Hajo F. Breuer
Max Headroom Band 4
Die falsche Göttin
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11409 Erstveröffe...
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Hajo F. Breuer
Max Headroom Band 4
Die falsche Göttin
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11409 Erstveröffentlichung Copyright © 1988 Chrysalis Visual Programming Ltd. All rights reserved
Herausgeber: Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Printed in West Germany August 1989 Einbandgestaltung: Roberto Patelli Titelfoto: Chrysalis Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-404-11409-4
Fernsehreporter Edison Carter wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert: Die Frau, die er einst abgöttisch liebte, ist oberste Prophetin einer Telekirche, die mehr Geheimnisse zu verbergen hat, als einer Religionsgemeinschaft guttun. Und diese Frau ist skrupellos. Um ihre Ziele durchzusetzen, schreckt sie auch vor Entführung nicht zurück. Ausgerechnet auf Max Headroom, den ersten und einzigen elektronischen Fernsehmoderator der Welt, hat sie es abgesehen. Und sie bekommt ihn tatsächlich in ihre Gewalt, denn sie hat mächtige Verbündete im Sender 23…
1. Kapitel
Er war nicht mehr fortzudenken aus der unglaublich vielfältigen Medienlandschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Max Headroom, der erste vollelektronische Showstar und die erste echte künstliche Intelligenz. Max hatte keine Mutter, aber dafür zwei Väter. Der erste war Edison Carter, der populäre Action-Reporter beim weltweit operierenden Sender 23. Der zweite war Bryce Lynch, jugendliches Computergenie und Chef der Abteilung Forschung und Entwicklung beim Sender 23. Er hatte Carters Gedächtnisinhalt elektronisch aufgezeichnet, während der Reporter in einem tiefen Koma lag, und die Daten in ein wirklich einmaliges Programmgerüst gefüttert. Carter hatte den Unfall, der zu dem Koma geführt hatte – er war mit dem Kopf gegen eine Schranke mit der Aufschrift »Max Headroom 2.3 m« (maximale Durchfahrthöhe 2,30 m) geknallt – überlebt. Und so gab es ihn jetzt zweimal: Einmal als normalen Menschen. Und einmal als elektronische Version, die sämtliche Erinnerungen und Charakterzüge Carters besaß – und bald noch viel mehr. Das mit seinem Bewußtsein »gefütterte« Computer-Programm war eine wirkliche künstliche Intelligenz, die dachte, fühlte und sich weiterentwickelte. Und zwar in rasend schnellem Tempo, weil Max Headroom – so nannte sich das Wesen nach dem letzten Eindruck, den es von Edison Carter übernommen hatte – Zugang zu sämtlichen Datenbänken der Welt hatte. Max geisterte in ausgedehnten Streifzügen durch die Datennetze des Planeten. Oder er schaltete sich einfach auf den
Sender und somit ins Fernsehprogramm ein. Max war der größte Star der Gegenwart. Die Leute vergötterten ihn. Denn er brachte wenigstens ein bißchen Freude in eine ansonsten freudlose Welt, in der die Masse der Entrechteten, der Ausgestoßenen täglich wuchs. In der ElektronikDemokratie nach der Jahrtausendwende hatte sich das Fernsehen zum neuen Götzen aufgeschwungen, getreu dem Motto des seligen A. D. Schoepps: »Menschen, die fernsehen, rebellieren nicht.« Deshalb war es mittlerweile auch bei schwerster Strafandrohung verboten, Ausschaltknöpfe an den überall installierten Fernsehgeräten zu montieren. Die elektronische Berieselung erreichte jeden Menschen 24 Stunden täglich. Sie hatte einen gänzlich neuen Menschenschlag geschaffen: die Vidioten. Max Headrooms erfrischende, bissig-respektlose Auftritte waren aber eher die Ausnahme in einem Medium, dessen einziger Daseinszweck in der Erzielung hoher Einschaltquoten zu bestehen schien. Denn hohe Einschaltquoten bedeuteten hohe Werbeprofite. Und politische Macht.
Einmal mehr senkte sich der samtschwarze Mantel der Nacht über die smogverhangene Stadt, als wolle er das Elend der Millionen, die auf den Straßen hausten, gnädig verhüllen. Die Zeiten, in denen die großen Städte wahre Lichtermeere gewesen waren, gehörten längst der Vergangenheit an. Energie war teuer, es gab nicht mehr allzu viele Menschen, die sie bezahlen konnten. Die Hochhäuser der Fernsehsender waren natürlich hell erleuchtet, denn hier wurde das große Geld verdient. Die Fernsehbosse übertrumpften sich gegenseitig mit himmelstürmenden Neubauten, um Macht und Erfolg ihrer
Sender zu demonstrieren. Beherrschendes Gebäude der Stadt war der ganz in Schwarz gehaltene Tower von Sender 23, der sich 210 Stockwerke hoch in den Dunst reckte. Helle Lichter strahlten auch aus den Fenstern der Barclays Apartments. In diesem Wohnturm hatten die Menschen teure Unterkünfte gefunden, die es zu etwas gebracht hatten im Leben. Zu diesen Leuten gehörte auch der Fernsehreporter Edison Carter. Er war ein Star, und Stars wurden auch heute noch gut bezahlt. Dabei sah er eigentlich ganz anders aus als jemand, der in einem optischen Medium Erfolg haben konnte. Carter war ziemlich groß, schlank, beinahe hager. Sein Gesicht wirkte fast immer nachdenklich, über der schon reichlich hohen Stirn waren nur noch spärliche blonde Haare auszumachen. Carters kantiges Kinn trug nicht gerade dazu bei, ihn attraktiver zu machen. Aber die Menschen liebten ihn auch nicht wegen seines Äußeren. Sie waren seine Fans, weil er vielleicht der einzige noch unbestechliche Reporter des Planeten war. In seiner wöchentlichen Nachrichtenshow »Ich will alles wissen« deckte er gnadenlos die Skandale auf, die die Verantwortlichen lieber vor der Öffentlichkeit geheimgehalten hätten. Heutzutage konnte man selbst den Nachrichtensendungen schon lange nicht mehr trauen – da war eine verläßliche Informationsquelle wie Carters Show Gold wert. Allerdings wären wohl auch seine treuesten Fans reichlich schockiert gewesen, hätten sie den Reporter momentan sehen können. Er lümmelte auf seiner Bettkante, mit nichts angetan als einer Wolldecke um die Schultern, und verfolgte das Abendprogramm. Nach einem harten Arbeitstag in der Redaktion brauchte er dringend etwas Entspannung. Da waren Fernsehen und Kartoffelchips genau die richtige Medizin.
Im Sender 48 liefen gerade die Abendnachrichten. Ein junger, hübscher, adretter Sprecher verlas soeben die Ergebnisse des Endspiels der interkontinentalen RakeballMeisterschaft, die mal wieder an die Afghan Yankees ging. Kein Wunder, dachte Edison, die waren auch von der Natur bevorteilt. Die leichtesten Raker waren immer noch die besten. Dann verkündete ein zweiter, ebenso junger, hübscher und adretter Sprecher die internationalen Neuigkeiten: »Die heutige Plazierung von 60 Gebetssatelliten durch Infini-TV im Erdorbit hat Proteste von verschiedenen ökologischen Gruppen hervorgerufen. Die Naturfreunde behaupten, durch die mittlerweile 34000 Fernsehsatelliten im Erdorbit würden gesundheitsbedrohende Sonnenfinsternisse hervorgerufen. An der Atlantikküste kam es heute morgen zu schweren Krawallen.« Carter gähnte und schob sich noch eine Ladung Chips rein. Die Öko-Freaks hatten sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Der Bildschirm zeigte nun einen kleinen Mann mit Glatze, rundlichem Gesicht, Anzug und altmodischer Fliege: Willy Wasp, den Wetteronkel. »Und nun die Wettervorhersage für die nächsten drei Monate«, lächelte er. »Wir beginnen mit Afrika…« Edison Carter drückte auf seine Fernbedienung. Mal sehen, was es bei Sender 23 gab. Sein elektronisches Ebenbild starrte ihn von der Mattscheibe an. Max Headroom hatte zwar noch immer keine eigene Fernsehshow, aber er war mittlerweile der beliebteste Ansager der gesamten Medienlandschaft. Im Augenblick kündigte er die Serie an, die nach Carters Meinung die schlimmste im ganzen 23er-Programm war, eine kitschige Seifenoper über das »romantische« Leben der Unterschicht, nach dem Vorbild einer gräßlichen Uralt-Serie
namens »Buchenstraße«, »Pappelstraße« oder so ähnlich. Carter erinnerte sich nicht mehr genau. Da Max nichts anderes war als die elektronische Version seiner eigenen Persönlichkeit, mochte er die Serie, die er nun anzusagen hatte, genausowenig. Und das merkte man auch. »Als nächstes sehen Sie bei Sender 23 ›Die Armen und Bemitleidenswerten‹, hang, hang… unsere wöchentliche Reportage über ganz normale Mitbürger. Hehehe! Na ja…« Edison drückte die Fernbedienung und schaltete wahllos auf einen anderen Kanal. Er erwischte Sender 66, der gerade auch einen Serien-Dauerlutscher im Programm hatte: »Unter der Sonne Colorados«. Zwei der Hauptfiguren führten mal wieder eine neue Schlacht in ihrem nun schon 698 Folgen langen Ehekrieg. Der müde Reporter fand die Serie eigentlich ziemlich bescheuert – aber zum Entspannen nach einem anstrengenden Tag war sie gerade richtig. Die Dialoge strotzten nur so vor Geist. »Was bildest du dir ein? Wenn du ein richtiger Mann wärst, würdest du wissen, wie sehr ich dich verachte!« tönte die Darstellerin der Amanda mit aller Verachtung, zu der sie angesichts ihrer schwachen Schauspielkunst fähig war. Carter schob sich noch eine Ladung Kartoffelchips rein. »Was bildest du dir eigentlich ein?« kam die nicht minder geistvolle Erwiderung von Amandas schauspielerisch ebenso begabtem Serien-Ehemann Eric. Aus welchem Anlaß die Frau jetzt wütend wurde, war zwar nicht ganz klar, aber in jede Folge von »Unter der Sonne Colorados« gehörte einer von Amandas Wutausbrüchen, die beim Publikum so gut ankamen. Das hier war folglich ihr 698.: »Du Tier! Du elender, schmieriger Speiseölverkäufer! Du wirst mich nie wieder in dein Bett bekommen!«
Die nächsten Chips wollten Edison nicht mehr so recht schmecken, als die Serie unterbrochen wurde – aber nicht für die übliche Werbung. Vom Bildschirm lächelte nun eine blonde Frau Ende 30. Auf eine biedere, sehr bürgerliche Art war sie durchaus attraktiv. Sie trug das gelockte Haar nackenlang. Mit ihren grünen Augen blickte sie offen in die Kamera, ein vertrauenerweckendes Lächeln zierte ihr hübsches Gesicht. Bekleidet war sie mit einem schlichten Kleid in gedecktem, dezentem Rot mit einem hohen, kreisrunden Halsausschnitt. Alles in allem – die Frau strahlte Zuverlässigkeit, Besonnenheit, Mütterlichkeit aus. Eine durch und durch gewinnende Person. »Entschuldigen Sie, wenn ich ›Unter der Sonne Colorados‹ für einige Minuten unterbreche«, bat sie die Zuschauer. »Mein Name ist Harriet Garth. Ich bin die Kandidatin für die heutige Fernsehwahl.« Carter warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Tatsächlich, Mitternacht war schon vorüber! Das bedeutete, die nächsten Fernsehwahlen fanden schon heute statt. Genau um neun Uhr morgens. Für den Reporter war es keine Frage, daß einmal mehr Simon Peller, der Kandidat von Sender 23, das Rennen machen würde. Trotzdem gab sich Harriet Garth optimistisch: »Vergessen Sie nicht… Sie wählen mit Ihren Einschaltquoten. Also schalten Sie uns ein, damit es ein gutes Fernsehprogramm und einen glücklichen Wahlausgang gibt.« Carter konnte das Gelabere nicht mehr hören. Es war sowieso längst Zeit zum Schlafen. Er nahm seine »Fernsehdecke« und warf sie über das Gerät. Jetzt brauchte er das Bild nicht mehr zu sehen, und der so leise wie möglich eingestellte Ton kam nur noch gedämpft durch.
Im heutigen Zeitalter der Elektronik-Demokratie waren Ausschaltknöpfe am Fernsehapparat bei schwerer Strafandrohung verboten. Kein Bürger durfte sich dem Prozeß der freien Meinungsbildung via Fernsehen entziehen. Das wäre ein absolut undemokratisches und damit staatsfeindliches Verhalten gewesen. In Grunde genommen war auch Carters Decke über dem Empfänger verfassungswidrig. Aber wo kein Ankläger war, gab es auch keinen Richter. Und bei einem derart berühmten Reporter, der eine wahre Stütze der Gesellschaft war, drückte man auch schon einmal ein Auge zu. Trotz der Decke hörte Carter noch undeutlich Harriet Garths Worte: »Denken Sie immer daran… ich bin Ihre Kandidatin!«
Während der Reporter endlich einschlief, waren zwei Menschen im großen Vorstandssaal von Sender 23 hellwach, Direktor Edwards und seine neue Kollegin Lauren Sparks, die Julia Formby ersetzt hatte, hielten hier oben im 148. Stock die »Quotenwache«. Sender 23 war nicht zuletzt deshalb der größte in der Branche geworden, weil sein Direktorium die Einschaltquoten regelmäßig überwachte, um jederzeit reagieren zu können, falls sie einmal absackten. Edwards und Lauren hatten ebenfalls Sender 66 auf den großen Wandmonitor geschaltet, der über dem unteren Ende des jetzt beinahe leeren Vorstandstischs thronte. Von dem riesigen Bildschirm lächelte Harriet Garth fast noch gütiger in den abgedunkelten Saal: »Wählen Sie mich, in dem sie Sender 66 einschalten…den Kanal, auf dem »Unter der Sonne Colorados« läuft!« Die Politikerin verschwand vom Schirm und machte Platz für die Endlos-Serie. Amanda stand da wie eine Schaufensterpuppe und sagte mit aller Theatralik, zu der sie
fähig war: »Ich sagte dir doch, ich liebe ihn, Eric! Hast du das immer noch nicht begriffen?« Ihr Partner machte eine fahrige Bewegung. »Ich habe dir gesagt, du wirst ihn niemals wiedersehen! Hast du verstanden? Niemals!« »Aber warum, Eric? Warum tust du mir das an? Warum?!« Durch die dauernden Wiederholungen wurde der idiotische Text auch nicht besser, dachte Edwards. Er verstand nicht, wie es eine derart mies gemachte Serie auf solch hohe Einschaltquoten bringen konnte. Das Diagramm unter dem Fernsehbild zeigte deutlich, wie die Sehbeteiligung bei Sender 66 stieg und stieg. Langsam, aber unaufhörlich näherte sie sich den Werten von Sender 23. Damit waren diese beiden Kanäle allen anderen um Längen voraus. »Sender 66 holt uns mit seinen Einschaltquoten ein«, stellte Lauren sachlich fest. »Ich verstehe das nicht. Verglichen mit den Sendungen von Max und Edison ist ›Unter der Sonne Colorados‹ so etwas wie übler Mundgeruch!« Edwards musterte seine neue Vorstandskollegin mißtrauisch. Es hatte den glatzköpfigen Direktor Jahre anstrengendster Arbeit gekostet, in der Hierarchie von Sender 23 so hoch nach oben zu kriechen. Nach Formbys Weggang war es für Edwards eine Selbstverständlichkeit, zweiter Mann im Vorstand zu werden, direkt nach dem Vorsitzenden Ben Cheviot. Aber dann war Lauren nachgerückt. Im selben Alter wie Formby, blond wie sie. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten. Lauren trug ihre dauergewellten Haare in lauter kleinen Löckchen, die ihr kantiges Gesicht umrahmten und ihre herben, fast männlichen Züge ein wenig abmilderten. Nicht, daß die Frau unattraktiv gewesen wäre. Wer diesen Typ mochte, kam bei ihr voll auf seine Kosten.
Edwards störten zwei Dinge an Lauren: Erstens schien sie ein echtes Arbeitstier zu sein und den großen Durchblick zu haben. Zweitens hatte Cheviot es kommentarlos hingenommen, daß sie sich wie selbstverständlich auf Formbys Platz am Vorstandstisch gesetzt hatte – ganz oben, zur Rechten Cheviots und Edwards direkt gegenüber. Mehr als einmal hatte der Direktor sich gefragt, ob der alte Cheviot vielleicht ein persönliches Interesse an der Frau hatte. Immerhin kursierten in gut informierten Kreisen Gerüchte, daß da mal etwas gewesen war zwischen Cheviot und Formby. Edwards konnte sich das zwar nicht besonders gut vorstellen – aber wer weiß? Er beschloß, die Cleverness seiner neuen Kollegin ein wenig zu testen: »Warum steigen die Einschaltquoten von Sender 66? Die waren uns noch nie so nahe! Vielleicht hat das was mit der heutigen Fernsehwahl zu tun…« Natürlich das war’s! Edwards schien beinahe verblüfft von der eigenen Erkenntnis: »Wenn das so weitergeht, stehen die spätestens um neun Uhr an der Spitze der Einschaltquoten!« »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen«, knurrte Lauren. »Der Hauptdarsteller dieser Serie hat nur ein herausragendes Merkmal… er ist nichts als schlecht!« »Alles bei Sender 66 ist schlecht… deshalb haben sie ja so viele Zuschauer! Aber warum…? Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Rufen Sie Cheviot an! Wir stecken in einer Krise!« Edwards liebte es, der neuen Kollegin Befehle zu erteilen. Widerspruchslos aktivierte Lauren die Haussprechanlage und wählte die Nummer von Cheviots Büro im obersten Stockwerk des 23er-Towers. Sie wußte, daß der Vorstandsvorsitzende dort fast immer zu erreichen war. Meist übernachtete er auch dort oben im 210. Stock. Seine Privatwohnung sah er höchst selten. Während Lauren die Codenummer in die in der Tischplatte eingelassene Computer-Tastatur eingab, warf Edwards noch
einmal einen verächtlichen Blick auf den Monitor, auf dem Amanda gerade schluchzte: »Ich flehe dich an, Eric… gib mich frei!« Die unsägliche Serie verschwand vom Schirm und machte Platz für das Gesicht des Vorstandsvorsitzenden von Sender 23. Wer den grauhaarigen Ben Cheviot oberflächlich betrachtete, hielt ihn für nichts weiter als einen gütigen alten Mann. Dieser Eindruck war noch nicht einmal so falsch, denn Cheviot gehörte noch zur aussterbenden Art der Fernsehmänner vom alten Schlag. Worte wie »Anstand« und »Moral« hatten für ihn noch nicht ihre Bedeutung verloren. Doch wenn es erforderlich war, konnte er auch knallhart und rücksichtslos sein. Anders hätte er es niemals geschafft, sich so lange an der Spitze des mächtigsten Senders zu halten. Im Moment aber wirkte er nur besorgt. Er kam gleich zur Sache: »Ich hab’s schon gesehen, Edwards. Wie schaffen die das?« »Wir wissen es nicht…« Und dabei betonte der Direktor besonders das »Wir«, um seinem Chef gleich klarzumachen, daß Lauren auch nicht besser durchblickte als er. »Aber wenn es so weitergeht, werden die heute ab neun Uhr der meistgesehene Sender sein.« Cheviot seufzte. »Ich wünschte, Formby wäre noch bei uns. Sie hat sich immer um all diese Dinge gekümmert.« »Genau aus diesem Grund ist sie ja nicht mehr beim Sender, Mr. Cheviot«, stelle Lauren fest und konnte dabei ein kleines böses Lächeln nicht unterdrücken. Für einen Moment schien es so, als würde der Vorstandsvorsitzende tief Luft holen. Edwards runzelte die Stirn. Wußten die beiden etwas, von dem er keine Ahnung hatte? Wenn ja – dann mußte dieser Zustand schleunigst geändert werden.
Cheviot hatte sich wieder im Griff. »Was in aller Welt hat 66 vor?« wollte er wissen. Doch es klang mehr nach einem Ausruf der Verzweiflung als nach einer Frage.
2. Kapitel
Der Vorstandssaal von Sender 66 glich in vielem der Konkurrenzanstalt Sender 23. Aber er war kleiner, so wie das 66er-Building auch niedriger war als der gigantische 23erTower. Und während der 23er-Vorstand in voller Besetzung sieben Mitglieder zählte, konnte sich Sender 66 nur fünf hochbezahlte Direktoren leisten. Den Vorsitz führte Clive Thatcher, ein jovialer älterer Herr mit schlohweißem Haar. Seine kleinen Äuglein hatten in den mehr als 60 Jahren, in denen sie in die Welt blicken mußten, das Lächeln noch nicht verlernt. Thatcher trug eine große Brille, die ihm irgendwie das Aussehen eines gütigen Großvaters verlieh. Mit dunklem Anzug, weißem Hemd und dezenter Krawatte war er ebenso managermäßig gekleidet wie die anderen drei Herren des Vorstands. Zu seiner Rechten saß Priscilla Pickering an der Längsseite des Tisches. Sie war die einzige Frau im Direktorium. Obwohl »Frau« den Sachverhalt nicht ganz genau traf. »Jungfrau« wäre wohl eher angebracht gewesen. »Alte Jungfer« hätte mitten in den Kern ihres Problems getroffen. Priscilla Pickering war in der zweiten Hälfte der 40 und offenbar ungeküßt. Sie trug das Haar zu einer strengen Frisur nach hinten gekämmt. Eine altmodische Schmetterlingsbrille verunstaltete ihr verkniffenes Gesicht, das in den letzten Jahren merklich fülliger geworden war. Bekleidet war sie mit einem strengen, dunkelblauen Kostüm, das ihre nicht sonderlich attraktive Figur gnädig verhüllte. Priscilla Pickering hatte schon früh erkennen müssen, daß sie dem anderen Geschlecht völlig gleichgültig war. Also hatte sie
sich auf das konzentriert, was ihr blieb: ihre Arbeit. Und so hatte sie in den letzten Jahren mit größter Beharrlichkeit eine Sprosse der Karriereleiter nach der anderen erklommen. Neben ihr saß Barry Bartlett, der mit seinen tiefschwarzen vollen Locken, den dunklen buschigen Augenbrauen und der übergroßen Nase direkt aus einem Film über die Mafia hätte entsprungen sein können. Und tatsächlich munkelte man hinter vorgehaltener Hand, daß Bartlett einen mächtigen Paten habe, der schützend und fördernd die Hand über ihn halte. Allerdings traute sich niemand, ihm das offen ins Gesicht zu sagen. Zu Thatchers Linken saß Direktor Checker, den alle nur »Chubb« nannten, wegen seiner feisten Wangen. Auch sonst war der noch relativ junge Direktor – er brachte es auf höchstens 35 Jahre – gut durch den Winter gekommen. Die wenigen Haare auf dem Kopf des Dicken, dessen bevorzugter Gesichtsausdruck ein selbstzufriedenes Grinsen war, bemühten sich vergebens darum, noch so etwas wie eine Frisur zustande zu bringen. Neben ihm saß das neueste Mitglied des 66er-Vorstands. Ein Mann, der schon für viel Wirbel gesorgt hatte – und in den nächsten Stunden für noch mehr Aufregung sorgen sollte. Auch im Vorstand von Sender 66 verfolgte man aufmerksam die Entwicklung der Einschaltquoten. Im Gegensatz zur Konkurrenz vom Kanal 23 war hier der Vorstand vollzählig versammelt. »Es ist drei Uhr morgens, und wir haben mit unseren Einschaltquoten Sender 23 bald eingeholt«, verkündete Priscilla Pickering triumphierend. »Das Viewdoze-Gerät arbeitet einfach hervorragend.« »Ausgezeichnet!« Thatcher faltete zufrieden die Hände, und aus seinem gütigen Lächeln wurde ein selbstzufriedenes Grinsen. »Jetzt bekommt die teure Konkurrenz langsam kalte
Füße… und der gute Cheviot ist bestimmt schon fix und fertig!« Er lehnte sich nach vorne, sah genüßlich in die Runde freudestrahlender Gesichter und blickte dann dem neuen Direktor am Tisch fest in die Augen. »Wir gratulieren unserem neuen Vorstandsmitglied! Mr. Grossberg, Ihr Viewdoze-Gerät scheint unsere Einschaltquoten zu erhöhen.« Grossberg war wieder im Fernsehgeschäft! Miles N. Grossberg, der den Tod des Controllers Gorrister auf dem Gewissen hatte – was man ihm aber nicht nachweisen konnte. Grossberg, der beinahe auch für Edison Carters Tod verantwortlich gewesen wäre und der indirekt den Anstoß zur Erschaffung von Max Headroom gegeben hatte. Grossberg, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Sender 23, der Mann, der Edison Carter und Ben Cheviot ewige Rache geschworen hatte. Denn Cheviot saß nun wieder auf dem Posten, den er selbst so gern innehätte – und nur Carters unerträglicher Schnüffelei war es zu verdanken, daß es so weit hatte kommen müssen!∗ Grossberg war es nach vielen Intrigen gelungen, einen Vorstandsposten beim Sender 66 zu erobern. Doch der vierschrötige Mann mit dem brutalen Kinn und den eiskalten Augen war noch lange nicht zufrieden. Er hatte erst wenige Schritte eines langen Weges hinter sich gebracht. Eines Weges, an dessen Ende die totale Vernichtung von Ben Cheviot, Edison Carter – und Max Headroom stehen würde. Grossberg fand Niederlagen unerträglich, und so hatte er völlig mit seiner Vergangenheit gebrochen. Das ging sogar so weit, daß er sich nicht mehr mit »Miles Grossberg« vorstellte, sondern lieber seinen zweiten, bisher nur als Abkürzung ∗
S. Max Headroom Band 1: »Tödliche Spots«.
gebrauchten Vornamen »Ned« benutzte. Er wollte die Vergangenheit nicht vergessen – wohl aber verdrängen. Jetzt grinste er selbstzufrieden ob Thatchers Lob. »Ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender. Ich bin stolz auf das ViewdozeGerät! Es ist… genial!« An mangelndem Selbstbewußtsein hatte Grossberg noch nie gelitten. Bartlett, der ihm am Vorstandstisch genau gegenüber saß, nickte zustimmend und bewundernd zu ihm herüber. Männer wie Grossberg waren ganz nach seinem Geschmack. Sie scheuten sich nicht vor schmutzigen Fingern, wenn es um den Erfolg ging. Und sie konnten einem notfalls auch immer sagen, was Sache war.
Dem Gesicht Cheviots auf dem Wandmonitor im Vorstandssaal von Sender 23 war die Besorgnis deutlich anzusehen. Der alte Mann, der sowohl Grossbergs Vorgänger als auch sein Nachfolger auf dem Chefsessel der Anstalt war, blickte über den Rand seiner Lesebrille in die Aufnahmeoptik des Videophons. »Haben Sie denn nicht mal die geringste Vorstellung, wie die das geschafft haben, Edwards?« »Leider nicht, Ben.« Der Direktor mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen, um dieses Geständnis über die Lippen zu bringen. »Nach ›Schneewittchen und die Babyfresser‹ hatten wir nie wieder derart hohe Einschaltquoten.« Lauren ergänzte: »Ich mache mir ziemliche Sorgen wegen der Fernsehwahl! Wenn wir um neun Uhr nicht an der Spitze liegen, ist unser Kandidat Peller durchgefallen! Dann bestimmt der Wahlcomputer automatisch Harriet Garth vom Sender 66 zur Siegerin und neuen Senatorin!« »Um Gottes willen! Das müssen wir verhindern!« rief Cheviot aus. Eine Niederlage des eigenen Kandidaten
bedeutete weniger Einfluß für den Sender – und damit geringere Profite. Der alte Mann wurde beinahe hektisch: »Edwards. Sie schaffen augenblicklich Peller her! Und Bryce soll kommen. Er muß rausfinden, was da los ist! Ich komme auch!« Der Bildschirm war noch nicht wieder ganz dunkel geworden, als Edwards auch schon aufsprang, um die Befehle seines Chefs auszuführen. Er lief zu Cheviots Platz am Kopfende des Tisches und aktivierte die große Videophonanlage. Er tippte Simon Pellers Geheimnummer ein. Der Bildschirm erhellte sich und zeigte das Schlafzimmer des noch amtierenden Senators, der mitten aus den schönsten Träumen gerissen wurde. Halb bewußtlos fuhr Peller aus den Kissen hoch und griff nach dem Hörer des Videophons. Dabei rutschte ihm die Pyjama-Jacke halb von der Schulter und entblößte eine peinlich unbehaarte Brust. »Peller, kommen Sie sofort in den Sender 23!« kommandierte Edwards, der den Politiker noch nie besonders gemocht hatte. »Wir stecken in einer Krise! Sind Sie allein?« Der Angesprochene wurde nur langsam wach. Verstört zog er die Pyjama-Jacke wieder zu. »Wie? Allein? Ja, natürlich… wa… warum fragen Sie?« Er war noch zu müde, um sich über Edwards’ Anmaßung richtig ärgern zu können. Dabei wußte der Fernsehdirektor genau, daß Peller sich von seiner letzten Frau hatte scheiden lassen, als die Meinungsumfragen anzeigten, daß sie bei seinen Wählern nicht sonderlich gut ankam. Eigentlich schade, denn sie hatte durchaus ihre Talente gehabt. Und wollte dieser Edward jetzt etwa unterstellen, er wäre dumm genug, um sich in der Wahlnacht mit einer anderen Frau erwischen zu lassen? »Wir wollen bei der Fernsehwahl keinen Schiffbruch erleiden!« tönte Edwards und unterbrach die Verbindung. Er
gefiel sich in der Rolle des harten Burschen, der die anderen unter Druck setzte. Mit fliegenden Fingern wählte er die nächste Verbindung. Diese Leitung ging nicht so weit, nur hinunter ins geheime 13. Stockwerk, von dessen Existenz außer ein paar Insidern niemand etwas ahnte. Im 13. Stock war die Abteilung Forschung und Entwicklung von Sender 23 untergebracht. Zwischen unzähligen Computern lebte und arbeitete hier nur ein einziger Mensch: Bryce Lynch, das jugendliche Computergenie. Obwohl der Junge mit der viel zu großen Brille auf der kindlichen Nase maximal 14 Jahre alt war, hatte er schon beachtliche Erfindungen abgeliefert. Die Krönung seiner bisherigen Karriere war sicher das Programm, das er mit Edison Carters Bewußtseinsinhalten gefüttert und das sich dann selbständig zu Max Headroom weiterentwickelt hatte. Es störte Bryce nicht sonderlich, wenn man ihn aus dem Schlaf klingelte. Er fand es viel schlimmer, bei einer wichtigen Arbeit unterbrochen zu werden. Schlaf war für ihn nur ein notwendiges Übel, um die Schaffenskraft zu regenerieren. »Bryce«, meldete er sich ein wenig müde. Edwards verschwendete keine Zeit auf irgendwelche Höflichkeitsfloskeln: »Ich will, daß du alle Computer in deiner Abteilung einsetzt! Ich will Fakten, Zahlen, Analysen, Hochrechnungen! Benutze jeden technischen Trick, den du kennst! Ich will wissen, warum 66 so hohe Einschaltquoten erreicht. Fang an, und zwar sofort, sofort, sofort!« »Sie wollen diese Antworten sofort haben, Mr. Edwards?« Bryce starrte so unschuldig wie möglich durch seine Brille. Er sah mit Vergnügen, wie der Direktor seine Augen in ungläubiger Wut aufriß. Edwards zu ärgern machte immer wieder Spaß.
Der ließ sich nur noch zu einem wütenden »Phh!« hinreißen und unterbrach die Verbindung.
Bryce wollte mal nicht so sein. Er fand, daß der direkte Weg noch immer der kürzeste war. Also setzte er sich an sein Videophon und ließ sich mit der Forschungsabteilung von Sender 66 verbinden. Er wußte, daß seine frühere Kommilitonin Jenny dort den Laden schmiß. Er hatte das mopsige Mädchen mit dem fuchsroten Haar schon auf der Uni nie gemocht. Das hatte er sie auch deutlich fühlen lassen, wenn sie sich mal wieder an ihn rangeschmissen hatte. Und ausgerechnet von der brauchte er heute Informationen. Seufzend drückte er sein Lieblingsplüschtier – einen kuscheligen Tyrannosaurus Rex mit Reißzähnen aus weißem Filz – an sich und versuchte, so gelangweilt wie eben möglich dreinzuschauen. Jenny zeigte sich ehrlich überrascht von seinem Anruf. Bryce konnte gerade noch einen kräftigen Seufzer unterdrücken. Sie war noch immer so häßlich, rund und rothaarig wie auf der Uni. »Oh, hallo, Bryce!« lächelte sie so gewinnend wie möglich vom Schirm. »Wir waren schon lange nicht mehr online!« »Ich hab’ viel zu tun… ich brauch ‘n paar Informationen.« Er gab sich so gelangweilt wie möglich. Aber dieses Biest mußte ihn natürlich sofort durchschauen. »Oh, danke, mir geht’s gut. Und wie geht’s dir?« »Bitte?« Weiber! Warum mußten die immer so viel Aufhebens um ein paar völlig überflüssige Konventionen machen? »Tja, ohh… bestens. Danke.« Bryce kam jetzt lieber schnell zur Sache, bevor Jenny Gelegenheit hatte, noch mehr dummes Zeug zu plappern. »Ähh… warum hat der Sender 66
so hohe Einschaltquoten? Manipuliert ihr die Daten irgendwie? Denn euer Programm ist sauschlecht.« »Ja, ja, Bryce, so fragt man die Leute aus.« Jenny war wirklich nicht auf den Kopf gefallen, sonst hätte sie ja auch kaum die Aufnahmeprüfung für die Uni mit neun Jahren geschafft, geschlagene zwölf Monate vor Bryce. Aber sie hatte auch bei Professor Stewart nicht gelernt, ihren weiblichen Plaudertrieb im Zaum zu halten. »Wir benutzen das neue Viewdoze-System«, erklärte sie geheimnisvoll. »Es ermöglicht den Menschen fernzusehen, während sie schlafen. Daher die guten Einschaltquoten.« Viewdoze? Sehen beim Dösen, gar beim Schlafen? Davon hatte Bryce noch nie etwas gehört. Und so was stank ihm! »Arbeitet das Gerät mit den neuen Super-Prozessoren?« »Nein, das Dings ist so primitiv wie eine Kaffeemühle. Unser neuer Marketing-Direktor hat es sich einfallen lassen.« »Sag mal… wie ermittelt Viewdoze die Zuschauerzahlen?« Jenny machte eine wahre Verschwörermiene. »Das wird vom Sender 66 streng geheimgehalten. Wie gesagt, man soll damit fernsehen können, während man schläft. Deswegen lassen so viele Leute ihren Fernseher nachts auf Sender 66 eingeschaltet, um ›Unter der Sonne Colorados‹ zu sehen.« Jenny grinste ihr dümmliches Grinsen, das sie für verführerisch, Bryce hingegen einfach für dämlich hielt. »Man könnte fast sagen, eine Traumsendung!« Der Junge brachte nur ein verächtliches Grunzen zustande. Irgendwie befriedigten ihn Jennys Erklärungen nicht besonders. »Sag mal, kleiner Einstein«, plapperte die Dicke munter weiter, »kommst du zum diesjährigen Klassentreffen?« Bryce verzog das Gesicht zu einer gequälten Miene, »Lieber nicht! Ein Wiedersehen mit so vielen alten Menschen ist nur deprimierend! Ich schalte ab, Jenny!«
Bevor die weibliche Nervensäge noch etwas erwidern konnte, hatte er die Leitung unterbrochen. Und damit sie nicht auf die Idee kam, ihn zurückzurufen, stellte er gleich eine Verbindung mit dem Vorstandssaal her. So war sein Anschluß besetzt. Edwards hatte so schnell nicht mit einem Rückruf gerechnet, das sah man ihm an. Bryce ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen: »Ein Schwindelgerät. Es heißt Viewdoze. Angeblich können die Zuschauer von Sender 66 damit im Schlaf fernsehen. Wissenschaftlich nicht haltbar.« Edwards strahlte über sein ganzes Mondgesicht. »Woher hast du das so schnell? Bryce, du bist einmalig!« »Ich weiß«, antwortete der Junge in aller Bescheidenheit. Cheviot kochte vor Wut, als er im Sender 66 anrief. Thatcher und sein Direktorium sahen allerdings sehr gelassen auf den großen Wandbildschirm, von dem der erste Mann des Senders 23 in den Vorstandssaal blickte. »Hören Sie, Thatcher«, knurrte Cheviot. »Unsere Wissenschaftler haben Ihren Viewdoze-Schwindel aufgedeckt. Einschaltquoten fälschen ist eine Straftat. Ist Ihnen das klar, Mann?« »Unsinn… es ist allenfalls ethisch dubios.« Thatcher genoß es, den mächtigen Ben Cheviot an seiner Angel zappeln zu sehen. »So was gibt es oft im Fernsehen!« Er blickte beifallheischend zur Seite. Bartlett und Pickering hatten nichts Eiligeres zu tun, als eifrig zu nicken. »Mein Sender läßt sich nicht dazu herab, mit billigen Manipulationen Einschaltquoten für seinen Kandidaten zu gewinnen!« Grossberg gähnte demonstrativ ob so viel moralisch überfrachteten Geschwafels, doch das bekam Cheviot schon nicht mehr mit. Er hatte die Leitung unterbrochen, ohne Thatchers Antwort abzuwarten.
