Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 661 Die Namenlose Zone
Die falsche Lichtquelle von Falk‐Ingo Klee
Der verh...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 661 Die Namenlose Zone
Die falsche Lichtquelle von Falk‐Ingo Klee
Der verhängnisvolle Irrtum der Vulnurer
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti‐ES mit seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man den Juni 3808. Atlan, der in der Namenlosen Zone mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, konnte der SOL wieder Nachrichten zukommen lassen, die den High Sideryt bewegen, zwei Expeditionen loszuschicken. Die eine soll dem Arkoniden Unterstützung bringen, die andere macht sich auf die Suche nach den Vulnurern und stößt dabei auf DIE FALSCHE LICHTQUELLE …
Die Hauptpersonen des Romans: Solania von Terra und Bjo Breiskoll ‐ Sie leiten die S‐2 auf der Suche nach den Vulnurern. Foster St. Felix ‐ Der Buhrlo‐Junge entdeckt eine wichtige Spur. Terle ‐ Häuptling der Darmonen. Mahrt, Rifst und Tuell ‐ Oberpriester der Darmonen. Lichtquelle‐Jacta ‐ Die Vulnurerin begeht einen verhängnisvollen Irrtum.
1. DIE SOLANER . Juni 3808, 19.12.34 Uhr. Vor etwas mehr als sechs Stunden hatte die SZ‐2 von der SOL abgekoppelt und mit der Suche nach den Vulnurern begonnen. Das Junk‐System lag längst hinter ihr. Die Positroniken waren mit sämtlichen Berichten Insiders gefüttert worden. Somit enthielten sie alles, was Atlan auf Rostbraun von Daug‐Enn‐Daug, dem Emulator der Vulnurer, erfahren hatte. Eingespeist waren aber auch die anderen Erlebnisse und Erkenntnisse des Aktivatorträgers, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung waren, insbesondere seine Begegnung mit der Lichtquelle in der Namenlosen Zone auf der Basis des Ersten Zählers. Daß es nicht leicht sein würde, die Bekehrer zu finden, lag auf der Hand. Fast vier Jahre waren seit dem ersten Kontakt mit dem Weltraumvolk vergangen, dazu noch in einer Galaxis, die mehrere Millionen Lichtjahre entfernt war. Konnte man den Wunsch der Lichtquelle auf der Basis des Ersten Zählers erfüllen und Vulnurer und Lichtquelle zusammenführen? Man hatte sich gut vorbereitet und auf eine lange Reise eingerichtet. Da bei einer solchen Distanz, wie man sie zurückzulegen gedachte, zweifellos Ermüdungserscheinungen des Materials auftraten, hatten sich Solania und Breiskoll, die den Raumer führten, der Unterstützung der Cheftechnikerin der SOL
versichert. Jessica Urlot war also mit von der Partie, ebenso wie Bora St. Felix und ihr siebenjähriger Sohn Foster. Von kleineren Reparaturen abgesehen, gab es unter Jessica Urlots sach‐ und fachkundiger Leitung auch keine technische Ausfälle. Wie ein gutgeöltes Uhrwerk funktionierte die Maschinerie, allen voran die Triebwerke. Lichtjahr um Lichtjahr wurde zurückgelegt, unaufhörlich näherte sich die SZ‐2 ihrem Ziel – einem Ziel, daß sie erst in ein paar Tagen erreichen würde. Es lag im früheren Machtgebiet von Hidden‐X. * Zone‐X war erreicht, jener Sektor, in dem sich die Wege der Solaner und der Vulnurer getrennt hatten. Seit wenigen Minuten schwieg der mächtige Antrieb, Taster und Orter waren jetzt wichtiger – und das Hyperfunkgerät. Pausenlos strahlte es sich wiederholende kurze Mitteilungen im Idiom und auf der Frequenz der Insektoiden ab, während Bjo Breiskoll mit seinen Para‐Sinnen versuchte, Kontakt zu bekommen. Die Instrumente, die unermüdlich den umliegenden Raum absuchten, vermochten nichts auszumachen, was der SZ‐2 gefährlich werden konnte. Im Gegensatz zu früher beim Kampf gegen Hidden‐X hatte dieses Gebiet seinen Schrecken verloren, dennoch war man vorsichtig und wollte nichts dem Zufall überlassen. Solania und der Katzer hatten da so ihre Erfahrungen. Erstere hatte die Sprecherin der Buhrlos und ihren Sohn in die Zentrale gebeten. Nicht, daß sie erwartet hätte, auf ihre Unterstützung angewiesen zu sein, denn der Teppelhoff‐Effekt hatte im normalen Universum keinerlei Bedeutung, nein, sie mochte die Frau und den Kleinen einfach, und sie schätzte Boras Rat. Breiskoll öffnete nach einer Weile die Augen und richtete sich in seinem Sessel auf. Solania von Terra schaute ihn fragend an. Er
schüttelte den Kopf. »Nichts – wie ich mir gedacht habe.« Foster kam herbeigelaufen, kletterte auf den Schoß des Katzers und erkundigte sich altklug: »Hast du geespert?« »Ja.« Bjo lächelte. »Leider habe ich keinen Erfolg gehabt.« »Sei nicht traurig. Man kann eben nicht immer Glück haben.« Foster rutschte von Breiskolls Knien. »Ich sehe mir noch ein bißchen die Zentrale an. Hier kann man nämlich mehr lernen als in der blöden Schule.« Er hopste davon, gleich darauf meldete sich die Funkzentrale. »Bisher Fehlanzeige. Sollen wir weitermachen oder den Versuch abbrechen?« »Ich denke, es hat keinen Zweck, weiterzusenden. Die Aktion wird gestoppt.« »Verstanden. Wir schalten ab.« Die Ex‐Magnidin, die sich früher Brooklyn genannt hatte, trennte die Verbindung und wandte sich an den Katzer. »Oder bist du anderer Meinung?« »Nein. Es wäre wirklich ein unwahrscheinlicher Zufall gewesen, wenn es auf Anhieb geklappt hätte. Wir müssen uns in Geduld üben. Womit können unsere Experten aufwarten?« »Das werden wir gleich wissen.« Die Frau stellte eine Konferenzschaltung zur Ortungsabteilung und zur Astronomischen Sektion her. In beiden Bereichen führten derzeit Solanerinnen das Kommando. »Nachdem unsere Hyperfunkausstrahlungen ohne Erfolg geblieben sind und auch Bjo die Vulnurer nicht ausmachen konnte, seid ihr gefordert«, begann sie ohne Umschweife. »Die Richtung, in die sich die Bekehrer damals absetzten, ist bekannt. Könnt ihr uns gezielte Hinweise geben, wo wir mit der Suche beginnen können?« Die zwei Teamleiterinnen hatten nicht nur Solania auf dem Schirm, sondern konnten sich auch gegenseitig sehen. Mit einem
Kopfnicken bedeutete die Ortungstechnikerin Sunbe Gangvon, das Wort zu ergreifen. »Wir sind im internen Datenaustausch zu identischen Ergebnissen gekommen, was gewisse Fakten betrifft, aber ich fürchte, es wird uns kaum weiterhelfen.« Die Astronomin machte ein unglückliches Gesicht. »Drei Galaxien kommen in Frage, und alle sind uns unbekannt.« »Also wahrhaft kosmische Verhältnisse in Größe und Auswahl – wie es sich für uns geziemt«, warf Breiskoll sarkastisch ein. »Habt ihr es nicht eine Nummer kleiner?« Diesmal übernahm Anche Chumba es, zu antworten. Das aparte Persönchen strafte alle Aussagen über ihre sprichwörtliche Sanftmütigkeit Lügen. »Wenn ich dich recht verstehe, unterstellst du uns, schlampig und nachlässig gearbeitet zu haben.« Die mandelförmigen Augen der Ortungstechnikerin verschossen regelrechte Blitze. »Ich verwahre mich entschieden gegen diesen Vorwurf. Jeder, der hier Dienst tut, hat seine Qualifikation in unzähligen Einsätzen bewiesen, und ich lasse es nicht zu, daß diese Spezialisten öffentlich zu unfähigen Narren erklärt werden. Sunbe und mir wäre es lieber gewesen, ganz konkrete Ergebnisse vorweisen zu können, doch offensichtlich sind weder die Instrumente noch unser Verstand dazu in der Lage.« »Schon gut, schon gut.« Der Katzer hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe weder etwas unterstellt noch lag mir daran, eure Arbeit abzuwerten. Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, daß meine Bemerkung scherzhaft gemeint war, allerdings zielte sie darauf ab, von euch eine Entscheidungshilfe zu bekommen.« »Wir können noch nicht einmal eine Empfehlung geben«, sagte die Ingenieurin in versöhnlichem Ton. »Bitte entschuldige meine Heftigkeit. Ich ärgere mich selbst am meisten darüber, daß wir nichts herausgefunden haben.« »Ich würde mir die Aufnahmen gerne einmal ansehen, die ihr
gemacht habt. Kann ich sie abrufen?« fragte Solania. »Selbstverständlich. Der gewohnte Kode.« Die Solanerin beendete das Gespräch und tastete eine Kombination von Ziffern und Buchstaben in ihren kleinen Terminal. Auf dem Hauptbildschirm erschien die Wiedergabe der Sterneninseln, darunter eingeblendet Größe und Entfernung sowie der Hinweis: WEITERE EINZELHEITEN KÖNNEN UNTER ANGABE DER BENUTZERID ÜBER DAS PROGRAMM G/12‐C‐9, AUSWAHL 45‐FZ‐2 ABGERUFEN WERDEN. »Bedeutend wirkt keine der drei Galaxien«, meinte Bora St. Felix, nachdem sie die Abbildung eine Weile betrachtet hatte. »Aufregend sind sie wirklich nicht«, bestätigte die Kommandantin der SZ‐2. »Ich glaube auch nicht, daß es uns weiterbringt, wenn wir die Zusatzinformationen abfragen.« Sie blickte zu Breiskoll. »Bjo, du hörst ja gar nicht zu. Was ist?« »Sieh dir einmal Foster an.« Beide Frauen drehten den Kopf. Der Kleine stand neben einem Instrumentenpult, starrte auf die Darstellung der Sternhaufen und schien vergessen haben, wo er sich befand. Faszination war es nicht, er wirkte geistesabwesend, fast entrückt. »Bitte stört ihn jetzt nicht«, flüsterte die Sprecherin der Buhrlos. »Ich glaube, er hat eine Vision.« Auch woanders registrierte man die Veränderung des quecksilbrigen Jungen. Jeder wußte von seiner besonderen Begabung, und plötzlich verstummten fast alle Gespräche. Wer es einrichten konnte, beobachtete den Knaben. Endlich bewegte er sich, und es schien, als kehrte sein Geist aus weiter Ferne zurück. Die maskenhaften Züge wurden weicher, die innere Leere wich aus seinem Blick, und die angespannte Körperhaltung lockerte sich. Für einen Augenblick hatte er Orientierungsschwierigkeiten, dann erkannte er wieder, wo er sich befand, und rannte zu seiner Mutter. »Alles in Ordnung, mein Sohn?«
»Ja, aber ich muß dir etwas erzählen. Ich habe wieder so einen komischen Traum gehabt, obwohl ich nicht geschlafen habe. Ist es dann trotzdem ein Traum?« »Ein Traum muß nicht unbedingt mit Schlaf zu tun haben – denke nur mal an den Wunschtraum.« Sie strich ihm zärtlich über den Kopf. »War es ein Wunschtraum?« »Ich weiß es nicht genau, denn ich habe mir nichts gewünscht, nur andere.« »Welche anderen?« »Das kann ich nicht sagen. Sie sprachen aus der Dunkelheit zu mir. Ich habe nur ihre Stimmen gehört, doch es waren keine richtigen Stimmen, und eigentlich redeten sie auch nicht mit mir.« Er blickte seine Mutter forschend an. »Kann man Gedanken hören?« »Hören wohl nicht, aber wer eine besondere Begabung hat, kann sie empfangen und verstehen.« »Dann habe ich etwas Unrechtes getan.« »Warum?« »Weil ich ihre Gedanken verstanden habe. Und Bjo sagt, das ist Gedankenschnüffelei und nicht erlaubt.« »Du hast es doch unbewußt getan, hast es also nicht gewollt«, warf Breiskoll ein. »Das ist weder verboten noch schlimm. Weißt du noch, was du erfahren hast?« »Kälte und Eis – daran dachten alle. Die einen wünschten, daß es immer so bleiben möge, doch die anderen fürchteten sich davor. Sie fühlten sich verloren und waren ohne Hoffnung.« »Kannst du dich an weitere Einzelheiten erinnern?« fragte der Mutant. »Nein.« »Dachten da unterschiedliche Wesen? Wie nannten sie sich? Lebten die Wesen auf einem Planeten oder im Raum? Kam es dir wie eine weite Reise vor? Konntest du etwas sehen? Ist dir etwas Besonderes aufgefallen? Seltsame Dinge, Lichterscheinungen? Denk mal nach!«
»Sonnen, drei ungewöhnlich helle Sonnen!« stieß Foster hervor. »Sie gehörten zusammen!« »Na, siehst du, mein Junge! Das hast du wirklich prima gemacht«, lobte der Katzer. »Du wirst bestimmt einmal ein fähiger Mutant.« Der Knirps schien um einige Zentimeter zu wachsen, seine Brust war stolzgeschwellt. »Hast du das gehört, Mutter?« »Ja, aber auch Mutanten benötigen Schlaf, und vor allem dann, wenn sie noch klein sind.« »Aber ich bin doch schon sieben!« entrüstete sich Boras Sprößling. »Das ist mir bekannt, dennoch ist es jetzt Zeit für dich. Alle braven Kinder schlafen schon, und ich bin auch müde.« »Ich nicht.« Der Steppke grinste verschmitzt. »Du kannst ja schon vorgehen und dich hinlegen, ich komme dann später nach.« »Nein, mein Freund, das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir gehen beide in unsere Unterkunft, und zwar zusammen.« »Gut, ich komme freiwillig mit, doch dann muß ich nicht duschen. Abgemacht?« »Ich lasse nicht mit mir handeln, also Schluß mit der Feilscherei. Ab in die Kabine!« »Gute Nacht!« Der junge Buhrlo machte ein entsagungsvolles Gesicht. »Wenn ihr mich noch braucht – ich bin über Interkom erreichbar.« Er winkte verabschiedend und verließ an der Hand seiner Mutter die Zentrale. Solania und der Telepath blickten ihnen nach und warteten, bis sich das Schott hinter ihnen geschlossen hatte. »Du weißt, daß ich die beiden sympathisch finde und vor allem den aufgeweckten Knaben mag, dennoch teile ich deine Meinung nicht, daß uns Foster weitergeholfen hat. Oder war es nur eine Streicheleinheit?« »Nein, die Vision war zweifellos echt. Er ist nur noch nicht geübt genug, wesentliche Dinge zu beachten, und er beschreibt seine Eindrücke mit den Mitteln und dem Vokabular, die einem Kind zur
Verfügung stehen. Daraus können wir ihm keinen Vorwurf machen, andererseits hat er uns einen Hinweis gegeben, dem wir nachgehen sollten.« »Du meinst das Drei‐Sonnen‐System?« »Ja. Man kann eine solche Konstellation zwar nicht als ungewöhnlich bezeichnen, doch Foster betonte ausdrücklich, daß es sich um drei außergewöhnlich helle Sterne gehandelt hat. Das ist allerdings eine Rarität, und ich denke, daß zwischen dem auffälligen Trio und dem, was er aufgenommen hat, ein Zusammenhang besteht.« »Ich bin einverstanden, allerdings möchte ich mich zuvor vergewissern, ob diese Drillinge beobachtet wurden.« Solania von Terra wählte die Astronomische Sektion an und trug ihr Anliegen vor. Sunbe Cangvon wußte sofort, um was es ging. Ohne die Positronik abfragen zu müssen, sagte sie: »Ja, ein solches Mehrfach‐System ist uns in der Galaxis Gamma‐ ZX‐3 aufgefallen. Es handelt sich um drei weiße Riesen, die relativ dicht beieinanderstehen. Wir haben sie als Cepheiden eingestuft, also als physische Veränderliche. Die Einzelheiten habe ich jetzt nicht im Kopf, aber sie sind unter G/12‐C‐9, Auswahl 45‐FZ‐2 gespeichert. Du kannst sie abrufen.« »Ich wollte mir ersparen, das alles lesen zu müssen. Danke, Sunbe.« Die Solanerin trennte die Verbindung und gab Anweisung, die Sterneninsel Gamma‐ZX‐3 anzusteuern. Aus naheliegenden Gründen bekam sie den Eigennamen »Fosterix«. »Die nächste Etappe wird uns so weit von der Rest‐SOL wegführen, daß sie selbst bei voller Sendekapazität mit der Hyperfunkanlage nicht mehr zu erreichen ist«, meinte Breiskoll nach einer kurzen Berechnung. »Ich bin dafür, das nicht publik zu machen. Es würde die Leute nur unnötig verunsichern.« »Ich bin deiner Meinung.« Die Frau nickte zustimmend. »Allerdings werde ich Breckcrown entsprechend informieren, bevor
wir die kritische Distanz überschreiten.« * Was sich schon vorher abgezeichnet hatte, wurde deutlich, als die SZ‐2 die ersten Ausläufer von Fosterix erreicht hatte: Es war eine kleine, unbedeutende und wenig bewohnte Galaxis. Anhand der Energieechos und Funkmessungen wurden neunzehn Sonnensysteme mit besiedelten Planeten ermittelt, doch kein Volk war so weit entwickelt, daß es für die Solaner eine Bedrohung dargestellt hätte. Die einzigen, die Fosterix vor Probleme stellte, waren die Astronomen. Gut 100.000 Sonnen gehörten diesem Verbund an, der nicht älter als 1,2 Milliarden Jahre sein konnte. Das war gemessen an Sol mit fünf Milliarden Jahren relativ jung, doch als offenen Sternhaufen konnte man Gamma‐ZX‐3 nicht bezeichnen, ein Kugelhaufen war es aber auch nicht. Am nächsten kam noch die Klassifizierung EO für eine kleinere Galaxis ohne Spiralarme und sphärisch orientiert, aber auch diese Definition war alles andere als zutreffend. Genau besehen entzog sich Fosterix jeglicher Katalogisierung. Wesentlich mehr Erfolg hatten sie bei der Bestimmung der drei im Bordjargon »Trio« genannten Riesensonnen. Noch bevor der Raumer das System erreichte, wußte man so gut wie alles über sie. Sunbe Gangvon hatte bereits angedeutet, daß es sich bei den drei Sternen um Cepheiden, also physische Veränderliche, handelte. Weder Solania noch Bjo hatten sich darüber Gedanken gemacht, aber nun, da Einzelheiten bekannt wurden, erschien die Sache in einem ganz neuen Licht. Trio eins bis drei änderten ihre Helligkeit in einer Periode von 51,9, 64,7 und 66,2 Tagen. Das bedingte nicht nur einen Wechsel der Größenklasse und eine Zunahme des Querschnitts zwischen acht
und elf Prozent, sondern auch eine Änderung des Spektraltyps von 0 in der Zeit des Maximums zu BO bei minimaler Helligkeit. Selbst in diesem Stadium betrug die absolute Helligkeit hoch das Vieltausendfache von Sols Leuchtkraft. Der Verdacht einer Manipulation bestätigte sich nicht, das Pulsieren beruhte auf natürlichen Ursachen. Noch hatten die Sonnen ihr optimales Stadium nicht erreicht. »Wenn sich die Vulnurer dieser Galaxis zugewandt haben, muß ihnen diese außergewöhnliche Konstellation aufgefallen sein.« Die Kommandantin der SZ‐2 war auf einmal ganz aufgeregt. »Trio ist ein Phänomen. Die Bekehrer, die ihre Lichtquelle suchen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt, müssen von diesem System magisch angezogen worden sein – natürlich vorausgesetzt, sie haben Gamma‐ZX‐3 als vorläufiges Ziel gewählt.« »Ich stimme völlig mit dir überein, aber ich gehe sogar noch einen Schritt weiter.« Breiskoll beugte sich vor. »Ihre Technik steht der unsrigen kaum nach, so daß wir davon ausgehen können, daß sie die gleiche Beobachtung gemacht haben wie wir und Fosterix angesteuert haben. Ich bin fast davon überzeugt, daß wir auf der richtigen Spur sind, doch unsere Freunde werden sicherlich eine herbe Enttäuschung erlebt haben, als sie erkennen mußten, daß Trio nicht die Lichtquelle ist.« »Ganz so optimistisch wie du bin ich nicht.« Die Solanerin wirkte ernüchtert. »Ohne Fosters Vision hätten wir wahrscheinlich oder aufs Geratewohl eine der in Frage kommenden Sterneninseln ausgewählt. Ob es dann ausgerechnet diese gewesen wäre, bleibt dahingestellt, schließlich sind wir nicht in wissenschaftlicher Mission unterwegs.« »Es stimmt schon, daß wir uns mit der Datenfernerfassung zufrieden gegeben hätten, denn wie du richtig gesagt hast, führen wir keinen astronomischen Spezialauftrag durch, sondern sind auf der Suche nach den Vulnurern, aber du hast die unterschiedlichen Beweggründe außer acht gelassen. Ihre Motivation besteht darin,
die wie auch immer geartete Lichtquelle zu finden, also werden sie jeder physikalischen Besonderheit wesentlich mehr Beachtung schenken als wir. An ihrer Stelle würde ich auch alles untersuchen, was von der Norm abweicht – und sei es noch so geringfügig.« Der Katzer nippte an seinem Erfrischungsgetränk. »Im Prinzip verhalten wir uns ja nicht anders, wenn wir Informationen bekommen und Fakten gewinnen wollen. Daß wir durch Atlan einen Wissensvorsprung haben, was die Lichtquelle und ihre Existenz betrifft, können wir den Bekehrern nicht zum Vorwurf machen.« Der Melder des Interkom‐Anschlusses gab optisch und akustisch zu erkennen, daß jemand eine Verbindung zur Schiffsführung wünschte. Fast mechanisch ging Solania auf Empfang. Ein Ortungstechniker meldete sich. »Wir werden in Kürze das Zielgebiet erreichen. Wir …« »Das ist mir bekannt.« Die dreiundsechzigjährige Frau, allgemein als charmant und liebenswürdig eingestuft, reagierte ein wenig unwirsch auf die Störung. Sie warf einen Blick auf den Zeitmesser. »Um genau zu sein – in sieben Minuten und neununddreißig Sekunden sind wir dort, wo wir hinwollten.« »Ich verstehe mich weder als Weckeinrichtung noch als lebendes Chronometer«, sagte der Solaner gallig. »Pflichtgemäß gebe ich hiermit bekannt, daß Trio einen Begleiter hat. Wir haben den Planeten ›Torkler‹ genannt. Er umkreist die drei Sonnen in etwa zweihundertachtzig Jahren, doch dabei wird seine Umlaufbahn durch die wechselnden Gravitationseinflüsse derartig unregelmäßig, daß die Hochrechnungen eine Fehlerquote von plus/minus einem Prozent aufweisen. Darauf möchte ich ausdrücklich aufmerksam machen. Ende der Durchsage.« Der Bildschirm wurde dunkel. »Das ist doch unerhört, einfach abzuschalten«, empörte sich die Solanerin. »Dem Kerl werde ich die Leviten lesen und seiner Vorgesetzten auch.« Aufgebracht stellte sie die Verbindung wieder her. Erneut meldete
