Roy Palmer Die Falle im Riff
1. »Alle Mann an Deck!« Der Ruf Edwin Carberrys tönte durch die Gänge im Schiffsbauch und ...
22 downloads
770 Views
267KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Roy Palmer Die Falle im Riff
1. »Alle Mann an Deck!« Der Ruf Edwin Carberrys tönte durch die Gänge im Schiffsbauch und drang bis in die Räume des Vorschiffs, als wolle er die Wände zum Zittern bringen. Der Schrei bebte in Donegal Daniel O’Flynn nach. Aufgebracht, mit verstört aufgerissenen Augen, fuhr das Bürschchen von seiner Koje hoch. »Verflixt und zugenäht! Was fällt dem bloß wieder ein, so einen Heidenspektakel zu veranstalten? Kann man nicht endlich mal seine wohlverdiente Ruhe haben?« Smoky rekelte sich auf dem Lager neben ihm. Er setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Der Seewolf wird schon seine Gründe haben, uns zusammentrommeln zu lassen. Vielleicht gibt’s wieder Verdruß. Los, bewegen wir uns.« »Natürlich, aber ...« Smoky blickte Dan halb mißtrauisch, halb amüsiert an. »Mußt du immer das letzte Wort haben? Oder willst du neuerdings mit süßem Sirenengesang geweckt werden?« »Ach, red doch keinen Quatsch«, gab Dan verärgert zurück. »Ich meine bloß, nach einer Nacht wie der vergangenen könnte Hasard uns eine Mütze voll Schlaf gönnen. Die Wache, die zur Zeit oben auf Deck Dienst schiebt, hat ihre Ruhe gehabt. Nur wir müssen darauf verzichten. Aber bestimmt nicht, weil diese verdammten Piraten die Schnauze immer noch nicht voll haben und zu einem neuen Angriff rüsten. Ich glaube einfach nicht, daß in der Richtung etwas im Busch ist.« Matt Davies, der dritte Mann im Raum, hatte sich erhoben. Er
reckte seine beiden Arme, wobei die Hakenprothese, die die rechte Hand ersetzte, einen trockenen, knackenden Laut von sich gab. »Die Wahrheit ist, daß Dan immer noch die zwölf Edelhuren im Kopf ‘rumspuken«, sagte er zu Smoky. »Caligu, dieser Bastard von einem Piratenführer, hat sie bei sich auf der Karavelle, und ich wette meinen Kopf, daß unser Bürschchen sich in seinen Träumen eben die schönsten Hoffnungen gemacht hat. Er denkt, die Weiber geraten uns doch noch irgendwie zwischen die Finger.« Matt grinste breit und behäbig. Smoky zeigte eine wegwerfende Gebärde. »Hoffnungen? Was für welche denn? Wer noch grün und nicht ganz trocken hinter den Ohren ist, der weiß doch überhaupt nicht, wie er’s im Falle eines Falles anzustellen hat.« »Verdammt, jetzt langt’s mir aber!« Dan ballte die Hände. Seine Augen schienen plötzlich Funken zu sprühen. Er zog ein Gesicht, als würde er jeden Augenblick Gift und Steine spucken. Er hatte eine Erwiderung auf der Zunge, fand aber keine Zeit mehr, sie auszusprechen. Soeben erschallte wieder der barsche Ruf Carberrys: »Alle Mann an Deck! Hölle und Teufel, euch Rübenschweine ziehe ich die Haut in Streifen ab, wenn ihr nicht spurt!« Matt und Smoky setzten sich in Marsch und verließen den Raum. Dan blieb nichts übrig, als sich ihnen schleunigst anzuschließen. Ein Teil seiner Wut verflog so schnell, wie sie in ihm aufgestiegen war, aber er zischte Matt noch von der Seite zu: »Laß mich ein anständiges Frauenzimmer unterkriegen, und ich führe dir vor, wie ein O’Flynn damit umspringt.« Im Gang trafen sie auf Batuti, Karl von Hutten und die beiden Holländer, die ebenfalls für acht Glasen zum Ausruhen in die Kojen geschickt worden waren. Nicht einmal ein Drittel der Zeit war herum. Entsprechend verbiestert sahen die Männer
aus. Sie hatten eine furiose Nacht hinter sich, eine Nacht, in der sie den Piraten noch einmal kämpfend gegenübergestanden hatten - diesmal auf du und du. Die Freibeuter unter ihrem brutalen Anführer Caligu hatten sich erdreistet, von der Insel Little Cayman zu der ›Isabella V.‹ überzusetzen und zu entern. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte schon vor Grand Cayman einen Sieg über sie errungen, indem er ihre beiden Schiffe versenkt und sie auf die Insel verbannt hatte. Doch dann hatte die gerissene Maria Juanita eingegriffen, Caligus Gunst für sich gewonnen und ihn dazu verleitet, zunächst die Zweimast-Karavelle ›Isabella IV.‹ zu besetzen und dann der ›Isabella V.‹ nachzusegeln. Gold, Silber, Perlen und Edelsteine, unermeßlichen Reichtum hatten sich die Piraten von dem Überfall auf das neue Schiff des Seewolfs erhofft. Doch sie hatten nur Verdruß geerntet, und zwar knüppeldicken! Philip Hasard Killigrews Mannschaft war durch den Spanier Valdez gewarnt worden. Dieser hatte sich aus den Fängen Caligus retten können, bevor dieser ihn wie geplant kielholen konnte. Valdez hatte den Seewolf über alles ins Bild gesetzt, was er auf dem Schiff der Piraten erlauscht hatte. Die Piraten hatten eine Abfuhr erhalten, an die sie sich noch ihren Lebtag erinnern würden. Reihum hatte es blutige Köpfe gegeben. Eine Anzahl der wüsten Kerle war getötet worden. Und der Spanier Valdez hatte der durchtriebenen Maria Juanita, die bei dem Überfall mit von der Partie gewesen war, einen Messerschnitt quer durchs Gesicht verpaßt. Das war eine Blessur, die die Fortsetzung ihres einträglichen Gewerbes in Spanien erheblich in Frage stellen würde. Die Männer stiegen einen Niedergang hinauf, öffneten das Backbordschott im Vordeck und traten auf die Kühl. Hier gesellten sie sich zu Blacky, dem Kutscher, Gary Andrews, Stenmark, Al Conroy, Valdez und den ehemaligen KaribikPiraten, die sich bereits um den Großmast versammelt hatten.
Arwenack, der Schimpansenjunge, enterte an den Webeleinen der Luvhauptwanten ab und landete mit einem genau berechneten Satz auf Smokys mächtiger Schulter. Pete Ballie stand am Kolderstock, Jean Ribault hockte als Ausguck im Großmars. Ben Brighton und Ferris Tucker hatten sich neben dem Seewolf in Positur gebracht. Dieser verharrte hinter der Schmuckgalerie, die den Querabschluß des Quarterdecks zur Kuhl hin bildete. Er hatte die Finger um die hölzerne Handleiste gespannt und stand leicht vorgebeugt. Die Brauen über seinen eisblauen Augen hatten sich zusammengezogen. Matt Davies wandte sich an Buck Buchanan, der sich gerade neben ihm befand. »Sag mal, was hältst du von dem Wetter?« Buchanan, der nicht als ausgesprochener Schnelldenker bekannt war, hob den Kopf und hielt die Nase schnuppernd in den frischen Morgenwind. Die Sonne strahlte heiter vom Himmel. Die See war leicht gekräuselt, was aber nicht bedenklich stimmte, weil nirgendwo über der Kimm auch nur die geringste Wolkenbildung zu sehen war. Die ›Isabella‹ fuhr unter prall geblähten Segeln einen strammen Törn, mit Kurs nach Osten, und nichts deutete darauf hin, daß etwas diese Fahrt stören könnte. Es war ein richtig beschaulicher Tag im Spätaugust. »Also«, sagte Bück. »Ich finde, mit dem Wetter haben wir heute gewaltig Schwein.« Matt sog die Luft scharf durch die Nase ein. »Irrtum, mein Junge. Es braut sich etwas zusammen. Gewitterwolken ziehen auf. Das sagt mir mein Instinkt.« Buck Buchanan kratzte sich am Hinterkopf und verstand kein Wort. Karl von Hutten hatte Matts Bemerkung mitgehört. Ernst wandte er sich an Dan O’Flynn: »Was deine ewigen Motzereien betrifft, hältst du jetzt am besten die Luft an. Hasard hat miserable Laune und könnte auf die Palme gehen, wenn einer von uns vorlaut wird.«
Dan zeigte eine nachdenkliche Miene. »Ja, das stimmt. Schließlich kenne ich ihn länger als du. Ihm scheint irgendwas gewaltig gegen den Strich gelaufen zu sein. Hoffentlich rückt er bald damit heraus, um was es sich dreht. Mir wird’s schon ganz kribblig unter der Haut.« Der Seewolf wartete ab, bis auch der letzte Mann der Crew angetreten war. Dann ließ er einen Blick über die Gesichter der Männer wandern. Diese Augenblicke hatten etwas Bedeutsames, Beunruhigendes. Sogar Jean Ribault auf seinem luftigen Posten im Großmars schaute gebannt aufs Deck hinunter und hielt unwillkürlich den Atem an. »Männer«, sagte der Seewolf, ohne die Stimme sonderlich zu heben. »Wir haben uns erfolgreich gegen die Piraten zur Wehr gesetzt und ihnen zum zweiten Mal eine Lehre erteilt. Ich bin deswegen stolz auf euch. Aber vor dem nächtlichen Kampf, gestern in den frühen Morgenstunden, ist etwas passiert, was ich nicht einfach so hinnehmen kann. Ich habe von Valdez erfahren, daß zu dieser Zeit die ehemalige ›Isabella IV.‹ an der Insel Cayman Grae vorübergesegelt ist, und zwar nordwärts zwischen Little Cayman und Cayman Grae hindurch.« Dan O’Flynn konnte sich gerade noch rechtzeitg bezwingen, sonst hätte er jetzt einen Pfiff ausgestoßen. Er konnte sich ausmalen, auf was der Seewolf anspielte, jeder konnte es sich zusammenreimen, denn es gehörte kein besonderer Scharfsinn mehr dazu. Trotzdem, Philip Hasard Killigrew fuhr fort: »Die Piraten entdeckten uns also in unserem Versteck, der kleinen, geschützten Bucht von Cayman Grae. Caligu lachte sich ins Fäustchen, ließ hochdrehen und eine Bucht im Norden der Nachbarinsel Little Cayman ansteuern. Den Rest wissen wir ja - wie Valdez sich aus seinem Gefängnis befreite, nach Little Cayman schwamm und von dort aus nach Cayman Grae mit einem Einbaum übersetzte und so weiter und so fort. Aber auf was es mir im Moment ankommt, ist folgendes: von jenem
Zeitpunkt an war unser Schiff entdeckt - ohne, daß eine Menschenseele auf der ›Isabella V.‹ von dieser Tatsache auch nur etwas ahnte. Mir wurde jedenfalls nicht gemeldet, daß die Zweimast-Karavelle unsere Bucht passiert hatte, und darum hätte es ohne weiteres geschehen können, daß der nächtliche Überfall der Piraten gelang. Nur Valdez hat uns durch seine Warnung davor bewahrt.« Stille lag über der Szene, als der Seewolf abbrach und sich zu Carberry umwandte. Der Profos stand hoch oben auf der Poop, hielt die Arme verschränkt und erweckte einen höchst grimmigen Eindruck. »Profos«, sagte der Seewolf. »Wie konnte deiner Meinung nach diese unglaubliche Unterlassung passieren?« Carberry zögerte nicht mit der Antwort. »Ganz einfach. Der Posten, den wir als Ausguck an Land aufgestellt hatten, muß geschlafen haben. Jawohl, er hat gepennt wie ein fetter, vollgefressener Bär !« »Und wer, Profos, hatte auf der Felsenspitze unmittelbar über der Bucht die Frühwache von vier bis acht?« »Patrick O’Driscoll.« Der Seewolf fuhr herum und fixierte den vierschrötigen Iren mit einem durchdringenden Blick. O’Driscoll stand etwas abseits am Backbordschanzkleid der Kuhl und schaute seinerseits zu dem schwarzhaarigen, blauäugigen Riesen herüber. Für einen Moment verfingen sich ihre Blicke ineinander. Dann senkte der Ire die Lider und sah auf die Decksplanken, als läge dort etwas für ihn parat, das den erdrückenden Vorwurf abschwächen und sein Verhalten rechtfertigen konnte. Die Crew wurde unruhig. Dan O’Flynn wollte etwas rufen, aber Smoky stieß ihn an und zischte: »Halt die Klappe. O’Driscoll soll die Suppe selbst auslöffeln, die er sich eingebrockt hat. Schließlich hätten wir seinetwegen alle draufgehen können.«
»Patrick O’Driscoll!« rief der Seewolf. Seine Stimme hatte sich verhärtet und war scharf geworden. »Du hättest die Piraten mit der ›Isabella IV.‹ sehen und mir melden müssen. Hast du sie bemerkt - ja oder nein?« Der Ire hob abrupt den Kopf. Sein Blick war flackernd geworden. Er wich seinem Kapitän mit den Augen aus, wies aber zu dem Spanier hinüber und schrie: »Verdammt noch mal, der Scheißkerl von einem Don lügt! Möchte wissen, was dem überhaupt einfällt. Der will sich doch nur aufspielen. Und überhaupt, schenkt ihr einem dahergelaufenen Phillip neuerdings mehr Glauben als mir, einem ehrlichen Seemann? Es ist gut möglich, daß die Piraten nördlich und nicht südlich der Insel vorbeigesegelt sind. Jawohl, so und nicht anders muß es gewesen sein!« Valdez gab sehr ruhig zurück: »Dieser Mann spricht nicht die Wahrheit.« O’Driscoll lief dunkelrot im Gesicht an. Er stieß einen heiseren Schrei aus und wollte sich auf den Spanier stürzen. Aber Batuti und Buck Buchanan waren neben ihm, packten ihn bei den Schultern und hielten ihn zurück. »Lüge!« schrie der Ire. »Das lasse ich mir nicht gefallen! Das brauche ich mir nicht bieten zu lassen! Was bin ich denn plötzlich für euch - ein Dreck? Wenn ihr mir nicht traut, braucht ihr bloß Bescheid zu sagen und ...« »Ruhe!« Die Stimme des Seewolfs schnitt ihm das Wort ab. Hasard stand immer noch auf seinem Platz hinter der Querbalustrade des Quarterdecks. Er sprach kühl und beherrscht. »Willst du jetzt endlich meine Frage beantworten, O’Driscoll?« »Habe ich doch schon.« »Du hast die Piraten also nicht gesichtet?« »Ich habe die Schnauze voll!« brüllte O’Driscoll wieder los. »Gestrichen voll! Überhaupt, ich pfeife auf die Fahrt nach
England. Ich will ausgezahlt werden.« Er atmete heftig und blickte wild die Kameraden an, die ihn festhielten. ,.Laßt mich los, ihr Narren!« Er befreite sich aus ihrem Griff, tat ein paar heftige Schritte am Großmast vorbei und stand direkt unter seinem Kapitän. Forsch blickte er zu diesem auf, aber sein Blick hatte immer noch jenen unsteten, flackernden Ausdruck. »Es ist mein gutes Recht. Ich habe die Schnauze voll und will meinen Anteil. Ich hab’s satt, ewig meine Rübe hinzuhalten. Ich will noch ein bißchen leben. Wenn du mich ausgezahlt hast, Kapitän Killigrew, kannst du mich auf Kuba oder Haiti absetzen. Dann sind wir fertig miteinander, und jeder geht seinen Weg.« Carberry stemmte die Fäuste in die Seiten. Seine Stirn war finster umwölkt. »Das hast du dir fein vorgestellt, O’Driscoll. Aber so geht’s nicht. Wo bleibt hier überhaupt der Respekt?« »Ich weiß, daß du mich nicht leiden kannst, Profos.« »Du spinnst ja!« sagte Carberry erbost. »Wenn es nach euch ginge, könnte ich ruhig den Haien zum Fraß fallen«, schrie O’Driscoll. »Keiner würde auch nur einen Finger krümmen, um mir zu helfen. Keinem würde es leid tun, wenn ich verrecken würde. Ich ...« Jetzt wurde es der Crew zuviel, jetzt rückten Smoky, Matt, Blacky und von Hutten und gleich hinter ihnen Batuti, Stenmark, Dan und einige andere vor, um ihre Meinung kundzutun. O’Driscoll wollte vor ihnen wegschlüpfen wie ein Aal, aber er verkalkulierte sich. Batuti verstellte ihm den Weg. Der riesige Gambia-Neger, Smoky und Blacky packten ihn von zwei Seiten und hielten ihn fest. Karl von Hutten sagte: »Du schleichst wie eine Katze um den heißen Brei herum und redest total am Thema vorbei, Pat. Was soll denn dieses übertriebene Selbstmitleid? Mir scheint, du willst dich bloß rechtfertigen. Außerdem hast du keinen Grund, dich hier dermaßen aufzuplustern. Wenn du tatsächlich auf deinem Wachtposten nicht die Augen offengehalten hast,
hätten wir alle Mann vor die Hunde gehen können.« »Deine Schuld wäre es gewesen«, fügte Dan O’Flynn wütend hinzu. »Dir sollte man die Hammelbeine langziehen«, sagte Smoky drohend. Philip Hasard Killigrew hob eine Hand und brachte damit die Mannschaft zum Schweigen. »O’Driscoll, wenn es dein Wunsch ist, mit dem dir zustehenden Anteil unserer Beute irgendwo an Land zu gehen, so halten wir dich nicht. Bei der nächsten Gelegenheit erledigen wir das.« Er blieb eiskalt und ließ sich nicht zu einer heftigen, unkontrollierten Erwiderung hinreißen. »Ich halte dich nicht«, sagte er noch einmal, »aber solange du unter meinem Kommando fährst, hast du dich unterzuordnen. Du hast die gleichen Pflichten wie die anderen. Auch beim Wachegehen. Ich frage dich jetzt noch einmal: Hast du die Piraten gesehen oder nicht?« Hasards Worte verklangen und wichen einem lähmenden Schweigen, das sich ausbreitete und nur durch das gelegentliche Knarren der Blöcke und Rahen unterbrochen wurde. Patrick O’Driscoll blickte erneut zu Boden. Er äußerte sich nicht. Der Seewolf hob seine Rechte an und ließ sie dann wieder auf die Handleiste fallen. »Also gut. In diesem Fall muß ich annehmen, daß du wirklich auf deinem Posten geschlafen hast. Profos!« »Sir?« »Hiermit verurteile ich diesen Mann zu dreißig Hieben mit der neunschwänzigen Katze. Sie, Mister Carberry, führen die Züchtigung durch.« »Nein!« schrie O’Driscoll. »Das ist Unrecht! Das könnt ihr nicht machen!« »Das Urteil wird sofort vollstreckt«, ordnete Killigrew mit donnernder Stimme an.
Der Profos stapfte den Niedergang vom Achterkastell zum Quarterdeck hinunter, marschierte auf die Kuhl zu und rief: »Auf der Kuhlgräting festbinden, den Mann. Hopp, hopp, kommt in Gang, ihr Himmelhunde. Dan O’Flynn, du bringst mir die Neunschwänzige!« Patrick O’Driscoll, der roh und grobschlächtig veranlagte Ire, schlug plötzlich um sich. Damit warb er nicht gerade um Sympathie. Er handelte sich einen Boxhieb von Smoky ein, der ihn in die Seite traf. Batuti rammte ihm seine rechte Faust, groß wie eine Ankerklüse, gegen den Brustkasten, daß es krachte. Sie packten O’Driscoll und zerrten ihn am Großmast vorbei zur Gräting. Hasard vefolgte ihr Tun vom Quarterdeck aus. Seine Miene war hart und unbeweglich, wirkte beinahe wie gemeißelt. Bislang hatte er es verabscheut, einen seiner Männer züchtigen zu lassen. Aber jetzt war es unumgänglich. Was O’Driscoll sich geleistet hatte, durfte er nicht durchgehen lassen. Die Crew war hervorragend und einmalig aufeinander eingespielt, Freundschaft schmiedete die Männer fest aneinander, und für ihren Kapitän hätten die meisten bedenkenlos ihr Leben hingegeben. Dennoch, O’Driscolls Verhalten war nicht nur der allgemeinen Disziplin abträglich - es hätte auch Schule machen können. Bei aller Abneigung und Kritik, die die Mannschaft gegenüber dem fluchenden Iren empfand, hätte sich ohne eine angemessene Bestrafung früher oder später eine laxe, zu kumpelhafte Verhaltensweise gegenüber ihrem Kapitän durchsetzen können. Hinzu kam, daß die Männer sich gerade durch die zuletzt errungenen Siege in Hochstimmung versetzt fühlten. Schwelgten sie zu sehr in ihrem Triumph, ließen Selbstbeherrschung, Kontrolle und Deckdisziplin sehr rasch nach. Das konnte zu einer Katastrophe führen. Nein, O’Driscoll mußte seine Lektion haben. Für ihn war es mehr als nur der körperliche Schmerz - es war eine Schmach. Er würde sich künftig gewaltig zusammenreißen, wie der
Seewolf hoffte. Und auf die anderen würde das Auspeitschen auch wie eine kalte Brause wirken und sie daran erinnern, wer Herr an Bord der Dreimast-Galeone ›Isabella V.‹ war. Philip Hasard Killigrew war für ein gewisses demokratisches Prinzip an Bord. Aber alles hatte seine Grenzen. Wenn er biestig wurde, so wußte die Mannschaft, daß er seine guten Gründe dafür hatte, daß er auf lange Sicht etwas durchzupauken gedachte, das sie selbst noch nicht überblicken konnten. Dann galt es, die Köpfe einzuziehen und zu kuschen. Der Seewolf besaß die Härte, das Durchsetzungsvermögen und die Kühnheit eines Francis Drake, unter dem er sich vom unbedeutenden Mann aus dem Vorschiff bis zum Kapitän hochgedient hatte - und das in verblüffend kurzer Zeit. Er hatte überragende Qualitäten, dieser schwarzhaarige Riese, und eine davon schätzten seine Männer bei allem Drill ganz besonders. Er war nicht nachtragend.
2. Smoky, Batuti und Karl von Hutten hatten den widerspenstigen Iren auf der Kuhlgräting festgebunden. Rohlederriemen hielten seinen Körper auf dem hölzernen Gitterwerk. Nur durch ein Wunder hätte er sich aus eigener Kraft befreien können. Patrick O’Driscoll hatte seine Taktik geändert. Er fluchte und lamentierte nicht mehr. Er biß jetzt nur noch die Zähne zusammen und nahm schweigend hin, was unabwendbar war. Er wußte, daß er bei der Crew endgültig unten durch sein würde, wenn er es nicht wie ein Mann trug. Edwin Carberry stand bereit, seines Amtes zu walten. Dan O’Flynn brachte ihm die neunschwänzige Katze. Carberry ließ sie einmal probeweise durch die Luft pfeifen, dann blickte er sich zu seinem Kapitän um. Hasard gab das Zeichen.
