei nem Erkundungsmarsch beginnen. Es war nicht leicht, die Richtung zu halten. Der Wald war außerordentlich dicht und zeigte keine Wegspuren. Sun Koh fand manche Eigentümlichkeit, die ihn überraschte. Das war kein tropischer Urwald, der sich in tausendfältigen, üppigen Verschlingungen zu einer bunten, feuchten Wildnis zusammenballte. Der ganze Charakter des Waldes entsprach vielmehr der gemäßigten Zone. Eichen und Buchen herrschten vor, und der Boden war verhältnismäßig trocken. 110
Trotzdem war der Wald nur schwer zu passieren. Riesige Stämme von mächtigem Umfang, deren Al ter viele Hunderte von Jahren betragen mußte, stan den wie die Säulen einer ägyptischen Tempelhalle dicht beieinander, so dicht, daß es rätselhaft blieb, wieso sie sich nicht gegenseitig erdrückten und die Nahrung wegnahmen. Und zwischen ihnen schossen junge Bäume empor und versuchten die Lücken aus zufüllen. Generation von Riesenbäumen standen ne beneinander. Tod und Verfall, Morschwerden und Verfaulen schien sich hier auf ein Mindestmaß zu beschränken. Der Boden mußte außerordentlich fruchtbar sein. Sun Koh wand sich zwischen den Stämmen hin durch und stand doch immer wieder vor einer Mauer lebenden Holzes. Es war ein verwirrendes Spiel, die ser Marsch durch den Wald, ein Spiel, das. den Rich tungsinstinkt, der im Menschen ohnehin nicht stark ausgeprägt ist, verlorengehen ließ. Es war schwer, sich aus der verführerischen Kreisbahn herauszuhalten, in die der Mensch einzu schwenken pflegt, wenn er in die Irre geht. Selbst Sun Koh mußte sein Wissen um diese Tatsache mit einsetzen und zeitweise gewaltsam nach rechts hal ten, um der Gefahr zu entgehen. Eine Stunde lang drang er vorwärts, dann wurde der Weg leichter. Einesteils standen die Bäume nicht mehr ganz so dicht, andernteils wurde die Richtung 111
nunmehr durch den merklichen Aufstieg des Gelän des festgelegt. Nach einer weiteren halben Stunde öffnete sich plötzlich die hölzerne Mauer. Zwei, drei helle Strei fen schnitten senkrecht hindurch, dann, etwas später, hatte Sun Koh den Wald hinter sich. Er stand am Rand eines scharf aufsteigenden, völlig kahlen Fel senhanges, der hundert Meter weiter zum Gipfel des Höhenzuges führte. Dort oben stand ein Turm. Er war insgesamt unge fähr zwanzig Meter hoch. Davon entfielen fünf Meter auf einen würfelförmigen Unterbau aus schwärzlichem Gestein. Auf ihm erhob sich mit etwa acht Metern das eigentliche Rund des Turmes aus dem gleichen Ge stein. Und darauf saß die Turmspitze, die mit einem silbrig schimmernden Metall überzogen war. Sun Koh hielt es freilich nicht für Silber, sondern vermu tete eher Platin oder eine unbekannte Legierung. Er hielt sich nicht lange mit der Betrachtung aus der Ferne auf. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß nichts die Anwesenheit eines Menschen verriet, stieg er bergaufwärts. Seine Füße setzten leicht auf, so daß keine unnötigen Geräusche entstanden. Auf halber Höhe sah er sich um. Der Blick von hier aus über die breitgelagerte Insel mit ihren vorgelagerten Fleckchen und Klippen war geradezu herrlich. Im weiten Rund dehnte sich der Ozean. Als er zum Turm zurückblickte, zuckte er zusam 112
men. Dort stand jetzt ein Mann. Er erinnerte irgendwie an die Bäume, die unten im Wald standen. Riesenhaft, urwüchsig und knorrig stand er dort oben und starrte auf das Meer hinaus. Der mäßige Wind preßte die grobe Kleidung, die aus kunstloser Hose und Jacke bestand, gegen die stark ausgebildete Muskulatur. Das Alter dieses Mannes mochte zwischen fünfzig und sechzig liegen. Sun Koh duckte sich unwillkürlich hinter die gro ßen Steine. Als er nach wenigen Augenblicken wieder aufsah, war der Mann verschwunden. War er davongegangen und bergabwärts gestiegen oder hielt er sich an der verdeckten Seite des Turmes auf? Hatte er Sun Kohs Anwesenheit etwa bemerkt? Ein Wunder wäre es nicht gewesen, da Sun Koh se kundenlang unbedacht gewesen war. Sun Koh schlich sich behutsam vorwärts. Er schlug einen großen Bogen, um auf die Rückseite des Turmes zu kommen, dann gewann er langsam Höhe. Ununterbrochen sicherte er nach allen Seiten, um nicht heimlich angegriffen zu werden, vor allem natürlich nach vorn, wo er den Gegner vermutete. Er sah nichts mehr von ihm. Nach einer halben Stunde war er bis auf zehn Me ter an den Turm herangekommen. Vor ihm befand sich deckungsfreies Gelände. Seitlich führte ein 113
schmaler, aber offenbar viel benutzter Pfad den Hang hinunter. Diesen hatte der Mann am Turm wohl be nutzt, so daß jetzt hier oben die Luft rein war. Er sprang auf und schnellte auf den Turm zu. So, jetzt hatte er Rückendeckung und konnte in aller Ru he die Umgebung mustern. Ringsum fiel der Felsen steil ab und verschwand unten in der grünen Mauer des Waldes. Jenseits wur de der Strand sichtbar, das Wasser und kleine Inseln. Langsam schritt Sun Koh herum. Als er nach vorn gelangt war, stutzte er. Bewegten sich dort auf einer der vorgelagerten Inseln nicht Menschen? Hatte er nicht vorhin vom Flugzeug aus schon den gleichen Eindruck gehabt? Er legte seine Hand über die Augen, um die blen dende Sonne abzuschirmen, aber er kam nicht dazu, seine Beobachtungen zu erweitern. Ein Geräusch ü ber ihm ließ ihn hochfahren. Er sah einen kopfgroßen Stein auf sich zufliegen, sah am oberen Rand des Turmunterbaus einen ausge streckten Arm und einen Kopf mit grauer Mähne … Dann brach er zusammen. Der Spielraum war zu kurz gewesen. Er hatte sich zwar noch etwas zur Seite werfen können, aber es reichte nicht aus. Der Stein hatte seinen Kopf noch gestreift. Und er war mit derart furchtbarer Wucht geworfen worden, daß auch der Streifer betäubte. Hätte er voll getroffen, dann wäre die Hirnschale 114
zermalmt gewesen. Während Sun Koh in die Bewußtlosigkeit hinab glitt, spürte er ein brennendes Gefühl der Scham, daß er sich hatte übertölpeln lassen. Der Unterbau besaß eine Art Brüstung, dahinter hatte der andere gelauert und ihn von dort aus erledigt. Der grauköpfige Hüne sprang mit überraschender Gelenkigkeit ab und ging mit schweren Schritten auf den Feind zu. Lange starrte er mit grübelndem Ge sichtsausdruck auf ihn nieder. Wie kam der Fremde hierher? Es war doch seit langer Zeit kein Schiff in Sicht gekommen? Sollte er etwa von der Insel Rona herü bergeschwommen sein? Rob mußte es wissen. Rob würde sehr zornig werden, wenn er diesen Toten sah. Denn tot war der Fremde, sein Herz schlug nicht mehr. Was mußte er auch auf die Insel kommen? Mac nahm den schlanken Körper Sun Kohs auf, legte ihn über seine Schulter und trug ihn bergab wärts davon, nachdem er noch einen Blick über den Horizont geworfen hatte. Drei Stunden lang wanderte er auf dem Höhenzug entlang, fast genau nach Süden. Es war ein Glück für Sun Koh, daß er dabei einen Pfad benutzte und sich nicht durch das Gewirr der Stämme drängte. Der Höhenzug fiel im Süden schroff zum Meer ab. 115
Mac trat mit seiner Last bis dicht an den senkrechten Absturz heran, als wollte er den Mann, den er für tot hielt, dort hinunterwerfen. Das wäre das Ende gewe sen. Bis zum Meeresspiegel waren es mindestens dreihundert Meter, und unten gab es Klippen. Doch der Hüne dachte nicht daran, sich des Frem den auf diese Weise zu entledigen. Dort unten konnte Rob die Leiche finden, und Mac scheute sich insge heim vor den immer schärfer werdenden Auseinan dersetzungen mit dem Jüngeren. Nein, Rob sollte überhaupt nicht erfahren, daß Mac auf den Fremden getroffen war und ihn getötet hatte. Fünfzig Meter vor dem Absturz befand sich ein brunnenartiges Loch, dessen Wände mit leichter Schrägung in die Tiefe führten. Was hier hinein ver schwand, kam bestimmt nicht wieder zum Vor schein. Mac wußte das aus Erfahrung. Er legte seine Last dicht am Rand der Bodenöff nung nieder, starrte wieder minutenlang auf den Leb losen und gab ihm dann einen kurzen Stoß mit dem Fuß, so daß er über die Kante hinweg in die Tiefe rutschte. In diesem Augenblick rang sich Sun Koh aus der Betäubung hoch. In der Erkenntnis letzter Gefahr stieß er einen dumpfen Schrei aus, während seine Hände nach einem Halt hochzuckten. Es war schon zu spät. Unaufhaltsam, mit zunehmender Geschwindigkeit 116
glitt er an der glatten Wand des schrägen Rohrs in den schwarzen Schlund hinab, in die unbekannte Tie fe, aus der noch nie etwas zurückgekehrt war. Hatte Mac den Schrei noch gehört? Er wandte sich ab und wanderte mit schweren, fe sten Schritten nach Norden. * Rob starrte in den rötlichen Ball der untergehenden Sonne, deren Schein in sein helles Haar goldene Feuerfunken aufblitzen ließ. Von unten kam ein Ruf. Rob erwiderte ihn kurz, während sein Blick aus der Ferne zurückkehrte und seine Gestalt sich straffte. Nach einer Weile traf Mac auf dem Gipfel ein. Sie begrüßten sich in einem Ton, der eine gewisse ge genseitige Zurückhaltung verriet, dann setzten sie sich schweigend nebeneinander. »Du warst fort?« fragte Rob, als das Schweigen übermächtig wurde. »Ja, ich war fort«, bestätigte Mac. »Ist etwas geschehen?« »Nichts.« Wie ein Stein, der dumpf den Abhang hinunter schlägt, kam die Antwort des Älteren. Rob streckte mit einer schnellen Bewegung seine Hand aus und hielt ihm einen Gegenstand unter die 117
Augen, den Sun Koh als sein Taschenmesser erkannt haben würde. »Nichts?« fragte er scharf. »Dann verrate mir bit te, wie dieses Messer an den Turm kommt und in welchem Zusammenhang es mit einer Blutlache und einem großen Stein steht?« Mac sah düster auf. Nun kam die Auseinanderset zung doch, die er hatte vermeiden wollen. »Ein Fremder war hier«, bekannte er rauh. Rob faßte seinen Arm. »Ah, ein Fremder? Wo ist er?« Mac machte seinen Arm frei und erwiderte schleppend: »Ich warf ihn in das Loch am südlichen Absturz.« Rob beugte sich jäh vor und schrie dem anderen förmlich ins Gesicht: »Du hast ihn getötet?« »Ja.« »Du hast ihn getötet?« murmelte Rob endlich ganz leise, als könnte er es noch nicht fassen. Mac machte eine harte Bewegung. »Ich habe dich gewarnt. Ich will keinen Fremden auf der Insel sehen. Es war deine Schuld. Du solltest Fremde von hier fernhalten.« In Robs Gesicht stieg Verwunderung. »Meine Freunde von Rona? Sie sind alle unten. Es war keiner von ihnen.« »Du lügst.« »Ich lüge nicht. Das Messer gehört keinem meiner 118
Freunde. Wie sah der Fremde aus?« »Er war nicht viel älter als du und …« »Also ist es ein Fremder gewesen, denn auf Rona lebt niemand, der nicht viel älter als ich ist.« Mac schüttelte schwerfällig den Kopf. »Wie sollte der Mann auf die Insel kommen? Wo sollte er herkommen, wenn nicht von Rona?« »Hättest du ihn doch am Leben gelassen«, gab Rob bitter zurück, »dann hätte er dir deine Fragen beantworten können. Du bist ein gemeiner Mörder, Mac.« Mac fuhr auf. »Hüte deine Zunge, Knabe. Du hast nicht das Recht, mich so zu verurteilen. Du bist zu jung, um zu verstehen, warum ich so handle.« Rob sah ihn stolz an. »Es wird dir auch einem Älteren gegenüber schwerfallen, Verständnis für deine gemeine Mordtat zu finden.« »Du nennst Mord, was in Wirklichkeit Notwehr ist.« »Notwehr? Hat dich der Fremde angegriffen?« »Nicht so, wie du es meinst, aber er hat den Frie den dieser Insel bedroht.« »Also hat er doch nicht angegriffen, und du hattest kein Recht, ihn zu töten. Dieser Mord trennt uns für immer.« Mac lachte rauh auf. 119
»Du redest wie ein Buch. Zwischen uns gibt es schon lange nichts mehr zu trennen, seitdem die Fremden auf Rona sind. Du bist fast dauernd bei ih nen, fühlst dich zu ihnen gehörig und redest ihnen nach dem Mund. Schade, daß ich nie das Schwim men gelernt habe, sonst wäre es nicht soweit ge kommen.« »Wie meinst du das?« »In jener ersten Nacht wäre sonst ich hinüberge schwommen. Ich hätte jedoch nicht Freundschaft mit den Schiffbrüchigen geschlossen.« Rob schauderte. »Du wärst auch an ihnen zum Mörder geworden?« »Das kannst du dir an den Fingern abzählen«, kam es grob zurück. »Warum?« »Warum? Vielleicht nur deshalb, damit du sie nicht kennenlernen solltest. Ich dachte mir, es sollte dir einmal besser gehen als mir.« »Wie meinst du das?« Mac hob die Schultern. »Was soll ich dir da erklären? Glaubst du, ich spü re nicht, wie sie dich zum Narren machen?« »Das ist nicht wahr.« »Es ist wahr. Du bist in die Frau verliebt. Rede nicht, ich habe Augen im Kopf. Gib nur acht, eines Tages werden sie dir einen Tritt geben, wenn sie dich nicht mehr brauchen. Du kennst die Menschen nicht, 120