sich der ruppige Mann. »Ist noch was?« fragte er anzüglich. »Hör zu! So lasse ich mit mir nicht umspringen. Wir sind eine Gemeinschaft, für die ich letztendlich die Verantwortung trage. Wirklich sinnvolle Entscheidungen kann ich jedoch nur treffen, wenn ich über alles Bescheid weiß, und wenn ich alles sage, so sind damit auch vermeintliche Kleinigkeiten gemeint, die du eventuell für belanglos hältst, die aber im Zusammenhang durchaus von Bedeutung sind. Hast du mich verstanden?« »Ich bin ja nicht taub«, kam es mürrisch zurück. »Vielleicht besitzt du dann die Güte, mir etwas mehr über Torkler zu sagen.« »Äquatordurchmesser 12.700 Kilometer, Dichte …« »Mich interessiert mehr, ob es dort Leben gibt.« »Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Es handelt sich um eine Eiswelt, die allerdings eine Sauerstoffatmosphäre besitzt.« »Danke, das genügt mir schon. Und jetzt möchte ich mit Anche sprechen.« »Sie hat Freiwache.« »Dann richte ihr aus, daß sie sich bei mir melden soll. Ende.« Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck beendete Solania das Gespräch. »Ich hoffe, daß der Bursche in Zukunft etwas zugänglicher sein wird.« »Davon bin ich überzeugt. Ilgo ist sonst durchaus nicht aufsässig, aber er hat persönliche Probleme. Kurz vor dem Start hat ihn seine Gefährtin verlassen und ist zu seinem besten Freund gezogen.« »Hast du seine Gedanken kontrolliert?« »Ja, weil ich wissen wollte, ob er ein Sicherheitsrisiko darstellt. Das ist jedoch nicht der Fall, so daß sich seine Ablösung erübrigt. In ein paar Tagen hat er sich wieder gefangen.« *
Das Raumschiff war in einen Orbit gegangen, Sonden waren ausgeschleust worden, die nach möglichen Spuren der Vulnurer suchen sollten. Auch auf der SZ‐2 war man bemüht, mit Bordmitteln etwas herauszufinden. Flora und Fauna konnten selbst aus der Nähe nicht ausgemacht werden. Der ganze Planet einschließlich der Gebirge und Erhebungen war von einem Eispanzer bedeckt, der in den Ebenen und Tälern mehrere tausend Meter dick war. »Torkler ist nicht tot.« Der Mutant hatte sich in den letzten Minuten ganz auf seine telepathischen Fähigkeiten konzentriert und den Himmelskörper geistig abgetastet. »Ich spüre Leben, aber ich kann keine klaren und bewußten Gedanken empfangen. Die Hyperstrahlung der drei Sterne überlagert die Impulse und verzerrt sie.« »Wenn im oder unter dem Eis tatsächlich Wesen existieren, dann müssen sie extrem anpassungsfähig sein«, meinte Bora St. Felix nachdenklich. »Die Bahnauswertung hat ergeben, daß sich der Planet in Zeiträumen von dreißig bis sechzig Jahren innerhalb der Ökosphäre einer der Sonnen bewegt und anschließend eine gleich lange Phase durchläuft, in der Dauerfrost herrscht, weil er die Wärmezone des einen Gestirns verläßt und das andere noch zu weit weg ist. Nach ersten Berechnungen muß diese Vereisung erst kürzlich stattgefunden haben, also vor wenigen Monaten.« Solania blickte auf ihr Display und las einige Daten ab. »Dieser Wechsel von warm und kalt und umgekehrt vollzieht sich nicht allmählich, sondern sprunghaft«, ergänzte sie. »Unsere Wissenschaftler haben herausgefunden, daß eine solche Naturkatastrophe urplötzlich über Torkler hereinbricht. Maximal werden zwölf Stunden angegeben.« »Daß sich Geschöpfe auf derartig unterschiedliche Bedingungen einzustellen vermögen, ist eigentlich so gut wie ausgeschlossen.« Man merkte Breiskoll an, daß er von Zweifeln geplagt wurde. »Andererseits bin ich sicher, etwas geespert zu haben – nicht
konkret, aber genug, um auf bewußtes Leben schließen zu können.« Die ersten Bilder und Daten der Explorer kamen herein. Sie zeigten eine Polarlandschaft – Eis und Schnee, so weit das Auge reichte. Das makellose Weiß reflektierte das schwächer werdende Licht von Trio 2 und schuf ein unbeschreibliches Zwielicht aus Pastelltönen in zartem Blau. Verwunschen wirkte er, der Planet, wenn sich die Kameras auf Firnfelder und Gletscher richteten, öde und trostlos, wenn sich die Objektive an der scheinbaren Unendlichkeit des Horizonts orientierten. Arktische Temperaturen von minus siebzig Grad und mehr wurden gemessen, dazu Sturmböen, die mit über einhundertfünfzig Stundenkilometern über das von Eis bedeckte Land fegten. Noch immer befand sich die Atmosphäre in Aufruhr, und es würde wohl auch noch einige Zeit vergehen, bis die Luftmassen sich ebenfalls abgekühlt hatten und zur Ruhe kamen. Unter den Verantwortlichen machte sich eine gewisse Enttäuschung breit. Angesichts dieser Umstände war es so gut wie unmöglich, einen Hinweis darauf zu bekommen, ob die Bekehrer tatsächlich hier aufgetaucht waren. Wenn es wirklich Indizien dafür gab, so waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Klimawechsel vernichtet und begraben worden unter der glitzernden Kruste, die Torkler wie eine Schale umschloß. Eine Sonde, die die Rückseite des Planeten unter die Lupe nehmen sollte, meldete, daß eine größere Metallansammlung geortet worden war. Das erweckte ein wenig Aufmerksamkeit, nährte jedoch nicht die Hoffnung, doch noch fündig zu werden. Selbst Bjo bildete da keine Ausnahme. »Ich messe drei Objekte an, die im Eis eingeschlossen sind«, funkte der Satellit und lieferte darauf auch detaillierte Angaben. Ein breiter Ring war zu sehen, der sich zu einer Kuppel verjüngte, doch beide Teile gingen nicht homogen ineinander über, vielmehr hatte man den Eindruck, daß eine umgestürzte Schüssel auf einem wesentlich breitrandrigen Rohrstück thronte, das seinerseits auf
einem Trichter verankert war. Die Höhe der exotischen Gebilde wurde mit 1,2 Kilometern und die Breite mit 800 Metern angegeben. »Solchen Konstruktionen sind wir bisher nur einmal begegnet!« Den Katzer hielt es nicht mehr in seinem Sessel, er sprang auf. »Das sind die Raumschiffe der Vulnurer!« 2. DIE DARMONEN Es war heiß. Erbarmungslos brannte die Riesensonne, die fast das ganze Firmament ausfüllte, auf den Planeten hernieder. Während sich Kinder und Jugendliche im nahen See tummelten und dort Erfrischung fanden, hatten sich die Älteren in den Schatten ihrer Hütten zurückgezogen. Die bleierne Hitze lähmte die Aktivitäten der Darmonen, ihre Siedlung wirkte wie ausgestorben. Die meisten dösten und träumten von der Kälte und dem Leben im Eis. Nicht überall war es völlig still. Aus einem langgestreckten Bau, der sich nicht nur durch seine Größe, sondern auch durch Schmuckelemente von den anderen Unterkünften unterschied, waren gedämpfte Stimmen zu hören. »Die Götter zürnen uns, besonders Dersf«, grollte Terle. »Das Volk fragt, warum es mit dieser Hitze gestraft wird, denn an Opfern hat es wahrlich nicht gemangelt und auch nicht an Eistempeln, die wir während der wahren Lebensphase so zahlreich errichtet haben wie nie zuvor. Was haben wir falsch gemacht?« »Niemand vermag es, den Willen der Sonnengötter zu ergründen. Sie herrschen nach Belieben über uns, und wir haben uns ihrem Entschluß zu beugen. Natürlich können wir versuchen, sie gnädig zu stimmen, doch wenn sie das Opfer verweigern, sind wir gehalten, voller Demut auf uns zu nehmen, was sie uns auferlegen.« Der Oberpriester schwenkte einen ausgehöhlten kurzen Stab. Er war nicht nur ein sichtbares Zeichen seiner Würde, sondern enthielt
auch unbekannte Inhaltsstoffe, die bei jeder Bewegung einen betörenden Duft verbreiteten. »Die Sonnengötter liegen in einem immerwährenden Kampf. Alle drei sind unbesiegbar, deshalb können wir nicht nur einem huldigen. Jetzt hat Dersf Macht über uns, aber es wird der Tag kommen, da Flit und Terat unser Leben bestimmen.« »Es hat lange gedauert, bis Terat uns erhört hat, doch warum liefert er uns nun Dersf aus, der doch sein Gegner ist?« »Wenn du nicht mein Vater wärst, würde ich dich auf der Stelle dem Hohen Rat ausliefern.« Rifst war erregt. »Keiner hat das Recht, so zu reden. Die Götter werden jeden strafen, der so über sie denkt und sich abfällig äußert, und das Unglück wird über alle hereinbrechen, die die Allmacht der Sonnengötter in Frage stellen. Schaden und noch größere Hitze kannst du nur von dir abwenden, wenn du Dersf und Terat jedem zwei Urz‐Würmer opferst.« Terle gab einen erstickten Laut von sich. »Kann ich die Sonnengötter nicht durch andere Gaben umstimmen?« »Du frevelst schon wieder.« »Ich werde tun, was du mir aufgetragen hast.« Mit matten Bewegungen verließ der Führer der Darmonen das doppelstöckige Bauwerk, das als Tempel und Behausung der drei Oberpriester zugleich diente. Ächzend brachte er die Rampe hinter sich und strebte seiner Hütte zu, dabei bemüht, sich im Schatten der riesigen Gewächse zu halten, die an Bananenstauden erinnerten. Ziemlich erschöpft schleppte er sich über die Schwelle seiner laubenähnlichen Behausung, die aus elastischem Rohr und Blättern errichtet worden war. Am liebsten hätte er die nächsten Stunden mit Nichtstun im Schlammloch verbracht, doch daraus wurde nichts. Er mußte hinaus in die brütende Hitze des Nachmittags, um die als Delikatesse geschätzten, aber recht scheuen Urz‐Würmer zu jagen. »Du warst lange weg.« Darmoher räkelte sich auf einem feuchten Laublager, das angenehm kühlte. »Leg dich zu mir, ich werde dich
erfrischen.« Sie griff nach einer wassergefüllten Tonschale und schüttete ihrem Gefährten das lauwarme Naß über die ledrige Haut. »Ich kann jetzt nicht ausruhen.« Er nahm ein Tragegestell auf, setzte es sich auf den Rücken und befestigte es umständlich mit den Riemen aus Pflanzenfasern, dann schob er eine Steinaxt, ein Bronzemesser sowie Pfeil und Bogen in die dafür vorgesehenen Ösen. »Willst du auf die Jagd gehen?« »Ich muß es tun. Rifst sagt, daß ich die Sonnengötter beleidigt habe und ihren vier Urz‐Würmer opfern muß.« »Das ist schon das dritte Mal, daß dir eine besondere Buße auferlegt wird«, sagte Darmoher vorwurfsvoll. »Du bist wahrlich kein gutes Vorbild für die anderen.« »Doch, denn sie glauben, daß ich es freiwillig tue.« »Aber Rifst weiß die Wahrheit, und die anderen Oberpriester auch.« »Ich habe schon zwei Warmzeiten erlebt, doch so schlimm wie jetzt war es noch nie. Ist es da ein Wunder, daß meine Stimmung schlecht ist?« »Jeder leidet unter der Hitze, aber niemand läßt sich deshalb dazu hinreißen, die Sonnengötter zu beleidigen.« »Wir haben alles getan, um sie gnädig zu stimmen, doch sie nehmen unsere Opfer nicht an. Ich sage dir, daran sind die Priester schuld, weil sie unsere Gaben nicht richtig anpreisen.« »Terle, du versündigst dich schon wieder«, entsetzte sich seine Gefährtin. »Ach was. Dein feiner Sohn erlegt mir immer die schwersten Strafen auf. Kann er sich nicht mit Früchten, Waffen oder Gerätschaften begnügen? Nein, er meint, daß Dersf und Terat nur durch Urz‐Würmer zu besänftigen sind.« »Rede nicht weiter. Du versuchst die Götter und ihre Diener.« »Wenn es noch eine wahre Lebensphase für uns gibt, werde ich
versuchen, ein anderes Weib zu finden«, giftete der Darmone. »Du bist ja fast noch schlimmer als Rifst.« * Es war fast ein Wunder, daß Oros, wie er von den Eingeborenen genannt wurde, überhaupt Leben hervorgebracht hatte – und sogar intelligentes dazu. Wie auf allen Sauerstoffwelten war die Wiege des Lebens das Wasser gewesen, und aus den ersten Experimenten der Evolution waren nach und nach Pflanzen und Tiere entstanden, primitiv und in unvorstellbarer Artenvielfalt, doch über neunundneunzig Prozent davon waren schon Vergangenheit in der Geschichte des Planeten. Die Fauna war recht dürftig und beschränkte sich auf niedere Tiere wie Würmer, Krebse und urtümliche Fische. Einige Arten vermochten es, auf dem Grund der nicht völlig zugefrorenen Ozeane zu überleben, andere sicherten ihrer Gattung das Weiterbestehen durch kälteresistente Ureier, die im Eis konserviert wurden und nach der Schmelze zu den Stammeltern neuer Generationen wurden, die nur in der Wärme existieren konnten. Vielfältiger war da schon die Flora, aber Bäume fehlten völlig. Sie wurden durch bis zu fünfzehn Meter hohe Riesenstauden mit Scheinstämmen und mächtige Farne ersetzt. Neben diesen Giganten nahmen sich die anderen Gehölze recht bescheiden aus. Dort, wo der Boden feucht und sumpfig war, hatten sich schilfartige Gewächse angesiedelt, die gewaltige Haine bildeten und fast vier Meter Höhe erreichten. Ihr Rohr diente den Darmonen als Holzersatz. Ganz andere Lebensräume hatten verschiedene Algen erobert. Während manche Binnengewässer oder Meere bevorzugten, lebte eine Art in den heißen Quellen, die aus dem Planeteninneren gespeist wurden. Sie galten als ausgesprochener Leckerbissen.
Nur eine Grassorte gab es, die zugleich auch die einzige Kulturpflanze der Planetarier war. Nur dreißig Zentimeter hoch und rasch wachsend, bildete sie die Nahrungsgrundlage der Darmonen. Die in den Rispen enthaltenen länglichen Körner wurden gemahlen, daraus wurde dann eine Art Getreidemus gekocht oder Fladenbrot gebacken. Überall, wo das Erdreich noch genügend Licht erhielt, hatte sich ein Mittelding zwischen Moos und Flechte ausgebreitet. Was die Gräser der Erde, war Glak auf Oros. Auch die Flora bediente sich der unterschiedlichsten Methoden. Manche Vertreter des Pflanzenreichs sicherten ihre Art den Fortbestand durch Dauersporen, andere hatten sich zu Frostkeimern entwickelt. Die Sumpfpflanzen legten sich aus abgestorbenen Pflanzenteilen ein dickes Wurzelpolster zu. Nahezu unter Sauerstoffabschluß machten sich Bodenbakterien an die Arbeit und lösten durch ihre Tätigkeit gewisse Gärungsvorgänge aus. Isolierende Gasbläschen und die dabei entstehende Wärme verhinderten sowohl den Kältetod des Schilfs als auch der Mikroorganismen. Diese Symbiose war nicht die einzige, doch andere Spezies verließen sich lieber auf sich selbst. Ein ganz eigenartiges Verhalten legte Ursda an den Tag, jene Staude, die so fatal an Bananen erinnerte. Ihre lanzenförmigen, glattschaligen harten Früchte bohrten sich in den Untergrund, wenn sie reif waren. Anstatt nun Wurzeln zu entwickeln, die nach unten wuchsen, entstanden Ausläufer, die sie tiefer in den Boden trieben, bis sie sich etwa einhundertfünfzig Meter unter der Planetenoberfläche befanden. Doch damit nicht genug, wurde bei ausreichender Temperatur des Erdreichs ein Sproß ans Licht geschickt, aus dem eine neue Ursda entstehen konnte. Starb er durch Kälteeinwirkung ab, verfiel der Absenker in eine Art Winterruhe und trieb neu aus, wenn es wieder wärmer wurde. Vom Sterben und Wiedererstehen der Natur wußten die
Darmoner kaum mehr als das, was sie sahen. Wie ihre Umwelt waren sie dem ewigen Wechsel angepaßt, doch sie waren Kinder der Kälte und ehemalige Bewohner der eisigen Meere, deren Ahnen an Land gegangen waren. Der Körper war langgestreckt wie der eines Lurchs und endete in einem muskulösen Schwanz. Bauch‐ und Afterflossen hatten sich zu Stummelfüßchen entwickelt, aus den paarigen Rückenflossen waren zierliche Greiforgane geworden. Die Köpfe glichen denen von Fröschen – das galt besonders für das riesige Maul. Etwas anders waren die Augen gestaltet. Es waren Glotzaugen, doch sie befanden sich auf Stielen und konnten in passende Wölbungen auf der Schädeldecke zurückgezogen werden. Das geschah häufig, denn die sich dadurch bildenden Hautlappen der Augenhöhlenränder befeuchteten und reinigten die Augäpfel. Eine Besonderheit war, wie sie das Atmungsproblem gelöst hatten. Sie hatten kein Labyrinthorgan und verfügten auch nicht über Lungen, die es ihnen ermöglichten, Sauerstoff direkt aus der Luft aufzunehmen, nein, sie waren nach wie vor Kiemenatmer, und wie ihre Ahnen versorgten sie ihren Körper mit Sauerstoff aus dem Atemwasser. Die Darmonen führten es in den durch Deckel hermetisch verschlossenen Kiemen mit und versetzten den Wasservorrat ständig mit Luft, die sie durch den Mund einatmeten. Dieser ebenso einfache wie geniale Einfall der Natur hatte nur einen Nachteil: Wenn sie etwas aßen, wurde das Atemwasser durch die Kiemendeckel ausgestoßen und mußte ergänzt werden. Schuppen waren nur noch vom Ansatz her zu erkennen. Eine bräunliche Haut, schwarz gebändert und ledrig, schützte sie vor Austrocknung. Anders als bei Vögeln und Säugern war ihre Körpertemperatur nicht konstant, sondern von der Umgebung abhängig. Und mehr noch als andere Wechselwarme wie Reptilien, die zwar ein Sonnenbad genossen, aber die bullige Hitze flohen und dann Kühlung suchten, haßten die arktisch orientierten Planetarier
den Sommer. Der gesamte Organismus der Darmonen war auf Kälte eingestellt. Selbst in einer eisigen Umgebung vermochten die Eingeborenen ohne Hilfsmittel und Wärmeschutz zu existieren, und sie empfanden es sogar als angenehm. Was auf die meisten anderen Geschöpfe lähmend wirkte, beflügelte die Planetarier regelrecht. Hormone und Enzyme steigerten ihre Aktivitäten, sie wurden reger, gleichzeitig wurde der Fortpflanzungstrieb wach. Auf dem Land bewegten sich die gut ein Meter langen und kegelförmigen Intelligenzen recht langsam und schlängelnd wie eine Eidechse, sollte es schneller gehen, benutzten sie den muskulösen Schwanz und glichen dann einem fliehenden Seehund, was die Gangart betraf. Daß sie sich vorwärtsschnellten und den Schwanz als zusätzlichen Antrieb benutzten, geschah so gut wie nie. Zwar entwickelten sie dabei eine beachtliche Geschwindigkeit, doch sie hatten keine Feinde, die sie als Beute betrachteten. Die Darmonen lebten mit sich und der Umwelt in Frieden, sie haderten nur mit ihrem Schicksal, wenn sie einer der Sonnengötter mal wieder mit einer Hitzeperiode bestrafte. * Terle hatte es tatsächlich geschafft, vier Urz‐Würmer aufzuspüren und die schlangengroßen Tiere zu erledigen, die sich von organischen Abfällen ernährten. Dem Zusammenbruch nahe, hatte er sie seinem Sohn übergeben, der sie zusammen mit den beiden anderen Oberpriestern geopfert hatte, bevor die Dämmerung hereinbrach. Wie gewöhnlich in solchen Fällen nahmen alle erwachsenen Darmonen an diesem Ritual teil. Der Stammesführer war so erschöpft, daß er von der Zeremonie kaum etwas mitbekam. Insgeheim schwor er sich, nie mehr an den
Göttern herumzumäkeln und ihre Allmacht und Weisheit in
Zukunft nicht mehr anzuzweifeln oder am Verhalten der Oberpriester Kritik zu üben. Er wurde in seinem Entschluß schwankend, als ihm seine Artgenossen zujubelten und ihn als leuchtendes Beispiel für seinen Einsatz hinstellten, um die Sonnengötter gnädig zu stimmen. Wie die beiden anderen registrierte es selbst sein Sohn mit deutlicher Mißbilligung. »Die Opfer von Terle während der letzten zehn Lichtwechsel waren Zeichen persönlicher Sühne, wie sie euch allen gut anstünde«, verkündete Mahrt, der älteste der Oberpriester. »Er hat diese Buße auf sich genommen, um Dersf, Terat und Fht zu versöhnen.« Der Darmone, der schon ein Greiforgan erhoben hatte, um den Bewohnern der Siedlung zuzuwinken, ließ die krallenartig auslaufende Extremität sinken. Das Gefühl des Triumphs, ein besonders gutes Vorbild zu sein – auch wenn er selbst es besser wußte –, hatte ihm neue Kraft gegeben, doch die Abwertung durch die Diener der Sonnengötter erinnerte ihn wieder daran, wie schwach und ausgelaugt er war. Mahrt, der listenreicher war als der erfahrenste Urz‐Jäger, hatte es geschickt verstanden, von Terles Opfern und den damit verbundenen Mühen abzulenken, ohne die volle Wahrheit zu sagen. Möglicherweise hätte er, Terle, als Führer bei einigen an Ansehen eingebüßt, aber es wäre auch ein Autoritätsverlust für die Oberpriester gewesen, eingestehen zu müssen, daß das Oberhaupt der Darmonen sich den Sonnengöttern und ihren Dienern zu widersetzen versuchte. So hatte der gerissene Mahrt aus der Not eine Tugend gemacht und ihn als Herrscher bestätigt, gleichzeitig aber auch verdeutlicht, daß er sich Dersf, Flit und Terat unterwarf und damit auch der Macht der Oberpriester, die als Mittler zu den Göttern galten und deren Willen kundtaten. Und nur sie waren befugt, sämtliche Opfer darzubringen.