Der Boß von Sender 66 lächelte seinen neuen Direktor jovial an. »Glückwunsch, Mr. Grossberg. Sie haben es zweifellos geschafft, Mr. Cheviot in Wut zu versetzen.« Der Angesprochene grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Da fällt mir ein, Sie haben doch mal für ihn gearbeitet, nicht?« Schlagartig war jede Freundlichkeit von Grossbergs Gesicht verschwunden. »Im Gegenteil, Mr. Thatcher… er hat mal für mich gearbeitet.« Seine Stimme war eiskalt, und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. Thatcher wirkte irritiert, und Checker sah seinen Nebenmann mit offener Besorgnis an. Das Videophon in Murrays Apartment gab nervende Summtöne von sich. Gleichzeitig hatte sich die kleine Lampe über der Aufnahmeoptik eingeschaltet und verbreitete kaltes weißes Licht. Denn bei der Finsternis in Murrays Apartment hätte der Anrufer sonst nichts sehen können. Doch die Devise der elektronischen Gesellschaft lautete: »Sehen und gesehen werden.« Der Apparat stand direkt neben dem Bett, so daß sich Murray nur herumwälzen mußte, um das Gespräch anzunehmen. Er wollte gerade wütend lospoltern, was für eine Unverschämtheit es sei, ihn mitten in der Nacht zu wecken, als er Cheviots Gesicht auf dem kleinen Bildschirm erblickte. Schlagartig war Murray hellwach. Der Chefredakteur der Nachrichtenabteilung von Sender 23 wußte, daß ihn sein oberster Chef nicht anrufen würde, wenn es nicht wichtig war. Zum Glück hatte er keine Haare mehr auf dem Kopf, die noch hätten geordnet werden müssen. Nur sein dunkler Schnurrbart sträubte sich ein wenig. Ohne Krawatte kam er sich im Angesicht Cheviots direkt nackt vor. »Murray, hier ist Cheviot«, sagte der alte Mann überflüssigerweise.
»Ja… ja, Sir?« »Ein Notfall. Kommen Sie in den Sender und bringen Sie Edison Carter mit!« »Verstanden, Sir.« Als Cheviot die Leitung unterbrach, erlosch das Licht am Videophon. Murray schaltete die Deckenlampe des Apartments ein. Beinahe noch im Halbschlaf tippte er Carters Nummer ein. Die Mattscheibe erhellte sich. Natürlich wurde auch der Reporter aus seinen schönsten Träumen gerissen. »Edison, hier ist Murray.« »Ja, ja, das sehe ich… aber wieso?« »Weil’s nun mal so sein soll. Ähh… komm in die Redaktion und bring Theora mit. Nein, nein, fang nur nicht an zu fluchen!« »Ach, verdammt noch mal, Murray! Was soll denn das?« Doch der Chefredakteur duldete keinen Widerspruch. »Wir treffen uns gleich im Sender!« Carter ließ den Kopf noch einmal auf sein Kissen sinken. »Weil’s nun mal so sein soll!« Murray hatte wirklich krumme Sprüche drauf! Grinsend beugte er sich zum Videophon und wählte Theoras Nummer. Es machte ihm Spaß, sie mitten in der Nacht mit einem Anruf zu überraschen. Theora Jones war nicht nur die vielleicht beste Controllerin im Geschäft, sie sah auch noch verdammt gut aus. Bei seinen manchmal lebensgefährlichen Einsätzen draußen im Straßendschungel konnte sich Carter hundertprozentig auf die junge Frau verlassen, die ihn über das Funkgerät in seiner Kamera leitete und schon mehr als einmal sein rettender Schutzengel gewesen war. Und wenn er dann nach gewonnener Schlacht als strahlender Held heimkehrte, pflegte sie seine Wunden auf äußerst angenehme Art. Er nahm sich vor, die Beziehung zu ihr jetzt endlich mal ein wenig zu intensivieren.
Der Monitor erhellte sich und zeigte Theora in ihrem Bett. Sie erwachte nur langsam aus dem Schlaf. Ein Anblick, den Carter genossen hätte. Wäre da nicht der dunkle, behaarte, muskulöse Männerarm gewesen, der besitzergreifend quer über Theoras Oberkörper lag. »Hallo…? Hallo… du bist es, Edison.« Mit einem Mal war sie hellwach. Sie schob den Arm von sich weg, aus dem Erfassungsbereich der Kamera heraus. Von irgendwo hinter ihr aus dem Bett kam ein tiefes, verschlafenes Grunzen. Carter brachte keinen Ton hervor. Er starrte nur immer wieder auf das Bild, das ihm mit gnadenloser Deutlichkeit klarmachte, daß Theora Jones es nicht nötig hatte, auf ihn zu warten. »Wie spät ist es? Was willst du, Edison…? Edison!« »Wir müssen auf der Stelle in den Sender!« Er brachte die Worte nur mühsam hervor. »Entschuldige die Störung.«
3. Kapitel
Keine fünfzehn Minuten später betrat Edison Carter die Nachrichtenzentrale von Sender 23, in der es auch zu dieser frühen Morgenstunde schon ziemlich hektisch zuging. Er griff sich eine Tasse heißen Kaffee und suchte ein freies Computerterminal. Irgend jemand hatte einen Programmonitor ziemlich laut geschaltet, so daß Edison die Stimme eines Ansagers hören konnte, der gerade einen Wahlspot verlas: »Hier ist Sender 23! Wir bitten Sie eindringlich, Simon Peller wiederzuwählen. Bleiben Sie auf unserem Kanal und sprechen Sie Peller damit Ihr Vertrauen aus!« Carter hatte zu niemandem mehr Vertrauen. Er setzte sich an ein Terminal und rief Theoras persönliche Akte auf. »Mal sehen, was der Computer über ihr Privatleben sagt«, murmelte er. Die letzte Eintragung war ein Abendessen gestern um 19.30 Uhr. Die Daten danach galten als vertraulich und waren Edisons Zugriff somit entzogen. Er hätte den Code, der die Eintragungen vor ihm schützte, sicher knacken können, aber dazu brauchte er Zeit. Und die hatte er nicht, denn gerade jetzt kam Murray herein. Tadellos mit Anzug und Krawatte – wie immer, wenn er mit dem obersten Herrn von Sender 23 zu tun haben würde. »Guten Morgen, Edison!« Statt einer Antwort nippte der Reporter nur an seinem Kaffee. Er hatte es offensichtlich noch rechtzeitig geschafft, Theoras Daten vom Schirm zu löschen, bevor Murray etwas merkte.
»Guten Morgen, Murray! Wie geht’s dir?« griente der Chefredakteur ironisch und beleidigt zugleich. Als sein bester Reporter weiterhin stumm blieb, fragte er: »Ich dachte, du stehst auf unerwartete Einsätze?« »Guten Morgen, Murray, wie geht’s dir?« Theora kam als letzte in die Redaktion, aber sie sah am frischesten aus. »Hallo, Edison!« Sie lächelte den Reporter an, aber der starrte nur in die Unergründlichkeit seines Kaffeebechers. »Ich fürchte, da ist jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden«, raunte Murray. »Spar dir deine dummen Sprüche!« fuhr Carter auf. »Erzähl uns lieber, worum es hier überhaupt geht!« »Schon gut, schon gut!« Murray wurde absolut geschäftsmäßig. »Wir haben eine Krise… unsere Einschaltquoten sinken. Cheviot kommt auch her. Er macht sich Sorgen wegen der Fernsehwahl.« Ein kurzes Rauschen, und Max Headroom schaltete sich auf den nächsten Monitor. »Oh! Oh! Die Einschaltquoten!« Einerseits war der meistens grinsende elektronische Mensch eine Kopie Edison Carters – auch, was das Äußere anging. Andererseits gab es da feine Unterschiede. Nicht nur, daß Max im Gegensatz zu seinem menschlichen Vorbild stets korrekt mit weißem Hemd, dunklem Jackett und passender Krawatte bekleidet war. Seine Gesichtszüge wirkten irgendwie ausgeprägter, markanter, die Stirn war höher und die Frisur voller, ohne jeden Glatzen-Ansatz. Irgendwie war Max so eine Art Idealvorstellung, die Carter von sich selber hatte. Aber kein Ideal ohne Makel: Max hatte einen Sprachfehler. Er stotterte. Anfangs war das eine Schwäche seines Programms gewesen. Mittlerweile hätte er die Stotterei nicht mehr nötig gehabt, denn er hatte sein Programm selbst perfektioniert. Doch ihm gefiel diese Art zu sprechen. Und seinen unzähligen Fans auch. Also kultivierte er sie.
»Die Zu-Zu-Zuschauer fehlen? Das ist Wasser auf meine Mü-Mü-Mühle! GebtmireineeigeneShow, und ich beherrsche… herr-herrsche die FrequenzenmitmeinenEinschaltquotenwürdesogareinPo-Po-Pa…Pavian gewählt werden. Ganz zu schweigen von… Simon Peller.« »Max, könntest du nicht ganz einfach in deinem Computer verschwinden?« schlug Carter tonlos vor. Theora fand sein Benehmen ziemlich blöde. »Laß doch den armen Max in Ruhe! Was ist denn nur mit dir los?« Carter zog es vor, nicht zu antworten. Max nahm ihm diese Mühe ab: »Das ist der alte Konflikt zwischen der rechten und der… lin-linken Hirnhälfte. Ich habe die Hälfte ohne Emotionen. Das habe ich Bryce zu verdanken.« Und wie ein gläubiger Mensch, der von seinem guten Schöpfer spricht, hob er die blauen Augen gen Himmel – oder zum oberen Bildschirmrand, um genau zu sein. »Freunde, bitte…!« Murray versuchte, eine Situation zu entspannen, die er absolut nicht durchblickte. Er ging hinüber zu seinem Arbeitsplatz. »Bevor Cheviot hier eintrifft, kann ich schon mal die Nachrichtenanlage checken.« Er tippte einen Code in den Computer und rief einen der vielen freien Nachrichtenagenten an, die Sender 23 und die anderen Fernsehanstalten mit Informationen aus aller Welt versorgten. »Koestler? Murray vom Sender 23… was haben Ihre Mitarbeiter an Nachrichten anzubieten?« Koestler war noch relativ jung für den Besitzer einer Nachrichtenagentur. Nur mit ausgesprochener Skrupellosigkeit hatte er es so schnell so weit bringen können – mit einer Skrupellosigkeit, die ihm ins Gesicht geschrieben war. Koestler war Anfang 30. Sein braunes Haar trug er nackenlang. Man mußte schon genau hinsehen, um seine Augen zu entdecken, die sich weit unter die ausgeprägten Stirnknochen zurückgezogen hatten. Eine lange, dünne Nase
und ebenso dünne Lippen gaben Koestler das Profil eines Geiers. Und genau das war er auch. Ein Nachrichten-Geier. Gelangweilt leierte er sein Angebot herunter: »Auf der Tagseite des Planeten habe ich die Rechte für ein paar Bürgerkriege erworben… in Ägypten gibt es eine Heuschreckenplage… hier auf der Nachtseite ist die Fernsehwahl das einzige Thema. So langweilig wie eine Jungfrau.« »Wenn noch was reinkommt, rufen Sie mich an. Das tun die anderen auch.« Murray unterbrach die Verbindung. Cheviot stürmte mit Riesenschritten in die Nachrichtenzentrale. Für sein Alter war der Vorstandsvorsitzende des Senders noch erstaunlich gut in Form. Teure geriatrische Behandlungen hatten das ihrige dazu beigetragen. »Sehen wir uns an, was Sender 66 jetzt bringt«, schlug er Murray vor. Für den Chefredakteur waren Cheviots Vorschläge bindend wie ein Befehl. Der alte Mann setzte sich vor den nächsten freien Empfänger und wählte das Programm der Konkurrenz an. Murray stand hinter ihm, Theora und Carter, der immer noch eisig schwieg, kamen hinzu. Sender 66 brachte noch immer »Unter der Sonne Colorados«. Amanda focht gerade wieder ihren ach so beliebten Ehestreit mit Eric aus: »Es gibt auch noch Paris und den Rest der weiten Welt! Warum willst du mir nicht meine Freiheit zurückgeben, Eric?!« »Habe ich dir nicht schon genug Ölquellen geschenkt? Wirst du denn niemals in deinem Leben zufrieden sein?« Wenn man genau hinsah, merkte man, wie sehr sich der Schauspieler bei der Aufnahme der Szene hatte beherrschen müssen, um nicht laut loszuprusten.
»Du hast doch keine Ahnung davon, wie man eine Frau zufriedenstellt!« »Amanda! Liebe, Pralinen, sprudelnde Ölquellen… das bietet dir nicht jeder Mann!« »Behalt deine Ölquellen! Behalt dein Haus in Malibu! Nimm alles zurück, was du mir je geschenkt hast! Ich hänge nicht an irdischen Gütern. Das einzige, was ich mir von dir wünsche, ist meine persönliche Freiheit!« »Ich freue mich, daß ich mir das mit ansehen darf«, ätzte Edison. »Das ist nämlich meine Lieblingssendung!« »Sehr witzig, Carter!« brummte Cheviot. »Sehen wir uns mal die Einschaltquoten an…« Er rief die Statistik auf den Bildschirm. Zwei Sender hatten sich deutlich von den anderen abgesetzt. Sender 23 – was nur natürlich war – und Sender 66, der der sonst himmelhoch überlegenen Konkurrenz jetzt ganz dicht auf den Fersen war. Mit wachsender Tendenz. »Also… Sender 66 drückt die Einschaltquoten von ›Unter der Sonne Colorados‹ mit einem System nach oben, das sich Viewdoze nennt. Angeblich kann man damit auch im Schlaf fernsehen. Ein ganz übler Trick, um die Fernsehwahl zu gewinnen!« Der alte Mann wandte sich zu den Leuten um, die abwartend hinter seinem Stuhl standen. »Carter, Sie und Ihr Team müssen diese Machenschaften aufdecken! Ich will, daß Sender 66 einen Denkzettel erhält… und zwar bevor die Fernsehwahl heute morgen um neun Uhr beginnt!« Cheviot stand auf. »Halten Sie mich bitte auf dem laufenden! Diesem Thatcher werde ich’s zeigen!« Wutentbrannt verließ er die Zentrale. Erst jetzt konnte man sehen, wie sehr ihn die ganze Affäre wirklich aufregte. Denn dem sonst so korrekten Mann hing das Hemd aus der Hose und
lugte hinten unter dem Jackett hervor. Ein derart unordentliches Aussehen war man bei Cheviot einfach nicht gewohnt.
Clive Thatcher war nervös, auch wenn er sich das vor seinen Direktoren nicht anmerken lassen wollte. Man legte sich schließlich nicht jeden Tag mit dem größten Sender der Branche an. Seine Finger klopften einen unruhigen Takt auf die kostbare Tischplatte vor ihm. Grossberg hingegen war beängstigend ruhig. »Machen Sie sich wegen Viewdoze keine Gedanken, Herr Vorsitzender«, tönte er. »Ganz allein die Fernsehwahl und diese Harriet Garth sind wichtig.« Er unterstrich jedes seiner Worte mit ausladenden Bewegungen seiner fleischigen Hände, die auch an einem Metzger gut ausgesehen hätten. »Wir brauchen sie, und sie braucht unsere Einschaltquoten, um die Wahl zu gewinnen… das sind die Gesetze einer Elektronik-Demokratie.« Pickering und Bartlett nickten beifällig. »Mein Viewdoze-System garantiert maximale Einschaltquoten zum richtigen Zeitpunkt. Und dadurch… automatisch den Sieg.« Grossbergs arrogantes Lächeln gefiel Thatcher nicht. »Eins macht mir Sorgen, Mr. Grossberg. Cheviot könnte den Spieß umkehren.« Der neue Direktor hielt sich die Hand vor den Mund, um sein Lachen wenigstens ein bißchen zu verbergen. Das war typisch Thatcher – stets sorgte er sich wegen der falschen Dinge! »Was wird, wenn Cheviot Nachforschungen über Viewdoze anstellt? Falls er Edison Carter auf diese Story ansetzt, bauscht der alles zu einem Skandal auf, der sich gewaschen hat!«
»Cheviot setzt Carter ganz bestimmt auf die Viewdoze-Story an. Na und?« Verächtlich verzog er den Mund und stand auf. »Und genau das erwarte ich auch… aber man wird niemals bis zum Kern der Geschichte vordringen!« Grossberg pochte so ausdrücklich mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, daß er fast ein Loch hineingebohrt hätte. »Und warum nicht? Die haben Viewdoze schon bald ganz einfach vergessen! Denn sie werden beschäftigt sein… und zwar mit schwerwiegenden Fakten.« Er stand auf und ging zum Kopfende des Vorstandstisches. Als er an Checker vorbeikam, klopfte er dem Dicken jovial auf die Schulter. Dann stellte er sich neben Thatcher und bediente sich dessen Computersteuerung, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Er rief die geheime Phoenix-Akte auf den großen Wandmonitor. Der Zugriff auf diese Daten war nur den Direktionsmitgliedern gestattet. Die hier gespeicherten Informationen waren wirklich brandheiß. In dieser Datei war alles zusammengetragen, was es an Wissenswertem über die führenden Köpfe von Sender 23 gab. »Die Phoenix-Akte«, sagte er überflüssigerweise. »Da hätten wir zuerst Ben Cheviot, den Intendanten des Senders 23…« Das Bild auf dem Monitor wechselte. »Dann ist da Edison Carter, einer der besten Fernsehjournalisten der Welt… Murray, sein Producer. Eine Spitzenkraft. Die intelligente Theora Jones, Carters Controllerin. Und Max Headroom…« Mit einem Mal wurde Grossbergs bisher so joviale Stimme eiskalt. Er preßte die Worte nur so zwischen den Zähnen hervor. »Das erste und einzige computergenerierte Wesen der Welt!« Grossberg betrachtete Max Headroom noch immer als den größten Coup seiner bisherigen Laufbahn, als sein persönliches Eigentum. Sein Eigentum, das man ihm gestohlen hatte!
»Sie alle werden den Tag noch bedauern, an dem sie sich gegen Ned Grossberg verschworen haben! Denn ich habe eine Story, die uns nicht nur zum Spitzensender macht… sie wird auch alle diese Leute in einen bodenlosen Abgrund stürzen! Und mit ihnen… den Sender 23!« Da war sie wieder, die Geste, die Grossberg so liebte. Er reckte sein klobiges Kinn so weit nach vorn, daß ihm beinahe der Knopf des Hemdkragens aufgesprungen wäre.
Die Sonne lugte so eben über den Horizont, als die Ansagerin von Sender 66 den nächsten Programmteil ankündigte: »Es geht weiter mit der neuesten Folge von ›Unter der Sonne Colorados‹. Aber vorher möchten wir Sie noch einmal an Harriet Garth erinnern, unsere Kandidatin für die bevorstehende Fernsehwahl…« Während ihr vorproduzierter Wahlspot über den Sender ging, rief eine zornige Harriet Garth höchstpersönlich im Sender 66 an. Grossberg stand noch immer neben Thatchers Platz. Er lächelte das Bild der Politikerin auf dem Monitor gewinnend an. »Ah, Harriet! Sie sehen heute morgen ein wenig verwirrt aus.« »Verwirrt, sagen Sie? Ich bin nur wütend!« »Beruhigen Sie sich… sonst alles in Ordnung?« »Ja… bis auf die Tatsache, daß irgendein Journalist vor meinem Apartment rumlungert und mich ein Unbekannter andauernd belästigt! Fragen Sie erst gar nicht, ob mich das stört!« »Sie sollten über die Belästigungen glücklich sein!« Grossberg gab sich so jovial wie nur eben möglich. »Sie sind im Begriff, eine politische Berühmtheit zu werden und viele Sympathien zu gewinnen. Dadurch… und durch die
Viewdoze-Einschaltquoten… werden Sie eine Minute nach neun die Wahl gewonnen haben.« Harriet Garth war da nicht so sicher: »Aber falls es schiefgehen sollte, bin ich politisch erledigt. Mir gefällt das nicht, Mr. Grossberg… das ist zu link!« »Natürlich ist das link… so ist die Politik nun einmal!« Grossberg gefiel sich in der Rolle des Intriganten. Früher wäre er selbst Politiker geworden. In den Zeiten, als die Politiker noch wirklich Macht hatten. Heute waren sie längst Marionetten an den Fäden, die die mächtigen Wirtschaftsbosse zogen. Die elektronische Gesellschaft wurde nur noch vordergründig von den Politikern regiert. In Wahrheit hatten längst die Manager das Heft in der Hand. Manager wie Grossberg. »Es geht garantiert nichts schief«, versicherte er treuherzig. »Sender 23 wird den Köder schlucken wie ein hungriger Fisch! Vertrauen Sie mir.« Die Frau sah alles andere als vertrauensselig aus. »Ein Fisch?« fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Der den Köder schluckt?«
Es war zwar noch lange vor der Frühstückszeit, aber Harriet Garth fand jetzt doch keine Ruhe und keinen Schlaf mehr. So wenige Stunden vor der Wahl konnte sie auch nichts mehr tun, um ihre Chancen noch zu verbessern. Also sprach nichts dagegen, sich noch ein wenig zu entspannen. Und zwar in den Armen des jungen Mannes, der sich dezent außerhalb des Erfassungsbereichs der Videophon-Optik gehalten hatte. Ein Nachteil des Politiker-Lebens war der dauernd ausgefüllte Terminkalender. Harriet Garth hatte nie die Zeit gefunden, sich um ihr Privatleben zu kümmern. Deshalb gab es
auch keinen Mann, mit dem sie ihre Erfolge hätte teilen können. Trotzdem war sie eine Frau, die noch viel zu jung war, um ein Leben ohne Liebe führen zu können. Nicht weiter schlimm – für Fälle wie ihren gab es den Romance-Service, bei dem man Liebespartner aller Art buchen konnte. Für viel Geld, versteht sich. Harriet Garth hatte eine Vorliebe für junge Burschen. Maximal 20 Jahre durften sie alt sein. Der Junge, den Romance ihr gestern abend geschickt hatte, war gerade süße 19. Seufzend ging sie auf ihn zu und legte ihm zärtlich die Arme um den Hals.
Die Politikerin ahnte nicht, daß der Reporter, der vor ihrem Haus herumlungerte, Koestler hieß – und ein Erfüllungsgehilfe Grossbergs war. Gerade kam er mit einem schweren Kabel aus dem Hochhaus und schloß es an eine passende Buchse in der Außenfront seines großen Kastenwagens an. Das Innere des Mobils war bis in den letzten Winkel angefüllt mit modernster Elektronik. Vom Videophon-Schirm grinste Grossbergs Gesicht. »So, Koestler, alles ist vorbereitet… sind Sie soweit?« »Ja. Ich habe den Sicherheitscomputer des Hauses angezapft. Ich speichere die Bilder der Überwachungsanlage ab. Das ist leider illegal. Ach, übrigens… ich verdoppele mein Honorar, Mr. Grossberg.« »Natürlich, Koestler.« Wenn der gehofft hatte, dem Gesicht des Managers eine Regung entlocken zu können, sah er sich jetzt getäuscht. »Ich werde es verdreifachen.« Jetzt war es an Koestler, Verblüffung zu zeigen. Aber er hatte sich schnell wieder gefangen. »Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
»Ihr Talent ist eine Investition wert.« Grossberg schaltete sich aus der Leitung. Koestler aktivierte seinen Monitor und rief die Bilder ab, die der Sicherheitsmonitor von Harriet Garths Wohnung machen ließ. Er sah, wie die Politikerin und ein ihm unbekannter junger Mann nebeneinander auf die Schlafzimmertür zugingen. Die Frau streifte die Jacke von ihren schmalen Schultern und warf sie achtlos auf die Couch. Im Rahmen der Schlafzimmertür blieb sie stehen, wandte sich dem Jungen zu und küßte ihn zärtlich auf den Mund. Dabei zeigte die Überwachungskamera ihr Gesicht genau von vorn. »Sieh mal an… das ist ja hochinteressant«, murmelte Koestler. Er hatte all seine Aufzeichnungsgeräte voll aktiviert.
In der Nachrichtenzentrale von Sender 23 nahm die Frühschicht ihre Plätze ein. Theora hatte sich einen Kaffee geholt. Sie kam an Carter vorbei, der vor einem Monitor saß und Trübsal blies. Sie blieb stehen, wollte ihm irgendwas sagen – doch als er sich umdrehte und sie nur vorwurfsvoll anblickte, ging sie lieber weiter. »Mr. Koestler am Videophon«, rief Murrays Sekretärin. »Wollen Sie ihn sprechen?« »Ja!« Der Chefredakteur kam herüber. Koestler grinste ihn vom Bildschirm an. »Also, Murray, ich habe etwas für Sie.« »Kein Interesse, Koestler. Wir haben nämlich eine große Story in Arbeit.« »Bestimmt nicht so groß wie meine, Freund. Bei meiner Story geht es um Sender 66.« »Sender 66?« Plötzlich war Murray begierig, mehr zu erfahren.
»Genau«, verkündete Koestler selbstzufrieden. »Ich befinde mich vor dem Wohnhaus von Harriet Garth. Ich überwache sie. Sie turtelt gerade mit einem Fernsehjournalisten rum. Er ist die ganze Nacht bei ihr gewesen, falls Sie verstehen.« Und ob Murray verstand! »Die ganze Nacht?« Das wäre die Sensation! »Aber sicher… ich habe Bilder aus der Überwachungsanlage.« »Edison!« Murray rief nach seinem Reporter, der mit diesen Informationen sicher noch mehr anzufangen wußte als er. »Das dies klingt ein bißchen sehr anrüchig, meinen Sie nicht auch, Koestler?« Der zog seine sowieso schon kleinen Augen noch weiter zusammen. »Anrüchig, aber hochinteressant.« »Gut, zeigen Sie mir die Bilder«, entschied Murray. »Theora, bitte mitschneiden«, rief er der Controllerin zu. Die Bilder kamen. So, wie Koestler sie vor wenigen Minuten aus der Überwachungsanlage abgezapft hatte. Doch in dem Moment, als sich die Frau zu dem jungen Mann neben ihr umdrehte, endete die Aufzeichnung. Rechtzeitig genug, damit das Gesicht der Frau nicht enthüllt wurde. Carter starrte mit offenem Abscheu auf die Bilder aus der Intimsphäre eines anderen Menschen, die offenbar illegal aufgenommen worden waren. Und auch Murray war alles andere als begeistert. »Was soll das, Koestler? Das könnten zwei beliebige Menschen sein!« »In der Wohnung von Harriet Garth?« Koestler spürte, daß der Fisch dabei war, ihm wieder von der Angel zu springen. Da bekam er unerwartet Schützenhilfe – in Gestalt des Vorstandsvorsitzenden von Sender 23, der sich auf einen der Monitore an Murrays Platz schaltete.
»Murray, ich habe alles mitangesehen.« Cheviots Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Blasen Sie die Viewdoze-Story ab. Das hier ist Dynamit! Wir lassen den Schwindel von Sender 66 hochgehen! Sex und Politik, so etwas brauchen wir. Ich wittere hohe Einschaltquoten! Setzen Sie Carter auf die Geschichte an!« Der war von der Aussicht, eine Bettgeschichte aufdecken zu müssen, alles andere als begeistert – genau wie sein Chefredakteur. »Ähm, Mr. Cheviot… ich bin mit diesen Aufnahmen nicht sehr glücklich«, versuchte Murray den Eifer seines obersten Chefs ein wenig zu bremsen. »Was wir brauchen sind Fakten, bessere Aufnahmen und mehr Material.« Doch der alte Mann hatte Blut geleckt. Er wollte diese Story, um jeden Preis. »Die Öffentlichkeit wird die Geschichte geradezu verschlingen! Um neun Uhr brauche ich Spitzeneinschaltquoten, damit wird die Wahl gewinnen. Schicken Sie Carter sofort los!« Mit diesen Worten unterbrach er die Verbindung. »Sex und Politik!« muffelte der Reporter. ›»Ich wittere hohe Einschaltquoten‹… für wen hält der mich?« »Ach, hör auf. Flieg hin und check ab, ob das ‘ne Story für uns ist«, sagte Murray voll Resignation. Als er Carters ungläubigen Blick sah, zuckte er mit den Schultern und fügte hinzu: »Soll ich den Befehl des Vorsitzenden ignorieren?« Aber Carter hatte seine moralischen Grundsätze: »Hör mal, ich bin kein billiger Türschlitz-Video-Paparazzo, der mit seiner Kamera im Privatleben anderer Menschen rumstochert! Das ist kein Journalismus, das ist Dreck! Harriets Privatleben geht niemanden etwas an!« Eine hehre Rede, die Theora trotzdem nicht sonderlich beeindrucken konnte. »Diesen Grundsatz solltest du dir auch
persönlich zu Herzen nehmen… denn anscheinend glaubst du, mein Privatleben geht dich was an.« Die beiden tauschten einen langen, bösen Blick. Theora mußte die Augen als erste abwenden. Carter hatte einen Entschluß gefaßt. Er drehte sich um, nahm seine Kamera und stürmte nach draußen. Er blieb noch einmal im Durchgang stehen und rief Murray zu: »Bestell den Hubschrauber! Wenn Cheviot eine Skandalgeschichte haben will, kriegt er sie!« Dann sah er Theora noch einmal scharf an. »Und ich möchte, daß mich jemand mit klarem Kopf unterstützt. Ich will Angela.« Weg war er. Murray sah ihm kopfschüttelnd nach. Normalerweise flog Carter doch am liebsten mit Martinez. Mit dem süßen Püppchen Angela, die jeden Kerl in ihr Bett schleifte, den sie bekommen konnte, hatte er noch nie etwas zu tun haben wollen. Murray ließ sich auf den freien Stuhl neben Theora sinken. »Was ist denn heute los mit ihm?« Max Headroom, der es sich auf Theoras Computerbildschirm bequem gemach hatte, besaß natürlich wieder den vollen Durchblick. »Ja, ja! Theora hat Edison wüt-tend gem-mamacht, als Edison… TheoraamVideophon-sah. Eigentlich war es nicht Theora, deren Anblick-blick-blick Edison wütend gemacht hat.« Max grinste wie ein Lausbub, der einem peinlichen Geheimnis auf die Spur gekommen ist. Doch Theora war nur wütend. »Edison hat nicht das geringste Recht, sich um mein Privatleben zu kümmern!« »Hhhmm…« Murray nickte zustimmend. »Aber… vielleicht wäre er ganz gut für deine Karriere?« Das brachte die Kontrollerin noch mehr auf. »Ich allein bin gut für meine Karriere!« stellte sie entschieden fest. Murray wiegte den Kopf. Ein Standpunkt, der ihm gefiel.
Die Controllerin wollte die Situation entschärfen und sagte weich: »Jemand anders könnte mich schon eher reizen…!« Max wurde plötzlich hellwach. »Ohh, ich glaube, sie meint mich… m-mi-mich!« »Nein, sie meint mich!« stellte Murray entschieden fest. »Ahnn-hnng. Sie sie meint mich!« »Sie meint mich!« »Süh moint… mi-mich!« »Mich!« Murray beschloß, diesen Tag rot im Kalender anzustreichen. Endlich hatte er mal das letzte Wort gegen Max Headroom gehabt.
4. Kapitel
»Das klingt nach einer heißen Story, Edison… Kontrolle, wir sind gestartet!« Der schlanke rote Hubschrauber hob vom Dach des 23er-Towers ab und tauchte hinab in die Straßenschluchten der großen Stadt. In etwa 200 Metern Höhe jagte Angela die filigrane Maschine zwischen den himmelhohen Türmen der Bürohäuser und Wohnblocks durch. Sie hätte natürlich auch auf 1000 Meter steigen und die Gebäude überfliegen können. Aber Angela liebte das Risiko – bei allem was sie tat. Sie war Anfang 20 und bildhübsch. Sie wußte genau, wie sie auf Männer wirkte. Sie hatte einen japanischen Vater und eine kaukasische Mutter. Das Ergebnis war eine eurasische Mischung von dem Typ, auf den die Männer besonders flogen. Braune Mandelaugen beherrschten ein rundes, sanft geschnittenes Gesicht. Ausgeprägte, aber nicht zu volle Lippen schienen alle Glückseligkeit der Erde zu verheißen. Ihr seidiges schwarzes Haar bedeckte sie mit einer Kappe, wie sie früher japanische Kampfpiloten getragen hatten. Sie war stolz auf ihre Abstammung von einer der ältesten Kulturnationen der Erde. Angela wollte es unbedingt zu mehr bringen im Leben als zur Hubschrauberpilotin. Ein Einsatz an der Seite des berühmten Edison Carter schien gerade das richtige Mittel für diesen Zweck. »Harriet Garth… ich fasse es nicht«, tönte sie. »Tja, unsere nette, integre Kandidatin hat sich offenbar einen kleinen Ausrutscher geleistet«, stimmte Carter zu.
»Wir alle leisten uns mal von Zeit zu Zeit einen Ausrutscher… trotzdem, ich hoffe, wir können den Feind stellen.« »Was heißt hier Feind? Es geht nur um die Fernsehwahl. Übertreiben Sie nicht so wie Cheviot.« »Für mich ist das wie Krieg.« Edison musterte die Pilotin verstohlen von der Seite. Es schien wirklich zu stimmen, was man sich so über Angela erzählte. Alles. »Hubschrauber 23, habt ihr’s noch weit bis zum Ziel?« quäkte Theoras Stimme aus dem Lautsprecher. »Nein, Kontrolle. Wir sind beinahe da«, gab Angela durch. »Ihr beeilt euch besser ein wenig!« »Na, wie geht’s dir denn so, Theora?« fragte Angela. Sie wußte nichts Genaues, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, daß es momentan zwischen Carter und seiner Controllerin nicht zum besten stand. Also konnte es nichts schaden, kurz auf den Busch zu klopfen. »Ich habe keine Zeit für Privatunterhaltungen«, kam die mürrische Antwort. Volltreffer! Angela sah Carter listig an. »Die klingt heute aber sehr schnippisch. Was haben Sie mit ihr angestellt?« Carter fluchte innerlich. Angela stand tatsächlich vor allem auf Männer, die ihre Karriere fördern konnten. Und er Trottel ließ sich jetzt von ihr fliegen, nur um Theora eins auszuwischen! »Passen Sie lieber auf, wo wir hinfliegen! Sonst kommen Sie noch vom rechten Weg ab«, knurrte er. Aus dem Morgendunst tauchte der teure Wohnkomplex auf, in dem Harriet Garths Apartment lag. Angela drückte den Helikopter nach unten. »Kontrolle? Wir landen vor den Hillside-Apartments!«
Die rasenden Rotorblätter wirbelten Staub und Papierfetzen auf, als Angela den Hubschrauber direkt vor dem Eingang des Hochhauses zu Boden brachte. Eins mußte man ihr lassen, die Landung war butterweich. So flog nur jemand, der viel Gefühl hatte. »Ich habe euch auf dem Schirm«, meldete sich Theora. »Koestlers Wagen steht direkt vor euch!« Carter griff sich die Kamera und sprang aus der Maschine. Angela folgte ihm. Der große Kastenwagen stand direkt vor der Eingangstreppe des Hillside-Komplexes. Carter öffnete die Hecktür. Angela schlüpfte in den Wagen. Der Reporter kletterte hinterher. Koestler sparte sich die Begrüßung und winkte die beiden zur Batterie der Überwachungsmonitore. Auf einem war eine grafische Darstellung des Garth-Apartments, durch die sich zwei Punkte bewegten. »Der rote Punkt ist Harriet, der weiße ihr scharfer Lustjunge…« Koestler deutete auf einen anderen Schirm und spielte die Videoaufnahme noch einmal ab, die er aus der Überwachungsanlage gezapft hatte. »Da können Sie sehen, wie die beiden gestern abend ins Schlafzimmer gingen. Jetzt brauchen Sie die zwei nur noch in flagranti zu erwischen, und Sie haben Ihren Fisch an der Angel, Carter.« Der Reporter fand die geschäftsmäßige Ruhe, die Koestler ausstrahlte, irgendwie gekünstelt. Er war noch immer nicht von dieser Story überzeugt. Angela hingegen starrte fasziniert auf die Monitore. »Haben Sie schon mal Stichlinge geangelt, Angela?« höhnte der Reporter. Ihm war das hier alles viel zu oberflächlich. Die schöne, ehrgeizige Pilotin allerdings sah, wie die beiden Punkt auf der schematisierten Darstellung des Apartments
durch den Eingang rutschten. Das machte sie mehr als nur nervös. Carter blieb unbeteiligt stehen, doch Angela hielt es nicht länger hier im Wagen. »Sehen Sie nicht? Die beiden wollen gehen! Geben Sie mir die Kamera! Ich versuche, ein paar Aufnahmen von dem Typen zu machen.« Grinsend ließ der Reporter zu, daß ihm das ehrgeizige Püppchen die Kamera fast aus der Hand riß. Sie stürzte aus dem Wagen und lief die große Freitreppe zum Haupteingang des Apartmenthauses hoch. Betont gelangweilt wandte sich Carter wieder Koestlers Monitoren zu.