aber ich habe mich lange genug mit ihnen herumge schlagen und weiß Bescheid. Doch ich kann dich nicht abhalten, wenn du gewaltsam in dein Unglück hineinrennen und dich unter Menschen mischen willst, statt hier frei und unabhängig zu leben.« Rob sah vor sich auf die Erde. Zögernd fragte er: »Warum, Mac, warum haßt du die Menschen so?« Nach langer Pause gab der Ältere Antwort: »Du hast mich schon manchmal danach gefragt. Heute will ich dir’s sagen, weil unsere Wege sich wohl nun end gültig trennen. Ich wurde vor mehr als fünfzig Jahren auf Barra geboren. Das ist nicht diese Insel, sondern eine Insel, die zur Western-Gruppe in der Nähe von England gehört. Meine Eltern waren arme Fischerleu te, sie sind längst gestorben. Mit dreizehn Jahren kam ich zum erstenmal auf ein größeres Schiff. Ich war Schiffsjunge, Leichtmatrose und Vollmatrose und lernte dabei die Welt kennen. Später machte ich mein Steuermannsexamen. In jener Zeit lernte ich in Edin burgh eine Frau kennen, dir mir gefiel. Sie hieß Mar gret und war so schön, wie eine Frau nur sein kann, um einem Mann den Kopf zu verdrehen. Mir verdreh te sie ihn gründlich. Ich liebte sie. Sie wurde meine Frau. Lange dauerte es nicht, da kam ich dahinter, daß sie mich betrog. Nun, ich schlug sie halbtot und warf sie hinaus. Seit jener Zeit wußte ich, was ich von den Frauen zu halten hatte.« Da er lange aussetzte, fragte Rob: »Deshalb also 121
sind dir die Menschen so verhaßt?« Mac schüttelte den Kopf. »Nicht deshalb allein. Die Frau haßte mich, weil ich ihre Schliche aufgedeckt und sie geschlagen hat te. Und sie hatte ihre Liebhaber gut in der Hand. Der eine war der Sohn des Reeders, für den ich fuhr. Ich verlor meinen Posten. Einige Zeit später wurde ich wegen Diebstahls verhaftet und für einige Monate ins Gefängnis geschickt. Man fand gestohlene Sa chen bei mir und brachte Zeugen, die mich gesehen haben wollten. Dabei war ich so unschuldig wie nur irgendeiner. Die ganze verfluchte Bande arbeitete gegen mich. Nun, ich ließ mich nicht unterkriegen. Als ich aus dem Gefängnis herauskam, fing ich ganz von vorn an. Ich ließ mir durch einen Bekannten neue Papiere ausstellen und ging nach Amerika. Dort trieb ich mich jahrelang als alles Mögliche herum. Es hat wenig Zweck, dir davon zu erzählen. Jedenfalls fand ich keine Gelegenheit, mein Urteil über die Menschen zu ändern, im Gegenteil, ich fand es stets und überall bestätigt. Hinterlistig, gemein und falsch waren sie alle, immer darauf bedacht, dem andern zu schaden, um sich selbst dadurch zu nützen. Glaube mir, ich hatte sie satt. Als ich eines Tages allein an diese Insel geworfen wurde, da war ich nicht un glücklich darüber, sondern froh.« Überzeugend klang die Darstellung für Rob nicht. Einesteils sprach Mac sehr ruhig und fast ohne Bit 122
terkeit, andernteils deutete er nur an, was für ihn wichtige Erlebnisse gewesen waren. »Wie kamst du auf diese Insel?« fragte er weiter. »Ich ging später wieder zur See, nicht mehr als Steuermann, sondern als gewöhnlicher Matrose. Zu letzt ließ ich mich auf einem Frachtdampfer anheu ern, der den Stillen Ozean befuhr. Der Kapitän war ein Engländer. Walter Doughton hieß er. Robert Dougthon war sein Bruder. Er fuhr als Passagier mit auf dem Schiff, wollte nach Australien, um sich dort eine neue Existenz zu gründen. Er hatte seine Frau und seinen zweijährigen Jungen mit. Der Junge hieß Robert wie der Vater. Das warst du.« »Wie heißt meine Mutter?« »Das weiß ich nicht mehr, ich habe es vergessen.« »Erzähle weiter.« »Wir kamen in einen Sturm, der tagelang Fangball mit uns spielte. Dann fuhren wir eines Nachts auf den Klippen auf. Das Schiff barst auseinander, bevor die Boote herabgelassen werden konnten. Ich sprang wie die andern ins Wasser. Dein Vater war wohl auf eine Klippe geraten und hatte dich losgelassen. Ich sah dich jedenfalls plötzlich vor mir und packte zu, bevor du versinken konntest. Als ich dann hier am Strand erwachte, hatte ich dich im Arm. Vom Schiff und seinen Menschen war nichts mehr zu sehen, nur die Trümmer und einige Leichen wur den angetrieben. Das geschah vor rund zwanzig Jah 123
ren. Seitdem leben wir beide allein auf dieser Insel.« Rob war voller Unruhe. »Meine Eltern ertranken also vor der Insel?« »Ja.« »Du hast nie den Versuch gemacht, sie zu verlas sen?« »Nein. Ich schwor mir, bis an mein Lebensende hier zu bleiben. Ich baute kein Boot und kein Floß, sondern richtete mich auf der Insel ein. Zur Not hatte ich an dir Gesellschaft genug.« »Du hättest aber nun als reicher Mann in die Welt zurückkehren können?« »Ich wollte aber nicht. Sie hätten mich doch nur wieder betrogen. Hier habe ich nun zwanzig Jahre lang in Frieden gelebt, und hier will ich auch ster ben.« »Du willst, daß ich es dir gleich tun soll?« Mac machte eine Bewegung, die wohl Verzicht ausdrücken sollte. »Ich wünschte es dir. Eines Tages, wenn du die Welt kennengelernt hast, wirst du wünschen, hier geblieben zu sein. Aber ich weiß, daß jeder seine Er fahrungen selbst machen muß. Ich kann dich nicht halten, sobald sich dir und den andern eine Chance bietet, die Insel zu verlassen. Ich gehe aber nicht mit, und ich will auch nicht, daß irgend jemand die Insel betritt.« »Vielleicht geben dir deine Erfahrungen recht«, 124
erwiderte Rob nachdenklich. »Aber ist es nötig, ei nen Menschen, der zufällig hierherkommt, deshalb zu töten?« »Ja«, gab der Ältere hart zurück, »denn das ist das einzige Mittel, um ihn für die Dauer zu entfernen. Vergiß nicht, daß dort unten in den Häusern Schätze liegen, von deren Größe du dir vielleicht noch keine richtige Vorstellung machst. Sobald ein Fremder von ihnen erfährt, wird er Himmel und Hölle in Bewe gung setzen, um sie zu bekommen. Er wird so bald wie möglich von hier verschwinden, aber eines Ta ges mit einem Schiff wieder da sein. Dann ist es aus mit der Einsamkeit auf dieser Insel.« »Wirf die Schätze doch ins Meer.« Mac schüttelte den Kopf. »Es wird nicht mehr nötig sein. Früher oder später wirst du die Insel verlassen, dann sollst du das Zeug mitnehmen, damit du wenigstens nicht arm bist. Man wird dich zwar bald darum betrügen, aber du sollst mir nicht den Vorwurf machen, daß ich nicht alles getan hätte, um deine Zukunft zu sichern.« »Die Schätze sind dein Eigentum.« »Wieso? Sie liegen seit Jahrhunderten dort. Ich will nichts davon wissen. Wenn es dir Spaß macht, kannst du dich damit behängen.« Wieder entstand eine Pause, dann sagte Rob: »Kennan meinte, die Insel sei gefährlicher Boden. Früher oder später würde der erloschene Vulkan 125
wieder ausbrechen.« Mac zuckte mit den Schultern. »Pah, er ist seit zwanzig Jahren nicht ausgebro chen und vorher seit vielen Jahrhunderten oder Jahr tausenden nicht, soviel ich davon verstehe. Ich weiß natürlich nicht, seit wann das Ventil dort unter dem Meer arbeitet, aber solange es arbeitet, ist bestimmt nichts zu befürchten. Und wenn es einmal eine Kata strophe gibt, dann wird es für mich nicht schlimm sein. Ich bin alt genug, um den Tod mit Fassung zu tragen.« Damit war das Gespräch im großen und ganzen zu Ende. * Einige Stunden später unterhielt sich Rob mit Ken nan über das, was er gehört hatte. »Das entspricht meinen eigenen Vermutungen«, sagte Kennan. »Du bist ebenso wie Mac ein Schiff brüchiger. Und Mac gehört sicher zu den schwerblü tigen Naturen, die stärker unter der Welt leiden als andere. Die Untreue seiner Frau hat ihn verstört, da von hat er sich nie wieder recht erholt, sondern hat die Menschen nur noch durch eine besondere Brille gesehen. Man kann ihn schon verstehen.« Rob hatte bisher vermieden, von dem Fremden zu sprechen. Nun meinte er zögernd: »Ich kann es nicht 126
beurteilen, aber darf Mac deshalb, weil er die Men schen haßt, einen Mord begehen?« »Natürlich nicht. Hat er dir gesagt, daß er gemor det hat?« »Ja.« »Hm, vielleicht liegt aber darin mit der Grund, wa rum er sich verbirgt? Es hat jedoch keinen Zweck, alte Geschichten aufzurühren. Wir leben hier außer halb der Gesetze, und es wird ihn niemand zur Ver antwortung ziehen.« Rob schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Er hat heute erst gemordet.« Kennan prallte zurück. »Heute erst? Aber wieso, wen denn?« »Er fand einen Fremden auf der Insel. Sieh, dieses Messer stammt von ihm. Ich fand es am Turm und stellte Mac zur Rede. Er gestand, daß er einen Frem den gefunden, ihn erschlagen und fortgeschafft ha be.« Kennan war so fassungslos, daß er nur schwer Worte fand. »Er hat – einen Fremden?« würgte er. »Also hat Carpool doch recht gehabt?« »Wovon sprichst du?« Kennan riß sich zusammen. »Carpool behauptete, er habe für ganz kurze Zeit dicht über der Insel ein Flugzeug bemerkt, wie es 127
sich auf sie niedersenkte. Wir lachten ihn aus und nahmen an, daß er einer Sinnestäuschung zum. Opfer gefallen sei.« »Ein Flugzeug?« murmelte Rob. »Das würde erklären, wieso sich plötzlich ein Fremder auf der Insel befand. Wie sollte er sonst hingekommen sein?« »Freilich. Aber dann muß das Flugzeug irgendwo stehen, und ich werde es finden.« »Was nützt uns das, wenn Mac den Fremden getö tet hat? Herrgott, es ist nicht auszudenken. In dem gleichen Augenblick, in dem sich die Gelegenheit bietet, der Welt von unserem Schicksal Kunde zu geben, wird uns die Hoffnung erschlagen. Das ist furchtbar.« Rob nickte düster. »Mac hätte es nicht tun dürfen. Er haßt die Men schen zu sehr.« Kennan wurde heftig. »Niemals gibt ihm dieser Haß die Berechtigung, einen Menschen zu töten. Und vielleicht hat er mit diesem einen uns alle gemordet. Wenn es eines Ta ges hier eine Erdkatastrophe gibt, so wird er daran schuld sein, wenn wir mit untergehen müssen.« »Du rechnest mit einem Unheil?« »Nein«, erwiderte Kennan ruhiger. »Es läßt sich in diesem Punkt wenig voraussagen. Die Inseln können noch Jahrzehnte so stehen, vielleicht auch immer. 128
Möglicherweise baut sich dort draußen allmählich eine neue vulkanische Insel aus dem Wasser heraus auf, ohne daß hier wesentliche Veränderungen eintre ten. Wer will das sagen? Aber für uns wäre es auf jeden Fall besser, wir könnten von hier fort.« »Wollen wir immer noch kein Boot oder Floß bauen?« Kennan schüttelte den Kopf. »Ich bin nach wie vor dagegen. Die Entfernungen bis zum Festland oder bis zu befahrenen Inseln sind riesig. Unser Floß würde nur sehr wenig seetüchtig sein. Es hieße das Schicksal gar zu sehr herausfor dern.« »Dann bleibt ihr also.« »Wohl oder übel.« * Sun Koh schoß mit den Füßen voraus in den Schacht hinein. Es war kein freier Fall, aber er hatte große Ähnlichkeit damit. Die Geschwindigkeitszunahme war ganz beträchtlich, die Reibung gering. Die glatte Wand bot den suchenden Händen keinen Wider stand. Die Gefahr hatte den letzten Schleier der Betäu bung von Sun Kohs Gehirn gerissen. Er dachte klar und schnell. Trotzdem fand er keine Möglichkeit, die Lage zu seinen Gunsten zu ändern. Wenn der Sturz 129
so weiterging, konnte er nur irgendwo mit zer schmetterten Gliedern landen. Als einzige ungewisse Aussicht und Hoffnung blieb, daß die Fahrt in tiefem Wasser enden könnte. Der Schacht war fast kreisrund und besaß einen Durchmesser von ungefähr drei Me ter. Dieser Durchmesser machte es unmöglich, sich durch Spreizen der Beine oder der Arme einzuklem men und dadurch die Geschwindigkeit zu verringern. Es blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, was geschehen würde. Jetzt wurde der Schacht enger. Sun Koh ahnte im letzten Sekundenbruchteil ein Hindernis unter seinen Füßen. Er straffte seine Mus keln, und schon schmetterte ein harter Schlag gegen seine Füße, der als gewaltiger Ruck durch den Kör per hindurch bis zum Kopf stieß. Sekundenlang standen die Wände des Schachts still. Sun Koh war auf einen Gegenstand aufgeprallt, der sich in dem Schacht eingeklemmt hatte. Es war ein Glück, daß er sich beim Aufprall nicht die Beine gebrochen hatte. Das Hindernis mußte aus mürbe gewordenem Holz gewesen sein, das einen Teil der Wucht federnd abgefangen hatte. Die Reise ging weiter. Das unbekannte Hindernis war aus der Klemme herausgetrieben worden. Jetzt stürzte es in die Tiefe, und Sun Koh folgte ihm. Er hielt es jedoch für äußerst günstig, daß seine Ge schwindigkeit für kurze Zeit noch einmal auf den 130