Das lodernde Feuer, das die Körper der Urz‐Würmer verzehrt hatte, war in sich zusammengesunken. Die getragene Melodie von Saiteninstrumenten erklang, in die sich die rhythmischen Töne der Rohrtrommeln mischten. Sofort erstarb das Gemurmel der Zuschauer, andächtiges Schweigen breitete sich aus. Rifst und Tuell, der dritte Oberpriester, hatten reichgeschmückte, farbenprächtige Masken angelegt, die Flit und Terat symbolisierten. Ihre Körper waren von Umhängen verdeckt, auf denen phosphoreszierend drei Sonnen leuchteten. Aus der Dunkelheit trat Mahrt hervor. Er war ähnlich gewandet wie die beiden anderen, doch er stellte Dersf dar, denjenigen Sonnengott, der schon seit langem die Macht über Oros ausübte und der für die unerbitterliche Hitze verantwortlich war. Beschwörungsformeln murmelnd, umrundete Mahrt dreimal die Feuerstelle und stieß jedesmal den Duftstab in die Glut, wenn er am Ausgangspunkt angekommen war. Funken stoben davon, ein Ascheregen ging auf die Anwesenden hernieder – heilige Asche. Ehrfurchtsvoll verharrten die Versammelten, niemand rührte sich. Mit genau vorgegebenen Schrittfolgen näherten sich Flit und Terat alias Rifst und Tuell dem Oberpriester, der Dersf darstellte. Als sie fast bis auf eine Körperlänge an ihn herangekommen war, schwenkte er seinen Stab, um sie auf Distanz zu halten. Die beiden anderen setzten das Zeichen ihrer Macht ebenfalls als Fechtstock ein, doch es war kein wirklicher Kampf, sondern eine pantomimische Szene. Sie stellte dar, daß alle drei Götter unbesiegbar waren, daß es derzeit aber Dersf war, der das Sagen hatte, was Oros betraf. »Huldigt Dersf!« rief Mahrt. Die Darmonen stimmten einen kurzen Singsang an. »Huldigt Flit!« »Huldigt Terat!« Jedesmal wurde die vorgeschriebene Strophe heruntergeleiert. Die jüngeren Oberpriester zogen sich aus dem Lichtschein zurück
und waren nur noch als düstere Gestalten zu erkennen. Wieder begann Mahrt, in der Glut herumzustochern. Er schob Scheitbündel auseinander, legte Hölzchen nach und warf irgendwelche Pflanzenteile ins Feuer. Sofort züngelten meterhohe blau‐gelbe Flammen empor, die gleich darauf in sich zusammenfielen. Es war immer noch sehr warm, und das Opferfeuer verbreitete zusätzliche Hitze, doch der Diener der Sonnengötter schien sie nicht zu spüren. Wie ein Monument stand er da, dann wandte er sich langsam um und begann mit monotoner Stimme zu sprechen. »Die Opfer haben Dersf versöhnlich gestimmt und die anderen Sonnengötter auch. Nicht immer habt ihr euch so verhalten, daß die Götter Gefallen an euch fanden, deshalb mußtet ihr gestraft werden, doch ihr sollt wissen, daß ihr nicht verdammt seid. Als Zeichen dafür, daß die Sonnengötter euch gewogen sind, werden sie bald die Hitze von euch nehmen und allen, die ihnen dienen, sie verehren und fürchten, eine neue Phase des wahren Lebens schenken. Der Tag ist nicht mehr fern, da Oros von Eis bedeckt sein wird. Erweist den Göttern eure Dankbarkeit, damit ihr euch lange daran erfreuen könnt.« Der Oberpriester schwieg. Es herrschte Totenstille, nur das Prasseln und Knacken des Feuers war zu hören. Mahrt wirkte geistesabwesend. Mehrmals zog er die Stielaugen in die Schädelwölbungen zurück, bis er endlich zu erkennen schien, wo er sich befand. Ohne noch ein Wort an seine Artgenossen zu richten, drehte er sich schwerfällig um und verschwand im Dunkel der Nacht. Die Aussicht auf die kommende Kälteperiode stimulierte Terle regelrecht. Er konnte es kaum abwarten, bis die Priester außer Sichtweite waren. Voller Elan brüllte er: »Die Sonnengötter sind uns wieder gewogen! Laßt uns dieses Ereignis feiern!« Frenetischer Jubel war die Antwort. Freudig wurde der Stammesführer umringt, der sich plötzlich wie neugeboren fühlte –
keine Spur mehr von Müdigkeit und Erschöpfung. Wie die anderen war er davon überzeugt, daß die Hitzewelle in Kürze der Vergangenheit angehörte. Was er und die anderen nicht wußten, war, daß sich weder Dersf noch Flit oder Terat Mahrt offenbart hatten, denn Sterne waren in dieser Hinsicht stumm. Der Auftritt des ältesten Oberpriesters war, unterstützt von den beiden anderen, ein kultgeprägtes Schauspiel gewesen, gepaart mit Glauben, Aberglauben und einem Hauch von Wissen. Die intensive Beschäftigung mit den Sonnengöttern hatte schon frühere Priestergenerationen darauf gebracht, daß der Wechsel zwischen heiß und kalt eine gewisse Systematik beinhaltete. Die Weitergabe dieser Erkenntnis und ständige Beobachtungen hatten das bestätigt, so daß verhältnismäßig sichere Aussagen möglich waren anhand der Stellung des augenblicklich maßgebenden Gestirns. Natürlich war das ein streng gehütetes Geheimnis der Oberpriester, denen daran gelegen war, Macht und Einfluß nicht nur zu bewahren, sondern nach Möglichkeit noch auszubauen. * Es wurde ein rauschendes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden hinein dauerte. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten flöß der vergorene Saft der Ursda‐Früchte in Strömen. Mittag war schon vorüber, als Terle endlich seine Hütte verließ. Er war ein wenig verkatert, doch das tat seiner guten Laune keinen Abbruch. Selbst die Hitze setzte ihm weit weniger zu, seit er wußte, daß dieser Zustand nicht mehr von langer Dauer war. Der hohen Temperaturen wegen ruhte um diese Tageszeit die Arbeit auf den Feldern, dennoch hielten sich verhältnismäßig wenig Bewohner der Siedlung vor ihren Unterkünften im Schatten auf. Der
Stammesführer glaubte den Grund dafür zu kennen: Die Mehrzahl der Zecher schlief noch ihren Rausch aus. Er überlegte, ob er ein Bad im See nehmen sollte, entschied sich dann jedoch dafür, seinem Sohn einen Besuch abzustatten. Anders als sonst hielt sich Rifst nicht im Haus auf. Trotz der Wärme waren er und die beiden anderen Oberpriester dabei, mit Hilfe ihrer drei Schüler eine Grube auszuheben. Als sie Terle erblickten, ließen die drei Diener der Sonnengötter ihre Werkzeuge fallen und kletterten aus dem Loch heraus, während die angehenden Priester weitermachten. Es war ein ziemlich mühsames Unterfangen, sich in den harten Untergrund vorzuarbeiten. »Ihr trefft schon Vorbereitungen für den Übergang zur wahren Lebensphase?« erkundigte sich der Führer der Darmonen verwundert. »Nein, so weit ist es noch nicht«, antwortete Mahrt. »Es ist eine Übung für unsere Schüler. Sie sind noch jung und müssen lernen, wie eine Aufbewahrungshöhle angelegt wird.« Terle verstand. Alle Familien richteten solche Erdlöcher her, in denen sie nicht nur selbst Schutz suchten, wenn die Kältephase hereinbrach, sondern auch ihr Hab und Gut unterbrachten und Nahrungsvorräte. Obwohl besonders geliebt und bevorzugt, brachte die Vereisung auch einige Nachteile mit sich, denn nicht alles, was benötigt wurde, ließ sich in jener Zeit beschaffen oder herstellen. »Es erleichtert mich und alle anderen unseres Volkes unsagbar, daß die Götter unsere Opfer angenommen haben und uns nicht mehr zürnen.« Nacheinander richtete der Eingeborene seine Stielaugen auf die Oberpriester. »Im Namen aller möchte ich euch für eure Fürsprache danken, weil ihr die Sonnengötter gnädig gestimmt habt. Zu ihren Ehren …« Unvermittelt brach er ab und hob lauschend den Kopf. Ohne daß es ihm bewußt wurde, zog er die Augen aufgeregt kurz hintereinander in die Schädelwölbungen zurück. Auch die Oberpriester und ihre Eleven waren aufmerksam
geworden. Und dann sahen alle den dunklen Punkt, der schnell größer wurde und direkt aus Dersf zu kommen schien. Ein derartiges Objekt war noch nie auf Oros gesichtet worden. Geradezu unglaublich war, daß es sich wie eine Wolke am Himmel zu halten vermochte und nicht einfach herabfiel. Im Gegenteil, es bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf die Siedlung zu, wurde langsamer und senkte sich allmählich herab. »Das muß ein Bote der Sonnengötter sein«, stammelte Terle. 3. DIE VULNURER Das unsinnige Bekehrertum war aufgegeben worden, man konzentrierte sich völlig auf das Auffinden der Lichtquelle. Als sich die Insektoiden von den Solanern trennten, standen sie vor der gleichen Frage wie Breiskoll und Solania, welche Galaxis den meisten Erfolg versprach. Es war eine Entscheidung, die Lichtquelle‐Jacta treffen mußte. Als Oberpriesterin und Mono in Personalunion bestimmte sie die Geschicke ihres Volkes, das auf den drei Raumschiffen GESTERN, HEUTE und MORGEN lebte. Früher hatte es offiziell eine Teilung der Gewalten gegeben, doch in Wahrheit war der Mono nur eine Marionette der Priesterinnen gewesen, ein Aushängeschild ohne Macht. Davon ausgehend, daß die Lichtquelle etwas Besonderes war, von Erhabenheit und Größe geprägt, entschied sich Lichtquelle‐Jacta für jene Sterneninsel, deren Umfang und Masse einige Prozent mehr betrug als es bei den Nachbargalaxien der Fall war. Die Annahme, daß die Lichtquelle nur in einer besonders repräsentativen Umgebung existieren konnte, erwies sich aber als ein Trugschluß. Nach jahrelangem Irrflug durch unbekannte Sternenballungen erkannte Jacta, daß den Vulnurern in diesem Sektor des Universums
kein Erfolg beschieden sein würde, und befahl, zum Ausgangspunkt der Suche zurückzukehren. Diesmal wurden die beiden restlichen Galaxien per Fernortung unter die Lupe genommen. Es wurde gründlich gemessen und gerechnet, und dann entdeckte man das System der drei weißen Riesen. * Lichtquelle‐Jacta hielt sich in ihren Privatgemächern auf. Eine solche Zimmerflucht war das Privileg der Oberpriesterin. Ein Saal war Empfängen und Begegnungen mit den anderen Priesterinnen, Vertrauten und Untergebenen vorbehalten, doch anders als früher war die Beleuchtung nicht schummrig und mystisch, sondern hell und strahlend. Lichtkaskaden verhüllten die Durchlässe, unzählige Spiegel und Kristalle an den Wänden warfen das Licht zurück, brachen es und funkelten miteinander um die Wette. Inmitten dieser Orgie aus Licht und Farben befand sich ein dunkler Würfel, der in dieser Umgebung völlig deplaciert wirkte. Drohend und finster sah er aus, eine Art Schwarzes Loch, das jedes Quentchen Helligkeit in sich zu verschlingen schien, doch mit diesem Block hatte es eine besondere Bewandtnis. Wann immer die Oberpriesterin den Raum betrat, reagierte er auf ihre Anwesenheit. Über ein spezielles Kommunikations‐ und Beobachtungssystem hatte Jacta mitbekommen, daß die drei strahlenden Sonnen ausgemacht worden waren. Aufgeregt wie selten zuvor in ihrem Leben starrte sie auf den Bildschirm, der die ungewöhnliche Konstellation wiedergab. Ihr schwindelte fast. Dieses unübersehbare Zeichen konnte nur ein Hinweis auf die langgesuchte Lichtquelle sein! »Rufe die Priesterinnen zu mir!«
Einer der schwarzen Automaten, die sie als Leibgarde überallhin begleiteten, schwebte davon. Seinen Erbauern nachgebildet, glich er bis zum Brustteil einem Vulnurer, allerdings fehlte der Hinterleib, statt dessen besaßen die Roboter eine Art Sockel, einen Kegelstumpf, auf dem sich das Oberteil befand. Lichtquelle‐Jacta schloß den wallenden Umhang, der ihren Körper völlig verhüllte, und eilte in den Repräsentationssaal. Ohne daß es eines Wortes bedurft hätte, setzten sich mehr als ein Dutzend Automaten in Bewegung. Einige glitten auf ihren Prallfeldern voraus, andere eskortierten und auf jedem Gang, den sie passierten, wachten weitere Roboter argwöhnisch darüber, daß die Oberpriesterin unbehelligt blieb. Als sie den strahlend hell erleuchteten Raum betrat, ging mit dem Würfel eine seltsame Veränderung vor sich. Auf einmal absorbierte er das Licht nicht mehr, sondern begann zu strahlen, zuerst wie ein Aquamarin in tiefstem Blau, dann verlor sich die Farbe nach und nach. Wie ein Brillant klassischen Schliffs verwandelte er sich in eine Art Edelstein, der das Licht brach und gleich grellen Blitzen in allen Farben des Spektrums reflektierte, zugleich begann er, von innen heraus zu leuchten wie ein kaltes weißes Feuer. Niemand wußte, wann und wie der Block an Bord gelangt war. Bekannt war nur, daß ihn frühere Priesterinnengenerationen schon als ein Symbol der Lichtquelle verehrt hatten – er war Heiligtum, Sinnbild und Reliquie zugleich. Die Vulnurerin verneigte sich kurz davor und erstieg mit Hilfe der Automaten ein Podest, auf dem sich ein thronähnliches, reichgeschmücktes Sitzmöbel befand. Ein wenig umständlich nahm sie darauf Platz. »Die Priesterinnen möchten ihre Aufwartung machen«, sagte eine Maschine geschraubt. »Laß sie eintreten!« Sechs in lange Gewänder gekleidete Insektoiden bewegten sich gemessenen Schrittes voran. Gleich Jacta erwiesen sie dem Würfel
die Ehre und verbeugten sich, als sie vor der Oberpriesterin Aufstellung nahmen. Im Grunde genommen war ihr dieses hoheitsvolle Getue und die Unterwürfigkeit ihrer Artgenossinnen zuwider, aber ihr Versuch, die verkrusteten Hierarchien aufzubrechen und neue Umgangsformen einzuführen, waren auf erbitterten Widerstand gestoßen. Sie hatte einsehen müssen, daß man gewachsene Strukturen nicht von heute auf morgen über Bord werfen konnte. Damals, als sie per Würfelentscheid zur Oberpriesterin gemacht worden war, hatte sie sich durch unkonventionelle Entscheidungen die Feindschaft der anderen Priesterinnen zugezogen, die in ihrem blinden Haß sogar vor einem Mordanschlag nicht zurückgeschreckt waren. Immerhin hatte sie durchsetzen können, daß die Bekehrungsversuche aufgegeben wurden. Noch immer existierten die vier Kasten, aber die Fronten waren nicht mehr so starr wie früher. Von den alten Priesterinnen lebte keine mehr, doch ihre Nachfolgerinnen waren – Fortschritt hin, Fortschritt her – konservativ eingestellt, was ihre Einstellung im Umgang mit »gewöhnlichen« Vulnurern und Lichtquelle‐Jacta anging. Sie, die nur Erste unter Gleichen sein wollte, wurde praktisch genötigt, durch Prunk und Riten Schranken zu errichten, die sie am liebsten auf der Stelle niedergerissen hätte. So einmalig, wie man es darzustellen versuchte, konnte kein Lebewesen sein, doch mittlerweile hatte sie sich – selbst nicht mehr die Jüngste – damit abgefunden, daß alle zu ihr aufblickten und ihr Wort Befehl war. Die Würde des Amtes übertrug sich automatisch auch auf die Person, die es innehatte und drückte ihr den Stempel auf. »Du hast uns etwas mitzuteilen, Lichtquelle‐Jacta?« »So ist es. Unsere Techniker und Astronomen haben eine Entdeckung gemacht, die ich euch nicht vorenthalten möchte.« Die Griffe des Sessels enthielten Schaltelemente, die die Oberpriesterin nun benutzte. Sie stellte eine Verbindung zur
Zentrale her. Sofort meldete sich der diensthabende Pilot. Er gehörte zur ersten Kaste, und wie bei allen Ständen innerhalb der höchsten drei Schichten war sein Name in den Brustpanzer eingebrannt. »Oktos« entzifferte Jacta auf dem winzigen Monitor. »Oktos, überspiele die Beobachtung, die vor kurzem in der kleinen Galaxis gemacht wurde.« Wie den Fühlerbewegungen zu entnehmen war, gelang es dem Raumfahrer nur schlecht, seine Enttäuschung zu verbergen. »Natürlich, Lichtquelle‐Jacta, aber woher weißt du davon? Ich habe vergeblich versucht, dich zu erreichen, um dir diese Information zukommen zu lassen.« »Es sollte dir genügen, daß es mir bekannt ist. Kann ich jetzt die Aufzeichnung bekommen?« »Sofort, Lichtquelle‐Jacta. Bitte verzeih meine Ungehörigkeit.« Das kleine Viereck wurde dunkel, gleich darauf wurde ein Spiegel matt und stumpf. Er entpuppte sich als ein getarnter Bildschirm, und er zeigte drei helleuchtende, zusammengehörige Riesensonnen. Die Priesterinnen stießen Laute der Überraschung und des Entzückens aus. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit zirpten sie schrill durcheinander und versuchten, sich gegenseitig zu übertönen. Die Oberpriesterin hob beschwichtigend ihre vier Arme mit den zierlichen Greifzangen, doch erst als einer ihrer Leibwächter, der zugleich eine Art Zeremonienmeister war, lautstark um Ruhe bat, wurde es still. Das Spiel der Fühler verriet, wie aufgewühlt die Insektoiden innerlich waren. »Ich habe euch herholen lassen, um eure Meinung zu hören, aber ich glaube, das erübrigt sich.« Jacta wirkte erheitert und zuversichtlich zugleich. »Eindeutiger hätte auch keine Abstimmung ausfallen können. Ich werde deshalb veranlassen, daß wir Kurs auf dieses System nehmen.« »Ein deutlicheres Zeichen hätte uns die Wiedergeborene Lichtquelle nicht geben können«, murmelte eine Priesterin versonnen, und
damit sprach sie aus, was alle dachten – Jacta eingeschlossen. * Die Entdeckung der langgesuchten Lichtquelle hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und selbst die jüngsten Bewohner der drei Generationenraumschiffe fieberten dem Zeitpunkt entgegen, da sich die Legende erfüllen sollte. Noch im Anflug auf das Ziel wurde der Planet entdeckt, der euphorisch »Jacjacta« genannt wurde. Ein wahrer Freudentaumel hatte die Vulnurer erfaßt. Überall auf der im Verbund fliegenden GESTERN, HEUTE und MORGEN fanden sich Männlein und Weiblein zusammen, um zu tanzen und zu feiern. Jubelnd zogen die Massen durch die Gänge, es kam zu Verbrüderungen und Standesunterschiede waren auf einmal kein Thema mehr. Jacta und die Lichtquelle wurden in einem Atemzug genannt. Die eine ließ man hochleben, die andere wurde spontan besungen als das Maß aller Dinge. Die Bevölkerung berauschte sich regelrecht an dem, was sie erwartete, und niemand zweifelte daran, daß es auch eintraf. Selbst die sonst um Ansehen und Würde besorgten Priesterinnen waren schier aus dem Häuschen. Gewöhnlich öffentlichkeitsscheu und verschlossen, gaben sie den Redakteuren des Bord‐TV, die nur noch ein Thema kannten, ungeniert Interviews, ja, sie drängten sich regelrecht auf. Als bekannt wurde, daß Jacjacta bewohnt war, tat das der Hochstimmung keinen Abbruch, zumal es sich um Intelligenzen handelte, die ihnen nicht gefährlich werden konnten. Von ihren Missionierungsversuchen in der Vergangenheit mit den unterschiedlichsten Zivilisationen vertraut und geborene Sprachgenies, die keinen Translator benötigten und auch nie welche entwickelt hatten, fürchteten die Vulnurer nicht den Kontakt mit Fremdrassen.
Vorabinformationen durch aufgefangene Funksprüche oder Radiosendungen gab es nicht. So brannten alle darauf, endlich zu landen, um die Eingeborenen befragen zu können, was sie von der Lichtquelle wußten, aber Jacta entschied, daß so vorgegangen werden sollte wie früher bei den Bekehrungseinsätzen. Sie wollte vermeiden, daß die nach ihrem Entwicklungsstand als bieder eingeschätzten Planetarier durch ein Übermaß an Technik erschreckt wurden. Während die Heimatschiffe weiterhin auf einer Parkbahn Jacjacta umkreisten, wurde ein Kleinerkunder startklar gemacht. Angesichts der Besonderheit des Auftrags wählte die Oberpriesterin eine Person aus, die ihr besonderes Vertrauen besaß: Oktos. Er sollte den ersten Kontakt zu der unbekannten Lebensform aufnehmen. * Die Steuerung des sechzehn mal elf Meter großen Beiboots durch die Schichten der Atmosphäre bereitete dem erfahrenen Piloten keine Probleme. Als das diskusförmige Schiff mit der großen Polkuppel einen Bodenabstand von drei Kilometern erreicht hatte, schaltete er die Halbautomatik ab und flog nach Sicht. Er beobachtete die unter ihm hinweghuschende Landschaft. Die Geländeformationen und die Vegetation sagten ihm wie allen Vulnurern nicht viel. Sie kannten Planeten zur Genüge, hatten aber keine innere Beziehung dazu. Als Weltraumvolk waren ihnen nur Raumschiffe wirklich vertraut und nicht das undurchschaubare Durcheinander auf einer Welt. Die Siedlung mit den wie Laubenbögen aussehenden Bauten kam in Sicht. Oktos drosselte die Geschwindigkeit und sah sich nach einem geeigneten Landeplatz um. In der Nähe des Sees, nicht weit vom Dorf entfernt, bot sich eine freie Fläche dafür an. Er desaktivierte den Antrieb und setzte den Antigrav ein. Langsam
sank der Kleinerkunder der Oberfläche entgegen. Die im Wasser herumplatschenden Eingeborenen – vermutlich Kinder und Jugendliche – suchten ihr Heil in der Flucht. Die eingeschalteten Außenlautsprecher übertrugen ihre Schreie und Rufe. Ihre Sprache war dumpf, fast grollend und blubbernd mit langgezogenen Lauten. Es würde nicht ganz einfach sein, dieses Idiom zu beherrschen, aber Oktos Gehirn begann bereits, sich erste Grundlagen zu eigen zu machen und an der Entschlüsselung zu arbeiten. Sanft setzte der Flugkörper auf. Der Pilot schaltete alle Betriebssysteme auf Bereitschaft und hakte den Kodegeber in die Gürtelschlaufe. Damit war er jederzeit in der Lage, alle Funktionen mittels Fernsteuerung abzurufen. Auf eine Waffe verzichtete er, nicht aber auf ein winziges Mikrophon, das er sich umhängte. Es war mit einem kleinen Sender verbunden, der seine Signale an die Funkanlage des Schiffes weitergab, die als Verstärker und Relais zugleich die Impulse an die Raumer im Orbit abstrahlte. Da die Zusammensetzung der Lufthülle seinem Organismus nahezu gewohnte Bedingungen bot, war auch keine Schutzausrüstung erforderlich. Noch einmal vergewisserte er sich, daß alles in Ordnung war, dann stand er auf und verließ die Steuerkanzel. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn, als er draußen stand. Er befand sich nicht zum ersten Mal auf einem Planeten, aber jeder Besuch war immer wieder neu und jedesmal anders. Unbekannte Gerüche, fremde Formen und ungewohnte Farben – und dann diese schier endlose Weite, die dem Auge nicht die gewohnte Begrenzung bot und alles andere als geometrisch war. Nichts war wirklich funktionell, es fehlte die Ordnung, vor allem jedoch eine übergeordnete Steuerung, die alles unter Kontrolle hatte – eine Positronik. Die Facettenaugen des Vulnurers erfaßten vier Gestalten, die sich langsam auf ihn zubewegten. Sie führten keinerlei Gegenstände mit
sich. Nun zögerte Oktos nicht mehr länger und ging ihnen entgegen. Zum Zeichen seiner friedlichen Absichten hatte er die Arme gehoben und die leeren Zangen geöffnet – eine Geste, die fast überall verstanden wurde. Einer der Planetarier war unbekleidet, die drei anderen trugen Umhänge, die drei strahlende Sonnen zeigten und bunte Masken. Erregung überkam den Piloten. Sie kannten also die Lichtquelle nicht nur, sondern verehrten sie auch, denn anders waren die Darstellungen auf den Gewändern nicht zu erklären. »Wuuhrraattophr fauhssuun meerrnaah brroos«, sagte einer der Fremden, als er bis auf drei Körperlängen herangekommen war und sank wie seine Begleiter demütig auf den Boden. »Ich danke euch für die freundliche Aufnahme.« Wieder antwortete der Eingeborene in seiner dumpfen Sprache, diesmal war seine Rede jedoch länger, Oktos erwiderte etwas darauf, und so ging es eine Zeitlang hin und her, dann stand einer wirklichen Verständigung nichts mehr im Wege. »Ich grüße euch, meine Freunde.« Die Worte klangen noch ein wenig holprig, doch die Aussprache wurde mit jeder Silbe besser. »Bitte steht auf.« Die vier Wesen richteten sich auf ihren Stummelfüßchen auf. »Nie wurde einem unseres Volkes die Gnade zuteil, einem Boten der Sonnengötter ins Antlitz schauen zu können. Verfüge über deine unwürdigen Diener.« »Mein Name ist Oktos, und ich bin kein Abgesandter der Sonnengötter, sondern im Auftrag meines Volkes hier.« Die Fischabkömmlinge erholten sich recht schnell von der Überraschung. Daß sie nicht auf den Kopf gefallen waren, bewies ihre nächste Frage. »Demnach muß es mehr wie dich geben. Können alle fliegen wie du, oder besitzen nur die Oberpriester solche Hüllen, die sie durch die Luft tragen können?« »Du hast recht, es gibt noch viel mehr von meiner Art. Die Hüllen,
wie du sie nennst, sind Raumschiffe, und wir verfügen über eine ganze Menge davon. Drei sind so gewaltig, daß eure ganze Siedlung hineinpassen würde – in eins von ihnen.« Die Gesprächspartner des Piloten zeigten sich beeindruckt. Da Oktos jedoch an einer Verständigung und nicht an einer Machtdemonstration gelegen war, setzte er schnell hinzu: »Lassen wir das, es ist nicht wichtig. Wir sind hier, weil wir der Spur der Lichtquelle gefolgt sind, und hier, bei euch, haben wir sie endlich gefunden.« Mit seinen vier Armen deutete er auf das riesige Gestirn am Himmel. »Seit unzähligen Generationen haben wir nach ihr gesucht, nun erfüllt sich die Sehnsucht meines Volkes, eins mit der Lichtquelle zu werden.« Der stets nüchterne und logisch orientierte Vulnurer müßte eine Pause machen, weil ihn ein nie gekanntes Glücksgefühl zu übermannen drohte. Allein die Vorstellung daran, zu den Auserwählten zu gehören, denen das gelungen war, was zahllose Vorfahren gewollt, jedoch nie geschafft hatten, war dazu angetan, euphorischen Überschwang hervorzurufen. »Die Sonnengötter, die ihr verehrt – das ist die Lichtquelle.« Er ergriff die Greiforgane von zwei Maskenträgern und schüttelte sie überschwenglich. »Ihr und wir – wir haben das gleiche Ziel, das unsere Völker vereint. Die Sonnengötter und die Lichtquelle sind identisch, versteht ihr das?« Der missionsartige Eifer des Bekehrers ging mit Oktos durch. »Stört euch nicht daran, daß wir verschiedene Namen benutzen, denn uns eint das gleiche Begehren! Unser unterschiedliches Aussehen und die andere Entwicklungsstufe sind völlig gleichgültig.« Einer der Vermummten nahm seine Maske ab, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel. Daß sich nunmehr acht Stielaugen auf ihn richteten und seine Gegenüber völlig anders gebaut waren als er selbst, irritierte den Vulnurer nicht. Wie seine Artgenossen hatte er zu begreifen gelernt, daß das Universum mit seinen Lebensformen so vielfältig war wie die Struktur der Sterne und ihrer
Trabanten. Was weit mehr galt, war die geistige Verwandschaft. »Sage deinem Volk, daß es uns willkommen ist.« Eine gewisse Feierlichkeit in der Stimme des Eingeborenen war unüberhörbar. »Wir werden gemeinsam dem Lichtquellen‐Gott huldigen.« Oktos brachte keinen Ton hervor. Er war überwältigt. 4. DARMONEN UND VULNURER Es war wirklich erstaunlich, wie schnell die Darmonen mit der Realität fertig wurden. Sie, die noch nie Besuch aus dem Weltall bekommen hatten, akzeptierten die gewaltigen Bekehrerschiffe und deren Bevölkerung mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es völlig normal, plötzlich mit Raumfahrt und einer hochstehenden Technik konfrontiert zu werden. Die ersten Tage waren angefüllt mit den unterschiedlichsten Begegnungen. Daß den Gästen dabei der aktivere Part zufiel, war leicht zu verstehen. Sie konnten mit wahren Wunderdingen aufwarten, während die Planetarier kaum mehr als ihre Umwelt vorzuzeigen hatten. Alle Schleusen der GESTERN, der HEUTE und der MORGEN waren geöffnet, ein ständiger Besucherstrom wälzte sich durch die Raumer. Pausenlos fanden Führungen statt, weil sich die Eingeborenen nicht sattsehen konnten an diesen Welten ohne Himmel mit ihrem technischen Reservoir. Was gab es da nicht alles zu bestaunen: Die Diener der Vulnurer, die keine Beine besaßen und sich dennoch schneller bewegen konnten als Lebewesen, Schächte ohne Wind und Sturm, in denen trotzdem selbst schwere Körper emporgetragen wurden, Wasser, das einfach aus der Wand kam, nachtdunkle Flächen, die auf einmal hell wurden und alles in klein zeigten, ohne daß die Umgebungen herausgeschnitten wurde oder weg war.