Cheviot saß in seinem Büro und stopfte sich genüßlich ein Pfeifchen. Er hatte sich in den Funkkanal der Kontrolle eingeschaltet und so die ganze Entwicklung verfolgt. Eine Entwicklung, mit der er sehr zufrieden war. Murrays Anruf über die Hausanlage überraschte ihn nicht: »Wir können auf Sendung gehen, Mr. Cheviot!« »Tun Sie das, Murray.« Im nächsten Moment wurde das normale Morgenprogramm von Sender 23 für eine Live-Sondersendung unterbrochen. Theora Jones leitete die Bilder, die Carters Kamera lieferte, direkt auf die Übertragungssatelliten. Die Bilder, die Angela machte. Cheviot sah die Aufnahme eines Treppenhauses. Nach dem Zustand zu urteilen, mußte es eine Hintertreppe sein. Ein junger Mann hastete die Stufen herab – und erschrak sichtlich, als er in die Kamera blickte. Über Kamerafunk hörte man nun weltweit die Stimme der Möchtegern-Reporterin: »Angela Barry, Sender 23. Ich arbeite für die Edison-Carter-Show. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Ist Harriet Garth in ihrem Apartment?«
Der junge Mann schien merklich verwirrt, verunsichert. »Ja… ich habe sie gerade wegen der Fernsehwahl interviewt.« »Die ganze Nacht?« Angelas Worte kamen wie Pistolenschüsse. »Ja… ich mußte mich nach ihr richten…« »Das kann ich mir gut vorstellen!« Cheviot zog genüßlich an seiner Pfeife. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Den Namen dieser Kleinen mußte er sich merken. Die ging wirklich knallhart zur Sache. »Und jetzt möchte ich Sie bitten, ein paar Bilder zu kommentieren.« Sie zog einen kleinen Pocket-Monitor aus der Tasche, damit der junge Mann dasselbe sehen konnte, was die Zuschauer von Sender 23 nun weltweit erblickten: Die Aufnahmen der Überwachungskamera, die Koestler dem Sender überspielt hatte. »Diese Aufnahmen zeigen, wie Sie gerade um fünf Uhr morgens Miss Garth interviewen. Anscheinend ist Ihnen warm geworden, denn Sie haben sich beide freigemacht. Miss Garth scheint darauf zu bestehen, daß das Interview in ihrem Schlafzimmer durchgeführt wird.« Der junge Mann spielte die Rolle des ertappten Sünders wirklich gut. Marcus Maxwell war kein Angestellter des Romance-Service, sondern Volontär beim Sender 66. Er wollte unbedingt Reporter werden, und Mr. Grossberg persönlich hatte ihm versichert, daß es seiner Karriere sehr dienlich sein könnte, diese kleine Scharade mitzuspielen. Und so hatte er zugestimmt, als Grossberg ihn bei Romance einschleuste und dafür sorgte, daß er derjenige war, der zu Harriet Garth geschickt wurde. Und wenn Markus ehrlich war – er bereute die vergangene Nacht keineswegs. Er erfüllte seinen Auftrag wie geplant. Mr. Grossberg würde zufrieden sein und ihm helfen, Karriere zu machen. Zudem hatte er den nicht unbeträchtlichen
Bargeldbetrag in der Tasche, mit der Harriet Garth ihn für seine Dienste entlohnt hatte. Außerdem hatte diese Nacht seinen persönlichen Erfahrungsschatz bereichert. Ein Neunzehnjähriger wie Marcus konnte nur lernen von einer reifen, attraktiven und erfahrenen Frau wie Miss Garth. Und jetzt mußte er sich nur noch ein bißchen ertappt zeigen, damit die Politikerin glaubhaft bloßgestellt wurde.
Der Vorstand von Sender 66 verfolgte die Sondersendung der Konkurrenz auf dem großen Wandmonitor. Alle starrten mehr oder weniger gebannt auf die Bilder, die Harriet und den Knaben in der Wohnung zeigten. Nur Grossberg schrieb gelangweilt eine Notiz in die Akte vor ihm auf dem Tisch. Thatcher beugte sich erschrocken nach vorn: »Mein Gott… das ist Harriet!« »Und wer ist dieser junge Mann?« wollt Priscilla Pickering wissen. Der Abscheu in ihrer Stimme war deutlich auszumachen. Sie würde es nie verstehen können, weshalb Frauen sich freiwillig dazu hergaben, die perversen Wünsche der Männer zu erfüllen. Angelas gnadenlose Stimme drang aus den verborgenen Lautsprechern und schien den Raum bis in den letzten Winkel auszufüllen: »Natürlich ist es nichts Schlimmes, ein Interview im Schlafzimmer durchzuführen. Aber wir wollen auch nicht vergessen, daß Miss Garth für die Fernsehwahl kandidiert. Und da erscheint die Wahl dieses Ortes für ein Interview ein wenig unangebracht. Meinen Sie nicht auch?« Marcus schaute nur verlegen in die Kamera. »Wer hat denn bloß Sender 23 auf diese Story angesetzt?« Dem dicken Chubb rann vor Schreck der Schweiß in Strömen von der Stirn.
Angela setzte noch eins drauf. »Würden Sie uns verraten, welche Positionen Ihnen Miss Garth…« Für einen Augenblick wurde es still im Vorstandssaal, denn Thatcher hatte den Monitor abgeschaltet. Er sah seinen neuen Direktor empört und erschrocken zugleich an: »Grossberg!« Betont langsam klappte der seine Akten zusammen. »Gentlemen… Sender 23 hat unseren Köder geschluckt.« Er erhob sich und kreuzte die Arme siegessicher vor der Brust. »Ich könnte mir kein besseres Ergebnis wünschen.« »Grossberg!« Jetzt stand auch Thatcher auf. »Sind Sie irrsinnig?« Der Angesprochene war über diesen Gefühlsausbruch sichtlich indigniert. »Sie stellen da eine Politikerin bloß, die mit unserem Sender identifiziert wird! Und das unmittelbar vor einer Fernsehwahl… unter den Augen von Millionen!« »227 Millionen!« stellte Chubb klar. Er deutete auf die Grafik mit den Einschaltquoten – und plötzlich ging ein Leuchten über sein fettes Gesicht. Denn zum ersten Mal in der Geschichte von Sender 66 hatte der Kanal den schier übermächtigen Konkurrenten in der Publikumsgunst überholt! Man hatte im Augenblick einen Vorsprung von mehr als zehn Millionen Zuschauern vor Sender 23! »Sehen Sie sich die Einschaltquoten an!« keuchte der Dicke. »Ja… Sex verkauft sich wirklich gut!« Grossberg zeigte sich unberührt und kühl wie ein antarktischer Gletscher. »Sie machen sich vollkommen unnötige Gedanken.« Eindringlich musterte er jeden einzelnen am Vorstandstisch. »Harriet Garth… ist nämlich unschuldig. Es ist überhaupt nichts passiert.« Das war eine Lüge. Grossberg wußte das. Aber die anderen nicht. Und nur das zählte.
In der Nachrichtenzentrale von Sender 23 verfolgten Murray und Theora Angela Barrys Enthüllungsjournalismus mit einer Mischung aus Ärger und Abscheu. »Diese Angela genießt es richtig, jemanden fertigzumachen«, stellte der Chefredakteur fest. Theora nickte und sah ihn von der Seite an. »Findest du das gut, Murray?« »Kein Kommentar!« Das sagte alles.
Zur gleichen Zeit hatte Grossberg seinen großen Auftritt im Direktorium von Sender 66. Kühl und sachlich wie jemand, der die Jahresbilanzen vorträgt, sagte er: »Sender 23 und Mr. Edison Carter hatten es ein wenig zu eilig, Harriet Garth in Mißkredit zu bringen. Sie haben Aufnahmen benutzt, die niemals überprüft wurden. Die Bilder zeigen nicht Harriet Garth, sondern eine nicht identifizierbare Frau… die Anschuldigungen sind völlig haltlos!« Thatcher wirkte skeptisch. »Sind Sie da auch ganz sicher, Grossberg? Ich meine… wenn Sie das beweisen könnten, dann…« Die Arroganz des Managers war jetzt beinahe unerträglich, als er mit hochgezogenen Augenbrauen fragte: »Ja? Was ist dann?« »Dann könnten wir die Geschichte für uns auswerten… würden Einschaltquoten gewinnen… könnten Sender 23 an den Pranger stellen!« Thatcher blickte in eine Runde skeptischer Gesichter, aber diese Sache gefiel ihm mehr und mehr. »Außerdem würde Harriet einen gewaltigen Zuwachs an Wählerstimmen erhalten.« Grossberg lächelte wie ein Henker, der einen Todeskandidaten höflich zum Galgen winkt. »Sehr gut, Herr
Vorsitzender… Sie sollten sofort anordnen, daß das gemacht wird.« Er konnte seinen Triumph kaum noch verbergen. Jetzt hatte er Thatcher da, wo er ihn haben wollte. Der alte Mann spürte nicht einmal, daß er längst Grossbergs Marionette war, die nur noch seine Pläne ausführte.
Als Carter und Angela in die Redaktion zurückkehrten, startete gerade die aktuelle Sendung der 66er-Konkurrenz. Alles starrte wie gebannt auf die Bildschirme, von denen eine adrette Nachrichtensprecherin verkündete: »Später unterhalten wir uns noch mit Harriet Garth persönlich. Aber hier zunächst Aufnahmen eines Interviews, das sie Sender 66 gegeben hat. Die eingeblendete Zeitcodierung beweist, daß dieses Interview mit Harriet Garth zur Zeit des angeblichen Skandals stattfand. Und zwar vor dem Haus!« Das Bild wechselte und zeigte die Politikerin vor dem Hintergrund des Hillside-Komplexes. Sie stand auf der großen Freitreppe vor dem Eingang und verkündete: »Ich bin fest entschlossen, mit aller Härte gegen diesen billigen, schmierigen Boulevard-Journalismus vorzugehen! Solche Sendungen haben auf unseren Bildschirmen nichts zu suchen! Ich bin zutiefst empört und werde es nicht tolerieren, daß eine Station wie Sender 23 so einen Dreck unter die Öffentlichkeit bringt! Das ist ein ganz übles Beispiel für eiskalten Rufmord!« Murray und sein Team konnten die Sendung der Konkurrenz nicht weiter verfolgen, denn Cheviot schaltete sich auf den Bildschirm. Der Vorstandsvorsitzende schien kurz vor einem Herzanfall zu stehen. Sein Gesicht war puterrot, und die Adern an seinem Hals drohten den Hemdkragen zu sprengen. »Murray! Carter! Was ist denn da vorgefallen?« polterte er los. »Eine miese Story mit falschem Beweismaterial! Mein
Top-Reporter wird als Lügner hingestellt! Der Chefredakteur hat wie ein inkompetenter Idiot gehandelt! Und eine bekannte Politikerin beschuldigt unseren Sender öffentlich des bewußten Rufmords! Um Gottes willen!« Cheviot schien fast in die Aufnahmeoptik zu kriechen. »Carter… in 30 Minuten erscheinen Sie in meinem Büro! Ich will wissen, wie es möglich war, daß Harriet Garth zu der Zeit ein Interview geben konnte, in der sie angeblich mit diesem Burschen in ihrem Schlafzimmer eine Affäre hatte!« Grußlos unterbrach Cheviot die Leitung. Murray war der Gelackmeierte. Der »inkompetente Idiot« von einem Chefredakteur hätte den großen Vorsitzenden hundertmal darauf hinweisen können, daß es Cheviots Idee gewesen war, die Story zu bringen, und daß Murray sie nur unter Protest angekurbelt hatte. Wen störte das schon? Für eine Sendung war einzig und allein das Team verantwortlich, allen voran der Chefredakteur. Die hohen Herren behängten sich höchstens mit dem Lorbeer des Erfolgs. Mit Schüssen, die nach hinten losgegangen waren, hatten sie prinzipiell nichts zu tun! »Angela, ich…« wollte Murray losplatzen, doch Carter fiel ihm sofort ins Wort. »Sag nichts, Murray! Ich habe sie gehen lassen.« Jetzt tat der jungen Frau ihr Übereifer leid. »Gib dir keine Mühe, Edison, es war meine Schuld. Ich trage auch die Konsequenzen.« »Es war meine Schuld«, beharrte der Reporter. »Ich hätte merken müssen, daß man uns in eine Falle lockt!« »Hmm… Edison Carter, der edle Ritter!« Theora gab sich wirklich Mühe, um verletzend zu klingen. »Ich finde es geradezu rührend, wie du deine neue kleine Freundin in Schutz nimmst!«
»Natürlich, du hättest den Braten sofort gerochen!« Carter war stinksauer über die Einmischung seiner Controllerin. »Du hast schließlich Erfahrung mit Männern, die sich im Morgengrauen wegschleichen!« Max Headroom hatte im System der Überwachungskameras gesteckt und so alles mitbekommen. Er fand, daß es höchste Zeit zum Eingreifen war, wenn sich seine Freunde nicht noch mehr verkrachen sollten. Kurzentschlossen schaltete er sich auf den Monitor. »Entschuldigt… wenn ich mich so einfach in euer Gespräch einmische… sche… sche. Aahhum. Ich werde es nie verstehen, daß die Menschen… sovielEnergiedaraufverwendenüberdieSachezuredenfürdieessichallein-lohnt… EEnergie aufzubringen. Das heißt, solange die Leidenschaft noch frisch ist… hhmmm! Wie wie dem auch sei, ich würde dringend raten, Sender 23 einzuschalten-schalten, um sich eine interessante Sendung über das interessante Thema ›Leidenschaft im frühen Morgengrauen‹ anzusehen.« »Halt den Mund!« riefen Theodora, Murray und Carter im Chor.
5. Kapitel
Grossberg stand wieder neben Thatcher, der auf seinem Platz am Kopfende des Vorstandstisches saß. Die Direktoren von Sender 66 schauten auf die neueste Grafik, die die Meinungsforschungsinstitute lieferten. Harriet Garth führte die Beliebtheitsskala mit deutlichem Vorsprung vor Simon Peller an. »Na bitte… unsere Kandidatin scheint den Meinungsumfragen nach ganz vorne zu liegen. Offenbar haben die Zuschauer größtes Mitgefühl für ihre Lage. Ich prophezeie einen schnellen Sieg für Sender 66.« Grossberg gab sich absolut siegesgewiß. Thatcher zeigte sich beeindruckt von soviel Entschlußkraft und klatschte demonstrativ Beifall. Es gelang Grossberg, so zu tun, als sei ihm das peinlich. »Der einzige Applaus, den ich brauche, ist der stete Erfolg dieses großartigen Senders«, verkündete er. Er faltete die Hände vor dem Bauch und redete in einer Pose – und einer Stimmlage –, die er dem Pastor in der Kirche abgeschaut hatte, in die ihn seine Mutter jeden Sonntag schickte, als er noch ein kleiner Junge war. Grossberg fand, daß sich auf diese Art selbst die größten Lügen glaubwürdig verkaufen ließen. »Es war mir vergönnt, meine unbedeutende Hilfe beizusteuern und den Mann zu unterstützen, der es einzig und allein mit seiner überragenden Intelligenz geschafft hat… zu triumphieren. Mr. Thatcher!« Grossberg deutete auf den Vorstandsvorsitzenden, der sich geschmeichelt von seinem Platz erhob. Er applaudierte, und
die anderen Direktoren stimmten pflichtschuldigst in den Beifall ein. »Vielen Dank!« Thatcher war ehrlich gerührt. Chubb, Bartlett und Pickering drängten sich um ihn und schüttelten seine Hand. »Herzlichen Glückwunsch!« »Gratuliere, Herr Vorsitzender!« »Ein großer Erfolg, Mr. Thatcher!« »Danke! Ich danke Ihnen!« Der alte Mann sah nicht, wie sich Grossberg unauffällig in den Hintergrund zurückzog. Der smarte Manager konnte das Theater, das seine Vorstandskollegen um den senilen alten Knacker veranstalteten, kaum noch ertragen. Thatcher stolperte ihm in seiner Vertrauensseligkeit geradewegs in die Falle. In Triumphatorpose stand Grossberg abseits im Schatten und reckte sein Kinn nach vorn. Er würde nicht mehr lange gezwungen sein, im Schatten eines anderen, kleineren Mannes zu stehen.
Edison Carter und sein Chefredakteur wußten nicht weiter. Und das wollte etwas heißen bei zwei so ausgebufften Profis. »Das war ein abgekartetes Spiel, Murray«, stellte der Reporter sachlich fest. »Irgend jemand will Harriet Garth und auch uns auf einen Schlag vernichten.« Er ahnte nicht einmal, wie nahe er der Wahrheit schon war. »Bleibt nur noch eine Frage… wer?« Darauf wußte Carter keine Antwort. Und auch Murray verfiel nur in dumpf brütendes Schweigen. Der Feind lauerte irgendwo im Dunkeln und lachte sich ins Fäustchen. Und er war clever genug, sich nicht ans Licht locken zu lassen. Er konnte selbst bestimmen, wann er sich zeigen wollte. Und das
würde keinesfalls eher der Fall sein, als bis er seine immer noch unbekannten Ziele erreicht hatte.
Im Vorstandssaal von Sender 23 herrschte Weltuntergangsstimmung. Cheviot hatte das gesamte Direktorium aus den Federn getrommelt. Der amtierende Senator Simon Peller stürmte in den Saal. Ashwell versuchte vergeblich, mit den langen Schritten des Politikers mitzuhalten. Auf jeden Fall war das Direktorium jetzt vollzählig versammelt. Alle hatten nur Augen für die große Monitorwand, die die Nachrichtenshow von Sender 66 zeigte. Die äußerst seriös wirkende Moderatorin sagte: »Und nun Nachrichten im Sender 66. Die wichtigste Meldung des heutigen Morgens ist der Skandal in Sender 23, zu dem uns der Vorsitzende von Sender 66 folgendes sagte…« Das Bild der Moderatorin machte Platz für Clive Thatcher, der so großväterlich, gütig und vertrauenswürdig wie eh und je wirkte. »Ich bin äußerst erschrocken, daß eine erfolgreiche Fernsehstation wie Sender 23 so entsetzlich unverantwortlich handelt«, verkündete er im Brustton moralisch echter Empörung. »Unglaublich!« murmelte Lauren halblaut. Plötzlich konnte sie nachfühlen, wie sich ein Fisch fühlte, der nach einem verlockenden Köder schnappte und im nächsten Moment hilflos am Angelhaken zappelte. »Ich kann Ihnen allen versichern«, fuhr Thatcher fort, »daß meine gute Freundin Harriet Garth absolut unschuldig ist. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort… als Vorsitzender des Senders 66.«
So etwas zog beim Fernsehpublikum, das wußte Cheviot genau. Seriösen älteren Herren, die mit aller Würde ihrer Jahre ein Ehrenwort gaben, glaubte man gern. Die Leute von 66 verstanden wirklich einiges von der hohen Kunst der Massen-Manipulation. Thatchers Bild wurde ersetzt durch eine neue Aufnahme Harriet Garths. Sie stand vor ihrem Wohnhaus, und ihre empörte Miene verriet, wie sehr dieser miese Skandal sie erschüttert hatte. Doch sie blieb unerschrocken und beherrscht, so wie es das Publikum bei einem Politiker nun mal am liebsten hatte. »Offensichtlich war das zeitliche Zusammentreffen mit der Fernsehwahl sehr wohl beabsichtigt«, tönte sie. »Hier wurde nicht mehr und nicht weniger als ein ganz mieser politischer Rufmord versucht. Der Vorsitzende von Sender 23 sollte sich endlich zu seiner Verantwortung dafür bekennen und zurücktreten. Und sein Kandidat, Simon Peller, sollte seine Bewerbung um das Mandat aufgeben. Nur so ließe sich die politische Kultur des Landes einigermaßen wiederherstellen.« Peller sah Cheviot besorgt an, doch der befaßte sich nicht im geringsten mit Rücktrittsgedanken. Im Gegenteil. »Absolut lächerlich!« schnaubte der alte Fernsehmann, der schon so manchen Sturm im Wasserglas überstanden hatte. Ashwell trat ans Kontrollbord und wählte ein paar der anderen Sender an. Die Fernsehwahl war auf allen Kanälen das beherrschende Thema. »… beim Sender 144«, sagte ein Mann in dezentem Grau. »Unsere Computer-Hochrechnungen zeigen ganz deutlich, daß Simon Peller seinen Vorsprung in der Gunst der Wähler verloren hat. Wie sich das auf die bevorstehende Fernsehwahl auswirkt, brauche ich Ihnen nicht näher zu erläutern.« »Das könnte der Garth so passen, daß ich aufgebe«, knurrte Peller. Immerhin war er gelernter Politiker. Er konnte gar nichts anderes, als Politik zu machen. Eine Niederlage oder gar
ein freiwilliger Rückzug von der Wahl kamen für ihn nicht in Frage. Er hatte keine Lust, sein Dasein als Arbeitsloser zu fristen. Ashwell wählte den nächsten Sender an. Brahma-TV sendete aus Indien und war so ziemlich eine Ein-Mann-Show von Nasyr Gupta, der bei seinem eigenen kleinen Sender Manager, Programmchef, Kommentator und Ansager in Personalunion war. Guptas politische Kommentare waren gefürchtet – vor allem wegen ihrer theatralischen Übertreibungen und dem gräßlichen Augenrollen, mit dem der Inder seine Vorträge begleitete. Gerade bot er wieder ein Glanzstück seiner Kunst. »In einer elektronischen Demokratie müssen wir uns die Frage stellen…« (Augenrollen nach links) »… üben Fernsehstationen wie Sender 23 Regierungsgewalt aus, indem sie Informationen manipulieren, um die Menschen zu beeinflussen?« (Augenrollen nach rechts) »Wenn Einschaltquoten zur Religion erklärt werden, wo bleibt da der Intellekt?« (Großes Augenrollen nach allen Seiten) »Wo bleibt die Ehrlichkeit?« (Ganz großes Augenrollen) »Wo bleibt die Wahrheit? Es ist eine Frage der Ethik!« (Jetzt wären Gupta die Augen beinahe aus den Höhlen gerollt) Ashwell schaltete lieber auf den Sportkanal, der sich offenbar als einziger Sender nicht mit den Wahlen und dem HarrietGarth-Skandal beschäftigte. Peller atmete tief durch und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Ben… können Sie mir erklären, was hier vor sich geht?« Der gereizte Ton seiner Stimme strafte sein professionelles Politiker-Lächeln Lügen. Cheviot antwortete ihm mit der ruhigen Abgeklärtheit des Alters: »Ja, Simon. So, wie es aussieht, haben wir uns von den anderen in die Irre führen lassen.«
Pellers Lachen wirkte mehr als gekünstelt. »In die Irre führen lassen? Wir werden massakriert!« Anklagend, in der beliebten Pose des Volkstribunen, deutete er auf den großen Monitor. Auf dem erschien jetzt gerade Edison Carter, der sich über die hausinterne Rufleitung befehlsgemäß meldete. Interessiert verfolgte er Pellers Anwürfe gegen seinen Boß. »Ich mache Sie als Vorstand des Senders voll verantwortlich für diese Schweinerei!« »Halten Sie den Mund, Peller!« sagte Cheviot höflich, aber bestimmt. Normalerweise ließ er seinem Politiker ja jede Menge durchgehen. Aber nicht, wenn Untergebene zusahen. Sonst bekamen die am Ende noch ganz falsche Vorstellungen davon, wer hier wirklich das Sagen hatte! Peller war es nicht gewohnt, dermaßen zurechtgewiesen zu werden. Er schluckte sichtbar, beherrschte sich aber und sagte keinen Ton. Cheviot sah wirklich nur so aus wie ein gütiger kleiner älterer Herr. Wenn er wollte, konnte er es an Härte mit einer ganzen Horde junger Streber aufnehmen! »Carter?« fragte er kurz und bündig. Man sah dem Reporter an, daß sein Respekt für Cheviot gerade gewaltig gewachsen war. Offenbar gefiel es ihm, wie kompromißlos der mit dem Senator umsprang. Schließlich war es ein offenes Geheimnis, daß sich Carter und Peller gegenseitig nicht riechen konnten. Der junge Mann kam zur Sache. »Das Bildmaterial, das wir von Koestler bekamen, scheint echt zu sein… aber das gilt auch für das Interview, das zur selben Zeit stattfand.« »Also lautet die Frage«, folgerte Cheviot messerscharf, »was davon wurde gefälscht… und von wem und wieso?« Carter nickte. »Wichtig erscheint mir auch, ob Harriet Garth in die Sache eingeweiht war. Falls nicht… wer hat ihr eine
Falle gestellt? Wir müssen die Wahrheit herausfinden. Ganz gleich, wie!« Lauren Sparks kam das Interesse des Reporters an der ungeschminkten Wahrheit unheimlich vor. So etwas gab es in ihren Augen gar nicht. »Die Wahrheit scheint mir auch eine Lüge zu sein«, stellte sie kühl fest. »Wir alle hier haben die Bilder gesehen. Wir alle haben Harriet Garth gesehen.« Carter grinste die neue Direktorin vom Monitor an: »Mit allem Respekt… wir haben nur ihr Hinterteil gesehen.« Direktor Ashwell, der so gerne Vorstandsvorsitzender anstelle des Vorstandsvorsitzenden geworden wäre, befand, daß er endlich auch mal etwas sagen mußte: »Ganz kurz haben wir auch ihr Vorderteil gesehen!« Cheviot schlug die Augen zum Himmel auf. Was hatte er nur verbrochen, daß er diesen Idioten im Direktorium ertragen mußte? »Ashwell, hier geht es um das Gesicht, um nichts anderes! Die Frau könnte ein Double gewesen sein!« Ashwell nickte, als habe er verstanden. Aber wer ihn kannte, sah ihm an, daß er einmal mehr nicht den allerkleinsten Durchblick hatte. Cheviot seufzte. Er mußte wohl oder übel mit Ashwell leben. Dessen einzige Qualifikation für den Vorstandsposten beim Sender war sein dickes Paket 23er-Aktien, die er geerbt hatte. Eine Qualifikation, die besser war als jede andere. »Wir haben keine andere Wahl, wir müssen in dieser Angelegenheit energisch vorgehen. Machen Sie weiter, Carter. Fahren Sie zu Harriet Garth.« Der Reporter nickte. Cheviots Befehl war unmißverständlich. Murray bahnte sich einen Weg durch das Gewimmel in der Nachrichtenzentrale und kam zu Theoras Platz. Sie saß vor ihrem Controller-Board, eine glimmende Zigarette in der Linken. »Irgendwas Neues?« fragte der Chefredakteur.
Die junge Frau warf einen kurzen Blick auf ihre Bildschirme. »Edison ist jetzt vor den Hillside-Apartments. Bisher hat niemand auf ihn reagiert. Ihre Videophonleitung ist besetzt… Harriet muß also mit jemandem sprechen.« Theora machte einen tiefen Zug und pustete den Qualm dicht an Murray vorbei. »Ist bei dir alles klar?« wollte der wissen. »Ja, mir geht’s bestens.« Aber das kaufte er ihr nicht ab. »Ähmm… Theora… ich weiß, zwischen dir und Edison stimmt irgendwas nicht…« Er setzte sich auf den freien Platz neben ihr und blickte ihr direkt in die Augen. »Ich mag es nicht, wenn mein Team unzufrieden ist. Willst du dich aussprechen?« »Ach, es ist nichts Besonderes…« Sie klopfte die Asche von ihrer Zigarette. »Na ja… als Edison heute morgen anrief… da… da war ich nicht allein.« »Ich verstehe. Aber wie du gesagt hast… es geht Edison nichts an!« Sie nahm noch einen Lungenzug. »Genauso sehe ich die Angelegenheit.« »Gut.« Murray bekam langsam den großen Durchblick. »Und das Ganze belastet dich nicht?« »Nein.« Theoras gekünsteltes Lächeln strafte ihre Worte Lügen. »Wieso?« Der Chefredakteur bemühte sich, ernst zu bleiben. Er starrte auf die Zigarette, die Theora gerade wieder zu den Lippen führte. »Du bist Nichtraucherin!« Erschrocken setzte sie den Glimmstengel ab. Tatsächlich! Murray hatte sie ertappt! Verdammt! Bedeutete ihr der Reporter doch mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte?
Harriet Garth saß vor dem Videophon in ihrem geschmackvoll eingerichteten Apartment und sprach mit Clive Thatcher. Das, was der von ihr verlangte, behagte ihr ganz und gar nicht. »Warum soll ich mich mit diesem Carter auseinandersetzen?« fragte sie wütend. »Peller ist erledigt. Wir stehen optimal da!« Thatcher druckste ein wenig herum. »Na ja… nicht ganz.« »Sie reden schon wie ein Politiker!« »Grossberg meint, daß wir noch eine Runde durchstehen müssen.« Thatcher liebte es, sich hinter der sachlichen Autorität seiner Mitarbeiter zu verstecken. Das enthob ihn der Pflicht, Dinge begründen zu müssen, die er nicht begründen konnte. »Harriet, setzen sie ihr ganzes Geschick ein… Das Geschick, das Sie so berühmt gemacht hat«, beschwor er die Politikerin. »Dann sind Sie schon bald an der Macht! Unsere Einschaltquoten steigen ganz massiv, und nur das zählt! Was bedeutet da letzten Endes schon eine weitere Lüge?« Harriet Garth mußte sich schwer beherrschen, Thatcher nicht anzuschreien. Wütend unterbrach sie das Gespräch. Sie haßte den gewissenlosen Pragmatismus der Männer. Das schlimme an der Sache war, daß Thatcher vermutlich sogar noch recht hatte! Sie stand auf, stellte sich mitten ins Zimmer und führte die Atemübungen durch, mit denen sie sich stets in solchen Streßsituationen entspannte. Eigentlich verabscheute sie diesen indischen Schnickschnack, aber der Yoga-Fernkurs, den sie vor ein paar Jahren bei Brahma-TV mitgemacht hatte, brachte ihr noch immer etwas. Langsam ging es ihr wieder besser. Da meldete der melodiöse Türgong einen Besucher. Harriet Garth wußte schon, wer zu dieser frühen Stunde Einlaß begehrte. Edison Carter vom Sender 23.
6. Kapitel
Die Politikerin öffnete die Tür und sagte mit dem strahlendsten Lächeln, zu dem sie fähig war: »Oh, Mr. Carter! Was für eine nette Überraschung! Kommen Sie zu einer Orgie?« Der Reporter sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, bevor er über die Türschwelle trat, konnte aber außer der Frau keinen anderen Menschen in dem Apartment entdecken. »O nein, ist mir das peinlich! Sagen Sie bloß, ich bin der erste?! Darf ich eintreten?« Dabei war er längst hereingekommen. »Aber natürlich! Drücken Sie die Tür ein und verletzen Sie meine Intimsphäre! Hätte ich gewußt, daß Sie kommen… ich hätte mich schon ausgezogen.« Carter mußte sich beherrschen, um nicht laut loszuplatzen. Nicht, daß Harriet Garth so häßlich gewesen wäre. Aber auf den Anblick nackter Frauen, die älter waren als er, konnte er gut verzichten. Doch zumindest verbal ging er auf das ironische Spiel der Politikerin ein. »Tja, wenn Sie meinen, wir sollten das Interview nackt durchführen, tue ich Ihnen den Gefallen. Ihre Einschaltquoten würde es jedenfalls garantiert in die Höhe treiben. Allerdings… was ich Ihnen zu sagen habe, wird Ihre Stimmung sinken lassen.« Die Garth schaute ihn mit plötzlicher Skepsis an. Aus Carters Gesicht war mit einem Schlag jede Spur von Ironie gewichen. »Ich habe den Verdacht, Miss Garth, daß Sie… und ich absichtlich getäuscht wurden.« Er aktivierte seine Kamera und rief über den eingebauten Funk Theora von Sender 23: »Wir senden live, Kontrolle.«
Für einen Moment blitzte ihm wieder der Schalk aus den Augen: »Wir ziehen uns nur noch aus.«
Der Vorstand von Sender 66 verfolgte das Programm der Konkurrenz mit gespannter Aufmerksamkeit. Carter lieferte eine Aufnahme, die Harriet Garth in ihrer Privatwohnung zeigte. Eine ins Bild gehende blinkende rote Leuchtschrift signalisierte »Live«. Carter war ein erstklassiger Fernsehreporter, aber wenn es um ein Politiker-Interview ging, verfiel er demselben Fehler wie schon unzählige TV-Journalisten vor ihm seit den Kindertagen des Mediums: Er lieferte die ach so beliebten Brustbilder. Sprechende Köpfe gaben ihre Statements ab. Immer, wenn Politiker im Spiel waren, verkam das Fernsehen zu einer Art Rundfunk mit Bild. Die Politiker waren eben nicht an einer packenden optischen Umsetzung ihrer Themen interessiert, sondern bestanden darauf, daß sie so dargestellt wurden, wie sie sich selbst am liebsten sahen: im Brustbild wie auf einem Wahlplakat. »Hier ist Edison Carter mit einer Direktsendung. Ich spreche mit Harriet Garth. Würden Sie uns als erstes erklären, was heute morgen um fünf Minuten nach fünf passierte?« Den Teufel würde sie tun. Wie alle guten Politiker nahm sie die Journalisten nur als Stichwortgeber. Wozu auf deren dumme Fragen eingehen, wenn man dem politisch so mündigen Bürger etwas ganz anderes zu sagen hatte? »Diese globale Fernsehwahl erreicht jeden Winkel unseres Planeten«, stellte sie überflüssigerweise fest. »Mein Wahlkreis ist überall da, wo ein Fernsehprogramm empfangen wird. Im Moment interessieren mich nur Satellitenverbindungen, Mr. Carter, weiter nichts. Ich habe wirklich nur ein Interview gegeben.«
Vorstandsvorsitzender Thatcher fand, daß Harriet ihre Sache ausgezeichnet machte. Sie hatte viel heiße Luft abgesondert, aber wenig Konkretes. Doch auf unglaublich seriöse Art und Weise. Und nur das zählte. Aus den Augenwinkeln sah der alte Mann, wie Grossberg sich einmal mehr erhob, sein Jackett zuknöpfte und nach vorne kam. Thatcher seufzte. Grossberg war ja wirklich gut, aber konnte er nicht einmal fünf Minuten still sitzenbleiben? Der vierschrötige Direktor schlug auf eine Taste des Keyboards vor Thatcher und unterbrach damit die Übertragung auf dem Großmonitor. »Sie lügt.« Zwei Worte nur, doch sie schlugen wie eine Bombe ein. Thatcher brauchte einen Moment, bevor er reagieren konnte: »Waaas?« Grossberg sagte es noch einmal für die Dummen, zum Mitschreiben: »Harriet Garth lügt.« Chubb starrte den großen Mann ungläubig an. Der fuhr mitleidlos fort: »Sie ist schuldig. Sie hat getan, was ihr Carter und Sender 23 vorwerfen.« Priscilla Pickering war erschüttert bis in die Grundfesten ihrer moralischen Überzeugung. War Harriet Garth also doch keine unbefleckte Frau? Machte sie tatsächlich mit Männern rum und so? Widerwärtig! Bartlett dagegen konzentrierte sich vor allem auf Grossberg. Offenbar war dieser Mann noch viel rücksichts- und skrupelloser, als er gedacht hatte. Einen Manager mit diesen Fähigkeiten hätte Sender 66 schon längst haben sollen. Dann wäre es schon viel eher vorbeigewesen mit der schier erdrückenden Übermacht von Sender 23. Grossberg fuhr völlig emotionslos fort: »Aus Gewohnheit bin ich sehr gründlich. Ich habe eine Kopie des Videobandes mit Koestlers indiskreten Bildern genauestens überprüft.«
Wieder benutzte er Thatchers Tastatur, ohne um Genehmigung zu fragen. Er rief den Videofilm ab, den Koestler heimlich aufgenommen hatte, und ließ ihn in extremer Zeitlupe vorführen. Man sah einen Mann und eine Frau von hinten, die auf eine Tür zugingen, mehr nicht. Gerade, als Sie unter dem Türrahmen waren, lief ein Zittern über das für einen Augenblick stark gestörte Bild. »Sie können selbst feststellen, daß dieser Abschnitt, der von Sender 23 benutzt wurde, einen Schnitt aufweist… und zwar hier! Dieser Schnitt hat einen Grund…« Grossberg tippte ein paar Codes ein, das Band spulte zurück, und jetzt spielte der Computer den Teil ein, den Koestler geschnitten hatte. Zur bessern Kenntlichkeit war der bisher gelöschte Teil der Aufnahme in einem anderen Farbton gehalten. »Die Frau dreht sich nämlich um«, kommentierte Grossberg, »und man sieht, daß sie tatsächlich… Harriet Garth ist.« Der Beweis war eindeutig. Das Gesicht der Politikerin war bestens zu erkennen, als sie ihren Lustknaben zärtlich küßte. Pickering war völlig fertig. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Daß sie dabei dicke Flecke auf ihrer Brille hinterließ, störte sie im Moment nicht. Äußerlich völlig leidenschaftslos fuhr Grossberg fort. Er hatte die Arme vor der Brust gekreuzt, um seine Nervosität zu verbergen. Sein meisterlicher Plan war jetzt in die entscheidende Phase getreten. Er beobachtete Thatcher genau. Der schluckte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Ich habe die Situation einer Computer-Analyse unterzogen. Und ich kann leider nur eine Vorgehensweise empfehlen, um das Renommee dieser Fernsehstation zu retten.« »Sie meinen, Sender 23 könnte unter Umständen die vollständige Aufzeichnung senden?« Thatcher wirkte wie
jemand, der aus einer tiefen Trance erwacht und noch nicht ganz wieder da ist. »Oder Carter erreicht irgendwie, daß Harriet zusammenbricht. Wenn sie die Wahrheit gesteht… sind wir ruiniert!« »Das haben Sie richtig erkannt.« Grossbergs Worte kamen wie Peitschenschläge. »Unsere ganze Aktion wäre dann ein Schuß, der nach hinten losgeht. Sender 23 würde unser Leugnen nur… als den verzweifelten Versuch hinstellen, unsere politischen Interessen zu schützen.« »Richtig«, höhnte Pickering. Sie hatte den neuen Direktor von Anfang an nicht gemocht, und das ließ sie ihn jetzt voll spüren. Er war ihr nicht nur zu tüchtig, er war vor allem – ein Mann. Mit dummen Plänen, wie sie nur ein Mann entwickeln konnte. »Die ganze Idee stammt doch von Ihnen, Grossberg. Sie müssen die volle Verantwortung dafür übernehmen. Öffentlich!« Der Angesprochene verbeugte sich galant. Das Grinsen auf seinem Gesicht konnte man nur noch teuflisch nennen. »Es wäre mir eine Ehre… würde nicht die Erklärung, die unser Herr Vorsitzender über den Sender abgegeben hat… im Gegensatz dazu stehen.« Thatcher war viel zu erschrocken, um noch irgend etwas zu verhindern. Willenlos ließ er es geschehen, daß Grossberg einmal mehr sein Kontrollpult mißbrauchte. Er spielte die Aufzeichnung der öffentlichen Erklärung ab, die der alte Mann heute morgen – auf seinen Rat – in den Frühnachrichten von Sender 66 gegeben hatte. »Ich kann Ihnen allen versichern, daß meine gute Freundin Harriet Garth absolut unschuldig ist. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort… als Vorsitzender des Senders 66.« Grossberg musterte Thatcher voller Verachtung. Er brauchte die Geringschätzung, die er für den alten Trottel empfand, nicht länger zu verbergen.