Nullpunkt zurückgeführt worden war. Jetzt nahm sie wieder zu, aber nicht lange. Die Fahrt staute sich an einem zweiten Hindernis. Dies mal wurde Sun Koh durch ein vorangehendes Ge räusch gewarnt, so daß er den Stoß weich auffangen konnte. Von nun an ging es verhältnismäßig langsam vor wärts. Die Geschwindigkeit blieb gering. Unter Sun Koh mußte sich im Schacht ein sperriges Hindernis befinden, daß mit den Wänden Reibung besaß und die Fahrt bremste. Er schätzte gerade, daß er ungefähr zweihundert Meter gefallen sein konnte, als er spürte, wie das Holz unter seinen Füßen beschleunigt wich. Kurz darauf verschwand es völlig. Gleichzeitig spürte Sun Koh eine feuchte Kälte. Er verlor den Kontakt mit der Wand des Schachts und stürzte frei in schwarze Ungewißheit hinab. Der Sturz dauerte nicht lang. Sun Kohs Füße schlugen auf Widerstand, sein Rücken prallte gegen eine harte Kante, dann hämmerte ein Schlag gegen seinen Kopf. Er verlor das Bewußtsein. Irgendwann kam er wieder zu sich. Sein Körper war durchkühlt und steif. Er mußte seine Muskeln zwingen, sich wieder zu bewegen. Gebrochen war glücklicherweise nichts. Sehen konnte er nichts. Nirgends war eine Spur von einfallendem Licht zu entdecken. Die Dunkel 131
heit lag wie ein dicker Mantel über seinen Augen. Die Luft roch nach Wasser. Die eigentümliche Stille und Kälte ließ ihn vermuten, daß er in eine Höhle geraten war. Sun Koh griff in seine Tasche, nachdem er aufge standen war. Tatsächlich, sie hatten ihm die Taschen lampe gelassen. Und sie funktionierte sogar noch. Der helle Schein stach in die schwarze Finsternis hinein. Das spitze Strahlenbündel tastete wie ein lan ger Finger über die Umgebung hin. Das Lichtfeld war nicht groß, aber es dauerte nicht lange, bis Sun Koh über seine Umgebung unterrichtet war. Sie bot einige Überraschungen. Er befand sich in einer Höh le. Ihre Decke hing nur zehn Meter über ihm. Nach hinten senkte sie sich tief hinab, nach vorn stieg sie weiter an und erreichte schließlich eine Höhe von ungefähr fünfzig Metern über dem Meeresspiegel. Der Grund der Höhle war mit Wasser ausgefüllt. Wo es herkam, war zunächst unerfindlich, denn nir gends zeigte sich eine Öffnung. Sicher mußte es je doch auf irgendeine Weise mit dem Meer in Verbin dung stehen, denn seine Oberfläche wurde durch eine leichte Wellenbewegung beunruhigt. Außerdem be wiesen dunkle Streifen am anstehenden Felsen, daß das Wasser zeitweilig höher stand als im Augenblick. Die Wände der Höhle stiegen fast senkrecht em por. Im Hintergrund verengten sie sich und bildeten mit der herabkommenden Decke ein stumpfes Drei 132
eck. Zwischen den sich annähernden Wänden lag ein geklemmt ein Schiff. Auf dem Verdeck dieses Schiffes stand Sun Koh. Das Schiff bedeutete für ihn die größte Überra schung. War es an sich schon merkwürdig, daß in der verschlossenen Höhle ein Schiff lag, so noch mehr das Aussehen des Schiffes. Es erinnerte Sun Koh an einen Kupferstich, den er einmal gesehen hatte, an eine mittelalterliche Zeichnung, die eine Karavelle darstellte. Er stand auf dem schmalen, hochgebauten Achter deck des altertümlichen Schiffes und konnte es in seiner ganzen Länge übersehen. Von der schmalen Fläche des Achterdecks führten einige Stufen auf das Hauptdeck hinunter, auf dem die zertrümmerte Poop stand. Dahinter ragte ein gebrochener Mast auf, an dem noch ein gespenstiges Gewirr von Segelresten und Tauen hing. Die Steuerbordreling war ganz ver schwunden. Backbords standen noch Reste des höl zernen Geländers. Sie sahen aus, als würden sie im nächsten Augenblick zusammenfallen. Für seine Zeit war das sicher ein stattliches Schiff gewesen. Sun Koh erschien es winzig, da er an die Größen der modernen Dampfer gewöhnt war. Ein Wunder, daß Menschen mit so kleinen Schiffen über den Ozean gekommen waren. Auf dem Deck wimmelte es von Spuren des Ver 133
falls. Hier lagen zerbrochene Spieren und allerlei an dere Holzteile, dort die Trümmer eines Bootes und verfaultes Tauwerk. In den Bodenplanken klaffte ein gähnendes Loch. Auf den Planken lag eine grauwei ße Schicht, die wie Schimmel aussah. Die Bretter bestanden mehr aus modrigem Zunder als aus Holz. Die Zerstörung mußte jahrhundertelang gearbeitet haben. Am wildesten sah es auf dem Achterdeck aus. Sun Koh stand mitten in einem wirren Haufen von allen möglichen Dingen. Es war, als hätte man den Schacht als eine Abfallgrube benutzt und wahllos alles in ihn hineingeworfen, was oben auf der Insel nutzlos geworden war. Dicht vor seinen Füßen be fand sich die Kiste, die unter ihm vorausgefallen war und seinen Sturz gebremst hatte. Sie war geplatzt. Aus einem der klaffenden Risse hing ein Stück bunte Seide heraus. Sun Koh verzichtete darauf, sich das Gewirr um ihn herum näher anzusehen. Es bildete ohnehin nur den Bruchteil eines größeren Haufens, der hinter dem Achterdeck auf dem Grund der Höhle lag und an das buntscheckige Lager eines Lumpenhändlers erinner te. Sun Koh stieg mit aller gebotenen Behutsamkeit die Stufen zum Hauptdeck hinunter. Seine Füße tra ten wie auf eine weiche Matte, die befürchten ließ, daß sie nicht mehr trug und im nächsten Augenblick 134
nachgab. Doch sie trug noch. Unter der Fäulnis muß te sich ein Rest von gesundem Holz befinden. Da mals hatte man für die Schiffsbauten wohl haupt sächlich Eiche verwendet, und Eiche war nicht leicht zu zermürben. Ein anderes Holz hätte die jahrhunder telange Beanspruchung durch diese feuchte Luft wohl kaum so überstanden. Die Tür des Deckhauses hing schräg in den An geln. Drinnen sah es wüst aus – genau so, als hätte man alles stehen und liegen gelassen, wie es der Sturm durcheinander gebracht hatte. An der Wand hing noch der schwärzliche Rest ei ner Landkarte. Mit einiger Mühe konnte Sun Koh die Jahreszahl entziffern. Anno Domini 1603. Mehr als dreieinhalb Jahrhunderte waren seitdem verflossen. Was mochte mit den verwegenen Seefah rern geschehen sein, die an diese Küste – verschlagen worden waren? Wieder kam Sun Koh eine erstaunliche Tatsache zum Bewußtsein. Das Schiff lag in einer Höhle, die ringsum verschlossen war. Wie hatte es in die Höhle hineingelangen können? Nun, es gab eigentlich nur eine Antwort. Die Höh le mußte früher offen gewesen sein. Das Schiff war in sie hineingetrieben worden, und später hatte ein Felssturz die Höhlung verschlossen. Sun Koh ahnte, daß die Frage nach einem Aus 135
gang aus dieser Höhle für ihn zur Lebensfrage wer den sollte. Er versuchte deshalb vor allem, eine Ant wort auf sie zu finden. Der steile Schacht kam für eine Rückkehr zum Tageslicht nicht in Frage. Wo aber befand sich eine andere Öffnung? Er sprang vom Schiff herunter. Unterhalb der Steuerbordreling zog sich ein schmales, unregelmä ßiges Felsband hin, dem er bis in den Hintergrund der Höhle folgen konnte. Er stieß auf undurchdring lich gewachsene Felswände. So kehrte er bald um und folgte dem Band nach der anderen Seite hin. Der Felsstreifen verengte sich mehr und mehr. Schließlich tauchte er unter den Wasserspiegel. Sun Koh mußte wohl oder übel schwimmend weitersu chen. Das Wasser war von durchdringender Kälte. Es bekam dem Körper sicher nicht gut, sich lange in ihm aufzuhalten. Sun Koh tastete schwimmend die Wand ab. Felsen, Felsen, Felsen! Erst am breiten Ende der Höhle machte er eine Entdeckung, die ihn hoffen ließ. Die steinerne Wand vor ihm war nicht gewachsen, sondern bestand aus rohen Felsblöcken verschiedener Größe, die wild und ungeordnet aufeinanderlagen. Hier bot sich für sei nen Fuß auch wieder genügend Halt, so daß er aus dem Wasser heraussteigen konnte. Die Situation ließ sich leicht erfassen. An dieser Stelle hatte irgendwann nach der Einfahrt des Schif 136
fes ein Bergrutsch stattgefunden. Das vordere Stück der Höhle war zusammengebrochen und hatte den Eingang versperrt. Es kam nun darauf an, in welcher Mächtigkeit der Bruch erfolgt war und wie sich die Felsmassen gestaut hatten. Wahrscheinlich befanden sich weiter oben Lücken, die einen Weg in die Frei heit wiesen. Sun Koh kletterte nach oben. Fünfzig Meter waren keine beeindruckende Höhe, aber es war auch alles andere als ein angenehmer Aufstieg. Die Blöcke standen immerhin stellenweise recht steil aufeinan der und zwangen Sun Koh, sich auf die Kraft seiner Finger und Zehen zu verlassen. Finger und Zehen waren jedoch in der Kälte der Höhle und des Was sers schon reichlich steif geworden. Sun Koh wußte, daß diese Höhle sein Grab wer den würde, wenn es ihm nicht gelang, einen Ausgang zu finden. Und er mußte ihn in absehbarer Zeit fin den, bevor er Kraft und Körperwärme verlor. Des halb setzte er sich nicht erst hin, um zu brüten, son dern er ging unverzüglich gegen die Lebensbedro hungen an, die in dieser finsteren Höhle lag. Und hier an dieser zusammengebrochenen Wand mußte er eigentlich einen Ausgang finden. So regel mäßig erfolgte wohl kaum ein Felssturz, daß nicht irgendwo eine Lücke blieb. Unten war nichts zu er hoffen, da dort die Felsmassen im breiten Sockel la gen, aber nach oben zu mußte die Wand dünner wer 137
den. Er erreichte die Höhe und stieß mit dem Kopf ge gen die lastende Decke, aber in seine Augen drang keine Spur von Licht. Er tastete sich zur Seite, kam zurück, glitt etwas tiefer und suchte wieder seitlich. Da – zehn Meter unter der Decke stach eine feine Lichtnadel in seine Augen. Das bestätigte seine Hoffnungen. Das Licht kam von draußen, wo die Sonne schien und das Meer rauschte. Aber die Strecke, die es in diesem fast punktförmigen Spalt zurücklegen mußte, schien reichlich lang zu sein. Einige Meter vielleicht. Das war nicht gut. Es sah nicht so aus, als könnte er hier durchkommen. Er mußte es weiter oben versu chen. Er kletterte wieder höher und begann, die Wand noch einmal genauer abzusuchen. Endlich entdeckte er eine neue Spalte, durch die etwas Licht hindurchdrang. Aber die Wand war auch hier oben noch zu dick. Die Steine lagen fest aufeinander und waren so schwer, daß es ihm nicht gelang, einen von ihnen herauszubrechen. Nach langen, nutzlosen Bemühungen zwangen ihn Erschöpfung und Erstarrung zur Rückkehr in die Tie fe. Sein Körper war schon so steif, daß ihm der Ab stieg endlos lang und mühevoll erschien. 138
Endlich konnte er sich in das Wasser fallen lassen, das ihm jetzt geradezu lau vorkam. Er schwamm zum Felsband zurück, zog seine Kleidung über, machte Freiübungen, um wieder auf Temperatur zu kommen. Der erste Versuch war mißglückt. Er wagte bald den zweiten. Wenn die abschließen de Wand keine brauchbare Lücke bot, dann vielleicht der Grund, auf dem sie stand. Das Meer hatte von der anderen Seite aus jahrhundertelang dagegen gearbei tet. Vielleicht hatte es eine Öffnung geschaffen, durch die man hindurchschwimmen konnte? Sie mußte sich durch eine Strömung verraten. Er warf sich wieder ins Wasser und schwamm zum breiten Ende der Höhle zurück. Nun begann er planmäßig zu tauchen. Er fing in der Mitte an und rückte langsam zur Seite. Von Zeit zu Zeit stieß er nach oben und schöpfte wieder Luft. Die durchschnittliche Tiefe des Wassers betrug ungefähr zwanzig Meter. Die Suche erforderte des halb viel Zeit. Er konnte sich jetzt nicht mehr darauf verlassen, daß ihn ein Lichtschimmer aufmerksam machte, sondern mußte Meter für Meter abstreifen, um eine etwaige Strömung zu spüren. Zunächst sah es recht vielversprechend dort unten aus. Die Wand ging ungleichmäßig in die Tiefe. Die Felsblöcke setzten bald höher, bald tiefer auf dem klippigen Boden auf. Das ganze Fundament war sehr 139