Er verzichtete auf den Trommler, wie es vielleicht auf Drakes Galeonen oder den anderen Schiffen der königlichen Krone in Funktion getreten wäre. Hasard war kein Freund großen Zeremoniells, unter den derzeitigen Gegebenheiten ohnehin nicht. O’Driscoll sollte seine Strafe haben, aber rasch, damit bald alles vorüber und vergessen war. Carberry führte den ersten Schlag. Es wäre glatt übertrieben gewesen, jetzt zu behaupten, der Profos habe etwa Hemmungen gehabt. Carberry kochte innerlich vor Wut wie die anderen Männer der Crew - aber nicht, weil er gelegentlich mit dem Iren auf Deck aneinander geraten war. Er war ein Rauhbein und Lästermaul, der Profos, aber rachsüchtig war er nicht. Nur handelte er in der Überzeugung, daß O’Driscoll wirklich einen Riesenbock geschossen hatte. Er führte sich vor Augen, wie das gewesen wäre, wenn Valdez nicht von der Karavelle der Piraten geflüchtet und zu ihnen gestoßen wäre. Caligus Galgenvögel und Schlagetots hätten sie überrumpelt und wie die Fliegen niedergemetzelt. Ihre Heimfahrt nach England hätte in der Bucht von Cayman Grae ein Ende gefunden -weil der Ausguckposten, dieser verdammte Narr, geschlafen hatte! Die Peitsche zuckte auf den bloßen Rücken des Iren nieder und riß blutige Striemen. O’Driscoll preßte die Lippen zusammen und schloß die Augen. Die Crew hatte einen Halbkreis gebildet. Schweigend wohnte sie der Züchtigung bei. Hasard sah ohne Mitleid oder Befriedigung zu, wie der Profos Schlag um Schlag auf den gefesselten Mann niederklatschen ließ. Hätte man den Iren beim Rumstehlen oder einer anderen Kleinigkeit erwischt, so wäre er noch mit sechs Hieben davongekommen. Aber ein Fehler wie dieser ... Hasard verfolgte den Vollzug seines Befehls ohne jede Emotion. Niemals würde er verstehen, daß sich gewisse goldbetreßte Kapitäne und Offiziere an solchen Auspeitschungen delektierten und gewissermaßen Genuß dabei
empfanden. Er würde solcher Empfindungen niemals fähig sein, aber er dachte auch nicht im anderen Extrem, weil er felsenfest davon überzeugt war: dreißig Hiebe waren das Maß, das Patrick O’Driscoll verdient hatte. Carberry ging nicht zimperlich mit dem Iren um. Mit voller Wucht ließ er die Neunschwänzige niedersausen und zählte dabei mit: »Achtzehn, neunzehn, zwanzig ...« Bis zu zwei Dutzend hielt O’Driscoll tapfer durch, dann schrie er auf bei dem neuen Satz Striemen, die ihm die Haut weiter aufrissen und Blut seinen Rücken hinunterlaufen ließen. Beim vorletzten Schlag zögerte der Profos dann doch etwas, denn die Schreie gellten furchtbar über Deck. »Dreißig«, sagte der Seewolf. »Dreißig habe ich gesagt, und dreißig habe ich auch gemeint, Profos, verdammt noch mal!« »Aye, aye, Sir.« Carberry vollendete seinen Auftrag. O’Driscolls letzter Schrei ging in einen erstickten Laut über. Er war besinnungslos, als die Männer ihn losbanden, ein regloses und schlaffes Bündel Mensch, das sich beim Erwachen unter Deck noch vor Schmerzen in seiner Koje krümmen würde. Für einige Zeit würde O’Driscoll sein Lager nur noch in Bauchlage genießen, soviel stand fest. Hasard sah zu, wie sie ihn wegtrugen. Er bewunderte Männer, die unter der Neunschwänzigen stumm bleiben konnten, wenn ihr Rücken zerfleischt wurde, aber er akzeptierte ebenso die befreiende Wirkung ungehemmten Drauflosschreiens. O’Driscoll hatte immerhin lange durchgehalten, bevor der erste Laut über seine Lippen drang. Der Seewolf drehte sich zu Ben Brighton und Ferris Tucker um. »Mister Brighton, wir bleiben auf Ostkurs und steuern die Windward-Passage an. Es bleibt bei der bisherigen Einteilung der Deckswachen. Schickt die Hälfte der Crew wieder in die Kojen zurück.« »Aye, aye, Sir.«
Als der Seewolf das Quarterdeck verlassen und im Achterdeck verschwunden war, sagte Bootsmann Ben Brighton zu Ferris Tucker: »Himmel, wenn er ›Mister Brighton‹ sagt, ist mit ihm wirklich nicht gut Kirschen essen.« * Am Morgen des nächsten Tages - es ging auf den September des Jahres 1579 zu - rief Philip Hasard Killigrew den Spanier Valdez zu sich in die Kapitänskammer. Valdez war auf der ehemals ›San Josefe‹ getauften Galeone unter dem Generalkapitän Don Francisco Rodriguez gefahren, aber er schaute sich trotzdem in einem Ausdruck offener Bewunderung in der Kammer um. Für Rodriguez war er eben nur ›einer von denen da unten‹ gewesen. Ein Einblick in das Allerheiligste des fetten Schiffskommandanten war ihm stets verwehrt gewesen. »Setz dich, Valdez«, sagte Hasard. Er saß hinter seinem Pult und wartete, bis sich der Mann ehrfurchtsvoll auf einem Kastanienholzstuhl niedergelassen hatte. Der Stuhl war mit reichem Schnitzwerk versehen. Valdez strich behutsam mit der Rechten darüber. Seine Verlegenheit war offensichtlich. Er war ein einfacher Mann, ein im Pulverdampf ergrauter Soldat, der schon mit den Konquistadoren marschiert war - einer, der immer seinen Kopf für Vaterland und Glorie hingehalten, aber nie die Ambition besessen hatte, Unterführer oder gar mehr zu werden. Ein richtiger Landsknecht, der nichts als den Krieg kannte, und sich, wie er bewiesen hatte, selbst aus der ärgsten Klemme zu helfen wußte. Sein Gesicht spiegelte Härte, die Erfahrungen und Entbehrungen der langen Dienstjahre. Es war faltig. Für Valdez war es Spätherbst geworden, er spürte Müdigkeit in den Knochen und war froh, wenn er in die Heimat zurückkehren konnte.
Hasard lehnte sich zurück, stützte die Ellbogen auf und stellte die Fingerspitzen gegeneinander. Ihm gefiel dieser Mann. Er war einer, der schwerlich jemand übers Ohr zu hauen vermochte - einfach und geradeheraus. »Capitan«, begann Valdez von sich aus. »Ich verstehe schon, warum Sie mich haben rufen lassen. Vielleicht hätte ich den Mund nicht zu voll nehmen sollen. Also, die Sache mit dem Iren tut mir leid. Hätte ich mir ja ausrechnen können, daß es Ärger für einen aus Ihrer Mannschaft gibt, wenn ich über das Vorbeifahren der Piraten-Karavelle an der Südseite der Insel berichte. Also wirklich, ich habe das nicht gewollt.« »Du brauchst dir nichts vorzuwerfen«, erwiderte der Seewolf. »Ich hätte O’Driscoll sowieso zur Rechenschaft gezogen, denn ich hätte mir auch ohne deine präzisen Angaben einiges zusammenreimen können. Sprechen wir also nicht mehr davon. Ich wollte dich etwas ganz anderes fragen. Wie gefällt es dir bei uns?« Valdez strahlte plötzlich. »Sehr gut, Capitan, ganz ehrlich. Ich hätte nie gedacht, daß man mit den Ingleses so gut auskommen kann.« »Du hast dich schon ausgezeichnet in die Mannschaft eingeordnet«, sagte Hasard lächelnd. »Du hast uns vor den Piraten gewarnt und uns vor einem schimpflichen Ende bewahrt. Ich werde das nie vergessen, Valdez, und mein Versprechen erfüllen: Ich werde dich nach Spanien zurückbringen.« Valdez rutschte auf seinem Stuhl herum. »Nur, wenn es irgendwie möglich ist. Natürlich wäre ich verflixt froh, die Heimat wiederzusehen. Die Knochen, die ich für die Konquistadoren zu Markte getragen habe, würde ich ganz gern in der Heimaterde begraben lassen.« »Na, na.« Hasard lachte auf. »Jetzt übertreibe mal nicht. Unkraut vergeht bekanntlich nicht, und so, wie ich die Dinge sehe, geht noch einige Zeit ins
Land, bevor sie dich verbuddeln.« Valdez wurde ernst. »Mag sein. Aber manchmal gibt es Überraschungen. Man hat Jahre über Jahre den Tod vor Augen gehabt, ist ihm immer wieder von der Schippe gesprungen, aber wenn man endlich Ruhe und Frieden hat, schlägt er zu.« »Sei nicht so pessimistisch. Ich kenne einen Kombüsenhengst namens Mac Pellew, der auf Drakes ›Golden Hind‹ fährt - dem steht der Miesgram eher zu Gesicht. Aber dir nicht, Valdez.« Er stand auf, schritt bis an eines der Bleiglasfenster der Achtergalerie, drehte sich um und lehnte sich gegen die Bank. »Ich möchte wissen, ob du außer deinen Heimatplänen noch Wünsche hast.« »Außerdem? Ich? Nein, keine.« »Ich würde sie dir gern erfüllen.« Valdez schüttelte den Kopf. »Danke, Capitan, aber ich kann mir kein größeres Geschenk vorstellen, als den Fuß wieder auf spanischen Boden zu setzen. Alles andere interessiert mich nicht. Ich bin wohl müde geworden und habe mich irgendwie verändert.« Er schaute den Seewolf plötzlich fest an. »Also, ich glaube, ich habe jetzt erst richtig erkannt, wofür ich bisher gekämpft und geblutet habe. Mein Körper ist narbenbedeckt, Capitan, und bisher habe ich das für den angemessenen Tribut gehalten, den einer seinem Vaterland zu zollen hat. Aber ich habe das alles nicht für mein Spanien getan - nein, ich war verblendet. Goldgiefige, machtbesessene Hundesöhne haben uns ausgenutzt. Oh, was für Narren sind wir doch alle gewesen!« »Erstaunlich, welche Wandlung du da durchlaufen hast.« »Die hat auf Grand Cayman eingesetzt. Erst da sind mir einige Dinge so richtig bewußt geworden. Die Welt könnte schön und gut sein, wenn es nicht Arschlöcher ... Verzeihung, Capitan, ich wollte sagen, hundsgemeine Kerle wie den Generalkapitän Don Francisco Rodriguez gäbe. Ich kann das ja
jetzt sagen, jetzt kann er mir nicht mehr an den Hals fahren.« Valdez stieß ein grimmiges Lachen aus. »Dieser Bastard hat sogar noch Huren zur Kasse gebeten, um sie heimlich nach Spanien durchzuschleusen. Nur die Gier nach Reichtum bestimmt sein Handeln. Keine aufrichtigen Prinzipien, wie Karl von Hutten das ausdrückt.« Valdez legte die Hände auf die Oberschenkel. Er rutschte nicht mehr herum und hatte seine Befangenheit überwunden. »Also, bei Ihrer Mannschaft ist alles so anders, Capitan. Engländer, ein Franzose, zwei Dänen, zwei Holländer, ein Schwede und sogar ein Neger fahren auf diesem Schiff, aber es gibt keine Unterschiede und vor allem keine Intrigen. Alle halten zusammen und sind irgendwie Brüder.« »Brüder, die gegen Spanien kämpfen.« »Ich kann euch deswegen nicht hassen. Ich würde ja nie mein eigenes Nest beschmutzen, ich sage bloß: Mir gefällt es in dieser kleinen, verschworenen Gemeinschaft. Und schließlich tut diese Mannschaft genauso ihre Pflicht gegenüber der englischen Königin, wie wir es für die spanische Krone getan haben - meine Kameraden und ich.« Sein Mund hatte plötzlich einen bitteren Zug. Der Gedanke an die Landsleute, die von Caligu und dessen Teufeln niedergemetzelt worden waren, an den degradierten Ersten Offizier de Morales beispielsweise oder an den Sargento oder all die anderen braven Männer - der Gedanke war niederschmetternd. Valdez hatte immer noch nicht ganz überwunden, was sich an Bord der Zweimast-Karavelle seinen Augen geboten hatte. »Ich hoffe, daß du bei mir an Bord keine Enttäuschungen erlebst«, sagte der Seewolf. »Der Zusammenhalt ist wirklich groß, das stimmt. Aber du solltest auf Patrick O’Driscoll achtgeben. Ich vermag noch nicht abzuwägen, wie er sich verhält, wenn er erst wieder auf den Beinen ist. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach sinnt er auf Rache. Er wird nicht
verkraften können, daß er für seinen Fehler drastisch zur Rechenschaft gezogen worden ist - allemal nicht, weil er dir, dem Spanier, die Schuld gibt. Geh ihm also nach Möglichkeit aus dem Weg. Es ist für alle das Beste, was du tun kannst.« »Si, Senor, ehm - aye, aye, Sir«, entgegnete Valdez. Sie grinsten beide, dann stand der Spanier auf und verließ die Kammer. Hasard blieb, tief in Gedanken versunken, vor dem Fenster stehen. Er war überzeugt, daß er sich in Valdez nicht getäuscht hatte. Der Mann würde stets loyal bleiben und nicht den Vorteil zu mißbrauchen suchen, den er sich durch sein einzigartiges Handeln erworben hatte. Er kannte die Grenzen, die er zu respektieren hatte. Aber Patrick O’Driscoll - würde er sich besinnen und das Vertrauen seines Kapitäns neu gewinnen wollen? Oder würde er sich zum Rebellen entwickeln? Er war ein irischer Hitzkopf, wie er im Buche stand. Schon mehrfach hatte er gezeigt, wie wenig er sich in gewissen Situationen zu zügeln wußte. Aber würde er tatsächlich bis zum Äußersten gehen? Eine Meuterei, und ging sie auch nur von einem Mann an Bord aus, war das, was Philip Hasard Killigrew am meisten haßte. Er wünschte der Crew und sich, daß etwas Derartiges nie geschehen möge. Gewiß, er glaubte nicht daran, daß O’Driscoll mit aufwieglerischem Verhalten irgend jemanden auf seine Seite zu ziehen vermochte. Aber er konnte Mißtrauen säen. Er konnte Intrigen schmieden. Der Seewolf wußte schon jetzt, daß er ihn zum Tode verurteilen würde, falls er dergleichen jemals wagen würde. * Auch am nächsten Tag hielt das strahlend schöne Wetter noch an. Der Wind fiel raumschots von Südwesten ein und blähte die Leinwandsegel der ›Isabella V.‹ prall auf. Unter vollem
Zeug pflügte sie die See, stieß imposante, schaumgekrönte Bugwellen vor sich, her und hielt weiterhin den östlichen Kurs, der sie der Windward-Passage zwischen Kuba und Haiti entgegentrug. Der Kutscher stand in der Kombüse und beschäftigte sich mit einem Faß voll eingepökelter Heringe, dessen Deckel nicht aufzukriegen war. Er hatte sich an einem Nagel einen Finger aufgeschrammt und schimpfte leise vor sich hin, als das Holzquerschott geöffnet wurde und eine gebückte Gestalt in dem viereckigen Ausschnitt erschien. In der Kombüse war es halbdunkel, draußen aber schien die grelle Mittagssonne über der Karibik. Der Kutscher kniff die Augen zusammen. Er vermochte den Mann erst zu erkennen, als dieser zu ihm hereinwankte. »O’Driscoll! Sag bloß, du bist schon wieder auf dem Damm!« »Siehst du das nicht?« Der Ire ließ sich auf einen Schemel sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und musterte den Koch und Feldscher eindringlich. »Ich kann mich schon wieder ganz gut auf den Beinen halten. Also, was ist? Siehst du dir meine Wunden noch mal an?« Der Kutscher ließ das Faß stehen und trat hinter den großen Mann. Er stellte sich dabei so, daß das durch das offene Schott einfallende Licht ungehindert auf O’Driscolls Rücken traf. O’Driscoll hatte sich nur mit einer Hose angetan und ein Tuch um seinen Kopf gewickelt. Prüfend betastete der Kutscher einige der noch blutig aussehenden Striemen mit den Fingerkuppen. Schon unter dieser Berührung zuckte der Ire zusammen. »Bist du wahnsinnig?« »Nein. Ich muß mich nur vergewissern, ob die Verletzungen ordnungsgemäß vernarben. Sie haben sich bereits gut geschlossen. Ich brauche dir keinen Wundbalsam mehr aufzupinseln. Am besten läufst du ohne Verband und ohne
Hemd herum, dann verheilt das Ganze am allerbesten.« »Du willst mich also nicht mehr verarzten?« »Das ist nicht mehr nötig.« »Ich habe noch Schmerzen, Kutscher. Gib mir was dagegen.« Der Kutscher lachte, ging zu einem der Vorratsschapps und zog eine Flasche Rum hervor. Er ließ den Iren ein paar kräftige Schlucke nehmen, dann stellte er die Flasche wieder weg. »Sieh zu, daß keiner etwas bemerkt, sonst rücken die anderen der Reihe nach an und verlangen ihre Ration, besonders Dan O’Flynn, dieser gierige Schlingel. Iß meinetwegen eine getrocknete Zwiebel - oder einen eingepökelten Hering. Hilfst du mir, das Faß zu öffnen?« »Ja.« O’Driscoll und dem Kutscher gelang es, endlich den Deckel von dem vertrackten Faß zu zerren. An Körperkraft mangelte es dem Iren nicht, aber er litt noch unter den Qualen, die ihm die Striemen auf seinem Rücken bereiteten. Der Kutscher wollte ihm einen Hering geben, aber O’Driscoll verzichtete darauf. Mit schwankendem Gang stieg er wieder die Stufen zum offenen Schott hinauf. »O’Driscoll«, sagte der Kutscher. »Ja?« Der Ire drehte sich um. »Was ist?« »Leg dich nicht mit dem Spanier an.« »Ich bin doch nicht lebensmüde.« »Wirklich nicht?« »Ich hab’ einiges wiedergutzumachen. Ich melde mich beim Kapitän zum Dienst zurück.« »Und du läßt Valdez in Ruhe?« »Darauf kannst du Gift nehmen.« »Dann ist es ja gut.« O’Driscoll grinste, als er die Kombüse verließ, aber der Kutscher glaubte ihm trotzdem nicht so recht. Das Verhalten des Iren während der folgenden Stunden schien die Mutmaßungen des Kutschers und anderer Mitglieder der Crew
jedoch Lügen zu strafen. O’Driscoll ging Valdez aus dem Weg. Er meldete sich tatsächlich bei Philip Hasard Killigrew zurück und versah redlich und schweigsam die leichte Deckarbeit, die ihm vom Profos zugedacht wurde. Niemand ließ sich einfallen, die leidige Geschichte mit O’Driscolls verpennter Wache und den dreißig Hieben auch nur mit einem Sterbenswörtchen zu erwähnen. O’Driscoll wollte in Ruhe gelassen werden. Solange ihm niemand auf die miese Tour kam, so schien es wenigstens, ging er in sich und war auf Läuterung bedacht. Als er nach der Ablösung durch Matt Davies leicht taumelnd über die Kuhl zum Vorschiff ging und Mühe hatte, die rollenden und stampfenden Schiffsbewegungen auszugleichen - da stellte sich bei den Männern so etwas wie Mitleid ein. O’Driscoll hatte sich körperlich überbeansprucht, ihm war schwindlig. Er verlor das Gleichgewicht. Plötzlich lag er bäuchlings auf den Planken und gab ein kaum hörbares Ächzen von sich. Blacky ging zu ihm und wollte ihm auf die Beine helfen. »Danke.« O’Driscoll erhob sich mit einem schiefen Grinsen. »Geht schon wieder. Ich habe mich wohl verausgabt. Verdammter Mist, was ist denn bloß los mit mir?« »Wird schon wieder werden. So was holt den stärksten Kerl von den Beinen, Pat.« »Meinst du?« »Ich finde, du solltest so viel wie möglich schlafen und es in den nächsten Tagen mit dem Decksdienst nicht übertreiben. Wir übernehmen deinen Teil schon mit.« »Ist wirklich nett von dir. Aber es paßt mir nicht in den Kram, wie ein Krüppel durch die Gegend zu hinken.« Täuschte sich Blacky, oder war etwas Lauerndes, Hinterhältiges in dem Blick des Iren, als dieser sich jetzt noch einmal zu ihm umschaute? O’Driscoll grinste. Blacky verdrängte seinen Argwohn. O’Driscoll stieg ins Vordeck
hinunter, um sich, wie alle fest annahmen, bis zum nächsten Morgen in seiner Koje zu vergraben. Später nahm die versammelte Crew ihre Abendmahlzeit ein, nur Patrick O’Driscoll war nicht zur Stelle. Der Kutscher, der das Essen austeilte, sagte: »Wird wohl total ermattet eingeschlafen sein. Die Wunden plagen ihn und zehren an seinen Kräften. Bringt ihm jemand seine Ration nachher runter?« »Ich«, erwiderte Valdez. »Nein, du nicht«, sagte Stenmark. »Ich erledige das.« »Der gepökelte Stint schmeckt wie eingeschlafene Füße«, bemerkte Jean Ribault. »Wann bringst du endlich mehr Phantasie und mehr Stil in deinen Küchenzettel, Kutscher?« »Hör doch auf, du Wichtigtuer. Ich habe bei Sir Freemont gedient und bin auch was Besseres gewöhnt. Bilde dir also bloß nicht ein, daß du mit deinen Feinschmeckermanieren auftrumpfen kannst.« Der Kutscher geriet richtig in Fahrt. »Entweder du ißt, was auf den Tisch kommt, oder du läßt es bleiben. Solange wir keinen frischen Proviant aufnehmen, müssen wir uns mit dem begnügen, was die Vorratskammer der Galeone hergibt. Eine Extrawurst gibt’s für keinen.« »Ist ja gut, reg dich ab«, sagte Blacky. »Langsam müßtest du dich an die Art gewöhnt haben, die Jean am Leib hat.« »Ihr streiten, Batuti langt zu«, sagte der Gambia-Neger. Mit glückseligem Grinsen kaute er auf seinem Hering herum. »Wer Stint nicht mögen, gibt an Batuti ab«, radebrechte er schmatzend weiter. »Batuti Allesverwerter, hat immer Hunger.« Der Kutscher ließ sich besänftigen. Er versah seine Aufgaben an Bord mit einem gewissen Stolz, und Jean Ribaults absichtliche Sticheleien brachten ihn hin und wieder aus der Fassung. Sie »kabbelten« sich miteinander, aber ernsthafter Streit wäre niemals zwischen ihnen ausgebrochen.