Der Vorsitzende wirkte verwirrt. Er stand ebenfalls auf. So wirkte er noch zerbrechlicher im Vergleich mit Grossberg, der ihn um einen halben Kopf überragte. »Was hat das zu bedeuten?« Bartlett schaute intensiv auf seine Fingernägel. Er fand es peinlich, wie wenig der Alte zu begreifen schien. Doch Grossberg machte ihm das gern klar: »Es bedeutet… Sie stecken bis zum Hals in der Sache.« Bartlett hatte längst erkannt, daß nun ein neuer Wind im Vorstandssaal wehte. Ein Wind, der so heftig war, daß er sich ihm nicht entgegenstellen konnte. Entweder ließ er sich mitreißen, oder er würde zerbrochen wie Thatcher. Es war keine Frage, wie er sich entscheiden würde. »Wenn Sender 23 das Videoband vollständig sendet oder Edison Carter von der Garth die Wahrheit erfährt, würde unsere Fernsehstation jegliche Glaubwürdigkeit verlieren«, orakelte er. »Und damit auch die Fernsehwahl.« Thatcher wirkte paralysiert. Grossberg hingegen wußte, daß er jetzt so gut wie gewonnen hatte. Er nickte seinem neuen Verbündeten jovial zu: »Ganz richtig, Mr. Bartlett… ganz richtig.« Er ging zurück zu seinem Platz, setzte sich aber noch nicht, sondern blieb hinter seinem Stuhl stehen. Für Priscilla Pickering brach eine Welt zusammen. »Das ist ja grotesk!« protestierte sie. »Soll etwa unser Vorsitzender die Konsequenzen ziehen?« Thatcher fand langsam seine Sprache zurück. »Sie wollen andeuten, ich sollte…« »Ich deute nichts an… sondern Sie entscheiden!« Grossberg versteckte seine Härte und Brutalität nicht länger hinter der jovialen Fassade. Entschlossen reckte er sein Kinn vor.
Bartlett sah seine große Stunde gekommen. Ehe jemand anders etwas erwidern konnte, sagte er laut: »Ich beantrage die Abstimmung. Wer ist dafür, daß Mr. Thatcher im Amt bleibt?« Der Vorstandsvorsitzende sah fast flehentlich in die Runde. Miss Pickering brauchte nicht lange zu überlegen. Sie griff unter die Tischplatte und drückte entschlossen den Knopf des elektronischen Abstimmungscomputers. Grossberg sah sie scharf an. Er würde ihr nicht noch einmal Gelegenheit geben, sich gegen ihn zu stellen. »Wer ist dagegen?« Bartlett langte jetzt selbst unter den Tisch und drückte die Computertaste. Grossberg bückte sich und fingerte nach seinem Abstimmungsknopf. Er wechselte einen langen Blick mit Bartlett. Ein willfähriger Helfer wie dieser Mann würde es weit bringen unter seiner Führung. Von den fünf Mitgliedern des Vorstands hatten drei abgestimmt. Thatcher wäre natürlich gegen Bartletts Antrag, das stand fest. Checker hatte noch nicht abgestimmt. Sollte er sich enthalten, entstände eine Patt-Situation. Dann hätte automatisch die Seite obsiegt, auf der der Vorsitzende stand. »Chubb…Chubb!« Bartlett mußte den Dicken, der betreten auf seine Fingernägel sah, energisch aufrufen. Checker focht einen Gewissenskonflikt aus. Auf der einen Seite war da seine unverbrüchliche, jahrelange Treue zu Thatcher. Andererseits war er dem Sender verpflichtet. Seine Entscheidungen durften ihm keinen Schaden zufügen. Der Dicke griff zu den verborgenen Tasten und drückte die, mit der er Thatcher das Mißtrauen aussprach. Als der Vorsitzende auf dem großen Wandbildschirm das Ergebnis sah, verzichtet er darauf, selbst für sich zu stimmen. Er hätte die drei-zu-eins-Niederlage nur noch in ein schmachvolles drei zu zwei abändern können. »Der Vorsitzende wurde mit drei Stimmen abgewählt!« stellte Bartlett ruhig fest.
Plötzlich war es still im Saal. Priscilla Pickering stand auf und ging wortlos nach draußen. Thatcher folgte ihr schweigend. Chubb Checker saß stumm da und blickte zu Grossberg hoch, der sein Kinn triumphierend nach vorn reckte. Er hatte getan, was er tun mußte – aber er fühlte sich keineswegs wohl dabei. Er stand auf und folgte den beiden anderen. Bartlett und Grossberg blieben allein im Vorstandssaal zurück. Der dunkelhaarige Mann erhob sich und sah seinem vierschrötigen Gegenüber lächelnd ins eckige Gesicht. »Die Niederlage ist ein Waisenkind… der Sieg dagegen hat hundert Väter.« Grossberg ging nach vorne zum vakanten Platz des Vorstandsvorsitzenden. Mit einer knappen Geste bedeutete er Bartlett, auf dem Stuhl zu seiner Rechten Platz zu nehmen. Dieser Mann war ab sofort sein getreuer Kronprinz – solange er ihn brauchte. Genüßlich ließ er sich auf dem Sessel nieder, auf dem noch vor wenigen Minuten Thatcher gesessen hatte. »Meine herzlichsten Glückwünsche… Vorsitzender Grossberg«, sagte der Dunkelhaarige. »Ich danke Ihnen.« Der neue Chef von Sender 66 war mit sich zufrieden. Er hatte das geschafft, wovon Flaschen wie Ashwell ihr Leben lang nur träumen konnten: Er war Vorstandsvorsitzender geworden anstelle des Vorstandsvorsitzenden.
Grossberg brauchte nur wenige Minuten, um den zweiten Teil seiner ausgeklügelten Intrige zu starten. Über eine Videophonkamera im Sitzungssaal ließ er sich direkt auf den Sender schalten.
»Hier spricht der Vorstandsvorsitzende. Soeben habe ich den Rücktritt meines Vorgängers Clive Thatcher akzeptiert. Es ist nun meine Pflicht, unsere Zuschauer über die Wahrheit zu informieren, die Harriet Garth betrifft.« »Starten Sie die vorproduzierte Nachrichtensendung«, befahl Bartlett über die hausinterne Sprechanlage, die im Vorstandstisch unmittelbar vor dem Platz des Vorsitzenden installiert war. Sein neuer Chef hatte darauf bestanden, daß er hier einmal probesaß. Grossberg war ein geschickter Psychologe. Bartlett sollte das berauschende Gefühl, das mit der Macht einherkam, ruhig kosten. Er würde danach lechzen, es in immer größerer Dosis zu spüren – und dabei ein williger Gehilfe sein. Denn mehr Macht konnte er nur durch Grossberg bekommen. Sein Schicksal war jetzt mit dem des neuen Vorsitzenden unzertrennlich verknüpft. Natürlich verfolgten auch Murray und Theora in der Nachrichtenzentrale des 23er-Towers das Programm der Konkurrenz. Aber die neue Entwicklung bedeutete selbst für einen so ausgebufften Profi wie Murray eine Überraschung. Beinahe hätte er sich an seinem Kaffee verschluckt. Vorsichtshalber setzte er den Becher ab. »Vor wenigen Minuten gab es eine überraschende Neuigkeit«, verkündete die Nachrichtensprecherin von Sender 66. »Im Zusammenhang mit dem Harriet-Garth-Skandal ist der Vorsitzende Clive Thatcher zurückgetreten, da er offensichtlich an dem ganzen Komplott beteiligt war.« Das Bild der Sprecherin wich dem eines seriös wirkenden Moderators mit graumelierten Schläfen, der versicherte: »Im Laufe unserer folgenden Nachrichtensendung werden Sie noch vollständig über die Fakten informiert.«
Murray brauchte einige Sekunden, um das Gehörte zu verdauen. »Donnerwetter… jetzt wird’s hart. Die opfern ihren eigenen Mann!« Theora fand, daß die ganze Sache ein wenig zu durchsichtig war. Ihr kam auf einmal ein schlimmer Verdacht: »Murray… wenn nun die Videobänder gefälscht sind?« Der Chefredakteur schüttelte den Kopf. »Videobänder kann man nicht fälschen. Bilder lügen nicht.« Na ja, eigentlich wußte er das besser. Und so gab er selbstkritisch zu: »Das heißt, solange man sie nicht durch Schnitte manipuliert.« Daran hatte die Controllerin auch schon gedacht, aber auf diese Möglichkeit wollte sie gar nicht hinaus. Sie hatte etwas ganz anderes im Sinn: »Nein, nein! Ich glaube schon daß die Videobänder echt sind… aber die Zeitcodes könnten nachträglich gefälscht worden sein!« Der Zeitcode war eine ins Bild eingeblendete Digitaluhr, die die Realzeit während der Aufnahme anzeigte. Doch Morray fand diese Idee reichlich absurd. »Nein, nein, das glaube ich nicht.« »Okay. Sieh’s dir an!« Sie setzte sich an ihren Computer und rief Koestlers Video auf den Schirm. Murray ließ sich auf dem Platz neben ihr nieder. Er glaubte zwar nicht an ihre Eingebung, aber es konnte auch nichts schaden, sich Theoras Idee anzusehen. »Also…« Sie ließ die Aufzeichnung in extremer Zeitlupe abspielen. Sie ahnte nicht, daß Grossberg vor nicht allzu langer Zeit genauso vorgegangen war. Die beiden Menschen auf dem Schirm kamen bis unter den Türrahmen – dann lief das charakteristische Flackern durchs Bild. »Da ist ein Schnitt!« stellte Murray überrascht fest. »SchnittRegenerationsprogramm!«
Theora aktivierte die kleine elektronische Spielerei, die Bryce vor einigen Wochen an einem verregneten Sonntagnachmittag entwickelt hatte. Das neue Programm des Genies speicherte die Herkunftsorte sämtlicher externer Datenübertragungen in die Systeme des Senders. Wenn Unregelmäßigkeiten auftauchten, konnte es die Übertragungswege bis zum Ausgangssender verfolgen und sich aus den dort vorhandenen Speichern bedienen. Und so holte das Programm die vollständige, ungeschnittene Aufnahme der Politikerin und ihres jungen Zeitvertreibers aus Koestlers Datenbanken, ohne daß der Nachrichtenhändler das geringste davon bemerkte. Mit vor Verblüffung offenen Mündern sahen Theora und Murray zum ersten Mal die Originalversion dessen, was die Überwachungskameras aufgezeichnet hatten. Harriet Garths Gesicht war eindeutig zu erkennen, als sie sich umdrehte und ihren jungen Begleiter zärtlich und doch voller Leidenschaft küßte. »Koestler!« Murray verstand jetzt gar nichts mehr. »Koestler hat diesen Teil herausgeschnitten! Aber wieso? Gerade damit hätten wir die Garth sofort identifizieren können!« Der Controllerin ging langsam aber sicher ein Halogenlicht auf. »Genau das wollte er verhindern. Murray… er hat die Wahrheit mit Absicht unterdrückt!« »Mal ganz langsam…« Der Chefredakteur brauchte ein paar Sekunden, um die wirbelnden Gedanken in seinem Kopf in geordnete Bahnen zu lenken. »Also… Thatcher unterstützt die Garth, nicht?« »Richtig.« »Und nun beweist jemand, daß sie doch schuldig ist… und schon verliert Thatcher seinen Posten als Vorsitzender… raffiniert!«
Theora sah ihren Chef nachdenklich von der Seite an. Offensichtlich schien er den Intriganten, der all dies ausgeheckt hatte, auch noch zu bewundern. Sie fand diese ganze Sache nur noch ekelhaft. »Es ist entsetzlich! Die Medien manipulieren die Wahrheit, statt über sie zu berichten. Murray… sie fabrizieren ihre eigene Wahrheit!« Nur sehr langsam kam wieder Leben in den Chefredakteur, der immer noch mit halboffenem Mund auf den Bildschirm starrte, der die Kandidatin und ihren Gespielen zeigte. »Harriet Garth wurde reingelegt«, stellte er sachlich fest. »Und wir auch.«
7. Kapitel
Edison Carter hatte die Kamera lässig über die Schulter gelegt. Er stand neben Harriet Garth im Wohnzimmer ihres Apartments. Die Frau starrte fassungslos auf ihren Fernsehsender, der gerade eine Sondersendung von Kanal 66 brachte. Die Sprecherin gab ungerührt eine Zusammenfassung der Informationen, die ihr inzwischen vorlagen. »Nach einer exakten technischen Überprüfung des Videobandes, auf dem man eine nicht identifizierbare Frau und einen Mann sieht, die in ein Schlafzimmer gehen, haben wir herausgefunden, daß es sich bei dieser Frau tatsächlich um Harriet Garth handelt.« Natürlich wurden die Worte der Nachrichtensprecherin durch eine Ausstrahlung der Original-Kußszene untermalt. Das Publikum hatte schließlich ein Recht darauf, informiert zu werden! »Sie hat also öffentlich gelogen!« fuhr die Sprecherin fort. »Nicht nur, daß der Vorsitzende Thatcher abgewählt wurde – es scheint, daß mit dieser Affäre auch die Karriere der Politikerin Harriet Garth ein jähes Ende gefunden hat!« Die Frau, deren Liebesleben plötzlich so gnadenlos vor einem Millionenpublikum ausgebreitet wurde, bebte vor Zorn. »Grossberg hat mich einfach geopfert!« Edison empfand kein Mitleid mit der Frau, die sich auf dieses Intrigenspiel eingelassen hatte und nun davon verschlungen zu werden drohte. Trotzdem tat sie ihm irgendwie leid. »Harriet… warum erzählen Sie nicht einem netten, wahrheitsliebenden Fernsehjournalisten ganz genau, was
eigentlich passiert ist«, schlug er vor. »Vollständig, rückhaltlos… und angezogen.« Die Politikerin blickte ihn an, als stamme er von einem anderen Planeten.
Im großen Sitzungssaal im 148. Stock des 23er-Towers herrschte eitel Freude über die neueste Entwicklung. Mit dieser für den Sender und seinen Kandidaten Simon Peller so überaus positiven Wendung hatte man nun wirklich nicht mehr rechnen können. Ashwell sorgte wieder einmal mehr für allgemeine Heiterkeit, als er zugab: »Ich blicke da nicht mehr vollständig durch…« »Wann blickt du eigentlich je einmal durch?« hätte Edwards am liebsten gefragt – doch er verkniff sich die Bemerkung. Sie hätte zwar voll ins Schwarze getroffen, aber Ashwells Aktienpaket war einfach zu groß, um ihn dermaßen zu provozieren. »Wenn sie an dieser Sache schuldig ist…« Plötzlich wurde Ashwell rot. Warum mußten ihn Lauren und Cheviot auch so anstarren? »Sie wissen schon, an was… na ja, ich meine, mit diesem Mann und so…« Cheviot hätte am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen ob soviel Naivität, aber er beherrschte sich. Schämte sich Ashwell tatsächlich, die Wahrheit auszusprechen? Harriet Garth hatte sich einen knackigen Strichjungen kommen lassen und ihn in der Nacht vor der Wahl nach allen Regeln der Kunst vernascht – und das, obwohl sie unverheiratet war und sich in ihrer Kampagne vor allem für eine neue, eine bessere Moral starkgemacht hatte. Ashwell fuhr unbeirrt fort: »Wenn das alles stimmt… wieso ist Carter dann so sicher, daß sie unschuldig ist?«
»Die Garth unschuldig? Unmöglich!« tönte Lauren. »Politikerinnen haben immer an irgend etwas die Schuld… Man muß sich nur fragen an was und wieso!« Cheviot schmunzelte ob soviel weisen Durchblicks. »Ich habe fast das Gefühl, sie hat beruflichen Selbstmord begangen… sehen Sie sich nur die Einschaltquoten an!« Tatsächlich, die Grafik auf dem Wandmonitor machte deutlich, daß Sender 23 in den letzten Minuten seine Verluste beinahe wieder aufgeholt hatte. Edwards strahlte. »Unser erster Bericht wird rehabilitiert… Carter hat gute Arbeit geleistet. Unsere Einschaltquoten steigen.« Ashwell wollte unbedingt auch etwas Positives von sich geben, denn nur so konnte man Eindruck schinden: »Der gute Ruf unseres Sender ist wiederhergestellt. Noch sieben Minuten, und wir haben die Fernsehwahl gewonnen!« »Wie auch immer… Carter ist clever vorgegangen.« Chevio wiegte bedächtig sein Haupt. Einmal mehr wurde ihm klar, wie wertvoll so ein integrer Mann wie der Star-Reporter für den Sender war. Er hatte noch nicht vergessen, was er Carter alles zu verdanken hatte. Der Summer zeigte an, daß Miss Winter, Cheviots Sekretärin, mit ihrem Chef sprechen wollte. Er drückte die Sprechtaste und hörte: »Mr. Cheviot, Edison Carter auf Leitung eins.« Der Vorsitzende schaltete das Video-Gespräch auf den Großmonitor. Der Reporter meldete sich von Harriet Garths Privatanschluß. Er sah seinen Chef ernst an. »Tja, Carter… Grossberg ist wieder aufgetaucht«, stellte Cheviot fest. Edison ging nicht weiter darauf ein. Er ließ nicht zu, daß seine persönlichen Gefühle für Grossberg seine Arbeit beeinträchtigten. »Er und Sender 66 haben Harriet Garth übel
reingelegt. Aber ich denke, meine Live-Sendung wird das abgekartete Spiel aufdecken!« »Ihre Story könnte Harriet Garths Wahlchancen beträchtlich erhöhen.« »Ich glaube, wir müssen hier eine moralische Entscheidung treffen, Mr. Cheviot, keine politische. Noch vier Minuten.« Der grauhaarige Mann mit der altmodischen Fliege zog die Schultern hoch. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, aus der Mode gekommene Begriffe wie »Moral« wieder zu etwas Popularität zu verhelfen. »Also gut… tun wir, was getan werden muß, Carter!« »Mr. Cheviot, Grossberg am Videophon«, meldete sich Miss Winter. Der Vorsitzende unterbrach die Verbindung mit Carter und ließ das Gesicht des im Sender 23 meistgehaßten Mannes auf den Wandbildschirm. Ein leichtes Lächeln spielte auf den arroganten Zügen des Anrufers. »Guten Morgen«, säuselte er. »Ich bin wieder da, Ben.« Fast wäre Cheviot ob der Vertraulichkeit wütend geworden, doch das hätte Grossberg nur gefreut. Also beherrschte er sich und erklärte abweisend-kühl: »Erwarten Sie jetzt keine Freudenausbrüche. Sie sind uns nicht willkommen.« »Nicht willkommen?« Grossberg reckte sein Kinn vor. »Wir beide haben Sender 23 groß gemacht!« »Und jetzt wollen Sie ihn zerstören!« Der alte Mann wurde verdächtig laut. »Ersparen Sie sich das Nostalgie-Geschwafel! Kommen Sie zur Sache, Mann!« »Wir sollten keine Beleidigungen austauschen.« Der aalglatte Kerl wirkte gefährlich ruhig. »Mit Ihnen würde ich nicht mal Kuhmist austauschen, Ned! Wir befinden uns im Krieg!«
»Na gut… Cheviot. Und die erste Schlacht geht ganz sicher an mich…da Sender 66 die Fernsehwahl gewinnt.« Im nächsten Moment war der Bildschirm tot. Ben Cheviot wirkte etwas verunsichert, als er seine Direktoren der Reihe nach anblickte. Konnte der Gegner seine Worte etwa wahrmachen?
»Also, Edison… Sie wollen mich noch einmal befragen?« Harriet Garth war die Freundlichkeit in Person. »In der Tat«, gab der Reporter zu. »Aber Sie sollten nicht noch einmal versuchen, mich zum Narren zu halten. Sie wußten genau, was passieren würde.« »Geben Sie sich keine Mühe.« Die Frau versteckte sich hinter einer Fassade des Lächelns. »In der Video-Politik sind ein paar Stunden eine lange Zeit… diese Woche ganz unten, nächste Woche ganz oben. Ein paar Tage mit guten Einschaltquoten, und ich bin wieder voll da. Niemand vergißt so schnell wie ein Fernsehzuschauer!« Das Summen des Videophons unterbrach den Redeschwall der Frau. Sie ging zum Apparat, dessen Mattscheibe Grossberg zeigte. Als sie den Hörer abnahm, aktivierte sie die Tonleitung. »Meine Verehrung, Harriet. Alles scheint gut zu laufen«, tönte der Manager. Carter nahm der Frau den Hörer aus der Hand und trat in den Erfassungsbereich der kleinen Kamera des Videophons. »Grossberg! Edison Carter hier!« Die Muskeln im Gesicht des Fernsehbosses zuckten nur kurz, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Vielleicht bin ich ein bißchen zu voreilig gewesen.« Er brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Als Sie das letzte Mal so voreilig waren, hatten Sie gerade meinen Tod bekanntgegeben.«
»Ja, ich erinnere mich.« Grossberg versuchte, möglichst gelangweilt dreinzublicken. »Das muß vor tausend Jahren gewesen sein.« »Sie sollten sich jetzt auf die Gegenwart konzentrieren!« Carter hatte die Nase absolut voll. »Denn ich sorge dafür, daß die Öffentlichkeit die Wahrheit über Sie erfährt. Ihre willfährige Politikerin hier wird nicht gewählt werden… diese Fernsehwahl wird die Öffentlichkeit gewinnen!« Grossberg sagte nichts. Er schob sein Kinn nach vorn und unterbrach die Verbindung.
Vor den Hillside-Apartments hatten sich jede Menge Reporter versammelt. Auch Angela Barry war bei ihnen. Die Uhren zeigten drei Minuten vor neun. Die Wahl stand unmittelbar bevor. Als Edison Carter aus dem Haus trat, kam Bewegung in die Journalistenmeute. »Da kommt er! Schnell, beeilen wir uns!« Natürlich wollte jedermann etwas von den Informationen abhaben, die der berühmte Kollege Harriet Garth entlockt hatte. »Ich nehme die Kamera!« Angela griff sich Carters Gerät und hob es auf die Schultern. Der Reporter machte noch zwei, drei Schritte, so daß er gut ins Bild kam – und seine Kollegen gleichzeitig Raum genug hatten, um ihm ihre Mikrofone unter die Nase zu halten. »Mr. Carter was haben Sie von Harriet Garth erfahren?« »Edison, was können Sie zu der Affäre sagen?« »Blicken Sie hierher, Mr. Carter!« »Sind die Videobänder manipuliert worden?« »Was steckt dahinter?« Carter sorgte mit einer Handbewegung für Ruhe. Er würde jetzt seine Erklärung live über Sender 23 abgeben – und über
alle anderen Anstalten, deren Reporter hier vertreten waren. Zum ersten Mal war Edison Carter auf fast allen Fernsehkanälen der Welt gleichzeitig präsent. Angela aktivierte die Kamera. »Kontrolle, wir senden live!« gab sie über Funk durch. »Ich war gerade bei Harriet Garth«, fing Carter an. »Ich kenne nun die Wahrheit über diese Affäre. Sie, die Zuschauer, haben ein Recht, zu erfahren, daß Sie ebenso wie Harriet Garth aus politischen Gründen getäuscht worden sind. Buchstäblich in letzter Minute vor der Fernsehwahl sollen Sie erfahren, was dahintersteckt!«
Grossberg konnte sich das Geschwafel dieses Moralapostels nicht länger anhören. Er schaltete den Wandmonitor auf den Kanal seines eigenen Senders. Seines eigenen Senders! Viel zu lange hatte er auf dieses Gefühl uneingeschränkter Macht verzichten müssen. Das Summen des Videophons riß ihn aus seinen Träumen voller Selbstbewunderung. Harriet Garth war in der Leitung. Sie sah besorgt aus. Undeutlich hörte Grossberg Carters Stimme aus dem Hintergrund ihrer Wohnung. Also hatte sie Sender 23 eingeschaltet. »Und was machen wir jetzt?« fragte sie: »Ganz einfach. Wir gewinnen.« Der Manager lächelte arrogant und siegessicher. »Die Öffentlichkeit interessiert sich doch überhaupt nicht für Carters hysterischen Kreuzzug. Alle sehen sich die nächste Folge von ›Unter der Sonne Colorados‹ an… und dann wählt der Computer automatisch Sie, trotz der Schwierigkeiten.« »Sie scheinen sich ja sehr sicher zu sein.« »Ja, ich bin von mir… ganz überzeugt.« Und das meinte Grossberg absolut ernst. »Schon bald wird sich der Zuschauer nur noch seine Lieblingsprogramme anschauen. Ein voller
Magen und eine gute Fernsehshow besänftigen jeden Revolutionär, Harriet. Fernsehen ist Opium für das Volk… und so soll es auch bleiben.« Er hatte schon immer gefunden, daß an ihm ein Philosoph verloren gegangen war. Mit seinen Geistesblitzen konnten noch nicht einmal die anerkannt starken Sprüche des berühmten A. D. Schoepps konkurrieren – fand er. Harriet Garth aber fragte sich, ob es wirklich eine kluge Entscheidung gewesen war, das schmutzige Spiel dieses machtbesessenen Managers mitzuspielen und sich ihm so auf Gedeih und Verderb auszuliefern. »Grossberg…« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Was tun Sie, wenn Sie mal ein Gewissen benötigen?« »Gelegentlich miete ich eins.« Ein starker Spruch. Das war genau die richtige Einstellung, mit der man die Macht erhalten konnte. Fand Grossberg.
Der Vorstand von Sender 23 verfolgte Carters Reportage mit atemloser Spannung. Peller stand hinter Edwards im Halbdunkel des Saals. Für den Politiker war kein Platz am Tisch vorgesehen, und keiner der Direktoren war bereit, ihm den eigenen Sessel anzubieten. Eine subtile Art und Weise, um dem Senator zu zeigen, wer tatsächlich die Macht im Staate ausübte. Edison Carter lief zur Höchstform auf: »Um hohe Einschaltquoten und folgerichtig auch die Fernsehwahl zu gewinnen, hatte Sender 66 Millionen Menschen eingeredet, sie könnten sein Programm auch nachts empfangen. Der Mann hinter diesem listigen Plan, der in Wahrheit nichts anderes darstellt als einen großangelegten Schwindel, ist Ned Grossberg, der neue Vorsitzende von Sender 66.
Dieser Mann hat Ihnen auch die Harriet-Garth-Story aufgetischt. Eine Story, die geschickt gefälscht wurde. Sie, die Öffentlichkeit, sind eiskalt betrogen worden von einem Medienmacher, für den die Wahrheit nichts weiter ist als ein beliebiger Handelsartikel. Auch ich wurde reingelegt, denn…« Cheviot schaltete die Übertragung ab. Carters Reportage interessierte ihn jetzt nicht weiter. Es waren nur noch wenige Sekunden bis neun Uhr. Jetzt zählte nur noch die Wahl. Eine grafische Darstellung der Meinungsumfragen zeigte die Positionen der vier aussichtsreichsten Kandidaten: Harriet Garth, Simon Peller, Brian Laramie und Johnnie Rivers. Die Garth und Pellet lagen deutlich vorne, wobei der Kandidat von Sender 23 ein leichtes Plus vor seiner schärfsten Konkurrentin aufzuweisen hatte. »Also, wie läuft die Wahl jetzt?« wollte Ashwell wissen – und beantwortete seine dumme Frage lieber gleich selbst, als er Cheviots ärgerliches Gesicht sah: »Ein Kopf-an-KopfRennen!« »Peller scheint zu führen«, stellte Lauren fest, sachlich und kühl wie immer. »Im Moment ist keine Vorhersage möglich… wie beim Pferderennen«, knurrte Cheviot. Es waren noch genau fünf Sekunden bis neun Uhr. Doch der Computer entschied die Wahl nach den Einschaltquoten genau zur vollen Stunde. »Nanu! Beide fallen zurück!« Ashwell traute seinen Augen nicht. Die Werte von Garth und Peller näherten sich dem von Laramie, während Rivers plötzlich einen beachtlichen Vorsprung bekam. »Was passiert da? Sender 85 zieht nach vorne?« Plötzlich klang Lauren gar nicht mehr so beherrscht. »Das ist unmöglich! Die können nicht gewinnen!« Noch zwei Sekunden bis neun.
Und dann war es vorüber. Das Unmögliche war Wirklichkeit geworden. Der Kandidat von Sender 85, ein politischer Nobody, hatte alle anderen überholt und die Wahl souverän gewonnen. Eine einmalige, bisher noch nicht dagewesene Situation. Edwards ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. So etwas überstieg seine Nervenkraft. Cheviot schaltete die Grafik ab, die ihn beinahe zu verhöhnen schien. »Die Zuschauer haben entschieden. Mir fehlen die Worte.« Ashwell hatte Schwierigkeiten den Mund zu schließen. Lauren atmete heftig und zupfte an ihren Ohrringen. Unglaublich! Miss Winters zauberhafte Stimme aus der Gegensprechanlage zerriß das brütende Schweigen, das der Niederlage folgte: »Mr. Grossberg am Videophon.« Der hielt sich nicht lange mit Vorreden auf, sondern legte los, kaum daß die Verbindung stand. »Cheviot, ich werde Sie und Ihren lächerlichen Sender vernichten! Aber nicht heute… Sie müssen noch ein bißchen schwitzen.« Es zuckte verdächtig in dem kantigen Gesicht auf dem Wandmonitor. Offenbar hatte der neue Vorsitzende von Sender 66 nicht einmal im entferntesten mit der Möglichkeit gerechnet, daß seine Kandidatin die Wahl verlieren könnte. »Sie werden nie genau wissen, wann ich zuschlage«, tönte er. »Aber zuschlagen werde ich… und zwar dann, wenn es mir gefällt. Wissen Sie… Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt genießt.« Er reckte noch einmal sein Kann nach vorn, dann war der Bildschirm tot. »Dieser wahnsinnige Bastard«, keuchte Lauren. Offenbar gab es also doch ein paar Männer, die sie beeindrucken konnten. Cheviot atmete tief durch. Irgendwie schien es ihm, als sei ihm eine Zentnerlast von der Seele gefallen. »Na ja… « Er sah
den Politiker an, der immer noch im Halbdunkel hinter Edwards stand und vergebens um seine Fassung rang. »Nun sind Sie plötzlich arbeitslos, Simon… die Wahrheit ist eben doch ein verderblicher Artikel.« Peller hätte gut auf solche klugen Sprüche verzichten können, doch Cheviot sinnierte unerbittlich weiter: »Trotz allem… Carter hat richtig gehandelt. Die Zuschauer sind den großen Sendern davongelaufen. Sie haben mit dem Programmschalter abgestimmt.« Irgendwie erinnerte ihn das an die gute alte Zeit, als es noch echte Wahlen mit wirklichen Alternativen gegeben hatte. Der Blick des grauhaarigen Mannes wirkte verklärt. »Hmm… offensichtlich kann man das Publikum doch nicht zum Narren halten.« Und diese Vorstellung schien ihm sogar noch zu gefallen!
An diesem Tag klärte sich der Smog so weit auf, daß die besseren Restaurants ihre Gärten öffneten. Murray und Theora saßen unter einigen täuschend echt aussehenden PlastikBäumen auf der Terrasse von Mannys Milchbar. Die Bäume waren künstlich, aber der freie Himmel über ihnen wirklich echt. Und sogar ein wenig blau. Mannys Milchbar war ein beliebter Treff bei allen, die in der Nachrichtenbranche Rang und Namen hatten. Murray hatte gerade zwei Milchshakes beim Tischcomputer geordert, als Koestler in Begleitung von zwei Nachrichtenredakteuren vorbeikam, die für Sender 66 arbeiteten. Murray kannte die beiden vom Sehen. Der eine hieß Clark, der andere, Kent, war ein massiger Fettsack. »Ist das Ihre Tochter oder Ihre Geliebte, Murray?« fragte er mit einem anzüglichen Blick auf Theora im Vorbeigehen.
Koestler steuerte einen Tisch im Hintergrund des Gartens an. Die beiden Redakteure folgten ihm grinsend. Murray atmete tief durch. Er nahm noch einen Schluck von seinem Shake, stellte das Glas dann ab und stand auf. »Entschuldige mich«, bat er Theora und ging hinüber zu dem Nachrichtenhändler. Er tippte dem Mann auf die Schulter. »Hören Sie, Koestler… was diese Fernsehwahl angeht… Sie tragen Mitschuld an ihrem Ausgang. Dieses Komplott war geradezu ekelerregend.« Der Nachrichtenhändler nippte an seinem Shake. »Nun übertreiben Sie mal nicht so schrecklich, Murray… Sie sind doch voll drauf reingefallen, wie alle Zuschauer.« Der Chefredakteur fand das gar nicht komisch.