unregelmäßig und bot immer neue Möglichkeiten. Sun Koh ließ nichts außer acht. Er suchte äußerst sorgfältig. Und er fand tatsächlich eine Einbuchtung, die seine Hoffnungen hochschnellen ließ. Die Bewe gung des strömenden Wassers war ganz deutlich zu spüren. Er stieß vorwärts. Schon nach wenigen Metern schloß sich der Spalt zu einer engen Klemme, durch die sich wohl das Wasser hindurchdrücken konnte, nicht aber ein menschlicher Körper. Die Enttäuschung beklemmte. Dort lockte die Freiheit, das offene Wasser und das Licht, dessen matter Schein bis in die Verengung hineinreichte. Aber die Felsblöcke rechts und links konnten nicht überwunden werden. Sun Koh gab nicht so schnell auf. Er hockte noch dreimal unten in der Tiefe vor ähnlichen Stellen, aber er mußte immer wieder froh sein, noch rechtzeitig wenden und wieder an die Oberfläche kommen zu können. Darüber hinaus narrte ihn manche andere Einbuchtung. Er hörte nicht auf, bevor er nicht die ganze Wand abgesucht hatte. Dann wußte er, daß es auch unter Wasser keinen Ausweg für ihn gab. Er war in der Höhle gefangen. Hilfe konnte nur von außen kom men. Wer aber sollte Hilfe bringen? Selbst wenn sich seine Leute nicht an ihre Anweisungen hielten und 140
mit der ganzen Mannschaft der »Star of California« die Insel absuchten, hieß das noch lange nicht, daß man ihn finden würde. Er konnte sich ja noch nicht einmal bemerkbar machen. Sun Koh fiel trotz seiner trostlosen Lage und trotz aller Kälte in Schlaf – ein verlorener Mann in der ewigen Nacht eines großen Grabes, das mit stillem Frost die Glieder lähmte. Trotzdem fühlte sich Sun Koh erfrischt und weni ger erschöpft, als er wieder erwachte. Nachdem er die Starre aus seinen Gliedern vertrieben hatte, nahm er sich das Schiff zu einer genaueren Untersuchung vor. Wenn er schon zum Abwarten verurteilt war, so wollte er doch wenigstens nicht untätig sein. Nachdem er eine Weile herumgestöbert hatte, ent deckte er im Vorschiff eine verriegelte, niedrige Tür, deren Bohlen noch fest waren. In dem kleinen Raum hinter ihr befand sich ein Dutzend kleiner, eisenbe schlagener Holzfässer. Die durchgerosteten Eisen bänder gaben leicht nach, aber die Hölzer mußten mit Kraft auseinandergerissen werden. Sun Koh fand seine Vermutung bestätigt. Als die Dauben nachgaben, lief ein dunkles Pulver heraus. Schießpulver. Offensichtlich hatten ihm weder die Jahrhunderte noch die Nässe etwas anhaben können. Das Eichen holz hatte es geschützt. Das Pulver war verhältnis 141
mäßig trocken. Sun Koh sah flüchtig eine Vision. Er sah die sper rende Felswand in einer riesigen Fontäne von Trümmern zerreißen. Er sah das Licht hereinschießen und dahinter sah er das Meer und die Freiheit. Er ging an die Arbeit. Er wußte nicht, ob das Pulver seine Sprengkraft behalten und wieviel es überhaupt jemals besessen hatte. Es war ihm jedoch klar, daß er nicht einfach eine Pulverladung in einen Spalt legen und zünden konnte. Das Pulver wäre verpufft, ohne zu zerstören. Es war nötig, die Ladung so einzuschließen, daß sich die Sprengkraft auf die Felsblöcke auswirkte. Er wählte einen Spalt unterhalb der Decke, der ihm am geeignetsten zu sein schien. Er war jedoch nicht groß genug, um eine ausreichende Pulverla dung aufzunehmen. Er mußte erst noch weiter aufge sprengt werden. Sun Koh suchte sich auf dem Schiff geeignetes Dichtungsmaterial zusammen, holte sich so etwas wie eine Zündschnur und schaffte alles mit dem Pul verfäßchen zur Wand hinüber. Dann präparierte er den Spalt. Es dauerte lange, bis er damit fertig war. Er mußte oft an der Wand auf und nieder steigen, an der es nicht so einfach war, sich festzuklammern und im Dunkeln zu arbeiten. Endlich war es soweit. Er glitt ein Stück tiefer und hielt die Flamme des Feuerzeugs an die kümmerliche 142
Zündschnur. Die Glut fraß sich langsam und wider willig nach oben. Die Sekunden schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen. Der Funke glitt in die Lücke zwischen den Stein hinein. Würde es durchhalten oder vorher ersticken? Ein matter, dumpfer Knall beantwortete die Frage. Mehr nicht! Er zog sich nach oben und atmete gleich darauf auf. Nein, die Mühe war doch nicht vergebens gewe sen. Die kleine Sprengladung hatte vom oberen Block eine Platte abgelöst, die sich mit einiger Mühe ent fernen ließ. Die Öffnung war dadurch nicht größer geworden, doch er konnte jetzt eine größere Ladung unterbringen. Die Arbeit begann damit von neuem. Wieder ging es die Felswand herauf und herunter, wieder mußte er einige Male zum Schiff schwimmen, wieder hing er in der nachtschwarzen Wand und baute seine Sprengladung ein. Die zweite Sprengung zermürbte die umgebenden Blöcke. Als Sun Koh ausgeräumt hatte, sah er eine kleine Höhlung vor sich, in der mehrere Fässer Pul ver Platz hatten. Er brachte sie unter. Endlich konnte er die Flamme wieder an die Zündschnur halten. Seine Hand zitterte vor Erschöp fung. Es dauerte lange, bevor die Schnur Feuer faßte 143
und sich der schwelende Brand nach oben fraß. Sun Koh glitt so schnell wie möglich an der Fels wand herunter, warf sich ins Wasser und schwamm weg. Diesmal konnte es gefährlich werden. Sun Koh tauchte auf und wartete. Er wartete vergebens. Der ersehnte Knall blieb aus. Die Explosion erfolgte nicht. Erschöpft kletterte er wieder nach oben. Es war nicht einfach, eine neue Zündschnur zu legen. Er mußte die Verkeilung beseitigen und die Ladung freilegen, um dann wieder zu dichten. Endlich war es soweit. Der Funke fraß sich nach oben. Sun Koh ließ sich an der Wand abgleiten, fiel ins Wasser und schwamm zum Ansatz des Felsbandes hinüber. Seine Füße faßten eben Grund, als es in der Höhe schütternd grollte und dann zu einem dumpfen Krach hochdonnerte. Steine schmetterten gegen Steine, Steine klatschten schwer ins Wasser, und dann… Licht! Ein breiter Strahl hellen Sonnenlichts schoß in die schwarze Höhle hinein, stieß durch eine Wolke von Staub und schlug gegen die Augen, die kein Licht mehr gewöhnt waren. Sun Koh warf sich wieder ins Wasser, schwamm und zog sich von Fels zu Fels nach oben. Und als er vorwärts kroch, sah er vor sich das 144
Meer groß, herrlich und gewaltig unter der Sonne liegen. Sun Koh war durch die Überanstrengung er schöpft. Er spürte erst jetzt richtig, wie ausgepumpt er war. Er kletterte nicht mehr, sondern taumelte Me ter um Meter hinunter, ohne zu wissen, wie er immer wieder Halt bekam. Das letzte Stück ließ er sich ein fach in das tiefe Wasser fallen, das er unter sich sah. In halber Bewußtlosigkeit schwamm er dem Ufer zu. Er erreichte es, zog sich hinauf und warf sich er schöpft nieder. Sekunden später hätte er wohl bereits geschlafen. Doch in diesem Augenblick, als sein Körper aus gepumpt war, als sein Gehirn wie ein Bleiklumpen im Kopf lag, als sein bisher herrschender Wille in die Tiefe der Bewußtlosigkeit untertauchen wollte, ge schah das Schrecklichste. Der Feind tauchte auf. Um die Felsen herum kam ein Mensch gerannt, dessen helles Haar im Wind flatterte. Er stieß einen Ruf aus und schwang den Arm, der ein klobiges Beil hielt. Zum letztenmal bäumte sich der Trieb zur Selbst erhaltung in ihm auf. Stöhnend, mit zusammengebis senen Zähnen richtete er sich hoch. Seine Knie woll ten versagen, aber dann strafften sie sich und schnell ten ihn vor, dem Gegner entgegen. Die beiden Körper prallten zusammen, das Beil 145
fiel unter einem Schlag zur Erde. Sun Koh packte zu. Er konnte den anderen mit einem Ruck ausheben und auf den Boden niederwerfen. Doch der Triumph war kurz. Rob ließ es in der er sten Verblüffung mit sich geschehen. Er rief dem Fremden zu, daß er als Freund gekommen sei, aber dieser wollte anscheinend nicht hören. Da blieb Rob nichts anderes übrig, als sich zur Wehr zu setzen. Er schleuderte Sun Koh von sich und sprang auf. Aber Sun Koh gab nicht auf. Sie zerrten sich sekun denlang hin und her, dann löste sich Rob mit einem scharfen Schrei von ihm. Sun Koh spürte Gefahr, wandte sich ab und bemerkte hinter sich den grauen Riesen, den er schon oben beim Turm kennengelernt hatte, den gleichen Mann, dem er den Aufenthalt in jener Höhle verdankte. Er zuckte zurück, aber er konnte weder dem Schlag ausweichen noch ihn aufhalten. Hämmernd traf die harte Faust gegen seine Schläfe. Da stürzte er mit einem letzten Aufschrei zusam men und sank in die Nacht der Bewußtlosigkeit hin ein. 5. Der grauhaarige Mac stand mit vorgeneigtem Ober körper über dem Mann, den er niedergeschlagen hat te, und blickte finster auf ihn herab. Dann richtete er 146
sich auf. Sein Blick fiel auf Robs Beil, das ein Stück seitwärts auf der Erde lag. Er hob es rasch auf, schwang es hoch und kehrte zu Sun Koh zurück. Rob trat dicht an den Betäubten heran. »Was soll das?« schrie er den Grauhaarigen an. »Der Mann ist noch nicht tot«, knurrte der Hüne. »Geh zur Seite.« Rob ballte die Hände zu Fäusten. »Nein, du wirst ihn nicht töten. Er steht unter mei nem Schutz.« »Was redest du? Auf dieser Insel bestimme ich. Der Fremde wird sterben. Geh weg!« Er holte mit dem Beil aus, um es auf den Bewußt losen niedersausen zu lassen. Aber sein Arm kam nicht herunter, da sich Rob mit kraftvoller Wucht dazwischen warf und ihn auffing. »Du wirst ihn nicht töten!« schrie er abermals. In Macs Gesicht stand der kalte Zorn. »Du stellst dich gegen mich?« grollte er. »Noch nie hast du es gewagt, die Hand gegen mich zu erhe ben.« »Dann wird es jetzt das erstemal sein«, rief Rob. Mac nickte. »So mußte es kommen. Die Gedanken der Frem den, die auf Rona wohnen, sitzen bereits in dir. Zwanzig Jahre lang haben wir friedlich zusammen gelebt, und du hast in mir deinen Vater gesehen. Jetzt 147
hat man dich vergiftet. Zwanzig Jahre lang habe ich die Insel frei gehalten. Du wirst mich nicht hindern, es auch weiter zu tun.« »Ich werde dich hindern«, erwiderte Rob nach drücklich. Mac schüttelte wie in Verwunderung den Kopf. »Was war ich für ein Narr? Ich habe dich gerettet, als du ein Kind warst, ich habe dich aufgezogen und dich großgefüttert. Mit Dankbarkeit rechnete ich nicht, wohl aber damit, daß du meine Anschauungen in dich aufnehmen würdest. Und nun sprichst du so? Du bist die letzte Enttäuschung meines Lebens.« Rob wurde nun auch ruhiger. »Ich kann nicht anders handeln«, sagte er leise. »Begreife es doch. Das Schicksal will es nicht, daß der Fremde stirbt. Jetzt steht er unter meinem Schutz.« »Du rettest sein Leben auf Kosten des meinen.« »Nein.« »Doch«, beharrte Mac düster. »Ich werde es nicht mehr ertragen, wenn es von Fremden auf dieser Insel wimmelt.« Rob schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Kennan hat recht, wenn er sagt, daß du in Wirklichkeit krank bist. Deine Menschenscheu ist krankhaft.« »Schweig!« fuhr Mac auf. »Ich will nicht das Ge wäsch hören, das dir ins Ohr geflüstert wird. Ich will 148
nur den Frieden hier auf dieser Insel.« Rob wies auf Sun Koh. »Fürchtest du, daß dieser ihn stören wird? Ich ver spreche dir, er wird so schnell wie möglich die Insel verlassen und nicht wieder zurückkehren.« Mac lachte kurz auf. »Pah, meinst du, daß er sich um deine Wünsche kümmern wird, wenn ihn die Neugier treibt? Willst du ihn nach Rona schaffen?« »Vielleicht? Kennan sagte, der Fremde sei mit ei nem Flugzeug gekommen. Vielleicht kann er damit die Insel verlassen.« Mac runzelte die Brauen. »Du bist ein Narr.« Nach langen Sekunden mur melte er. »Nun gut, ich will mich an dir nicht ver greifen. Bleib ein Narr. Ich werde dem Fremden nichts tun, wenn du ihn so schnell wie möglich von der Insel herunterbringst.« Rob atmete erleichtert auf. »Das will ich gern versprechen.« Mac wandte sich ab und ging davon. Rob legte Sun Koh über seine Schulter und ging ebenfalls da von. Eine Stunde lang wanderte er am Strand entlang, dann sank die Sonne. Rob legte seine Last ab. Der Fremde war noch immer nicht bei Bewußtsein. Das bereitete ihm Sorge.