Nach seinen Kombüsenarbeiten stieg der Kutscher mit den anderen, die erst für die zweite Bordwache eingeteilt waren, in das Deck des Vorschiffs hinunter. Stenmark brachte die Essensration zu O’Driscoll, teilte aber gleich darauf mit, daß jener wie ein Walroß schnarche und überhaupt nicht wachzukriegen sei. »Morgen bist du bei mir mit dem Kombüsendienst dran«, sagte der Kutscher zu Valdez, der mit ihm und Blacky auf der Backbordseite schlief. »Wir werden den Laden auf Hochglanz bringen. Nimm’s mir nicht übel, aber mein Vorgänger - dein Landsmann - hat nicht so große Stücke auf die Reinlichkeit gehalten. Die Wände der Kombüse scheinen mit Olivenöl und Knoblauchsaft geradezu getränkt zu sein.« »Bei uns wird nur mit Olivenöl gekocht und viel mit Knoblauch gewürzt.« Valdez machte es sich auf seiner Koje gemütlich. »Aber ich gebe zu, der Geruch ist schwer wieder rauszukriegen, wenn er sich erst einmal richtig festgesetzt hat.« »Eben«, erwiderte der Kutscher. »Sonst habe ich im Prinzip nichts gegen Knoblauch, mußt du wissen. Ich esse ab und zu gern mal eine rohe Zehe. Das ist gut für die Durchblutung.« »Und wirksam gegen Geister«, sagte Blacky grinsend. Er drehte sich auf die Seite. Der Kutscher löschte das Talglicht. Ruhe trat ein. Nirgendwo im Vorschiff fielen noch Worte, und das Gurgeln und Schmatzen der Wellen an den Bordwänden und das Ächzen in den Verspannungen des Schiffsrumpfes war die gewohnte Begleitmusik, die den Schlaf der Männer einleitete und untermalte. Einmal wälzte sich Blacky auf den Rücken und gab einen tiefen, langgezogenen Laut von sich. Er öffnete halb die Liddeckel und sah Valdez Gestalt, wie sie sich vom Lager erhob. »Valdez«, murmelte er schlaftrunken. »Was ist los?« »Ich muß mal aus der Hose«, flüsterte der Spanier in seinem holprigen Englisch. »Ich gehe rauf an die Galion und erledige
das. Schlaf weiter.« »Wie spät ist es?« »So gegen Mitternacht, schätze ich.« »Himmel, Arsch«, brummelte Blacky, dann ließ er sich wieder ins Reich der Träume entführen. Valdez verließ den Raum und schlich im Gang entlang. Er war bestrebt, keinerlei Geräusch zu verursachen. Vorsichtig stahl er sich den Niedergang bis zur Kuhl hinauf, öffnete das Schott und schlüpfte in die frische Nachtluft hinaus. Er war überzeugt, niemanden gestört zu haben. Zufrieden kletterte er auf die Back, schritt am Fockmast vorüber und ließ sich auf die Galion hinabgleiten. Buck Buchanan und Luke Morgan, die auf dem Achterkastell Wache schoben, schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Und wenn, so nahmen sie keine Notiz von ihm, denn es ließ sich ja denken, was ein Mann mitten in der Nacht auf der Galion zu suchen hatte. Sie wurde als »Freiluftabort« der Mannschaft benutzt. Es gab keinen besseren Platz, um diese Art von Tätigkeit zu verrichten. Er ließ sich auf dem hölzernen Wulst nieder, den die Außenhaut des Schiffsrumpfes an dieser Stelle bildete. Mit der bloßen Hinterpartie ließ er sich überhängen, mit den Händen hielt er sich an einem Verspannungstau des Fockmastes fest, und in dieser Position kauerte er an der Steuerbordseite der ›Isabella‹, in unmittelbarer Nähe der unter dem Bugspriet angebrachten Blinde. Er schaute zum Himmel auf. Die Nacht war sternklar. Der Mond zeigte sich als schmale, silbrige Sichel. Valdez hatte es gelernt, aus seinem Stand und dem der Sterne ungefähr die Tageszeit zu bestimmen. Es war wirklich Mitternacht. Valdez dachte daran, wie um diese Zeit wohl der Himmel über Spanien aussehen mochte, als er plötzlich ein Geräusch vernahm. Es wehte aus Richtung der Back zu ihm herüber. Aufmerksam hielt er Ausschau. Hatte jemand das gleiche
Bedürfnis wie er? Um dieselbe Zeit? Es erschien ihm fast absurd. Trotzdem, Zufälle gab es. Er bereitete sich darauf vor, den mit Schnitzwerk versehenen Donnerbalken des Schiffes mit einem Mann der Crew teilen zu müssen. Dann huschte ein Schatten über die Vorderseite der Back, hing plötzlich in den Luvwanten und hangelte daran empor. In luftiger Höhe verharrte er schließlich wippend, wohl, um eine bessere Ausguckposition auf den Spanier zu haben. »Arwenack«, sagte Valdez lachend. »Du verdammter Affe, läßt du einen nicht einmal hier in Frieden? Los, geh wieder unter Deck.« Arwenack dachte nicht daran. Er blieb auf seinem Posten und keckerte verhalten. Valdez zuckte mit den Schultern. Wenn der Affe seine Neugier stillen wollte - bitte schön! Er hatte keinen Grund, ihn zu verscheuchen. Valdez verwandte einige Zeit auf seine Betätigung, und schließlich wurde es dem Schimpansenjungen wirklich zu dumm. Er verschwand aus den Webeleinen. Seine Konturen verschmolzen mit den Schatten der Nacht. Valdez verfolgte nicht weiter, wohin er sich verzog. Er hatte im Augenblick genügend mit sich selbst zu tun. Plötzlich wuchs wieder eine Gestalt vor ihm hoch, diesmal direkt auf der Galion, und zwar auf der gegenüberliegenden Seite. Valdez begriff noch, daß es sich unmöglich um Arwenack handeln konnte, weil die Gestalt viel zu groß war. Sie bewegte sich auf ihn zu. An der Art, wie sie das tat, erkannte er auch noch, daß sich etwas anbahnte. Er ahnte, daß es Verdruß gab, und die jähe Erkenntnis beflügelte ihn. Er wollte sich aufraffen, Widerstand leisten, doch die Gestalt war heran. Es war zu spät. Valdez fühlte sich an den Beinen gepackt. Er wehrte sich, bäumte sich auf, wollte mit aller Macht die Balance halten und sich auf den Widersacher stürzen. Doch die Umstände waren
gegen ihn. Voll Wucht wurde er hochgerissen, kippte hintenüber und rutschte von dem hölzernen Wulst an der Steuerbordseite der Galion. Er sauste in die Tiefe. Ein erstickter Schrei entrang sich seiner Kehle. Die Bordwand der ›Isabella‹ war eine finstere Barriere vor seinen entsetzten Augen, und hoch oben glaubte er noch ein höhnisch grinsendes Gesicht zu erkennen. Er wußte, daß dies jedoch reine Einbildung war, genauso wie er wußte, daß die Bordwache und auch sonst kein Mensch sein jähes Verschwinden registriert haben konnte. Der einzige Zeuge war der Unbekannte, der selbst das Unheil angerichtet hatte und sich eher dem Teufel verschreiben würde, als Hilfe herbeizurufen. Mord, dachte Valdez. Er klatschte in unglücklicher Lage ins Wasser. Ein Schlag traf seinen Körper und ließ seinen Rücken schmerzhaft zucken. Er krümmte sich wie ein Wurm, drehte sich im Wasser und strampelte mit den Beinen. Weil er hatte schreien wollen und schon den Mund geöffnet hatte, bekam er jetzt einen Schwall Salzwasser in die Atemwege. Japsend tauchte er auf und spuckte das Naß aus. Nein, er wollte nicht ertrinken - er wollte leben, leben und die müde gewordenen Knochen in die Heimat zurücktragen. Valdez trat Wasser und sah den gewaltigen Leib der ›Isabella V.‹ an sich vorüberziehen. Wieder wollte er schreien, doch eine Welle rollte auf ihn zu und deckte ihn fast ganz mit ihrem gischtenden Schaum zu. Valdez spürte, daß die Verzweiflung und Panik ihn zu lähmen drohte. Die Erkenntnis war furchtbar: er, allein in der unendlichen See, war zum willfähigen Opfer der Tiburones, der menschenverschlingenden Haie, geworden, denn die Dreimast-Galeone würde binnen weniger Sekunden davongerauscht und in der Nacht verschwunden sein. Valdez keuchte und bewegte rudernd die Arme, um sich voranzubringen. War alles verloren? Gab es denn nichts auf der
Welt, das ihn noch zu retten vermochte? * Plötzlich wurde ihm klar, daß er noch eine winzige Chance hatte. Er klammerte sich an diese Hoffnung, wie er sich an einem Stück Treibholz festgehalten hätte, das seinen nassen Tod zwar auf die Dauer nicht verhinderte, jedoch zumindest hinausgezögert hätte. Valdez war vom Vorschiff gestoßen worden, und noch war die Galeone nicht ganz an ihm vorüber. Noch konnte er wie ein Besessener schwimmen, in der wahnwitzigen Hoffnung, an ihr Heck zu gelangen und das Ruderblatt zu erwischen. Er legte all seine Kraft in dieses Unternehmen. Er näherte sich mit heftigen Schwimmstößen der düsteren Steuerbordwand. Kurz bevor er den Achtersteven mit der prunkvollen Heckgalerie über sich hatte, stieß er gegen das solide, harte Eichenholz der Galeone. Verzweifelt fuhr er mit den Händen darüber und suchte nach Halt. Er hatte keinen Erfolg. Die Bordwand war hart, glatt und abweisend. Vor Wut und Enttäuschung hätte Valdez schreien mögen. Aber Schreien war in seiner Situation nur nutzlose Kraftverschwendung. Durch Schreien handelte er sich allenfalls einen neuen Schub Wasser ein, den er schlucken mußte, Schreien hätte ihn zu sehr in Anspruch genommen und ihm eine winzige Verzögerung eingebracht, die in dieser Lage fatal sein konnte. Die Bordwand glitt an ihm vorbei. Sie rutschte ihm förmlich aus dem Griff. Seine Hände faßten ins Leere. Doch jetzt sah er das Ruderblatt vor sich auftauchen. Es war ein schemenhaft wirkendes Gebilde in der Nacht und wirkte beinahe unheimlich. Die Distanz, die zwischen ihm und Valdez lag, war nicht sehr groß, doch auf den Spanier hatte sie den Effekt eines gewaltigen, gähnendes Abgrundes.
Valdez warf sich in diesen Abgrund. Er strampelte mit den Beinen und bewegte die Arme heftig rudernd durch das Wasser. Er schob sich unterhalb der prunkvollen Heckgalerie auf das Ruderblatt zu. Doch das Ruderblatt schien eine boshafte Abneigung gegen ihn zu hegen. Es haftete an der Galeone und rauschte mit ihr fort. Valdez schwamm, wie er es niemals in seinem Leben getan hatte. Er wünschte sich, aus dem Wasser hochfahren und über die Wogen laufen zu können, um seine einzige, letzte Chance festzuhalten. Es galt, das Leben zurückzuerobern und die Aussicht auf eine Rückkehr nach Spanien wiederzugewinnen. Er warf sich im Wasser nach vorn. Das Wasser spritzte zwischen seinen zugreifenden Fingern, aber plötzlich war da auch noch etwas anderes. Hart schlugen seine Hände auf Widerstand. Sie schmerzten, doch das kümmerte ihn nicht. Er rutschte ab, faßte geistesgegenwärtig nach, erlangte neuen Halt. Vor Freude hätte er jetzt weinen können. Das Ruderblatt lag mächtig und erhaben zwischen seinen Armen. Es war sein! Er zog sich daran empor. Die ›Isabella V.‹ zerrte ihn mit sich fort, er war ein Fremdkörper im sprudelnden Kielwasser. Valdez war erschöpft. Fast drohte seine Kraft, die er benötigte, um weiter nach oben zu gelangen, zu versagen. Er harrte eine Weile aus. Dann hangelte er unter Aufbietung all seiner Kraft weiter am Blatt empor. Er setzte jetzt nicht mehr aus, bis er direkt vor der Hennegatöffnung kauerte. Er warf einen Blick zurück auf die schwärzlichen Fluten. Ganz sicher war er nicht, doch er glaubte in einiger Entfernung die dreieckige Rückenflosse eines Haies zu entdecken. Eins war gewiß: Die stummen Mörder lauerten ständig in der Nähe von Schiffen. Bei dem Gedanken an das, was ihm hätte widerfahren können, schauderte Valdez noch nachträglich zusammen.
3. Philip Hasard Killigrew richtete sich in seiner Koje auf. Er hatte fest geschlafen, doch wie üblich hatten ihn seine scharfen, geschulten Sinne nicht verlassen. Er war überzeugt, sich nicht getäuscht zu haben: jemand schlich im Achterkastell herum! Hasard glitt von seinem Lager. Vorsichtshalber griff er sich seinen Degen. O’Driscoll hatte sich den ganzen Tag über ergeben und besserungswillig gezeigt, aber der Seewolf wußte nicht, ob dieses Verhalten nicht bloße Fassade war. Iren waren unverbesserliche Dickschädel, die meisten jedenfalls. O’Driscoll gehörte zu der Kategorie der Querköpfe. So schnell vergaß er nicht. Besaß er wirklich die Dreistigkeit, ins Achterkastell einzudringen, um ihn, Hasard, auf den Leib zu rücken? Der Seewolf wollte nicht daran glauben. Aber er war darauf aus, dem heimlichen Besucher auf die Finger zu klopfen. So pirschte er sich zu Tür seiner Kammer. Sie war nicht verriegelt. Sehr langsam drückte er die Klinke herunter und schob die Tür auf. Er brauchte nicht in die Finsternis des Ganges hinauszugleiten. Der Eindringling trat ihm entgegen. Er hatte eine Hand erhoben und zeigte eine überraschte Miene, als er die Tür geöffnet vorfand. Kaltes, silbriges Mondlicht fiel durch die Bleiglasfenster der Kapitänskammer. In seinem Schein erkannte Hasard, wen er vor sich hatte - und ließ den Degen sinken. »Valdez?« »Verzeihung«, sagte der Spanier in seinem holprigen Englisch, das er in den wenigen Tagen bei der Crew des Seewolfs gelernt hatte. »Ich - ich wollte gerade anklopfen, Sir.
Ich ...« »Sprich Spanisch, Valdez, wie wir es bisher gehalten haben. Was ist los?« Valdez holte zweimal tief Luft. »Etwas Ungeheuerliches, Senor Capitan. Man hat versucht, mich abzuservieren.« Er schniefte und zupfte an seiner Kleidung herum. Erst jetzt bemerkte Hasard, daß er von oben bis unten total durchnäßt war. Er ließ ihn eintreten, gab ihm eine Decke und sah zu, wie er sich darin einwickelte. Dann berichtete Valdez, der alte, in Ehren ergraute Haudegen. Hasard hörte zu und unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Erst am Ende der Schilderung sagte er: »Du hast mächtiges Glück gehabt, mein Freund. Wäre es dir nicht gelungen, das Ruderblatt zu fassen und durch die Hennegatöffnung zu schlüpfen, wäre es um dich schlecht bestellt gewesen.« »Das ist mir klar, Capitan.« »Wir hätten vielleicht erst am Morgen dein Verschwinden bemerkt und ewig nach dir suchen können. Aber lassen wir das jetzt. Dank einer glücklichen Fügung ist das Ganze für dich glimpflich abgelaufen. Aber damit ist die Sache nicht zu Ende.« Hasards Züge waren schroff und kantig geworden. »Was mich jetzt am meisten interessiert, Valdez: hast du erkannt, wer dich von der Galion gestoßen hat?« »Nein.« »Aber du kannst dir denken, wer es war?« »Ich möchte niemanden beschuldigen ...« »Das ist vorbildlich, aber ich kann mir schon selbst genügend zusammenreimen. Es gehört ja kein besonderer Scharfsinn dazu, nicht wahr?« Er zog sich Hemd und Hose über seine Unterkleidung, steckte sich die doppelläufige sächsische Reiterpistole in den Bund und wandte sich zum Gehen. Vor der Tür blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu dem Spanier um. »Hör zu, ich unternehme einen Kontrollgang über Deck. Du bleibst für den Rest der Nacht in einer Kammer des
Achterkastells. Bereite dir ein Lager, so gut es geht.« »Ich - das kann ich nicht annehmen.« Hasards Miene wurde grimmig. »Das mußt du sogar. Ich will nicht, daß du dich jetzt auf dem Vorschiff oder überhaupt an Deck zeigst. Die Bombe lassen wir erst morgen früh platzen, verstanden?« »Verstanden, Capitan.« »Leg dich also schlafen, wenn du dich abgetrocknet hast.« Hasard ging hinaus und schloß die Tür der Kammer hinter sich. Er benutzte keine Lampe, sondern tastete sich durch die Gänge des Achterkastells. Niemand sollte ihn vorzeitig bemerken. Sein Auftreten mußte einen Überraschungseffekt haben, denn er wollte die Bordwachen kontrollieren. Buck Buchanan und Luke Morgan versahen zur Zeit diesen Dienst, und Hasard begann sich allen Ernstes zu fragen, ob das undisziplinierte Verhalten O’Driscolls Beispiel machte und um sich griff. Falls die beiden auch schliefen, würde er für einen Heidenaufstand sorgen. Allmählich stank an Bord der ›Isabella‹ so einiges zum Himmel. Als er auf das Achterdeck hinaufstieg, beruhigte er sich wieder etwas. Buchanan und Morgan hielten einen Plausch mit Pete Ballie, dem Rudergänger. Das konnte ihnen keiner verübeln. Ausschlaggebend war, daß sie ordnungsgemäß ihren Dienst versahen und die Augen offenhielten. Hasard hatte nicht einmal etwas dagegen, wenn sich die Männer während der Nacht ein paar Schlucke Rum oder Wein genehmigten - es sei denn, sie besoffen sich und verkrümelten sich in eine Ecke, um den Rausch auszuschlafen. Der Seewolf trat zu den Männern. Sie hatten ihn weder das Achterkastell verlassen noch über das Quarterdeck schleichen sehen, aber auch das konnte er ihnen in keiner Weise ankreiden. Er hatte es ja darauf angelegt, nicht gesehen zu werden. Entsprechend verdutzt schauten sie ihn jetzt an. »Etwas nicht in Ordnung, Sir?« erkundigte sich Luke Morgan
sofort. »Ich habe Geräusche gehört.« Hasard warf einen prüfenden Blick zur Takelage hoch, um sich von ihrem ordnungsgemäßen Stand zu vergewissern. Der Wind fiel aus westlicher Richtung ein und Pete Ballie nahm ihn voll, ohne große Kurskorrekturen zu führen. Die ›Isabella‹ lief majestätisch vor diesem handigen Idealwind her. Bei einem derart vorbildlichen Törn gab es nichts zu bemängeln. Gerade deshalb wunderten sich die Männer über das jähe Erscheinen ihres Kapitäns. »Ich möchte wissen, ob euch nichts aufgefallen ist«, sagte der Seewolf. »Was denn wohl?« fragte Buck Buchanan. Er kratzte sich am Hinterkopf, aber auch das beschleunigte den Denkprozeß nicht. »Das will ich ja von euch wissen.« Luke Morgan, gewitzter und pfiffiger als Buchanan, erwiderte: »Es ist alles still an Bord. Da war mal ein Klatscher außenbords, so ungefähr vor einer Viertelstunde, aber das muß ein größerer Fisch gewesen sein, der aus dem Wasser schnellte und wieder zurückfiel. Nach dem haben wir natürlich nicht Ausschau gehalten. Haie und anderes Viehzeug haben wir ja in letzter Zeit zur Genüge gesehen.« »Allerdings«, sagte Hasard. »Dann nichts für ungut, Männer. Möglich, daß ich schlecht geträumt habe. Vielleicht gaukelt die Einbildung mir etwas vor.« Er grüßte sie durch eine Handbewegung und kehrte unter Deck zurück. Der »Fisch«, daran bestand für ihn kein Zweifel, war kein anderer als der in die See stürzende Valdez gewesen. Aber natürlich konnte er der Bordwache keinen Strick daraus drehen, daß sie sich wegen des Klatschers nicht weiter beunruhigt hatte. Wichtig war nur, daß keiner der Männer unaufmerksam gewesen war. Hasard grinste, als er an die verdatterten Gesichter der drei Männer oben auf dem Achterdeck dachte. Armer Pete, Luke und Buck - sie mußten wirklich den Eindruck haben, daß mit ihrem Kapitän etwas nicht in Ordnung sein.