Die Darmonen kamen aus dem Staunen nicht heraus, und die Insektoiden genossen es, von ihren Gastgebern bewundert zu werden. Sie wurden nicht müde, alles zu zeigen und zu erklären, ganz Mutige wurden sogar zu kurzen Rundflügen mit den Beibooten eingeladen. Das Bewußtsein, auf Gleichgesinnte getroffen zu sein, auf Verehrer der Lichtquelle, ließ keinerlei Argwohn aufkommen. Selbst wenn man den freundlichen Planetbewohnern böse Absichten unterstellt hätte – was vermochten sie schon auszurichten? Sie waren nicht nur hoffnungslos in der Minderzahl, sondern auch auf einer Entwicklungsstufe, die es lächerlich erscheinen ließ, sie als ernsthafte Gegner zu betrachten. In dieser Hinsicht waren die Darmonen völlig anderer Ansicht. * Die Rede vom »Lichtquellen‐Gott« hatte Mahrts Begleiter ziemlich stark verunsichert. Daß ausgerechnet der älteste Oberpriester die Existenz der Sonnengötter geleugnet hatte, empfanden seine Begleiter als Blasphemie, als Verrat an seinem Volk und als eine solche Sünde, daß sie nur mit dem Leben gesühnt werden konnte. Sie hatten geschwiegen und auch nicht widersprochen, als Mahrt sich unter dem Vorwand zurückzog, dem Lichtquellen‐Gott für diese Begegnung danken und opfern zu müssen, doch als sie außer Oktos Sichtweite waren, fielen Rifst, Tuell und Terle gemeinsam über den Älteren her und überwältigten ihn. »Seid ihr von Sinnen? Wißt ihr nicht, wer ich bin? Laßt mich los!« »Nie zuvor hat jemand die Götter so beleidigt«, schleuderte Rifst ihm voller Verachtung entgegen. »Du hast die Sonnengötter nicht nur zutiefst gekränkt, sondern sogar verleugnet. Diese Schuld läßt sich nur mit deinem Blut abwaschen.« »Dersf, Flit und Terat werden uns trotzdem zürnen«, grollte der
Stammesführer. »Laßt ihn zur Mittagszeit Urz‐Würmer jagen – zehn für jeden der Götter. Das wird unser Volk vor ihrem Zorn schützen, und für ihn ist es eine Strafe, daß ihm danach der Tod wie eine Erlösung vorkommen wird. Ich weiß, wovon ich spreche.« »Über sein Schicksal entscheidet der Hohe Rat«, wies Rifst seinen Vater zurecht. »Und der bist nunmehr nur noch du und Tuell«, ereiferte sich Terle. »Was spricht dagegen, auf der Stelle ein Urteil zu fällen?« »Ihr seid alle verbohrt. Habt ihr denn nichts verstanden?« rief Mahrt erbost. »Schweig! Deine Worte haben bereits genug Unheil angerichtet!« herrschte Tuell ihn an. »Ihr irrt gewaltig, wenn ihr glaubt, ich hätte den Sonnengöttern abgeschworen – das Gegenteil ist der Fall! Wir werden ihnen Opfer bringen wie nie zuvor, und zwar in den Eistempeln. Es wird die Götter vielleicht so gnädig stimmen, daß die wahre Lichtquelle ewig dauert und wir nie mehr mit Hitze gestraft werden.« »Aus dir spricht nichts weiter als Angst, gemeine, erbärmliche Angst. Wie klein und feige du doch bist.« Rifst schien ihn mit seinen Stielaugen durchbohren zu wollen. »Du bist ein trauriger Anblick, dein Verhalten ist eines Oberpriesters unwürdig. Wenn wir über dich gerichtet haben, wird dein Name aus den Annalen der Priesterschaft gelöscht werden.« »Was kümmert euch meine Würde, ihr Dummköpfe? Seht ihr denn nicht, was für ein großes Glück es ist, daß diese Andersartigen zu uns gekommen sind? Diese Fremden sind Tölpel, davon überzeugt, daß unsere Sonnengötter ihre Lichtquelle ist – sie sind regelrecht verblendet. Habt ihr das nicht bemerkt? Was spricht dagegen, sie in diesem Irrglauben zu bestärken?« »Alles. Wir müßten unsere Götter verleugnen.« »Unsinn, wir müssen sie in Anwesenheit dieser Verblendeten nur anders nennen. Das werden uns die Sonnengötter verzeihen und es uns sogar lohnen, wenn wir versuchen, das Vertrauen der Fremden
zu gewinnen. Der Übergang zur wahren Lebensphase steht bald bevor. Gelingt es uns, Oktos Volk bis zur Vereisung an unsere Welt zu binden, ist es uns ausgeliefert. Er und seinesgleichen werden es sein, die wir zu Ehren von Dersf, Flit und Terat opfern. Erkennt ihr nun meine Absicht?« Mahrts Begleitern schwindelte förmlich, kein Gedanke mehr daran, ihn zu verurteilen. Sie hatten ein schlechtes Gewissen und gaben ihn auf der Stelle frei. Daß sie ihm so zugesetzt hatten, beschämte sie zutiefst, gleichzeitig ärgerte sie, daß sie seine List nicht erkannt und durchschaut hatten. »Wir haben uns getäuscht und bitten dich um Verzeihung, aber zu kühn ist dein Plan, um ihn auf Anhieb zu begreifen.« Rifst machte sich zum Sprecher der beiden anderen und signalisierte durch seine Körperhaltung deutlich, wie sehr ihm an einer Entschuldigung gelegen war. »Es tut uns allen leid, daß wir vorschnell geurteilt und dich wie einen Gegner behandelt haben. Verlangst du Genugtuung?« »Du solltest wissen, daß ein Diener der Götter nicht rachsüchtig ist, wenn ein Fehler eingestanden wird«, tadelte Mahrt. »Gewiß, ich könnte euch dem Volk überantworten und eure Tat und den Ungehorsam anprangern, aber damit wäre keinem gedient. Wollt ihr mir helfen, die Fremden zu täuschen?« »Es wird nicht einfach sein«, gab Terle zu bedenken. »Sie beherrschen mit ihrer Magie sogar die Luft.« »Laßt mich nur machen. Ihr werdet sehen, daß wir Erfolg haben.« Völlig überzeugt waren die drei anderen noch nicht, aber die Aussicht darauf, daß die wahre Lebensphase nie enden würde, ließ sie alle Bedenken vergessen. * Den Beginn der allgemeinen Verbrüderung läutete ein Treffen auf
höchster Ebene ein. Zu Ehren der Darmonen und des Lichtquellen‐ Gotts gab Lichtquelle‐Jacta einen Empfang. Ihr zur Seite standen die sechs Priesterinnen, die Delegation der Planetarier setzte sich aus den drei Oberpriestern und Terle als dem Stammesführer zusammen. Die Begegnung fand im Repräsentationssaal der HEUTE statt. Der Pomp beeindruckte die Eingeborenen sichtlich, doch ihrem Selbstbewußtsein tat das keinen Abbruch. Sich devot gebend, näherten sie sich dem Podest, vorbei an den schwarzen Automaten. »Seid willkommen, meine Freunde! Ihr wißt nicht, was es für uns bedeutet, nach einer endlosen Reise endlich die Lichtquelle gefunden zu haben, der die ganze Sehnsucht meines Volkes gilt. Daß wir in euch Gleichgesinnte gefunden haben, die wie wir dem Lichtquellen‐Gott huldigen, macht unser Volk vollkommen. Geeint in der Verehrung der Lichtquelle werden unsere Völker eine geistige Verbindung miteinander eingehen, die für alle Zeiten untrennbar ist.« »Es ist mir und meinen Begleitern eine Genugtuung, diese Worte von dir zu hören, ruhmreiche Lichtquelle‐Jacta«, sagte Mahrt doppelsinnig. »Auch unser ganzes Bestreben wird dem Ziel gelten, unsere Völker aneinanderzubinden, um den Lichtquellen‐Gott zu erfreuen, deshalb bieten wir euch an, hier zu wohnen und dieses Land mit uns zu teilen. Wir werden euch einweihen in die Geheimnisse der Natur und des Lichtquellen‐Gotts.« »Ich nehme euer Angebot mit Freuden an«, rief die Oberpriesterin überwältigt aus. »Es ist uns eine Ehre.« Jacta hatte sich wieder gefaßt. »Du sprachst von den Geheimnissen des Lichtquellen‐Gotts. Welcher Art sind sie?« »Wir Darmonen leben schon lange unter dem Schutz des Lichtquellen‐Gotts, aber wir haben noch nicht gelernt, jedes seiner Zeichen zu deuten. Eure Kenntnisse und euer Wissen wäre sicherlich hilfreich, sie besser zu verstehen. Noch vor eurer Ankunft
ist ein besonderes Ereignis angekündigt worden, das nicht mehr fern ist.« »Weißt du mehr darüber?« »Es handelt sich um eine Offenbarung der Lichtquelle.« Ein Raunen ging durch die Reihen der Priesterinnen. Sie merkten nicht, wie geschickt Mahrt ihre Neugier anstachelte und sich zugleich ihre unbezwingbare Sehnsucht zunutze machte. Blind vor Hingabe an die Lichtquelle hatten sie den Sinn für die Realität verloren, kein kritischer Gedanke meldete sich. »Du kannst auf uns zählen, ehrwürdiger Mahrt.« »Ich danke dir, erhabene Lichtquelle‐Jacta. Du hättest mir und meinem Volk keine größere Freude machen können, nur …« »Nur? Wenn du einen Wunsch hast, so sprich ihn aus! Ich bin sicher, daß ich ihn dir erfüllen kann.« Der Oberpriester blickte begehrlich auf den strahlenden Würfel. »Diese eingefangenen Flammen sind das Symbol der Lichtquelle, nicht wahr?« »Ja, doch warum fragst du?« »Sieh, wir verfügen nicht über eure Mittel. Im Vergleich zu diesem heiligen Raum ist unser Tempel armselig und völlig ohne Prunk. Könntest du das kalte Feuer nicht ins Freie schaffen lassen als Opferstätte und zur Erbauung des Lichtquellen‐Gotts? Ihr habt ihn ja gefunden, und ich bin sicher, daß sein Auge wohlgefällig darauf ruhen wird – nie gab es hier ein solches Zeichen seiner Verehrung.« »Der Würfel begleitet mein Volk seit undenklichen Zeichen.« Jacta zögerte. »Er gehört zu uns als ein Stück Heimat.« »Aber habt ihr eure Heimat nicht jetzt gefunden wie die Lichtquelle auch?« hakte der Darmone listig nach. »Du hast recht. Ich werde Anweisung geben, daß er draußen aufgestellt wird.« »Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, um den Lichtquellen‐Gott gnädig zu stimmen, damit er sich bald offenbart.« »Was müssen wir tun?«
»Ganz in der Nähe befindet sich das Lieblingstal des Lichtquellen‐ Gotts. Wenn ihr eure fliegenden Dörfer dort aufbaut, seid ihr ihm näher als an jedem anderen Platz, den wir kennen.« »Dieses Angebot ehrt uns ganz außerordentlich, weiser Mahrt. Euer Einverständnis vorausgesetzt, lasse ich die Raumschiffe noch vor Anbruch der Dunkelheit dort landen.« Jacta erhob sich. »Ich möchte mich erkenntlich zeigen. Können wir euch einen Gefallen erweisen?« »Wir haben nur den einen Wunsch, dem Lichtquellen‐Gott zu gefallen und ihn zu ehren«, antwortete Mahrt würdevoll. »Daran messen wir unsere Taten. Wir wollen ihm danken und opfern, bevor er sein Antlitz verhüllt. Du und alle deines Volkes sind eingeladen, ihm gemeinsam mit uns zu huldigen.« »Wir werden kommen«, versprach die Insektoide. »Dann gestatte uns, erleuchtete Lichtquelle‐Jacta, daß wir uns nun zurückziehen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.« * Die Vulnurerin hatte Wort gehalten. Die GESTERN, die HEUTE und die MORGEN waren in das Tal eingeflogen und gelandet, der Würfel war ins Freie geschafft worden, ohne daß er dabei sein Geheimnis preisgegeben hätte. Äußerlich war er einfach ein Körper aus unbekanntem Material, der keine Verbindung zum Schiff hatte und auch nicht an das Bordversorgungsnetz angeschlossen war. Und dann, als Jacta erschien, leuchtete er wie immer. Vor ihm hatten die darmonischen Oberpriester ein Feuer entfacht. Seine Flammen verzehrten die zahlreich aufgebotenen Opfer wie Urz‐Würmer, Früchte, Getreide und Schnitz‐ und Flechtwerk. Mehr als sechzigtausend Vulnurer und Darmonen hatten sich unter freiem Himmel versammelt, um dem Ritual beizuwohnen. Wie üblich bei dieser Zeremonie trugen Mahrt, Rifst und Tuell ihre Masken und
Umhänge, aber auch ihre Duftstäbe. Auf Mahrts Geheiß hatte sich Terle zu Lichtquelle‐Jacta gesellt und erklärte ihr die Bedeutung der kultischen Handlungen, aber so, wie der Oberpriester es ihm aufgetragen hatte. Alle sahen das übliche Spektakel, doch in der »Vulnurer‐Version«, die der Stammesführer leise vortrug, bekam alles einen anderen Sinn. Da symbolisierten die Masken auf einmal nicht mehr Dersf, Flit und Terat, sondern die drei Gesichter des Sonnengotts, und das Scheingefecht zeigte nicht die Unbesiegbarkeit der drei Sonnengötter, sondern stand dafür, daß sich die Angesichter des Lichtquellen‐Gotts niemals einander nähern konnten, aber alles sahen. Es war eine abenteuerliche Deutung, die Mahrt sich da zusammengereimt hatte, aber ein Verdacht, getäuscht zu werden, kam nicht auf. Fasziniert beobachteten die Insektoiden das farbenprächtige Schauspiel derb‐ urtümlicher Götterverehrung, und sie fühlten sich eins mit den Darmonen Mahrt zog voll vom Leder und war sich auch nicht für eine »Vision« zu schade, vermied es jedoch geschickt, den oder die namentlich zu nennen, der als Einzel‐ oder Kollektivwesen aus ihm sprach. »Diese Versammlung erzeugt göttliches Wohlgefallen. Der Tag der Offenbarung ist nicht mehr fern, da die wahre Lebensphase beginnt.« Das war nun etwas, mit dem beiden Arten zufrieden sein konnten. Für die Darmonen bedeutete es den Beginn der geliebten Eiszeit, und die Vulnurer sahen darin den Anfang einer neuen Art der Existenz, der Lichtquelle näher. So fielen die Bekehrer begeistert in die Jubelrufe der Eingeborenen ein, als die Oberpriester im Dunkel der Nacht verschwunden waren. Dann begann das obligatorische Fest. Von den teils recht exotischen Gerichten der Planetarier nahmen die Vulnurer nur anstandshalber einige Kleinigkeiten zu sich, doch den vergorenen Saft lehnten sie nicht ab. Damit hatte Mahrt gerechnet. Der ungewohnte Alkohol stieg den Vulnurern schon in kleinen
Mengen in den Kopf. Terle und einem Dutzend eingeweihter, vertrauenswürdiger Stammesgenossen bereitete es keine Mühe, sich an Techniker und Piloten heranzumachen und sie auszufragen. In den vorausgegangenen Tagen hatten sie genügend Gelegenheit gehabt, sich ein paar technische Grundkenntnisse anzueignen, die sie nun dazu einsetzten, um Schwachstellen bei den Apparaturen und Anlagen aufzuspüren. So gaben sich die Darmonen hilfsbereit und brachten die angetrunkenen Vulnurer zu den Schiffen. Zum Dank für den Freundschaftsdienst waren sie gerne bereit, den recht geschickten und anstelligen Planetenbewohnern das eine oder andere zu zeigen. In ihrem Zustand fiel ihnen nicht auf, daß hier etwas manipuliert und dort etwas verstellt wurde. Rechtschaffen müde und mit dem zufriedenen Gefühl, daß es ein erfüllter Tag gewesen war, begaben sich Vulnurer und Darmonen zur Ruhe. 5. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet. Seit Tagen regnete es in Strömen, kein Sonnenstrahl traf mehr den Boden Orosʹ. Dunkle Wolken jagten über das düstere Firmament, Nebel hingen zwischen Farnriesen und Felsen und hüllten alles in graue Schleier. Es war kühler geworden. Mahrts Ankündigung, daß stündlich mit der Offenbarung des Lichtquellen‐Gotts zu rechnen war, hatte trotz des schlechten Wetters mehr als zwanzigtausend Bekehrer aus den Schiffen gelockt. Sie drängten sich alle auf dem Grund des kesseiförmigen Tals, das Schauplatz des Ereignisses sein sollte. Die zahllosen ausgetrockneten Bäche, die ihr Bett tief ins Gestein gegraben hatten, schafften es kaum, der Wassermassen Herr zu werden. Einige traten über ihre Ufer und verwandelten sich in
reißende Gebirgsströme, da und dort entstanden Seen und Gerinsel, die zu Wasserfällen anschwollen. Längst hatte sich der Untergrund in schlammigen Morast verwandelt. Geduldig harrten die Vulnurer aus. Niemandem schien aufzufallen, daß außer den Oberpriestern kein Darmone zu sehen war. Mahrt, Rifst und Tuell standen auf einem steinernen Podest natürlichen Ursprungs und hielten mühsam das qualmende Opferfeuer in Gang. Ein Dach aus breiten Ursda‐Blättern verhinderte notdürftig, daß es von den Regenschauern gelöscht wurde. Das Rauschen des Regens verschluckte die monotonen Beschwörungsformeln fast völlig. Wind kam auf, der rasch stärker wurde. Graupel vermischte sich mit dem Regen, der die Ausmaße eines Wolkenbruchs anzunehmen begann, zugleich wurde es merklich kälter. »Gleich ist es soweit!« brüllte Mahrt gegen das Tosen der Naturgewalten an. Der Sturm riß das Gestell über der Feuerstätte weg und trieb Glut auseinander. Die sintflutartig herabstürzenden Wassermassen erstickten die Flammen sofort. Man sah kaum noch eine Schrittlänge weit. Während sich die drei Oberpriester im Schutz des Unwetters unbemerkt aus dem Staub machten, weil sie genau wußten, was nun passierte, brach über die ahnungslosen Vulnurer die Katastrophe herein. Ein Reservoir am oberen Rand der Schlucht hatte sich gefüllt und lief über. Wie bei einem Dammbruch bahnte sich die Flut einen Weg und stürzte in die Tiefe. Wer außen stand und das Unheil auf sich zukommen sah, schrie auf und versuchte, nach innen zu drängen, ohne eine Chance zu haben. Die dicht an dicht wartenden Bekehrer behinderten sich gegenseitig. Schon verloren die ersten den Boden unter den Füßen und wurden davongespült. Der Wasserstand stieg sprunghaft an und benötigte nicht einmal zwei Minuten, um die Fünfzigzentimetermarke zu erreichen. Panik ergriff die Menge.