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Schließlich kam er zu einem Entschluß, trug Sun Koh weg und bettete ihn behutsam zwischen zwei Bäu men. Dann lief er zum Wasser und warf sich hinein. Er wollte sich Rat von Rona holen. Kennan würde ihm sagen können, was zu geschehen hatte. Mit langen Stößen schwamm er durch das Wasser, das ihm mit kleinen silbrigen Wellenköpfen entge genrollte. Fast eine Stunde lang schwamm er, dann faßten seine Füße Grund. Er watete an Land, wie er es so oft während der letzten Jahre getan hatte. Rob schritt auf den Feuerschein zu, der auf der of fenen Tür einer einfachen Hütte lag. Aus ihr trat ein Mann, der durch das knirschende Geräusch der her annahenden Schritte aufmerksam gemacht worden war. Seine Kleidung war dürftig und vielfach grob geflickt, Haare und Bart zeigten den Mangel an Pfle ge, aber seine Haltung war stolz und frei. »Du bist es, Rob?« fragte er in überraschtem Ton leise, als er einige Meter vor der Hütte auf den An kömmling traf. »Ja, ich bin’s«, erwiderte Rob. »Du kamst noch nie zu so später Stunde. Ist etwas geschehen?« Rob zögerte. »Ich erzählte dir doch von dem Fremden, dessen Messer ich fand?« »Den Mac erschlug und in die Höhle warf?« 150
»Ja.« »Na und, was ist mit ihm?« »Er ist nicht tot. Er hat sich aus der Höhle befreien können.« In Kennan schoß die Erregung hoch. »Der Fremde lebt?« Rob nickte. »Er lebt. Ich traf am Strand auf ihn. Er griff mich an, weil er wohl glaubte, ich sei sein Feind. Ich hielt ihn von mir ab und wollte ihn beruhigen, aber Mac kam dazu und schlug ihn nieder. Er wollte ihn töten, aber ich ließ es nicht zu.« »Gott sei Dank!« Kennan atmete auf. »Das Leben dieses Mannes ist so unendlich kostbar für uns, wenn es richtig ist, daß er irgendwo auf der Insel ein Flug zeug verborgen hält. Hast du mit dem Fremden schon gesprochen? Was sagt er?« »Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Er ist nicht bei Bewußtsein. Ich kam zu dir, weil ich mir Sorgen darüber machte. Ich weiß nicht, wie ich ihn behan deln soll. Tot ist er nicht, denn sein Herz schlägt. Was soll ich tun, damit er zu sich kommt?« Kennan hob die Schultern. »Tja, ich bin kein Arzt. Und wenn ich es wäre, könnte ich es aus der Ferne auch nicht gut beurteilen. Ich müßte hinüber und ihn mir ansehen, oder du müßtest ihn herbringen.« »Ihr dürft nicht auf die Insel, und ich will ihn nicht 151
herübertragen, weil er so schwach aussieht. Ich fürchte, er könnte sterben.« Der Amerikaner dachte nach. »Dann will ich abwarten, bis er von allein er wacht«, entschloß sich Rob. »Wird Mac ihn nicht inzwischen töten?« fragte Kennan besorgt. »Nein, ich habe ihn versteckt, außerdem hat Mac gesagt, daß er ihn nicht töten will.« »Er hat sich also damit abgefunden, daß sich noch ein Fremder auf der Insel aufhält?« Rob schüttelte den Kopf. »Er war einverstanden, daß ich den Fremden unter meinen Schutz nahm. Ich versprach ihm jedoch, ihn sobald wie möglich von der Insel zu bringen.« »Hast du das Flugzeug noch nicht entdeckt?« »Ich hatte zu wenig Zeit, danach zu suchen«, gab Rob zu. »Du freust dich.« »Ist das eine Frage?« »Du freust dich, weil du Hoffnung hast, hier fort zukommen?« »Natürlich.« »Sybill wird sich auch freuen.« »Aber selbstverständlich. Du würdest natürlich mit uns kommen.« Die hastig angefügte Bemerkung machte Robs Ge sicht nicht wieder froh. 152
»Vielleicht freust du dich zu früh«, sagte er schwer. »Es ist besser, wenn du Sybill und den ande ren nichts sagst.« »Das hatte ich mir schon vorgenommen. Wenn es eine Enttäuschung wird, will ich sie schon lieber al lein tragen.« »Ich werde am Tag wiederkommen«, versprach Rob. »Doch nun muß ich fort und nach dem Fremden sehen.« Kennan hielt ihn nicht. * Sun Koh erwachte, während sich die beiden Männer auf der kleinen Insel Rona unterhielten. Irgendeine Kleinigkeit vertrieb die Betäubung, die über ihm lag, dann riß der Durst ihn hoch. Er stellte fest, daß er noch lebte, erhob sich und ging auf den kleinen Was serlauf zu, der in geringer Entfernung an ihm vorbei dem Meer zuströmte. Nachdem er getrunken hatte, überlegte er. Es schien ihm am besten, zuerst nach dem Flugzeug zu sehen, um sich mit dem Schiff in Verbindung zu set zen. Dann konnte er immer noch die Insel weiter durchforschen. Er wanderte am Strand entlang, bis er die Turm spitze über den Bäumen entdeckte. Plötzlich stand er inmitten mächtiger Steinbauten, 153
die riesig und grau seitlich des Weges standen. Sie schienen vor Jahrtausenden erbaut worden zu sein, aber man konnte weder die mit mächtigen Quadern belegten Straßen noch die würfelförmigen Steinkä sten als Ruinen bezeichnen. Der Stein selbst hatte gut gehalten, nur hier und dort liefen breite Sprünge durch das Mauerwerk hin, die auf heftige Erdbewe gungen deuteten. Die Stadt wirkte unsagbar leer. Über den grauen Gebäuden, deren Einzelheiten in dem schwachen Licht nicht zu erfassen waren, lag der Hauch des To des und der Verlassenheit. Die Stille schien hier zu atmen. Nirgends wurde ein Geräusch laut, nur Sun Kohs Schritte hallten dumpf wider. Rechts seitlich türmten sich die Steinmassen zu einem Palast oder Tempel, der von einem ähnlichen Kegeldach überragt war, wie es oben auf der Höhe den Turm bedeckte. Sun Koh drückte sich vorsichtig an den Wänden entlang. Die Stadt schien keine Menschen zu beher bergen, aber er wußte, daß es auf der Insel Menschen gab. Wo sollten sie wohnen, wenn nicht hier? Endlich nahm ihn der Wald wieder auf. Diesmal brauchte er sich nicht hindurchzuschlängeln, sondern konnte einem Pfad folgen, der aufwärts führte. Das erleichterte ungemein und ermöglichte ihm, in schnellem Tempo voranzukommen. Es dauerte lang, bevor er den Turm vor sich sah. 154
Er stand mondbeschienen auf der Höhe. Nichts in seiner Nähe deutete auf die Anwesenheit eines Men schen hin. Er wollte gerade am Turm vorbei, als er Geräu sche aus der Tiefe vernahm. Schritte näherten sich, ein Mensch kam herauf. Sun Koh zog sich hastig ein Stück zurück und warf sich hinter den ersten Felsblock. Es war Rob, der zum Turm kam. Er hatte mit Be stürzung festgestellt, daß der Fremde verschwunden war. Für ihn gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte sich Mac doch wieder an dem Fremden vergrif fen, oder dieser war erwacht und hatte sich fortge schleppt. Das letztere hielt er für wahrscheinlicher, da er im Sand des Ufers Fußstapfen vorgefunden hat te. Sein nächstes Bestreben war gewesen, Mac zu fin den, um festzustellen, was dieser wußte. Mac hatte sich jedoch nicht unten im Steinhaus aufgehalten. Rob vermutete ihn nun am Turm auf seinem Lieb lingsplatz. Deshalb war er nach oben geeilt. Sun Koh erkannte trotz des schwachen Lichts den hellhaarigen Jüngling, gegen den er unten am Strand gekämpft hatte. Jetzt wußte er nicht mehr genau, ob jener Freund oder Feind war. Er hätte ihn töten kön nen und es doch nicht getan. Er kam jetzt allein und war unbewaffnet, soviel man sehen konnte. Es lag nicht in Sun Kohs Natur, 155
einen Menschen ungewarnt aus dem Hinterhalt an zugehen. Er sprang vor, als sich Rob auf wenige Meter ge nähert hatte. Dann blieb er sprungbereit stehen. So bald Rob zum Angriff überging, wollte er sich auf ihn stürzen und diesmal besser kämpfen als unten am Strand. Rob wich einen Schritt zurück, nahm unwillkür lich eine ähnliche Haltung wie Sun Koh ein, stand aber dann ebenfalls reglos. Sekundenlang begegneten sich ihre Blicke. Einer überwachte die Haltung des andern. Endlich fand Rob die Sprache wieder und sagte überrascht: »Es ist dir also doch nichts gesche hen, Fremder? Ich glaubte dich in Gefahr, und vorher hielt ich dich fast für einen Toten.« Auch Sun Koh konnte sich eines Staunens nicht erwehren. »Du sprichst wie ein Amerikaner. Bist du Ameri kaner?« »Nein.« Die aufmerksame Spannung der beiden Männer ließ nach. Fast gleichzeitig schritten sie aufeinander zu. Knapp einen Meter voneinander entfernt blieben sie stehen und musterten sich von neuem. Sun Koh knüpfte die Unterhaltung wieder an. »Vor einigen Stunden hast du gegen mich ge kämpft, wenn ich mich nicht irre«, stellte er kurz, aber nicht unfreundlich fest. »Sind wir nun Freund 156
oder Feind?« Rob breitete die Arme aus. »Du siehst daß ich keine Waffen bei mir trage. Es ist nicht meine Absicht, gegen dich zu kämpfen. Ich wollte dir helfen, aber du griffst mich an, so daß ich mich verteidigen mußte.« »Ein Mißverständnis also?« meinte Sun Koh zö gernd. »Und warum hast du mir nicht gesagt, daß du helfen wolltest? Und warum hast du mich dann nie dergeschlagen?« »Ich rief es dir zu, aber du hast nicht darauf geach tet.« »Aber ich wurde niedergeschlagen.« »Das war nicht ich, sondern Mac.« »Ist Mac der grauhaarige, große Mann, der mich schon einmal überfiel und mich in die Höhle warf?« »Ja«, bestätigte Rob. »Er wollte dich töten, aber ich stellte mich dazwischen.« »Wußtest du, daß er mich in jene Höhle geworfen hatte?« »Ja, ich hielt dich aber für tot.« »Hm, und wie kam ich an die Stelle, an der ich erwachte?« »Ich trug dich dorthin. Da du nicht aufgewacht bist, geriet ich in Sorge und wollte mir Rat holen. Als ich zurückkam, fand ich dich nicht mehr vor. Ich fürchtete, daß Mac seine Hand im Spiel haben könn te, aber ich sehe, daß ich mich irrte. Ich freue mich, 157
daß du lebst und gesund bist.« Die Worte kamen so ehrlich heraus, daß Sun Koh an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln konnte. Er streckte deswegen seine Hand aus und erwiderte herzlich: »Ich danke dir. Sun Koh ist mein Name. Ich muß gestehen, daß ich bisher annahm, auf dieser In sel sei man Fremden gegenüber nur feindlich ge sinnt.« Rob schüttelte die Hand. »Nenne mich Rob. Du hast recht und doch wieder nicht. Mac will keinen Fremden auf der Insel sehen, aber ich beschütze dich.« »Und die andern?« Auf Robs Gesicht erschien Verwunderung. »Die andern? Es lebt doch sonst niemand auf der Insel.« Sun Koh erschrak. »Was? Du und jener grauhaarige Mann, Mac, ihr seid die einzigen Bewohner der Insel?« »Ja.« »Das weißt du genau?« »Natürlich.« »Auch in den Häusern dort unten hält sich nie mand auf?« »Sie stehen leer.« »Es ist ausgeschlossen, daß ihr euch irrt?« »Das ist ausgeschlossen«, betonte Rob. »Ich lebe nun seit zwanzig Jahren auf der Insel und kenne sie 158
genau. Allerdings …« Sun Koh unterbrach. »Was sagtest du eben? Ihr lebt seit zwanzig Jahren hier?« »So ist es.« Sun Kohs Blick wurde mißtrauisch. Er stieß auf neue, unbekannte Dinge und sah die Zusammenhän ge noch nicht. »Bist du älter als zwanzig Jahre?« Rob lächelte. »Ich bin mit zwei Jahren auf die Insel gekommen, zusammen mit Mac.« »So also? Schiffbrüchige. Dann wundert es mich eigentlich, daß dieser Mac nicht froh ist, wenn sich ihm nun endlich die Möglichkeit bietet, wieder in die Welt zu kommen.« »Er freut sich deshalb nicht, weil sich bei ihm ein krankhafter Trieb zur Einsamkeit herausgebildet hat.« Sun Koh wunderte sich immer mehr über die kul tivierte Sprache dieses jungen Menschen. »Das mag sein«, sagte er. »Er muß sich aber recht oft mit dir unterhalten haben, deine Sprache verrät das.« »Die verdanke ich Kennan.« »Wer ist das?« »Er ist einer von den Amerikanern, die auf Rona wohnen.« »Was ist Rona?« forschte er. 159
Rob wies in die Tiefe. »Die kleine Insel, die du dort siehst.« »Ah, deshalb hatte ich bei meiner Landung den Eindruck, daß sich dort Menschen bewegten. Dort wohnen also die Amerikaner.« »Ja, seit einem Jahr. Ihr Schiff ging unter.« »Etwa die ›Oakland‹?« »So hieß das Schiff.« »Ah, wieviel sind es?« »Vier.« »Wie kommt es, daß sie nicht hier auf der großen Insel wohnen?« »Sie wurden vom Sturm auf Rona geworfen. Mac wollte nicht, daß ich sie herüberholte. Er wollte sie töten.« »Aber du hast dich mit ihnen befreundet?« »Ja, wir verstehen uns gut.« »Dann hättest du sie doch gegen Macs Willen hierher bringen können?« Rob hob die Schultern. »Vielleicht. Es war aber nicht nötig, weil sie auf Rona auch leben können. Sybill wollte ja oft mit he rüberschwimmen, aber das wollte ich nicht, um sie nicht in Gefahr zu bringen.« »Sybill? Gehört zu den Schiffbrüchigen auch eine Frau?« Rob neigte den Kopf. »Ja, Sybill lebt auf Rona. Sie ist die Tochter Ken 160
nans.« »Eine junge Frau?« »Sie ist jung.« Sun Koh verstand den anderen. »Kennst du das Schiff, das in der Höhle liegt?« Rob war erstaunt. »Ein Schiff in einer Höhle? Nein, davon weiß ich nichts.« Sun Koh nickte. »Das kann ich mir denken. Hast du dir keine Ge danken darüber gemacht, wie ich auf die Insel ge kommen bin?« »Doch. Kennan meint, du müßtest mit einem Flugzeug gekommen sein. Carpool behauptet, eins gesehen zu haben.« »Wer ist Carpool?« »Der Ingenieur des untergegangenen Schiffs.« »Er hat richtig gesehen. Ich bin mit einem Flug zeug gekommen.« »Kennan wird sich sehr darüber freuen. Er hofft, daß du ihn von hier wegbringen kannst.« »Sicher. Ich werde die Amerikaner von hier weg holen und nehme an, daß du dich anschließen wirst?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Rob zögernd. »Ich möchte schon, aber Mac warnt mich. Er sagt, die Menschen wären schlecht, und ich würde es bereuen, wenn ich die Insel verließe.« »Er sieht die Menschen wohl zu einseitig«, beru higte Sun Koh. »Hältst du diese Amerikaner für schlecht?« 161