In der Tat, als Hasard vom Deck verschwunden war, meinte Pete Ballie zu den anderen beiden: »Schlecht geträumt? Gaukeleien? Also ehrlich, das ist das erste Mal, daß ich den Seewolf so ein Zeug daherreden höre. Ich hab das dumpfe Gefühl, es steckt mehr dahinter.« * Der Kutscher kroch zur selben Zeit wie Blacky aus der Koje und stellte zu seiner Überraschung fest, daß Valdez sich bereits nicht mehr im Raum befand. »Donnerwetter, der Spanier«, sagte er. »Sollte der schon in der Kombüse hocken und aufklaren? Mann, das grenzt ja fast an Übertreibung.« »Laß ihn doch«, entgegnete Blacky. »Er will guten Eindruck bei uns schinden, ist aber trotzdem kein Arschkriecher. Ich kann ihn gut verstehen, den Valdez. Ist ein prima Kerl.« Der Kutscher suchte die Kombüse auf, entdeckte aber keinen Valdez. Etwas verdrossen begann er mit seiner Arbeit. Er heizte die Holzkohlenfeuer an und hievte Wasserkessel darüber. Etwas später wurde er durch Smoky unterbrochen, der den Kopf zum Schott hereinsteckte. »Wie sieht’s aus mit unserem Frühfraß, Kutscher? Gibt’s zur Abwechslung mal Salzhering oder Pökelfleisch?« Der Kutscher warf ihm einen Blick zu, als wolle er ihn mit Haut und Haaren verschlingen. »Hör doch mit der Stänkerei auf. Hau ab und laß mich in Ruhe.« »He, ist dir heute morgen eine Laus über die Leber gekrochen?« »Nein. Hast du Valdez gesehen?« »Ich denke, der ist zum Kombüsendienst abkommandiert worden.« »Eben.« »Aha«, sagte Smoky. »Jetzt geht mir ein Licht auf. Du bist
sauer, weil er noch nicht erschienen ist. Warte, ich schau mal nach, wo der Bursche steckt.« Kurze Zeit darauf erschien er wieder in der Kombüse und verkündete verblüfft: »Ich kann ihn nirgends finden. Keiner hat ihn heute morgen gesehen. Da stimmt doch was nicht.« Der Kutscher schloß sich ihm an, und sie forschten gemeinsam im Vorschiff der ›Isabella‹. Das Ergebnis war gleich null. Smoky lief daraufhin nach achtern und meldete Hasard, der gerade das Quarterdeck betreten hatte: »Valdez ist verschwunden!« »Wie soll ich das verstehen, Smoky?« »Wir haben ihn nirgends finden können, seine Koje ist leer, kein Mensch hat ihn seit gestern abend mehr gesehen. Ich verdammt noch mal, er wird doch wohl nicht über Bord gegangen sein? Bei dem ruhigen Wetter ist das unmöglich.« Arwenack turnte zeternd die Großmarswanten hinunter, hüpfte Smoky auf die Schulter und zupfte an dessen Ohr. »Laß das jetzt«, fuhr Smoky den Affen an. »Du hast dir den unpassenden Moment ausgesucht.« Arwenack grapschte dem braunhaarigen Mann am Kopf herum und schimpfte weiter, bis es Smoky zu bunt wurde. Er scheuchte ihn fort. »Die Mannschaft soll sich auf der Kuhl versammeln«, befahl Philip Hasard Killigrew. Smoky verließ das Quarterdeck, um die Crew so schnell wie möglich zusammenzurufen. Es dauerte nicht lange, und alle versammelten sich mit neugierigen Gesichtern zwischen Kuhlgräting und Quarterdeck - wie vor zwei Tagen, als Hasard O’Driscoll wegen seiner unverzeihlichen Nachlässigkeit zur Rede gestellt hatte. Hasard teilte der Crew die Neuigkeit mit. »Wer hat Valdez zuletzt gesehen?« fragte er. Die Männer schüttelten die Köpfe. Blacky trat einen Schritt vor und erklärte: »Um Mitternacht habe ich im Halbschlaf mitgekriegt, wie der Spanier unseren
Raum verließ. Er sagte, er müsse mal aus der Hose oder so was Ähnliches. Genau kann ich mich nicht erinnern.« »Dann ist er wohl zur Galion marschiert«, sagte der Kutscher. »Was bestimmte Gewohnheiten betrifft, so halten es die Spanier sicherlich genau wie wir.« »Und du hast Valdez nicht zurückkehren sehen?« wollte der Seewolf von Blacky wissen. »Nein. Tut mir leid.« »Ich auch nicht«, sagte der Kutscher. »Wir haben Gott weiß wo gesucht und sogar im Kabelgatt und in der Vorpiek rumgestöbert«, sagte Smoky. »Aber es ist wie verhext. Keine Spur von Valdez.« Arwenack ließ sich über die Leewanten des Großmastes auf das Backbordschanzkleid gleiten, turnte plötzlich über die Schmuckbalustrade des Quarterdecks und blieb vor Hasard, Ben Brighton, Edwin Carberry und Ferris Tucker hocken. Er gestikulierte mit seinen wurstigen Vorderpfoten und schnatterte, als wolle ihm jemand an den Kragen. »Der will uns was verklickern«, sagte der Profos. »Fragt sich bloß, was. Hölle und Teufel, warum kannst du nicht wie ein normaler Mensch reden, Arwenack?« Der Schimpansenjunge hüpfte auf der Stelle, klatschte in die Hände, schlug sich vor die Stirn, ächzte und wies zum Vorschiff. »Du alter Buschteufel«, stöhnte Carberry. »Wer soll denn bloß daraus schlau werden?« Arwenack ließ sich auf Deck fallen, eilte zu Hasard und zupfte diesen am Lederstiefel. Dann rannte er ein Stück auf den Niedergang zur Kuhl zu, drehte sich um, fletschte die Zähne und keckerte. Hasard folgte ihm. Der Affe führte ihn auf die Kuhl, dann zur Back hinauf und schließlich bis auf die Galion. Die Crew war ihnen gefolgt, sie drängte sich jetzt am Vorderabschluß der Back. Arwenack hockte sich auf den verzierten hölzernen Wulst an
der Steuerbordseite. Er setzte sich in Positur und zeigte plötzlich den abwesenden, leicht melancholischen Ausdruck, den die Menschen haben, wenn sie einen bestimmten Ort besuchen. Dan O’Flynn konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, aber Batuti stieß ihn an und raunte: »Maul halten, kleines O’Flynn. Ist nicht angebracht, lustig zu sein. Verdammt ernste Sache. Gewitterwolken ...« Carberry traf Anstalten, sich den Schimpansen zu greifen. »Verfluchtes Mistvieh! Stinkstiefel, elender! Glaubst wohl, du kannst uns zum Narren halten, was, wie?« »Moment.« Hasard hielt den Profos an der Schulter zurück. »Arwenack will uns nicht auf den Arm nehmen. Bleib mal hübsch ruhig. Sehen wir zu, was er weiter tut.« Arwenack blickte weltentrückt in den blauen Morgenhimmel empor. Dann, ganz unversehens, fuhr er zusammen, blickte zur Backbordseite der Galion und riß in vorgeblichem Schreck die Augen auf. Er tat, als wolle er aufspringen, produzierte dann jedoch einen seiner verblüffenden Rückwärtssaltos - und sauste außenbords in die Tiefe. Dan, Blacky und einige andere stießen vor Schreck einen Schrei aus. Die Männer stürzten ans Steuerbordschanzkleid und lehnten sich weit über in der Annahme, das Tier in die Fluten eintauchen zu sehen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß Arwenack baden ging. Doch plötzlich atmeten alle auf. Arwenack baumelte zwischen Himmel und See. Er hatte eine Schot gepackt, mit der die Blinde reguliert und dichtgeholt werden konnte. Vergnügt hangelte er daran entlang. Er grinste, wie ein Affe nur grinsen konnte und kehrte über Berghölzer und Rüsten der Steuerbordwanten an Bord zurück. »Na also«, sagte Philip Hasard Killigrew. »Da haben wir einen Zeugen, der alles mitangesehen hat. Ihm fehlt die Sprache, aber die Gestik und Mimik nicht.« Katzengewandt
erklomm er die Back, schwang sich über den Querabschluß und lief an den Niedergang zur Kuhl. Er blieb stehen, fuhr herum und fixierte Patrick O’Driscoll mit einem einzigartig kalten, bezeichnenden Blick. »Braucht noch jemand eine Erläuterung, was Valdez Schicksal betrifft?« Er hob die Rechte und gab einen Wink zum Achterkastell hin. Die Männer schauten ihn verdutzt an. Außer Pete Ballie war achtern doch niemand zurückgeblieben, was wollte der Seewolf jetzt ausgerechnet von dem Rudergänger? Doch es war die Gebärde, die Hasard mit dem Spanier vereinbart hatte und durch die er ihm jetzt bedeutete, sich zu zeigen. Valdez erschien vor dem Backbordschott der Poop, überquerte ruhig und gefaßt das Quarterdeck und stieg auf die Kuhl hinunter. O’Driscoll hielt ein paar Augenblicke lang still, dann brüllte er auf. Die Köpfe ruckten herum, alle schauten auf ihn. »Da, jetzt hat er sich selbst verraten, der Hund!« rief Blacky. »Er hat den Lammfrommen gespielt, dabei hat er nur auf die passende Gelegenheit gewartet, Valdez unauffällig verschwinden zu lassen. Patrick, du bist ein Dreckskerl. Du weißt genau, daß der Spanier das nicht verdient hat.« »Packt ihn!« schrie der Profos. Die Männer, die dem Iren am nächsten standen, schickten sich an, ihn zu greifen. O’Driscoll fluchte los, schlug um sich und ließ keinen an sich heran. Als seine Verteidigung zusammenzubrechen und die Männer die Oberhand zu gewinnen drohten, riß er ein Messer aus dem Gurt. Wie ein Besessener stach er damit um sich. Die Klinge pfiff durch die Luft und fuhr bedrohlich nahe an den Gesichtern und Oberkörpern der Männer vorbei. Sie zögerten, hielten sich auf Distanz und griffen ebenfalls nach ihren Hieb- und Stichwaffen. Luke Morgan wich nicht rechtzeitig aus. O’Driscolls Messer schnitt quer über seine Brust. Sein grobleinenes Hemd zerriß,
Blut quoll aus der Wunde hervor. Die Klinge ratschte noch seinen Arm, dann wandte sich der Ire dem Gambia-Neger zu. Batuti hatte sich von der Seite anpirschen wollen, mußte jetzt jedoch auch in die Reserve gehen. Luke Morgan sank unterdessen mit einem Stöhnen auf die Planken. Arwenack kauerte auf der Fockrah und feuerte eine leere Kokosnußschale auf O’Driscolls Schädel ab. Der Ire unternahm jedoch einen Seitensprung, um sich vor dem wutschnaubenden Profos Carberry in Sicherheit zu bringen. Arwenacks bewährtes Geschoß traf also nicht den Iren, sondern Carberry auf die Schädelplatte. Carberry sah rot und brüllte wie ein Stier. Vor seinem augenblicklichen Gesichtsausdruck hätte auch der Teufel Reißaus genommen. Die Crew schrie vor Zorn. O’Driscoll tauchte vor den Pranken des tobenden Carberry weg, dann huschte er an Philip Hasard Killigrew vorüber und flankte mit einem gekonnten Scherenschlag über die Balustrade der Back auf die Kuhl. Hasard jagte unterdessen den Niedergang hinunter. Smoky war etwas schneller als sein Kapitän. Er jumpte auch über die Balustrade weg und brachte sich mit einem kühnen Satz zwischen den Iren und Valdez. Der Spanier hielt ein Messer in der Rechten und stand schon bereit, um sich seiner Haut zu wehren. O’Driscoll verzichtete darauf, zu vollenden, was ihm in der Nacht mißglückt war. Der Vorsatz, an Valdez blutige Rache zu üben, war plötzlich von zweitrangiger Bedeutung. O’Driscoll wußte ganz genau, was ihm blühte, wenn ihn der Seewolf und seine Crew zu fassen kriegten. Dann konnte er, wie er meinte, nur noch zwischen Kielholen, Plankenlaufen, Köpfen oder Ander-Rahnock-Aufknüpfen wählen. Sein Leben war ihm wichtiger als alles andere. Er änderte die Richtung und lief auf das Steuerbordschanzkleid der Kuhl zu. Smoky ahnte, was er vorhatte. Er hetzte von der Seite auf ihn
zu und versuchte, ihm den Weg abzuschneiden. Von der Back her drängte ein Pulk von Männern nach. Der Seewolf befand sich an der Spitze der Gruppe und hielt seine doppelläufige Reiterpistole in der Faust. »Stehenbleiben, O’Driscoll!« rief er. »Zur Hölle, bleib stehen oder ich knalle dich nieder wie einen tollen Hund!« Der Ire dachte nicht daran, dieser Aufforderung zu folgen. Er warf sich gegen Smoky und rannte ihn nieder, Smoky fluchte in allen Tonlagen. Er stürzte und schlidderte bäuchlings ein Stück über Deck. Er trachtete noch danach, O’Driscoll am Fußknöchel zu erwischen, griff aber ins Leere. Der Ire war schnell, sehr schnell. Er raste auf das Schanzkleid zu und sprang. Hasard drückte ab. Ein Warnschuß jagte über O’Driscolls Kopf weg. Niemals hätte der Seewolf es sich einfallen lassen, einem Mann in den Rücken zu schießen nicht einmal einem Schuft wie O’Driscoll. Dfer Ire scherte sich den Teufel um den Warnschuß. Er befand sich mitten im Satz, hechtete übers Schanzkleid, fegte in elegantem Flug an den Berghölzern vorbei und stach kopfüber der Wasserfläche entgegen. Glitzerndes Sonnenlicht tanzte auf den Wellenkämmen der See. In den kristallklaren Fluten wartete geduldig der Tod, Haie mit dolchspitzen Zähnen und nie versiegender Freßlust - die Mörder, denen der Ire seinen verhaßten Widersacher Valdez zugedacht hatte. Sein künftiges Schicksal sah also alles andere als rosig aus, doch er zog die Tiefen der Karibik und ihre tödlichen Gefahren einem schimpflichen Ende an Bord der ›Isabella V.‹ vor. Patrick O’Driscoll tauchte ein und stieß wie ein Pfeil in die tieferen Regionen des Meeres. Das Naß nahm ihn auf und schluckte ihn ein Stück in seinen Schlund hinunter. Kurz darauf setzte der Auftrieb ein, verlieh dem Körper einen anderen Drall und ließ ihn wieder nach oben schnellen. O’Driscoll streckte den Kopf aus dem Wasser. Er atmete tief
die frische Morgenluft ein. Das Messer hielt er immer noch in der Faust. Das Salzwasser hatte Luke Morgans Blut abgewaschen. O’Driscoll nahm die Klinge zwischen die Zähne und drehte sich im Wasser und tauchte erneut. Er hatte den Seewolf inmitten seiner Crew am Steuerbordschanzkleid der Galeone stehen sehen, Killigrew mit seiner Reiterpistole in der Hand. Der zweite Schuß konnte treffen und sein Leben mit einem schmetternden Hieb auslöschen. O’Driscoll hielt sich unter Wasser, bis er in Atemnot geriet. Er tauchte mit offenen Augen und hielt Ausschau nach den gefürchteten Haien, konnte jedoch keine entdecken. Seine Lungen schmerzten, es schienen hundert Pfeile darinzustecken. O’Driscoll ließ sich zurück an die Wasseroberfläche treiben und pumpte neuen Sauerstoff in seine ausgelaugten Lungen. Er schwamm dabei aus Leibeskräften, um sich weiter und weiter von der DreimastGaleone des Seewolfs zu entfernen. Noch einmal blickte er zu dem stolzen Schiff zurück. Was würde die Mannschaft tun? Eine der Drehbassen auf dem Achterkastell in Zielrichtung bringen, zünden und ihm die Ladung auf den Pelz brennen? Philip Hasard Killigrews Pistole hatte jetzt nicht mehr die erforderliche Reichweite. O’Driscoll wartete bangend darauf, daß über der steil aufragenden Poop der Galeone eine weiße Wolke Pulverqualm hochpuffte, daß der Böller der Drehbasse ertönte und die Ladung - gehacktes Blei und Eisen - zu ihm herüberrauschte. Aber es trat nichts Derartiges ein. Er lachte heiser. Dazu war der Seewolf eben zu edel - so etwas tat er nicht. Ihm, O’Driscoll, konnte das nur recht sein. Wenn er nur weit genug von der ›Isabella‹ fortkam und seine Glückssträhne fortdauerte, war er vielleicht doch noch nicht verloren. Wer sagte denn, daß er nicht innerhalb der nächsten Stunden
irgendein treibendes Stück Schiffstrümmer erwischte und sich daraufziehen konnte? Segler wurden in der Karibik zur Genüge in Stücke geschossen, also gab es auch Treibholz. War ihm das Schicksal wohlgesonnen, so rettete er sich auch vor den Haien und traf auf ein Schiff, das ihn an Bord nahm. Plötzlich japste er so heftig, daß er einen Schwall Wasser schluckte. Wütend spuckte er das scheußlich schmeckende Naß wieder aus. Er drehte den Kopf. Blanker Haß funkelte in seinen Augen, seine vierschrötige Visage war verzerrt. Der Seewolf! Dieser dreimalkluge Hund heckte, doch wohl nicht noch etwas anderes aus? Es gab da noch eine Möglichkeit, die Patrick O’Driscoll bisher nicht in Erwägung gezogen hatte, weil sie ihm zu absurd erschien. Und doch, mit einem Schlag wurde ihm klar, daß der Seewolf es vielleicht plante. Er fluchte bei dem Gedanken. Niemals würde er sich wieder aus der See auffischen lassen niemals! Lieber rammte er sich sein eigenes Messer in das Herz.
4. Hasard hatte die Pistole übers Schanzkleid gehoben und bereits auf O’Driscoll angelegt. Der zweite Lauf war noch geladen. Er brauchte nur abzudrücken. Doch in letzter Sekunde besann er sich. Er durfte nicht einfach im Affekt handeln. Der Ire gehörte vor ein Bordgericht und mußte wegen seiner Verfehlungen ordnungsgemäß abgeurteilt werden. Auf der Flucht erschossen - das war eine Formulierung, die dem Seewolf absolut nicht lag. O’Driscoll tauchte wie ein Fisch von der ›Isabella‹ fort. Nichts verband ihn mehr mit der Crew. Vergessen waren die Schlachten, die sie gemeinsam durchgestanden, die
schrecklichen und schönen Stunden, die sie zu einer verschworenen Clique zusammengeschmiedet hatten. Der Ire konnte seine Fehler nicht wieder gutmachen, er wußte das. Eine Unbotmäßigkeit hätte man noch ausmerzen und im Laufe der Zeit wieder vergessen können, aber nicht das, was O’Driscoll sich jetzt geleistet hatte. Gordon Watts hatte seinerzeit als erster und einziger Mann der Crew etwas von dem immensen Reichturn gestohlen, der in den Frachträumen von Hasards Schiff lagerte. Er hatte sich von einer Hafenhure verleiten lassen und dafür bezahlt - mit dem Leben. Während Watts ein Opfer der Umstände geworden war, in die er sich verstrickt hatte, bestand bei O’Driscoll noch die Möglichkeit, ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Weichheit war fehl am Platze. Und Hasard konnte es auch nicht den Haien überlassen, ihm die unangenehme Pflicht abzunehmen. Die Crew wartete auf eine Entscheidung. Der Ire trieb immer weiter achteraus. Der Seewolf drehte sich um und rief: »Alles klar zur Halse! Wir fahren eine Schleife, um den Kerl herauszuholen. Wir segeln am Wind auf ihn zu, gehen dann beinahe in den Wind und übernehmen ihn in Lee.« Dan O’Flynn war in den Großmars aufgeentert, obwohl Jean Ribault noch als Ausguck agierte und es eigentlich zu früh für die Ablösung war. Dan wollte O’Driscoll im Auge behalten und mithelfen, die beim Manövrieren notwendigen Hinweise zu erteilen. Die ›Isabella V.‹ fiel ab. Rudergänger Pete Ballie stemmte sich gegen den Kolderstock, um das Heck des Schiffes durch den handigen Südwestwind zu ziehen. Zunächst krängte die ›Isabella‹ nach Backbord, dann aber nahm Pete den Wind voll und ließ das Schiff über eine Weile platt davor herlaufen. Er drehte nach Luv hoch und ging dann fast in den Wind, daß die Segel zu killen drohten.
Mitten in das Manöver hinein ertönte die überkippende Stimme des Bürschchens aus dem Großmars: »Deck, Deck! Segel ho, Mastspitzen Steuerbord voraus!« Er hatte Sekunden vor Jean Ribault entdeckt, was sich da von Westen her näherte - und damit wieder einmal bewiesen, wer die schärfsten Augen an Bord hatte. Hasard kletterte aufs Achterkastell, fuhr den Kieker aus und richtete die Optik auf die westliche Kimm. Er konnte gerade die Maststengen des heranrauschenden fremden Schiffes wahrnehmen, aber er erkannte, daß es sich lediglich um zwei Masten handelte. Eine dumpfe Ahnung befiel ihn. »Die Streitfrage lautet, sind das Spanier oder Piraten«, sagte Ben Brighton, der ebenfalls vom Quarterdeck aus heraufgestiegen war. »Dreimal darfst du raten.« »Eine Zweimast-Karavelle mit Lateinersegel!« schrie Dan O’Flynn von seinem luftigen Standort. »Der Teufel soll mich holen, wenn wir den Bruder nicht kennen.« »Da haben wir den Salat«, sagte Hasard. »Ich wette eins zu tausend, daß wir die ehemalige ›Cartagena‹ vor uns haben.« »Ich werd verückt«, entgegnete Ben Brighton in ehrlicher Verblüffung. Und ob der Seewolf die Zweimast-Karavelle kannte! Er hatte sie im Golf von Darien gekapert, als sie noch ›Cartagena‹ geheißen und den Spaniern als Küstenwachschiff gedient hatte. Er und seine Männer hatten sie in ›Isabella IV.‹ umgetauft und sich tollkühn und unverfroren dem aus sechsunddreißig Galeonen bestehenden Geleitzug aus Cartagena angeschlossen, der unter dem Kommando von Generalkapitän Don Francisco Rodriguez gestanden hatte. Hasard hatte mit der wendigen Karavelle Geleitschutz gemimt und auch wirklich einige Schaluppen der Karibik-Piraten abgewehrt und in Stücke geschossen. Doch dann war der Konvoi nach und nach aufgerieben
worden - durch die fortdauernden Angriffe der Freibeuter, durch das Auflaufen auf die berüchtigten Serranilla-Bänke und schließlich durch den Sturm, der zuletzt noch die ›Isabella IV.‹ und die ›San Josefe‹, das Flaggschiff, in die Nordbucht von Grand Cayman geworfen hatte. Dort hatte Hasard die kleine und letztlich für seine Zwecke zu enge Karavelle aufgegeben und die ›San Josefe‹ besetzt, mit der er schon lange geliebäugelt hatte. Sie war eine schmucke Galeone, diese jetzt ›Isabella V.‹ benannte Dreimast-Galeone, mit 24 Culverinen und zehn Drehbassen bestückt, groß, reich verziert, solide und unverwüstlich - eine schwimmende Festung. Ein Bollwerk mitten in der Karibik, das so leicht keiner einnehmen würde! Caligu hatte die Zweimast-Karavelle übernommen, nachdem der Seewolf seine beiden Piraten-Galeonen in Fetzen hatte schießen lassen. Auf Cayman Grae hatte er noch einmal die Jacke vollbekommen, doch das schien ihm nicht zu genügen. Nach wie vor saß er auf der Fährte des Seewolfs, woran die ausgekochte Maria Juanita sicherlich ihren Anteil hatte, denn sie war es, die Caligu auf die Schätze an Bord der ›Isabella V.‹ hingewiesen hatte. Caligu wollte Gold, Silber, Perlen und Edelsteine - um jeden Preis. Der Schatz des Seewolfs hatte schon manchen Leichtsinnigen das Leben gekostet. Caligu war unbelehrbar. Keine der bisherigen Lektionen hatte ihn in die Flucht schlagen können, im Gegenteil, das Erlebte hatte ihn angestachelt. Er hatte sich in die Idee verstiegen, den verhaßten schwarzhaarigen Teufel zu besiegen, zu Tode zu foltern und ihm seine Reichtümer zu entreißen. Er war ein athletisch gebauter Mischling mit krausem Haar und kalten, dunklen Augen, ein Sadist mit eisernem Willen. Was er haben wollte, riß er an sich, koste es, was es wolle. Er hatte Maria Juanita zu seiner Gefährtin gemacht, und gemeinsam bildeten sie die Inkarnation und den Inbegriff des
Bösen, das sich in ihnen in seiner elementaren Urgewalt zeigte. Hasard brauchte keinen Kieker mehr, um die unter Vollzeug heransegelnde Karavelle zu beobachten. Er schob das Spektiv zusammen und steckte es ein. Mit bloßem Auge verfolgte er, was sich nun abspielte. Caligu hielt auf den »schiffbrüchigen« Patrick O’Driscoll zu. Carberry betrat das Achterkastell und schnaubte: »Caligu, diese Rübensau. Er klebt an uns wie die Zecke am Arsch einer Kuh. Ich könnte ihn mit bloßen Händen zerreißen, diesen verdammten Bastard.« »Wir schaffen es noch, den Iren aufzufischen, bevor die Piraten heran sind!« rief Dan O’Flynn aus dem Großmars. Hasard schüttelte den Kopf, dann wandte er sich an Ben Brighton. »Soll O’Driscoll bei Caligu selig werden. Ich schätze, der Kerl wird ihn bei sich aufnehmen.« »Da gehört er auch hin«, wetterte Ben Brighton. »Freibeuter ist er gewesen, und Freibeuter wird er bleiben - aber einer von der Sorte, die sich früher oder später ins eigene Fleisch schneiden.« »Wie ist es um Luke Morgan bestellt?« »Der Kutscher hat ihn verarztet. Ein bißchen Blut hat Luke schon verloren, aber durch den Schnitzer sind weder Rippen noch innere Organe verletzt worden, und das ist die Hauptsache.« »Gut. Wir brechen das Manöver ab und gehen wieder auf Ostkurs.« Ben Brighton gab Pete Ballie entsprechende Anweisung. Carberrys Befehle hallten über Deck und purrten die Männer von neuem an die Schoten und Brassen. Die ›Isabella V.‹ ging über Stag auf ihren alten Kurs - bei raumem Wind ostwärts. Ben Brighton schien das Ganze nicht zu passen. Mißmutig stand er neben seinem Kapitän und beobachtete, wie die Karavelle in den Wind ging und Fahrt aus dem Schiff genommen wurde. Die killenden Segel waren deutlich zu
sehen. Ein Beiboot wurde ausgesetzt. Männer pullten es zu dem treibenden Patrick O’Driscoll hinüber. Hasard sah mit geradezu stoischer Gelassenheit zu, wie sich Arme nach dem Iren ausstreckten, ihn über das Dollbord ins Boot zogen, wie Riemen erneut bewegt wurden und die Nußschale zurück zur ›Isabella IV.‹ beförderten. Wenig später erklommen die Piraten mit O’Driscoll die Jakobsleiter. Das Beiboot wurde an Taljen hochgezogen. Der Seewolf konnte sich ausmalen, was sich jetzt an Bord der Karavelle abspielte - wie O’Driscoll prüfend gemustert, abgetastet, abgeschätzt, ausgefragt wurde. Arglist und Verschlagenheit stand in den wüsten Gesichtern der Piraten geschrieben. O’Driscoll sah sich Männern aller Schattierungen gegenübergestellt, Männern mit großen goldenen Ohrringen, mit verschiedenfarbenen Kopftüchern und Hüten, mit teils nackten, teils mit Fetzen bekleideten Oberkörpern - aber das war ja eine für den Iren altbekannte Umgebung. Würde er fertigbringen, was er weder bei seinem ehemaligen Anführer, »Einohr« Mac Dundee, noch bei der Seewolf-Crew geschafft hatte - sich vollständig in die Mannschaft zu integrieren? Caligu würde auf Deck erscheinen, sich O’Driscoll vorknöpfen und ihn barsch anfahren, was er bei den Haien zu suchen habe und was vorgefallen sei. Hasard blickte erneut durch das Spektiv. Und da sah er die verschlagene Visage des Piratenanführers direkt neben einem nassen, abgekämpften O’Driscoll. Kühn und scharfgeschnitten hob sich Caligus Gesicht aus der Masse der Piraten hervor. Seine Nase war schmal, die Lippen darunter leicht wulstig, mit einem annähernd sinnlichen Zug. Eine breite Narbe zog sich über seine linke Wange und verlieh ihm ein wildes Aussehen. Sechs Fuß Mannsbild waren das, mit beachtlichen Muskelpaketen, die unter kupferfarbener Haut spielten. Maria Juanita konnte ihm das dichte, schwarze Kraushaar zerzausen, wenn sie sich ihm hingab - und sie
wußte, was sie an ihm hatte: einen Wüstling, der nur von seinen animalischen Trieben beherrscht wurde und sie beschützen würde, solange sie nicht zu sehr aufmuckte. Ben Brighton machte seinem Unmut Luft. »Verdammt noch mal, müssen wir uns das denn gefallen lassen? Diese Hurensöhne bilden sich ein, uns auf der Nase herumtanzen zu können.« »Man müßte die Zecke zerquetschen«, sagte Carberry. »Jawohl, das wäre eine Sache! Ich begreife nicht, warum wir auf Ostkurs gegangen sind«, sagte Ben Brighton. Hasard wandte ihm sein Gesicht zu. »Mister Brighton«, versetzte er scharf. »Soll das heißen, daß Sie etwas an meinen Entscheidungen zu bemängeln haben? Hauen Sie jetzt auch schon in diese Kerbe?« »Natürlich nicht«, erwiderte Ben erblassend. »Ich meine nur, warum schicken wir diese verfluchte Piraten-Karavelle nicht ein für alle Mal zu den Fischen? Es kostet uns doch so wenig.« »So? Dann lassen Sie auf Gegenkurs gehen, Mister Brighton.« »Aye, aye, Sir!« Und wieder manövrierte die Galeone. Hasard nahm beinahe belustigt zur Kenntnis, was sich jetzt zutrug und was er vorausgesehen hatte. Caligus Ausguck war auch nicht von gestern, er hatte den Ansatz des Manövers erkannt und alarmierte natürlich sofort das Deck. Als die ›Isabella V.‹ auf die Karavelle lossegelte, ging auch diese prompt herum und lief ab. »Hinterher!« rief Ben Brighton. »Auf sie mit Gebrüll! Wäre doch gelacht, wenn wir diese Bastarde und Galgenvögel nicht noch packen würden.« »Klar Schiff zum Gefecht!« brüllte Ed Carberry. Die Crew flitzte über Deck, was die Beine hergaben, besetzte die Gefechtsstationen und fuhr die Siebzehnpfünder aus. Der Kutscher löschte die Kombüsenfeuer und streute Sand auf den
Decks aus. Fieberhafte Tätigkeit hatte eingesetzt. Die Männer waren vom Jagdeifer gepackt. * Philip Hasard Killigrew ließ sich davon nicht anstecken. Er stand auf seinem Platz auf dem Achterdeck und hielt den Blick auf die Zweimast-Karavelle gerichtet. Die segelte auf einem Kurs hart am Wind. Die ›Isabella V.‹ mußte selbstverständlich dieselbe Richtung einschlagen - und damit war das Rennen bereits gelaufen. Ben Brightons Gesicht wurde lang und länger. Der Seewolf trat zu ihm. »Reicht das jetzt? Mir scheint, einige Leute hier an Bord haben vergessen, daß die ›Isabella IV.‹ mit ihren langen Rahruten ein unvergleichlicher AmWind-Segler ist. Da kann unsere fette, behäbige Lady nicht mithalten. Wenn wir raumen Wind hätten, wäre es noch etwas anderes, aber so ist Caligu in jedem Fall schneller.« Ben biß sich auf die Unterlippe. »Ich hab’s begriffen. Also gut, an Schnelligkeit und Wendigkeit ist uns die Karavelle überlegen. Nicht aber an Kampfkraft. Caligu hat Kanonen, die er nicht einsetzen kann. Ihm fehlt die Munition. Ein Glück, daß wir sie auf die Galeone herübergemannt haben, als wir vor Grand Cayman lagen.« »Folglich?« »Folglich müssen wir einen günstigeren Augenblick abwarten, diese Hundesöhne zu packen.« »Das wollte ich nur hören.« Ben Brighton schnaufte erbost und ballte die Hände. »Das ist eine miese Situation. Wir haben Kanonen, mit denen wir sie null Komma nichts in Stücke fetzen könnten, können sie aber nicht einsetzen. Wie mich das wurmt!« Der Seewolf zuckte mit den Schultern. »Es läßt sich nicht ändern. Früher oder später rechnen wir schon gründlich mit
diesem Hundesohn Caligu ab, aber wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen. Los, wir gehen auf unseren alten Ostkurs zurück.« Ben Brighton fühlte sich miserabel und von den Piraten auf die Schippe genommen. Aber er war in dieser Lage schon heilfroh, daß der Seewolf ihn nicht mehr mit »Mister Brighton« anredete. Es war ein Zeichen dafür, daß Hasard ihm die Fehlentscheidung der Lage nicht übelnahm. Und das war schließlich auch etwas wert. Was aber weder Bootsmann Ben Brighton noch die anderen Männer an Bord der ›Isabella‹ verkraften konnten: Die Karavelle unter Caligus Kommando schwenkte auch wieder herum, sobald die ›Isabella‹ auf den altgewohnten Kurs zurückmanövrierte. Es war der reine Hohn. Den ganzen Tag über klebte die Karavelle als Fühlungshalter auf Sichtweitendistanz an der Dreimast-Galeone. Zu packen war sie vorläufig nicht. Keines der Bordgeschütze der ›Isabella‹ hätte ihr auch nur einen Kratzer zuzufügen vermocht. Caligu verhielt sich wie die von Ed Carberry so treffend zitierte Zecke.