Jeder wollte sich in Sicherheit bringen und eins der rettenden Heimatschiffe erreichen. Erschütternde Szenen spielten sich ab. Die Priesterinnen und Lichtquelle‐Jacta hatten es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls von Bord zu gehen, um der Offenbarung beizuwohnen. Der neuen Solidarität entsprechend, hatte sie auf technische Hilfsmittel verzichtet und sich mit einem simplen Baldachin als Schutz gegen den Regen begnügt, nun stand sie selbst bis zum Hinterleib im kalten Wasser mitten im Getümmel. Fast fünfzehn Prozent der sie begleitenden Leibwache waren schlagartig ausgefallen. Es handelte sich dabei um sogenannte In‐Schiff‐ Modelle, die zwar staub‐ und spritzwassergeschützt waren, aber über keine hermetische Abdichtung verfügten, damit sie im Vakuum oder in flüssigen Medien operieren konnten. Die noch intakten schwarzen Roboter gingen rücksichtslos vor, einzig und allein auf die Rettung der Oberpriesterin programmiert. Sie forderten über Funk Antigravplattformen an, verließen sich jedoch nicht auf passive Maßnahmen, sondern drängten alle, die sich von Jactas Nähe Hilfe erhofften, brutal zur Seite. Fünf, sechs der Automaten packten sie und hoben sie hoch, nahmen sie in die Mitte und erhoben sich über den unaufhaltsam steigenden Wasserspiegel. Andere Maschinen schirmten sie ab, als es mit Höchstgeschwindigkeit zurück zur HEUTE ging. Verzweifelt versuchten einige Vulnurer, sich an ihnen festzukrallen oder ihnen ihre Kinder in die Arme zu drücken, doch die seelenlosen Automaten folgten blind ihrer Aufgabe. Wer sie aufzuhalten versuchte, wurde weggerissen und zurückgestoßen. Die ersten, von Robotern bemannten Transportschweber glitten über die Unglücklichen hinweg. Sie nahmen Kurs auf jene, die so weit weg waren, daß sie keine Chance hatten, aus eigener Kraft einen der Raumer zu erreichen. Wahllos fischten sie die klammen Körper aus dem immer eisiger werdenden Wasser. Wer nicht gleich aufgenommen wurde, klammerte sich am Rand der Rettungseinheiten fest, doch zumeist verließ ihn die Kraft, und er
fiel in das nasse Element zurück. Hoffnungslos überladen, schlingernd und kaum noch steuerbar, kurvten die Antigravschweber zu ihrer jeweiligen Basis zurück. Mittlerweile spürten die des Schwimmens unkundigen Insektoiden keinen Boden mehr unter den Füßen. Durch die Kesselform begünstigt, lief das Tal voll wie eine Badewanne. Geröll und Schlamm hatten die wenigen natürlichen Abflüsse nahezu verstopft, und der Sturm half kräftig nach. Heulend und tosend tobten Orkanböen über das Land, die eine akustische Verständigung unmöglich machten, das Atmen wurde zur Qual. Abgerissene Sträucher und entwurzelte Pflanzenriesen wurden in die Schlucht gewirbelt und landeten im aufgewühlten Wasser. Nicht wenige Vulnurer wurden dadurch verletzt oder gar getötet, meterhohe Wellen und eine unbarmherzige Strömung rissen sie zusammen mit den Resten der Flora davon, dorthin, wo eine angespülte Barriere ein Binnenmeer aufstaute. Wer beim Anprall gegen das Gestein nicht zerschmettert wurde, ertrank, weil ihn die tückischen Wirbel nach unten zogen. Damit nicht genug, polterten auch immer wieder Felslawinen und Steinschläge ins Tal, die zusätzliche Opfer forderten. Es war beißend kalt geworden, längst fiel der Regen als Schnee, Hagel prasselte hernieder. Die Vulnurer, wechselwarm wie alle Insektenabkömmlinge, wurden allmählich starr und lethargisch. Der Lebensgeist wich aus ihren Körpern, kaum noch jemand wehrte sich ernsthaft gegen den nassen Tod. Von ihren Artgenossen wagte sich niemand mehr ins Freie, nur Automaten waren noch unterwegs, um zu retten, was zu retten war. Für Hunderte von ihnen kam jede Hilfe zu spät, und dennoch war die Leidensphase der bedauernswerten Vulnurer damit nicht beendet. Kaum, daß Jacta an Bord gelangt war, hatte sie den Befehl gegeben, die Raumer startklar zu machen, doch es hatte ein böses Erwachen gegeben. Keins der Schiffe war in der Lage, abzuheben. Wichtige Systeme, die üblicherweise nicht gebraucht wurden, für
den Abflug jedoch erforderlich waren, streikten oder meldeten Funktionsstörungen. Für die Techniker begann ein Wettlauf gegen die Uhr. Viel Zeit, um die Fehler zu finden und die Schäden zu beheben, blieb ihnen nicht. Die mächtigen Hecktrichter standen bereits dreihundert Meter tief im Wasser, jeden Augenblick mußten die Hangaranlagen geschlossen werden, die üblicherweise von den Beibooten benutzt wurden, jetzt aber den Antigravplattformen zur Verfügung standen, die immer noch im Einsatz waren. Die Kapazität der Krankenstationen reichte bei weitem nicht aus. Laderäume und Schleusenkammern wurden zu Behelfskliniken umfunktioniert, doch damit war noch keine Versorgung durch die hoffnungslos überforderten Medos sichergestellt. Wer je etwas mit Medizin zu tun gehabt hatte, wurde als Helfer eingesetzt und abkommandiert, um die Unterkühlten und Verletzten zu betreuen. Sämtliche Robotküchen liefen auf Hochtouren, um belebende Getränke zuzubereiten, Trupps aus Automaten und Vulnurern waren unterwegs, um alles, was sich als Decke oder Unterlage eignete, zu konfiszieren und in die Lazarette zu schaffen, etliche Gruppen kümmerten sich ausschließlich um das Transportproblem. Mehrere Stäbe arbeiteten an Koordinationsprogrammen, andere kümmerten sich um die Datenerfassung der Geretteten oder waren damit beschäftigt, aufgeregte Angehörige zu beruhigen und besorgte Anfragen von Familienmitgliedern zu beantworten. Natürlich wurden alle Bemühungen von der Zentralpositronik unterstützt, aber auch ein organisiertes Chaos blieb ein Chaos. Alle entbehrlichen Produktionsstätten wurden umgestellt. Anstatt Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs wurden Medikamente, Psychopharmaka und Verbandsstoffe hergestellt. Recyclinganlagen fuhren andere Programme, um die dringend benötigte Mehrenergie bereitstellen zu können. Fieberhaft arbeiteten die Ingenieure daran, die drei Generationenschiffe startklar zu bekommen. Immer noch waren draußen Bergungskommandos unterwegs. Das
Wasser war weiter gestiegen, die Hangaranlagen konnten nicht mehr benutzt werden. Die Schwebeplattformen benutzten mittlerweile die Schleusen im Ringwulst, doch es würde nicht mehr lange dauern, bis auch sie unpassierbar wurden. Die wenigen Vulnurer, die hier Dienst taten, mußten in immer kürzeren Abständen ausgewechselt werden. Die Außentemperatur war auf minus 28 Grad gefallen, und sie sank weiter. Vorsorglich und in aller Eile hatten Roboter Pumpen herbeigeschafft für den Fall, daß nicht alle Antigravplattformen so rechtzeitig zurückkehrten, daß die Tore geschlossen werden konnten, bevor die Fluten die Schleusenunterkante erreichten. Um nicht die gesamte Bevölkerung zu gefährden, wurden keine weiteren Einheiten mehr losgeschickt, kein Rückkehrer durfte erneut losfliegen. Es war ohnehin unwahrscheinlich, daß sie noch viel ausrichten konnten. Immer spärlicher wurde die Zahl der Geretteten, und für die meisten kam die Hilfe ohnehin zu spät. Sie starben während des Transports. Per Funk wurden die Flugkörper aufgefordert, die Suche abzubrechen und umgehend einzuschleusen. Sie schafften es – bis auf zwei. Beide befanden sich noch im Anflug auf die HEUTE mit insgesamt siebzehn Verletzten, die sie geborgen hatten, als die Wassermassen sich gurgelnd in die noch einzig geöffnete Schleuse ergossen. Sofort sprangen die vier Pumpen an, doch die leistungsstarken Aggregate vermochten kaum etwas auszurichten. Nur Automaten und Maschinen kämpften gegen die Flut an, die mit Eisbrocken versetzt war. Das hintere Schott schloß sich, aber da waren schon fast hundert Kubikmeter in die dahinterliegenden Räume gelaufen. Roboter und ihre Erbauer bemühten sich gemeinsam, das Schlimmste zu verhindern. An der nassen Front zeichnete sich ab, daß die Naturgewalten den Sieg über die Technik davontragen würden. Wie Holzstücke wurden die zentnerschweren Synthowesen herumgewirbelt, die
nicht minder gewichtigen Pumpen waren zu Spielzeug geworden. Sie stellten ihren Dienst ein, nachdem sie mehrmals gegen die Wände geschleudert worden waren. Die Antigravplattformen trafen in der Kammer ein. Sie waren gezwungen, dicht unter der Decke zu schweben, da die Schleuse sich bereits zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllt hatte, das zu allem Überfluß auch noch zu gefrieren begann. Nun wäre es höchste Zeit gewesen, die Tore zu schließen, aber die schweren Metallplatten rührten sich nicht. Einem der Automaten gelang es, sich zum Notkontakt vorzukämpfen und ihn auszulösen – ohne Erfolg. Nun wurde es brenzlig. Taumelnd und torkelnd bewegten sich die Roboter auf die manuelle Steuerung zu. Immer wieder wurden sie zurückgeworfen und weggerissen, doch dann gelang es vier von ihnen nahezu gleichzeitig, die für Greifzangen entwickelten Strebräder zu erfassen und sich daran festzuklammern. Es knirschte und knackte, als sie ihre maschinellen Kräfte einsetzten. Einige bange Sekunden lang sah es so aus, als wenn auch dieser letzte Versuch vergeblich wäre, aber dann platzte die Eiskruste von den Hydrauliken ab. Langsam bewegten sich die Schotten aufeinander zu, während ständig Wasser nachströmte. Die Schweber verharrten dicht über der Oberfläche. Die lichte Höhe war auf vier Meter geschrumpft. Wie Urweltriesen durchschnitten die mächtigen Flügel das eisige Naß. Und dann – endlich – hatten sie Berührungskontakt und schlossen die Kammer hermetisch von der Außenwelt ab. Wie exotische Lebewesen paddelten die Automaten in der Schleuse herum, die sich in ein gewaltiges Bassin verwandelt hatte. Zur Untätigkeit verdammt, mußten sie warten, daß ihnen und den Verletzten geholfen wurde. Es mußte schnell geschehen, denn Rauhreif bedeckte die wasserfreien Flächen, während sich immer dickeres Eis bildete. Die Verantwortlichen hatten nicht geschlafen. Löcher wurden ganz oben in das Innenschott geschnitten. Durch einige wurde
warme Luft hereingepreßt, die anderen dienten als Absaugöffnungen für hindurchgeschobene Schlauchleitungen. Kubikmeter um Kubikmeter wurde abgepumpt, und es ging verhältnismäßig schnell, da die Wasserzufuhr gestoppt war. Endlich war die Kammer leer, und die Eingeschlossenen wurden aus ihrer mißlichen Lage befreit. Nur elf Vulnurer auf den Transportplattformen lebten noch. Mit Höchstgeschwindigkeit wurden sie weggebracht, um ärztlich versorgt zu werden. Inzwischen waren die eintausendzweihundert Meter hohen Heimatschiffe der Bekehrer völlig überflutet worden. Noch immer waren die Techniker bemüht, den Start zu ermöglichen, aber sie verloren den Wettlauf mit der Zeit. Als sie endlich Vollzug melden konnten, waren die Raumer im Eis eingeschlossen. Alle Versuche freizukommen, scheiterten. Die Vulnurer waren zu Gefangenen des Planeten Jacjacta geworden. * Die Stimmung an Bord der drei Schiffe war mehr als gedrückt. Lichtquelle‐Jacta hatte den großen Katzenjammer bekommen. Der Tod einer Priesterin wurde angesichts der zahlreichen anderen Opfer fast zur Nebensächlichkeit. Sie machte sich heftige Selbstvorwürfe – nicht nur, was ihre Leichtgläubigkeit betraf, sondern auch, weil sie keine präzisen Anweisungen gegeben hatte, wie sie im Notfall erforderlich waren. Vielleicht hätte Schlimmeres verhindert werden können, wenn die Schutzschirme aktiviert worden wären, andererseits war es dazu schon zu spät, als sie an Bord gelangte. »Über unsere Situation mache ich mir keine Illusionen.« Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit hatte Jacta als Versammlungsort die Zentrale der HEUTE gewählt. »Die Darmonen haben uns zum Narren gehalten. Wenn ich mir jetzt im nachhinein überlege, wie
leicht wir es ihnen gemacht haben, uns zu übertölpeln, frage ich mich, ob unsere Intelligenz überhaupt so groß ist, wie wir es annehmen. Planetarier, die uns in technischer Hinsicht hoffnungslos unterlegen sind, haben uns hereingelegt.« »Die Sehnsucht nach der Lichtquelle hat unser Handeln bestimmt«, sagte Oktos. »Ich denke, daß man niemandem daraus einen Vorwurf machen kann.« »Doch, mir. Unser Volk ist schon unzähligen anderen Arten begegnet, aber ich habe die erprobten Verhaltensmaßregeln diesmal nicht befolgt. Ich war zu vertrauensselig, und nun sitzen wir in der Falle. Hunderte haben ihr Leben lassen müssen, weil ich die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen habe. Ich hätte erkennen müssen, daß es die falsche Lichtquelle war. Seit Jahren bin ich Oberpriesterin und Mono zugleich, doch ich überlege mir, ob ich meine Ämter nicht niederlegen soll, um einer Jüngeren Platz zu machen.« »So darfst du nicht reden, Lichtquelle‐Jacta.« Akes, die zu den älteren Priesterinnen gehörte, wirkte erregt. »Du bist stets eine gute Führerin gewesen. Eine Nachfolgerin müßte es sich gefallen lassen, an dir gemessen zu werden, und ich wüßte keine, die deine Qualitäten besitzt, also bleibe. Wir alle können dir nachfühlen, daß du enttäuscht und verbittert bist, aber wird das Problem durch deinen Rücktritt gelöst? Keiner von uns wirft dir Versagen vor, im Gegenteil, wir alle haben dich darin bestärkt, daß deine Entscheidung richtig war. Jeder einzelne von uns hat Fehler gemacht, doch sie summierten sich und führten erst in ihrer Gesamtheit zur Katastrophe. Leichtfertig haben wir uns mit den Darmonen verbrüdert, ihnen fast ungehinderten Zutritt zu unseren Schiffen gestattet und bereitwillig an das geglaubt, was sie gesagt haben. Wir glaubten uns unserem Ziel endlich nahe – so nahe, daß wir die primitivsten Sicherheitsvorkehrungen außer acht gelassen haben. Man könnte jeden, der Verantwortung trägt, zur Rechenschaft ziehen, ja selbst die Roboter und die Zentralpositronik haben Schuld auf sich geladen, weil sie nicht eingeschritten sind.
Gehirne können sich irren, falsche Schlüsse ziehen, einem Irrglauben erliegen, unlogisch reagieren, aber warum hat uns der Rechner nicht gewarnt, der sich ausschließlich an Fakten orientiert? Willst du ihn deshalb desaktivieren?« »Akes hat recht.« Eine Vulnurerin, die erst kürzlich zur Priesterin geweiht worden war, ergriff das Wort. »Man kann dir weder Vernachlässigung deiner Pflichten noch Fahrlässigkeit vorwerfen – es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Du konntest nicht anders handeln, als du es getan hast. Ich bitte dich, im Amt zu bleiben. Die Probleme, die wir noch zu meistern haben, verlangen eine erfahrene Führerin.« Alle in der Runde wußten, was damit gemeint war. Die Situation war wirklich prekär, die GESTERN, die HEUTE und die MORGEN waren im Eis eingeschlossen, das inzwischen mehrere Kilometer dick geworden war. Die Versuche, den frostigen Panzer aufzubrechen oder rund um die Schiffe zu beseitigen, waren mißlungen. Man saß fest. Schamhaft und ein wenig verstört hatten sich die genasführten Spezialisten auf ihre eigentlichen Aufgaben besonnen. Sie wollten ihren Fehler wiedergutmachen und machten sich mit Feuereifer an die Arbeit. Frei von Illusionen dauerte es auch nicht lange, bis sie herausfanden, was es mit den drei Sonnen und Jacjacta auf sich hatte. Das Ergebnis war nicht dazu angetan, Hoffnung zu wecken. Durch den Intensitätsabfall des nächsten Gestirns und das gleichzeitige Entfernen davon war der Planet in eine Kältephase geraten, die aufgrund der Konstellation und seiner exzentrischen Bahn noch lange anhalten würde. Nicht einmal die Enkel der Neugeborenen würden erleben, daß das Eis schmolz. Das waren düstere Aussichten, aber auch die Techniker waren nicht untätig geblieben. Was sie herausgefunden hatten, war wesentlich positiver, doch auch ihre Prognose gab keinen Anlaß zum Jubel. Möglicherweise reichten die Mittel und Möglichkeiten, um die Schäden zu beheben und die Raumer zu befreien, allerdings
würde es eine lange Zeit dauern. Ersten Schätzungen zufolge etwa ein halbes Vulnurerleben, was fünf solanischen Standardjahren entsprach. Jacta beispielsweise würde – vorausgesetzt, daß es wirklich gelang – den Start nicht mehr erleben. »Ich habe euch in diese mißliche Lage gebracht, also ist es meine Pflicht, alles zu tun, um diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden.« Die großen Facettenaugen der Oberpriesterin funkelten im künstlichen Licht wie zehntausend kleine Kristalle. »Ich werde mich dieser Aufgabe nicht entziehen, doch angesichts der widrigen Umstände sehe ich keinen Sinn mehr darin, gewisse Traditionen aufrechtzuerhalten. Ohne den Würfel hat der Repräsentationssaal seinen Sinn verloren, also werden wir uns zukünftig hier versammeln. Desweiteren verlange ich, daß in Zukunft weniger Aufhebens um meine Person gemacht wird – zumindest, was euch betrifft, die ihr hier zu dieser Runde gehört. Ich bin eure Führerin, aber betrachtet mich nicht als Überwesen, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Ich erwarte von euch Hinweise, Anregungen und Mitarbeit, aber auch Kritik. Nur so ist eine effektive Zusammenarbeit möglich. Mit aller Kraft müssen wir darauf hinarbeiten, diese Welt so schnell wie möglich verlassen zu können.« Unbehagliches Schweigen machte sich breit. Gewiß, in dieser Diskussion hatte es an klaren Standpunkten nicht gemangelt, Jacta war das Vertrauen ausgesprochen worden, und man hatte Klartext geredet, weil die Umstände außergewöhnlich waren, aber nun sollte plötzlich alles vergessen und sinnlos sein, was in der Vergangenheit Wert gehabt hatte? Besaß eine Oberpriesterin, die nicht auf Distanz ging, überhaupt noch jene Autorität und Würde, die ihrer Stellung und Position angemessen war? Sie schien die Gedanken der Anwesenden erraten zu haben. »Wenn ich eure Fühlerbewegungen richtig deute, scheint ihr davon nicht sonderlich begeistert zu sein. Was stört euch daran?« »Es kommt ein wenig plötzlich für uns.« Es war Oktos, der sich ein
Herz faßte. »Wir müssen uns erst daran gewöhnen.« »Gut, das sehe ich ein, aber ihr solltet euch nicht ausschließlich darauf konzentrieren, denn es gibt wichtigere Dinge. Als erstes müssen wir ein Überlebensprogramm konzipieren.« * Man hatte alle technischen Mittel eingesetzt, um einen Freiraum um die Schiffe herum zu schaffen, so daß Reparaturen an der Außenhülle möglich wurden. Mobile Schirmfeldprojektoren sorgten dafür, daß Eis und wieder gefrierendes Wasser zurückgedrängt wurden. Funk‐ und Ortungsantennen waren beschädigt worden, aber auch Aufbauten und Schleusen. Instandsetzungskommandos aus Vulnurern und Robotern bemühten sich, wenigstens die gravierendsten Mängel zu beheben. Es war ein mühsames Unterfangen. Die Insektoiden konnten sich nur mit beheizten Schutzanzügen ins Freie wagen und mußten Rückentriebwerke benutzen, da der Platz für Gerüste und Antigravarbeitsplattformen nicht ausreichte. Auch Materialtransporter konnten nicht eingesetzt werden. Flugfähige Automaten mußten ihren Part übernehmen und Stück für Stück an Ort und Stelle befördern. Wie Glühwürmchen huschten die mit Lampen bestückten Maschinen durch die ewige Nacht. Scheinwerfer und fliegende Spots sorgten für Lichtinseln in der Finsternis. Wo immer es möglich war, waren sie an Kabel angeschlossen, die ins Schiff führten. Auch die Techniker wurden über Leitungen mit Energie und Luft versorgt. Die Zahl der Energieblöcke waren begrenzt, und so ging man sparsam damit um, damit sie dann greifbar waren, wenn sie wirklich dringend gebraucht wurden. Improvisation wurde großgeschrieben. Bedingt durch diese widrigen Umstände kamen die Techniker mit der Behebung der Schäden nur langsam voran.