Edison Carter tauchte ebenfalls in Mannys Milchbar auf. Er sah, daß Theora allein am Tisch saß. Er zögerte einen Moment, dann setzte er sich auf Murrays Platz. Theora zog es vor, ihn nicht zu beachten. Carter war ebenfalls nicht in der Stimmung, etwas zu sagen. Wohl aber Max Headroom, der sein menschliches Ebenbild durch die überall liegenden Leitungen verfolgt hatte und sich jetzt auf dem Monitor des Service-Computers manifestierte. Auch dieses Gerät arbeitete mit Zweiweg-Technik, so daß Max die Menschen ringsum beobachten konnte. Er blickte von Theora zu Edison und von Edison zu Theora. »Hüüütet euch vor Eifersucht!« tönte er. »Sie ist ein grünäugiges Monster, das die Hand, die es füttert-füt-tertfüttert… füttert, beißt. We-We-Werrr liebt nicht seine eigenen Fehlerrr? Werrr abgöttisch liebt und doch zweifelt, derrr… lielie-lie-liebt… ääährrrlich! Das ist von Shakespeare… oder von Edison Carter. Ein Klassiker. Hrrmm. Pffrrrt. Pfft-tfffp.«
Edison und Theora konnten gar nicht anders. Beide mußten lachen. Max hatte das Eis gebrochen. Der Reporter wurde wieder ernst. »Tut mir leid. Ich hatte kein Recht, mich als dein… dein Besitzer aufzuspielen. Das war sehr dumm.« Die junge Frau atmete tief durch. »Erfrischend, festzustellen, daß du nicht perfekt bist… nicht unbesiegbar.« »Jetzt nur nicht übertreiben!« Carter war schon wieder ganz der alte. Frech grinste er Theora an. Und die konnte gar nicht anders – sie mußte zurücklächeln. »Ahh!« meldete sich Max. »Lobpreisen-preisen-prei-sen wir den Friedensstifter!« An der Rückseite des Gartens ging es wesentlich unfriedlicher zu. Murray hatte sich vorgenommen, Koestler, Kent und Clark mal so richtig die Meinung zu geigen. »Was ist nur mit euch beim Sender 66 los?« höhnte er. »Nein, nein, ich werde es euch sagen«, fuhr er Koestler in die Parade, als der zu einer Antwort ansetzen wollte. »Ned Grossberg ist über euch gekommen, und das ist eine sehr gefährliche Angelegenheit.« Koestler wollte sein Glas zum Mund führen, aber Murray hinderte ihn daran. »Wir befinden uns jetzt im Krieg, verstanden? Im Krieg!« Koestler war so schnell nicht zu beeindrucken. »Gehen Sie. Trinken Sie Ihre Milch und essen Sie Ihre Kekse wie ein guter Junge, Murray.« Langsam wurde klar, was der Chefredakteur suchte: Streit. Er packte Koestler am Hemd. »Ich mag keine Milch!« Clark wollte dem Nachrichtenhändler zu Hilfe kommen und legte begütigend die Hand auf Murrays Arm. Doch der hatte nur darauf gewartet. »Fassen Sie mich nicht an!« tönte er und gab dem Mann einen kräftigen Stoß vor die Brust.
»Hey, was bilden Sie sich eigentlich ein? Das lasse ich mir nicht gefallen!« brüllte Clark. Aber Murray hatte ihn schon beim Kragen. Im nächsten Moment war die schönste Keilerei im Gange. Carter wurde durch den Lärm aufmerksam. Er lief hinüber zu seinem Chef und versuchte, ihn zu beruhigen. »Murray! Murray, was machst du denn da? Hör auf!« Zu spät! Schon hatte jemand Carter von hinten gepackt, und es ging rund wie weiland in einem Western-Saloon. Das war etwas für Max! »Hey! Hey! Theora, siehst du denn nicht? 23 ist 66 zahlenmäßig unterlegen! Ihr braucht dringend Hilfe! Hi-Hi-Hi-Hilfe!« Koestler stürzte sich auf Carter, wurde aber mit einem eleganten Heber zu Boden geschickt. Schon hatte der Reporter seinen nächsten Gegner am Hals. Murray war unter einem Knäuel kämpfender Leiber gänzlich verschwunden. »Das ist ja fürchterlich!« Theora sprang auf, um ihren Freunden zu Hilfe zu eilen. Kent packte sie von hinten an der Schulter, um sie aufzuhalten. Ohne ein Wort zu sagen, wirbelte sie herum und schickte den Fetten mit einem satten Treffer auf die Kinnspitze gekonnt zu Boden. Max, der von seinem Bildschirm einen hervorragenden Überblick hatte, zeigte sich sehr beeindruckt. Carter hatte Koestler ausgeschaltet und kam Murray zu Hilfe, der noch immer mit Clark rang. Max gab fachmännische Tips: »Na los, weiter so! Linke Gerade! Ja! Auf die Deckung achten! Genau!« Murray und Carter packten Clark gemeinsam an den Beinen und kippten ihn nach hinten über die Bar. Der hatte genug. Die Schlacht war geschlagen. Und siegreich beendet. Theora stand schwer atmend über dem dicken Kent, der erst langsam wieder zu sich kam. Sie hielt es für angebracht, sich unauffällig zurückzuziehen.
Aus dem Hintergrund des Gartens kam Simon Peller herbeigeschlendert, ein Milchglas in der Hand. Carter und Murray hielten sich an einem Tischmonitor fest und leckten ihre Wunden. Max schaltete sich auf die Mattscheibe und verkündete eine seiner goldenen Lebensweisheiten: »Eine alte Regel der inneren Sicherheit. Es ist immer gut, sich zu duckduck-ducken, wenn jemand nach deinem Freund schlägt. Hmmnajaa!« »Ich schätze, wir können uns auf einiges gefaßt machen, jetzt, wo Grossberg wieder zurück ist«, keuchte Carter. Peller nippte an seiner Milch. Er freute sich, daß Edisons Lippe blutete. »Ich hoffe, Sie sind mit sich zufrieden, Carter! Dank Ihrer aufrichtigen Reportage über die Harriet-GarthAffäre haben wir die Fernsehwahl verloren. Sie haben mein Publikum überschätzt!« Carter wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, der höllisch wehtat. »Simon, ich habe nur über eine politische Farce berichtet. Und den Zuschauern hat eben ein anderes Programm besser gefallen!« Max meldete sich zu Wort. »Beim nächsten Mal solltet ihr mich einsetzen. Dasdas sind Dinge für jemanden, der etwas versteht vom… Show-Showbusiness.« Zu allem Unglück mußte er jetzt auch noch singen: »Wääär ich dääär Hääärscherrr därrr Wält… wow!… war jedem Tag ein Feiertaaag, därrr euch gefääällt!« Das Lied war zwar nicht schön, aber selten. Und einen Effekt hatte es auf jeden Fall: Der Garten von Mannys Milchbar leerte sich schlagartig. Obwohl die Sonne noch immer schien.
8. Kapitel
Sender 23 strahlte sein Programm nicht aus lauter Menschenfreundlichkeit aus. Fernsehen war ein knallhartes Geschäft. Das beste Geschäft im Zeitalter Edison Carters. Denn getreu der Devise »Wenn die Konjunktur schlecht läuft, hat die Werbung Hochkonjunktur« zahlten die Konzerne fast jede Summe für ihre Fernsehwerbung. Die Preise, die die Sender verlangen konnten, richteten sich natürlich nach den Zuschauerzahlen. Und deshalb bemühten sich alle um ein möglichst attraktives Programm. Gute Sendungen bedeuteten viele Zuschauer, und viele Zuschauer bedeuteten hohe Werbeeinnahmen. So einfach war das. Bei Sender 23 hatte man längst erkannt, daß die Zuschauer mehr wollten als »nur« unterhalten werden. Deshalb leistete man sich auch die relativ teure Nachrichtenredaktion mit ihrem Zugpferd Edison Carter. Seine Nachrichtenshows erreichten so hohe Einschaltquoten wie die Serien »Detroit« und »Der Dover-Clan« zusammen. Nicht zuletzt deshalb konnte Sender 23 seinen Aktionären in jedem Jahr eine fette Dividende zahlen. Aber auch, weil der Vorstandsvorsitzende Cheviot darauf achtete, nicht nur große Werbekunden wie die weltweite ZikZak-Corporation zufrieden zu stellen. Für ihn war jeder Werbekunde gleich wertvoll. Das zahlte sich aus, wie das Beispiel der Vu-Age-Kirche bewies. Vu-Age war eine kleine, unbedeutende Sekte gewesen, als sie vor einigen Jahren die ersten Werbeminuten bei Sender 23 gemietet hatte. Mittlerweile war sie ganz groß drin im Kirchengeschäft – und hatte einen Werbeetat, der fast an den von ZikZak heranreichte.
Weil Vu-Age früher bei Sender 23 bestens bedient worden war, plazierte man auch heute, in den Zeiten des Erfolgs, seine Fernsehspots ausschließlich auf diesem Kanal. Ein Bombengeschäft – für beide Seiten. Denn schon am Abend des Fernsehwahltages hatte Sender 23 die Einschaltquotenschlappe vom Morgen wieder ausgebügelt. Eine Woche später war die ganze Affäre praktisch vergessen, die Sehbeteiligung in gewohnt schwindelerregender – und von den anderen unerreichter – Höhe.
Die Vu-Age-Kirche hatte ihren weißen Tempel am Rande der Stadt. Ein goldenes V, verschlungen mit grünem Halbmond und grünem Auge, war ihr Symbol, das mehr als zehn Meter groß an der mit kostbarstem Marmor verkleideten Außenwand prangte. Dieser Tempel war mehr als eine Kultstätte. Hier liefen die Fäden des weltweiten Spendenimperiums zusammen, das Vu-Age aufgebaut hatte. Hier residierte die Prophetin Vanna Smith. Und hier wurden auch die Fernsehsendungen und Werbespots produziert, die Vu-Age die Spendenmillionen einbrachten. Der Erfolg dieser neuen Kirche war leicht zu erklären. Denn er war der Erfolg einer einzigen Frau. Vanna Smith. Sie nannte sich »Prophetin des Elektrons« und wirkte unglaublich überzeugend. Vanna Smith trat nicht nur in den Werbespots ihrer Kirche auf, sondern predigte auch in der wöchentlichen Fernsehsendung auf Kanal 23. Natürlich mußte die Kirche auch für diese Show immense Summen an den Sender zahlen. Aber die Investition lohnte sich, denn das Spendenaufkommen nach jeder Sendung übertraf die Kosten um ein Vielfaches. Gerade war es wieder soweit. Ein Ansager kündete die religiöse Show an: »Und jetzt schaltet Sender 23 um zu ›Erlöse
dich selbst‹, der wöchentlichen Sendung aus der Vu-AgeKirche. Moderne Religion für das Video-Zeitalter.« Der Mann erwähnte natürlich mit keinem Wort, daß die Kirche für jede einzelne Sendeminute bezahlt hatte. Und so hielten die meisten Zuschauer »Erlöse dich selbst« für einen Bestandteil des 23er-Programms. Und da sie dem Sender 23 vertrauten, vertrauten sie auch »seiner« Religions-Show. So einfach war das. Applaus brandete auf, als Vanna Smith ins Bild kam. Sie wirkte aber auch allerliebst. Strahlende blaue Mandelaugen waren das beherrschende Merkmal in einem runden, weichgeschnittenen Gesicht. Eine niedliche kleine Nase stand über einem vollen, doch nicht zu großen Mund, dessen kirschrote Lippen alle Freuden dieser Welt zu verheißen schienen, ohne auch nur im geringsten lasterhaft zu wirken. Tiefschwarze Locken umspielten das Gesicht dieses Engels, der kaum älter als 25 Jahre wirkte. Wenn Vanna Smith lächelte, bildeten sich süße Grübchen auf ihren rosigen Wangen. Das einfache weiße Priesterinnengewand, das vorne von einer großen, aber schlichten Brosche zusammengehalten wurde, und der feine weiße Schleier auf ihrem Haar verstärkten noch den Eindruck der Unschuld, den sie machte. Wenn Vanna Smith sprach, hingen Millionen wie gebannt an ihren Lippen. Die Zuschauer ahnten nicht, daß der Beifall von einer Bandmaschine kam. Die Kamera zeigte nur die Prophetin, die in Wahrheit in einem kleinen Studio saß. Doch sie erweckte geschickt den Eindruck, vor einer großen Menschenmenge zu sprechen. »Danke, danke!« Nur kurz hob sie die Arme, um sie gleich darauf in einer Geste der Demut wieder sinken zu lassen.
»Unsere Kirche ist führend bei der Erforschung der Auferstehung. Aber die Auferstehung ist ein sehr kostspieliger Prozeß und erfordert Ihre Spenden. Ohne Ihre großzügige Gabe wird es vielleicht noch sehr lange dauern, bis der glorreiche Tag gekommen ist… der Tag, an dem wir unser Ziel erreicht haben und die Vu-Age-Laboratorien die perfekte Auferstehung für Sie alle bieten können. Ja, ich weiß, das sind sehr große Worte. Aber die Auferstehung ist eine sehr komplizierte Materie.« Sie lächelte und wirkte mehr denn je zuvor wie ein fleischgewordener Engel des Himmels. »Nicht erst seit heute bereitet die Auferstehung uns Menschen große Probleme«, fuhr sie mit glockenheller Stimme fort. »Über viele Jahrhunderte haben sich alle Kirchen mit diesem unerschöpflichen Themenkreis befaßt und versucht, eine Lösung zu finden…« Natürlich wurde die Predigt auch im Großen Tempel der VuAge-Kirche übertragen. Eine grauhaarige alte Frau kniete vor einem in einen Marmorblock eingelassenen ComputerTerminal. Sie war vielleicht 70 Jahre alt und eine typische Vertreterin der Gattung* »reiche Witwe«: ein wenig exzentrisch, ein wenig versponnen, aber noch gut in Form. Schließlich hatte sie sich ihr Leben lang nur gepflegt, während Humphrey, ihr verblichener Ehemann, sich im harten Berufsleben aufgerieben hatte. Oder, wie sie es stets zu nennen pflegte: »Ich mache mich für dich schön, damit du stolz auf deine Frau sein kannst, wenn du Feierabend hast!« Humphrey Marx war wirklich stolz gewesen auf seine Jennifer, die früher einmal sehr hübsch ausgesehen hatte. Stolz – und nach einem langen, harten Arbeitstag meistens viel zu müde, um abends noch irgend etwas mit ihr anzustellen. Ihre Ehe war nicht zuletzt deshalb kinderlos geblieben. Allerdings hatte Jennifer sowieso keine Kinder gewollt, denn
die Verantwortung wäre einfach zuviel gewesen für ihre schwachen Nerven, wie sie betonte. So kam es denn, daß Jennifer noch ausgesprochen rüstig war, als ihr Humphrey kurz nach Erreichen des Rentenalters einem Herzinfarkt erlag. Sein in harter Arbeit zusammengetragenes Vermögen und die hohe Prämie der Lebensversicherung machten Jenny schlagartig zur reichen Frau. Auf ihre Art liebte sie Humphrey wirklich, und so hatte sie ihn der Vu-Age-Kirche anvertraut, die ihr seine baldige Auferstehung versprochen hatte. Solange lebte Humphrey als Datensatz in den Vu-Age-Computern weiter. Hier im Tempel konnte Jennifer ihn besuchen. Der Monitor zeigte ihr ein schwarzweißes, grobgerastertes Bild ihres lieben Verblichenen. Auf Humphreys rundem Kopf wuchsen nur noch wenige Haare. Der Mann wirkte alt und verbraucht – aber viel besser als zu Lebzeiten, dachte Jennifer. Auch als Datensatz im Computer trug er die schlechtsitzende, viel zu große Jacke, die er so geliebt hatte, und die für ihn typische Fliege um den Hals. Gemeinsam lauschten Jennifer und das Abbild ihres Mannes auf dem Schirm den Worten der Prophetin, die melodiös durch die große Tempelhalle klangen. »Ach… ist es nicht schön, wie sie predigt, Humphrey?« Die alte Frau klang ganz verzückt. Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!« »Ich bleib’ noch etwas!« lächelte die alte Frau. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm den ID-Stift heraus. Diese Stifte waren wahre Wunderwerke modernster Mikroelektronik. In Ihnen ließen sich sämtliche Daten speichern, die es von einem Menschen gab. Ein ID-Stift war Ausweis, Schlüssel und Kreditkarte in einem. Dabei war er kaum größer als ein altmodischer dicker Filzschreiber.
Jennifer Marx steckte ihren Stift in die Aufnahmeöffnung unter dem Monitor und tippte einige Zahlen in die danebenliegende Tastatur. Im nächsten Moment wurde ein größerer Geldbetrag von ihrem Konto umgebucht auf das der Vu-Age-Gemeinschaft. Es war nicht gerade billig, an der Auferstehung teilzuhaben… Vanna Smiths Predigt hallte weiter durch den großen Saal. »Durch die unhaltbaren Heilsversprechungen, die die meisten Religionsgemeinschaften ihren Mitgliedern machten, ohne sie je erfüllen zu können, ist es soweit gekommen, daß heute viele Menschen nur noch an das glauben, was sie sehen und berühren können. Vielleicht sind wir deshalb die richtige Kirche für alle, die so fühlen wie einst der ungläubige Thomas. Wir erstreben eine Auferstehung, an die ausnahmslos alle glauben können. Doch dieser Prozeß erfordert sehr viel Geld…« Vanna atmete tief, ihr wogender Busen hob sich dekorativ und ihre Augen strahlten in dem unschuldigsten Blau, das man sich vorstellen konnte. »Unser heutiges Ziel ist es, fünf Millionen zu sammeln. Deshalb zählt die kleinste Spende«, versicherte sie treuherzig. Auch im Vorstand von Sender 23 verfolgte man Vannas Ansprache mit Interesse. Ashwell fühlte sich einfach dazu verpflichtet, seinen bescheidenen Beitrag zur Auferstehung zu leisten. Er zog seinen Pocket-Computer aus der Tasche und steckte seinen ID-Stift in die Aufnähme. Dann tippte er einen nicht unerheblichen Betrag ein, der von seinen Konten auf die der Vu-Age-Kirche transferiert wurde. Doch die Prophetin war nicht nur an den fünf- und sechsstelligen Beträgen interessiert, die reiche Leute wie Ashwell beisteuern konnten. »Glauben Sie nicht, daß kleine Spenden von uns ignoriert würden«, hauchte sie. »Nein, es ist wie mit dem Scherflein der armen Witwe. Auch der geringste
Betrag ist von großer Bedeutung für uns und wird uns helfen, unser hohes, unser wunderbares Ziel zu erreichen.« Edwards zeigte sich ebenso beeindruckt wie Ashwell, wenn auch auf ganz andere Art und Weise. Er bewunderte gerissene Geschäftsleute wie Vanna Smith. Sie verstand es, ans Geld anderer Leute zu kommen. Und sie bot sogar etwas für die Spenden – etwas, das Edwards interessierte. »Dieser Auferstehungsprozeß, den die Vu-Age-Kirche anbietet, ist nicht nur finanziell ein brillantes Vorhaben«, sagte er anerkennend. »Gibt es einen Weg, wie wir uns diese Technik für andere Programme zunutze machen könnten?« Edwards fand seine Idee hervorragend – Cheviot leider nicht. »Wir müssen uns genug um die Unterhaltung und die Nachrichten kümmern«, stellte der Vorstandsvorsitzende fest. »Überlassen wir die Religion den Tele-Evangelisten. Auf dem Gebiet sind sie die Profis.« Edwards schmollte. Da hatte er nun schon mal eine Idee und dann so was. In der Nachrichtenzentrale herrschte die übliche hektische Betriebsamkeit des frühen Vormittags. Murray hatte das gesamte Team zusammengerufen, um das Thema für die nächste Edison-Carter-Show zu besprechen. Er tat noch ein wenig geheimnisvoll. Keiner wußte, wen oder was der Chefredakteur diesmal ins Visier genommen hatte. In den meisten Fällen lieferte ja Edison selbst die Ideen für seine Sendung. Aber den Streit mit Theora in der letzten Woche hatte er noch immer nicht ganz verdaut. Was Frauen anging, war er nun einmal ein ziemlicher Macho: Wenn er eine mochte, wollte er sie ganz für sich allein. Dabei spielte es keine Rolle, ob er selbst monogam lebte oder nicht. Wenn Männer mehrere Beziehungen hatten, war das schließlich was anderes. Fand Carter.
Zum Glück waren die Spuren, die der Kampf in Mannys Milchbar hinterlassen hatten, gut abgeheilt. Carter lehnte neben Angela Barry an der Wand. Es waren alle da, bis auf Murray. Mehr oder weniger gelangweilt verfolgten sie die Absprache der Prophetin auf den überall aufgestellten Bildschirmen. Ihre Worte schienen niemand sonderlich zu berühren. Nur Carter machte einen merkwürdigen verkniffenen Eindruck. Murray stürmte mit Riesenschritten in die Zentrale. »Also, Leute, es ist soweit.« Trotz seiner offensichtlichen Eile ließ er sich einen Moment Zeit, um der weißgewandeten Fernsehpredigerin zu lauschen. »Und nun, zum Abschluß unserer Sendung, möchte ich Sie alle, die Sie mir so lange zugehört haben, segnen. Ich wünsche Ihnen Glück, Zufriedenheit und die Stärke für den langen Weg bis hin zum ewigen Leben.« Murray griff sich eine Fernbedienung und schaltete die Monitore mit verächtlicher Miene auf den Nachrichtenkanal. »Vielen Dank, Vanna Smith. Deinen Segen kannst du dir sparen!« Er steckte die Hände fast bis zu den Ellbogen in die Hosentasche und knurrte: »Man braucht kein Telepath zu sein, um zu wissen, was ich davon halte.« »Natürlich nicht. Trotzdem würden wir es alle gerne hören, Murray.« Theora sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Carter hinüber. Der klang ja heute mal wieder besonders aggressiv. Weshalb? Nur, weil sie ihn nach seiner halbherzigen Entschuldigung nicht gleich in ihr Bett hatte hüpfen lassen? Oder ob er sich tatsächlich für jemanden hielt, dem keine Frau widerstehen konnte? Die Controllerin fand das irgendwie ganz amüsant. Sie hatte nicht die geringsten Probleme, Edison zu widerstehen.
Murray setzte sich auf die Tischkante und begann einen seiner allseits gefürchteten Vorträge. »Also gut, ihr sollt wissen, was ich über diese Sache denke. Die Vu-Age-Kirche tauchte vor eine paar Jahren aus dem Nichts auf. Die Leute behaupten, die einzige moderne Religion des Video-Zeitalters zu bieten. Heute ist die Kirche schwerreich und versetzt uns alle in Unruhe.« Er wandte sich der Researcherin zu, die er damit beauftragt hatte, alle verfügbaren Daten über die Video-Kirche zu sammeln: »Shannon?« Die ziemlich häßliche kleine Frau mit den Pausbacken legte eifrig los. »Was Sendezeit und finanzielle Aufwendungen für Werbung angeht, so ist Vu-Age größer als sämtliche Weltreligionen, die computerproduzierende Industrie und andere Finanzgrößen.« Carter lauschte den Ausführungen der Kollegin mit wachsender Ablehnung. »Laut Hochrechnungen wird die Kirche spätestens im nächsten Jahr sogar den Vatikan überholen.« »Ja, besonders durch den Schwindel mit der möglichen Auferstehung.« Theora war voll im Bilde über Vu-Age. Und das, was sie wußte, gefiel ihr gar nicht. Murray hingegen wirkte erfreut: »Oh… du scheinst zu den wenigen zu gehören, die sich unsere Nachrichtensendungen ansehen.« »Miese Streberin!« Carter versuchte, witzig zu sein, aber irgendwie ging das daneben. Theora jedenfalls zeigte sich nicht beeindruckt. »Alles in allem kann man sagen«, faßte Murray zusammen, »Vu-Age schreit geradezu danach, von der Edison-CarterShow festgenagelt zu werden.« Shannons Kollege Ison, ein smarter Typ Mitte 30, der großen Wert auf seine volle, sorgsam dauergewellte Frisur legte,
versicherte: »Spätestens bis morgen haben wir die neuste Bilanz sorgfältig analysiert. Und wenn die nur einen Cent falsch ausgegeben haben, finden wir’s heraus.« »Gut.« Murray sah Shannon fragend an. »Ich suche alles historisch Wissenswerte über die Gruppe zusammen«, erklärte sie. »Gut.« Der Chefredakteur wandte sich nun seinem besten Mann und bewährten Mitstreiter bei Gartenlokal-Prügeleien zu. Für ihn hatte er eine ganz besonders delikate Aufgabe: »Edison, du gürtest deine Lenden für ein Treffen mit Vanna Smith.« »Ahuuu-uuu-huuu.« Ison schien den Reporter um den Einsatz bei der wirklich gutaussehenden Prophetin ziemlich zu beneiden. Aber Edison zog eine Miene wie sieben Tage Regenwetter. »Stimmt was nicht?« Murray wirkte irritiert. »Haben wir irgendwas übersehen?« Edisons Lachen wirkte irgendwie gekünstelt. Er stotterte sogar – aber nicht mit Absicht, wie Max Headroom. »MuMurray… immer zur Weihnachtszeit bringen wir eine Story über… über das Feuer, das den Fernsehapparat und das ganze Apartment zerstört. In jedem Frühjahr bringen wir einen Bericht über die Musiker-Olympiade. Haben wir jetzt den Monat, in dem wir eine Fernseh-Evangelistin festnageln?« Er steigerte sich richtig in Rage. »Eine Sendung… für alle Jahreszeiten.« Ison grinste von einem Ohr bis zum anderen. Er fand seinen Witz gut. Es war an Murray, die Wogen zu glätten. »Schon gut… schon gut… in gewisser Weise hat Edison ja recht.« Er blickte den Reporter an. »Aber du hast diesen Spot gesehen. Die Leute behaupten nicht nur, daß sie einen direkten Kontakt zu Gott herstellen können, sondern die ködern die Menschen auch noch mit ihrer Auferstehungsmasche.«
Theora nickte. »Stirb jetzt… bezahle später.« »Da ist bestimmt eine gute Story drin«, beharrte Murray. Aber Carter zeigte sich störrisch wie ein alter Maulesel: »Ich habe keine Lust, meine wertvolle Zeit mit einer Story zu verschwenden, die sogar Angela Barry im Schlaf abhandeln könnte.« Die ehrgeizige Eurasierin zuckte zusammen, und der Reporter merkte wohl erst jetzt, was er da eigentlich gesagt hatte. »Das ist nicht persönlich gemeint, Angela«, versuchte er zu beschwichtigen. »Ich habe schon verstanden«, preßte die junge Frau hervor. Die anderen sahen ihrem Gesicht an, daß das stimmte. Angela war tödlich beleidigt. Murray platzte langsam der Kragen. »Jetzt habe ich eine sehr wichtige Frage.« Er sah Carter durchdringend an. »Entschuldige bitte… aber ist dein Vertrag nicht verlängert worden, oder leidest du irgendwie unter Motivationsschwierigkeiten?« Der Reporter merkte, daß er zu weit gegangen war. Murray war der Boß, zumindest nominell. Natürlich, in aller Regel übernahm der die Themen, die Carter vorschlug. Doch wenn der keine Story für seine nächste Sendung fand, mußte Murray für ein Thema sorgen. Denn die Edison-Carter-Show fand einmal in der Woche statt, egal, ob etwas passierte in der Welt oder nicht. Das war ein ehernes Gesetz. »Du bist der Boß.« Carter senkte den Kopf. »Ich bin motiviert.« »Der Hubschrauber wartet schon.« Angela machte sich auf den Weg zum Expreßlift, der sie in weniger als einer Minute zum Landeplatz hoch oben über dem
210. Stockwerk bringen würde. Carter griff sich seine Kamera und trottete gesenkten Hauptes hinter ihr her. »Bereitet die nächste Einspielung vor.« Murray gab sich so gelassen und routiniert wie möglich, doch er spürte deutlich, daß irgend etwas an der Sache nicht stimmte. Allerdings wußte er nicht, was. Und das beunruhigte ihn.
9. Kapitel
Der Chefredakteur zog Theora auf die Seite. Die Controllerin sah heute besonders hübsch aus. Sie trug ihre Haare nicht glatt und offen, sondern hatte sie zu einer Art Pferdeschwanz hochgebunden, von dem freche Strähnchen vorwitzig nach allen Seiten hingen. Diese Frisur wirkte unheimlich pfiffig, gab ihr etwas verlockend Mädchenhaftes. Es war Murray klar, daß Theora damit vor allem Edisons Aufmerksamkeit wecken wollte. Seit dieser dummen Geschichte mit dem nächtlichen Videophon-Anruf in der vorigen Woche stimmte es nicht mehr so richtig zwischen den beiden. Vordergründig waren zwar alle Probleme ausgeräumt, aber die gefühlsmäßige Barriere zwischen dem Reporter und seiner Controllerin war beinahe körperlich greifbar. Doch sein Widerwille, sich mit der Vu-Age-Kirche zu befassen, hatte andere Gründe. Soviel stand fest. »Hast du eine Ahnung, was das zu bedeuten hat, Theora? Er hat sich doch noch nie vor eine Story gefürchtet.« »Nein… sonst ist er beinahe übereifrig.« »Richtig… ich bin mir fast sicher, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmt.« »Irgend etwas stimmt mit allen Menschen nicht, Murray. Sonst wär’s auch langweilig.« Klang da ein wenig Resignation aus Theoras Stimme? Murray legte väterlich einen Arm um ihre Schulter. Er spürte, wie sehr sie unter ihrer gestörten Beziehung zu Carter litt. Und er wollte herausbekommen, was in dem Reporter vorging. »Was weißt du eigentlich über Edison?« fragte er beiläufig.
»Soviel, wie ich über ihn wissen muß.« Das klang fast ein wenig trotzig. »Hat er dir gegenüber jemals erwähnt, wie er… religiös eingestellt ist?« »Warum fragst du mich das?« Murray klang beinahe wie ein Verschwörer: »Männer… erzählen Frauen manchmal Dinge, die sie Männern nicht erzählen.« »Oh, schon verstanden!« Wenn der Chefredakteur glaubte, er könne Theora Bettkantengeflüster entlocken, hatte er sich schwer getäuscht. Zum einen würde sie Dinge, die sie bei solchen intimen Gelegenheiten erfahren hätte, niemals ausplaudern. Zum anderen hatte es mit Edison noch kein Bettkantengeflüster gegeben. Natürlich hielten fast alle den Reporter und seine Controllerin für ein Paar. Irgendwie stimmte das auch – auf einer rein emotionellen Ebene. Aber körperlich hatte sich zwischen den beiden noch nichts abgespielt. Vielleicht gerade deshalb, weil sie spürten, daß ihre Beziehung etwas ganz Besonderes war. Etwas, das die banale Ebene der Körperlichkeit weit überstieg. Etwas, dessen Belastungsfähigkeit in den letzten Tagen bis an die Grenzen ausgetestet worden war. Theora nahm an ihrem Kontrollpult Platz und aktivierte die Anlage. Es würde allerdings noch etwas dauern, bis Edison seinen Einsatzort erreicht hatte. Murray stellte sich hinter ihren Stuhl und schaute mit Verschwörermiene auf ihren Computerbildschirm. »Was meinst du… ob ich irgendwas in seinem Datensatz finde?« »Murray!« Theora war ehrlich empört. »Nein, nein, man soll nicht rumspionieren«, wiegelte der Chefredakteur ab. »Du hast ja recht.«
Die junge Frau warf ihm einen betont ironischen Blick zu. »Ich weiß genau, du würdest so was nie tun.« Er seufzte. Der Ruf, ein aufrichtiger, ehrlicher Mann zu sein, konnte manchmal ganz schön hinderlich wirken. Er beugte sich zum Keyboard hinab und betätigte die für ein spezielles Programm reservierte Ruftaste. »Max!« Im nächsten Moment erschien der vom Computer gezeichnete Kopf, der dem Edison Carters so verblüffend glich, auf dem Monitor. »Sie haben geläutet-tet?« »Ich merke schon, er bildet sich mal wieder ein, er wäre ein Butler!« Theora freute sich über jede neue Verrücktheit, die Max Headroom sich ausdachte. In Wahrheit war er viel mehr als ein spezielles Programm. Er war eine echte künstliche Intelligenz. Er lebte, dachte und fühlte genau wie alle anderen Menschen. Nur zu atmen brauchte er nicht. Jemand, der nur aus Elektronen besteht, hat keinen Bedarf für Sauerstoff. Und weil Max nicht atmen mußte, konnte er auch ohne Unterbrechung reden, wenn’s sein mußte. Pausen zum Luftholen hatte er nicht nötig. Deshalb quasselte er manchmal ohne Punkt und Komma drauflos. Murray setzte seine Verschwörermiene auf: »Max, du hast die gleichen Erinnerungen wie Edison… das stimmt doch?« Der Computer-Mann neigte den Kopf mißbilligend zur Seite. »Mh-hmm,mh-hmm… sagen wir lieber, er hat die gleichen Erinnerungen wie ich. Hmmmhhm!« »Hast du… oder hat Edison irgendeine religiöse Grundeinstellung?« Theora sah ihren Chef vorwurfsvoll an. »Murray, ich finde, du bist sehr indiskret.« »Nur, wenn ich etwas erfahren will.« So konnte man es natürlich auch ausdrücken.
Doch Max sah keinen Grund, irgend etwas zu verheimlichen. Das, wonach er gefragt worden war, konnte man eigentlich jedem erzählen. »Na ja… mhm-mhhm-mmm… dieser Teil unseres Gedächtnisses ist etwas durcheinander.« Murray holte sich einen Stuhl, um sich zu setzen. Denn er konnte an Max’ Miene ablesen, daß jetzt einer seiner allseits beliebten längeren Monologe kam. »Es… gibt da kein Knien auf harten hölzernen Kirchenbänken… keine Verteufelung d-des Rauchens, des Tanzens oder anderer Vergnügungen. Ebenso… gibt-gübt-gibt es keine heißen Tränen in der Kapelle… Kapelle! Tfff…tffft. Das habe ich wohl aus einem Heimatfilm.« Murray nickte. »Ja, danke, Max. Wir haben schon verstanden.« Aber das war offensichtlich überhaupt nicht der Fall. Der Computer-Mensch hingegen kam jetzt erst so richtig in Fahrt. »Mhhhm… da wüüür gerade bei diesem irren Thema ›TV-Religionen‹ sind… wa-wahr-lich, wahr-wahrlich, ich sage euch… es ist eine gute Tat, alle Spenden einzusammeln. Gottgottgott hat nur süüüben Tage gebraucht, die Erde zu erschaffen… aber die laufenden Reparaturen sind unglaublich teuer.« Murray stand auf und schob die Hände demonstrativ in die Hosentaschen. Max’ gestelzte Reden gingen ihm ganz schön auf den Wecker. Die Controllerin sah ihn grinsend an: »Das hast du nun davon!« Murray brummte sich irgendein unverständliches Zeug in seinen Schnurrbart. Max sah ihm von seinem Bildschirm in Triumphalpose nach. Es bereitete ihm unglaubliches Vergnüget, den Chefredakteur ein ums andere Mal niederzuquatschen.
Edison Carter hatte den Tempel der Vu-Age-Kirche erreicht. Das große Gebäude war unbewacht – zumindest vordergründig. Der Reporter war überzeugt davon, daß unsichtbare Kameras und elektronische Überwachungsfelder jeden Besucher genauestens kontrollierten. Spöttisch musterte er die große Eingangstür, die von einer Bronzetafel verziert wurde mit der Aufschrift: »Hier klopfst du an die Himmelspforte«. Er drückte die Tür auf und betrat das Innere des Tempels. Kühle, klare Luft füllte seine Lungen. Eine Atmosphäre ruhiger, überirdischer Gelassenheit schien ihn unwiderstehlich aufzusaugen. Carter packte seine Kamera fester. Er konnte sich nicht erklären, weshalb ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Er wünschte sich, Angela Barry wäre an seiner Seite. Doch die hatte ihn nur abgesetzt und war mit dem Hubschrauber gleich zum Sender zurückgeflogen. Sie würde erst kommen und ihn abholen, wenn er das Zeichen gab. Die große Tempelhalle machte jedem Menschen, der sie betrat, klar, wie klein und unbedeutend er im Angesicht der großen Kirche der noch größeren Vanna Smith war. Durch eine Rosette aus farbigem Glas im höchsten Punkt des großen Kuppelbaus drang nur gedämpftes Licht in den kreisförmigen Raum. Er wurde beherrscht von einer Figurengruppe: Vier überlebensgroße Frauenstatuen standen Rücken an Rücken im Zentrum der Halle und hielten gemeinsam eine geheimnisvoll schimmernde Kugel über ihren Köpfen. Die Statuen waren aus Bronze gegossen. Man hatte ihnen schlichte weiße Gewänder übergezogen, ähnlich denen, die Vanna Smith trug. Überall standen Computer-Monitore. Die meisten zeigten grobgerasterte schwarzweiße Bilder älterer Menschen. Die Halle war beinahe leer. Im Dämmerlicht sah Carter undeutlich eine zierliche kleine Frauengestalt auf der gegenüberliegenden Seite.