5. Patrick O’Driscoll hatte sich von seinem Bad in der Karibik gut erholt und fühlte sich auf der Zweimast-Karavelle praktisch wie zu Hause - zumal er auf ihr ja schon unter Philip Hasard Killigrew gefahren war. Killigrew! Der Gedanke an den Seewolf ließ den Haß des Iren neu aufgären. Es war Nacht, und die wilden Kerle, mit denen O’Driscoll einen Raum im Vorschiff teilte, schnarchten um die Wette. Es war aber nicht ihr mißtönendes Konzert, das
ihn um den Schlaf brachte. Er hatte noch nicht vollständig verkraftet, was sich auf der ›Isabella V.‹ abgespielt hatte und kaute noch daran. Gut, Caligu hatte ihn erst wie einen Spion betrachtet, dann aber begriffen, daß er, O’Driscoll, die Wahrheit gesprochen hatte. Er hatte ihn mit selbstgefälligem Lächeln in die Mannschaft aufgenommen und erklärt, O’Driscoll könne ihm noch von größtem Nutzen sein. Wie er das präzise meinte, hatte der Ire nicht ergründen können. Er hatte es auch gar nicht wissen wollen. Patrick O’Driscoll hatte seinen Platz an Deck erhalten. Einige Gesichter der neuen Crew hatte er sich gleich am ersten Tag eingeprägt. Da war zum Beispiel der drahtige, kleine Bursche, den alle nur das »Messer« nannten. Argwöhnisch verfolgte dieser Kerl fast jede seiner Bewegungen. Er galt, wie der Ire herausgefunden hatte, als Caligus rechte Hand. Und O’Driscoll hatte sich vorgenommen, vor dem Messer auf der Hut zu sein. So sehr sich O’Driscoll auch bemühte, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, er mußte immer wieder über die Ereignisse um Valdez und seinen Streit und das Zerwürfnis mit der Seewolf-Crew herumgrübeln. Tief in seinem Innern plagte ihn das schlechte Gewissen. Aber das wollte er vor sich selbst nicht zugeben. Er saß auf seiner Koje und hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Bei jedem Überholen des Schiffes verlagerte er entweder sein gesamtes Gewicht auf die Rückenpartie, oder er straffte den Oberkörper, um sich abzufangen und nicht nach vorn abzugleiten, je nachdem, nach welcher Seite die Karavelle krängte. Das Schnarchen der Piraten, das Rauschen des Wassers an den Bordwänden, das gelegentliche heimliche Knacken tief unten im Schiffsrumpf und das Knarren der Blöcke und Rahen über ihm waren altbekannte Musik. Plötzlich aber mischte sich ein neues Geräusch darunter. Er wandte den Kopf. Ganz deutlich hatte er vernommen, daß die
Tür des Raumes bewegt worden war. Instinktiv schloß er die Hand um den Griff seines Messers. Die Tür wurde aufgeschoben. In dem gähnenden schwarzen Rechteck, das sie freigab, atmete verhalten ein Mensch. O’Driscoll spannte seine Muskeln an. Er kauerte lauernd und zum Sprung bereit. Das Messer zog er langsam aus dem Gurt. Es war finster in dem Vordeckraum, verdammt finster, und nur der Teufel mochte wissen, wer ihnen da einen Besuch abstattete. O’Driscoll bezog die Sache auf sich und rechnete mit einem jähen Überfall. Schemenhaft nahmen sich die Konturen der Gestalt aus, die sich nun aus der Türöffnung löste und in den Raum glitt, O’Driscoll hielt die Luft an. Wußte der Eindringling, wo er seinen Platz hatte? Offenbar nicht. Der Fremde strich suchend zwischen den Kojen umher. O’Driscoll wartete, bis die Gestalt in seiner unmittelbaren Nähe war. Dann richtete er sich auf und packte zu. Verdutzt hielt er inne. Er hatte der Gestalt schon einen Arm um den Hals geschlungen und hielt das Messer zum Stich bereit. Doch jäh wurde ihm bewußt, wie weich und warm und wohlproportioniert der Körper war, den er da festhielt. Er war richtig verdattert. Der stille Besucher entpuppte sich als Frau! »Still«, flüsterte sie. »Laß mich los, ich habe friedliche Absichten. Wer bist du - O’Driscoll?« »Ja«, raunte er. »Was willst du?« »Ich?« Sie kicherte leise. »Ich wollte mir nur mal den Mann aus der Nähe ansehen, der dem Seewolf getrotzt hat und ihm entgangen ist.« »Wer bist du?« »Alana, Maria Juanitas blonde Freundin.« O’Driscolls Atem ging schneller. Sein Blut war in Wallung geraten. Diese Alana war eins der liederlichen Weibsbilder, die der Seewolf aus einem Raum im Vorschiff der jetzigen
›Isabella V.‹ befreit und dann rigoros auf Grand Cayman abgesetzt hatte. Er hatte seiner Crew ja verwehrt, sich ein bißchen mit diesen zwölf Huren zu befassen. Philip Hasard Killigrew hatte seine guten Gründe dafür gehabt. O’Driscoll hatte ihn nicht verstehen wollen. Er hatte schon lange keine Frau mehr gehabt. Alana trug ein seidenes Kleid. Der Ire brauchte nur mit den Händen darüberzufahren, und schon fühlte er die üppigen Formen, die darunter verborgen waren. »Und?« sagte er gedämpft und heiser. »Hast du jetzt genug von mir gesehen?« Sie kicherte wieder. »Natürlich nicht. Aber komm, ich weiß einen Platz, an dem wir ungestört sind.« Sie zog ihn an der Hand aus dem stickigen, nach Männerschweiß riechenden Raum. Patrick O’Driscoll wußte kaum, wie ihm geschah. Als die Mannschaftsräume hinter ihnen lagen, zündete Alana ein Talglicht an. Im Schein der blakenden Flamme sah er nur ihr Gesicht. Es war von dreister, ziemlich vulgärer Schönheit. Ihr Verhalten war ziemlich eindeutig. Sie betrachtete ihn ungeniert von oben bis unten. »Du bist ein Kerl, Patrick. Über den Seewolf werden hier an Bord die tollsten Gerüchte verbreitet, und einiges davon muß wahr sein. Wir haben diesen schwarzhaarigen Bastard ja auch für kurze Zeit gesehen, als er uns von der ›San Josefe‹ holte. Was ich sagen will, Patrick: Es gehört Mumm dazu, dem Seewolf zu trotzen. Viel mehr als die Tatsache, daß du Valdez ins Jenseits schicken wolltest, hat mich fasziniert, wie du dich den Befehlen des Seewolfs widersetzt hast. Ich habe genau zugehört, als du Caligu Bericht erstattet hast.« Sie fuhr vorsichtig mit den Fingerkuppen über seine gerade erst vernarbten Rückenstriemen. O’Driscoll konnte sich damit schon wieder an eine Bordwand lehnen, aber die Berührung durch eine Hand ließ ihn ein
peinigendes Jucken verspüren. Er grinste schief und legte seinen Arm um ihre Taille. »Du willst mich also kennenlernen?« »Ich habe die Nase voll von zerlumpten, stinkenden Piraten.« »Ich bin auch einer, Alana.« »Du bist anders als - als diese Bastarde.« Sie zog ihn wieder mit sich, und sie betraten einen der Frachträume der Karavelle. In einer Ecke bereiteten sie sich ein provisorisches Lager. O’Driscoll fühlte sein Blut heftig pulsieren und begriff kaum noch, was um ihn herum geschah. Sie warfen sich auf das Lager, und seine Hände schoben sich unter den Saum ihres Kleides. Als er ihre Schenkel spürte, bedrängte er sie mit ungezügeltem Ungestüm. Er sah ihr stark geschminktes Gesicht im Schein der Talglampe unter sich. »Du wilder Stier«, keuchte sie. Patrick O’Driscoll nahm Alana. Alles versank im bodenlosen Nichts, der Rausch der Leidenschaft entführte sie in eine ferne Sphäre. Später hockten sie nebeneinander in der Ecke, und Alana strich ihm wieder über die Rückennarben. »Ich habe mich nicht getäuscht«, flüsterte sie. »Du bist ein toller, bärenstarker Kerl, Großer. Du hast Qualitäten.« »Es war noch nicht die letzte Runde«, versicherte er ihr grinsend. In diesem Augenblick vernahm er den Laut. Er duckte sich und griff nach dem Messer. Im Frachtraum hatte sich etwas geregt! Rasch löschte er das Licht, bedeutete Alana, still zu sein und bewegte sich auf leisen Sohlen an der Backbordseite des Schiffes entlang. Da! Da war es wieder! Schleifende, tastende Schritte entfernten sich nach achtern. Der Ire huschte am Großmast vorbei, der unter Deck wie ein drohender Schatten aus dem Kielraum emporwuchs. Er lief den Schritten nach, unternahm einen Satz nach vorn - und hielt plötzlich einen Mann am Arm fest. Der Bursche wirbelte herum. Ohne Vorwarnung ging er zum
Angriff über. Patrick O’Driscoll taxierte den Gegner. Was Größe und Wendigkeit betraf, konnte es sich nur um das »Messer« handeln. O’Driscoll wartete nicht darauf, daß der Kerl seine Stichwaffe zückte. Er pflasterte ihm seine Faust gegen die Schläfe. Messer steckte den Hieb ächzend ein. Trotz seiner geringen Größe konnte er eine Menge verdauen und war den anderen Piraten auch nicht an Körperkraft unterlegen. Er wurde durch die Wucht von O’Driscolls Hieb zur Seite katapultiert, fing sich aber sofort wieder. Aus der Finsternis huschte er wie ein schwarzer Panther auf den Iren zu. O’Driscoll ging in die Knie und lehnte sich nach hinten über. Beide gingen zu Boden. Sie wälzten sich. Erbittert rammten sie sich die Fäuste in Brust, Magen und Unterleib. O’Driscoll verzichtete absichtlich auf sein Messer. Er wußte, daß er an Bord der Piraten-Karavelle verspielt hatte, wenn er diesem Kerl kaltblütig die Gurgel durchschnitt. Nicht so das Messer! Plötzlich hatte er seinen Dolch in der Faust. Patrick O’Driscoll wäre arg in Bedrängnis geraten, wenn in diesem Moment nicht achtern ein Schott aufgeflogen wäre. Jemand trat ein und hielt eine Öllampe hoch. Die Kämpfenden verharrten. Das Messer hielt schon die Waffe erhoben, um O’Driscoll den tödlichen Stoß zu versetzen. »Aufhören!« sagte eine scharfe Frauenstimme. Maria Juanita war die Besitzerin der Öllampe. Sie stand neben dem Holzschott und stemmte die freie Faust in die Hüfte. In ihrem Gesicht spiegelten sich Zorn und Verachtung. »Seid ihr denn des Wahnsinns, mitten in der Nacht einen derartigen Zirkus zu veranstalten?« Alana fuhr hoch und lief auf sie zu. »Ich kann dir alles erklären, Maria Juanita. Hör mich an!« »Du?« Caligus Freundin funkelte das Mädchen empört an. »Ja, bist du mit einem Mal auch von allen guten Geistern verlassen?« Das Messer sprang auf. »O’Driscoll ist ein Spion«, zischte er.
»Er hat Alana aushorchen wollen. Der Seewolf hat ihn geschickt, um die Situation an Bord auszubaldowern. Ich schwöre euch, daß dieser Hund von einem Iren ein Verräter ist. Bei nächster Gelegenheit wird er wieder außenbords gehen, zur Galeone schwimmen und diesem Teufel Killigrew Bericht erstatten. Dann kennen sie unsere Schwächen und können uns besser angreifen.« »Lügner!« O’Driscoll wollte sich von neuem auf das Messer stürzen. Doch Maria Juanita schob sich zwischen die beiden Zankhähne. Alana zupfte an ihrer Kleidung und sah betreten zu Boden. »So geht das nicht«, sagte Maria Juanita schneidend. »Ich lasse das nicht zu. Wir gehen jetzt alle zu Caligu. Ihr könnt euch mit ihm auseinandersetzen. Wenn er schlechte Laune kriegt, läßt er euch allen dreien die Haut in Streifen vom Hintern ziehen.« Das Messer grinste höhnisch. »Mir nicht.« Maria Juanita blickte ihn mißbilligend an. »Da würde ich nicht so sicher sein. Du bist auch nicht unfehlbar. Los, kommt jetzt.« Alana konnte jammern, soviel sie wollte, es nutzte ihr nichts. Maria Juanita war unerbittlich. Sie wollte sich den günstigen und erfolgversprechenden Platz an Caligus Seite nicht verscherzen. Sie führte die drei ins Achterkastell. Schweigend schritten sie durch den Gang zur Kapitänskammer. Maria Juanita öffnete die Tür. Patrick O’Driscoll schätzte die Lage mit einem Blick ein. Caligu hockte hünenhaft und schweißglänzend inmitten heilloser Unordnung. Bekleidet war er nur zur Hälfte, und alle Zeichen deuteten darauf hin, daß hier eine kleine Orgie gefeiert worden war. Der Inhalt der Kojen lag auf dem Boden verstreut. Ein Stuhl war umgekippt, das Pult des Kapitäns zur Seite gerückt worden, ein Berg von Kissen türmte sich hinter Caligus mächtiger Gestalt, und ringsum verteilten sich die Relikte eines
üppigen Mahles und eines Trinkgelages, als seien sie wahllos aus der Luft in die Kammer niedergehagelt. Das alles hatten Caligu und Maria Juanita in trauter Zweisamkeit vollbracht. Es entsprach ihrer Art, miteinander intim zu werden. Caligu rülpste eindrucksvoll. »Juanita, mein Täubchen, bist du plötzlich stiften gegangen, um diese drei Figuren herzuholen? Du willst mich wohl ärgern, was? Du weißt ganz genau, daß ich heute nacht nur dich bei mir haben will ...« »Hör auf, du Bär«, entgegnete sie. »Du weißt, daß ich frischen Wein aus der Vorratskammer holen wollte. Da habe ich Geräusche gehört und bin ihnen nachgegangen. O’Driscoll und das Messer kämpften im Frachtraum miteinander.« Caligu setzte sich etwas auf. »Reinkommen. Schott dicht!« Seine Stimme klang schleppend. Er war nicht mehr ganz Herr seiner Zunge. Dennoch war er in seinem Rausch nicht zu unterschätzen. Seine dunklen Augen glitzerten kalt und hinterhältig. »Juanita, erzähle.« Die Frau schilderte, was sich zugetragen hatte. Dann durfte das Messer seine Version vom Stapel lassen. Patrick O’Driscoll ballte in ohnmächtigem Zorn die Hände. »Ich bin kein Spion«, stieß er hervor, »das ist gelogen!« Caligu winkte alle vier zu sich heran. »Du irischer Dickschädel«, sagte er leise, gefährlich leise. »Was hast du denn mit Alana angestellt, wenn du sie nicht nach Strich und Faden über mich und meine Mannschaft ausgehorcht hast, hm?« O’Driscoll antwortete ihm klipp und klar. Er drückte sich dabei mit so unverblümter Offenheit aus, daß Caligu sich hintenüber fallen ließ und brüllend loslachte. Es dauerte eine ganze Weile. Keiner, nicht einmal die eiskalte Maria Juanita, wußte in diesem Moment vorauszusehen, wie wohl die nächste Reaktion des unberechenbaren Piratenanführers sein würde. Caligu richtete sich prustend wieder auf. »Also nein, das ist wirklich zu lustig!« Er schaute an Alanas üppiger Erscheinung
hoch, lachte wieder und schlug ihr plötzlich mit seiner Pranke aufs Hinterteil, daß sie aufkreischte. »Recht so, vergnügt euch nur, was sollte daran wohl verkehrt sein? Messer, du verlauster Hund, schnüffle nicht immer hinter dem Iren her, verstanden? Der Bursche ist in Ordnung.« »Jawohl«, gab das Messer zerknirscht zurück. Caligus Grinsen zerfiel, er starrte Patrick O’Driscoll unvermittelt lauernd an. »Hast du das gehört? Du hast mein Vertrauen, irischer Holzschädel. Ich glaube nämlich, daß du mich nicht angelogen hast. Du hast genügend Erfahrung. Du weißt, daß ich es herauskriegen und dich vierteilen lassen würde, nachdem ich dich ausgepeitscht und an der Rahnock hätte zappeln lassen - stimmt’s, O’Driscoll?« »Ja, ich bin nicht so dumm, deinen Großmut auszunutzen.« »Großmut?« Caligu lachte dröhnend, dann wurde er schlagartig ernst. »Ich kenne das Wort nicht. Alles, was ich tue, ist genau kalkuliert. Du bist kein Spion, Ire, sondern ich bis es, der dich über Dinge an Bord der ›Isabella V.‹ auskundschaftet. Aber ich warne dich.« Seine Augen waren plötzlich drohend funkelnde Schlitze. »Nur eine falsche Geste, ein falsches Wort, und du hast deine Chancen bei mir verspielt.« »Dazu kommt es sehr bald«, sagte das Messer bissig. Caligu verscheuchte ihn mit einer wegwerfenden Gebärde. »Hau ab und laß uns jetzt allein. Ich habe ein paar Fragen und kann dein ewiges Dazwischenquatschen nicht leiden.« Das Messer verließ die Kapitänskammer. Er wußte, wie er seine Grenzen gegenüber Caligu abzustecken hatte. Im Augenblick war es wirklich ratsam, nicht weiter gegen ihn anzureden. Das Messer glaubte, noch bessere Gelegenheiten zu finden, um den Neuen abzuservieren. Caligu zog Maria Juanita zu sich heran. »Alana, du gehst den Wein holen, den Juanita in der Aufregung vergessen hat.« Er lachte grollend. »Wir nehmen einen zur Brust, und du, Ire, erzählst mir über die ›Isabella‹.«
Und Patrick O’Driscoll berichtete ausführlich über die Schätze, die im mächtigen Schiffsbauch der ›Isabella‹ lagerten - über die Silber- und Goldbarren, die der Seewolf den Spaniern in tollkühnen Raids entrissen hatte. Über die zwei Schatzkisten, die sie noch mit der ›Isabella III.‹ von der berüchtigten Guano-Insel Isla del Medio geholt hatten. Sie enthielten den Privatschatz des Vizekönigs von Lima. O’Driscoll schilderte den Inhalt dieser Schatzkisten mit den blumigsten Worten, und Caligus Blick wurde verklärt. So detailgenau hatte ihm Maria Juanita die Reichtümer des Seewolfes nicht vor Augen führen können. Schließlich hatte sie ja nur von der Insel Grand Cayman aus beobachtet, wie die Schätze von Bord der Karavelle auf die neue ›Isabella V.‹ hinübergemannt worden waren. Und selbst der Generalkapitän Don Francisco Rodriguez, den Caligu als Geisel an Bord hatte, hatte keine exakten Auskünfte über den Umfang des Schatzes geben können. Jetzt lauschte Caligu hingerissen, wie O’Driscoll über das einzigartige Panama-Unternehmen berichtete, bei dem die Seewolf-Crew reihenweise Galeonen geplündert und versenkt hatte. Perlen von der ›Victoria‹ ruhten in den Frachträumen der ›Isabella‹, Silberbarren, die man dem Hafenkommandanten von Panama abgenommen hatte - und nicht zu vergessen die zwölf Schatztruhen von der ›San Gabriel‹, deren Inhalt als Geschenk für Philipp II. von Spanien bestimmt gewesen war. Dann kam der Ire auf die Perlen und Juwelen zu sprechen, die Philip Hasard Killigrew aufgrund einer Karte gefunden und dem durchtriebenen Sancho Ortiz, dem Spion des Vizekönigs von Peru, vorenthalten hatte. Ortiz Gebeine verblichen jetzt in der Schatzgrotte, doch die bis obenhin vollgestopften Truhen reisten an Bord der ›Isabella V.‹ mit. Schließlich beschrieb der vierschrötige Ire auch den goldenen Anker. Der Seewolf hatte sich als Taucher betätigt und ihn gefunden, nachdem der Konvoi aus Cartagena auf die
Serranilla-Bänke gelaufen und sechzehn Galeonen zerstört worden waren. Ein von Haien halb zerrissener, sterbender spanischer Kapitän von einer der Galeonen war an Bord der ›Isabella IV.‹ genommen worden. Er hatte sein Geheimnis offenbart, für ihn war es gleichsam eine Beichte gewesen: Er hatte Gold beiseite geschafft und in die Form eines Ankers gießen lassen. Anschließend hatte er den Anker mit Blei überzogen, um dieses Privatvermögen nach Spanien zu schmuggeln. Der Seewolf hatte diesen Anker mit einer Trosse bergen lassen. »Er hat dabei mit Haien kämpfen müssen«, erwähnte Patrick O’Driscoll. »Die Biester hätten ihn zerfleischen sollen«, entgegnete Caligu. Seine Augen hatten wieder jenen bedenklich kalten, tierischen Ausdruck. »Aber vielleicht haben sie ihn für mich aufgespart, damit ich mich ein bißchen mit ihm befassen und ihn zu Tode foltern kann - wenn ich ihn erst habe. Ha, das wird ein Spaß!« »Jedenfalls will er den goldenen Anker nach England schaffen und der königlichen Lissy als besonderes Geschenk überreichen«, sagte Patrick O’Driscoll hämisch. »Große Töne spucken, das kann er. Er ist ein Wichtigtuer und Prahler, dieser dreimal verfluchte Bastard, einer, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Mich hat er ebensowenig ausbezahlt wie die anderen Männer der Crew. Kleine Leute gehen nun mal leer aus.« Das schlechte Gewissen nagte noch heftiger an ihm, und mit dem Wein, den er zu trinken erhielt, nahm dieser Zustand immer mehr zu. Aber O’Driscoll wollte es nicht wahrhaben, daß er etwas bereute. Im Gegenteil, durch eine absichtlich schlechte Darstellung des Seewolfs versuchte er sich im Nachhinein von seinem Tun zu überzeugen und alles zu rechtfertigen. Dabei wußte er ganz genau, daß Philip Hasard Killigrew eine ehrliche Haut war, daß er für seine Männer
durch dick und dünn ging und daß er nicht im Traum daran dachte, sich zu bereichern und die anderen hereinzulegen. »Die Lissy?« Caligu lachte laut und dröhnend. Er trank von dem schweren, süffigen Wein, den Alana gebracht hatte, streckte die Beine von sich, hob die Arme wie ein großer Affe und rülpste ungeniert. »Die wird gewaltig in die Röhre gucken, diese häßliche Schachtel! Das schwört euch Caligu. Killigrews zusammengeraffte Reichtümer gelangen um keinen Preis nach England. Wir reißen sie uns unter den Nagel, und du, irischer Dickschädel, kriegst dann auch redlich deinen Anteil.« Maria Juanita lachte und schenkte ihrem neuen Freund und Gönner Wein nach. Sie wußte, wie man den bulligen Kerl bei Laune zu halten hatte. Alana fiel ein, und schließlich lachte auch Patrick O’Driscoll mit. Dabei hatte er seine Zweifel, was das Gelingen eines Überfalls auf den Seewolf betraf. Zweimal hatte Caligu es bereits probiert. Zweimal war es ins Auge gegangen. Der Ire hatte keine Ahnung, wie die Piraten es anstellen wollten, an Bord der behäbigen ›Isabella V.‹ zu gelangen. Aber vielleicht konnte er, der die Galeone und deren Mannschaft bis ins i-Tüpfelchen kannte und damit sogar Generalkapitän Rodriguez an Wissen einiges voraushatte vielleicht konnte er manchen brauchbaren Hinweis liefern, der Caligu dienlich war. Darauf lief es doch hinaus, wenn Caligu behauptete, O’Driscoll würde ihm von größtem Nutzen sein. Gemeinsam konnten sie Strategie und Taktik aufbauen.