Und dann entdeckte man eines Tages Gänge im umgebenden Eis. Sie mußten über Nacht entstanden sein, doch wodurch, war unbekannt. Der erste Gedanke war, daß die Darmonen dahintersteckten, aber das wurde sofort wieder verworfen. Man wußte nicht, was mit den Planetariern geschehen war, denn seit der Katastrophe hatte man von ihnen nichts mehr gehört und gesehen, zudem waren die Röhren für sie viel zu großvolumig. Immerhin waren sie hoch und breit genug, um einen erwachsenen Vulnurer aufnehmen zu können. Ein Trupp, der mehrere Stollen untersuchte, konnte keinen Hinweis auf die Entstehung finden, allerdings entfernte sich die Gruppe bei ihren Vorstößen nie weit vom Eingang, weil es möglich war, daß die Gänge eingedrückt wurden. Man schenkte den Hohlräumen weiter keine Beachtung, warnte aber in einem Rundspruch davor, sie zu betreten, weil Einsturzgefahr bestand. Leuchtfolienstreifen sollten verhindern, daß sich jemand in eine der Röhren verirrte. Als die Frühschicht an Bord zurückkehrte, wurden zwei Vulnurer vermißt. Die sofort eingeleitete Suche verlief ergebnislos. Ein Unfall schied aus, da sie sich ordnungsgemäß von ihrer Versorgungsleitung abgekoppelt hatten. Beobachtungen und Funksprüche belegten, daß sie zumindest bis kurz vor Arbeitsende noch auf ihrem Posten waren. Ihr spurloses Verschwinden konnte nur so gedeutet werden, daß sie es riskiert hatten, in einen der Stollen einzudringen. Wahrscheinlich hatten sie diesen Leichtsinn mit ihrem Leben bezahlt, denn die für den Notfall gedachte Sauerstoffpatrone reichte nur für umgerechnet siebzehn Minuten, und die Thermokleidung hielt die Wärme nach der Trennung von der Energieleitung auch nicht unbegrenzt. Da mittlerweile etwas mehr als eine halbe Stunde vergangen war, würde jede Hilfe zu spät kommen, so daß darauf verzichtet wurde, Rettungsmannschaften zusammenzustellen. Daß die Verantwortlichen so reagierten, war keine Herzlosigkeit,
sondern eine logische Entscheidung. Man wollte es ganz einfach nicht riskieren, daß es weitere Opfer gab, nur weil zwei Tote geborgen werden sollten, die sich ihr Ende ohnehin selbst zuzuschreiben hatten. Noch einmal erging eine Warnung über Bordfunk, doch als das nächste Reparaturteam wieder einrückte, fehlten erneut zwei Techniker. Akes gab ihrem Zorn über so viel Dummheit gepaart mit Eigensinn lautstark Ausdruck, aber die Oberpriesterin pflichtete ihr nicht bei. Sie war nachdenklich geworden. »Andag und Undis sind pflichtbewußt und zuverlässig, beide haben Familie. Sie sind keine Abenteurer, eher zurückhaltend und vorsichtig. Ich bin sicher, daß sie keinen Ausflug in die Eisgänge unternommen haben, doch das macht die Sache noch rätselhafter, schließlich kann niemand spurlos verschwunden.« »Allmählich bereiten mir die Stollen Unbehagen«, sagte Oktos. »Ich schlage vor, sie von Robotern bewachen zu lassen. Erst dann können wir wirklich sicher sein, daß keiner versucht, heimlich in die Hohlräume einzudringen.« Der Pilot wollte noch etwas vorbringen, als das Bordfunkgerät ansprach. Optisch und akustisch signalisierte es Dringlichkeitsstufe 1. Sofort ging der Vulnurer auf Empfang. »Ja, was gibt es?« »Hier Trebi, Reparaturkommando G‐23‐ÖL‐19.« Die Stimme klang erregt. »Ich bin überfallen worden.« Die Oberpriesterin sprang auf und schob Oktos zur Seite. »Lichtquelle‐Jacta. Wer hat dich überfallen, Trebi?« »Es waren vier hellhäutige Gestalten, die sich dicht am Boden bewegten. Sie versuchten, mich von der Versorgungsleitung abzukoppeln. Im letzten Augenblick konnte ich ihnen mit Hilfe meines Triebwerks entkommen.« Die Fühlerbewegungen der Anwesenden verrieten, wie sehr sie die Nachricht beunruhigte. »Konntest du Einzelheiten erkennen, besondere Merkmale?«
»Die Körper der Fremden waren langgestreckt, sie bewegten sich ziemlich schnell. Auffällig war ein merkwürdiges, rötlich schimmerndes Auge.« »Waren sie groß?« »Nein, sie hatten in etwa die Gestalt der Darmonen.« »Handelte es sich vielleicht um sie?« »Eine gewisse Ähnlichkeit war da, aber sie waren weißhäutig und besaßen dieses unheimliche Auge.« »Danke, Trebi. Bleib wachsam. Ich schicke Roboter zu eurem Schutz nach draußen.« Jacta schaltete ab und wandte sich an ihre Vertrauten. »Wahrscheinlich sind die Vermißten verschleppt und entführt worden – eben von diesen Wesen, die Trebi beschrieben hat. Wir müssen uns Gewißheit verschaffen. Ich halte es für einen unerträglichen Zustand, wenn unsere Leute ständig in Gefahr sind, überfallen zu werden. Oktos, du wirst eine Expedition ausrüsten und das Kommando darüber übernehmen. Sei auf der Hut. Ich möchte Ergebnisse, aber keine weiteren Toten.« * Ausgerüstet mit beheizbaren Thermoanzügen und integrierten Klarsichthelmen, Sauerstoff für dreißig Stunden, Funkgeräten, Kombistrahlern und allerlei Utensilien, die im Eis von Nutzen sein konnten, drangen elf Vulnurer und sieben Automaten in einen Gang ein. Warm immer das Licht der starken Scheinwerfer die kalte Pracht beleuchtete, glitzerte und funkelte das eisige Material wie das Innere eines Kristallpalastes. Vier Automaten schwebten voraus, der Rest hatte Rückendeckung übernommen. Da der Stollen nicht breiter war, bewegten sich die Insektoiden und ihre Maschinen im Gänsemarsch durch den Hohlraum. Der Gang war nicht geneigt und führte geradeaus von der HEUTE
weg. Mit angespannten Sinnen marschierten die vermummten Gestalten vorwärts. Nach knapp fünfzig Metern stießen die Roboter auf Abzweigungen, die bei der ersten Untersuchung noch nicht bestanden hatten. Der Vormasch kam ins Stocken. Der Pilot überlegte kurz, dann entschied er, daß die Automaten an der Spitze sich in den Fluren umsehen sollten, während der Haupttrupp ihre Rückkehr abwartete. Übereinstimmend meldeten die ausgeschickten Maschinen, daß die Stollen tiefer ins Eis führten, ansonsten jedoch keine Besonderheiten aufwiesen. Da Oktos vermeiden wollte, daß die Gruppe auseinandergezogen wurde, rief er die Roboter zurück. Es ging weiter. Schon nach kurzer Zeit wurde er erneut vor eine Entscheidung gestellt. Der Stollen gabelte sich und erweiterte sich zugleich zu einer Art Eisdom, der etwa fünf Meter durchmaß und halb so hoch war. Bläulich schimmernde, teils armlange Zapfen aus gefrorenem Wasser hingen von der Decke herab. Ein wenig unbehaglich drängten sich die Expeditionsteilnehmer um ihren Führer. Etliche Lichtfinger huschten durch die Höhle und tasteten sich in die Gänge vor. »Wir nehmen die linke Abzweigung!« Gerade, als sich die ersten in Bewegung setzten, brach das Verhängnis über die Vulnurer herein. Nicht nur der Angriff selbst überraschte sie, sondern auch die Art, in der er vorgetragen wurde. Aus der Höhe ergoß sich ein Sturzbach über die völlig perplexen Bekehrer, ohne daß ein Grund dafür ersichtlich war. Gleich reihenweise lösten sich die kiloschweren, speerspitzigen Eiszapfen. Wie Pfeile bohrten sie sich in die dicke Isolierkleidung, knallend zersplitterten sie auf den Helmen. Auch die Wände begannen zu schmelzen. Schon bedeckten einige Zentimeter Wasser den Boden. »Zurück!« schrie Oktos. »Die alte Marschordnung einnehmen!« Das war leichter gesagt als getan. Wie eine aufgeregte Hühnerschar rannten die Vulnurer durcheinander. Obwohl ihre
Stiefel rutschfeste Sohlen besaßen, kamen einige zu Fall. Wie exotische Tiere platschten sie im eiskalten Wasser herum und versuchten, wieder auf die Beine zu kommen. Der unerklärliche Tauprozeß lief immer schneller ab. Auch ihr Fluchtweg verwandelte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in einen subplanetaren Bach. Pausenlos brüllte der Pilot Befehle und trieb seine Begleiter zur Eile an. Die Waffen hatten die meisten weggesteckt. Die ersten Automaten drangen in den Stollen ein, stoppten jedoch gleich wieder ab. »Wir werden angegriffen!« Gleißende Helligkeit erfüllte den Gang, eine Hitzewelle folgte. In Strömen floß das Wasser von den Wänden und Decke. Entsetzt wichen die Insektoiden zurück – und saßen in der Falle. Überall um sie herum entstanden Löcher im Eis, aus denen weißhäutige Wesen mit merkwürdigen rötlichen Augen hervorbrachen. »Opfer für die drei Sonnengötter!« hallte es im Idiom der Darmonen durch den Hohlraum. »Tötet die Vulnurer! Sie haben Dersf, Flit und Terat beleidigt!« Den Bekehrern fiel es wie Schuppen von den Augen. Es handelte sich tatsächlich um die Planetarier, die so etwas wie eine Metamorphose als Anpassung an die Kältephase durchgemacht haben mußten. Und sie verehrten auch nicht die Lichtquelle, wie sie beteuert hatten, sondern simple Sterne, denen sie opferten. Wer dafür ausersehen war, war unzweifelhaft. Ohne zu zögern, stürzten sich einige Dutzend Eingeborene in die eisigen Fluten. Es waren ausgezeichnete Schwimmer. Mit kräftigen Schwanzschlägen schossen sie durch das Wasser auf ihre Opfer zu. »Die Strahler! Setzt die Strahler ein!« Oktos Stimme klang panikerfüllt. Er riß seine Waffe hervor und feuerte blindlings auf eine Gruppe Darmonen. Sie tauchten blitzschnell weg, doch zwei wurden getroffen. Sie waren auf der Stelle tot. Auch die anderen Vulnurer versuchten, sich zur Wehr zu
setzen. In ihrer Angst kamen sie gar nicht auf den Gedanken, auf Paralysestrahl umzustellen. Fauchend entluden sich die tödlichen Energien. Fast immer gelang es den geschickten Eingeborenen, die sich in ihrem wahren Element befanden, auszuweichen, so daß nur das Eis getroffen und ionisiert wurde. Daß die Eingeschlossenen sich verteidigten, schien den Haß der Darmonen auf die Fremdlinge nur noch anzustacheln, und sie schlugen zurück. Der fälschlicherweise als Auge bezeichnete rötliche Fleck auf der Stirn erzeugte gebündelte Wärmestrahlung und diente damit zur Fortbewegung im Eis, allerdings ließ sich das körpereigene Organ auch als Waffe einsetzen. Und davon machten sie nun Gebrauch. Unsichtbare Hitzestrahlung, auf einen Punkt konzentriert, raste auf die Vulnurer zu. Ihre Schutzkleidung verformte sich, wurde rissig und platzte auf, die Helme bekamen Blasen und Sprünge. Mit Schrecken registrierten die Expeditionsteilnehmer, daß sie den vergleichsweise primitiven Planetariern trotz ihrer hochstehenden Technik zu unterliegen drohten. »Absetzen! Zurück zur HEUTE!« Der Pilot hatte sich wieder etwas gefaßt. »Wir müssen durchbrechen, die Roboter geben uns Rückendeckung!« Mittlerweile stand das Wasser meterhoch in dem Gewölbe. Rudernd und watend versuchten die Insektoiden, ununterbrochen feuernd, den überfluteten Gang zu erreichen, der Rettung verhieß, gleichzeitig formierten sich die Automaten, um ihre Erbauer abzuschirmen. Jeder setzte nur einen Waffenarm ein. Töten konnten sie nicht, nur paralysieren, aber sie waren wesentlich erfolgreicher als ihre Herren. Zwanzig, fünfundzwanzig Angreifer trieben bewegungslos im Wasser. Da sie Kiemenatmer waren, konnten sie weder ertrinken noch ersticken. Obwohl reaktionschneller und zielsicherer als jedes Lebewesen, vermochten es die Maschinen nicht, die gegnerische Übermacht entscheidend zu schwächen oder gar aufzuhalten. Die
Wärmestrahlung setzte dem Material, aus dem die Thermoanzüge gefertigt waren, deutlich zu. Es war ein Stoff, der für Minusgrade konzipiert worden war, der seine Elastizität und andere gute Eigenschaften eigentlich erst jenseits der Null‐Grad‐Grenze voll zur Geltung brachte, aber auf Hitzebeständigkeit hatte man keinen Wert gelegt. Sechzig Grad plus war die Obergrenze – zu wenig, um den Attacken der Darmonen standzuhalten. Das erste Opfer wurde Oktos. Sein Helm zersprang, die Isolierkleidung wies zahlreiche Risse auf. Sofort bildete sich Rauhreif auf seiner starren Gesichtsmaske, der Blick seiner Facettenaugen wurde getrübt. Vier Darmonen, die sich ihm untergetaucht genähert hatten, packten ihn und zogen ihn trotz heftiger Gegenwehr unter Wasser. Zwar gelang es ihm noch, um Hilfe zu rufen, doch bevor ihm jemand helfen konnte, war sein Schicksal besiegelt. Durch den Kälteschock verlor er das Bewußtsein und starb infolge Sauerstoffmangels. Auch die Roboter wurden attackiert. Zwei von ihnen blieben auf der Strecke, den restlichen fünf gelang es, die drei überlebenden Vulnurer zum Schiff zurückzubringen. Dort war man ziemlich niedergeschlagen. Zwar wußte man nun, mit wem man es zu tun hatte, doch daß acht Artgenossen ihr Leben verloren hätten und Sonnengöttern geopfert wurden, um diese Erkenntnis zu gewinnen, machte alle Beteiligten betroffen. »Wir haben diese Barbaren völlig falsch eingeschätzt. Sie betrachten uns als Feinde.« Akes machte eine hilflose Geste. »Lichtquelle‐Jacta, was sollen wir tun?« »Da eine Verständigung so gut wie ausgeschlossen ist, müssen wir uns mit den Gegebenheiten abfinden. Mir liegt nichts daran, dieses Volk zu vernichten, denn es ist nicht wirklich bösartig.« »Bedenke, was sie uns angetan haben«, warf eine junge Priesterin ein, die das Sextett erst kürzlich wieder komplett gemacht hatte. »Die Darmonen hassen uns. Sie sind dafür verantwortlich, daß so viele von uns sterben mußten.«
»Aus dir spricht das Ungestüm der Jugend«, sagte die Oberpriesterin mit leisem Tadel. »Daß die Planetarier so und nicht anders handeln, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. So wie wir von der Existenz der Lichtquelle überzeugt sind, glauben sie an ihre Sonnengötter, und sie tun, was sie nach ihrem Verständnis tun müssen, doch deshalb billige ich ihr Vorgehen nicht – ganz im Gegenteil.« Jacta rieb ihre Fühler aneinander. »Wir müssen versuchen, sie auf Distanz zu halten, und wenn es nicht anders geht, müssen wir notgedrungen auch Waffen einsetzen. Ich bin nicht gewillt, weitere Opfer zuzulassen. Jeder, der nach draußen geht, bekommt einen Kombistrahler, die Wachen werden verdoppelt. Es ist …« Verunsichert brach die Vulnurerin ab. Die Außenmikrophone übertrugen merkwürdige Geräusche, es knirschte und knackte. Bevor sie Informationen einholen konnte, hatte sie das Gefühl, den Boden unter den Zangenfüßen zu verlieren, dann wurde sie heftig in den Sitz gepreßt, gleich darauf federte sie hoch. Es gab keinen Zweifel daran, daß die HEUTE aufgeprallt war oder hart aufgesetzt hatte, nur – sie hatte keinen Startversuch unternommen. »Was war das?« »Das Schiff ist nach unten weggesackt«, meldete ein Techniker. »Vermutlich sind irgendwelche Hohlräume unter uns zusammengebrochen. Wir befinden uns jetzt auf einem Niveau, das dreizehn Meter unter dem der beiden anderen Heimatschiffe liegt.« Hilferufe erreichten die Zentrale, Medos und Ambulanzen wurden angefordert. Versorgungsleitungen waren gerissen, Schirmfeldprojektoren zermalmt worden. Bei den Außenkommandos hatte es zahlreiche Verletzte gegeben, einige waren von den aufgestauten Wassermassen eingeschlossen worden. Die Hangaranlagen hatten sich ins Eis gebohrt und konnten nicht mehr benutzt werden. Rettungstrupps verließen in aller Eile das Schiff, ausgerüstet mit Flammenwerfern und flugfähigen Geschützen, die auf Lafetten montiert waren. Mühsam bahnten sie
sich einen Weg durch das spröde Material. Automaten übernahmen ihren Schutz. Alle in der Runde wußten, wer dafür verantwortlich war. Die zumindest zur Schau getragene Zuversicht, sich den Darmonen nicht nur zu stellen, sondern ihnen auch Paroli bieten zu können, erlitt einen argen Dämpfer. Es zeichnete sich ab, daß die Eingeborenen am Ende über die Technik triumphieren würden. Unter normalen Umständen wären die Planetarier keine ernstzunehmenden Gegner gewesen, doch hier war eben alles anders. Der Krieg im Eis, angezettelt von den Darmonen, ließ sich weder abwenden noch gewinnen, das wurde den Verantwortlichen schmerzlich bewußt. Es würde ein Kampf ums Überleben werden, und der Ausgang war mehr als ungewiß. 6. Die SZ‐2 hatte den alten Orbit verlassen und war auf eine stationäre Bahn eingeschwenkt. Scheinbar bewegungslos stand sie nun über jenem Punkt, an dem die drei Vulnurerschiffe im Eis eingeschlossen waren. Vergeblich hatte man versucht, Funkkontakt aufzunehmen. Kurz entschlossen wurde eine Space‐Jet ausgerüstet, die zu den Raumern vorstoßen sollte. Breiskoll übernahm selbst das Kommando, vier Freiwillige begleiteten ihn. Der eigentliche Flug verlief ohne Zwischenfälle und nahm nur wenig Zeit in Anspruch, dann drosselte Bjo die Geschwindigkeit auf ein Minimum und aktivierte die Geschütze. Im Eis von Torkler alias Jacjacta alias Oros entstand ein gewaltiger Krater, der sich immer weiter in die Tiefe fraß. Nur noch von den Antigravtriebwerken getragen, schwebte das Beiboot in die eisige Tiefe und verschwand
in den aufschäumenden Wassermassen, die sogleich wieder gefroren. Trotz der starken Scheinwerfer reichte die Sicht nur wenige Meter weit. Geleitet von den Tastern, steuerte der Mutant die Space‐Jet auf eins der gewaltigen Objekte zu. Die Schirmfelder waren aktiviert. So wurde verhindert, daß die erstarrenden Fluten den Flugkörper im Eis einschlossen. Zeitlupenhaft näherte sich der Raumer seinem Ziel, die Energiezufuhr für die Waffen wurden gleichzeitig verringert. Die Instrumente zeigten Hohlräume in der Nähe der Raumschiffe an. Breiskoll vermutete, daß sie von den Vulnurern angelegt worden waren, und er wollte vermeiden, daß sie überflutet wurden. Behutsam dirigierte er das Schiff nach unten und stoppte den Antrieb, als der Abstand nur noch etwa zehn Meter betrug. Die Geschütze waren bereits verstummt. Bis auf die Schutzschirme schaltete der Katzer alle Anlagen auf Bereitschaft und erhob sich. Wie seine Begleiter trug er bereits seinen Raumanzug, zahlreiche Ausrüstungsgegenstände waren in den Taschen untergebracht worden. Jeder war mit einem Kombistrahler bewaffnet, zusätzlich führten sie schwere Thermostrahler mit sich, die für das Fortkommen im Eis unerläßlich waren. Zusammen mit den drei Männern und einer Frau begab sich Bjo zum Antigravschacht. Als alle die Schleuse verlassen hatten, betätigte er den Kodegeber. Die Flügelhälften schlossen sich, gleich darauf entstand in den Schirmen eine Strukturlücke. Wasser drang nicht ein, es war bereits wieder erstarrt. Die Verständigung erfolgte über Helmfunk, doch es gab nichts mehr zu besprechen. Noch während des Anflugs hatte der Telepath seinen Mitstreitern alle notwendigen Instruktionen gegeben. Sie nahmen seitlich versetzt Aufstellung und richteten die Thermostrahler auf die glitzernde, von mitgeführten Scheinwerfern angestrahlte Wand. Wie Butter in der Sonne schmolz das Eis unter
den energiereichen Strahlen weg. * Sie kamen recht gut voran. Da sie den Gang mit geringer Neigung vorantrieben, behinderte sie das Wasser kaum, weil es nach hinten abfloß. Daß es dort wieder gefror, berührte die Solaner nicht. Und dann brachen sie durch. Im Licht von Tiefstrahlern und zahlreichen Spots war die Hülle eines Raumschiffs zu erkennen. Die Roboter und vermummten Gestalten – offensichtlich Vulnurer – werkelten daran herum. Dort, wo sie herausgekommen waren, lag der Boden knapp einen halben Meter tiefer. Der gelenkige Katzer überwand den Höhenunterschied trotz der hinderlichen Schutzkleidung mit einem eleganten Sprung. Während Breiskoll noch damit beschäftigt war, seinen Begleitern in die Höhle zu helfen, übertrugen die Außenmikrophone plötzlich aufgeregte Stimmen und Schreie. Die zwischengeschalteten, mit dem Idiom der Insektoiden gespeicherten Translatoren übersetzten Rufe wie »Hilfe!« und »Überfall!«, aber da war auch noch eine andere Sprache zu hören, die nicht auf Anhieb entschlüsselt werden konnte. Bjo fuhr herum. Weiße, vom Eis kaum zu unterscheidende meterlange Gestalten in Lurchform wieselten in großer Zahl um einzelne Bekehrer herum. Die Roboter schossen heran und warfen sich auf sie, doch die flinken Wesen narrten sie ein ums andere Mal, obwohl einige paralysiert zu Boden gingen. Das Fauchen von Strahlern war zu hören, grelle Energiefinger zuckten durch die Luft. Trotz erbitterter Gegenwehr wurde ein Insektoide von einem Dutzend Angreifer fortgeschleppt. »Los, wir müssen den Vulnurern helfen!« Der Mutant rannte auf eine Gruppe sich balgender Körper zu und
feuerte im Laufen den Thermostrahler ab, dabei hatte er absichtlich so gezielt, daß niemand getroffen wurde. Eine Pfütze entstand dort, wo die Strahlen auftraten. Sofort ließen fünf, sechs der Weißen von ihrem Opfer ab und wandten sich dem neuen Gegner zu. Daß sie unbewaffnet waren, irritierte den Katzer ein wenig, vielleicht unterschätzte er sie deshalb sogar. Er, der seinen Körper beherrschte wie kaum ein anderer, rutschte auf einmal mit dem linken Fuß aus. Noch während er sich reflexhaft bemühte, die Balance zu halten, blickte er unbewußt nach unten – und erschrak. Ohne erkennbare Ursache stand er bis zu den Knöcheln im Wasser. Es stieg, zugleich wurde die Lache größer. »Wärmestrahlung!« durchzuckte es ihn. »Paßt auf, die Fremden sind nicht harmlos!« brüllte Breiskoll. »Sie verfügen über eine Körperwaffe, die Hitze erzeugt!« Für Isolde Freteroid kam die Warnung zu spät. Die einzige Frau des Teams steckte bereits bis zu den Knien in einem solchen Wasserloch. Bevor sie ihren Kombistrahler zu fassen bekam, hatten sie die Weißhäutigen ausgehebelt und tauchten sie unter. Ihr Schrei alarmierte Bjo. Er fuhr herum, konnte die Solanerin jedoch nicht entdecken. »Wo ist Isolde?« »Sie war links hinter dir, dort, wo der Tümpel entstanden ist!« rief Raditio Kmermil. Auch der Hüne hatte Mühe, sich der Angreifer zu erwehren. Er wurde von einem Dutzend der weißhäutigen Geschöpfe belauert und versuchte, sie mit dem Thermostrahler auf Distanz zu halten. Um ihn herum hatte sich ein kleiner See gebildet, aber auch dort, wo seine Waffe ihre Energien freisetzte, schmolz das Eis. Zu mehreren stürzten sich die unbekannten Wesen in das kalte Naß, doch der Solaner war auf der Hut. Einige kurze Feuerstöße auf die Wasseroberfläche in seiner unmittelbaren Umgebung brachten das Wasser zum Sieden. Schrille Laute ausstoßend, flohen die kühnen Schwimmer zum Rand und sprangen auf den gefrorenen
Untergrund zurück. Kmermil watete hinter ihnen her, aber die Fremden nahmen Reißaus. Der Riese, der ihr angestammtes Element in ein heißes Bad verwandelte, schien ihnen unheimlich zu sein. Noch immer waren im Helmfunkgerät die Rufe der Solanerin zu hören. Breiskoll, der sich auf ihre Gehirnimpulse konzentriert hatte, um sie aufzuspüren, wurde der geistige Ausflug fast zum Verhängnis. Er spürte, daß jemand an seinen Beinen zerrte und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sich hochzuschnellen und den auf Paralysestrahl eingestellten Kombistrahler zu ziehen und auszulösen, war eins. Noch in der Luft änderte er seine Lage und ließ sich der Länge nach klatschend ins Wasser zurückfallen. Er tauchte nicht tief ein, doch seine Reaktion versetzte die Weißen in Angst und Schrecken. Wer nicht gelähmt worden war, suchte sein Heil in der Flucht. »Bjo, ich helfe dir!« »Ich komme allein zurecht! Kümmere dich um Isolde, Raditio! Sie muß in diesem Krater stecken.« »Geht klar!« Der Katzer kam hoch. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Sichtscheibe seines Helms, doch sie taute sofort wieder auf, die Tropfen perlten ab. Eher unterschwellig registrierte er, daß sich die Vulnurer beruhigten, weil der Spuk verschwunden war. Bis auf einige paralysierte Exemplare war von den Weißen nichts mehr zu sehen. »Isolde ist weg!« meldete der Hüne. »Ich kann einen überfluteten Stollen erkennen, durch den man sie vermutlich verschleppt hat. Soll ich ihr folgen?« »Im Augenblick droht mir keine Gefahr.« Die Stimme der Frau klang frisch und munter. »Bei dem Handgemenge habe ich meine Waffen verloren, bin ansonsten aber noch im Besitz meiner gesamten Ausrüstung. Bitte unternehmt nichts. Offensichtlich wollen mich die Eiswesen zu ihrer Basis bringen. Ich will versuchen, mich mit ihnen zu verständigen, denn sicherlich wären uns einige
Informationen über sie nützlich. Ich melde mich wieder, wenn es etwas zu berichten gibt.« »Du gehst ein ziemliches Risiko ein«, warnte der Mutant. »Man hat dich bestimmt nicht ohne Grund entführt.« »Dessen bin ich mir bewußt, dennoch ersuche ich euch nochmals, abzuwarten. Meine – äh – Begleiter machen keinen sehr kriegerischen Eindruck.« »Da haben wir aber gegenteilige Erfahrungen gemacht«, brummte Kmermil. »Und du solltest das eigentlich auch wissen, denn sonst wärst du ja nicht in einer solch mißlichen Lage.« »Ich lasse mich nicht umstimmen, also kümmert euch einstweilen nicht um mich, sondern um die Vulnurer.« »Sie hat einfach abgeschaltet«, ärgerte sich Fistir Jeukelot, ein muskulöser Mann, der sich mit Bravour geschlagen hatte, ohne zu verletzen oder gar zu töten. Seiner Ausbildung nach Ernährungsphysiologe, hatte er sich in zahllosen Experimenten und Selbstversuchen an die Leistungsgrenzen des menschlichen Organismusses herangetastet und nannte sich seitdem – manchmal belächelt – Überlebenstrainer. Getreu seiner Devise, daß ein Solaner von verdaulichen Resten und Produktionsabfällen, mithin also auch von Tieren und Pflanzen irgendwelcher Planeten leben konnte, wenn ihm nur bestimmte Stoffe zugeführt wurden, hatte er stets Elixiere und Kapseln dabei, die Vitamine, Mineral‐ und Vitalstoffe in konzentrierter Form enthielten. Zu Unrecht eilte ihm der Ruf voraus, ein Gesundheitsapostel zu sein. Jeukelot lebte durchaus nicht asketisch, aber er ließ kaum eine Gelegenheit aus, wenn es galt, den Körper zu stählen. Wenn es ihm in den Sinn kam, wählte er eine Kühlkammer als Domizil, schreckte aber auch nicht vor intensiver Kunstsonnenstrahlung zurück. Rein äußerlich das genaue Gegenteil war Rölen Andlex. Hager, zerbrechlich wirkend und blutleer, konnte man ihn für einen weltfremden Gelehrten halten, doch der Eindruck täuschte. Er war
ein Spezialist, der die Landungsgruppen ausbildete. Kein Klima war ihm fremd, keine Geländeformation unbekannt. Obwohl ein exzellenter Waffenkenner, war er ein überzeugte Anhänger und Verfechter der Gewaltlosigkeit. Spötter bezeichneten ihn gar als »Antikämpfer«, doch damit wurden sie ihm nicht gerecht. Andlex hatte immer das Wohl der Solaner vor Augen, gleichzeitig war ihm daran gelegen, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Den Vulnurern war nicht entgangen, daß Fremde aufgetaucht waren, die Seite an Seite mit ihnen gekämpft und nicht unwesentlich dazu beigetragen hatten, daß die Weißen das Weite gesucht hatten. Vier Insektoiden, von der doppelten Anzahl Automaten begleitet, näherten sich Bjo und seinen Begleitern. »Wir danken euch für eure tatkrätige Unterstützung. Der Sprache nach müßt ihr unsere solanischen Freunde sein.« Der Bekehrer bediente sich zur Verständigung eines Funkgeräts, er sprach Interkosmo. »Wir haben euer Raumschiff anmessen können, doch es war uns nicht möglich, mit euch Verbindung aufzunehmen, weil die Schiffsantennen immer wieder beschädigt werden, aber lassen wir das. Ich will euch nicht mit unseren Sorgen belästigen. Seid uns willkommen. Lichtquelle‐Jacta erwartet euch bereits.« »Sie ist also immer noch Oberpriesterin?« Breiskoll zeigte sich erfreut. »Ich brenne förmlich darauf, sie zu sehen. Sie ist eine gute alte Bekannte, an die ich mich immer wieder gern erinnere.« »Die Freude ist ganz auf unserer Seite«, versicherte der Vulnurer, der sie zur HEUTE führte. »Freunde wie ihr seid selten.« »Die Weißen zählen wohl nicht dazu?« erkundigte sich der Mutant vorsichtig. »Nein, ganz und gar nicht. Wir haben den Darmonen vertraut und sie für Bundesgenossen gehalten, aber sie haben sich verstellt und spielen uns seit der Vereisung übel mit. Ihr habt ja einen ihrer Überfälle miterlebt.« Die Worte des Insektoiden klangen bitter. »Mit jedem Tag werden sie dreister, und sie haben Erfolg, obwohl wir ihnen technisch weit überlegen sind.«
»Ist es wirklich so schlimm?« »Sie bereiten uns eine Niederlage nach der anderen, doch ich will Lichtquelle‐Jacta nicht vorgreifen. Sie wird euch sicherlich ausführlich informieren.« * Isolde Freteroid wäre es ein leichtes gewesen, ihren Häschern zu entkommen, denn die Taschen ihres Schutzanzuges enthielten genügend Material, das sich als Waffe benutzen ließ, doch dann hätte sie verletzen und töten müssen. Daran war ihr jedoch nicht gelegen. Zum einen lag das daran, daß sie – nunmehr ausgebildete Mikrobiologin – eine ehemalige Schülerin von Andlex war, zum anderen sah sie ihr Leben nicht unmittelbar bedroht, hinzu kam noch ein Schuß menschlicher Neugier. Von dreißig, vierzig Bewachern umringt, die sich erstaunlich sicher auf dem glatten Untergrund bewegten, marschierte sie durch ein Labyrinth von Eisgängen. Ob sie allein zurückfinden würde, bezweifelte sie und verließ sich da mehr auf die telepathischen Fähigkeiten des Katzers. Sie lauschte in sich hinein. Aufgeregt war sie schon, aber wirkliche Angst verspürte sie nicht. Die Fremden waren alles andere als stumm und unterhielten sich angeregt. Mittlerweile hatte ihr Translator genügend Elemente des unbekannten Idioms gespeichert, um wenigstens Brocken übersetzen zu können. »Eistempel«, »Sonnengötter«, »Opfer« und »Oberpriesterin« waren die am meisten gebrauchten Begriffe, die die Solanerin verstand, bei anderen schien es sich teilweise um Namen zu handeln. Die Frau warf einen schnellen Blick auf ihr Chronometer. Seit etwa zwanzig Minuten waren sie nun unterwegs. Unter Berücksichtigung der recht forschen Gangart mußten sie rund zwei Kilometer zurückgelegt haben, doch ob die Strecke mit der Entfernung zur
Höhle identisch war, vermochte sie nicht einmal abzuschätzen. Zu oft war die Richtung gewechselt worden. Es war ihr ein Rätsel, wie sich die Wesen in den unbeleuchteten Stollen zurechtfanden und orientierten. Man hatte ihr den an einem Haken befestigten Scheinwerfer nicht abgenommen. Hin und her pendelnd verbreitete er ein eher gespenstisches Licht, sein Kegel tanzte auf und ab, wurde von der glitzernden Röhre reflektiert und verlor sich zugleich in der Dunkelheit. Der scheinbar endlose Tunnel bekam eine neue Dimension. Ein heller Schein wurde sichtbar, der sich beim Näherkommen als die Flammen blakender Fackeln entpuppte. Sie knisterten und knackten, brodelten und zischten, wenn Schmelzwasser auf sie tropfte. Mit Pfeil und Bogen bewaffnete Wesen, die mit ihrer Umgebung nahezu verschmolzen, bewachten den Gang. Offensichtlich näherten sie sich einem Bereich, der für die Weißen einen hohen Stellenwert haben mußte. Nun wurde es Isolde Freteroid doch ein wenig mulmig. Mit einer unverfänglichen Handbewegung aktivierte sie das Helmfunkgerät wieder. Eine Halle tat sich vor ihr auf. Meterdicke, plump wirkende Eissäulen stützten das Gewölbe ab. Merkwürdige Zeichen und Figuren, die eingefärbt waren, bedeckten Wände und Stelen. Die grellbunten Reliefs erschienen im flackernden Licht seltsam existent, fast lebendig. Grinsende Fratzen und maskenhaft starre Gesichter mustern sie, Götzenbilder, exotisch und unheimlich. In einer Schale auf einem großen Eisblock flackerte ein mühsam in Gang gehaltenes Feuer. Der Himmel mochte wissen, woher das Brennmaterial kam. Auch der an einen Altar erinnernde Würfel war geschmückt und reich verziert. Drei Gestalten kauerten davor. Ihre Körper waren von Umhängen verdeckt, auf denen phosphoreszierend drei Sonnen leuchteten. Sie trugen prächtige Masken und hielten Stöcke umklammert, die irgend etwas zu symbolisieren schienen. »Bjo, hörst du mich?« raunte die Mikrobiologin.