Er ärgerte sich über sich selbst. Ihm war völlig klar, daß ein Team ausgefuchster Psychologen und Architekten diesen Tempel so entworfen hatte, daß er jeden Menschen beeindrucken, ihm das Gefühl der Gegenwart von etwas Heiligem vermitteln mußte. Carter kannte die Tricks, mit denen solche Leute arbeiteten. Und es störte ihn gewaltig, daß sich sein Unterbewußtsein von diesen Tricks beeindrucken ließ, obwohl ihm sein Verstand unmißverständlich sagte, was da ablief. Er gab sich einen Ruck und setzte die Kamera auf die Schulter. »Sender 23, ich bin im Inneren des Tempels. Schneidet ihr mit?« »Ja, die Funkstrecke steht«, quäkte Theoras Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Wünsch mir Glück!«
Murray und Theora verfolgten auf den Kontrollschirmen jeden Schritt des Reporters. Die Bilder, die er ihnen übermittelte, waren erstklassig – sie zeigten auf beeindruckende Art und Weise, was für einen Prachtbau sich die Vu-Age-Kirche leisten konnte. Vanna Smith mußte sich wirklich aufs Spendensammeln verstehen. Trotzdem… »Seine Stimme hört sich irgendwie nervös an«, stellte Murray fest. Theora fand das auch. Doch sie hatte es nicht ausgesprochen, denn sie war sich nicht ganz sicher gewesen. Murray aber mußte es wissen – er kannte Edison schon sehr viel länger als sie. Es gab irgend etwas in der Vu-Age-Kirche, vor dem Edison Angst hatte. Aber was? Theora sollte es bald erfahren.
Langsam, zögernd, beinahe tastend durchquerte Carter mit der Kamera auf der Schulter die Tempelhalle. In jahrelanger Übung hatte er gelernt, beim Gehen nur durch den Sucher zu schauen. So konnte er immer und überall Aufnahmen liefern, ohne auf die Nase zu fallen. Er peilte die zierliche Frau an und ging geradewegs auf sie zu. Jennifer Marx war immer noch bei ihrem Humphrey, der sie vom Monitor aus leicht dümmlich angrinste. Die alte Frau genoß es, daß ihr Verblichener heute so viel geduldiger war als früher. Er hörte sich alles an, was sie ihm erzählte – und lächelte auch noch dazu. Als er noch lebte, war das anders gewesen. Da hatte er sie oft genug angeschnauzt, wenn sie ihm nach einem harten Arbeitstag auch noch mit ihrem Klatsch und Tratsch auf den Wecker gefallen war. Doch seit Humphrey im Computer lebte, gab es keinen Streß mehr für ihn. Vermutlich war er deshalb so geduldig. »Sarah war auch da«, plapperte Jennifer munter drauf los. »Du weißt doch, Dottys Enkeltochter. Sie hatte letzte Woche ihre erste Kunstausstellung. Oh, es war ein wunderbarer Erfolg für sie!« Die alte Frau strahlte über das ganze Gesicht. »Ach, Humphrey… ich wünschte, du hättest dabei sein können.« Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!« Carter verfolgte diese Szene mit offenem Mund, vergaß aber nicht, jedes Detail ins Bild zu bannen. Seiner neugierigen Kamera entging nicht die geringste Kleinigkeit. Erst jetzt merkte die Frau, daß sie schon längere Zeit beobachtet wurde. Aber das störte sie nicht. Sie sah zum Bildschirm und deutete dann entzückt auf den Reporter: »Ach, Humphrey, sieh mal! Du hast einen Besucher!« Das Gesicht auf dem Monitor zeigte das gleiche einfältige Grinsen wie immer.
»Sie sind einer von den Talbot-Jungs, nicht wahr?« flötete die lustige Witwe. Carter war irritiert. »Nein…nein, ich glaube nicht.« »Aber natürlich! Ich habe mich geirrt. Die Talbot-Jungs haben alle noch ihre Haare.«
Theora, die natürlich alles mitbekommen hatte, konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Sie wußte, wie besorgt Edison um seine täglich dünner werdenden Haare war. Diese Art von Humor aber wollte Murray überhaupt nicht einleuchten. »Was findest du daran komisch?« Obwohl er ziemlich pikiert klang, konnte sich Theora einen vielsagenden Blick auf seine spiegelnde Platte nicht verkneifen. »Oh, Entschuldigung!« lachte sie. Murray konnte Witze über haarlose Männer auf den Tod nicht ausstehen. »Könnte ich vielleicht die Personaldaten dieser Frau bekommen?« fragte er geschäftsmäßig-kühl. »Schon in Arbeit.« Theora nahm zwei Standbilder aus den Aufzeichnungen ab, die Carter lieferte. Eins zeigte die alte Frau von der Seite, eins von vorn. Das genügte dem Zentralrechner des Senders, alles über sie in Erfahrung zu bringen. Vorderansicht und Profil eines Menschen waren so einmalig wie ein Fingerabdruck. Der Computer brauchte nur wenige Augenblicke, um sich Zugriff auf die zentrale Datenspeicherung der Behörden zu verschaffen, die dort registrierten Bilder abzugleichen und die einzige Akte herauszufischen, die zu den von der Controllerin eingegebenen Aufnahmen paßte. »Bitte sehr. Ihr Name ist Jennifer Marx… ihr verstorbener Mann war – oder besser gesagt ist Humphrey.« Wie zur Bestätigung nahm Carters Kamera das Monitorbild vor der alten Frau genauer aufs Korn.
Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!« Carter hatte seine anfängliche Scheu überwunden. Er faßte seine Kamera fester. »Ich bin Reporter. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen stellen.« Die Frau schien geschmeichelt. »Oh, ich glaube, das können wir riskieren. Nicht wahr, Schatz?« Sie sah fragend zu Humphrey auf dem Monitor hinüber. Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!« »Sie… äh… glauben, daß dieses Videogebilde Ihr verstorbener Mann ist?« Die alte Frau wußte nicht so recht, was sie sagen sollte. Was meinte der fremde Mann? Zum Glück brauchte sie nicht länger nachzudenken, denn eine Hand schoß vor, bedeckte das Objektiv und drückte die Kamera nach unten. »Sie brauchen keine Fragen zu beantworten, Mrs. Marx«, sagte der nette junge Mann, den sie so sehr mochte.
Murray und Theora konnten nicht sehen, wer sich da an Carters Kamera vergriff. Ihre Bildschirme wurden erst dunkel und zeigten dann nur noch den Tempel-Fußboden (aus kostbarem italienischen Marmor, wie die Controllerin anerkennend feststellte). Der Chefredakteur knurrte vor Enttäuschung. Aber er wußte, daß ihm und seinem Reporter so ziemlich die Hände gebunden waren. Die Vu-Age-Kirche hatte nichts Illegales unternommen und brauchte sich den Medien nicht zu stellen. Im Tempel hatte sie Hausrecht. Wenn die Kirchenführer keine Interviews mit Carter wollten, dann würde es auch keine geben. Punktum.
Das wußte auch Edison Carter. Deshalb flüchtete er sich in die Offensive. Er wußte, daß der junge Mann, der ihm herausfordernd freundlich gegenüberstand und die Hand noch immer an seiner Kamera hatte, nicht viel unternehmen würde, solange Mrs. Marx die Szene verfolgte. Schließlich mußte der schöne Schein den Gläubigen gegenüber stets bewahrt bleiben. »Was machen Sie hier eigentlich?« Carter sprach mit Absicht laut. Er konnte momentan zwar keine Bilder übertragen, doch die Tonleitung war nach wie vor offen. Er wußte, daß Murray und Theora jedes Wort mithörten. »Ich schütze unsere Gemeindemitglieder«, sagte der junge Mann. Er war nicht älter als Carter, wirkte aber so. Denn er kleidete sich betont korrekt und konservativ. Die sachliche Brille mit dem schmalen Metallrand, die auf seiner etwas zu groß geratenen Nase saß, verstärkte diesen Eindruck noch. Gregory Saint wußte das. Es war immer gut, ein wenig älter, seriöser und reifer zu wirken, wenn man alten Leuten das Geld aus der Tasche ziehen wollte. »Sie befinden sich hier in einer Kirche«, erklärte er in dem näselnden Tonfall, der allen Leuten zu eigen sein schien, die sich ihrer Sache besonders sicher waren. »Das ist mir schon klargeworden. Sie verdienen sehr viel Geld… und zahlen keine Steuern.« So viel Unverfrorenheit verschlug Gregory die Sprache – und das wollte etwas heißen. Er hob die rechte Hand an den Mund, um das verräterische Zucken seiner Lippen zu verbergen. Ein, zwei Sekunden vergingen – dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Ich spreche gerne mit Ihnen über die Vu-Age-Kirche«, sagte er mit seinem verbindlichsten Lächeln. »Die Finanzen eingeschlossen. Wann immer Sie wollen… nur nicht an diesem Ort.«
Carter erkannte seine Chance. Er blickte hinüber zu Mrs. Marx und dem Monitor mit dem Bild ihres lieben Verblichenen. Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!«
10. Kapitel
Der große, helle Raum im hinteren Anbau des Tempels war ganz im Stil des modischen Neu-Barock gehalten. Ein mächtiger Kronleuchter hing unter der stuckverzierten Decke. Rechteckige Sprossenfenster lösten die Außenwand auf, machten sie zu einer Mauer des Lichts. Man hätte fast glauben können, sich im Lustschlößchen eines alten europäischen Fürsten aufzuhalten – wäre da nicht die alles beherrschende hochmoderne Maschine in der Mitte des Raumes gewesen. Ein Gehirnscanner – Mischung aus Enzephalograph, Recorder und Datenbank. Carter hatte seine Kamera wieder auf die Schulter gesetzt. Er ließ das Objektiv durch den Raum schweifen und übertrug die Bilder in die Kontrollzentrale von Sender 23 – mit Gregory Saints gütiger Erlaubnis. Wie versprochen, stand der Repräsentant der Vu-AgeBewegung Rede und Antwort. Gerade deutete er auf den komplizierten Apparat in der Mitte des Raumes. »Also… jedes Mitglied unserer Kirche kann, wenn es will, alle Vierteljahr einen Gehirnscan machen lassen.« »Umsonst, wette ich.« Carters Stimme triefte beinahe vor Hohn. Gregory wirkte irritiert. Wieder legte er zwei Finger an die Lippen, um seine Gefühle nicht zu verraten. Er ging auf die provozierende Frage des Reporters lieber nicht direkt ein. »Wenn der Tod eintritt, werden die Datensätze in einen unserer speziellen Computer eingespeist und verbleiben dort… um irgendwann damit an die Himmelspforte zu klopfen.«
Das Lächeln des Kerls war beinahe entwaffnend, fand der Reporter. Gregory deutete auf die umfangreiche ComputerAnlage, die eine Schmalseite des Raumes vom Boden bis zur Decke vollständig ausfüllte. »Und wenn eines Tages die Gewebegeneration perfektioniert worden ist, können wir für unsere Verblichenen neue Körper klonen lassen. Die gespeicherte Persönlichkeitsmatrix wird in den neugeschaffenen Körper eingelesen. Und das ist dann… die Wiedergeburt.« Ein erstaunliches Konzept, das zumindest vordergründig sehr plausibel klang. Aber darüber wollte Carter gar nicht nachdenken. Seine nächste Frage zielte auf ein ganz anderes Problem: »Nehmen wir an, dieser erstaunliche Zeitpunkt wird eines Tages wirklich kommen… kriegen dann die Mitglieder das Geld zurück?« Darüber hatte Gregory offenbar noch gar nicht nachgedacht. Carter setzte noch eins drauf: »Da könnten sich enorme rechtliche Probleme auftun.« Der Glaubensmanager rückte seine Brille zurecht. »Vanna Smith und ihre Mitstreiter sind sich darüber im klaren.« Es fiel ihm wohl schwer, eine passende Antwort zu finden. Aber wozu gab es in jeder Religion genügend Gemeinplätze, um allzu kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen? »Die Prophetin und ihre Jünger werden sicher Erleuchtung finden!« »Mit solchen Ausdrücken wäre ich vorsichtig.« Doch jetzt befand sich Gregory auf sicherem Boden. »Für alle Probleme wird es eine Lösung geben… bevor der Auferstehungsprozeß Realität wird.« »Es fällt mir schwer, das Ganze zu glauben.« Carters Cheviot und seine Controllerin waren genauso skeptisch wie der Reporter selbst. Und sie folgten Gregorys wortreichen, aber nichtssagenden Ausführungen am Monitor
mit dem gleichen Unbehagen, das auch der Reporter draußen vor Ort empfand. Der Kirchenmann fühlte sich jetzt auf der Siegerstraße. Er deutete auf seinen Computer und lächelte überlegen. »Der Fortschritt erfordert immer ein Umdenken…von uns allen. Aber Sie müßten mit diesem Verfahren doch vertraut sein, Mr. Carter. Wurde nicht auf ähnliche Art… auch Max Headroom erschaffen?« Murray runzelte die Stirn, als er Carters Antwort hörte, die alles andere als geistreich war: »Es erstaunt mich, daß Ihnen das bekannt ist.« »Erleuchtung!« Das Grinsen des Mannes war jetzt so unerträglich arrogant, daß Theora um ihren Monitor fürchtete. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der geplatzt wäre. Murray wußte, daß Carter ihn hören konnte. »Na los, Edison…mach den Kerl fertig!« feuerte er den Reporter an. Das brachte dem wohl ein wenig seiner gewohnten Schärfe zurück. »Sind Sie eigentlich ein Priester oder ein PR-Mann?« fragte er. Doch Gregory war gerade in Höchstform. »Ich möchte eine Gegenfrage stellen… gibt es da einen Unterschied?« Er fand, daß das ein passender Abschluß des Interviews wäre und schaute demonstrativ auf seine teure Uhr. »So… kann ich noch mehr für Sie tun?« »Ja, allerdings«, antwortete der Reporter zu seiner Überraschung. »Ich möchte mit Vanna Smith sprechen.« »Ja, Edison, das ist clever«, zischte Murray, und Theora nickte zustimmend. Gregory hingegen schüttelte den Kopf. Er ließ sich deutlich anmerken, was er von so viel Unverfrorenheit hielt. »Vanna Smith lebt in kontemplativer Zurückgezogenheit. Sie hat etwas gegen die Medien.«
Carter hatte die Kamera abgesetzt, aber sein Team im Sender hörte nach wie vor mit. Er trat an den großen Schreibtisch und nahm den Hörer auf einer altmodisch getrimmten InterkomAnlage von der Gabel. »Sie wird mich empfangen. Rufen Sie sie an.« Gregory starrte ihn an, verblüfft über so viel Chuzpe. Doch Carter ließ nicht locker. »Na los!« Da der Reporter seine Kamera wieder auf die Schulter setzte, konnten Theora und Murray sehen, wie Gregory den Hörer zögernd nahm und eine Nummer anwählte. Offenbar wollte er dem Reporter demonstrieren, wie aussichtslos sein Ansinnen war. »Ja, hier ist Gregory aus dem weltlichen Empfangsbüro. Hier ist jemand, der Vanna Smith sprechen möchte… ja, sein Name ist Edison Carter.« Der Blick, der Kamera schweifte unstet durch den Raum. Die zwei in der Nachrichtenzentrale blickten gespannt auf den Kontrollmonitor. Würde der Name des berühmten Reporters genügen, um Vanna Smith aus der Reserve zu locken? Plötzlich öffnete sich eine Tür, und gelbliches Licht drang in den großen Raum. Im Türrahmen erschien eine Gestalt, zuerst unkenntlich im Gegenlicht. Doch sie kam schnell näher. Vanna Smith – leibhaftig, so wie die große Schar ihrer Anhänger sie liebte und verehrte. Carter schwenkte die Kamera ein wenig zur Seite, um die Prophetin mit eigenen Augen zu sehen und nicht durch den Suchermonitor. Gregory war offensichtlich verwirrt. »Dr. Smith«, setzte er an, »es tut mir leid, aber…« Ein knapper Wink der Frau brachte ihn zum Schweigen. Lächelnd kam sie auf die Kamera – und damit auf den Reporter zu. Ihre Stimme war auch in natura so lieblich-weich, wie man sie aus den Vu-Age-Werbespots kannte. »Edison
Carter«, hauchte sie. »Es ist eine große Freude, dich wiederzusehen.« Und dann geschah etwas ganz und gar Unglaubliches. Die schöne Prophetin holte weit aus und schlug mit aller Macht zu. Krachend polterte die Kamera zu Boden. Murray und Theora starrten erschrocken auf den Kontrollmonitor, der schwarz wurde.
Der Reporter schlug der Länge nach hin, seine Kamera flog in hohem Bogen durch den Raum. Er tastete mit der Linken nach seinem schmerzenden Kinn. Er sah Vanna Smith an, als wäre sie das achte Weltwunder. In gewisser Weise war sie das sogar. Denn wer hätte schon geglaubt, daß in dem zierlichen Persönchen dermaßen viel Kraft steckte? Gregory offenbar nicht. Er glotzte seine oberste Herrin, die gerade einen ausgewachsenen Mann mit einem Schlag zu Boden geschickt hatte, an, als wäre sie der Osterhase höchstpersönlich. Gregory beschloß, diesen Zwischenfall möglichst bald aus seinem Gedächtnis zu streichen. Denn wie sollte man den Leuten eine Prophetin verkaufen, die Reporter verprügelt!
»Es ist einfach nicht zu fassen… sie hat ihn k.o. geschlagen!« Murray starrte immer noch auf den Monitor, der längst kein Bild mehr zeigte. Theora war wirklich schockiert. »S-Soll ich Verstärkung anfordern?« »Nein, nein. Edison wird zwei- bis dreimal im Jahr niedergeschlagen. Das gehört zu seinem Beruf.« Aber nicht von schönen Frauen. Doch das erwähnte Murray lieber nicht.
Etwas anderes interessierte ihn viel mehr: »Wir haben die Sache doch hoffentlich aufgezeichnet?« »Ja, natürlich!« Theora wußte nicht, was sie von all dem halten sollte. Weder von dem, was Edison zugestoßen war, noch von der Reaktion ihres Chefs darauf. »Oah, ah… Vanna Smith!« Max Headroom hatte sich ungefragt auf einen der freien Monitore geschaltet und grinste herausfordernd-frech vom Bildschirm. »Eine der wenigen erleuchteten Frauen dieser Welt.« er produzierte das gräßlichste Gähnen, das in seinem Mimik-Unterprogramm zu finden war. »Du kennst Vanna Smith?« Murray witterte plötzlich etwas. »Was? Ich?« Auf einmal war Max ganz Unschuldsknabe. »Bei der Beichte würde ich sagen… nein.« Jetzt spürte auch Theora, daß da mehr war, als der ComputerMensch zugab. »Moment mal, Max. Murray will wissen, ob Edison Vanna Smith kennt.« »Edison? Oaoch… wie heißt es doch so schön? ›Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten‹… mhhhmm!« Er zog ein paar der schönsten Gesichter, die er den Charmeuren aus den uralten Spielfilmen abgeschaut hatte. Max war nämlich gerade auf dem Fred-Astaire-Trip. »Es ist ja auch nicht so wichtig«, seufzte Theora. »Es ist sogar unwichtig«, knurrte Murray, der langsam ahnte, was sich hier abspielte. »Pha-Pharisäer!« Ein kurzes Rauschen, und Max war verschwunden. Die oberste Repräsentantin und Herrin der Vu-Age-Kirche, die erleuchtete Prophetin Vanna Smith, hatte ihren eifrigen Diener Gregory Saint fortgeschickt. Diesem Befehl war er nur allzu gerne nachgekommen. Und so waren der Reporter und die Fernseh-Evangelistin nun allein in dem großen Raum. Carter lag ausgestreckt auf dem breiten Sofa. Vanna Smith
kniete vor ihm auf dem Boden und drückte ihm einen Eisbeutel aufs Gesicht, damit es nicht gar zu sehr verschwoll. »Es tut mir aufrichtig leid, Edison«, hauchte sie. »Das ist die Wahrheit.« Plötzlich war nichts Göttliches mehr an ihr. Sie war nur noch Frau. Carter schnaufte. »Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat.« Vannas strahlend blaue Augen schienen inständig um Vergebung zu bitten. »Erwarte nicht, daß ich die andere Wange auch noch hinhalte!« brummte der Reporter. Vanna stand auf und setzte sich zu Carters Füßen ans andere Ende des Sofas. Aus der Nähe betrachtet erkannte man, daß sie schon älter war, als es ihr Bildschirm-Image glauben machen wollte. Die 30 hatte sie wohl schon überschritten, wie leichte Fältchen in ihren Augenwinkeln signalisierten. Und auch um die Hüften war sie ein Ideechen zu füllig, um noch eine Idealfigur zu haben. Trotzdem – Vanna Smith war nach wie vor eine attraktive Person. Carter spürte diesen unerklärlichen Kloß in seiner Kehle. Er hatte sie jahrelang nicht gesehen – wieso fühlte er sich dann so seltsam, als er ihr plötzlich gegenüberstand? Wie ein Schuljunge bei seinem ersten Rendezvous! »Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir einen ziemlichen Streit, als wir uns das letzte Mal sahen«, lächelte Vanna. »Damals hast du mich auch geschlagen.« Carters Stimme klang bemüht witzig, doch er konnte einen vorwurfsvollen Unterton nicht ganz verbergen. Anerkennend sah er sich in dem prachtvoll ausgestatteten Gemach um. »Und du bist die Frau, die das Armutsgelübde abgelegt hat.« Die Prophetin antwortete nicht, sondern sah ihn nur mit ihren großen blauen Augen unschuldig an.
Carter richtete sich auf. »Entschuldige! Ab sofort… bin ich außer Dienst.« Vanna lachte. War sie etwa verlegen? Auf jeden Fall stand noch immer etwas wie eine unsichtbare Mauer zwischen den beiden. »Das gilt allerdings nicht für dich!« Vanna mußte sich umdrehen, um seinen Blick folgen zu können. Er fiel auf den großen Wandmonitor, auf dem gerade eine der Werbesendungen ihrer Kirche ablief. Vanna stand an einem großen Altar, einem aus Stein gehauenen Vu-AgeSymbol. Kerzen flankierten sie zur Rechten und zur Linken. Sie sorgten für ein weiches, schmeichelndes Licht, das sie so sehr liebte – weil es sie jünger erscheinen ließ. Die Vanna Smith auf dem Bildschirm öffnete und schloß den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Das lebendige Original nahm eine Fernbedienung zur Hand und schaltete den Ton ein. Fasziniert beobachtete Carter, wie sehr die Frau ihre Auftritte genoß. Offensichtlich hieß einer der größten Vanna-SmithFans Vanna Smith. »Wann hat Ihnen das letzte Mal jemand angeboten, Ihre Seele zu retten?« säuselte die Predigerin vom Bildschirm. »Uns können Sie vertrauen. Wir bieten Seelenrettung, die man spürt. Sie haben es verdient, daß wir…« Vanna schaltete den Ton wieder ab, als sie Edisons spöttische Blicke spürte. »Na, zufrieden?« höhnte der Reporter. »Mit der Show?« »Mmm-hhhm.« »Na ja, es ist nicht Onkel Toms Hütte… aber es funktioniert.« Carter mußte sich schwer beherrschen, um nicht ausfallend zu werden. »Die Vanna Smith, die ich kannte, hätte Bedenken
gehabt, Geld von Menschen zu nehmen, die es sich nicht leisten können, Geld zu spenden.« »Mag sein. Aber mit dieser Vanna Smith hast du dich jahrelang gestritten.« »Kein Wunder.« »Spiel dich nicht zum Richter auf, Edison!« Ihr mahnend erhobener Zeigefinger und der scharfe Ton ihrer Stimme ließen die Erinnerung an den sanften Engel der Bildschirme augenblicklich verblassen. »Genau besehen… sind wir sogar in der gleichen Branche gelandet. Wir haben beide das Ziel, die Massen einzulullen. Wenn du eine deiner Reportagen für Sender 23 machst, hast du auch keine Skrupel. Einen Übeltäter, den du interviewt hast, bringst du hinterher nicht ins Gefängnis. Du gehst weg mit der festen Überzeugung, daß diese Aufgabe von jemand anderem übernommen wird. Und ich… mache es ähnlich.« Das saß! Wieso nur mußte sich Carter immer, wenn er mit dieser Frau zusammen war, verteidigen? »Mein Berufsethos steht hier nicht zur Diskussion! Du kannst mich nicht davon überzeugen, daß es richtig ist, den Menschen ein Leben nach dem Tode zu versprechen, wenn man es ihnen nicht liefern kann.« »Edison!« Vanna bot all ihre Überzeugungskraft auf. »Ist es dir denn niemals in den Sinn gekommen, daß du unrecht haben könntest? Ich weiß, es grenzt an Blasphemie… aber auch der große Edison Carter kann Fehler machen!« »Du willst sagen, ich hätte nicht den Mut, das zuzugeben?« »Ja.« »Ist das dein voller Ernst?« »Natürlich! Sonst würde ich’s ja nicht sagen!«
Carter nahm den Eisbeutel vom Gesicht und setzte sich aufrecht hin. Er schüttelte den Kopf. »Du hast dich nicht geändert…« »Du auch nicht!« Für einen Moment saßen sie stumm nebeneinander und schwiegen sich zornig an. Vanna startete einen letzten Versuch. »Ich… ich glaube an dieses System! Viele andere Menschen glauben auch daran. Und wenn du nicht glauben willst… nicht glauben kannst… bleibt mir nur noch eins zu tun. Ich bete für dich.« Der Reporter blickte die immer noch so schöne Frau, für die er einst so viel empfunden hatte, zweifelnd an. Glaubte sie wirklich an diesen Quatsch, den sie da verzapfte? Oder hielt sie ihn immer noch für den gutmütigen Trottel, der er einmal gewesen war – und der ihr alles glaubte, nur wegen ihrer unschuldigen blauen Augen?
11. Kapitel
Bryce Lynch, der blutjunge Chef der Abteilung Forschung und Entwicklung des Senders 23, hatte ein neues Hobby entdeckt: die Chemie. Auf seinem Rückweg vom Vu-Age-Tempel hatte Carter zuerst einen Abstecher ins geheime 13. Stockwerk des 23er-Towers gemacht. Er wollte die Meinung des Experten zu den Versprechungen hören, die Vanna Smith ihren Gläubigen machte. Bryce ließ sich bei seinen Experimenten nicht stören, aber er hörte sich Carters Vortrag aufmerksam an. Sich mit zwei Problemen gleichzeitig zu beschäftigen, war eine seiner leichtesten Übungen. Auf dem großen Arbeitstisch hatte das junge Genie eine ganze Reihe gläserner Geräte und Rohrleitungen aufgebaut. Eine Batterie von Bunsenbrennern hielt eine Reihe verschiedenfarbiger Flüssigkeiten am Brodeln. »Chemie ist, wenn es stinkt und kracht« – offenbar arbeitete Bryce sehr genau nach diesem Motto des unvergessenen Chemotheoretikers A. D. Schoepps, Zumindest stank es fürchterlich. Carter kam mit seinen Ausführungen zum Schluß: »Zusammengefaßt… man bezahlt viel Geld dafür, um sich duplizieren zu lassen.« »Im Experiment hat das schon funktioniert…« Bryce brachte den Brenner an eine dampfende Lösung – ein Hall wie Donnerschlag, ein blendender Blitz, dicker Qualm – jetzt hatte es auch gekracht. Das junge Genie schien nicht sonderlich beeindruckt. »Man braucht sehr viele Daten.«
Bryce drehte sich zu Carter um, und der Reporter mußte unwillkürlich grinsen. Gesicht und Brille des Jungen waren rußgeschwärzt, ebenso wie sein vorhin noch blütenweißer Laborkittel. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Ihre Spitzen waren ein wenig angesengt. Mit strenger Miene nahm Bryce Carter den Plastikfisch aus den Fingern, mit dem der Reporter gespielt hatte. Der Junge fand es schrecklich, wenn ein Erwachsener Zeuge einer seiner – seltenen – Niederlagen wurde. Er setzte sich und nahm einen kleinen Taschencomputer zur Hand. »Im Prinzip ist das ganz einfach. Die Daten werden gescant und dann gespeichert.« Gleichzeitig tippte er ein Protokoll seines fehlgeschlagenen Experiments in den MiniRechner. »Daten scannen und speichern«, echote Carter. »Das heißt, es gibt eine Konserve…« Er nahm ein Taschentuch heraus und wischte Bryce den Ruß von der Wange. Widerwillig schob der Junge die helfende Hand beiseite. »Eine Konserve deiner Persönlichkeit von dem Tag, an dem du im Tempel gescant wurdest«, fuhr der Reporter fort. »Und nach deinem Tode… wenn deine sterblichen Überreste das Recycling durchlaufen haben… ruft man den Datenblock deiner Persönlichkeit auf und verarbeitet ihn weiter.« »Jjja. Das ist hundertprozentig realisierbar.« Bryce nahm seine Brille ab und versuchte zu erkennen, wieviel Ruß auf den Gläsern saß. Nicht einfach für einen Kurzsichtigen wie ihn. Also steckte er sich die Sehhilfe wieder auf die Nase. »Man kann dich dann auf dem Bildschirm sehen und mit dir reden… bäääh!« Angewidert verzog Carter das Gesicht. »Ja… und genau da stoßen wir auf die ersten schwerwiegenden Probleme, Edison.« Es kostete Bryce einige Mühe, die angeschmorten Gummi-Laborhandschuhe von den Fingern zu ziehen. Glücklicherweise hatte die Isolierung
gehalten und die Hände des Jungen vor schweren Brandverletzungen geschützt. »Man braucht riesige Datenspeicher… etwa so groß wie die hier im Sender 23… um auch nur einen einzigen Menschen zu duplizieren.« »Das heißt… die Leute, die sich im Tempel mit ihren toten Verwandten unterhalten, reden in Wahrheit mit einer Schaufensterpuppe?« Carter wollte eigentlich einen Witz reißen, doch Bryce nickte todernst. »Ja. Sämtliche Antworten sind vorprogrammiert.« Carter konnte nicht mehr still sitzen. Er stand auf. »Aus diesem Grund gibt es wohl auch das Luxusangebot… wer mehr bezahlt, darf darauf hoffen, daß die Vu-Age-Kirche sein Datenpaket irgendwann in der Zukunft in einen neuen, perfekten Körper überspielt. Dadurch erlebt man eine Art Wiedergeburt.« Er setzte sich wieder auf den freien Platz neben Bryce. »Was sagst du dazu?« Der Junge blinzelte über den Rand seiner rußverschmierten Brille. »Na ja… ich verwende niemals das Wort ›unmöglich‹.« »Das habe ich schon bemerkt.« Offenbar war Carter mit dieser Antwort noch nicht ganz zufrieden. Bryce rief ein paar Aufzeichnungen von den ersten Experimenten mit dem Max-Headroom-Programm ab. Noch einmal konnte Carter sehen, wie sein Bewußtsein in das Programmgerüst strömte und es mit Leben erfüllte. Er wußte, daß das menschliche Bewußtsein im Prinzip nichts anderes war als ein komplexer Datensatz. Es war Bryce damals gelungen, Carters Bewußtsein elektronisch abzutasten, aufzuzeichnen und zu digitalisieren. Diese Daten hatte er in ein einzigartiges Programm gefüttert, das ihnen die Möglichkeit gab, sich so vollständig zu entfalten wie in einem menschlichen Gehirn. Im Prinzip hatte Bryce nichts Geringeres als einen zweiten, elektronischen Edison Carter erschaffen.
Doch von dem Moment an, als sich das Programm seiner Existenz bewußt wurde, lebte es sein eigenes Leben in den Computern und Datennetzen. Die künstliche Intelligenz entwickelte sich ganz anders weiter als ihr menschliches Vorbild. Deshalb gab sie sich auch einen eigenen Namen: Max Headroom. Die Stimme des Jungen riß Carter aus seiner Grübelei. »Es wäre natürlich möglich, ein sehr komplexes und großes Datenpaket in der Art von Max Headroom in einen eigenen Körper zu… zu transferieren.« »So etwas solltest du nicht einmal denken!« Für den Reporter war die Vorstellung, es mit einer atmenden, gehenden, rundum menschlichen Zweitausgabe der eigenen Person zu tun zu haben, alles andere als wünschenswert. Bryce ließ sich lieber nicht näher auf dieses Thema ein. Für ihn stand fest, daß ein Wissenschaftler alles durfte. Er würde immer versuchen, das zu verwirklichen, was er für möglich hielt. Auch künstliche Körper, wenn ihm das wünschenswert erschien und er die Sache für realisierbar hielt. Die Tat des Forschers, die Ergebnisse seiner Arbeit konnten niemals böse sein. Böse war nur das, was die anderen daraus machten. Aber darauf hatten Bryce und seine Kollegen keinen Einfluß. Doch Edison würde das nie verstehen. Deshalb lenkte er lieber von dem gefährlichen Thema ab: »Mit den lächerlichen Apparaten, die die Vu-Age-Kirche besitzt, könnte man höchstens einen Idioten regenerieren, der nicht mal eins und eins zusammenzählen kann!« »Und dafür spenden die Menschen ihre gesamten Ersparnisse!« Klang da Resignation aus Carters Stimme? Bryce stand auf. »Viele Menschen geben ihre Ersparnisse jedem, der im Fernsehen darum bittet«, stellte er sachlich fest. »Oder etwa nicht?«
Carter dachte einen Moment nach. Das Ergebnis war unerfreulich. »Es sieht leider ganz so aus, als hättest du recht.« Der Junge nickte zufrieden. Hatte er nicht immer recht?