»Nein.« »Dann halte ich es für selbstverständlich, daß du nicht auf der Insel bleibst, aber es eilt ja nicht mit deinem Entschluß. Bevor du dich endgültig entschei den mußt, können noch Tage vergehen. Jetzt möchte ich vor allem zu meinem Flugzeug.« Rob kehrte sofort in die Gegenwart zurück. »Ja. Wo liegt es?« »Dort, wo der nackte Felsen wie eine Nase aus dem Wald herausstößt.« »Ich kenne die Stelle. Aber wollen wir nicht erst nach Rona hinüber?« »Nein«, sagte Sun Koh. »Draußen auf dem Meer liegt ein Schiff, das auf meine Rückkehr wartet. Ich muß mich mit ihm in Verbindung setzen. Das Schiff soll die Amerikaner in ihre Heimat zurückbringen. Vom Flugzeug aus kann ich mit dem Schiff spre chen.« »Ich werde dich führen«, murmelte Rob und ging voran. »Danke«, sagte Sun Koh, während er sich an schloß. »Übrigens – etwas zu essen hast du wohl nicht bei dir? Ich bin ziemlich hungrig.« Rob drehte sich bestürzt zu ihm um. »Oh, warum hast du das nicht schon eher gesagt?« Er zog eine Art Brotfladen aus dem Beutel an sei nem Gürtel und reichte ihn Sun Koh. Es war eine bescheidene und zähe Nahrung, aber Sun Koh 162
schmeckte sie wie Manna. Er war ausgehungert. Sein erschöpfter Körper verlangte gierig nach Nahrung. Der Weg durch den schwarzen Riesenwald war trotz der Dunkelheit leichter, als Sun Koh befürchtet hatte. Rob kannte sich aus und vermied alle Hinder nisse. Endlich erreichten sie die Lichtung. Dann traf sie der Schock. Das Flugzeug war vorhanden, aber auf seinem Rumpf lagen mächtige Steinblöcke, die Dach und Glas durchschlagen hatten und den Pilotenraum aus füllten. Der Rest war ein wildes Durcheinander von Steinblöcken, zerknickten Streben und verbogenen Blechen. Damit konnte niemand mehr fliegen. Das war das Ende. Zweifellos war dieser Mac hier gewesen. Er hatte die Maschine zum Wrack gemacht. Eine Reparatur war ausgeschlossen. Er konnte die Insel nicht mehr verlassen. Die einzige Hoffnung lag darin, daß sich die »Star of California« in der Nähe befand und daß ihre Besatzung wußte, daß er sich auf der Insel aufhielt. Hal und Nimba würden sich früher oder später nach ihm umsehen. »Das war Mac!« stöhnte Rob an seiner Seite. Sun Koh hatte sich inzwischen gefaßt. »Nun, er hat sein Werk wirklich gründlich verrich tet. Mit dieser Maschine kann niemand mehr fliegen. Wir sind aber noch nicht verloren. Früher oder später 163
wird Hilfe herankommen.« »Wer soll Hilfe bringen?« »Das Schiff befindet sich in der Nähe.« »Und wenn es auf die Klippen gerät?« Sun Koh antwortete nicht, aber ein Schatten ging über sein Gesicht. Sie blickten stumm auf die Trümmer. Rob straffte sich schließlich. »Komm, ich bringe dich zu meinen Freunden.« Sun Koh nickte und wandte sich ab. Der Wald nahm sie wieder auf. 6. George Kennan war voll innerer Unruhe zum Feuer und zur Hütte zurückgekehrt, nachdem Rob ihn ver lassen hatte. Er schwankte zwischen Zweifel und Hoffnung. Die anderen schliefen, so daß er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Der Fremde lebte. Würden sie mit seiner Hilfe die Insel verlassen können? Über eins empfand Kennan eine tiefe und starke Freude. Rob hatte in dieser Nacht eine Art Feuerpro be bestanden. Ein Fremder befand sich auf der Insel und lebte, obgleich Mac keinen Fremden dulden wollte. Kennan unterbrach plötzlich sein Nachdenken, straffte sich und reckte den Kopf vor. Ein leichtes 164
Geräusch ließ ihn stutzen. Seine Sinne waren im Laufe dieses Jahres geschärft worden, außerdem hat te ihn die Erfahrung gelehrt, welche Geräusche zu dem nächtlichen Palmenhain gehörten und welche fremd waren. Seine Augen faßten die Andeutung eines Schattens an einem der Stämme und dann zwei mattschim mernde Punkte in Kopfhöhe. Er zwinkerte. Was war das? Schon kam eine tiefe, dunkle Stimme von der an deren Seite des Feuers zu ihm herüber, leise und doch eindringlich genug, so daß sie nicht überhört werden konnte: »Schreien Sie nicht und vermeiden Sie jede Bewegung, wenn Ihnen das Leben lieb ist, Fremder. Und dann sagen Sie mir schnell, welche Rolle Sie hier spielen, damit ich weiß, ob ich Freund oder Feind vor mir habe.« In Kennan wollten die Nebel einer plötzlichen Ohnmacht aufsteigen, als er die englischen Worte aus fremdem Mund hörte. Er riß sich jedoch zusam men und rief heiser: »Freund. Ich bin George Ken nan, mit meiner Tochter und zwei andern hier schiff brüchig seit einem Jahr.« »Welches Schiff?« »Oakland.« »Gut«, kam es befriedigt zurück. »Sie dürfen sich bewegen.« Gleichzeitig löste sich der dunkle Schatten ab und 165
kam heran. Er entwickelte sich zu einem hünenhaften Neger, der freundlich lachend seine weißen Zähne zeigte und seine beängstigend große Hand hinstreck te. Dicht hinter ihm folgte, schmächtig, zierlich, ein bedeutend jüngerer Mann mit einem durchtriebenen, aber sympathischen Jungengesicht. »Ich bin Nimba«, stellte sich der schwarze Riese vor, während er behutsam die schmale Hand des Ge lehrten drückte. »Das hier ist Hal Mervin. Wir kom men augenblicklich vom ›Star of California‹, der un ter dem Horizont liegt. Haben Sie Sun Koh gese hen?« Kennan schaffte es nicht zu antworten. Er stützte sich gegen den Baum, um nicht umzusinken. Die Überraschung, die jähe Freude und der völlige Um schwung der Lage, den das Erscheinen der beiden andeutete, überwältigte ihn. Nimba faßte ihn vorsorglich unter. »Hoppla, Mann«, sagte er halb verdutzt und halb mitleidig. »Das ist Ihnen wohl etwas plötzlich ge kommen? Nehmen Sie sich Zeit, wir können das schon verstehen. Ein Jahr ist eine lange Zeit.« Der Amerikaner richtete sich auf. »Entschuldigen Sie«, sagte er mühsam, »es kam tatsächlich etwas plötzlich. Aber es geht mir schon besser, ich bin gleich beisammen.« Nachdem Sun Koh das Schiff im Flugzeug verlassen 166
hatte, waren drei schreckliche Tage vergangen, von denen jede Stunde zehnfach gezählt hatte. Die beiden Begleiter waren von der Reling überhaupt nicht mehr wegzubringen gewesen und hatten ununterbrochen nach Osten gestarrt in der Hoffnung, Sun Koh zu rückkehren zu sehen. Von Stunde zu Stunde waren sie ungenießbarer geworden. und nach drei Tagen hatte selbst der Kapitän einen großen Bogen um sie geschlagen. Als er dann darauf hingewiesen hatte, daß er nun pflichtgemäß zur Oster-Insel fahren müs se, hatten sie sich nicht mehr zurückhalten können. Sie hatten geschworen, daß sie nie und nimmer Sun Koh im Stich lassen und eher den ganzen Kasten in die Luft sprengen und sonst noch was tun würden, bevor sie Sun Koh aufgeben würden. Daraufhin war Hanns Krotthoff aber noch länger liegen geblieben, als vorgesehen war. Rein äußerlich hatte sich auf der Fahrt auch wenig ereignet. Es stimmte bis zu einem gewissen Grad, wenn Hal sagte, daß sie einfach drauflos gefahren seien. Er zählte dabei allerdings nicht die Sekunden und Minuten andauernder Spannung, in denen sie nicht wußten, ob sie ihr Ziel auch erreichen würden. Einige Male war das Boot bedenklich über Klippen hinweggeschrammt, aber es war nicht gekentert und nicht aufgeschlitzt worden. Und von einem Seebeben hatten sie nichts bemerkt. Das Feuer auf der kleinen Insel hatte sie angezo 167
gen. Bevor sie die dunkel aufragende, große Insel besuchten, wollten sie erkunden, wer sich hier auf hielt. Deshalb waren sie hier gelandet. Kennan überwand allmählich seinen Schock. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben«, sagte er leise, »deshalb traf es mich, und wenn Sie nichts dagegen haben, will ich die andern verständigen.« Hal Mervin winkte ab. »Nehmen Sie sich Zeit, die schlafen gerade. Man hört sie bis hierher schnarchen.« Das stimmte und stimmte auch nicht, denn eben trat Sybill Kennan aus der Tür der zweiten Hütte. Sie war durch die gewechselten Worte geweckt worden und starrte nun in begreiflicher Erregung auf die Fremden. »Paps?« rief sie, während sie heraneilte. »Was be deutet das?« Kennan umschlang sie liebevoll. »Das bedeutet die Freiheit, mein Kind. Draußen auf dem Meer liegt ein Schiff, und diese beiden Her ren sind gekommen, um uns zu holen.« Sie fiel nicht um und weinte nicht, sondern sprach impulsiv den Gedanken aus, der in ihr hochschoß: »Herrlich, aber – was wird Rob dazu sagen?« Kennan zog es vor, keine Antwort darauf zu su chen. Er wandte sich an die beiden. »Das ist meine Tochter Sybill, meine Herren. Um ihretwillen ist es mir eine besondere Freude, daß wir 168
gerettet werden.« Nimba und Hal verbeugten sich und schüttelten dann die Hand, die ihnen das Mädchen entgegen streckte. »Die Freude ist auf unserer Seite«, sagte Hal formvollendet. »Wir werden Sie sobald wie möglich zum Schiff bringen. Zunächst müssen wir uns frei lich darum kümmern, was aus Sun Koh geworden ist. Er landete vor einigen Tagen drüben auf der großen Insel und ließ seitdem nicht wieder von sich hören. Wir sind in Sorge um ihn. Haben Sie nichts von ihm bemerkt?« »Nein«, erwiderte Sybill sofort. Ihr Vater nickte eifrig und meinte aufgeregt: »Doch, doch. Drüben auf der Insel befindet sich ein Fremder, der vor einigen Tagen mit einem Flugzeug ankam. Er ist jetzt betäubt oder stark erschöpft, aber er lebt.« »Aber Vater?« Sybill wandte sich vorwurfsvoll ihm zu. »Es ist so«, beharrte Kennan. »Ich habe es euch nur verschwiegen, weil ich nicht vorzeitig Hoffnun gen erwecken wollte. Rob war vorhin hier, als du schliefst. Er sagte mir, daß er einen bewußtlosen Fremden am Strand liegen habe.« Sie wurde blaß. »O Gott, er wird ihn doch nicht töten?« Bevor ihr Vater sie beruhigen konnte, kam aus 169
dem Mund des Negers ein vielsagendes Knurren und die drohende Bemerkung von Hal: »Das würde ihm aber schlecht bekommen, wenn er sich an Sun Koh vergreifen wollte. Wer ist denn dieser Rob?« »Einer der Inselbewohner«, antwortete Kennan. »Ha«, fuhr Hal auf, »einer von da drüben? Nun, den Kerl stellen wir an die Wand, wenn er sich mau sig macht, nicht wahr, Nimba?« Der Neger nickte düster und entschlossen. Er sah in diesem Augenblick gefährlich aus. Sybill Kennan war erschrocken. Angstvoll und mit blassem Gesicht rief sie: »Sie wollen Rob doch nicht etwa töten?« »Doch.« Hal nickte bekräftigend. »Wir werden ei nen Kerl, der Sun Koh ermorden will, doch nicht et wa leben lassen?« Die junge Frau trat mit zwei Schritten dicht an ihn heran. Ihre Blässe war verschwunden, ihre Augen funkelten, und ihre Stimme bebte vor Erregung und Zorn, als sie heftig erwiderte: »Dann wäre es besser gewesen, Sie wären dort geblieben, wo Sie herkom men. Nehmen Sie Ihr Schiff und fahren Sie wieder ab. Sie haben kein Recht, Rob etwas zu tun, und Sie werden ihm nichts tun, sonst…« Ihre Stimme brach mit einem Aufschluchzen ab. »Donnerwetter«, murmelte Nimba verblüfft. »Donnerwetter«, wiederholte Hal. Kennan erkannte, daß in dieser Minute seine 170
Tochter sich ihrer Liebe bewußt geworden war, und griff ein. »Es liegt ein Mißverständnis vor, meine Herren. Rob ist zwar ein Bewohner der Insel, aber er wird jenem Fremden dort drüben, der vermutlich Ihr ge suchter Sun Koh ist, bestimmt nichts tun. Im Gegen teil, er fragte mich sogar um Rat, wie man ihm helfen könne.« Die Gesichter der beiden erhellten sich. »Ach so«, platzte Hal heraus. »Dann ist die Ge schichte freilich anders. Unter diesen Umständen werden wir Ihren Rob am Leben lassen, Miss Ken nan.« »Du redest wie ein Buch«, meinte der Neger be wundernd. »Selbstverständlich werden wir ihm nichts tun. Aber die Miss sagte doch selbst, er wollte ihn töten?« Sybill Kennan wischte sich über die Augen. »Ich meinte doch den andern, den Mac.« »Ach, der ist hinter Sun Koh her?« forschte Hal. »Er will keinen Fremden auf der Insel dulden.« »Warum denn nicht? Ist er der König dieser Insel? Was sagen denn die andern dazu?« Kennan mischte sich ein. »Es gibt keine anderen Bewohner der Insel«, er klärte er. »Drüben wohnen nur zwei Menschen, Mac und Rob. Sie wurden vor rund zwanzig Jahren hier schiffbrüchig. Mac ist uns und allen Fremden feind 171
lich gesinnt, Rob dagegen ist unser Freund. Mac hat Sun Koh vor Tagen niedergeschlagen und in eine Höhle geworfen, aus der er sich erst gestern befreien konnte. Er wollte ihn töten, aber Rob hat ihn daran gehindert.« »Hm, Mac kann sich auf etwas gefaßt machen, wenn wir ihn erwischen. Sonst lebt niemand auf der Insel?« »Nein.« »Das wissen Sie bestimmt?« »Freilich.« »Na schön, da wird es ja keine großen Schwierig keiten drüben geben. Komm, Nimba.« »Sie wolle uns verlassen?« erkundigte sich Ken nan besorgt. Hal nickte. »Natürlich, wir müssen uns doch zuerst um Sun Koh kümmern. Sie können sich ja hier mittlerweile zum Aufbruch bereitmachen. Wenn alles klappt, nehmen wir Sie dann gleich mit.« Nimba und Hal verschwanden im Dunkel. Bald darauf hörten Vater und Tochter das schwache Knat tern eines Motors. Der Neger lenkte das Fahrzeug um die Insel herum und steuerte die Hauptinsel an. In kurzer Zeit schob sich der Kiel drüben auf den Sand. Sie sprangen her aus, machten das Boot fest und gingen dann suchend ein Stück am Strand auf und ab. Sie wußten nicht 172
recht, wie sie beginnen sollten. Die Insel besaß im merhin eine ansehnliche Größe, und sie hatten keine Ahnung, wo sie Sun Koh suchen sollten. Plötzlich richtete sich kurz vor ihnen eine mächti ge Gestalt hinter einem Steinblock auf und kam dro hend auf sie zu. Es war Mac. In seinem Gesicht lag Wut und düstere Entschlossenheit. Er hatte die Lan dung der Fremden beobachtet. Die beiden sahen den Hünen vor sich aufschießen und griffen unwillkürlich nach den Pistolen. Doch gleich darauf rief Nimba schnell: »Nicht schießen, es könnte dieser Rob sein. Hallo, wer sind Sie und was wollen Sie?« Die Frage galt Mac, doch der beachtete sie über haupt nicht, sondern drang auf die beiden ein. Es wurde höchste Zeit, daß sich Nimba zur Wehr setzte. Zwischen ihm und Mac entwickelte sich blitzschnell ein Kampf, der Hal fassungslos machte. »Teufel noch mal«, flüsterte Hal heiser vor Erre gung, »ich hätte doch lieber schießen sollen. Ich dachte schon, die Geschichte würde schiefgehen.« Der Neger wischte sich den Schweiß ab und legte los: »Uff, der Kerl war ja von Eisen. Wenn hier noch mehr von der Sorte lebten, könnten wir uns auf was gefaßt machen.« Hal wog die Pistole in der Hand. »Na, das sage ich dir gleich, beim nächsten schie ße ich. Deine Hände haben genug abgekriegt.« 173