»Sogar ausgezeichnet. Bist du in Ordnung?« »Ja.« Mit wenigen Worten schilderte sie ihre bisherigen Eindrücke und die Umgebung. »Ich werde weiter berichten.« »Gut, aber sei vernünftig. Keine Heldentaten.« »Ich paß schon auf mich auf. Bleib auf Empfang, ich …« Sie wollte noch etwas sagen, als einer der Bekleideten zu reden begann. »Ihr bringt einen ungewöhnlichen Gefangenen«, übersetzte der Translator. »Wo habt ihr dieses Wesen aufgegriffen?« »Dieser und noch vier weitere Fremde tauchten plötzlich aus dem Eis auf und halfen den Vulnurern.« Der Anführer des Trupps wirkte auf einmal ziemlich unterwürfig. »Wir wollten alle gefangennehmen, doch es gelang uns nicht. Diese Zweibeiner besitzen gefährliche Waffen und sind weit bessere Kämpfer als die schwächlichen Dummköpfe in den fliegenden Dörfern. Es wird schwierig sein, sie zu überlisten und herzuschaffen.« »Um so mehr wird Dersf, Flit und Terat dieses Opfer gefallen. Sie werden ihre Freude daran haben und uns gewogen sein, denn eine solche Gabe erhielten sie noch niemals zuvor. Alle Darmonen sind stolz auf euch und eure mutige Tat, für die euch die Sonnengötter belohnen werden.« »Wir danken dir, weiser Mahrt. Mögen dir die Götter gewogen bleiben.« »Ihr könnt euch jetzt zurückziehen. Die Priester werden die Bewachung des Gefangenen übernehmen, bis er geopfert wird.« Der Solanerin fuhr der Schreck in alle Glieder, als ihr bewußt wurde, daß sie irgendwelchen Gottheiten geopfert werden sollte. Im ersten Augenblick beherrschte sie nur der Gedanke an Flucht, doch dann gewann ihr Verstand wieder die Oberhand. Ihr Leben war nicht unmittelbar bedroht, zudem verfügte sie noch über ihre Ausrüstung und konnte per Funk jederzeit Hilfe herbeirufen. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, daß sich ihre Entführer entfernten. Dafür kamen drei andere Weiße, und auch die
Maskierten näherten sich ihr. Der Mahrt genannte Darmone umrundete sie mehrmals und berührte sie dabei mit seinem Stab. »Das ist keine Haut, sondern eine ähnliche Kleidung, wie sie unsere Gegner tragen, also müssen sie auch die Wärme lieben. Damit sind sie Feinde wie die Vulnurer – nicht nur unsere Feinde, sondern auch die der drei Sonnengötter. Sie müssen sterben – alle. Die Ehre der Götter verlangt es.« »Warum willst du mich und meine Gefährten töten?« fragte Isolde Freteroid einigermaßen gefaßt. Heimlich hatte sie den Außenlautsprecher eingeschaltet. »Wir sind euch noch nie zuvor begegnet, und dennoch haßt ihr uns. Warum?« Überrascht wichen die Eisbewohner zurück. Sechs Paar Stielaugen musterten die Frau eingehender als zuvor. »Du sprichst unsere Sprache«, stellte Mahrt fest. »Wie du siehst. Oder besser gesagt hörst. Wunderst du dich darüber?« »Eigentlich nicht. Auch die Vulnurer verstehen und reden mit uns. Seid ihr deren Freunde?« »Macht es einen Unterschied, ob ich mit ja oder nein antworte?« »Die Vulnurer sind unsere Feinde«, lautete die ausweichende Antwort. Die Solanerin merkte, daß sie es mit einem gerissenen Fuchs zu tun hatte. Sie bemühte sich, nichts falsch zu machen, doch es fehlte ihr die praktische Erfahrung im Umgang mit fremden Rassen, die noch nie Kontakt zu Menschen gehabt hatten. Theoretisch und anhand von Aufzeichnungen war sie auf derartige Begegnungen vorbereitet worden, aber es war eben ein gravierender Unterschied, ob ein solches Zusammentreffen im bequemen Sessel auf dem Bildschirm und in der Sicherheit der SOL stattfand oder ob man sich in der Gewalt Primitiver befand, die den Betreffenden ins Jenseits befördern wollten. Ein Mann wie Atlan, dem in dieser Hinsicht fast nichts mehr fremd war, hätte es sicherlich anders angefangen. Isolde versuchte, nur mit Fakten zu überzeugen. Das war zwar redlich,
aber naiv, wie sich gleich herausstellen sollte. »Die Götter, die ihr verehrt, existieren nicht. Es sind Sonnen, Sterne, riesige Gasbälle. Zwar können sie Licht und Wärme spenden, aber es sind keine Wesen, sie haben keine Macht. Euer Leben und euer Schicksal wird nicht durch sie bestimmt, denn sie haben keinen Einfluß auf dein Volk. In dieser Hinsicht sind sie wie Eissäulen hier – sie können auch weder strafen noch helfen, und sie können es nicht wahrnehmen, ob ihr sie verachtet oder mögt.« Die bekleideten Darmonen gaben einen dumpfen Laut von sich. Da er kaum als Zustimmung gedeutet werden konnte, setzte die Mikrobiologin schnell hinzu: »Ich kann es euch beweisen. Bringt mich zu meinen Freunden zurück. Wir werden mit unserem Raumschiff starten, damit ihr die Sonnen aus der Nähe sehen könnt. Ihr werdet erkennen, daß es ganz gewöhnliche Himmelskörper sind und keine Götter.« »Du lügst!« schleuderte Mahrt entgegen. »Niemals zuvor sind die Sonnengötter so tief beleidigt und entehrt worden. Du bist noch schlechter als die Vulnurer. Sie haben Dersf, Flit und Terat wenigstens gehuldigt, weil sie sie in ihrer Verblendung für die von ihnen gesuchte Lichtquelle gehalten haben, aber du bist so vermessen, die allmächtigen Götter mit Eis zu vergleichen.« Die Weißhäutigen waren erregt. Wie eigenständige Lebewesen schnellten die Stielaugen vor und wurden ruckartig wieder in die Schädelöffnungen zurückgezogen. »Du und dein Volk, ihr seid wie die Vulnurer Geschöpfe des Bösen, dazu verdammt, in der Hitze leben zu müssen. Wärme ist die Strafe der Götter, denn nur wer ihnen folgt, sie fürchtet und durch Opfer besänftigt, wird von ihnen mit Kälte belohnt. Alle, die so sind wie du, werden für deinen Frevel büßen – ihr habt euer Leben verwirkt.« Isolde Freteroid erkannte, daß sie es falsch angefaßt hatte. Sie versuchte, ihren Fehler durch scheinbare Kaltschnäuzigkeit wiedergutzumachen.
»War es nicht ohnehin beschlossene Sache, mich zu töten?« »Natürlich, doch nun wirst du viele Tode sterben. Der Hohe Rat wird darüber entscheiden, wann du geopfert wirst.« »Werde ich dem Hohen Rat vorgeführt?« »Nein, das ist nicht mehr nötig, denn du stehst bereits vor ihm. Rifst, Tuell und ich sind die drei Oberpriester, aus denen sich dieses höchste Gremium zusammensetzt.« Mahrt wandte sich an die drei anderen. »Führt ihn ab – und seid wachsam. Die Sonnengötter werden euch verfluchen, wenn ihr diesen Halunken entkommen laßt.« Widerstandslos ließ sich die Solanerin wegbringen. Da sie noch immer über ihre Ausrüstung verfügte, fühlte sie sich nicht ernsthaft gefährdet, zumal ihr Bjo und die anderen Gefährten jederzeit zu Hilfe eilen konnten. Immerhin hatte sie einiges erfahren, was von Belang war und die Motive der Darmonen für den Überfall und die Entführung geklärt. Sie setzte sich wieder mit Breiskoll in Verbindung. Der Mutant hatte das meiste über das eingeschaltete Funkgerät mitbekommen, dennoch konnte die junge Frau noch mit interessanten Details und Beobachtungen aufwarten. »Ich glaube, wir wissen inzwischen genug über die Eingeborenen, um uns ein Bild von ihnen zu machen und ihre Handlungsweise beurteilen zu können.« Die Stimme des Katzers klang besorgt. »Ich denke, es ist an der Zeit, daß wir dich aus der Gewalt der Planetarier befreien, bevor sie versuchen, ihre Drohung in die Tat umzusetzen.« »Dazu ist es noch zu früh. Bestimmt kann ich noch einige Erkenntnisse gewinnen, die für uns nützlich sind. Noch ist mein Leben nicht unmittelbar bedroht.« »Isolde, ich bin für deine Sicherheit verantwortlich. Du gehst ein Risiko ein, das nicht kalkulierbar ist.« »Bjo, ich bin alt genug, um selbst entscheiden zu können, was richtig ist, also werde ich ausharren und abwarten. Wenn es mir wirklich an den Kragen gehen sollte, werde ich mich zu wehren wissen und euch rufen. Abgemacht?«
»Mädchen, dich scheint der Teufel zu reiten. Warum begibst du dich in diese Gefahr? Ist es ein übersteigertes Selbstbewußtsein, Geltungssucht oder Abenteuerlust, die dich dazu treibt?« »Das hat Wajsto mich auch gefragt, doch mein Psychogramm ist weitaus vieldeutiger.« »Welcher Wajsto?« »Wajsto Kölsch. Er war für einige Wochen mein Gefährte, doch dann haben wir uns in aller Freundschaft getrennt, weil wir erkannten, daß wir nicht zueinander paßten. Ob es eine Gegensätzlichkeit der Charaktere war oder wir uns zu ähnlich waren, muß dahingestellt bleiben, denn wir haben keinen Psychoanalytiker bemüht. Tatsache ist, daß wir beide entscheidungsfreudig sind.« »Ich verstehe. Paß auf dich auf!« Ganz bewußt enthielt sich der Telepath jeglichen Kommentars. Innerlich verwünschte er seine Entscheidung, Isolde Freteroid mitgenommen zu haben. Tausende von Leuten hatten zur Wahl gestanden, doch ausgerechnet die eigensinnige ehemalige Freundin eines Stabsspezialisten war es, für die er sich entschieden hatte. Nun ließ sich daran nichts mehr ändern. * Nach der herzlichen Begrüßung, die angesichts der Umstände trotz aller Wiedersehensfreude relativ kurz ausfiel, kam Jacta gleich zur Sache. Sie wirkte ebenso wie die Priesterinnen und ihre Berater niedergeschlagen, fast mutlos. Von Zuversicht keine Spur. Die Oberpriesterin umriß die Probleme, wartete aber auch mit Einzelheiten auf, so daß dem Katzer und seinen Begleitern das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich wurde. Ohne fremde Hilfe war das Schicksal der Vulnurer besiegelt, der Zusammenbruch ließ sich nicht mehr abwenden. Es war nur noch eine Frage der Zeit,
wann die Darmonen endgültig über das Weltraumvolk triumphieren würden. Die Eingeborenen wurden immer dreister, die Entführungen häuften sich, und es verging kaum ein Tag, an dem nicht Sabotageakte verübt wurden. Wirkliche Instandsetzungsarbeiten konnten kaum noch durchgeführt werden, weil schon wieder Reparaturen an den reparierten Anlagen fällig wurden, die durch die Anschläge der Planetarier erneut beschädigt worden waren. Das Bild, das Lichtquelle‐Jacta da skizzierte, war mehr als düster. Daß sie nicht übertrieb und die Darmonen realistisch schilderte, bewies die miterlebte Geiselnahme und der Bericht von Isolde Freteroid. Sicherlich konnte man den Weißen aus ihrem Verhalten keinen Vorwurf machen, doch es schmerzte den Mutanten, daß die Bekehrer keine Hoffnung mehr hatten. Sie schienen fast am Ende und kurz davor zu sein, aufzugeben. Ohne lange zu zögern, informierte er die SZ‐2. Spontan sagte Solania jegliche Unterstützung zu und beauftragte Jessica Urlot, kurzfristig entsprechende Pläne auszuarbeiten. Die versierte Cheftechnikerin bewältigte die Aufgabenstellung in kürzester Zeit. Gemäß ihren Vorstellungen flog die SOL‐Zelle den Planeten an und setzte ihr technisches Arsenal ein. Das Eis wurde weggeschmolzen und verdampfte, wenig später waren die Heimatschiffe der Insektoiden von dem frostigen Panzer befreit. Vorher ausgeschleuste Beiboote errichteten gemeinsam ein riesiges Schirmfeld, das die nähere Umgebung vor einer erneuten Vereisung schützte. Die Vulnurer konnten sich vor Freude kaum fassen, sie waren schier aus dem Häuschen. Selbst die Führung der Insektoiden war überwältigt. Die Solaner, allen voran Breiskoll, konnten sich vor Dankesbezeigungen kaum retten. Bjo wurde das langsam peinlich, und er versuchte, die Tat als selbstverständlichen Freundschaftsdienst hinzustellen – was sie ja auch war – doch die Bekehrer überhörten es geflissentlich und wurden nicht müde, den
selbstlosen Einsatz zu preisen. Optimismus machte sich breit und neuer Lebenswille. Die widrigen Umstände waren plötzlich Vergangenheit, die falsche Lichtquelle kein Thema mehr. Es herrschte Aufbruchstimmung. Vergessen konnte man die zahlreichen Opfer nicht, aber die toleranten Vulnurer verziehen den Darmonen ihre Taten. Während bei den Bekehrern eitel Freude herrschte, brach bei den Planetenbewohnern der Katzenjammer aus. Bei ihnen entstand der Eindruck, daß die erst vor kurzem begonnene Kälteperiode sich bereits wieder ihrem Ende näherte. Späher der Planetarier hatten zwar den Einsatz der SZ‐2 und ihrer Untereinheiten beobachtet, jedoch das Prinzip von Ursache und Wirkung nicht durchschaut. Von Entsetzen erfüllt, eilten sie zurück, um ihrem Anführer und den Oberpriestern zu berichten, daß das Eis schmolz. 7. Von den Darmonen, die die Solanerin entführt hatten, hatte Terle von dem exotischen Gefangenen gehört, und als auch sein Sohn davon erzählte, konnte er seine Neugier nicht mehr bezähmen. In Begleitung von Rifst suchte er Mahrt auf und bat ihn, den Fremden sehen zu dürfen; man hielt Isolde Freteroid aller weiblichen Reize zum Trotz für ein männliches Exemplar ihrer Art. Der Oberpriester zeigte sich durchaus nicht abgeneigt. Obwohl es nicht sein Verdienst war, sonnte er sich in dem Ruhm, den Göttern ein solches Opfer präsentieren zu können. Die kleine Gruppe, bestehend aus Mahrt, Rifst, Tuell und Terle wollte gerade aufbrechen, als zwei Kundschafter eintrafen. Noch ganz unter dem Eindruck des Geschehens und von Panik erfüllt, berichteten sie davon, daß der Tauprozeß eingesetzt hatte. Das war ein Vorgang, der keine andere Deutung zuließ, als daß die Eiszeit
durch eine neue Wärmephase abgelöst wurde. Den vier Planetariern fuhr der Schreck in alle Glieder. »Ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen?« erkundigte sich Mahrt geschockt. »Ja. Wie ich bereits sagte, sind die fliegenden Dörfer unserer Feinde nicht mehr im Eis eingeschlossen.« »Vielleicht war es ein Fehler, die Vulnurer zu opfern«, stammelte Terle. »Bestimmt mögen die Sonnengötter keine Fremden und nun strafen sie uns dafür.« »Unsinn, was verstehst du schon vom Willen der Götter?« herrschte der älteste Oberpriester den Führer der Darmonen an. »Geh zurück zu den Leuten und bringe sie tiefer im Eis in Sicherheit, wir kümmern uns um die Gefangenen.« Begleitet von den Beobachtern trollte sich Terle. Mahrt wartete, bis sie verschwunden waren, dann holte er eine Waffe vulnurischer Fertigung aus einem Versteck. »Kommt!« Widerspruchslos folgten ihm die beiden anderen zu der Höhle, in die man die Frau gesperrt hatte. »Holt die beiden Vulnurer aus ihrem Verlies und schickt ihre Wachen weg«, sagte Mahrt zu den drei Priestern. »Ihr paßt auf sie auf. Wartet auf dem Gang mit ihnen, bis wir kommen.« Wie Schemen huschten die Schüler davon. Ohne zu zögern, betrat Mahrt die Eiskammer. Die Mikrobiologin lehnte an der Rückwand, die Hände in den Taschen vergraben. Als ihre Wächter verschwanden, ahnte die Frau nichts Gutes. Ihre Finger umkrallten Blendkapseln, die mit einem Daumendruck scharfgemacht wurden und dann in drei Sekunden nahezu lautlos einen grellen Lichtblitz erzeugten. Jedes optisch orientierte Lebewesen wurde dadurch außer Gefecht gesetzt und konnte für einige Minuten nichts wahrnehmen, war also gewissermaßen erblindet, ohne jedoch wirkliche Schäden davonzutragen. Nur ein Solaner hätte erkennen können, daß die Frau blaß wurde.