Eine Viertelstunde später kam Carter in die Nachrichtenzentrale. Er schlich mehr, als daß er ging. Die betriebsamen Redaktionsräume hier oben im 48. Stock waren so etwas wie seine zweite Heimat, sein Lebensmittelpunkt. Normalerweise blühte er auf, wenn er hierherkam. Doch heute konnte selbst ein Blinder die zentnerschwere Last erkennen, die auf die schmalen Schultern des Reporters drückte. Er schlich fast hinüber zu seinem Arbeitsplatz. Murray sah ihn hereinkommen und heftete sich an seine Fersen. Er erreichte Edison, wußte aber nicht recht, was er sagen sollte. Schließlich versuchte er es mit einem Witz: »Einer der Gründe, warum ich zum Fernsehen gegangen bin, war… ich wollte Mädchen kennenlernen.« Carter quälte sich ein müdes Lächeln ab. »Wie machst du das, Murray? Du wirst von Mal zu Mal komischer.« Seine Miene drückte allerdings das genaue Gegenteil aus. Er wirkte, als käme er gerade von einem Leichenschmaus. »Alles okay?« Murray war wirklich besorgt. Wieso sah es dann überhaupt nicht danach aus? Natürlich ahnte Murray die Zusammenhänge längst. »Vielleicht hast du Lust, mir etwas über Vanna Smith zu erzählen. Oder schlägt sie einfach jeden Reporter nieder, der in ihre Nähe kommt?« Das saß. Carter zeigte Wirkung. »Hör zu, du bekommst deine Story. Irgendein Tele-Evangelist wird ins Gras beißen.« Er drehte sich um und strebte dem Ausgang entgegen. »Vertrau mir«, rief er Murray über die Schulter zu. »Kann ich das?«
Carter überhörte die Frage – oder besser gesagt, er wollte sie überhören. Seit er Vanna Smith wiedergesehen hatte, wußte er ja nicht einmal, ob er sich selbst noch vertrauen konnte. Der Weg zum Expreßlift führte ihn an Theoras Kontrollpult vorbei. »Hallo!« kam die freundliche Begrüßung. Carter blieb einen Augenblick stehen, sah Theora in die Augen, holte Luft, als wolle er etwas sagen – und brachte dann doch nur ein müdes »Wiedersehen!« zustande. Murray hatte die Faxen langsam dicke. »Verlieren wir vielleicht ein wenig unsere Objektivität?« rief er dem Reporter hinterher. Doch der war schon im Lift verschwunden. »Was ist nur mit Edison los?« Aus Theoras Stimme klang echte Besorgnis. Auch Murray machte sich Gedanken. »Irgend etwas ist zwischen ihm und Vanna Smith vorgefallen. Vor ein paar Stunden wollte er nicht mit ihr reden… und jetzt wirkt er auf mich, als wolle er sie umbringen!« Theora stöhnte. Warum nur mußten Männer derart kompliziert sein? »Murray, Mr. Cheviot auf Leitung zwei!« rief eine der Researcherinnen. Der Chefredakteur sprang auf und lief hinüber in sein kleines separates Büro. Den großen Vorsitzenden ließ man nicht warten. Theora setzte sich an ihren Computer. Es war an der Zeit, mehr über Edisons Beziehung zu Vanna Smith zu erfahren. Eigentlich schnüffelte sie nicht gern im Privatleben anderer Menschen herum. Aber wenn die Arbeit unter privaten Problemen litt, mußte etwas unternommen werden. Sie rief Max Headroom. »Und Gooott erschuf den Fisch, der im Wasser schwimmt… die Vögel, die in der-der Luft fliegen.« Der Computer-Mensch gab sich wirklich alle Mühe, die marktschreierisch-kitschigen
Fernseh-Evangelisten zu imitieren, die vor allem gegen Ende der goldenen 80er Jahre sehr an Einfluß gewonnen und viel zum Untergang der letzten Wohlstandsgesellschaft mit beigetragen hatten. »Und daaann… dann erschuf er den Menschen, der auf der Erde wandelt. Als Krrrönung erschuf er… Vanna Smith.« Er verzog das Gesicht zu einer Miene des Abscheus. »Das genügt, Max. Wenn du willst, kannst du aufhören«, schlug Theora vor. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust auf eine Prediger-Satire, und wenn sie noch so gut war. »Ich-ich kann nicht aufhören! Nein, nein. Naaiiiin! Nein.« Der Computer-Mann stotterte zwar nicht mehr so schlimm wie früher, dafür jagte er seine Stimme jetzt durch sämtliche Tonlagen, von Hoch nach Tief und zurück. Offenbar hatte sich sein sprachlicher Geschmack in den letzten Wochen gewandelt. Theora schmunzelte. »Na gut, Max. Ich merke, du brennst darauf, es mir zu sagen. Hatten die beiden ein Verhältnis oder nicht?« Max versetzte sich in die Rolle eines Regierungssprechers, der mit amtlicher Blasiertheit ein offizielles Staatsgeheimnis ausplaudert. »Nun-nun, gut, wenn ein dreidreijähriger Boxkampf in einem Schlafzimmer ein Verhältnis ist, ist… dann ja!« »So detailliert wollte ich es nicht wissen.« Theora schluckte. »Ich bin mehr an Edisons Gefühlen interessiert… hat er Vanna geliebt?« Der Computer-Mann geriet ins Schwärmen. »Mhhhmm… ah! Aaah! Liiieeebe! Spaziergänge über saftige grüne Wiesen… zärtliche Abendessen bei Ke-Ker-Kerzenschein… Streitereien über nichts und alles…« Ganz verzückt kramte er in Edisons Erinnerungen – und wurde sich auch der vielen schönen
Nanosekunden wieder bewußt, die er mit seiner Computerliebe A-7 geteilt hatte. »Entschuldige.« Er gab sich einen Ruck. »Wo war ich stehengeblieben?« »Du sagtest mir gerade, daß Edison Vanna geliebt hat.« Er gab sich wieder ganz seriös, wiegte nachdenklich den Kopf und sprudelte dann los: »Mhhhmmm… die Gef-fü-füfühledieerempfand, waren sehr stark.« »Aha. Das erklärt so einiges.« Auf einmal tat Edison Theora leid. Sie hatte nichts davon gewußt, daß er schon eine derart intensive Beziehung erlebt hatte. Eine Beziehung, die offensichtlich nicht von seiner Seite aus gescheitert war, das ließ sich aus seinem Verhalten deutlich ablesen. Deshalb hatte er wohl auch in der vorigen Woche so hysterisch reagiert, als er Theora in den Armen ihrer Zufallsbekanntschaft Gary gesehen hatte. Carter gab sich so stark, so unschlagbar. Dabei war das meiste nur Fassade, um sein verletzliches Inneres zu schützen. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, als Carter mit einem Haufen Material in der Redaktion erschien und sich den nächsten freien Techniker griff. Er knallte dem dicken Ron, der Hektik so sehr haßte, einen Stapel Video-Cassetten auf den Tisch und machte sich unverzüglich daran, ein sendefähiges Band zusammenzuschneiden. Ron, der nach Edisons Anweisungen die Bilder auf einer neuen Cassette, dem sogenannten »Mutterband«, zusammenfügen mußte, kam ganz schön ins Schwitzen. Denn Carter war nicht nur für präzises Arbeiten bekannt, sondern bei den Techniker auch wegen seines Tempos gefürchtet. Endlich war er mit dem Produkt zufrieden. Er ließ die fertige Cassette einmal durchlaufen. Theora, die nicht weit entfernt an ihren Kontrollen saß, machte lange Ohren, um ja alles mitzubekommen.
»Betrug tritt in den unterschiedlichsten Formen auf«, eröffnete Carter seinem Publikum. »Da gibt es die Kreditkartenabrechnungen des Mannes, aus denen seine überraschte Ehefrau plötzlich – und zufällig – ersehen kann, daß er regelmäßig einen Sex-Therapeuten aufsucht. Da ist das Kind, daß unerlaubt vor dem Fernseher einschläft. Oder der Fernsehheld, der sich nach 2500 Folgen als Fernsehfeigling erweist. Ich will heute über einen noch viel größeren Betrug berichten. Menschen, die behaupten, im Namen Gottes zu sprechen, haben sich als Lügner erwiesen.« Nach diesem Vorspann wurden nun die verschiedenen Interviews eingespielt, die Carter aufgenommen hatte. Doch als guter Fernsehmann wußte er, daß die beste Sendung ohne packende Einleitung nichts taugte. Wenn die uninteressant war, schalteten die Zuschauer schnell auf einen anderen Kanal. Deshalb mußten sie von Anfang an fasziniert werden, um Edisons Show eingeschaltet zu lassen. Und in aller Regel taten sie das. Denn heiße Aufmacher waren seine Spezialität. »Sehr beeindruckend«, kommentierte Theora. Carter warf ihr einen schiefen Blick zu. Er war sich nicht sicher, ob sie das ehrlich meinte oder ihn nur aufziehen wollte. Also ging er lieber nicht auf die Bemerkung ein. Er wandte sich an den Techniker. »Ja, das gefüllt mir gut, Ron. Gleich morgen früh führe ich es Murray vor.« »Das wird eine tolle Sendung!« »Hoffentlich… danke, Ron.« »Ist schon okay.« Der Dicke stand auf und sah zu, daß er aus der Redaktion kam. Sein Feierabend fing jetzt an, und er hatte keine Lust, noch für irgendeinen eiligen Schnellschuß Überstunden machen zu müssen.
Theora stand auf und kam herüber. Sie verschränkte die Arme unter der Brust, so, als müsse sie sich an sich selbst festhalten. »Willst du Vanna wirklich entlarven?« fragte sie. »Ja. Ich habe den Eindruck, daß das unsere Pflicht ist.« »Aber das machst du bestimmt nicht gerne. Ihr zwei habt doch eine gemeinsame Vergangenheit.« Carter sah sie überrascht an. »Oh, Miss Jones… ich wußte ja gar nicht, daß du dir wegen meines Privatlebens Sorgen machst.« »Ich mache mir deinetwegen Sorgen.« In ihren Augen konnte er lesen, daß sie es ehrlich meinte. »Murray will eine gute Story haben, und das könnte eine werden. Aber niemand kann von dir erwarten, daß du eine alte Freundin kompromittierst.« »Ja, das ist ein interessanter Aspekt.« Carter spürte genau, wie zwei gegensätzliche Kräfte sich in seiner Brust bekämpften. Die eine hatte »Aufklärung der Öffentlichkeit« auf ihre Fahnen geschrieben – doch in Wirklichkeit schrie sie nach Rache. Rache an der ersten – und einzigen? – Frau, die Edison wirklich geliebt hatte. An der Frau, die ihn so furchtbar enttäuscht hatte. An der Frau, die er auf eine seltsame, fast morbide Art noch immer begehrte. Die andere Kraft wollte verzeihen, vergessen, einen völligen Neuanfang wagen. Vielleicht sogar mit Theora Jones. Doch nach dem Erlebnis in der letzten Woche hatte Carter Angst, daß ihn Theora genauso verletzten könnte, wie Vanna das einst getan hatte. Er sah der Controllerin forschend in die blauen Augen. »Was würdest du an meiner Stelle tun?« »Man könnte der Freundin das Videoband vorführen, bevor wir es senden«, schlug sie vor. »Damit gäbe man der Freundin eine Chance. Menschen können sich ändern.«
»Ja, sicher. Aber würde man mit so einer Maßnahme… die alte Freundin nicht zu sehr bevorzugen?« »Mhhmmm.« Theora wußte, daß Edison seine beruflichen Prinzipien über alles stellte. Aber Prinzipien waren schließlich nicht alles! »Du solltest es tun. Es hätte so etwas Menschliches.« Sie langte nach dem Hörer des Videophons und tippte eine Nummer ein. Carter sah ihr interessiert zu. »Wen rufst du an?« »Vanna Smith.« Er verstand überhaupt nichts mehr. Weshalb wollte ihn Theora unbedingt mit Vanna zusammenbringen? Wollte sie damit ihre Toleranz beweisen? Oder wollte sie erreichen, daß er sich auch innerlich endgültig von Vanna löste und frei wurde – frei für wen? Für Theora? Carter war sich nach wie vor nicht darüber im klaren, was sie wirklich für ihn empfand. Er nahm den Hörer. Theora merkte, daß seine Hand zitterte. Offenbar war die Macht dieser falschen Göttin über ihn nach wie vor ungebrochen.
12. Kapitel
Carter hatte sein geschmackvoll eingerichtetes Apartment ganz auf »romantisch« getrimmt. Der Tisch war festlich gedeckt. In den kostbaren silbernen Leuchtern, die er einst geerbt hatte, brannten teure echte Kerzen – ein Luxus, den sich längst nicht jeder leisten konnte. Der Fernseher war auf den Feuerkanal geschaltet. Auf diesem Kanal wurde rund um die Uhr nichts anderes gezeigt als ein fröhlich flackerndes Kaminfeuer. Echte Kamine waren schon lange verboten, denn wenn man die Luftverpestungen der Industrie schon nicht stoppen konnte, mußten wenigstens die Privathaushalte ihr Scherflein zum Umweltschutz beitragen. Carter hatte ein köstliches Mahl vom Automatenrestaurant liefern lassen. Sogar eine Flasche Wein (vom hervorragenden Jahrgang 1996) stand auf dem Tisch. Für Vanna Smith war ihm das Beste gerade gut genug. Und nun saß sie mit ihm am Tisch, schöner als je zuvor, und alles schien wieder so zu sein wie in den guten alten Tagen. Kokett schlug sie die Augen auf – dabei durchfuhr es ihn jedesmal heiß und kalt – und sagte mit ihrer leisen, sinnlichen Stimme: »Deine Einladung hat mich doch ziemlich überrascht. Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich überhaupt kommen sollte… aber jetzt bin ich froh, daß ich’s getan habe.« Carter holte tief Luft, bevor er zu einer Antwort fähig war. »Ich hoffe, in ein paar Minuten denkst du noch genauso.« »Ich will ehrlich sein…« Vanna wirkte auf einmal sehr alarmiert. »Die Art, wie du das sagst, gefällt mir gar nicht.« »Ich… äh…« Carter kam sich wie ein Trottel vor, daß er ausgerechnet jetzt zu stottern anfing. Aber Vanna wirkte
plötzlich wie eine Raubkatze auf ihn. Eine Raubkatze, die ihr Opfer taxierte. Ihn. Er gab sich einen Ruck: »Ich verstoße jetzt gegen meine eigenen Regeln. Ich habe eine Kopie meiner Sendung über die Vu-Age-Kirche für dich. Du darfst sie vor der Ausstrahlung sehen.« »Wieso?« Vanna wirkte verwirrt. »Ich weiß nicht.« Er lachte verlegen. »Vielleicht, um deine Reaktion zu testen.« Langsam begriff die selbsternannte Prophetin. »Du willst sehen, ob ich mich geändert habe?« »Ich möchte dir eine Chance geben, dich zu ändern.« Einen Augenblick lang wirkte sie verwirrt, vor den Kopf gestoßen. Als sie endlich zu einer Antwort ansetzte, war jede Wärme, jede dunkle Verheißung aus ihrer Stimme gewichen. »Es hat sich tatsächlich einiges geändert… vor allem deine Technik!« fauchte sie. »Früher war es ein gutes Abendessen und danach… leidenschaftliche Liebesspiele.« Für einige Sekunden schien sie in schönen Erinnerungen zu schwelgen, und Carter mußte unwillkürlich lächeln. Gott, wie hatte er diese Frau geliebt! Ja – er hatte sie regelrecht verehrt! Vannas Stimme riß ihn auf den Boden der schnöden Tatsachen zurück: »Jetzt hast du nur noch eins im Sinn… ambitioniertes Dreckaufwühlen!« Schon wurde ihre Stimme wieder weicher, schmeichelnder. »Edison, kannst du mir versprechen, daß mich das Video glücklich machen wird?« Er lachte verlegen. »Ich wünschte, ich könnte es… aber ich fürchte, daß wäre eine Lüge.« »Dann wollen wir deine Idee lieber vergessen.« Carter versuchte, ein halbwegs vernünftiges Lächeln zustande zu bringen. »Ehrlich gesagt, ich bin erleichtert. Weißt du, im Grunde ging es mir nur darum, dich wiederzusehen. Aber…« Das Geständnis fiel ihm schwer: »Nicht als Feindin.«
Vanna antwortete nicht. Sie beugte sich vor, kam näher, näher, und ihre vollen, leicht geöffneten Lippen wirkten wie die Verheißung des Paradieses. Ganz sanft schloß sich ihre Hand um seinen Nacken, ihre Finger kraulten ihn hinter dem Ohr, und sie küßte ihn, wie er seit Jahren nicht mehr geküßt worden war. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Seine Gefühle wirbelten alle logischen Überlegungen fort wie der Herbststurm welke Blätter. Er fühlte sich wie ein Verdurstender in der Wüste, der endlich die rettende Oase findet. Sicher, nach Vanna hatte es andere Frauen gegeben – aber keine war so wie sie. Manchmal hatte er sogar an sie gedacht, wenn er mit irgendeiner anderen im Bett war – und sich einfach vorgestellt, das Mädchen in seinen Armen wäre Vanna Smith. Er wußte, daß das nicht richtig war. Doch was konnte er dagegen tun? Er war dieser Frau ausgeliefert. »Wir haben uns nicht immer gestritten… habe ich recht?« flüsterte der Engel. Edison war zu keiner Antwort mehr fähig. Er zog sie zu sich heran und küßte sie mit all der Liebe, die er noch immer für sie empfand. Auch Vanna schien es nicht mehr erwarten zu können. Sie stand auf und zog Edison mit sanfter Gewalt hinüber zum großen Bett. Er folgte ihr willig, vor allem, als sie mit einer einzigen fließenden Bewegung ihr weißes Gewand abstreifte. Darunter trug sie – nichts. Wie sehr hatte er nach dem Anblick dieses Körpers gelechzt! Er sah, wie ihre Brustwarzen sich aufrichteten. Also war auch er Vanna nach all diesen Jahren noch immer nicht gleichgültig! Was dann folgte, schien wie ein wunderbarer Traum. Carter erlebte die Liebe mit fast schon vergessen geglaubter Intensität. Er ließ sich fortspülen von einer Woge der Lust – doch ein Teil seines Bewußtseins blieb unbeteiligter
Beobachter und sagte ihm, daß das eigentlich alles nicht wahr sein konnte. Er fürchtete, unvermittelt aus einem einmaligen Traum zu erwachen. Doch Vanna Smith in seinen Armen – in seinem Bett! – war herrliche Realität. Eine Realität, die beide bis zur Erschöpfung auskosteten. Es dämmerte schon am Horizont, als sie Seite an Seite einschliefen.
Die Morgensonne fiel hell und warm durch das große Fenster hinter Carters Bett, als der Reporter langsam wieder munter wurde. Seine rechte Hand tastete den Platz neben ihm ab. Doch außer ein paar zerwühlten Laken gab es da nichts mehr. Vanna Smith war verschwunden. Das Summen des Videophons brachte ihn endgültig wieder zu sich. Er griff nach dem Hörer und sagte, ohne auf den Bildschirm zu sehen: »Du hättest dich nicht so davonschleichen dürfen!« Doch es war nicht die Prophetin, die Göttin seiner letzten Nacht, sondern Theora. Sie rief aus der Redaktion an: »Edison, zieh dich bitte sofort an und komm her. Wir haben Schwierigkeiten.« Ihre Stimme klang ziemlich besorgt. »Was ist los?« wollte er wissen. »Max ist verschwunden.« Mit einem Schlag war Carter hellwach. Er hängte den Hörer ein und saß aufrecht im Bett. Langsam kehrte sein sicherer Instinkt zurück, der ihn eigentlich noch nie getäuscht hatte. Und dieser Instinkt verriet ihm, daß es in den letzten Stunden einige Zufälle zuviel gegeben hatte. Er hätte nicht sagen können, wieso – aber er war sicher, daß Vanna irgend etwas mit dem Verschwinden des Computer-Mannes zu tun hatte.
Keine zwanzig Minuten später trafen sich Murray, Theora und Carter in Bryce Lynchs Labor. Der Reporter kam als letzter und warf seine Jacke achtlos über einen Stuhl. Murray hatte dem Jungen gerade in groben Zügen erklärt, was passiert war. Bryce kämpfte sichtlich um seine Fassung. »Aber das ist doch unmöglich!« Carter musterte ihn durchdringend. »Vielleicht irre ich mich… aber hast du nicht gesagt, du würdest das Wort ›unmöglich‹ niemals benutzen?!« »Es… es handelt sich hier um außergewöhnliche Umstände.« Wenn mit Max Headroom etwas nicht stimmte, traf das Bryce direkt ins Herz. Schließlich war Max sein größter wissenschaftlicher Erfolg. Ihm gegenüber empfand er beinahe so etwas wie Vater-Gefühle. Murray sah das ganz anders. Für ihn war die künstliche Intelligenz meist nicht mehr als ein lästiger Plagegeist. Entsprechend war sein Reaktion: »Wer sagt überhaupt, daß Max weg ist? Ich meine, sonst schleicht er sich doch auch ständig durch alle Computersysteme wie eine Termite.« »Normalerweise kommt er, wenn man ihn ruft«, stellte Theora fest. »Ja, ja, wie ein Hund«, höhnte der Chefredakteur. »Murray!« Carter mochte es auch nicht, wenn man sich über Max lustig machte. Immerhin war er so etwas wie ein Stück von ihm. »Du hast dich gerade genau wie Max angehört«, stellte Murray sachlich fest. Unwillkürlich mußte Carter lachen. Der Mann hatte recht! Murray wurde ernst. »Also gut… wie konnte das passieren?« »Ich habe beim Wachdienst nachgefragt«, berichtete Theora. »Offensichtlich kam gestern abend jemand her… mit der offiziellen Erlaubnis, die Computereinheit mitzunehmen.«
»Aber Max ist fest in unser System integriert«, protestierte Murray. »Sonst hätte man Bryce schon längst aufgefordert, ihn herauszuholen.« »Wenn sich Max kooperativ fühlt, kann er ohne weiteres seinen gesamten Hauptdatenblock in einem einzigen Festspeicher ablegen«, stellte Bryce sachlich fest. »Dann könnte man ihn transportieren. Natürlich sind viele Unterprogramme, die mit zu Max gehören, immer noch hier.« Er blickte Murray fest ins Auge. »Das ist so ähnlich, als ob Ihr Körper hier noch rumsitzen würde, aber jemand das ganze Gehirn aus Ihrem Kopf rausgerupft hätte.« Er lachte, als fände er die Vorstellung besonders spaßig. Offenbar hatte er im Kinderprogramm von Sender 23 zu viele alte Horrorfilme gesehen. Theora schluckte. Allein beim Gedanken an solch blutige Dinge krampfte sich ihr Magen zusammen. Carter seufzte. Manchmal benahm sich Bryce wie ein richtiges Kind. Eigentlich war er das ja auch. Ein Kind. Ein Kind mit dem Verstand eines Genies, das die Welt aus den Angeln heben konnte. »Jedenfalls funktioniert keins dieser Unterprogramme allein«, schloß der Junge seinen Vortrag ab. »Danke, Bryce.« Murray schluckte. »Ich danke für deine charmante Schilderung.« Sein Ton behagte dem Knaben offensichtlich überhaupt nicht. Bryce fürchtete, man würde nicht energisch genug nach dem verschwundenen Super-Programm suchen. »Ich kann doch wohl darauf bestehen, daß Sender 23 meine Forschungsarbeit schützt?!« »Schon gut, schon gut! Was soll denn die ganze Aufregung?« Murray klopfte sich an die Brust wie der biblische Pharisäer im Tempel. »Ihr wißt, ich mag Max sehr. So wie meinen besten Freund.«
Als er die skeptischen Blicke der anderen sah, schob er kleinlaut nach: »Beinahe.« Er legte eine Kunstpause ein, doch dann holte er tief Luft und legte los: »Trotz allem ist Max nur ein Computerprogramm. Kannst du das nicht rekonstruieren, Bryce?« Das junge Genie war zwar mit vielfältigen Begabungen gesegnet. Doch Geduld gehörte nicht dazu. Die Stimme des Jungen wurde aggressiv und damit schrill, weil er noch voll im Stimmbruch war: »Das ursprüngliche Programm, aus dem Max Headroom besteht, ist wahrscheinlich eine der komplexesten Kommandoabfolgen, die je geschrieben wurden oder jemals geschrieben werden.« Seufzend verbarg Murray das Gesicht hinter den Händen. Wenn Bryce erst einmal loslegte, war er so schnell nicht wieder zu stoppen. »Und dann habe ich noch ein Zeitabfolgeprogramm integriert, damit das Hauptprogramm selbständig arbeitet«, fuhr der Junge fort. »Zusätzlich wurde das Ganze mit einem Kopierschutz versehen. Sa etwas kann man nicht rekonstruieren.« »Eine ziemlich komplizierte Art, uns klarzumachen, daß Max einzigartig ist«, tönte Murray. »Och! Wer keine Programme schreiben kann, sollte nicht mit Steinen werfen!« »Was bildest du dir ein?« polterte Murray los. Carter griff lieber schlichtend ein, bevor hier Dinge gesagt wurden, die besser ungesagt blieben. »Würdet ihr beide aufhören, euch zu streiten? Damit helfen wir Max nicht, egal, wo er gerade ist!« »Ich glaube, ich weiß, wo wir ihn finden.« Die anderen sahen Theora verblüfft an. »Dann sag es uns doch«, drängte Murray.
»Ja, spann uns nicht auf die Folter.« Die Sorge um seinen elektronischen Zwilling stand Carter im Gesicht geschrieben. »Die Leute von der Vu-Age-Kirche wissen, daß wir an einer kritischen Story über sie arbeiten.« »Die wissen das?« Murray starrte Theora an, als käme sie von einem anderen Stern. »Wie ist denn das möglich?« Der Reporter und die Controllerin tauschten einen bedeutungsschweren Blick. Es war beiden klar, daß Murrays Frage besser unbeantwortet blieb. »Und die wissen auch, wie wichtig Max für Edison ist.« Es hielt den Reporter nicht länger im Forschungslabor. Jetzt war ihm endgültig klar, wie sehr er getäuscht worden war. Getäuscht und ausgenutzt. Eine Erkenntnis, die schmerzte. Mit Riesenschritten stürmte er durch die Tür. Theora lief hinter ihm her. »Edison, warte! Wo willst du hin?« Carter zögerte. »In den Tempel… meine liebe alte. ExFreundin Vanna besuchen!« »Sie muß es nicht gewesen sein. Es gibt viele, die sie verehren. Ich glaube, du läßt dich zu sehr von deinen persönlichen Gefühlen leiten!« Schweratmend drehte Carter sich um. »Ich lebe von meinen persönlichen Gefühlen! Ich bin keine Maschine! Ich habe zu jeder Story, die ich mache, emotionale Bindungen. Nur deshalb bin ich gut!« Er wurde immer lauter, bis er die junge Frau regelrecht anbrüllte: »Deshalb arbeite ich! Und nur durch diese Einstellung bin ich erfolgreich!« Er sah, wie sie vor ihm zurückzuckte, und sogleich tat ihm sein Benehmen leid. »Entschuldige… dich sollte ich wirklich nicht anschreien.« »Ist schon in Ordnung.« Sie ahnte, welcher Aufruhr in ihm herrschte.
»Nein, das ist es nicht.« Er überlegte einen Moment. »Ich… brauche Beweise.« Dann stürmte er zurück ins Labor. »Bryce!«
Der Vorstand von Sender 23 hatte sich vollständig im großen Sitzungssaal versammelt und lauschte den Ausführungen von Direktor Edwards, der wieder einmal besonders fleißig gewesen war. »Noch lieben die Zuschauer unsere Serie ›Pollys lustige Familie‹, aber demoskopisch ist die Sendung bereits ausgehöhlt.« »Erklären Sie das genauer, Edwards.« Während alle anderen Direktoren brav am Tisch saßen, nutzte Ben Cheviot seine Privilegien als Vorstandsvorsitzender und ging unruhig auf und ab. Von Zeit zu Zeit nippte er an der kleinen Mokkatasse, die er mit sich herumtrug. Edwards präzisierte seine Bedenken: »Wir verlieren die fünfbis elfjährigen Zuschauer.« »Der Grund dafür«, warf Lauren Sparks ein, »könnte darin zu suchen sein, daß die Geschichten inzwischen etwas zu kompliziert geworden sind.« Ashwell hatte mal wieder einen besonders klugen Vorschlag auf Lager: »Für den Fall, daß wir jüngere Autoren brauchen… ich habe da einen Neffen, der…« »Ashwell!« Cheviot fiel ihm gnadenlos ins Wort. »Wir brauchen naivere Autoren. Lauren, sprechen Sie mit dem Produzenten. Sonst noch was?« »Ja«, erklärte Edwards. »Die Sendungen der Vu-Age-Kirche finden immer mehr Zuschauer.« »Hängt das mit dem neuen Auferstehungsprojekt zusammen?« »Da gibt es offenbar Verbindungen. Die Zuschauerzahl stieg, als die Kirche versprach, die Toten wiederzuerwecken.«
Einmal mehr meldete sich Ashwell zu Wort. Dabei war es eigentlich gar nicht seine Art, dem Vorstandsvorsitzenden Belehrungen zu erteilen. Aber offenbar hatte er sich doch allzusehr über die Zurechtweisung vorhin geärgert. »Ben, halten Sie es in diesem Zusammenhang für besonders klug, Edison Carter heute abend seine Story über diese Kirche bringen zu lassen?« Cheviot schien es richtig zu genießen, den Schleimer Ashwell vor dem versammelten Direktorium niederzumachen. »Falls Sie es noch nicht wissen, Ashwell…«– und ein überlegenes Lächeln zierte sein Gesicht – »…ich versuche nie, Edison in seine Arbeit reinzureden. Er ist ein wertvoller Mitarbeiter unseres Senders. Wenn er das Gefühl hat, daß sich eine Story über diese Kirche lohnt… dann sollten wir ihm gestatten, seinen professionellen Instinkten zu folgen.« Edwards genoß die Situation. Er wußte, daß Ashwell sein schärfster und gefährlichster Rivale innerhalb des Vorstands war. Jeder Punkt gegen Ashwell war automatisch einer für Edwards. War das Leben manchmal nicht einfach wunderschön? »Und wenn es zwischen seiner Sendung und ›Pollys lustige Familie‹ zu einem Kampf um die meisten Zuschauer kommt, kann das für uns nur von Vorteil sein… habe ich recht, Ben?« Lauren Sparks, die Neue in dieser exklusiven Runde, hatte das Wort ergriffen – und offenbar das Richtige gesagt. Denn Cheviot nickte ihr freundlich lächelnd zu: »Sie haben hundertprozentig recht.« Edwards biß sich auf die Unterlippe. Dieses blonde Miststuck versuchte wohl, sich beim Vorsitzenden unentbehrlich zu machen! Er würde verdammt aufpassen müssen, wenn er die herausragende Position in diesem Gremium behalten wollte, die ihm seit Formbys Fortgang zugefallen war.
Cheviots Worte rissen ihn aus seinen finsteren Gedanken: »So. Was tun wir jetzt gegen die erhöhten Produktionskosten der Polly-Show?« Eifrig hob Edwards den Finger. Er hatte schon einen vollständigen Kostensenkungsplan ausgearbeitet. Natürlich in seiner Freizeit.
Edison Carter und Theora Jones hockten in Bryce Lynchs kleiner privaten Bastelstube. In diesem »Wohnlabor«, wie es der Junge nannte, war Max Headroom einst entstanden. Und hier machten sich die drei jetzt auf die Suche nach ihrem computerisierten Gefährten. »Miss Jones«, fragte Bryce, »Sie haben zuletzt um fünf Uhr mit Max gesprochen?« »Ja.« »War das nicht zu der Zeit, als du Vanna Smith einfach angerufen hast?« erkundigte sich Carter. »Ja, das könnte hinkommen.« »Ich habe mich bereits um drei Uhr morgens auf die Suche nach Max gemacht«, gab Bryce bekannt. Also mußte er in den zehn Stunden zwischen fünf Uhr nachmittags und drei in der Frühe abhanden gekommen sein. »Sicher hast du unzählige Discotheken nach ihm abgesucht, Bryce.« Carter grinste. Der Junge sah ihn schräg von der Seite an. Einmal mehr war er sich nicht sicher, ob der Reporter wirklich meinte, was er sagte, oder ob er ihn nur für dumm verkaufen wollte. Man suchte Max nicht in Discotheken, sondern… ach, Mist! Konnte Edison ihm nicht einfach sagen, wenn er ihn nur aufziehen wollte? Bryce ließ sich nicht anmerken, daß er beinahe auf diesen dummen Scherz hereingefallen wäre, denn einem Genie wie
ihm stand so etwas schlecht zu Gesicht. Er konzentrierte sich lieber auf seinen Computer: »Zuerst müssen wir den Punkt in unserem System finden, an dem sich das Hauptprogramm von Max befand…« Er ließ einen Cursor-Punkt über die schematische Darstellung des Computer-Netzwerks auf seinem Monitor gleiten. Zwar bildeten die im Hochhaus von Sender 23 installierten Rechner ein gigantisches Labyrinth, doch Bryce kannte sich bestens aus in diesem elektronischen Irrgarten. Er hatte das Speichersegment, das Max’ Hauptdatei enthielt, schnell entdeckt. »Jetzt müssen wir nur noch an die Sicherheitsaufzeichnungen herankommen.« Er war schon fleißig am Werk und überbrückte sämtliche Datenschutzvorrichtungen, die Unbefugten den Zugriff auf die Aufzeichnungen der überall installierten Überwachungskameras verwehren sollten. Für jemanden wie Bryce war diese Art reine Routine. »Hoffentlich erfahren wir, was eigentlich passiert ist.« Carter klang nicht besonders hoffnungsvoll, doch er hatte Bryce wohl unterschätzt. »Da!« Der Bildschirm zeigte die Aufzeichnung einer Schwarzweiß-Aufnahme, die die Sicherheitskamera Nr. 511 C von einem Computerraum im 94. Stockwerk gemacht hatte. Zwei Männer in Arbeiter-Overalls kamen herein, griffen ohne zu zögern eine Kiste mit darin installierten Festspeicherplatten, lösten sie vom Netzwerk und trugen sie aus dem Raum. So unscheinbar die Kiste von außen auch wirkte, beherbergte sie doch Max Headrooms elektronische Persönlichkeit. »Der arme Max!« rief Theora. Bryce schaltete wieder die schematische Darstellung des Gebäudes auf seinen Schirm. »Und jetzt können wir sie verfolgen. Egal, wohin sie im Sender 23 gegangen sind.« Verfolgt von Bryces Cursor-Punkt, wanderten zwei leuchtend
gelbe Flecke durch Flure und Korridore. »Oh, ähh… diese beiden Punkte stellen die Männer dar.« »Vielen Dank, daß du darauf hinweist, Bryce.« Er sah Theora irritiert an. Wurde sie jetzt schon genauso zynisch wie Carter? Die Punkte verschwanden in einer Lifttür. Bryce schaltete auf das Überwachungsbild, und man konnte sehen, wie sich die Tür der Liftkabine hinter den beiden schloß. »Sie sind einfach in einen Fahrstuhl gestiegen und zur Laderampe runtergefahren«, stellte Carter fest. »Genauso hätte ich es auch gemacht.« »Das überprüfen wir lieber…« Bryce hämmerte ein paar neue Befehle in die Tastatur. »Exakt. Sie fahren zur Laderampe. Mal sehen, was die Sicherheitskamera gespeichert hat.« Auf dem Monitor war deutlich zu erkennen, wie die beiden Unbekannten die Kiste mit Max Headroom in ein Auto luden. Leider waren ihre Gesichter nicht zu erkennen – bewußt oder unbewußt hatten sie stets darauf geachtet, den allgegenwärtigen Sicherheitskameras den Rücken zuzukehren. »Gibt es noch einen anderen Blickwinkel?« fragte Theora. »Wir wissen immer noch nicht, wer die Leute sind.« Bryce schüttelte den Kopf. Aber er hatte eine andere Idee: »Wenn wir den Bildausschnitt vergrößern, können wir vielleicht die Autonummer erkennen.« Er gab ein paar Kommandos ein, und gehorsam rückte sein Computer das Kennzeichen des Wagens formatfüllend ins Bild. »Fehlanzeige!« Das Nummernschild war mit einem schwarzen Tuch verhangen. Die Unbekannten starteten den Wagen und fuhren aus dem Sender-Gebäude – und damit aus dem Bereich, den Bryce kontrollieren konnte – heraus.
Der Junge ließ die ganzen Aufzeichnungen noch einmal rückwärts abrollen, im Schnellgang. »Wir fahren nochmal zurück. Von irgendwo müssen die doch gekommen sein.« »Keine Sorge, das finden wir noch raus«, machte Carter den anderen Mut. Die rückwärts laufenden Bilder zeigten, wie die Diebe das Speichersegment wieder an seinen Platz brachten und dann mit leeren Händen rückwärts durch die Tür verschwanden. Rückwärts kamen sie auch durch einen Korridor auf die Aufzugtür zu. Doch sie verschwanden nicht gleich darin, sondern hielten sich einige Momente vor der offenen Lifttür auf. Wieso? »Da! Da steht doch noch jemand!« Carters scharfe Augen hatten eine Gestalt in dem Schatten des nur spärlich beleuchteten Flur entdeckt. »Näher ran, Bryce!« Theora war vom Jagdfieber gepackt. Geschickt holte der Junge den Bildausschnitt heran, der die Gestalt im Schatten zeigte. Die Aufnahme war viel zu dunkel, aber die zuschaltbare elektronische Aufhellung sorgte für ein passables Bild. Was die drei sahen, verschlug ihnen den Atem. Diesen Mann hatten sie hier ganz bestimmt nicht erwartet! Theora fand als erste ihre Sprache wieder: »Gene Ashwell… es ist nicht zu fassen!« Carter sagte nichts. Er sprang auf und rannte aus dem Labor.
13. Kapitel
Die Vorstandssitzung war zu Ende. Die Direktoren strebten aus dem großen Saal ihrem wohlverdienten Feierabend entgegen. Edwards wollte noch testen, wie gut Lauren Sparks wirklich war. »Haben Sie schon die letzten Zuschauerzahlen der Kabelsender gesehen?« fragte er die blonde Kollegin, die ihn beinahe um Haupteslänge überragte. Doch er mußte auf eine Antwort verzichten, denn Cheviot kam hinter ihm her. »Edwards, warten Sie! Ich habe noch ein paar persönliche Fragen wegen dieser Polly-Show!« Ashwell war wieder mal der letzte, der den Vorstandssaal verließ. Warum auch nicht? Einer mußte ja schließlich der Langsamste sein! Er rückte sich die Krawatte zurecht und schlenderte auf die große Flügeltür zu, als die plötzlich weit aufgestoßen wurde und ein wutentbrannter Edison Carter hereinstürmte. Er schlug mit seiner Jacke wie mit einer Peitsche auf Ashwell ein und trieb den verdutzten Direktor so zum großen Vorstandstisch zurück. »Carter, verdammt nochmal! Was bilden Sie sich ein?« brüllte Ashwell – und es klang verteufelt nach dem Hilfeschrei eines Feiglings, den seine Mutti stets davor bewahrt hatte, von anderen Jungs verprügelt zu werden. »Wo ist Max Headroom?« Der Reporter stieß die Frage zwischen den Zähnen hervor. »Ähh… im Tempel.« »Dank Ihrer Mithilfe!« Carter versetzte seinem Gegenüber einen derben Stoß vor die Rippen. In Ashwells Augen leuchtete blankes Entsetzen auf. Er hatte furchtbare Angst vor körperlicher Gewalt.