6. In dieser Nacht blieb der Seewolf auf den Beinen - und auch seine Crew fand keine Ruhe. Hasard hatte beschlossen, auf Nordkurs zu gehen, um Caligu ein Schnippchen zu schlagen. Zumindest wollte er es versuchen. Im Schutze der Dunkelheit,
so mutmaßte er, konnte es ihm mit etwas Glück gelingen, den lästigen Verfolger abzuschütteln. Der Wind fiel nach wie vor handig bis steif ein, war jedoch launischer geworden und sprang ständig um. Mal blies er von Nordwesten, mal von Westen, mal aus nördlicher Richtung. Für die Crew war das ein beschwerlicher Törn, denn sie mußte beständig mit Brassen und Schoten hantieren, die Segel mal so dicht wie möglich holen, mal wieder auffieren, um die ›Isabella‹ mit Kreuzschlägen voranzubringen. Mal segelte die Galeone über Steuerbord-, mal über Backbordbug. Hasard stand an der Five-Rail, die den Abschluß des Achterdecks nach vorn hin bildete. Aufmerksam verfolgte er die Arbeit der Männer. Carberry brüllte seine Kommandos. Einmal lag er mit Buck Buchanan im Zank, weil dieser ein Fall nicht ordentlich klariert hatte. Hätte der semmelblonde Engländer nicht rechtzeitig zurückgesteckt und klein beigegeben, hätte es passieren können, daß der Profos rabiat wurde. In solchen Fällen riß er leicht mal einen Koffeynagel aus einer Nagelbank und benutzte ihn als Wurfgeschoß oder Hiebwaffe. Einmal war er mit Patrick O’Driscoll aneinandergeraten. Der Ire hatte dabei den kürzeren gezogen. Es lohnte sich nicht, sich mit Carberry anzulegen. Die Mannschaft wußte das, und niemand, der vor ihm einen Rückzieher vollführte, galt deshalb gleich als Hasenfuß oder Stiefellecker. Der Profos wollte respektiert werden. Wer ihn achtete, gewann seine Sympathie. Edwin Carberry war ein lärmendes Rauhbein, aber unter der harten Schale steckte ein guter Kern. Hasard lächelte. Mit O’Driscolls Verschwinden war wieder Ruhe an Bord seines Schiffes eingekehrt. Daß sie die Piraten im Nacken hatten, störte die Männer zur Zeit nicht mehr sonderlich. Immerhin hatten sie sich vor Augen gehalten, daß sie letztlich am längeren Hebel saßen. Caligu konnte ihnen nicht ganz auf den Pelz rücken. Er riskierte, mitsamt seiner
wüsten Mannschaft wie ein Rudel räudiger Hunde zusammengeschossen zu werden. Er würde sich also weiterhin auf Abstand halten. Doch andererseits wollte der Seewolf diese Zecke auch nicht ewig am Achtersteven kleben haben. Ein Kerl wie Caligu konnte sturer als ein Ochse sein. Selbst unter der Erkenntnis, daß er den Feind nie bekämpfen konnte, hielt er sich möglicherweise auf Tage und Wochen auf dessen Fährte. Das war nicht nach Hasards Geschmack. Eben deshalb trachtete er danach, den Piraten zu überlisten. Ben Brighton und Ferris Tucker waren bei ihm, als er nähere Angaben zu ihrem neuen Kurs und Fahrziel machte. »Ich habe mir die Seekarte genau angesehen und einige Berechnungen angestellt«, sagte er. »Wir steuern ziemlich direkt auf die Cayos de las Doce Leguas zu.« »Inseln?« fragte Ben Brighton. »Eine Kette winzigster Inselchen vor der Südküste Kubas, und zwar unterhalb der östlichen Hälfte.« Als er auch Jean Ribault und einigen anderen gegen Mitternacht von seinem Plan erzählte, sagte der Franzose: »Cayos de las Doce Leguas? Als einstiger Karibik-Pirat kenne ich mich in der Gegend aus. Dort wimmelt es nur so von Riffen und tückischen Korallenbänken.« Philip Hasard Killigrew entblößte die weißen Zahnreihen. »Genau das ist mir recht. Ich wünsche diesem Hurensohn Caligu, daß es ihm so ergeht wie den sechzehn Galeonen aus Rodriguez Verband.« »Ja«, erwiderte Ribault. »Aber was ist, wenn wir uns verkalkulieren und selbst auflaufen?« »Das müssen wir eben verhindern. Von einer bestimmten Position ab werden wir mit äußerster Vorsicht und Präzision manövrieren. Dann suchen wir uns eine Fahrrinne oder etwas Ähnliches durch das Gefahrengebiet. Irgendwie lavieren wir uns schon durch. Schließlich ist es nicht das erste Mal, daß wir
uns auf ein heikles Unternehmen einlassen.« Nein, das war es nicht. Jean Ribault hatte zwar trotzdem seine Bedenken, und auch einige andere Männer waren skeptisch, aber sie hüteten sich, über den Beschluß des Seewolfs zu palavern oder gar die Befehle zu kritisieren. Soviel Freizügigkeit Killigrew auch an Bord herrschen ließ, Herr auf seinem Schiff war schließlich er. Bei gewissen Dingen ließ er seine Leute gern mitreden. Bei anderen ging es nicht ohne die übliche Disziplin. Im übrigen wurde Hasard die Autorität an Bord nie bestritten. Stunden verstrichen, und der Wind ließ es sich nicht einfallen, beständiger zu werden. Die ganze Nacht über tat kein Mann der Crew ein Auge zu. Die Position, die der Seewolf sowohl auf seinen Karten als auch in seinem Geist markiert hatte, wurde überschritten, und von nun an war höchste Vorsicht geboten. Dan O’Flynn saß im Großmars, und Gary Andrews versah seinen Posten im Fockmars. Sie äugten wie die Luchse in die Dunkelheit. Jeder Mann gab sein Äußerstes an Umsicht und Erfahrung. Aber dennoch existierten Faktoren, die nicht berechnet und deshalb nicht ausgemerzt werden konnten. Da war die Dunkelheit, die nicht zuließ, daß sie Gefahrenzonen unterhalb der Wasseroberfläche auf Distanz erkannten. Die ›Isabella‹ glitt langsam dahin, Jean Ribault lag bäuchlings auf der Galion und lotete die Wassertiefe aus. Aber da war auch der geradezu kapriziös umspringende Wind. Er wechselte jählings von Nordwesten auf Nord und fiel dann plötzlich von Südwesten ein. Die ›Isabella‹ hatte also mit einem Mal raumen Wind und segelte über Steuerbordbug. Rudergänger Pete Ballie wollte anluven und in den Wind gehen, um Fahrt aus dem Schiff zu kriegen, aber da knallte eine Bö in die Segel und ließ die ›Isabella‹ weiter nach Steuerbord krängen. Pete blieb nichts anderes übrig, als abzufallen und in der Bö mitzulaufen, wenn die Galeone sich
nicht zu sehr flachlegen sollte. Carberry fluchte, Jean Ribault rief eine Warnung, die niemand verstand. Ben Brighton, Ferris Tucker und Pete Ballie schimpften auf dem Achterdeck um die Wette. Der Seewolf, der aufs Quarterdeck hinabgestiegen war, preßte die Lippen zu einem Strich zusammen und ballte die Hände. Pete Ballie versuchte, im Nachlassen der Bö doch noch anzuluven und fast in den Wind zu gehen, aber da war es schon zu spät. Ein Ruck lief durch die ›Isabella‹. Der Schiffskörper erbebte bis in seine letzten Verspannungen, und gleichzeitig begannen über den Köpfen der Männer die Segel zu killen. Es knatterte wie bei Musketenfeuer, und einige zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Carberry fluchte so laut und lästerlich, wie er nur irgend konnte, aber das nutzte natürlich auch nichts mehr. Dem Seewolf war passiert, was er seinem Erzfeind Caligu so sehr gewünscht hatte. Die ›Isabella V.‹ war aufgelaufen. * Selbstverständlich versuchte Hasards Crew noch während der Nacht, mit der Galeone freizukommen. Aber hier versagte seemännisches Können, hier konnte kein Trick etwas ausrichten. »Wir sind aufgebrummt wie die blutigsten Anfänger«, schimpfte der Profos. »Himmel, Arsch und Zwirn, daß ich das erleben muß!« »Du weißt genau, daß es weder meine noch deine noch die Schuld von irgend jemandem ist«, erwiderte der Seewolf mit der größtmöglichen Ruhe. »Wir sind einfach widrigen Umständen zum Opfer gefallen.« Was sollte er sonst sagen? Sie steckten im Schlamassel, sehr tief sogar. Und sie konnten nichts anderes tun, als bis zum
Morgen abzuwarten. Hasard teilte Bordwachen ein - diesmal doppelte wegen der Gefahr eines Überfalls durch Caligu. Zwei Drittel der Crew schickte er schichtweise in die Kojen. Philip Hasard Killigrew verweilte auf dem Achterdeck seines Schiffes und verfolgte, wie die Nacht allmählich wich. Wie ein riesiges schwarzes Ungetüm zog sie über die westliche Kimm davon, während im Osten nebliggraue Schleier hochkrochen und den Morgen ankündigten. Die Helligkeit nahm zu. Die Farbe des Wassers verwandelte sich unter dem Licht der noch nicht zu sehenden Sonne von Schwarz in Bleigrau, dann in milchiges Grün. Hasard wartete den Feuerball der Sonne ab. Etwas später kletterte er auf die Kuhl hinunter und entkleidete sich bis auf eine kurze Hose und seinen Gurt mit dem Messer. Der Himmel war wolkenlos. Es versprach ein schöner, ruhiger Tag zu werden. Hasard gab Ben Brighton ein Zeichen, dann kletterte er in Lee auf das Schanzkleid. Er verharrte und breitete die Arme aus. Einen Augenblick stand er so und wirkte in seiner abwartenden Haltung beinahe andächtig. Er zog die Arme nach vorn, ließ sich vornüber kippen und raste der glitzernden See entgegen. Sauber tauchte er zuerst mit den Händen, dann mit dem Kopf und schließlich mit dem ganzen Körper ein. Es spritzte nur ein wenig Wasser hoch. Die Crew stand auf Deck und verfolgte gespannt seinen Tauchversuch. Hasard war ein Geschoß, das durch die kristallklaren Fluten stach und sich immer mehr vom Wasserspiegel entfernte. Wo der Auftrieb einsetzen wollte, half er mit den Armen nach. Er schwamm. Seine Haare hatten sich aufgestellt und bewegten sich wogend wie kurze, schwarze Algen auf einem Felsen hin und her. Hasard tauchte mit geöffneten Augen. Er drehte sich und hatte den gigantischen Leib der ›Isabella‹ direkt vor sich. Trotz der fatalen Lage konnte er sich in diesem Augenblick eines gewissen Stolzes nicht erwehren: sie war schön, die »Lady
Isabella«, und er hatte allen Grund, ein kleines bißchen eingenommen zu sein. Weniger ihr Ausmaß als vielmehr ihre Beschaffenheit waren es, die Erstaunen und Bewunderung weckten. Es gab eine Menge mehr oder minder gut konstruierter Schiffe. Die ›Isabella‹ jedoch war nicht nur hervorragend konzipiert, sie war mehr: sie stellte ein Meisterwerk der Schiffsbaukunst dar, das mußte man den spanischen Dons lassen. Sie war ein Juwel. Ferris Tucker hatte das auch schon bemerkt, als er das Leck im Bug repariert hatte, wegen dem sie Cayman Grae hatten anlaufen müssen. Hasard strich an der Bordwand der Galeone hinab und tastete sich bis zum Kiel vor. Bald wuchs wuchtig und drohend vor ihm empor, was ihnen in der Nacht zum Verhängnis geworden war. Es war eine richtige Unterwasserbarriere. Ein Riff, eine U-förmige Kuhle, in die sich das Schiff geschoben hatte, allerdings nicht aus Korallen, wie Hasard sie an den SerranillaBänken erkundet hatte, sondern aus grauem, schwerem Fels. Satt und behäbig hatte sich die ›Isabella‹ daraufgesetzt. Und sie hatte sich in der u-förmigen Kuhle regelrecht festgeklemmt, daran war nicht zu rütteln. Etwas Positives ergab sich immerhin: Der Fels war glatt. Im Unglück hatten sie daher doch noch nicht das schlechteste Los gezogen - der Rumpf war unbeschädigt geblieben. Schroffes und spitzes Gestein hätte den Bauch der Lady zweifellos aufgeschlitzt. Die Folgen wären unabsehbar gewesen. Die Atemluft wurde knapp. Hasard kroch ein Stück am Rumpf hoch. Er nutzte dabei den Auftrieb des Wassers aus. Schließlich stieß er sich ab und ließ sich vom Druck nach oben tragen. Helligkeit überflutete ihn, als er den Kopf aus dem Naß steckte. Er strich sich mit einer Hand übers Haar, blickte zu seiner Crew hoch und rief: »In gewisser Weise haben wir noch Schwein gehabt, Männer!« Ben Brighton wies mit der Hand auf etwas, das sich hinter ihm befinden mußte. »Wahrschau, Hasard! Schnell auf die
Jakobsleiter!« Der Seewolf schwamm mit kräftigen, weit ausholenden Zügen und bewegte die Beine auf und ab. Das war sein ganz persönlicher Stil, sich durch die See zu bewegen. Er blickte über die Schulter zurück. Eigentlich hatte er damit gerechnet, Caligu würde sich sehen lassen, aber die Gefahr bestand aus einem dunklen Dreieck, das die Wasseroberfläche wie ein Messer durchschnitt. Der Hai, der da heranglitt, konnte mit Caligu verglichen werden. Beide konnten den Hals nicht voll genug kriegen. Hasard zog sein Messer, aber er brauchte es nicht zum Einsatz zu bringen. Als er die Jakobsleiter erreichte, drehte der Hai aus unerfindlichen Gründen ab und glitt achteraus an der ›Isabella‹ vorbei. Vielleicht hatte er begriffen, daß er sich an diesem schwarzhaarigen Mann doch nur die Zähne ausbeißen würde. Kaum wieder an Bord, schilderte Hasard seinen Männern die Situation, wie sie sich seinen Augen geboten hatte. »Kein Wassereinbruch«, sagte er. »Kein Leck. Dieses Schiff ist aus hartem, gesundem Eichenholz gebaut und besitzt tadellose Verbände. Insofern haben wir also nichts zu befürchten. Ferris, du kannst aufatmen.« »Das tue ich auch«, entgegnete der Schiffszimmermann. »Aber wir können trotzdem weder vor noch zurück.« »Ja, wir sitzen wie festgebolzt.« Hasard blickte zum Großmars hoch. Seine Augen suchten und fanden Dan O’Flynn, das Bürschchen mit den schärfsten Augen an Bord. »He, Dan! Hast du mal einen ersten Rundblick gehalten?« Das Bürschchen beugte sich weit über die Segeltuchverkleidung des Großmarses hinaus. Das sah aus, als müßte er jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren und auf Deck stürzen. »Sechzig Yards ostwärts ein Felseneiland«, meldete Dan. »Fünfzig Yards voraus, also nördlich von uns, ebenfalls
verdammte Felsen. Westlich, ungefähr hundert Yards entfernt, Korallenbänke.« Hasard stieg aufs Achterkastell und nahm den Kieker zur Hand. Die Schleier der Dämmerung hoben sich, ein paar Fetzen Morgennebel verflüchtigten sich ebenfalls, und nach einiger Zeit waren die umliegenden Felsen auch mit bloßem Auge zu erkennen. Es war deprimierend, diese aus dem Wasser ragenden, fast zum Greifen nahen Steingebilde anzusehen. Noch bedrückender war es, über sie hinauszuschauen und die Riffs zu entdecken, die sich in der gesamten Umgebung erhoben. Sie waren in eine Falle geraten. Überhaupt, es war ein Wunder, daß sie während der Nacht eine ansehnliche Strecke ohne Schaden zwischen den Cayos de las Doce Leguas hindurchgesegelt waren. »Scheiße, verdammte«, sagte der Seewolf. Er verfluchte sich innerlich, aber an dem Aufbrummen ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Er hatte eine Fehlentscheidung getroffen, war aber noch mit einem blauen Auge davongekommen. Jetzt galt es, die ›Isabella‹ wieder flottzukriegen. »Dan!« rief er zum Großmars empor. »Du bleibst da oben und hältst die Augen offen, vor allen Dingen, was Caligu und seine Karavelle betrifft.« »Aye, aye, Sir!« »Profos!« »Sir?« »Das Schiff muß gefechtsklar sein. Zwei Boote werden ausgesetzt, und dann fangen wir an. Ich will das Schiff leichtern. Es ist die einzige Möglichkeit, die ›Isabella‹ aus der Kuhle zu heben und aus eigenen Stücken freischwimmen zu lassen.« Er wandte sich zu Ben Brighton, Ferris Tucker und ein paar anderen Männern um. »Wir sind gezwungen, die Laderäume zu leeren. Ich will, daß diese Aktion mit der größten Vorsicht ausgeführt wird. Ich selbst werde jeden einzelnen Schritt überwachen, denn weitere Fehler können wir
uns nicht leisten:« Die Männer begriffen, daß er diese Maxime an erster Stelle für sich selbst setzte. Sie begannen mit den Vorbereitungen. Während der nächsten Minuten vibrierte das Deck der ›Isabella‹ unter dem Hin und Her der Männer, unter dem Ausrollen der Geschütze und unter den hochgeklappten Stückpforten. Die üblichen Vorkehrungen wurden getroffen, als stünde eine Auseinandersetzung mit einem Feind unmittelbar bevor. Die Crew war bereit und wartete nur darauf, Caligu oder jedem anderen Störenfried die Hölle anzuheizen. Die Boote wurden abgefiert, bemannt und danach vollgeladen. Hasard bestimmte, welche Teile zuerst aus den Frachträumen emporgeholt und an Bord der Boote gemannt wurden. Da waren die Schatztruhen und das Barrensilber, die beträchtlich wogen. Da war der goldene Anker. Mit der ersten Fuhre ließ der Seewolf Schatzkisten zu dem fünfzig Yards voraus befindlichen Felsen pullen. Drüben sprang der Profos mit an Land und dirigierte die Männer. Sie schafften die Kisten auf den höchsten Punkt des kahlen Eilandes und achteten darauf, daß der Platz trocken war. Sie vergeudeten keine Zeit auf unnötige Tätigkeiten und Gespräche. Sie kehrten so rasch wie möglich zu ihrer Galeone zurück und verstauten die nächste Fuhre in den Booten. Diesmal war auch eine Ladung Barrensilber mit an der Reihe. Bis zum Mittag schufteten sie wie die Wilden. Dann ließ Hasard eine Pause einlegen. Der Kutscher hatte die Kombüsenfeuer mächtig angeheizt und teilte eine kräftige Mahlzeit aus. Dazu gab es von dem Wein, den Generalkapitän Don Francisco Rodriguez gegen seinen Willen an Bord des Schiffes zurückgelassen hatte. Hasard rationierte ihn. Jeder Mann erhielt gerade so viel zu trinken, daß seine Lebensgeister neu angeregt wurden - ohne ihn betrunken zu machen. Nach dem Mittagessen wurde die Arbeit fortgesetzt. Ferris Tucker bastelte inzwischen an einem Gebilde aus Taljen und
Trossen herum. Hasard hatte ihm freie Hand erteilt, was die Erstellung von Hilfsmitteln betraf, die dem Flottmachen der ›Isabella‹ dienen konnten. Der Kutscher klarte die Kombüse auf. Durch das offene Holzschott beobachtete er schon geraume Zeit, wie der rothaarige Riese an seiner imposanten Konstruktion herumwerkte. Bald konnte er seine Neugierde nicht mehr bremsen. »Was wird denn das?« fragte er Ferris Tucker. »Ein Ding, mit dem du dir in der Nase bohren kannst.« »Hör zu, Ferris, ich finde es nicht sehr lustig, daß du mich so auf den Arm nimmst ...« Tucker grinste. »Schnapp bloß nicht gleich wieder ein. Dieser Apparat ist ein Flaschenzug, das sieht doch ein Blinder. Na ja, ich will dir zugute halten, daß du im Grunde eine Landratte bist und dich eher aufs Quacksalbern und Suppenrühren verstehst.« »Jetzt mach mal einen Punkt«, protestierte der Kutscher. »Also«, erklärte Ferris Tucker geduldig. »Mit diesem Ding müßten wir unser Schiff von dem Felsen ‘runterkriegen. Eine Part wird am Bug, die andere Part bei den Felsen verankert.« »Und du glaubst, das klappt?« »Das muß es.« Der Seewolf trat zu ihnen. »Gut, nur weiter so, Ferris. Wir fahren gleich auch den Anker nach Steuerbord voraus aus. Dann können wir, sobald die ›Isabella‹ erst einmal genügend geleichtert ist, unsere dicke Lady an zwei Trossen mittels Spill und Muskelkraft nach voraus von der Untiefe wegziehen.« »Das leuchtet mir ein«, sagte der Kutscher. »Na endlich«, sagte Ferris Tucker und arbeitete weiter. Die Sonne brannte auf die halbnackten Körper der Männer nieder. Sie mühten sich redlich und verbissen ab und gönnten sich keine Pause mehr. Der Schweiß bedeckte ihre Gesichter und Leiber in Rinnsalen. Was sie hier taten, hatten sie ja vor einigen Tagen schon einmal vollzogen. Sie kannten sich also