Sie hatte das Ding, das der Darmone in seinem Greiforgan hielt und auf sie gerichtet hatte, sofort als Strahler vulnurischen Ursprungs identifiziert. Nun wurde ihr doch mulmig, und plötzlich fürchtete sie um ihr Leben. »Leg deinen Umhang ab!« »Bjo, du mußt mich retten!« schrie sie in das Mikrophon des Helmfunkgeräts. »Sie bedrohen mich mit einem Strahler. Hörst du, Bjo?« »Verstanden. Bin schon unterwegs.« »Du mußt dich beeilen. Meine Ausrüstung nutzt mir nichts, ich muß den Schutzanzug ausziehen. Mach schnell – ich flehe dich an!« Drohend hob der Oberpriester die Waffe. Isolde Freteroid wagte es nicht mehr, noch mehr zu sagen. Aller Mut hatte sie verlassen, ihr übersteigertes Selbstbewußtsein schlug um in erbärmliche Angst. Kein Gedanke mehr daran, sich zu verteidigen oder einen Ausbruch zu versuchen. Wie heiße Kartoffeln ließ sie die Blendkapseln los und machte sich mit zitternden Händen an den Verschlüssen ihrer Kombination zu schaffen. Aufgeregt, wie sie war, nestelte sie wie ein Anfänger daran herum. »Mach schneller, sonst stirbst du hier!« Die Einschüchterung verfehlte zwar ihre moralische Wirkung nicht, doch die junge Frau wurde nur noch nervöser. Für sie bestand kein Zweifel daran, daß sie wie angekündigt den Opfertod sterben sollte. Mit allen Fasern ihres Herzens sehnte sie den Katzer herbei. Sie wußte, daß jede Minute Zeitaufschub ihre Aussicht steigerte, gerettet zu werden, gleichzeitig schreckte sie die Ankündigung, sie auf der Stelle zu töten. Die Furcht blieb Sieger. So schnell sie konnte, schlüpfte sie aus der raumfesten Schutzkleidung und streifte sie ab. Damit begab sie sich nicht nur völlig in die Hand der Eingeborenen, sondern lieferte sich auch der Kälte aus. Die Unterwäsche in Form eines Trikots besaß eine Menge guter Eigenschaften, war nicht brennbar und feuerhemmend, wirkte isolierend, ohne die Transpiration und die
Körperatmung zu hemmen oder einen Saunaeffekt hervorzurufen, aber ein Thermoanzug war es eben nicht. Man hatte die Veredelung des Gewebes schließlich nicht unter dem Aspekt vorgenommen, daß es die Alternative zu einem mit Klimaanlage versehenen Raumanzug war. Nur die Füße steckten noch in den wärmenden Stiefeln. Die Solanerin merkte, daß sich die Haut von Händen und Gesicht zusammenzog und spannte. Ihres Translators beraubt, war eine Verständigung nicht mehr möglich. Die Geste des Darmonen war eindeutig. Isolde Freteroid hatte weiche Knie. Mehr stolpernd als gehend bewegte sie sich durch den düsteren Stollen. Rußende, stinkende Lämpchen – Tonschalen, die mit Öl oder Talg gefüllt waren – verbreiteten spärliches Licht, das allenfalls Umrisse erkennen ließ. Sie trafen auf die Priester und die gekidnappten Vulnurer. Ein wenig Hoffnung keimte in der Solanerin auf. »Versteht ihr mich?« Helles Zirpen war die Antwort, demnach sprachen sie kein Interkosmo. Niedergeschlagen setzte sie den Weg fort. Ihre kreatürliche Angst machte sich in einem geistigen Aufschrei Luft. »Bjo, hilf mir!« * Während sich die Solaner um die Vulnurer kümmerten, hatte der Mutant mit der Space‐Jet die Verfolgung aufgenommen. Bei dieser geringen Distanz hatte er keine Mühe, die Frau telepathisch aufzuspüren, zumal die Furcht ihre Impulse verstärkte. Er esperte auch die Gedanken der verschleppten Bekehrer und die der sie begleitenden Darmonen, doch einstweilen konzentrierte er sich auf Isolde und die Steuerung. Wie ein feuerspeiendes Ungeheuer fraß sich der Flugkörper durch
die gefrorene Materie. Selbst unter diesen mißlichen Bedingungen entwickelte das solanische Produkt eine enorme Geschwindigkeit. Schon wenige Minuten nach dem Start hatte Breiskoll die Eingeborenen und ihre Opfer überholt. Da er ihren Standort recht genau lokalisieren konnte, ließ er das Beiboot absinken, bis es die Ebene erreichte, auf der sich der Trupp bewegte. Daß sie diese Stelle passieren würden, hatte er mittels seiner besonderen Fähigkeiten herausgefunden. Routiniert nahm er die nötigen Schaltungen vor und schleuste sich aus. Auf den Thermostrahler hatte er verzichtet, nicht jedoch auf ein Aggregat, das einen Individualschirm errichten konnte. Er aktivierte es, als er draußen stand. Die gestaffelten Schutzschirme der Space‐Jet verhinderten, daß Wasser und Eis das Beiboot einschlossen. Zwei Außenscheinwerfer erleuchteten das künstlich geschaffene Rund taghell. Eine Strukturlücke ermöglichte es, in das Innere des Energiefelds zu gelangen. Bjo brauchte nicht lange zu warten, dann tauchte die Gruppe mit Tuell an der Spitze auf. Überrascht und verunsichert zugleich blieb er stehen. Deutlich empfing der Katzer seine Gedanken und die der anderen Darmonen – und natürlich die von Isolde und den Vulnurern. Die einsame, in strahlendes Licht getauchte Gestalt vor dem Raumschiff war unübersehbar. Die Solanerin stieß einen Freudenschrei aus und wollte zu ihrem Retter laufen, um ihn zu umarmen, doch Breiskoll hielt sie zurück. »Mach keine Dummheiten und bleib, wo du bist!« warnte er. »Mahrt ist entschlossen, dich eher zu töten, als dich entkommen zu lassen.« Ernüchtert blieb sie stehen. Der älteste Oberpriester drängte sich an ihr vorbei nach vorn. Nicht Furcht beherrschte ihn, wie der Mutant ein wenig verwundert feststellte, sondern eine Mischung aus Wut und Freude. Er ärgerte sich über die Überrumpelung durch
den Fremden, gleichzeitig sah er in ihm ein weiteres Opfer für die aufgebrachten Sonnengötter. Die Sprachgrundlagen für das Idiom der Planetarier hatten die Insektoiden geliefert. Der Telepath hatte seinen Translator damit gefüttert und koppelte ihn nun mit dem Helmlautsprecher. »Dein Vorhaben wird dir nicht gelingen, Mahrt. Du kannst mich weder überwältigen noch umbringen. Und ich bin auch kein Opfer für eure Sonnengötter.« Der Darmone gab einen erstickten Laut von sich, er war völlig perplex. Seine Stielaugen zuckten unkontrolliert vor und zurück. »Wer bist du, daß du meinen Namen und meine Gedanken kennst?« »Ich könnte mich für einen Boten der Sonnengötter ausgeben, aber das entspräche nicht der Wahrheit. Ich bin ein Lebewesen wie du auch und kein Abgesandter unbegreiflicher Mächte.« Der Oberpriester befand sich in einem inneren Zwiespalt. Gar zu gerne hätte er auf den Fremden geschossen, um herauszufinden, ob er tatsächlich unverwundbar war, aber ihm fehlte die Courage dazu, weil es ihm unheimlich war, daß jemand das aussprach, was er dachte. Daß der Unbekannte gewußt hatte, welchen Weg sie nehmen würden, ihnen aufgelauert hatte und offensichtlich auch noch das Eis beherrschte, verwirrte ihn noch mehr. »Warum benutzt du die Waffe nicht, Mahrt? Du möchtest es doch.« »Du wirst uns töten, wenn ich es wagen sollte«, jammerte der Darmone. »Dir und deinen Begleitern wird kein Leid geschehen, also versuche es. Es ist mein Wille, daß du es tust!« Der Oberpriester richtete widerwillig den Strahler auf den Katzer und löste ihn aus. Mühelos wurde der Individualschirm mit der Strahlenbelastung fertig. Entsetzt schleuderte der Eingeborene die Waffe von sich. Nun war die Biologin nicht mehr zu halten. Freudestrahlend
stürmte sie auf Bjo zu und wollte ihm um den Hals fallen, doch im letzten Augenblick fiel ihr ein, daß der körpereigene Schutzschirm des Mutanten das unmöglich machte. »Danke, Bjo. Deinen verdienten Kuß bekommst du später.« »Ich werde dich schon noch daran erinnern.« Er schmunzelte. »Aber du solltest jetzt lieber ins Schiff gehen und dir etwas Warmes anziehen.« Irritiert blickte sie an sich herunter – und errötete. »Oh, mein Gott«, hauchte sie und schloß hastig die Klettverschlüsse. »Sag bloß nicht, wie du mich gefunden hast, sonst werde ich zum Gespött aller Solaner.« Verschämt huschte sie zur Schleuse. Breiskoll wandte sich wieder den Darmonen zu. »Ihr habt gesehen, daß ihr meinen Worten glauben könnt. Ich weiß, daß ihr fürchtet, daß die Kälteperiode zu Ende geht, aber das stimmt nicht. Wir waren es, die das Eis zum Schmelzen brachten.« Er nahm den Kodegeber zur Hand und tastete einige Kombinationen ein. Ein Geschütz begann zu feuern und verdampfte das Eis auf einer Fläche, die so groß war wie ein Scheunentor. Eine einzige Salve war es, die ein gewaltiges Loch in dem planetenumspannenden Panzer geschaffen hatte. Wasser lief an den Wänden herab und gefror wieder. Die erste Reaktion der Oberpriester war Schrecken und der Gedanke an Flucht, dann gewann grenzenloses Staunen und schließlich Ehrfurcht die Oberhand. Der intelligente und gewitzte Mahrt gewann als erster die Erkenntnis, daß ein solch mächtiges Wesen wie der Fremde sogar in der Lage sein mußte, den Göttern zu trotzen, und er sprach es auch aus. Nun war es für Breiskoll kein Problem mehr, ihnen klarzumachen, was es mit den Sonnengöttern und den Klimawechseln auf sich hatte. So gut es ging, erklärte er ihnen die Zusammenhänge und zeigte auf, was sie falsch gemacht hatten. Mahrt, Rifst und Tuell verstanden sie nicht als die orosschen
Repräsentanten ihrer Götter, aber doch als Mittler zwischen ihnen und den Darmonen, als Wesen, die Dersf, Flit und Terat näherstanden als jeder andere. Die Tatsache, einem Irrglauben angehangen und ihn mit allen Mitteln gefördert zu haben, machte ihnen ziemlich zu schaffen. Sie vertrauten dem Telepathen, allerdings blieben Zweifel. Breiskoll akzeptierte das. Es war schwer, sich damit abzufinden, daß alles, was man getan hatte, plötzlich schlecht war, daß die Götter, denen man gehuldigt und geopfert hatte, auf einmal ihres Nimbus beraubt, nichts weiter waren als Himmelskörper, passiv, leblos und ohne Macht. Die Eingeborenen gelobten Einsicht. Sie wollten sich in Zukunft verstärkt darum bemühen, den naturgegebenen Lebensrhythmus verstehen zu lernen und ihre Religion eine andere Richtung zu geben. Das war nicht von heute auf morgen möglich, aber der Mutant schied in dem Bewußtsein, diesem Volk einen neuen Lebensinhalt gegeben und es auf den richtigen Weg gebracht zu haben. Die Erleichterung, ungeschoren davonzukommen, war unverkennbar. So fiel der Abschied fast freundschaftlich aus, als Breiskoll in Begleitung der beiden Vulnurer in der Space‐Jet verschwand und zur HEUTE zurückkehrte. * Nun, da die Darmonen keine Sabotageakte und Überfälle mehr verübten und die Heimatschiffe vom Eis befreit waren, schritten die Reparaturarbeiten rasch voran. Unter der Regie von Jessica Urlot waren zahllose Roboter und Solaner damit beschäftigt, die Schäden an der GESTERN, der HEUTE und der MORGEN zu beheben und sie wieder flugtauglich zu machen. Rund um die Uhr waren Spezialisten und Automaten im Einsatz. Erst jetzt fand Breiskoll die Zeit, sich mit Lichtquelle‐Jacta über das
eigentliche Ziel der Mission zu unterhalten, derentwegen die SZ‐2 auf die weite Reise geschickt worden war. Die Begegnung fand in den Privatgemächern der Oberpriesterin unter vier Augen statt. Solania, die an diesem Treffen ebenfalls teilnehmen wollte, mußte absagen, da sie in der Zentrale des Kugelraumers gebraucht wurde und nicht abkömmlich war. »Ich habe bereits angedeutet, daß wir nicht zufällig hier aufgetaucht sind.« Der Telepath nippte an dem Erfrischungsgetränk, das Jacta höchstpersönlich serviert hatte. »Tatsache ist, daß wir euch gesucht haben.« »Es muß einen sehr triftigen Grund dafür geben.« »Allerdings! Die Lichtquelle hat Sehnsucht nach euch.« Die Insektoide war sprachlos, sie saß da wie vom Donner gerührt. Fast eine Minute lang dauerte es, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte. Immer noch ganz durcheinander, redete sie im Idiom der Vulnurer auf Bjo ein, bis ihr aufging, daß ihr Gegenüber sie nicht verstand. Sie benutzte wieder Interkosmo. »Du meinst wirklich die Lichtquelle, die wahre Lichtquelle?« »Ja, wir haben sie gefunden – es war Atlan, um genau zu sein.« »Und ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen? Ich meine, seid ihr völlig sicher, daß es unsere Lichtquelle ist – die, die wir seit ewigen Zeiten verehren und vergeblich gesucht haben?« vergewisserte sich die Oberpriesterin. »So ist es.« In groben Zügen informierte er sie über das, was er wußte. Die Begegnung des Arkoniden mit der Lichtquelle in der Namenlosen Zone auf der Basis des Ersten Zählers schilderte er etwas ausführlicher und erwähnte auch Details, als es um das Zusammentreffen des Aktivatorträgers mit Daug‐Enn‐Daug ging, dem Emulator der Vulnurer. »Ich kann es nicht fassen«, stammelte Jacta. »Ausgerechnet ich soll mein Volk seiner Bestimmung zuführen – ich, die ich schuld daran bin, daß es so viele Opfer gab und der Untergang unabwendbar zu
sein schien? Womit habe ich eine solche Gunst verdient?« Breiskoll war taktvoll genug, zu schweigen. Die irisierenden Facettenaugen und die abrupten Fühlerbewegungen machten deutlich, wie aufgewühlt Lichtquelle‐Jacta innerlich war. Schließlich hielt es sie nicht mehr in ihrem Sessel. Sie stand auf und ging erregt auf und ab. Der Katzer konnte ihr nachfühlen, was seine Nachricht bedeutete. Unverdrossen hatten die Insektoiden am Glauben der Ahnen festgehalten, doch außer Niederlagen, Enttäuschungen und Mißerfolgen hatten sie nichts erreicht. Es hatte Auswüchse gegeben wie die Bekehrungsversuche, dennoch hatten sie ihr eigentliches Ziel nie aus den Augen verloren, dabei wußte niemand genau, ob sie nicht nur einem Phantom nachjagten. Und nun, da sie sich fast mit ihrem Ende abgefunden hatten, tauchte jemand auf und verkündete, daß die Lichtquelle an einer bestimmten und zugleich erreichbaren Stelle des Universums zu finden war. Selbst nüchterne Denker konnte das nicht kaltlassen. Jacta, Oberpriesterin und Mono in Personalunion, beendete ihre ruhelose Wanderung. »Mein Entschluß, diesen Ort aufzusuchen, steht unumstößlich fest. Könnt ihr uns die Koordinaten überspielen, Bjo?« »Selbstverständlich, Lichtquelle‐Jacta. Ich werde sofort die Anweisung dazu geben.« Der Telepath wollte sich erheben, doch die Insektoide drückte ihn mit ihren vier Greifzangen sanft in den Sitz zurück. »Bitte laß den Titel weg. Wir sind alte Freunde, und damit meine ich nicht nur dich, sondern alle Solaner. In der Vergangenheit und auch jetzt wieder habt ihr bewiesen, daß auf euch Verlaß ist. Ihr habt unser Vertrauen noch nie enttäuscht, und deshalb glaube ich dir jedes Wort, das du gesagt hast.« Ein Lächeln umspielte die Lippen des Katzers. »Auch wir hatten nie Zweifel an eurer Redlichkeit, und wenn es einer letzten Bestätigung bedurft hätte, sehe ich sie darin, daß du
deine Leibwächter weggeschickt hast.« »Sie hätten nur gestört.« Die Insektoide wirkte noch immer kribbelig. »Meine Berater glauben, daß wir in fünfzehn Stunden eurer Zeitrechnung wieder startklar sind. Ist das zutreffend?« »Unsere Experten teilen diese Überzeugung. Morgen um diese Zeit liegen Trio und Torkler schon weit hinter uns.« 8. Wie ein Greif, der die ersten Flugversuche seiner Jungen überwacht, schwebte die SZ‐2 über dem Eisplaneten. Zahlreiche Optiken und Instrumente waren auf die Heimatschiffe der Bekehrer gerichtet und beobachteten den Start. Langsam, fast schwerfällig, hoben die mächtigen Flugkörper ab und strebten dem freien Raum entgegen, dann wurden die Triebwerke auf Schub geschaltet. Auf Feuerlanzen reitend und stark beschleunigend, rasten die Raumer davon – Kurs Bars. In den Positroniken der HEUTE und ihrer Schwesternschiffe waren die Koordinaten dieser Galaxis und des Junk‐Systems gespeichert worden, nachdem sie zuvor auf vulnurerischen Standard umgerechnet worden waren. Da der solanische Raumer eine höhere Geschwindigkeit entwickelte, war vereinbart worden, daß das Kugelschiff vorausflog. An Bord der SOL‐Zelle 2 sah man durchweg zufriedene Gesichter. Die Beiboote, die das Manöver der drei Einheiten aus der Nähe mitverfolgt hatten und im Notfall eingreifen sollten, wurden eingeschleust. Nun hielt auch die Solaner nichts mehr in diesem Sektor. Sie setzten sich mit wachsendem Tempo ab, und kurz darauf verließ die SZ‐2 den Normalraum, um in einer übergeordneten Dimension den Abgrund zwischen den Sterneninseln zu überwinden. Man richtete sich auf einen ruhigen Flug ein. Die Verantwortlichen
waren sich darin einig, daß die Besatzung nach den Anstrengungen und der Hektik der letzten Tage eine Pause verdient hatte. Vor allem die Cheftechnikerin der SOL hatte sich fast völlig verausgabt, denn sie hatte nicht nur die Koordination der Instandsetzungen an den Heimatschiffen übernommen, sondern mußte sich auch um die Maschinerie der SZ‐2 kümmern, damit die Rückreise ohne Pannen verlief. Auch bei einer noch so hochentwickelten Technik zeigten sich bei derartig gewaltigen Distanzen Ermüdungserscheinungen des Materials, die Wartungsintervalle wurden kürzer. Obwohl sie derzeit nahezu überflüssig waren, hielten sich Solania von Terra und Bjo Breiskoll noch in der Zentrale auf. Sie beobachteten das Treiben um sich herum und unterhielten sich über die Ereignisse der vergangenen Woche. »Es war wirklich ein ungewöhnlicher Glücksfall, daß wir die Vulnurer so schnell gefunden haben.« Die damenhaft wirkende Frau lächelte versonnen. »Ab und zu scheint das Schicksal es auch mit uns gut zu meinen.« »Vor allem sind wir im richtigem Augenblick gekommen«, sagte der Katzer. »Die Darmonen haben unseren Freunden arg zugesetzt.« »Daran erkennst du wieder einmal, daß sich die Natur und ihre Lebensformen selbst fortschrittlicher Technik gegenüber durchzusetzen vermögen«, philosophierte die Solanerin. »Ich glaube, das vergessen wir manchmal.« »Mag sein, aber die Zeiten, da Menschen ihre Umwelt vergewaltigen wollten, sind lange vorbei. Ich habe mich mal ausführlich darüber mit Atlan unterhalten – unsere Vorfahren waren da manchmal alles andere als zimperlich.« »Meinst du die Terraner?« »Ja.« »Ob es sie überhaupt noch gibt?« »Warum sollten sie untergegangen sein?« »Es war nur ein Gedanke, nichts weiter.« Sie wechselte das Thema. »Breckcrown wird über unseren Erfolg bestimmt überrascht sein.«
Solania setzte eine Verschwörermiene auf. »Eigentlich hätten wir eine Belohnung verdient, meinst du nicht auch?« »Doch.« Der Telepath stand auf. »Du hast mich gerade an etwas erinnert.« »Darf ich wissen, an was?« »Ich will meine Belohnung abholen. Isolde hat mir für ihre Rettung einen Kuß versprochen.« * Am 13.7.3808 um 12.13.48 Uhr bekam die SZ‐2 Sichtkontakt mit der Rest‐SOL. Schon vorher war Hayes in einem kurzen Hyperfunkgespräch darüber informiert worden, daß die Mission erfolgreich verlaufen war und die Vulnurer auf dem Weg hierher waren. Der High Sideryt hatte diese Nachricht sichtlich erfreut aufgenommen und das Team um Solania und Bjo zu seinem Erfolg beglückwünscht. Noch vor dem Ankoppelungsmanöver wechselten die Kommandanten des Kugelraumers per Transmitter zur Zentrale im Mittelteil der SOL über, um Breckcrown und den anderen Stabsspezialisten ein wenig ausführlicher zu berichten, was sich getan hatte. Alle waren mit dem Verlauf des Fluges und vor allem mit dem Ergebnis mehr als zufrieden, zumal es keine Opfer zu beklagen gab. »Und was hat sich während unserer dreiwöchigen Abwesenheit hier getan?« wollte der Katzer wissen. »Die von Wajsto geleitete Expedition zur Unterstützung Atlans passierte wie geplant den Nabel, aber dann wurde er undurchdringlich. Offensichtlich wurde eine Manipulation von der anderen Seite her vorgenommen, also von der Namenlosen Zone aus. Wir sorgen uns natürlich um alle, die sich dort aufhalten, denn seit der Nabel geschlossen ist, haben wir kein Lebenszeichen mehr
erhalten.« Breckcrown trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne. »Diese tatenlose Warterei zerrt an den Nerven, und die Ungewißheit über das Schicksal Atlans und der Freiwilligen ist auch nicht dazu angetan, beruhigend zu wirken.« Lyta Kunduran kehrte an ihren Platz zurück. Sie hatte am letzten Teil des Gesprächs nicht teilgenommen, sondern sich mit SENECA beschäftigt und hochrechnen lassen, wann die Vulnurer eintreffen mußten und wo sie sich im Augenblick befanden – vorausgesetzt, daß es zu keinen Zwischenfällen gekommen war. Mit leiser Stimme gab sie das Ergebnis bekannt. »Sie haben die Randzone von Bars demnach also erreicht«, murmelte Hayes nachdenklich. »Ich schlage vor, daß wir einen Funkspruch absetzen und sie über den Zustand des Nabels informieren.« »Das wird ihnen nicht gefallen«, meinte Herts. »Uns gefällt es auch nicht, und dennoch können wir nichts dagegen tun.« Breckcrown lehnte sich zurück. »Warum sollen wir ihnen die Wahrheit verschweigen? Früher oder später werden sie sie trotzdem erfahren.« Da sich kein Widerspruch regte, verlangte der High Sideryt eine Hyperfunkverbindung zur HEUTE. Sie kam auch zustande, aber ganz anders, als sich der Solaner das gedacht hatte. Kaum, daß sich die SOL gemeldet hatte, drang es krachend und von Störungen überlagert aus den Lautsprechern: »… spricht … Jacta. Wir sind … eine Falle geraten. Es …« Nur noch Rauschen und Prasseln war zu hören. »Lichtquelle‐Jacta, was ist passiert?« rief Hayes in die Aufnahmeeinheit. »Melde dich!« »Der Kontakt ist abgerissen. Wir bekommen keine Verbindung mehr«, meldete der diensthabende Funker. Wieder drohte den Vulnurern Unheil. Wer oder was hatte sie abgefangen, wie groß war die Gefahr, in der sie schwebten? Ratlos blickten sich die Versammelten an.
ENDE Nach der Befreiung der Vulnurer, die einem verhängnisvollen Irrtum aufgesessen waren, blenden wir wieder um zur Namenlosen Zone. Die Hilfsexpedition für Atlan trifft ein – und der Arkonide selbst entdeckt die schlafenden Mächte … DIE SCHLAFENDEN MÄCHTE – unter diesen Titel hat Arndt Ellmer auch seinen Roman gestellt, der in einer Woche als Atlan‐Band 662 erscheint.