»Ich bin nicht der einzige, der da mitmacht«, keuchte er. »Das war alles Vannas Idee. Ich habe nur geholfen… immerhin habe ich meiner Kirche gegenüber Verpflichtungen!« Carter packte Ashwell am Kragen. Er hatte noch nie viel von den intellektuellen Fähigkeiten des Direktors gehalten – aber soviel Dummheit, auf Vanna Smiths schöne Sprüche hereinzufallen, hatte er dem Mann doch nicht zugetraut. »Offenbar halten Sie diese Verpflichtungen für wichtiger als Ihre Loyalität dem Sender gegenüber!« Er ließ Ashwell los, und der strich sich erleichtert die Jacke glatt und zupfte seine Krawatte zurecht. »Ich steckte deswegen in einer langen Krise. Aber dann ist mir klargeworden, daß die Vu-Age-Kirche ein Glücksfall für Sender 23 ist.« Langsam fand er seine Sicherheit zurück, denn er sah, daß die nackte Wut aus Carters Augen gewichen war. »Max Headroom ist jetzt unser Eigentum geworden.« Der Reporter musterte den schwitzenden Direktor vor ihm gründlich. Ashwell war in den letzten Monaten merklich älter geworden. Kein Wunder, daß er sich Gedanken über Auferstehung und Wiedergeburt machte. »Es gibt nur einen Weg, um eine Stadt zu retten«, zitierte Carter einen antiken Philosophen. »Man muß sie zerstören… mit dieser Denkweise, Ashwell, sind Sie zu dem geworden, was Sie heute sind.« Die alte Arroganz des von Geburt reichen Mannes kehrte in Ashwells Miene zurück. Er hatte es sein Leben lang als eine Plage empfunden, sich mit Habenichtsen wie Carter befassen zu müssen. Das ließ er den jungen Mann deutlich spüren: »Sie befinden sich ganz sicher nicht in einer Position, die es Ihnen gestattet, meine Loyalität gegenüber dem Sender anzuzweifeln. Sie geben jeden Tag Unmengen unseres Geldes aus… und
haben nichts Besseres zu tun, als unsere Werbekunden zu ärgern, die Sie doch letztendlich bezahlen!« Diese Sprüche kannte Carter zur Genüge – und hatte sie nie beachtet. Glücklicherweise nicht. Denn ein Reporter, der Rücksicht auf die Interessen der Werbekunden nahm, war bald genauso glaubwürdig wie der Werbeonkel von der Waschmittelfirma, der für das neue Super-Wäschespray mit dem dreifachen Sauberkraftverstärker warb. Doch so weit konnte Ashwell nicht denken. »Sie halten es anscheinend für notwendig, über alles und jeden herzuziehen. Ganz wie Sie meinen… aber meine Tat war auch notwendig!« »Soll das heißen, Sie hielten es für richtig, Max zu entführen?« Carter klang gefährlich ruhig. »Was hat er Ihnen getan?« Ashwell hatte sich jetzt wieder völlig in der Gewalt. »Er ist für Sie unentbehrlich geworden.« Das klang arrogant und kühl – und war auch so gemeint. »Dadurch haben wir jetzt die Möglichkeit, Sie zu einer Entscheidung zu zwingen… zu einer Entscheidung zwischen Ihrer Vu-Age-Story und Max.« Carter hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Ashwell war ein Vertrauensmann seiner betrügerischen Ex-Freundin Vanna Smith – einem Weib, das ihn schon vor Jahren schamlos ausgenutzt hatte und heute offenbar noch viel heimtückischer geworden war. Die beiden wußten natürlich, was er für Max Headroom empfand. Die elektronische Kopie seines eigenen Ichs war so etwas wie ein Bruder für Carter – vielleicht sogar mehr. Und vor allem – Max lebte. Er dachte, fühlte und existierte. Er hatte eine Seele. Die hauste zwar nicht in einem biologischen Körper, sondern in einem Haufen wildgewordener Elektronen. Aber was machte das für einen Unterschied? Max Headrooms Leben war genauso kostbar wie das irgendeines »normalen« Menschen. Wie sollte Carter
reagieren, wenn man ihn vor die Wahl stellte? Die Wahl zwischen seiner beruflichen Pflicht und seiner Pflicht als Mensch? Er wußte es nicht. Noch nicht. Zuerst einmal mußte er Zeit gewinnen. »Ich will mit Max sprechen!« »Einverstanden!« Ashwell atmete tief durch und ging zu Ben Cheviots Platz. Er nahm den altmodischen Hörer des Videophons ab und tippte die Nummer der Vu-Age-Kirche ein. »Ich hoffe für Sie, daß Max sich wohl fühlt!« brummte Carter. In seiner Stimme schwang eine unverhüllte Drohung mit. Das brachte den Älteren aus dem Konzept. Er tippte eine falsche Nummer ein und mußte noch einmal beginnen. Endlich hellte sich der Schirm auf. Er zeigte das blasierte Gesicht von Gregory Saint. »Gregroy, hier ist Gene Ashwell. Edison Carter steht neben mir. Er möchte kurz mit Max Headroom sprechen.« Der »Priester« der Vu-Age-Bewegung wirkte ein wenig irritiert. »Wie war das bitte?« »Nun verbinden Sie schon!« schnauzte Ashwell, der es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn Leute, die weniger auf ihrem Bankkonto hatten als er, nicht richtig spurten. Er reichte Carter den Hörer, als Gregorys Bild auf dem Schirm verblaßte und an seiner Stelle Max Headroom auftauchte. »Hallo, Max!« begrüßte der Reporter seine elektronische Zweitausgabe. »Ah! Ah! Ein reuiger Sünder!« Offenbar hatte der ComputerMensch noch nichts von seinem berüchtigten Humor verloren. »Bit-Bit-Bitte geben Sie uns die Nummer Ihrer Krkreditkarte… und Ihre Ablaßbescheinigung wird Ihnen per per Post zugestellt. Vu-Age… die Kirche Ihres Vertrauens! Mhhmm!«
Carter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Egal, in was für einer Lage Max sich befand – für ein paar lockere Sprüche hatte er immer Zeit. Und daß er die Geschäftsmethoden von Vanna Smiths Kirche wirklich treffend aufs Korn nahm, konnte man schon an Ashwells säuerlicher Miene ablesen. Der fühlte sich nämlich in seinen religiösen Anschauungen beleidigt. »Geht’s dir gut?« fragte Carter. »Aber aber ja. Mach mach dir keine Sorgen. Ich befinde mich in einer wunderbaren Lage.« Allerdings besagte Max’ Gesichtsausdruck das genaue Gegenteil seiner Worte. Er schien sich ziemliche Sorgen zu machen. »Wenn du deine Reportage über die Vu-Age-Kirche nicht fallenlä-lä-läßt, wollen sie mich auslöschlöschen! Und sie reden immer von einer elektronischen Hölle… langsam fange ich an, darüber nachzudenken.« Ashwell warf Carter einen triumphierenden Blick zu. Offenbar hatte er den verhaßten Aufsteiger und Querulanten jetzt genau da, wo er ihn haben wollte! »Nun wissen Sie’s. Vergessen Sie Ihre Reportage… oder vergessen Sie Max!« Er spielte seine Trumpfkarten genüßlich aus. »Hoffen Sie nicht auf Hilfe vom Vorstand! Ein falsches Wort, und wir schalten Ihren geliebten Max einfach ab. Wie sagt man doch so schön? Der Ball befindet sich in Ihrer Hälfte des Spielfelds!« Der Reporter bemühte sich, diese unverhüllte Drohung einfach zu überhören. Er mußte vor allem Max Headroom beruhigen und wußte doch, daß der jedes Wort Ashwells mitbekommen hatte. »Wir bemühen uns, dich zurückzuholen, Max«, versicherte er. »Pfff, pffff, pffft.« Der Gefangene der Vu-Age-Bewegung war davon offensichtlich nicht überzeugt. »Wir alle wissen, daß du nur eine Kleinigkeit tun-tun müßtest.«
Carter traute seinen Ohren nicht. Verlangte Max tatsächlich von ihm, die Wahrheit zu unterdrücken? Dann mußte er sich aber gänzlich anders entwickelt haben, seit sich seine und Edisons Wege getrennt hatten. Denn die Wahrheit war für den Reporter nach wie vor das höchste Gut im Leben – höher noch als das Leben selbst. »Max, bitte sei vernünftig! Ich kann meine Story über die Vu-Age-Kirche nicht fallenlassen!« »Aber jaaa… natürlich! Wi-Wi-Wi-Wiss-Wissen denn diese Leute nicht, wie du auf Erpressungsversuche reagierst?« Jetzt hatte Max wieder das undurchdringlich-überlegene Pokerface aufgesetzt, das er einem antiken Schauspieler namens Humphrey Bogart abgesehen hatte. »Laß dich ja nicht in eine Eck-Eck-Ecke drängen!« Aus den Augenwinkeln sah Carter zu Ashwell hinüber, der völlig zu seiner gewohnt arroganten Selbstsicherheit zurückgefunden hatte. Glaubte der dümmliche Kerl tatsächlich, er hätte ihn in der Hand? Max wartete noch immer auf eine Antwort. So ganz wurde Carter aus seinen Antworten nicht schlau. Wollte er nun, daß der Reporter seine Story weiterverfolgte, oder wollte er vor allen Dingen gerettet werden? Edison glaubte zu wissen, daß Max über die Bedeutung der Vu-Age-Reportage ähnlich dachte wie er. Also sagte er schließlich: »Nein, ich werde mich in keine Ecke drängen lassen!« »Ich habe befürchtet, daß du so was sagen würdest! Pffff…« Max machte ein ganz unglückliches Gesicht, dann war er vom Bildschirm des Videophons verschwunden.
Es war eine Minute und zehn Sekunden vor sechs Uhr nachmittags. Das bedeutete noch etwas mehr als zwei Stunden bis zum Beginn der Edison-Carter-Show. »Ich will alles
wissen« fing wie üblich genau um acht Uhr an – zur besten Sendezeit, wenn über zweihundert Millionen Menschen weltweit Sender 23 eingeschaltet hatten. Doch an diesem Tag bedeutete »acht Uhr abends« mehr als nur den Beginn der heißesten Nachrichtenshow des elektronischen Zeitalters. In zwei Stunden lief auch das Ultimatum der Vu-Age-Kirche ab. Wenn Carter tatsächlich über die Machenschaften der Sekte berichten würde – die enormen Spendensummen, die sie eingesammelt hatte, aufdeckte und den kümmerlichen Ergebnissen gegenüberstellte, die sie dafür lieferte – dann sollte Max Headrooms Speichereinheit vom Stromkreis getrennt werden. Aber ohne Strom gab es keine Elektronen. Und ohne Elektronen keinen Max. Falls er sich Sorgen um seine Zukunft machte, ließ es sich der Computer-Mensch jedenfalls nicht anmerken. Für ihn war das Leben eine einzige große Show – ganz egal, wo er sich gerade aufhielt. Er kannte halt nichts anderes als das Medium Fernsehen. Und in dem war zu allererst der schöne Schein gefragt. Augenblicklich war Max Headroom zwar im System der VuAge-Kirche gefangen, doch das hinderte ihn nicht daran, Vanna Smiths geheiligten Tempel in eine große Bühne für seinen Auftritt umzufunktionieren. Dabei störte es ihn auch nicht, daß die große Tempelhalle zu dieser späten Nachmittagsstunde fast leer war. Wenn es sein mußte, zog er seine Show auch für einen einzigen Zuschauer ab – und momentan hatte er sogar zwei – die Video-Konserven auf den Monitoren ringsrum nicht mitgerechnet. Zum Glück hatte Max’ Speichereinheit einen Monitor, auf dem er sich zeigen und von dem aus er seine Umgebung beobachten konnte. Sie ruhte auf einer großen, mit dem VuAge-Symbol verzierten Säule im Zentrum der Halle, direkt
neben dem Monitor mit Humphrey Marx’ dümmlich grinsendem Gesicht. »Hier ist Ma-Ma-Max Headroom! Ich spreche düüürekt… aus dem Vu-Age-Tempel zu-zu-zu Ihnen! Schleichen wir nicht wie die Katze um den heißen Brei herum, Brei-Brei herum! Wir sind nicht so wie alle anderen Kirchen! Dies ist kein gewöhnlicher Tempel, keine Moschee, keine Synagoge!« Max brachte die perfekte Synthese aus Marktschreier und Tele-Evangelist. Eigentlich übertrieb er nur ein ganz klein wenig – aber das genügte, um die dummen-fängerischen Tricks der frommen Spendensammler satirisch zu entlarven. »Merrrken Sie sich das! Haaalleluja… undgroßzügigeSpenden! Haben Sie… vielen, vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben. Alle Götter des Altertums werden es Ihnen danken und vergelten!« Allerdings begriffen nicht alle Menschen, daß es sich bei den meisten Vorträgen Max Headrooms um Satire handelte. Politiker – wie Simon Peller beispielsweise – schienen nicht in der Lage zu sein, ernstgemeinte Kommentare von satirischem Spott zu unterscheiden. Und auch die beiden einzigen Gläubigen, die andächtig in der Tempelhalle weilten, erkannten die wahre Zielrichtung von Max Headrooms Show nicht. Das war allerdings auch kein Wunder, denn Harold und Maude Ribbon gehörten nicht gerade zu den geistigen Leuchten der Stadt. Sie war Hausfrau. Groß, schwer (wie schwer genau wußte sie nicht, seit ihre letzte Personenwaage unter ihr zusammengebrochen war – offensichtlich ein Fabrikationsfehler!), angetan mit einem schicken Sackkleid Marke »Hauszelt« und den unvermeidlichen Lockenwicklern im Haar, die einfach jede brave Hausfrau brauchte, um ihre Schönheit zu betonen.
Harold hingegen war ein kleines, schmächtiges Kerlchen, das sich hinter dem Rücken seiner Frau hätte ausziehen können, ohne aufzufallen. Nun ja, wenn man ehrlich war, mußte man zugeben, daß Harold sich auch ohne Sichtschutz hätte ausziehen können – er wäre trotzdem von allen übersehen worden. Aber so klein und unbedeutend er auch war, als Bürovorsteher im Amt für interne Verwaltungsangelegenheiten verdiente er Geld genug, um sich und seinem Mausispätzchen (so nannte er Maude stets voller Zärtlichkeit) ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Es war nur gerecht, daß Beamte für ihre aufreibende Tätigkeit gut bezahlt wurden – fand Harold. Er und seine Frau hatten einen großen Teil ihres ersparten Vermögens der Vu-Age-Kirche gespendet. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, und so setzten sie ihre ganze Hoffnung auf die Wiedergeburt, obwohl sie beide die Fünfzig noch nicht überschritten hatten. Sie liebten die Atmosphäre der Stille und des Friedens hier im Tempel. Deshalb kamen sie beinahe jeden Nachmittag hierher, wenn Harold müde und abgekämpft aus dem Büro nach Hause fand. Max Headroom wirkte beinahe bedrohlich auf die beiden, denn sie nahmen jedes Wort des Bildschirmgeschöpfes für bare Münze. »Er sieht irgendwie unnatürlich aus!« flüsterte Maude und klammerte sich fest an Harold, dem dadurch fast die Luft wegblieb. Er schaffte es, den Griff seines Mausispätzchens ein wenig zu lockern. »Vielleicht handelt es sich um eine der ganz frühen Visualschablonen«, vermutete er. »Seine Videoausstrahlung wirkt exotisch und heidnisch. Sehr primitiv!« stellte er mit Kennerblick fest. Max Headroom wurde durch die geflüsterten Kommentare seines zweiköpfigen Publikums zur Höchstform getrieben. »Ja,
groß ist die Zahl der alten und anderer Götter! Damit nicht genug, wir von der Vu-Age-Kirche garantieren Ihnen ewiges Leben… Leben! Deshalb rufe ich nun… ›Führet die Schafe zu mir! Sie werden alle hier geschoren!‹ ZöZögern Sie nicht! Unsere Telefonzentrale ist in ständiger Bereitschaft… zumindest bis heute abend acht Uhr.« Dann nämlich würde Edison Carter die Öffentlichkeit über den ganzen Vu-Age-Schwindel aufklären. Aber das sagte Max nicht. »Es wird schwierig sein, für den eines Tages einen neuen Körper zu finden«, flüsterte Harold seinem Mausispätzchen ins fette Öhrchen. Er hatte sich zwar in den langen Jahren seiner Beamtenlaufbahn zum perfekten Leisetreter entwickelt – doch für Max Headrooms elektronisch verstärkten Sinne war er längst nicht leise genug. »Wozu sollte ich einen neuen Körper brauchen?« fragte die künstliche Intelligenz. »Ich hatte ja nicht mal einen alten!« Harold und Maude sahen sich groß an. Das war nun wirklich gespenstisch! So direkt hatte noch keiner der lieben Verstorbenen mit den Besuchern des Tempels gesprochen! Mausispätzchens fleischige Finger schlossen sich fest um Harolds Händchen und zerrten den kleinen Mann zum Ausgang. Er hatte Mühe, seiner Frau zu folgen. Die brachte plötzlich ein Tempo zustande, das er ihr bei aller Lieber längst nicht mehr zugetraut hatte. Max sah ihnen enttäuscht nach. Es machte ihm nichts aus, vor kleinem Publikum aufzutreten. Aber vor gar keinem Publikum? Und die Typen, die grobgerastert und schwarzweiß von all den Monitoren ringsum trübsinnig in die Gegend starrten, zählten irgendwie nicht. »Mhm, mhm, mhm. Viel-Vielleicht irre ich mich, aber wirken hier nicht alle ein bißchen gelangweilt… gelangweilt?« Max fixierte den armen Humphrey Marx auf dem Monitor
direkt naben ihm. »Und sagen Sie jetzt nur nicht ›Ja, es ist wundervoll, hehe!‹« Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!«
14. Kapitel
Vanna Smith hatte nur darauf gewartet, daß die Ribbons endlich den Tempel verließen. Denn als gute Prophetin wußte sie natürlich, daß jeder direkte Kontakt mit den eigenen Jüngern ein wenig von dem Zauber zerstörte, der ihren Erfolg ausmachte. Vannas Gefolgschaft wollte eine Göttin verehren – keine ganz gewöhnliche hübsche junge Frau. Die Kirchenfürstin, die in der letzten Nacht noch so leidenschaftlich gewesen war, gab sich jetzt ganz kühl und beherrscht. Sie hatte Max’ mißlungenen Kommunikationsversuch mit Humphrey Marx beobachtet. »Er wurde nur für ein paar simple Standardfragen programmiert«, gab sie zu. »Er liegt weit unter deinem Niveau.« »Wie wollen Sie das denn wissen?« fragte Max herausfordernd. Er wählte bewußt die höfliche, distanzierte Form der Anrede. Er war nicht mehr Edison Carter, der – zumindest bis heute morgen – Vanna Smith noch immer geliebt hatte. Er hatte sich weiterentwickelt und den wahren Charakter der schwarzhaarigen Schönheit längst erkannt. Vanna konnte Max nicht mehr reizen. Sie zog es vor, nicht auf seine Provokation einzugehen. »Ich habe mich oft gefragt, wie man sich fühlt, wenn man zum Teil in einem Fernseher herumspukt… wie der…« Sie blickte zu Humphrey Marx. »Oder du.« »Darauf kann ich nicht antworten.« Max grinste frecher, als die Polizei erlaubte. »In meinem Fall spuken alle Teile in einem Fernseher herum.«
Abrupt schaltete er um auf sein seriöses »TagesschauSprecher-Gesicht« »I-Ü-ÜbrigenswennichSiebittendürfte, sprechen Sie mich mit Ma-Ma-Max Headroom an, Max Headroom an. Und Sie haben recht… ich habe ein paar Antworten mehr im Programm als der-der da.« Sein Kopf deutete hinüber zum Marx’schen Monitor. Vanna konnte ihre Verblüffung nicht verbergen. So etwas wie das hier hatte sie bisher für unmöglich gehalten. Doch dieses Wesen (Ding? Gebilde? Programm?) existierte. »Ja… du bist tatsächlich Edison!« flüsterte sie. »Ist das richtig?« Jetzt hatte sich Max einen besonders fiesen Gag ausgedacht. Er lächelte genauso dümmlich wie Humphrey Marx und verkündete im selben näselnden Tonfall: »Jjja… es ist wundervoll! Nicht?« Vanna überging die Spitze. Das war der selbe krude Humor, den sie noch von früher kannte – von Edison. Ihr kam ein ganz anderer, erschreckender Gedanke: »Ich habe das Gefühl, als ob hinter deinem Hiersein eine Absicht steckt…!« Max sagte nichts. Er blickte sie nur mit großen, unschuldigen Augen an, die offenbar nichts verstanden. »Ich weiß, das klingt lächerlich… denn immerhin bist du entführt worden. Oder etwa nicht?« Vanna kam sich plötzlich ziemlich albern vor. Tatsächlich hatte sie Max’ Entführung selbst angeordnet. Max kicherte albern, dann blickte er Vanna vorwitzig in die Augen. »Entführt werden, verführt werden… wo ist da der Unterschied?« Die Prophetin starrte ihn erschrocken an. Was wußte er von den Ereignissen gestern abend in Edisons Apartment? Er konnte einfach keine Ahnung haben, was sich da abgespielt hatte. Das war doch unmöglich! Oder?
Noch knapp zwei Stunden bis zur Sendung. Carter stürmte mit Riesenschritten in die Redaktion. »Edison!« Theora saß in Murrays kleinem Büro und winkte ihm durch die Glasscheibe zu. Zögernd trat er ein. Vom Chefredakteur keine Spur. Dafür schloß Theora die Tür hinter ihm. Jetzt konnte niemand hören, was sie hier besprachen. Die Controllerin kam gleich zur Sache: »Ich habe das Gespräch zwischen dir und Ashwell mit angehört. Was wirst du tun?« »Was kann ich denn tun? Ich treibe unsere lieben Händler und Geldwechsler aus dem Tempel!« Er wandte sich wieder zur Tür. »Vielleicht kann ich sie überrumpeln.« »Das ist doch lächerlich!« Theora ließ ihn noch nicht fort. Er spürte deutlich, daß sie sich um ihn sorgte. Irgendwie verschaffte ihm das ein schlechtes Gewissen. Also versuchte er, sie zu beruhigen. »Ich bin schon in besser bewachte Gebäude eingedrungen.« »Auf Gewalt solltest du lieber verzichten, solange sie nicht unbedingt notwendig ist!« »Mir bleibt doch gar keine andere Wahl!« Wieder wollte er hinaus, und wieder drückte sie die Tür zu. »Ich lasse mich nicht zwingen, die Story zurückzuziehen! Dann kann ich auch gleich für Bigtime TV arbeiten. Und ich lasse nicht zu, daß sie Max auslöschen!« Er kam zum dritten Mal nicht hinaus, denn jetzt drückte Theora die Tür wirklich mit Nachdruck zu. »Du und Vanna, ihr hattet mal eine Beziehung. Es muß doch noch einen gemeinsamen Nenner geben. Sie will mit dir verhandeln und nicht mit irgendeinem Rollkommando!« Carter stand kurz vor einer Explosion. »Sie hat mich hinterlistig benutzt! Will das denn nicht in deinen Kopf hinein?« »Oh… und du hast sie niemals benutzt, häh?«
Das war zuviel für den Reporter. War es eigentlich ein Naturgesetz, daß alle Weiber der Welt immer zusammenhalten mußten? Wie konnte Theora nur Vannas Partei ergreifen? Sie hielt ihm die Tür auf, und er fragte erstaunt: »Darf ich jetzt gehen?« Sie nickte. »Bestimmt?« »Ja.« »Du hältst mich nicht zurück?« Demonstrativ drehte sie sich um und ging zur großen Computerkonsole. Carter knallte die Tür hinter sich zu und rauschte ab wie ein Schlachtschiff unter Volldampf.
Einer der Computer in der großen Halle des Vu-Age-Tempels hatte offenbar einen Kurzschluß, denn eine unbeteiligt klingende Männerstimme wiederholte ununterbrochen den Satz: »Es ist schön, zu sagen, ich liebe dich.« Es war genau acht Minuten vor acht Uhr, als Carter den Tempel betrat. Es war nicht einmal nötig gewesen, Gewalt anzuwenden. Stand die Vu-Age-Kirche nicht allen Menschen offen? Er trug seine Kamera lässig mit sich. Das Gerät war offenbar ausgeschaltet. Nur Insider wußten, daß die Bildübertragung zwar momentan wirklich nicht in Betrieb war, die Tonfunkstrecke aber sehr wohl. So konnten Theora und Murray im Sendergebäude alles mit anhören, was Carter sagte und hörte. Er marschierte schnurstracks auf die Speichereinheit zu, in der Max gefangen war. Er hatte seinen elektronischen Freund fast erreicht, als Gregory Saint wie der Blitz zwischen zwei Marmorsäulen hervorschoß.
»Ich muß Sie warnen, Mr. Carter«, sagte er höflich, aber bestimmt. »Wenn Sie einen unserer Computer auch nur berühren, wird automatisch ein Programm ausgelöst, das Ihren Max unwiderruflich löscht!« Der Computer-Mann machte alles andere als eine glückliche Miene zum bösen Spiel, enthielt sich aber jeden Kommentars. Carter ging auf die Drohung nicht ein. »Auch wenn ich mich jetzt wiederhole… sagen Sie Ihrer Chefin, daß ich sie sprechen möchte!« Gregory gab sich so verbindlich wie ein tunesischer Teppichhändler: »Die Chefin ist schon da.« Er trat beiseite und gab den Blick auf eine automatische Kamera frei, die neben einer Säule auf einem Stativ stand. Carter hatte sie bisher nicht sehen können. An der Wand hinter der Kamera war ein Großmonitor installiert, der sich jetzt erhellte und das Bild Vanna Smiths zeigte. Sie trug wieder ihr weißes Engelsgewand, und leise Harfenmusik erfüllte den Raum. Sie verstand sich wirklich darauf, effektvolle Auftritte zu inszenieren, stellte Carter anerkennend fest. »Das heißt also… ein Gespräch unter vier Augen ist ausgeschlossen!« Das schöne Gesicht auf dem großen Bildschirm lächelte betörend. »Es ist beinahe schon acht Uhr. Wir haben heute abend nicht so sehr viel Zeit. Stimmt’s, Edison?« Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte, daß ihm noch genau zwei Minuten und 25 Sekunden blieben. Vanna genoß die Situation ungemein. »Aber ich weiß ja, daß du immer sehr gern schnell zur Sache kommst.« »Ich habe dich falsch eingeschätzt.« Die Stimme des Reporters hatte jede Freundlichkeit verloren. »Ich hielt dich noch immer für das nette Mädchen vom College und nicht für jemanden, der berufsmäßig lügt, um damit Geld zu verdienen!«
Doch Vanna ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Sie war wirklich gut in ihrer Rolle als Prophetin. »Warum… warum nur fällt es dir so schwer, mir zu glauben? Ich meine es ehrlich! Du hast kein Monopol auf die Wahrheit!« Sie schüttelte ihr süßes Lockenköpfchen. »Manchmal sind Zahlen und Fakten nicht so wichtig wie der Glaube.« »Soll ich… villa-viellei-vielleicht durch diese honigsüßen Worte ermutigt werden?« Max hielt es für angebracht, sich in die Diskussion einzumischen. Schließlich stand ja hier vor allem seine elektronische Haut auf dem Spiel. Einen kurzen Augenblick lang wirkte Vanna irritiert. Sie traute es sich ohne weiteres zu, mit Edison fertigzuwerden. Mit einem Edison. Gegen zwei von seiner Sorte anzutreten, war schon etwas anderes. Doch sie hatte sich schnell wieder gefangen. Sie blickte in die Runde der Gläubigen, die sich vor den Monitoren versammelt hatten. Die meisten waren natürlich längst darauf aufmerksam geworden, daß sich hier etwas Außergewöhnliches abspielte. »Sieh dir doch die Menschen hier an«, säuselte Vanna. »Sieh in ihre Gesichter! Sieh, wie glücklich sie sind mit denen, die sie lieben! Ich gebe ihnen Glück und Hoffnung!« »Du gibst ihnen falsche Hoffnung!« So laut wie Edison jetzt hatte wohl noch nie jemand in dieser heiligen Halle gesprochen. »Falsch? Nach welchen Kriterien? Nach deinen? Wer gibt dir das Recht, dich als Richter aufzuspielen?« Die Empörung stand Vanna wirklich gut, und das wußte sie auch. Sie hatte sich schnell wieder gefangen. »Wir haben noch etwas Zeit, Edison«, flötete sie. Eine Minute und 28 Sekunden, um genau zu sein. Doch der Reporter hatte kein Interesse mehr an dieser Gnadenfrist. Seine Position war unverrückbar. Für ihn gab es nur eine mögliche Antwort: »Nein! Wie dein Gefolgsmann
Ashwell schon sagte… der Ball ist jetzt in deiner Spielfeldhälfte.« »Al-Also einen Moment mal!« meldete sich ein empörter Max Headroom zu Wort. »Habe ich vielleicht auch das Recht, etwas zu sagen? Immer-immer-immer-hin binichdochderjenige, der sich vielleicht schon in wenigen Minuten in elektronische Luft auflösen wird! Fffff, pffffp! Ihr beide, ihr habt irgendwann einmal euer Verhältnis gelöst, weilweilihr-weilihr euch andauernd gestritten habt. Indirekt war ich damals schon dabei… heute bin ich direkt dabei!« Weder Vanna Smith noch Edison Carter schienen sonderlich glücklich darüber zu sein, wie ungeniert Max hier in aller Öffentlichkeit aus ihrem gemeinsamen Nähkästchen plauderte. Doch wenn Max einmal in Fahrt war, ließ er sich so schnell nicht wieder bremsen. Er wandte sich an die Prophetin auf dem großen Bildschirm: »Vanna, ihr Job ist es, erstklassiges Seelenheil zu verkau-kaufen.« Jetzt blickte er Edison an: »Sein Job ist es, die Wahrheit zu verkaufen. Vielleicht wird seine Wahrheit Sie verletzten, Vanna… sich-si-sicher ist nur, daß Ihr Seelenheil mich umbringen wird… und damit auch einen Teil von Edison!«
Murray und Theora lauschten gespannt am Funkempfänger. »Max weiß, wie man mit ihr reden muß«, stellte die Controllerin fest. Der Chefredakteur nickte nur. Er war viel zu gespannt, um jetzt etwas sagen zu können. Es blieben noch genau 32 Sekunden bis acht Uhr. »Oh, ihr Ungläubigen, ihr seid in Sünde-de!« tönte Max voll pathetischer Inbrunst. Vanna sah auf einmal sehr nachdenklich aus. »Er klingt zwar genau wie du… aber er scheint eine eigene Seele zu besitzen.«
»Dann ist er ja ein Beweis für das, was du behauptest«, konterte Carter kühl. Die Prophetin überlegte. Noch 13 Sekunden. »Gregory… lassen Sie ihn frei.« Um sieben Uhr 59 und 59 Sekunden löste Gregory Saint die elektronische Sperre um Max Headrooms Gefängnis. Nur eine Sekunde später, und das Auslöschungsprogramm wäre in Aktion getreten.
»Das war Rettung in letzter Sekunde!« seufzte Murray. Aber dann war er wieder ganz der alte. Jerry zählte im Hintergrund gerade die letzten Sekunden des Werbeblocks ab. »Countdown für die Sendung! Fünf, vier, drei, zwei, eins…« »Achtung! Das Edison-Carter-Videoband… los!« tönte Murray.
Die neuste Ausgabe von »Ich will alles wissen« ließ sich fast niemand entgehen. Der Vorstand von Sender 23 verfolgte die Sendung genauso aufmerksam wie über 200 Millionen Menschen in aller Welt. Auch im Vu-Age-Tempel waren einige Fernsehempfänger auf Sender 23 geschaltet. So konnte Carter seine eigene Sendung mitverfolgen. Auf die meisten Menschen hier machte sie allerdings wenig Eindruck, denn die beschäftigten sich lieber mit ihren verstorbenen Angehörigen auf den Monitoren. Vanna Smith, die noch immer von dem Großbildschirm in die Halle blickte, lauschte der Reportage voll gespannter Aufmerksamkeit. »Hier spricht Edison Carter. Heute abend möchte ich mit Ihnen zur Vu-Age-Kirche gehen, in der eine charismatische
TV-Evangelistin namens Vanna Smith die Wiederauferstehung für alle verspricht. Es könnte also die Reportage über einen großen Betrug werden, wenn sich nämlich herausstellt, daß diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, im Namen Gottes zu sprechen, Lügner sind.« Mit einer Mischung aus Trauer und Erleichterung sah Carter, wie seine erste große Liebe den Kopf sinken ließ und resignierend aus dem Aufnahmebereich der Kamera schlich. Der große Monitor in der Halle des Vu-Age-Tempels zeigte nur noch ein leeres Zimmer. Ein letztes Mal schaute Max Headroom auf den Monitor zu seiner Rechten. Humphrey Marx hatte von all dem natürlich nichts mitbekommen. Der alte Mann auf dem Schirm nickte senil und sagte: »Ja… es ist wundervoll! Hehehe!« Und diesmal war sein Kommentar sogar passend. In dieser Nacht kehrte Edison Carter nicht in sein Apartment zurück. Stundenlang streifte er ziellos durch die Straßen der Stadt. Der Morgen dämmerte schon herauf, als er zum Hochhaus des Senders 23 kam. Er besorgte sich ein paar Sandwiches in der Kantine und ging hinauf in die Redaktion. Er setzte sich auf den erstbesten freien Stuhl und brütete vor sich hin. Mechanisch kaute er die belegten Brote, ohne genau zu registrieren, was er da eigentlich in sich hineinstopfte. Theora kam herein, ausgeruht und in einem besonders hübschen Kleid. Carter hätte sie nicht einmal bemerkt, wäre sie nicht zu ihm gekommen, hätte sich zu ihm heruntergebeugt und ihm ins Ohr geflüstert: »Ich hörte, was passiert ist. Es tut mir leid, wie sich das alles entwickelt hat… oder wie es sich nicht entwickelt hat.«
Es war, als erwache Carter aus einem bösen Traum. »Ja, ich bin das Risiko eingegangen, daß sie noch immer in mich verliebt war.« »Hast du sie denn geliebt?« fragte Theora vorwitzig. »Ich habe es für unmöglich gehalten.« Er atmete tief durch. »Ich… ich habe wirklich die ganzen Jahre nicht an sie gedacht.« »Ich habe etwas anderes gehört«, verkündete sie schnippisch. »Max!« Carter brauchte nur einmal zu rufen, schon schaltete sich der Computer-Mensch auf den Bildschirm vor ihm. »Hast du Theora vielleicht erzählt, ich hätte in all diesen Jahren ständig an Vanna Smith gedacht?« fragte der Reporter, und der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Wer? Ich? Pff! Phhhff! Nicht in direkten Worten!« Max spielte die beleidigte Leberwurst, aber diesmal zog das nicht. »Mit welchem Recht verwertest du meine ganz privaten Erinnerungen für deine effektvollen Auftritte?« »Eine Sekunde! Das sind, das sind ebenso meine Erinnerungen-ungen. Außerdem…« Max spielte einmal mehr den väterlichen Freund und guten Seelendoktor – »… mußmu-mußte ich dich vor dir selbst retten. Und vor… Vanna Smith.« Carter reagierte reichlich wütend: »Anscheinend hast du noch immer nicht begriffen, daß dich diese Frau entführt hatte! Sie wollte dich auslöschen!« »Ach, ich hätte mich an Millionen Plätzen in ihrem System verstecken können! Ich woll-woll-wollte entführt werden! Und überhaupt… wer würde sich nicht gerne von Vanna Smith mitnehmen lassen?« Carter war wie vor den Kopf geschlagen. All seine Sorgen um Max – wären gar nicht nötig gewesen?
»Vergiß nicht«, erinnerte ihn Theora, »Bryce hat gesagt, Max müßte schon kooperativ sein, wenn man ihn in ein anderes System einspeisen will.« »Na gut… gut! Aber Max… wozu das Ganze?« »Sie war nicht gut für dich… ich mußte dir klarmachen, daß sie alles, was sie tat, nur für sich tat. Du warst ihr gleichgültig… so wie ich.« Murray kam herein und sah mit Freuden, daß sein bester Mann zum ersten Mal seit Tagen wieder so richtig herzhaft lachte. »Das heißt also, du hast meine Seele gerettet!« Carter knüllte das Papier zusammen, in das seine Sandwiches verpackt waren, und warf es Max an den Kopf. Natürlich traf ihn die Papierkugel nicht wirklich, sondern prallte von der gläsernen Oberfläche des Bildschirms ab. Lange konnte Max nie ernsthaft bleiben. »Ich-Ich-Ich erbittebittebitte keinerlei Spenden. Ohh… das erinnert mich daran… ich muß jetzt zu meiner Herde sprechen. Entschuldigt mich.« Er verzog sein Gesicht zur Leichenbittermiene des geübten Fernsehpredigers und legte los: »Brüder und Schwestern, hier ist euer Oberhirte Max-Ma-Max Headroom! Ich spreche zu euch aus meinem Privathimmel im Sen-Sen-Sender 23. Haanng! Und und am Ende meiner Prrreeedigt… hat sich die Seelenrettung erledigt. Ouuh!« »Ich hab’ das Gefühl, wir müssen jetzt Amen sagen«, grinste Murray. »Amen!« riefen Edison und Theora im Chor. Nicht schlecht, fand Max. Falls es mit seiner Karriere als Fernsehshowmaster einmal irgendwann zu Ende gehen sollte, konnte er jederzeit umsatteln. Tele-Evangelisten wurden immer gebraucht.