Nimba starrte auf seine Hände. »Sieht bös’ aus, aber das heilt wieder. Mensch, Hal, das war ein Boxkampf!« Der Junge hob die Schultern. »Quatsch war es, aber kein Boxkampf. Du hast geboxt, aber der andere hat bloß eingesteckt. Eben sogut hättest du auf Stein trommeln können. Wie fühlst du dich sonst?« Der Neger stand auf. »So lala. Sehen wir weiter. Dort müssen Häuser stehen, wenn ich nicht irre. Wir wollen sie uns mal ansehen.« »Weit können wir nicht weg«, gab Hal zu beden ken, »sonst klauen sie uns das Boot.« »Bis dahin können wir schon gehen. Aus den Au gen dürfen wir es freilich nicht verlieren.« Sie pirschten sich vorsichtig an den ersten grauen Steinkasten heran, der die dunkle Mauer des Waldes unterbrach. Da sich nichts regte, drangen sie ein Stück weiter vor, bis sie auf einer regelrechten Straße standen. Plötzlich vernahmen sie Schritte. Gleich darauf sahen sie die halbnackte, muskulöse Gestalt Robs um die Ecke biegen. Im Nu waren ihre Pistolen im An schlag. »Hände hoch!« dröhnte Nimba. Rob stutzte. »Der versteht kein Englisch«, meinte Hal und 174
schoß blind los. »Wir müssen ihm schon deutlicher kommen.« Rob hob die Arme, jedoch nicht wegen des Schus ses, sondern weil er den Zuruf verstanden hatte. Während Nimba und Hal heraneilten, tauchte hin ter Rob eine zweite Gestalt auf. Es war Sun Koh, der rein zufällig hinter seinem Begleiter ein Stück zu rückgeblieben war, um eine auffallende Steinfigur zu betrachten. Im ersten Augenblick wollten seine Leute auch auf ihn anlegen, aber dann erkannten sie ihn und schrien freudig auf. Minutenlang war Rob vergessen. Schließlich frag te er mit ernstem Gesicht: »Soll ich meine Hände immer noch oben behalten?« Sun Koh drückte sie lächelnd herunter. Nimba riß den Mund auf, und Hal stotterte: »Nanu, sind – sind Sie denn Amerikaner? Wir – wir dachten, Sie wären auch einer von den Inselbrüdern.« »Das ist Rob«, sagte Sun Koh. »Ach herrjeh«, murmelte Nimba, »da habe ich vorhin mit dem Falschen geboxt. Wir wurden von einem Kerl angefallen, an dem ich mir erst die Hände zerschlagen mußte, bevor er ausriß.« »Das war Mac. Rob ist unser Freund. Er wird die Insel mit uns verlassen.« Hal nickte. »Da wird sich Miss Kennan aber freuen.« 175
»So?« Sun Koh hob die Brauen, forschte aber nicht weiter nach, sondern meinte: »Wir fahren zu nächst zu der kleinen Insel, dort können wir uns über das Weitere schlüssig werden. Kommt.« Das Motorboot nahm sie auf. * Es war nicht viel, was die vier Schiffbrüchigen auf der kleinen Insel ihr eigen nannten, aber es kam ih nen auf einmal vor, als habe jedes Ding seine beson dere Bedeutung. Am einfachsten Gegenstand hingen hunderte Gefühle und Erinnerungen, die jetzt groß und beachtenswert wurden. Der Maßstab der Schiff brüchigen war im Laufe des Jahres ein anderer ge worden. Jede Kleinigkeit schien unentbehrlich zu sein, und obgleich sie das Gegenteil genau wußten, waren sie doch auf dem besten Weg, den gesamten Inhalt der Hütten zum Strand zu bringen. Nur Sybill Kennan rührte keine Hand. Sie stand an eine Palme gelehnt und starrte nach der großen Insel hinüber. Nach einer Weile trat ihr Vater neben sie und frag te behutsam: »Du machst dir Sorgen um Rob, Sy bill?« »Ja, Paps. Ich hörte einen Schuß.« Er strich ihr beruhigend über das Haar. »Man wird ihm bestimmt nichts tun. Was willst du 176
eigentlich alles mitnehmen?« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich kann nicht, Paps. Erledige du alles. Aber hö re…« »Ja, mein Kind?« »Was wird mit Rob, wenn wir die Insel verlas sen?« Kennan gab keine Antwort. Nach einer Weile fragte sie unsicher und unruhig: »Du schweigst, Paps?« Er trat dich an sie heran, faßte sie bei den Schul tern und sagte gütig und weich: »Du liebst ihn, Sy bill?« Sie sah ihm offen ins Gesicht. »Ja.« Er seufzte leicht. »Ich wußte es. Hast du auch an deine Zukunft ge dacht?« Sie zögerte. »Nein – ich weiß nur, daß ich mich von Rob nicht trennen möchte. Wir können ihn doch unmöglich hier zurücklassen. Er muß mit uns kommen, er muß, sonst verfällt er wieder der Einsamkeit. Das geht doch nicht. Ich würde lieber hierbleiben, als ohne ihn wegfahren.« Ihre Stimme drängte und forderte, aber Kennan blieb behutsam. »Ich glaube sicher, daß er mitkommt. Wir können 177
ihn zwar nicht zwingen, aber es besteht wenig Grund für ihn hierzubleiben, dafür desto mehr Grund mitzu fahren. Doch, Sybill, es gibt da vieles zu bedenken. Du liebst ihn, wie du sagst. Aber du bist noch jung, und es gibt noch tausend andere liebenswerte Män ner auf der Welt.« »Ich liebe nur Rob«, gab sie fest zurück. »Vielleicht, doch du kommst jetzt wieder in Ver hältnisse, die sich von den hiesigen völlig unter scheiden. Dein ganzes Wesen wird sich umstellen und verändern.« »Das gleiche gilt für Rob.« Sein Ton wurde noch milder. »Bitte versteife dich nicht, Sybill, sondern überle ge vernünftig. Du weißt selbst, wie gern ich ihn habe. Aber es steckt noch viel Rohmaterial in ihm, und die Rückkehr in die Welt bedeutet für ihn in ungleich stärkerem Maße als für dich eine völlige Umwäl zung. Man weiß nie, wie sich dieser junge Mensch unter dem Einfluß der Welt entwickeln kann. Be greifst du meine Bedenken, Sybill?« Sie nickte schwach. »Ich glaube, ich verstehe dich, aber …« »Warte«, unterbrach er sie, »wir wollen uns nicht nutzlos über das streiten, was keiner von uns mit Be stimmtheit behaupten kann. Laß mich ausreden. Wie gesagt, Rob wird wohl mitkommen. Ich habe mich entschlossen, mich persönlich seiner anzunehmen. 178
Ich werde ihm genügend Mittel sicherstellen, so daß er sein eigener Herr sein kann. Vor allem werde ich natürlich dafür sorgen, daß alles geschieht, um seine wertvollen Anlagen und Eigenschaften voll zu ent wickeln und unnötige Gefährdung zu vermeiden.« »Du bist gut, Paps.« Er lächelte. »Höre erst meine Bedingung. Wir werden in unse re Heimat zurückkehren. Bis dahin darf nichts ge schehen, was dich ernstlich an Rob bindet. Und dann mußt du ein Jahr vergehen lassen, währenddessen ihr euch nicht sehen dürft. Wenn ihr beide nach Ablauf dieses Jahres immer noch so empfindet wie jetzt, dann sollt ihr meinen Segen haben. Bist du bereit, auf diese Bedingungen einzugehen?« Sie legte die Arme um seinen Hals. »Ja, Paps, aber …« »Aber?« »Wenn er mich nun im Laufe dieses Jahres ver gißt?« »Dann hat seine Liebe nichts getaugt.« »Aber – ich weiß doch noch gar nicht, ob er mich überhaupt liebt.« Er strich ihr zärtlich über die heißen Wangen. »In dieser Hinsicht kannst du beruhigt sein, Sybill. Ich habe ihm schon vor einem halben Jahr angese hen, daß er dich liebt.« Zwei Stunden später führte Sun Koh mit Rob an 179
der gleichen Stelle ein Unterredung über den glei chen Gegenstand. »Ich habe mit Kennan über deine Zukunft gespro chen«, begann er. »Ja?« »Er weiß, daß du Sybill liebst.« »Ich liebe sie«, gab Rob leise zu und senkte den Kopf. »Er weiß auch, daß Sybill dich liebt.« Rob hob schnell wieder den Kopf. Sein Gesicht war plötzlich hell. »Sie liebt mich? Sie ist so froh, daß sie von hier weg kann.« Sun Koh lächelte. »Aber nur, weil sie weiß, daß du mitkommen wirst. Sie hat sich mit ihrem Vater ausgesprochen. Er hat nichts gegen eure Liebe, aber er stellt die Bedin gung, daß ihr euch ein Jahr lang nicht seht.« »Warum?« »Du wirst viel Neues erleben, Rob, und ein ande rer Mensch werden. Verhältnisse und Lebensweisen werden sich von Grund auf ändern. Kennan will dir Zeit geben, dich in die große Welt einzuleben.« Rob neigte den Kopf. »Ich werde Sybill immer liebhaben, aber ich sehe ein, daß Kennan recht hat. Aber mitkommen werde ich doch.« »Darüber waren wir uns bereits klar. Ich habe einige 180
junge Freunde, zu denen ich dich führen werde. Ken nan ist damit einverstanden, daß ich ihm diese Sorge abnehme. Er besteht allerdings darauf, daß er eine Geldsumme sicherstellt, damit du unabhängig bist. Es soll ein bescheidener Ausdruck seines Dankes sein.« »Das verstehe ich nicht ganz. Kennan erzählte mit schon, wie wertvoll das Geld in der Welt sei, aber ich brauche doch kein Geld.« »Man braucht es schon, Rob. In Amerika kann man nicht jagen und fischen und davon leben.« In Robs Gesicht arbeitete es, und schließlich mein te er: »Als ich Sybill die große Kette schenkte, sagte Kennan, sie sei viel Geld wert. Ist das richtig?« Sun Koh stutzte. »Welche Kette? Ich habe bisher nicht auf sie ge achtet.« »Sybill trägt sie. Kennan meinte, sie sei Millionen wert.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nun wieder nicht. Davon hätte doch Kennan etwas sagen können? Warte bitte.« Er ging zu den andern zurück. Sybill Kennan lief ihm glücklicherweise als erste über den Weg. »Miss Kennan«, fragte er, »ist es richtig, daß Sie von Rob eine Kette geschenkt bekamen?« »Ja«, sagte sie, »es ist schon einige Monate her. Soll ich sie holen?« »Bitte.« 181
Sie lief zu ihren Sachen und kam schnell wieder zurück. In ihrer Hand hielt sie die Kette, außerdem ein Armband. Die Kette bestand zu Sun Kohs Er staunen aus altertümlicher Goldschmiedearbeit und war mit sechs großen Diamanten besetzt, die einen sehr hohen Wert darstellten. Auch der Armreif war eine Kostbarkeit. Während Sun Koh noch prüfte, kam Kennan her an. »Ach«, sagte er förmlich erschrocken, »ich sehe, Sie haben gerade den Schmuck in der Hand. In der Aufregung habe ich ihn ganz vergessen. Was sagen Sie dazu?« »Der Schmuck stellt ein kleines Vermögen dar.« »Nicht wahr? Mich interessiert vor allem diese ei genartige Arbeit, deren Stil mir unbekannt ist.« »Mir auch. Haben Sie sich keine Gedanken dar über gemacht, wo er herstammt?« »Rob sagte mir, er hätte ihn in einem der Häuser gefunden. Ich nehme an, daß er dort von früheren Bewohnern zurückgelassen wurde. Da für mich kei ne Möglichkeit bestand hinüberzukommen, habe ich mich nicht besonders damit beschäftigt.« Sun Koh händigte die Schmuckstücke wieder aus und ging zu Rob zurück. »Ich habe die Kette gesehen. Sie ist sehr wert voll.« »Das sagte Kennan auch. Da dachte ich, wenn 182
man mehr solche Dinge mitnehmen würde, brauchte man doch kein Geld?« Sun Koh war nicht sehr überrascht. »Drüben auf der Insel gibt es noch mehr solcher Schmuckstücke?« »Ja, einen ganzen Berg davon.« Sun Koh sah ihn nachdenklich an. »Dann muß dort drüben ein riesiges Vermögen aufgestapelt liegen. Es empfiehlt sich, es mitzuneh men. Wenn du es mitnimmst, wirst du sehr reich sein.« »Es ist gut, reich zu sein, nicht wahr?« vergewis serte sich Rob. »In den Augen der Welt sicherlich.« »Dann nehme ich es mit«, entschloß sich Rob. »Was wird Mac dazu sagen?« »Nichts, denn ihm sind die Schätze gleichgültig. Er wird sie mir überlassen. Und er müßte sie mir überlassen, wenn ich sie brauche.« »Also nehmen wir sie mit«, sagte Sun Koh. * Sun Koh und Nimba, Carpool und Uhlen stiegen nach einer kurzen Auseinandersetzung in das Motor boot, um zum Schiff zu fahren. Hal Mervin blieb bei den Kennans als Gesellschafter. Inzwischen schwamm Rob zu der großen Insel hinüber, um von 183
Mac Abschied zu nehmen. Rob traf am Strand auf Mac, als die Sonne ihre er sten Strahlen über das Meer warf. »Du hast mich gerufen?« fragte Mac, während er sich schwerfällig von den Bäumen löste. »Ich rief dich, um von dir Abschied zu nehmen. Ich werde die Insel verlassen. Doch ich bitte dich zugleich, bei mir zu bleiben und mitzukommen. Es ist nicht gut, wenn du auf der Insel allein bleibst.« Das Gesicht des Grauhaarigen verzerrte sich leicht. »Du wirst die Insel nicht verlassen. Rob. Ich habe das Flugzeug des Fremden zerstört. Wo ist der Fremde überhaupt?« »Er befindet sich nicht mehr auf der Insel. Du irrst, wenn du meinst, daß ich die Insel nicht verlas sen kann. Es ist über Nacht ein kleines Schiff über das Meer gekommen …« »Ah, also doch. Ich sah es und kämpfte gegen ei nen Fremden.« »Ja, und das kleine Schiff ist jetzt unterwegs, um ein großes Schiff heranzuholen. Es wird uns heute noch fortbringen.« »Wenn es nicht in die Klippen gerät oder der Vul kan ausbricht.« »Das wird nicht geschehen.« »Sei deiner Sache nicht zu sicher, es grollt wieder einmal in der Erde. Es ist besser, wenn du hier 184
bleibst.« »Ich gehe«, gab Rob mit Bestimmtheit zurück. »Doch ich bitte dich mitzukommen.« »Nein.« »Das ist endgültig?« »Ja.« »Dann lebe wohl.« Rob streckte ihm die Hände hin, aber Mac beach tete sie überhaupt nicht. Rob ließ sie schließlich wie der fallen. »Noch eins, Mac«, sagte er leise. »Ich werde die Schätze aus der Steinkammer mitnehmen.« »Das habe ich mir gedacht«, erwiderte der andere finster. »Aber tue es nur, ich brauche sie nicht. We gen dieser Schätze wollen dich ja die Fremden auch nur mitnehmen. Belade dich nur, um so geringer wird die Gefahr, daß andere hierherkommen.« »Dann also – viel Glück, Mac.« »Viel Glück in der Welt, Rob.« Mit einer Hast, als ob er zuviel gesagt hätte, wand te sich Mac ab und verschwand im Wald. »Mac?« rief Rob ihm noch einmal nach, aber der grauhaarige Riese ließ sich nicht wieder sehen. * Hal leistete unterdessen den beiden Kennans Gesell schaft. Er benutzte die Gelegenheit, um wieder ein 185