zur Genüge aus und wußten, wieviel Zeit das Löschen der schweren Ladung in Anspruch nahm. In der Nordbucht von Grand Cayman hatten sie das komplette Vermögen von Bord zu Bord der beiden ›Isabellas‹ gemannt. Über vierundzwanzig Stunden hatten sie geschuftet. Und so war es auch diesmal: Erst bei Einbruch der Nacht hörten sie auf, zwischen ihrem Schiff und dem öden Felseneiland hinund herzupullen - und dennoch lagerte ein Teil des Schatzes immer noch im Bauch der ›Isabella‹. »Morgen früh geht’s weiter«, sagte der Seewolf. »Und heute nacht müssen wir auf der Hut sein. Ich schließe immer noch nicht aus, daß Caligu irgendwann erscheint.«
7. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages löste Jean Ribault Dan O’Flynn im Großmars ab. Dan hatte die ganze Nacht über Wache gehabt. Er protestierte zwar gegen den Wechsel, aber alles Sträuben half nichts. »Hau dich aufs Ohr«, sagte der Profos. »Du brauchst dringend mal eine Mütze voll Schlaf. Siehst schon ganz weiß aus im Gesicht. Kippst uns noch aus den Stiefeln.« »Ich bin doch kein Schlappschwanz«, maulte Dan. »Marsch«, kommandierte Carberry barsch. »Ab ins Vordeck mit dir, du Hering!« Während der Vormittagsstunden schaffte die Mannschaft die letzten Gold- und Silberbarren zu dem voraus liegenden Eiland hinüber. Es ging auf Mittag zu, da meldete sich Ben Brighton bei Philip Hasard Killigrew und fragte: »Der goldene Anker sollen wir den auch zur Insel bringen?« »Ja. Verfrachtet ihn in ein Beiboot, lascht ihn ordentlich fest und schleppt die Last mit dem anderen Boot hinüber.«
»Aye, aye.« Der Anker ruhte schwer und ausladend in dem Beiboot. Die Männer in dem zweiten Boot verbanden beide Gefährte mit einem Tau, dann pullten sie los. Ein paarmal geriet das Lastboot so bedenklich ins Schwanken, daß es zu kentern drohte. Es war kopflastig. Die Distanz von fünfzig Yards war letztlich aber nicht zu groß, und mit einigem Geschick gelang es Hasards Männern, den Anker aufs Ufer des Eilandes zu befördern. Matt Davies, Sam Roskill, Buck Buchanan und die beiden Holländer, Karl von Hutten, Smoky, Stenmark und Al Conroy platzierten sich schließlich auf der trockenen Anhöhe und hievten die Trosse, an der der Anker befestigt war, Zug um Zug auf. Die Dreimast-Galeone war nahezu leer. Plötzlich meldete sich Jean Ribault mit einem Ruf aus dem Großmars. »Deck, Deck! Mastspitzen achteraus! Im Südwesten! Ich freß einen Hut, wenn das nicht der Hundesohn Caligu ist!« Philip Hasard Killigrew lief aufs Achterdeck, blieb neben der Hecklaterne stehen und beobachtete durch das Spektiv. »Du kannst den Hut ungeschoren lassen, Jean«, murmelte er. »Es ist wirklich der Pirat. Der Teufel soll ihn holen.« Die Zweimast-Karavelle schlich sich förmlich an die ›Isabella V.‹ heran. Ben Brighton und Edwin Carberry traten neben ihren Kapitän und verfolgten das Manöver aus schmalen Augen. »Noch ein bißchen näher«, sagte Carberry immer wieder. »Nur noch ein kleines Stückchen näher, du Hurensohn, und wir brennen dir ein Ding auf den Pelz, daß dir die Ohren schlackern.« Hasard schüttelte den Kopf. »So dumm ist der nicht.« »In der Tat«, sagte Ben. »Caligu läßt anluven, die Segel dichtholen und Fahrt aus dem Schiff nehmen. Er bleibt außer Schußweite.« »Irgendwann erwischen wir ihn«, sagte der Profos.
»Geben wir uns keinen Illusionen hin«, erwiderte der Seewolf. »Im Augenblick hat Caligu allen Grund, sich über uns halbtot zu lachen.« * Caligu stand breitbeinig auf der Hütte der ZweimastKaravelle. Seinem Rudergänger hatte er selbst die Anweisung gegeben, rechtzeitig vor der Galeone anzuluven und das Schiff zum Stehen zu bringen. Er hielt die Fäuste in die Seite gestemmt und brüllte die letzten Segelkommandos über Deck. Dann starrte er wie gebannt voraus. Zuerst glaubte er seinen Augen nicht zu trauen, doch schließlich prustete er vor Vergnügen los und bog sich dabei in den Hüften. »Messer, he, Messer - komm rauf und sieh dir das an!« Das Messer kletterte wieselflink aufs Achterdeck und baute sich neben seinem Anführer auf. Bald lachte auch er. »Satan, die Bastarde von Engländern sitzen fest! Nein, das ist wirklich zu herrlich!« Maria Juanita und Alana und die übrigen Mädchen erschienen auf Deck und besahen sich, was mit der ›Isabella V.‹ passiert war. Sogar der Generalkapitän Rodriguez wurde aufs Achterdeck geführt, damit er sich die Bescherung anschauen konnte. »Was meinst du, ob die jemals wieder loskommen?« fragte Caligu den fetten Spanier, nachdem er sich einigermaßen von seinem Lachanfall erholt hatte. Rodriguez leckte sich die Lippen. »Nun - nach meinem Dafürhalten müßte man die Galeone erheblich leichtern, um ihr mehr Auftrieb zu verschaffen. Das heißt - ehm -, man müßte vorübergehend löschen, was sich in den Frachträumen befindet.« Caligu wandte sich zu dem Messer um. In seinem Gesicht spiegelte sich unverhohlener Spott. »Hast du das gehört,
Messer? Unser Freund hier ist als Generalkapitän wirklich nicht so dämlich, wie er aussieht, was? Er würde die Galeone leichtern, hat er gesagt.« »Darauf wäre ich nie gekommen«, entgegnete Messer grinsend. »Oh, wie klug du bist«, sagte Caligu zu Rodriguez. Mit glucksendem Lachen hob er seinen Kieker ans Auge und linste zur ›Isabella‹ hinüber. »Na bitte, sie haben schon angefangen und ein hübsches Stück Arbeit geschafft, der Seewolf und seine Bastarde. Messer, sie haben den Schatz an Land gepullt. Ich seh die Kisten und Barren ganz deutlich drüben auf dem winzigen, kahlen Eiland - und ich seh auch den goldenen Anker. O’Driscoll!« Den Namen des Iren brüllte er. Patrick O’Driscoll erklomm das Achterdeck. Er maß Messer mit einem huschenden Blick. Der kleine Pirat zeigte keinerlei Reaktion und verhielt sich absolut neutral. Zwischen ihm und dem Iren hatte sich so etwas wie ein Burgfrieden eingestellt. Wenn O’Driscoll bei Caligu einen dicken Stein im Brett hatte, so empfahl es sich für das Messer nicht, dauernd Unfrieden zu stiften. Messer kannte den hünenhaften Mischling genau, und, verdammt, er hatte ja aus nächster Nähe gesehen, wie Caligu mit Maria Juanita verfahren war, die sich auf Grand Cayman zu aufmüpfig verhalten hatte. »Du irischer Vierkantschädel«, sagte Caligu zu O’Driscoll. »Stell dir vor, du wärst Kapitän hier an Bord. Was würdest du jetzt tun? Du bist doch unter Einohr Mac Dundee gefahren, na los, Erfahrung hast du genug.« Der Ire zog die Unterlippe zwischen die Zähne, dann sagte er impulsiv: »Keine Sekunde würde ich zögern. Ich würde angreifen, jawohl, fertigmachen würde ich diese Schweinehunde. Auf was warten wir? Schicken wir sie zu den Haien!« Maria Juanita wollte einen Einwand erheben, doch Caligu winkte ab. »Du kochst ja immer noch ganz schön vor Haß und
Wut auf den Seewolf«, sagte er zu dem Iren. »Aber womit willst du ihm auf die Pelle rücken, he? Mit Holzknüppeln vielleicht? Mit kochendem Wasser, wie es der Bastard und Hurensohn Valdez auf uns runtergekippt hat, als wir die Karavelle zum ersten Mal entern wollten?« Der Gedanke daran ließ ihn noch nachträglich grollen. Valdez, der wackere Kämpe, hatte ja wirklich Mut bewiesen und den Piraten trotz seiner schwierigen Lage vor Grand Cayman die Zähne gezeigt - ganz im Gegensatz zu Rodriguez, dem Todesmut und Kampfentschlossenheit völlig abgingen. Er war ein Hasenfuß. »Irgendwie müssen wir es schaffen«, sagte O’Driscoll. »Ihr wollt doch wohl nicht zusehen, wie diese Hunde ihr Schiff loseisen, wieder neu beladen und sich dann verholen.« »Aber wir sind auch keine Selbstmörder«, sagte das Messer, Caligus Unterführer. »Ein Angriff ist reiner Wahnsinn«, versetzte denn auch Caligu. »Warten wir erstmal ab. Einige Zeit bleibt uns ja. Weglaufen können uns die Burschen nicht.« O’Driscoll fluchte leise vor sich hin. Aber auch er mußte einsehen, daß sie nicht einfach zu der voll bestückten und sicherlich gefechtsklaren Dreimast-Galeone hinübersegeln konnten. Sie würden nicht einmal ihre Enterhaken auswerfen können, sondern vorher in Stücke geschossen werden. Es hatte auch keinen Zweck, eventuell die Beiboote zu besetzen und damit hinüberzupullen. Wenigstens mußten sie die Dunkelheit abwarten, um zum Zuge zu gelangen. Dies war eine echte Patt-Situation. Eine Partei war bis an die Zähne bewaffnet, konnte sich aber nicht vom Fleck rühren. Die andere war zwar beweglich, verfügte aber über keine Schußwaffen beziehungsweise über Kanonen und Musketen, für die es keine Munition gab. »Aber die Beute ist gestellt«, sagte Caligu. Er lachte dröhnend und rieb sich die Pranken. »Schärft auf jeden Fall
eure Messer und Degen, Männer - und haltet Brandpfeile bereit! Wir kriegen unsere Chance, diese räudigen Hurensöhne abzumurksen, das schwöre ich euch.« Er drehte sich zu Rodriguez und den beiden Männern um, die den Generalkapitän hielten. »Los, bringt diesen Fettsack wieder unter Deck. Ich will ihn nicht mehr auf Deck sehen. Und denkt immer daran, daß er einen Haufen Gold wert ist. Aber wenn er auch nur eine Dummheit begeht, schneidet ihm die Kehle durch und bringt mir seinen Kopf, verstanden?« »Jawohl«, antworteten die beiden Kerle wie aus der Pistole geschossen. »Erbarmen«, jammerte Rodriguez. »Ich werde alles tun, was ihr sagt - alles. Nur tut mir nichts zuleide.« »Und mit diesem Waschweib hat man sich nun abgegeben«, sagte Maria Juanita verächtlich. »Es ist doch eine Schande. Gott, ich habe schon viele Kerle gesehen, aber vor keinem habe ich mich mehr geekelt als vor dir, Rodriguez. Du kotzt mich an.« »Ich will leben«, stieß Rodriguez mit spitzer Stimme hervor. »Ich helfe euch, den Seewolf zu überlisten. Ihr braucht mir nur zu sagen, was ich tun muß. Wirklich, ich kann den Kerl auch nicht leiden und ...« »Bringt ihn weg!« brüllte Caligu. »Ich kann sein Gewinsel nicht ertragen. Ab ins Kabelgatt mit ihm!« Die beiden Piraten marschierten mit der Geisel ab. Caligu trat an die Five-Rail und ließ den Blick über Deck schweifen. Da hatten sich seine Leute zusammengerottet. Fast drei Dutzend wüster Höllenhunde waren das, zerlumpte Gestalten aller Schattierungen und nahezu aller Altersklassen. Ausgestoßene, gierige Wölfe, Kerle, die nichts zu verlieren hatten - Brüder der Küste. Sie stießen sich an und tuschelten miteinander. Sie hatten die Schätze jetzt auch gesehen, die sich da auf dem trostlosen Eiland häuften. Sie hatten Blut geleckt. Bedingungslos würden
sie sich einsetzen, wenn er, Caligu, erst das Zeichen dazu gab. Sie würden sich wie die Bestien auf den Seewolf und dessen Crew werfen. Ja, sie waren bereit, sich in Stücke hauen zu lassen, denn es gab etwas zu gewinnen, mit dem sie für den Rest ihrer Tage ausgesorgt hatten. Der Schatz des Seewolfs war von unermeßlichem Wert! Caligu blickte wieder durch den Kieker. Wirklich, O’Driscoll hatte bei seinen nächtlichen Schilderungen in keiner Weise übertrieben. Der Zug um Zug zusammengetragene Schatz der englischen Freibeuter überstieg an Menge und Wert alles, was Caligu bisher vor die Augen geraten war. * Die Arbeiten von Bord der ›Isabella V.‹ zur Insel hinüber waren abgeschlossen. Hasard beriet jetzt mit Ben Brighton, Ferris Tucker und dem Profos Carberry. Sollten sie unter der lästigen Aufsicht der Piraten mit ihrem schwierigen Manöver beginnen? »Nein«, sagte der Seewolf. »Ich lasse mich von diesem Hund Caligu nicht nerven. Offenbar hat er vergessen, mit wem er es zu tun hat. Er glaubt, Oberwasser zu kriegen. Aber da hat er sich getäuscht. Carberry!« »Sir?« »Du besetzt unsere beiden Beiboote mit den besten Kämpfern. Dann pullen wir auf die Karavelle zu, und zwar so schnell wir können. Bewaffnet euch mit Musketen und Pistolen bis an die Zähne. Wir heizen den Piraten ordentlich ein, das verspreche ich euch.« Carberry grinste, der Plan war nach seinem Geschmack. Sofort eilte er auf die Kuhl hinunter und trommelte die Männer zusammen. Ben Brighton meldete sich freiwillig zu Carberrys Haufen, der das eine Boot nehmen sollte. Zu dieser Gruppe zählten schließlich: Ferris Tucker, Smoky, Stenmark, Gary
Andrews und Al Conroy. Philip Hasard Killigrew stellte die Besatzung für sein Boot zusammen. Er wählte Blacky, Batuti, Karl von Hutten, Jean Ribault, Buck Buchanan und Sam Roskill als Begleiter. Zunächst wurden die Waffen geprüft und geladen. Hasard achtete besonders darauf, daß die Luntenschlösser der Musketen mit Sorgfalt hergerichtet waren, damit es keine Überraschungen gab. War die Zündschnur einer solchen Waffe feucht, konnte es beim Betätigen des Abzuges böse Überraschungen geben. Dann erlosch die Lunte, bevor das Schloß sie durch Federdruck an die Ladung herangeführt hatte. Bei Regen waren die Musketen ohnehin unbrauchbar. Jeder Mann steckte sich auch mindestens eine Pistole in den Gurt. Die meisten davon waren Steinschloßwaffen, nur Carberry, Ben Brighton, Jean Ribault und Karl von Hutten verfügten über wertvolle Radschloßpistolen. Hasard nahm wie immer seine doppelläufige sächsisehe Reiterpistole mit. Die Beiboote waren in Lee der ›Isabella‹ an der Bordwand vertäut. Nacheinander enterten die Männer ab. Sie stiegen in die Boote, die sich mit dem Wellengang hoben und senkten. Die Musketen wurden zwischen den Duchten verstaut, wobei wieder auf die trockene Lagerung geachtet wurde. Der Seewolf saß auf der Achterducht seines Bootes und hielt die Ruderpinne. Carberry hatte den gleichen Platz auf dem anderen Boot. Hasard gab ihm ein Zeichen. Sie grinsten sich zu. Die Leinen wurden gelöst, und die Boote dümpelten von der Bordwand fort. Die Riemen lasteten auf den Dollen, und jetzt griffen die Männer zu und begannen zu pullen. Rasch glitten die Gefährte an der Galeone achteraus und hielten auf das Schiff der Piraten zu. »Pullt«, sagte Hasard. »Pullt, so hart ihr könnt. Setzt nicht aus und kommt mir bloß nicht aus dem Takt, sonst ist der Teufel los!«
»Aye, aye, Sir!« riefen die Männer zurück. Sie konzentrierten sich voll auf ihre Betätigung. Hasard gab durch kurze, abgehackte Rufe den Schlagrhythmus an. Blacky, Batuti, Karl, Jean, Buck und Sam zogen die Riemenblätter durch das Wasser. Die Adern traten an ihren Schläfen hervor. Schweiß bedeckte bald ihre Gesichter. Drüben auf dem anderen Boot wurde im gleichen Tempo gepullt - dafür sorgte der Profos. Die Boote senkten sich mit den Hecks tief in die Fluten. Ihr Bug schob breite Wellen vor sich her, die zu den Seiten hin ausliefen und sich im Wasser verloren. Auf See konnte man sich nicht verstecken, wenn auch kein absolut glatter Spiegel vorherrschte und die Boote mal in kleinen Wellentälern versanken, mal wieder daraus hervorstachen. Wer sich einbildete, Caligus Mannschaft schliefe, der wurde im nächsten Augenblick eines Besseren belehrt. Hasard und seine Männer konnten hören, wie der Ausguck drüben auf der ehemaligen ›Isabella IV.‹ losbrüllte und Alarm schlug. Hasard steigerte das Schlagtempo noch etwas. Wie rasend pullten die Männer auf die Piratenkaravelle zu. Der Abstand schrumpfte zusammen. Die Boote waren der Karavelle jetzt bereits näher als ihrer ›Isabella V.‹. Caligu quittierte die Attacke mit einem flinken Manöver. Auf der Karavelle war mit einem Mal der Teufel los. Da wurden Segel gesetzt, Kommandos geschrien, da trommelten nackte Fußsohlen einen jagenden Rhythmus auf den Decksplanken, und Caligu stauchte seinen Rudergänger wegen irgendeiner Kleinigkeit zusammen. »Willig, willig!« rief Hasard. »Wir kriegen sie noch zu fassen, die verlausten Hundesöhne!« Er stand jetzt vor der Achterducht, hielt aber die Ruderpinne immer noch mit einer Hand. Die pendelnden Bootsbewegungen glich er durch gekonnte Beinarbeit aus. Er nahm eine der Musketen zur Hand,
stellte die Pinne fest, zündete die Lunte der Waffe mit Feuerstahl und Feuerstein und legte an. Ohne die Gabelstütze, wie sie üblicherweise verwendet wurde, wog die Muskete schwer in seinen Händen. Hasard gab sich Mühe, so genau wie möglich zu zielen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Caligu einen Schreck einzujagen. Die Karavelle hob und senkte sich schwerfällig vor dem Lauf der Muskete. Es war nicht einfach, die richtige Schußposition zu finden. Hasard preßte die Lippen zusammen. Schon waren die Stimmen auf der Karavelle auseinanderzuhalten. Die Beiboote der ›Isabella V.‹ waren nun so dicht heran, daß sogar vereinzelte Flüche der Piraten zu verstehen waren. »Hölle und Teufel, wollt ihr wohl die Schoten wegschricken, ihr Bastarde!« »Himmel, Arsch und Zwirn!« »Obacht, die Hurensöhne von Engländern haben Musketen!« Die Karavelle drehte sich im Wind, der jetzt aus westlicher Richtung einfiel. Hasard achtete darauf, daß ihm sein auserkorenes Ziel nicht vor der Mündung wegglitt. Es war die Achterlaterne hoch oben auf der Heckreling der Poop. Caligu stand nicht unweit davon entfernt am Backbordschanzkleid. Er schüttelte erbost die Fäuste gegen den Seewolf und seine Männer. »Holt ein die Riemen«, befahl Hasard. »Greift euch die Musketen! Spickt die Kerle mit Blei und Eisen!« »Ja, rasiert ihnen das Fell von den Ärschen!« brüllte nun auch der Profos. Philip Hasard Kiiligrew drückte auf die Karavelle ab. Die glimmende Lunte seiner Muskete senkte sich auf die Pulverladung. Hasard verfolgte die Abwärtsbewegung der Karavelle mit dem Lauf. Der Funke fraß sich durchs Zündkraut, die Muskete krachte, Hasard spürte den heftigen Rückstoß an der Schulter. Schwer brach der Schuß, und eine
grauweiße Wolke Pulverrauch stieg über dem Boot auf. Die Ladung raste haarscharf über die Reling des Achterkastells weg. Plötzlich klirrte es, und Caligu zog instinktiv den Schädel ein. Die Laterne zerplatzte in tausend Scherben. Sie flogen durch die Luft und hagelten teils auf Caligu und ein paar Männer, teils in die See nieder. Hasards Männer brüllten vor Begeisterung. »Ho!« rief Gary Andrews. »Jetzt versengen wir den Brüdern den Hintern!« »Feuer!« schrie Hasard. »Feuer!« dröhnte die Stimme des Profos über das Wasser. Die Musketen krachten im Stackato und spuckten ihre Ladungen zur Karavelle hinüber. Es war ein verheerendes Bleigewitter, das auf die abziehenden Piraten niederging. Sie heulten vor Wut. Einige schossen Pfeile ab, aber die besaßen längst nicht die Reichweite der Musketenschüsse. Weit vor den Booten des Seewolfs tunkten sie in die Fluten ohne Schaden einzurichten. Ganz anders dagegen die Musketenladungen! Gehacktes Blei flog einigen Piraten um die Ohren, und ein paar von ihnen brüllten vor jähem Schmerz. Sie trugen ansehnliche Ratscher davon, aber ernsthaft verletzt wurde niemand. Dazu mangelte es den Schüssen doch an Durchschlagskraft. Die Bordwände der Karavelle kriegten auch Kratzer ab, und das Großsegel hatte oberhalb seiner Piek plötzlich ein Siebmuster. Die Piraten sahen ein, daß es sinnlos war, überhaupt Pfeile zu vergeuden. Sie verwendeten ihr ganzes Können darauf, so schnell wie möglich aus der Reichweite der beiden vollbesetzten Boote zu gelangen. Hasard und seine Männer ließen die ersten Musketen sinken und nahmen die Ersatzwaffen auf. Zum Nachladen blieb natürlich keine Zeit, da war es klüger gewesen, gleich ein fix und fertig gestopftes Zweitarsenal an Bord mitzuführen. Diese Waffen brachten sie jetzt ebenfalls zum Einsatz.