mal gründlich aufzuschneiden, da die beiden allerlei über Sun Koh wissen wollten. »Jawohl«, sagte er unter anderem, »was glauben Sie wohl, was für eine gefährliche Sache das in Hongkong war? Die Chinesen hatten doch die ganze Stadt unterminiert. Überall Dynamit, wohin man nur trat. Jawohl, das war schon eine kitzlige Geschichte. Jeden Augenblick konnte alles in die Luft gehen, der geringste Funke hätte genügt. Da haben die Leute die Beine aber gehoben, das kann ich Ihnen versichern. Die Soldaten mußten sogar in Socken aus der Kaser ne, weil sie doch Eisen unter den Stiefeln hatten, die manchmal beim Auftreten Funken geben. Jawohl, so war das.« Kennan lachte, und Sybill rief entrüstet: »Na, so viel Schwindel habe ich in meinem Leben noch nicht gehört!« Hal grinste. »Was kann ich schon dafür, daß Sie noch jung sind?« »So ein Erzlügner«, stöhnte Sybill zwischen La chen und Entrüstung. Hal wollte sich seiner Haut wehren, aber plötzlich schwankte der Boden unter ihnen, so daß sie taumel ten. Eine wellenförmige Bewegung ging über den Strand, eine zweite folgte, Die ihnen abermals fast das Gleichgewicht raubte, ein unruhiges Dröhnen kam aus der Erde, das an ein fernes Gewitter erinner 186
te. Nach Sekunden war alles vorüber. Kennan schüttelte verstört den Kopf und sagte: »Das war ein regelrechter Erdstoß.« Hal zuckte mit den Schultern. »Sie meinen, das war ein regelrechtes Erdbeben. Sehr interessant, ich habe nämlich noch keines mit gemacht. Ein bißchen gefährlicher hatte ich es mir freilich vorgestellt.« Kennan blickte düster drein. »Es ist vielleicht gefährlicher, als du meinst. Das war nur einer der Erdstöße, die einen Vulkanaus bruch ankündigen. Wenn der unterseeische Vulkan ausbricht, während sich das Schiff in der Nähe der Insel befindet, dann …« Er vollendete nicht. Hal hatte auch so begriffen. Von nun an war ihm die Lust aufzuschneiden ver gangen. * Stunden später führte Rob seine Begleiter quer durch die toten Straßen der ganzen Stadt zu den massigen Bauten, die von einem Turm überragt wurden. Was draußen in der Stadt an äußerem Beiwerk fehlte, war hier in überreichem Maße vorhanden. Jedes der Ge bäude trug einen anderen Stil. Fast schmerzhaft streng wirkte unter all dem 187
Prunk die klobige, graue Masse des Turms. Die Wucht seiner Einfachheit ließ alles ringsum als Plunder erscheinen. Sie traten durch die Tür im Unterbau des Turms in das Innere. Nach zwei Schritten gebot ihnen eine steinerne Brüstung Halt. Sun Koh ließ seine Lampe aufflammen. Dann standen sie minutenlang unbeweglich. Sie befanden sich auf einer Art Plattform. Vor ih nen ging der Turm tiefer hinab. Er bildete einen Schacht, dessen Boden man augenblicklich nicht se hen konnte. Er war nämlich mit einem kaum faßba ren Durcheinander von Gold, Silber und Edelsteinen in allen möglichen Formen und Schattierungen, als Schmuck, als Rüstung, als Gefäß, als Standbilder be deckt. Sun Koh brach als ersten das Schweigen. »Wie tief ist der Turm?« fragte er. »Ich weiß nicht«, erwiderte Rob. »Ich habe nur ei nige Male etwas von oben weggenommen.« »Hier liegen nicht Millionen, sondern Milliarden. Du wirst reicher sein, als dir lieb ist. Da wir nicht unnötige Zeit verlieren möchten, schlage ich vor, nur die wertvollsten Stücke mitzunehmen.« »Ich bin einverstanden.« Sun Koh nickte nachdenklich. »Was für ein Fund für einen Sammler, nicht wahr, Mister Kennan? Schade, daß wir über die Geschichte 188
dieses Volkes, das solche Schätze zurückließ, nichts wissen.« »Es gibt ein geschriebenes Buch hier«, bemerkte Rob. »Was?« fuhren Sun Koh und Kennan auf. »Wo?« Rob sprang hinunter und schwang sich mit einem flachen, edelsteinbesetzten Kasten wieder hinauf. »Hier.« »Warum hast du es nicht früher schon einmal zu mir gebracht?« fragte Kennan vorwurfsvoll. »Ich wußte nicht, daß du es sehen wolltest«, ver teidigte sich Rob. Der Kasten enthielt tatsächlich ein Buch, genauer eine Reihe von Pergamentblättern, die mit unbehol fenen Schriftzügen bedeckt waren. »Das ist flämisch geschrieben, anscheinend aus dem siebzehnten Jahrhundert«, stellte Kennan sofort fest. »Sie können es lesen?« fragte Sun Koh. »Ja. Aber wollen wir nicht ans Tageslicht gehen?« »Einverstanden. Inzwischen kann die Verladung beginnen. Hal?« »Ja, Sir.« »Du füllst die Säcke. Ich denke, du weißt unge fähr, worauf es ankommt. Alle Edelsteine und die kleineren Goldsachen. Die großen Stücke laßt ihr liegen. Nimba, du nimmst dir einen Hammer aus dem Motorboot und schlägst nach Möglichkeit aus 189
den großen Stücken die wertvollen Steine heraus. Aber nicht die Steine selbst zerschlagen.« »Jawohl«, kam es zurück. Kennan und Sun Koh gingen hinaus. Draußen warteten ein Dutzend Leute. Sun Koh gab ihnen die erforderlichen Anweisungen. Sie sollten die gefüllten Säcke zu den Booten bringen, mit denen sie dann aufs Schiff geschafft werden würden, das weiter in der Lücke zwischen den Klippen lag. Während er die Leute noch unterrichtete, kam ei ner der Matrosen vom Strand hergelaufen und mel dete, daß es oben auf dem Berg brenne. Er überzeug te sich selbst, daß tatsächlich der Wald hoch oben im weiten Umkreis brannte. »Mac will uns von der Insel vertreiben, indem er das Feuer sich hinunterfressen läßt«, sagte Kennan. »Wir müssen uns beieilen.« Die Arbeit begann. Sun Koh und Kennan traten beiseite. Kennan nahm die recht gut erhaltenen Blätter heraus und ü bersetzte: »Anno Domini 1653. Zu Nutz und From men derer, die es finden, schreibe ich auf, was ge schehen ist, seitdem unser Schiff ›Santa Maria‹ mit fünfundzwanzig Mann Besatzung den Hafen von Valparaiso verließ. Das Wetter war uns zunächst günstig, aber dann gerieten wir in einen grausigen Sturm, der die Segel zerriß und den Mast zerbrach, so daß wir uns treiben lassen mußten. Der Wind und 190
die Strömung trieb uns direkt auf die Insel. Wie durch ein Wunder blieben wir nicht in den zahlrei chen Klippen hängen, sondern fuhren in eine mächti ge, offene Höhle hinein, in der wir mit gewaltigem Krach zur Ruhe kamen. Seitdem leben wir auf dieser Insel. Wir trafen bald auf Eingeborene, die die Insel, die von ihnen Rmoahala genannt wird, bewohnen. Sie sind groß und stark wie die Bäume, die hier wachsen, auch sehr dunkel. Sie zeigten sich nicht feindlich ge sinnt. Es dauerte jedoch nur einige Tage, so wurden viele von uns und von den Bewohnern der Insel krank. Die Rmoahala, so nennen sie sich, waren nur erkältet, und wir lachten über ihre Besorgnisse. Doch starben viele an der Erkältung. Unsere Leute beka men eine Krankheit, die von den Eingeborenen als harmlos bezeichnet wurde. Innerhalb von wenigen Tagen starb der größte Teil der Schiffsbesatzung. Es herrschte ein grausiges Sterben auf der Insel. Nach Wochen blieb ich als einziger von unserem Schiff am Leben, dazu einige der Rmoahala. Alle Frauen und Kinder sind gestorben. Wir sind zu we nige, um das Schiff wieder instand zu setzen und die Insel zu verlassen. Wir haben beschlossen, die Reichtümer der Insel, die einst den Toten gehörten, zusammenzutragen und in den Turm zu werfen. Sie haben ihn aus aller Welt zusammengetragen. Die Rmoahala waren einst ein 191
mächtiges Volk, das ein großes Reich bewohnte. Das war vor vielen tausend Jahren. Doch Erdbeben und Sintfluten verschlangen das Land bis auf diese und die andere Insel, die weiter im Norden liegen soll und die Insel der Steinköpfe heißt. Die Rmoahala lebten nach dem Untergang ihres Reiches auf dieser Insel. Sie vermehrten sich zahl reich. Sie bauten Schiffe und fuhren wieder hinaus auf das Meer und kehrten nicht wieder. Die Rmoaha la auf den Schiffen entdeckten ferne Länder und fremde Völker. Sie machten sich diese Untertan und wurden Herren der Erde. Sie vergaßen aber niemals ihre Heimat. Und nach Jahrhunderten, da fuhr ein Teil wieder zurück über das Meer in die Heimat der Ahnen und brachte seine Schätze mit. Man nahm sie freundlichst auf und ließ sie sogar Denkmäler jener fremden Völker bauen, aber sie brachten furchtbare Krankheiten mit, die das Volk arm an Menschen machten. Sie überwanden diese Krankheiten, und abermals zogen junge Männer aus, eroberten sich neue Reiche und ließen nichts von sich hören, bis ihre Nachkommen zurückkamen und neue Krankhei ten brachten. Da verbot man schließlich, daß die jun gen Männer weiter hinausgeschickt wurden. Wir haben nun abermals Krankheiten über die In sel gebracht. Das Volk ist bis auf wenige Mann aus gestorben. Eines Tages wird die Insel leer sein, wenn nicht vorher ein Schiff auftaucht.« 192
Kennan suchte in dem Kasten. »Der Schluß fehlt.« »Vielleicht ist der Schreiber nicht dazu gekom men, seinen Bericht fortzusetzen.« »Da können Sie recht haben«, meinte Kennan. »Eine letzte Nachricht aus Urzeiten der Mensch heit«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Es läßt sich je doch schwer sagen, ob dieser Bericht historische Wahrheit gibt. Tatsache ist, daß jetzt englische und amerikanische Expeditionen auf den Philippinen und einigen Südseeinseln nach den Resten einer verschol lenen Kultur suchen, die mit einem Erdteil Lemuria oder Gondwana zusammenhängen sollen. Sie wissen ja wohl, daß die ganze Südsee geologisch eigentlich nichts anderes als das Trümmergebiet eines unterge gangenen Erdteils ist.« »Das ist mir bekannt«, bestätigte Kennan. »Finden Sie es nicht merkwürdig, daß hier von Krankheiten gesprochen wird, die plötzlich das gan ze Volk vernichtet haben sollen?« »Durchaus nicht«, sagte Kennan. »Es ist eine be kannte Tatsache, daß die Rassen und Völker auf Krankheiten ganz verschieden reagieren. Ein Neger kann bekanntlich an Masern sehr schnell sterben, während diese bei uns als leichte Krankheit gilt, e benso werden umgekehrt die weißen Völker schreck lich von Krankheiten getroffen, unter denen die Ein geborenen kaum leiden.« 193
»Der Waldbrand frißt sich immer tiefer, es ist bes ser, wir helfen mit, damit wir sobald wie möglich von hier wegkommen«, schlug nun Sun Koh vor. Kennan war einverstanden. Sie halfen alle mit, die Säcke zu füllen. Es dauerte aber nicht lange, da kam die Meldung, daß die Säcke nicht ausreichten. Daraufhin befahl Sun Koh nun doch, daß sie einfach ausgeschüttet werden sollten. Mitten in die Arbeit hinein erfolgte ein leichter Erdstoß. Dann kam die Meldung vom Strand, daß die Boote nicht mehr fassen könnten, wenn man sie nicht über laden wollte. Da machte Sun Koh Schluß. Sie verließen alle den Turm, benommen und er schöpft. Mit steifen Gliedern wankten sie zu den Booten, in denen es blitzte und gleißte. Man schwieg im Boot. Die Eingeweihten wußten, daß hier ein Mensch von der Stätte seiner Jugend Abschied nahm. Endlich wandte sich Rob mit einem Ruck um und kam mit schnellen Schritten zum Boot. Ein Sprung und ein Zeichen, das Boot löste sich vom Ufer und folgte dem andern zum Schiff. Hanns Krotthoff schüttelte wortlos Sun Koh und den anderen die Hände. Man merkte ihm an, daß er auch erregt war. Sun Koh legte die Hand auf Robs Schulter. »Das ist Rob, der Eigentümer dieser Dinge. Er 194
wird Ihnen und Ihren Leuten jede Stunde dieser Ar beit mit Gold aufwiegen. Sie haben wohl noch nie so viele Edelsteine und Gold auf einem Haufen gese hen. Das ist verständlich.« Krotthoff wurde bei der Erwähnung seiner Pflich ten sachlich und ruhig. »Jawohl, ich habe genügend Leute von der Arbeit frei gehalten, so daß wir sofort fahren können.« »Dann bitte vor allem aus den Klippen heraus. Man weiß bei diesen Erdstößen nie, was geschehen kann.« Der Kapitän schwenkte ab. Sun Koh schritt mit Rob zur Reling. Der brennende Wald bot ein majestätisches, aber zugleich grausiges Bild. Die Flammenwände hatte sich schon fast bis zum Strand hinuntergeschoben, oben wurden von Zeit zu Zeit dunkle Stellen im Rauch sichtbar. Das Schiff fuhr. Rechts und links drohten die Klippen. Immer kleiner wurde die Insel. Da lief ein Schrei aus vielen Kehlen über das Schiff. Die Insel schien sich zu heben. Eben befahl Krotthoff volle Fahrt voraus, ein Zei chen, daß er die Enge zwischen den Klippen passiert hatte. Die Insel. Plötzlich barst der ganze Gipfel auseinander, so 195
daß mächtige Sprünge nach unten in die Feuermauer hineinliefen. Aus den anfänglich schwarzen Spalten quoll es rotglühend heraus wie aus einem geborste nen Topf. Und nun spritzte der ganze kahle Gipfel in einer ungeheuren Detonation auseinander und schoß auf der Spitze einer feurigen Fontäne senkrecht in die Höhe. »Ein Vulkanausbruch!« »Wir sind außer Gefahr!« schrie Krotthoff. Und wieder stieß drüben die gewaltige Faust von unten hoch. Und dann kam der Sturm und das Seebeben und stieß die Jacht mit rasender Wucht nach Westen, immer weiter von der feuerspeienden Insel weg. ENDE
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Als SUN KOH-Taschenbuch Band 12 erscheint: Freder van Holk
Attentat auf den
Südpol
Ein blindes Genie und ein eiskalter, haßgetrie bener Verbrecher finden sich zusammen, um einen wahnwitzigen Plan zu verwirklichen: Die mächtige Eisdecke der Antarktis soll aufge schmolzen werden, um den sechsten Kontinent bloßzulegen. Sun Koh stößt auf die Spur seines wahrhaft satanischen Gegenspielers. Ein Ge lehrter baut am Südpol Getreide an und kämpft mit der Schwerkraft, ein Filmstar spielt seine letzte Rolle, und Sun Koh wird in Ketten ge schlagen, während turmhohe Springfluten ge gen die Kontinente rasen. Wird der Erde das Unheil erspart bleiben? Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.