Die Blei- und Eisenladungen prasselten diesmal in die Heckgalerie der Zweimast-Karavelle. Caligu hatte das Wendemanöver beendet. Das Schiff strich hart am Wind davon. Wieder hatte der Seewolf Gelegenheit zu der Feststellung: Die Lateinersegel des schlanken Schiffes waren wirklich viel wert. Hätte Caligu ein weniger manövrierfähiges Schiff gehabt, wäre die Partie wahrscheinlich schlechter für ihn ausgelaufen. Bei aller Verachtung mußte der Seewolf ihm eins lassen: Caligu verstand sein Metier. Er wußte die Mannschaft anzufassen und war ein Meister im Segeln. Niemand konnte ihm hier etwas vormachen. Und seit er die ehemalige ›Isabella IV.‹ unter den Füßen hatte, würde es auch so leicht niemandem gelingen, ihn zu fassen. Die Männer legten die rauchenden Musketen weg und zückten die Pistolen. Aber Philip Hasard Killigrew winkte ab. »Unnötig. Sie sind schon zu weit weg. Sparen wir das Pulver und Blei. Der Zweck der Übung ist erreicht. Wir kehren zur ›Isabella‹ zurück.«
8. Caligu tobte vor Wut. Tatsächlich hätte er niemals erwartet, daß der Seewolf zu einer derartigen Dreistigkeit imstande wäre - und der Ausfall mit den beiden Booten hatte ihn überraschend getroffen. Gewiß, der Ausguck war auf Zack gewesen. Aber irgendwer mußte die Schlappe ausbaden. Caligu riß seinen Rudergänger hinter dem Kolderstock hervor und versetzte ihm einen Hieb in die Rippen, daß der Mann wie katapultiert über das Achterdeck nach vorn stolperte. »Messer!« brüllte Caligu. Das Messer begriff sofort und stürzte an den Kolderstock. Er war heilfroh, ihn jetzt halten und sich dahinter verstecken zu
können. Caligu kochte vor Zorn über. Er ging auf die sprichwörtliche Palme. Da war es für keinen gut, ihm in die Quere zu geraten. Der Rudergänger mußte alles ausbaden. »Du Bastard!« schrie der hünenhafte Piratenführer. »Du Wurm! Du hast gepennt, und beinahe wäre das Manöver schief gelaufen. Es ist deine Schuld, daß es überhaupt Verletzte gegeben hat. Sieh dir das an!« Caligu wies auf die Kuhl. Dort wälzte sich ein Mann, dem gehacktes Blei in ein Bein geschlagen war. Dort krümmten sich ein paar Gestalten unter Schmerzen neben dem Großmast, und der Feldscher war schon in Trab, um ihnen die Blei- und Eisenstückchen aus dem Fleisch zu graben und Wundbalsam aufzulegen. »Ich - ich kann nichts dafür«, stammelte der Rudergänger. Er stand mit dem Rücken gegen die Five-Rail gepreßt und blickte voll Entsetzen auf den Koloß, der mit bleichen Lippen und haßerfüllt funkelnden Augen auf ihn zuschritt. »Laß mich, Caligu. Du weißt, daß ich nicht anders steuern konnte.« Caligu sprang auf ihn zu. Der Mann wollte ausweichen, doch er war nicht flink genug. Plötzlich hoben ihn die mächtigen Pranken Caligus hoch, schüttelten ihn und stießen ihn erneut nach vorn. »Du Ratte, das wirst du mir büßen!« Der Rudergänger prallte gegen die Five-Rail, kippte hintenüber und segelte auf die Kuhl hinunter. Keiner half ihm auf die Beine. Auch Patrick O’Driscoll, der bei dem Musketenüberfall nicht verwundet worden war, beobachtete das Geschehen aus angemessener Entfernung. Caligu entwickelte eine Behendigkeit, die bei seinem Gewicht geradezu unheimlich anmutete. Er flankte über die Balustrade weg, landete sicher auf beiden Beinen und griff sich den Rudergänger; ehe dieser ihm ausweichen konnte. Schläge prasselten auf den Bedauernswerten nieder. Die
Piraten sahen ungerührt zu, wie Caligu den Sündenbock blutig prügelte. Sie waren Galgenvögel und Schlitzohren, die nur an ihren eigenen Vorteil dachten. Sie lebten in einer Decksgemeinschaft, doch nichts verband sie mit ihren Kameraden. Wenn es darauf ankam, rührte keiner auch nur einen Finger für den anderen. Jeder ist sich selbst der Nächste, das war ihr Grundsatz. Caligu richtete sich über dem gestrauchelten Rudergänger auf, schwer, muskelbepackt, schwitzend. »Steh auf«, sagte er. Der Mann hob sich auf die Ellbogen. Er stierte vor sich hin wie ein angeschlagenes Tier. Sein Gesicht war blutig und verquollen, über seine Lippen drangen unverständliche Laute. Caligu trat mit dem Fuß zu. »Er hat mich angreifen wollen«, brüllte er. »Mich, den großen Caligu! Ihr alle seid Zeugen! Er war schon fast auf den Beinen, um mit erhobenen Fäusten auf mich loszugehen!« Der Rudergänger taumelte gegen das Steuerbordschanzkleid der Kuhl, ging fast außenbords, fing sich aber noch rechtzeitig wieder und sank neben der Gräting zusammen. Es war kein Glück für ihn, nicht in die See gestürzt zu sein. Schwer rang er nach Atem. Caligu rückte mit lauerndem Blick auf ihn zu. Der Rudergänger sah den Hünen durch auf- und abwogende Schleier. In seinem Kopf dröhnte es, als schlügen Kirchenglocken darin hin und her. Er begriff nicht mehr, was er tat. Sein Körper war eine von wahnsinnigen Schmerzen durchzuckte Masse. Gurgelnd raffte er sich noch einmal auf. Es war ein abstoßendes Schauspiel. O’Driscoll verzog den Mund. Er war selbst ein rüder Bursche und nicht zu sonderlichen Gefühlsregungen fähig, doch was Caligu tat, ging seiner Meinung nach zu weit. Aber er hütete sich, auch nur ein Wort dagegen zu sagen. Ein solches Verhalten hätte seine Sympathien bei Caligu verlöschen und ins Gegenteil
umschlagen lassen. Das konnte er sich nicht erlauben. Eben erst war er dem Tod entronnen. Er wollte nicht vom Regen in die Traufe geraten. Er wollte leben. Der Rudergänger beging einen unwiderruflichen Fehler. Er zückte sein Messer. Caligu japste vor Wut. Der lädierte Mann hieb mit dem Messer zu, die Klinge huschte quer vor Caligus Bauch durch die Luft. Nur um eine Handspanne verfehlte er ihr Ziel. Caligu riß sein Entermesser aus der Scheide. Er wippte auf den Füßen und beugte sich mit dem Oberkörper leicht vor. Seine Haltung und sein ganzes Äußeres riefen selbst bei den hartgesottenen Piraten Entsetzen hervor. Caligus Augen waren von furchtbarem Glanz. »Komm, mein Bürschchen«, flüsterte er heiser. »Ich spieße dich auf. Ich schlitze dich auf. Ich massakriere dich.« Er fügte noch einige Bemerkungen hinzu. Maria Juanita, die in der Öffnung des Schotts des Achterkastells erschienen war, erblaßte unter der Scheußlichkeit dieser Äußerungen. Sie schluckte und stand wie gelähmt. Der Rudergänger konnte nicht mehr ermessen, wie schwerwiegend sein Handeln war. Er hätte besser daran getan, sich zu den Haien zu gesellen. Statt dessen fuchtelte er dem Piratenführer mit dem Messer vor der Nase herum. Caligu ließ ihn auf sich zuwanken. Ein paarmal wich er ihm aus. Er spielte mit ihm wie eine Katze mit der Maus, derer sie bereits absolut sicher war. Caligu wartete, bis der Rudergänger am Ende seiner Kräfte war - dann hieb er zu. Er traf die Schulter. Das Entermesser grub sich tief hinein. Der Rudergänger sank mit einem grauenvollen Laut auf die Planken. Blut schoß aus der Wunde und näßte das Deck. Maria Juanita wandte sich ab. Ihre Schritte trappelten durch das Achterkastell davon. Caligu gab eine Art Knurren von sich. Er riß sein Entermesser
aus der Schulter des Rudergängers, richtete sich auf und blickte sich um. Die Piraten verhielten sich stumm, alle schienen plötzlich sehr beschäftigt zu sein. Das Messer arbeitete am Kolderstock und hielt die Karavelle auf südwestlichem Kurs. »Hat noch jemand Lust, sich mit mir anzulegen?« sagte Caligu. Seine Stimme klang fast sanft. Schweigen. »O’Driscoll«, sagte Caligu. »Komm her und heb diesen Schurken auf. Er wird kielgeholt. Ich will, daß alle dabei sind auch der Generalkapitän Francisco Rodriguez, damit er einen Vorgeschmack auf das kriegt, was ihm blüht, wenn er sich faule Tricks einfallen läßt.« »Aye, aye.« Der Ire setzte sich in Marsch. »Und auch die Weiber sollen auf Deck erscheinen!« schrie Caligu. »Sie werden ihren Spaß haben, wenn sie dieses Schwein langsam sterben sehen. Sie werden sich sagen, was für ein Glück ist es doch, daß wir nicht dran sind.« Die Augen des Hünen flackerten bedrohlich. »Nicht wahr, du irischer Dickschädel, es ist doch ein Segen, daß es diesen dreckigen Hund und keinen von euch getroffen hat, oder?« »Ja.« Patrick O’Driscoll beugte sich zu dem Schwerverletzten hinunter. Der Mann regte sich nicht. Caligu packte in den Haarschopf des Iren, bog seinen Kopf zurück und blickte ihm in die rohe, vierschrötige Visage. »Aber es hätte auch dich oder jeden x-beliebigen von euch Bastarden erwischen können.« »Einmal kommt jeder dran«, entgegnete O’Driscoll ruhig und beherrscht. »Aber ein Seemann und Pirat sollte sich strikt an die Borddisziplin halten - wenn er von seinem Kapitän überzeugt ist.« »Bist du das, Ire?« »Ja.« Caligu ließ ihn los und brach in dröhnendes Gelächter aus.
»Du hast Schneid, O’Driscoll. Das gefällt mir.« Er keuchte, wischte sich den Schweiß ab, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Los«, sagte er dann, »tragt diesen Hund nach vorn.« O’Driscoll schaute auf. »Er ist tot.« »Tot?« Caligu schnaufte verächtlich. »Dieser Schwächling. Hat kein Mumm in den Knochen. Habe ihn schon lange auf dem Kieker gehabt, den Penner. Ist nicht schade um ihn. Na los, was steht ihr ‘rum und glotzt mich an wie die Ochsen?« Er stemmte die Fäuste in die Seiten. »Schmeißt ihn über Bord. Die Haie werden sich freuen, daß es was zu fressen gibt.« Er wandte sich ab und stieg wieder aufs Achterdeck. Ihm war wohler zumute. Er hatte sich abreagiert. Die Bestie in ihm hatte sich zur Ruhe begeben. Grinsend blickte er achteraus zur ›Isabella V.‹ hinüber, wo soeben die beiden Ruderboote an Bord gehievt wurden. »Gut geschossen, Seewolf«, sagte er. »Aber das zahle ich dir heim. Messer, wir drehen bei und bleiben auf Fühlung mit den verdammten Engländern, verstanden? Daß du mir keinen Mist baust wie der Rudergänger. Du bleibst am Kolderstock, bis ich einen anderen für die Aufgabe eingeteilt habe.« Das Messer spürte, wie ihm ein eisiger Schauer den Rücken herabkroch. Er fror bis in die Knochen. Sein Zynismus und die Abgeklärtheit, mit der er sonst handelte, waren erheblich erschüttert worden. * Philip Hasard Killigrew stand auf dem Quarterdeck seiner ›Isabella‹ und blickte über die Schulter zurück. Die Karavelle der Piraten patroullierte wie ein Wachhund auf und ab. Er konnte es nicht ändern. Zumindest hatte er Caligu aber wieder einmal zu spüren gegeben, mit wem er es hier zu tun hatte. Sollte der Hund so verwegen sein und einen Angriff wagen!
Sie würden ihn schon das Fürchten lehren. »Dieses Lauern der Piraten macht einen auf die Dauer verrückt«, sagte Karl von Hutten. Hasard wandte den Kopf und sah ihn an. »Nervös, Karl? Dir ist doch wohl bewußt, daß wir uns damit eine Blöße geben. Caligu wartet nur darauf, daß wir einen Fehler begehen.« »Ja. Es ist besser, sich zusammenzureißen.« »Eben.« Hasard blickte an ihm vorbei. Die Beiboote waren an Bord genommen worden, Ferris Tucker und seine Helfer standen bereit. »Ferris!« rief der Seewolf. »Wir fangen an.« »Aye, aye, Sir.« Der rothaarige Riese und zwanzig Männer begannen am Ankerspill und am Flaschenzug zu arbeiten. Es war ein schwerer Job, und der Schweiß trat ihnen dabei aus allen Poren. Knarrend bewegten sich die Trossen. Hasard registrierte ein Beben, das durch den Schiffskörper lief. »Weiter!« rief er. »Wir schaffen es!« »Vorwärts, ihr Hundesöhne!« feuerte Carberry die Männer auf die für ihn typische liebenswerte Art an. »Legt euch ins Zeug. Oh, ihr von euren Großmüttern im Linksgalopp an die Wand geschissenen Waldameisen, warum habt ihr nicht mehr Mumm in den Knochen? Willig, willig, ihr triefäugigen Affen, ich spendiere euch auch eine Extraration Rum, wenn ihr diesen verfluchten Kahn loskriegt!« »Deck!« ertönte Dan O’Flynns Stimme aus dem Großmars. Nachdem die Boote zum Angriff gegen die Karavelle gestartet waren, hatte das Bürschchen nichts mehr in seiner Koje gehalten, er hatte darauf bestanden, wieder seinen Posten einnehmen zu dürfen. »Deck, die Piraten rauschen genau auf uns zu!« »Feuer - sie haben Feuer an Deck gezündet«, meldete Jean Ribault. »Weg von Spill und Flaschenzug«, befahl der Seewolf. »Auf
die Gefechtsstationen!« Er selbst lief zum Achterdeck hinauf und übernahm sofort eine der Drehbassen. Die Culverinen mittschiffs konnten nicht eingesetzt werden, denn die Karavelle näherte sich von achtern Steuerbord und befand sich für die Siebzehnpfünder damit im toten Winkel. Drehen konnte die ›Isabella V.‹ nicht - hätte sie es vermocht, wären Caligu und seine tolldreisten Schlagetots so gut wie erledigt gewesen. Hasard rief von Hutten zu sich heran und ließ sich von ihm assistieren. Neben ihnen waren Ferris Tucker, Ben Brighton, Carberry und andere Männer an den sechs Drehbassen des Achterdecks. Da wurde Pulver in die Bodenstücke gefüllt, daß ihr Gewicht etwa der Hälfte der Schwere der Eisen- und Bleiladungen entsprach, wurde mit Kellen hantiert, wurde mit Ansetzern Kabelgarn auf das Pulver gepreßt. Die Zündlöcher wurden mit Pulver gefüllt. Drehbassen, die auf beweglichen Lafetten montiert waren, waren Hinterlader und wurden von allen Schiffsbesatzungen wegen ihres großen Aktionsradius und ihrer raschen Bedienungsmöglichkeiten geschätzt. »Achtung!« schrie das Bürschchen aus dem Großmars. »Die Himmelhunde haben Brandpfeile!« »Batuti auch Brandpfeile«, versetzte der Gambia-Neger erbost und enterte im Großmars auf. Er setzte sich zu Dan und Arwenack in den Großmars und bereitete seinen Bogen und die gefährlichen Geschosse vor, die er von der Sehne schwirren zu lassen pflegte. Caligu rückte an. Die Karavelle war ein schwarzer Schatten vor dem blauen Augusthimmel, ihr Bug stand scharf und drohend auf die Galeone zu, als wolle er sie aufspießen. Die Karavelle segelte jetzt mit Backstagswind. Ihr Zeug stand voll gebläht, Caligu holte aus dem Schiff an Geschwindigkeit alles heraus. Erste Brandpfeile hoben vom Deck des Zweimasters ab und surrten herüber. Die Crew des Seewolfes konnte nur die
züngelnden Flammen sehen, die sich zuckend durch die Luft bewegten und sich dann auf die Takelage und die Decks der ›Isabella‹ herabsenkten. Der Kutscher stand schon mit Eimern voll Wasser bereit, um eventuelle Löscharbeiten vorzunehmen. »Feuer!« rief Hasard. Er zündete seine Drehbasse und pflasterte der Karavelle einen Schuß vor den Bug. Gehacktes Blei und Eisen hagelten mitten in die Galion und gegen den Bugspriet und die Back des Zweimasters. Das Feuer der Musketen war beinahe ein Hohn gewesen gegen das, was jetzt über die Piraten hereinbrach. Der Seewolf leitete den Einsatz seiner Männer. In rhythmischen Abständen wurden die übrigen fünf Drehbassen abgefeuert, während die leergeschossenen jeweils wieder nachgeladen wurden. Krachend und feuerspeiend fuhren die Ladungen aus den Läufen. Die Drehbassen schienen sich in ihren drehbaren Gabeln aufzubäumen. Beißender Pulverrauch breitete sich auf dem Achterdeck aus. Hasard und seine Männer konnten nur die sechs Geschütze des Achterdecks benutzen. Die Culverinen schwiegen, und auch die Drehbassen auf der Back gelangten wegen der Achteraus-Position der Karavelle nicht zum Einsatz. Das Handeln der Männer konzentrierte sich also auf den Einsatz am Heck. Unterdessen feuerte auch Batuti seine Brandpfeile aus dem Großmars ab. Die Pfeile der Piraten, die Deck oder Segel der ›Isabella‹ erreicht hatten, verbreiteten sofort hoch aufzüngelndes Feuer. Der Kutscher löschte mit dem bereitgestellten Wasser. Als er nicht mehr allein gegen die Brunst anzukämpfen vermochte, eilten ihm Stenmark und Pete Ballie zu Hilfe. Hasard richtete seine nachgeladene Drehbasse auf einen Punkt in der Bordwand der Karavelle. Es war ein imaginärer, nicht sichtbarer Punkt, denn er befand sich unterhalb der Wasserlinie. Plötzlich waren Kommandorufe von Bord des Zweimasters
zu vernehmen. Augenblicklich luvte der Rudergänger der Piraten an. Das Schiff drehte ab und verholte sich mit kurzen, raschen Kreuzschlägen aus der gefährlichen Nähe der ›Isabella‹. Die Kugeln und das gehackte Blei der Drehbassen klatschten hinter ihm ins Wasser. Fontänen stiegen auf, bildeten Schaumkronen, fielen wieder in sich zusammen. Hasard fluchte. Er war seinem Ziel so nah gewesen. Sekunden hatten gefehlt, und er hätte Caligu die Lektion seines Lebens erteilt. Noch einmal hätte er ihm das Schiff unter dem Hintern weggeschossen - diesmal aber auf ewig, denn eine neue Chance hätte er dem Hünen nicht gewährt. Keiner der überlebenden Piraten wäre auch nur mit einem blauen Auge davongekommen, wie es vor Grand Cayman der Fall gewesen war. Dort hatte die Bande den Seewolf mit zwei Galeonen überfallen und hatte eine Demütigung sondergleichen hinnehmen müssen: Die beiden Galeonen waren zerschossen worden und wenig später explodiert oder verbrannt. Der Seewolf bereute es, ausgerechnet diesen Piraten gegenüber Menschlichkeit geübt zu haben. Es zahlte sich nicht aus. Während die Karavelle in westlicher Richtung davonstrich, eilten der Kutscher und seine Helfer über das Deck der ›Isabella‹ und kippten Wasser auf die Brandflächen. Binnen kurzer Zeit konnten sie sämtliche Flammen löschen. Batuti hatte auch getroffen, drüben auf der Karavelle schlugen Feuerzungen aus der Fock hervor. Caligu würde schon dafür sorgen, daß das Segel nicht vernichtet wurde. Aber immerhin, er wußte jetzt, daß die Seewolf-Crew auch mit Pfeilen schießen konnte. Ferris Tucker und seine Männer kehrten an Spill und Flaschenzug zurück. Sie arbeiteten hart. Ihre Bemühungen stießen auf spürbaren Erfolg: immer wieder lief ein feines
Zittern durch den Schiffsrumpf. Die ›Isabella V.‹ bewegte sich ruckweise mit dem Kiel über die u-förmige Felsenkuhle unter Wasser. Aber es war ein beschwerliches Rucken, das jeweils nur wenige Zoll brachte. Einmal, als Hasard eine Pause anordnete, sagte Ferris Tucker verbissen: »Teufel auch, es wird eine halbe Ewigkeit dauern, bis wir den verfluchten Kahn vom Riff herunterhaben. Ich kann bloß wünschen, daß wir nicht wieder von den Piraten angegriffen und aufgehalten werden.« Er hatte kaum ausgesprochen, da schrie Dan O’Flynn von seinem luftigen Posten: »He, ho, die Scheißkerle rücken wieder an! Sie haben immer noch nicht genug!« Erneut versammelten sich die Männer auf dem Achterkastell, drehten die Bassen in Schußrichtung und bereiteten sich auf Caligus Attacke vor. Wirklich, der Pirat lenkte seine Karavelle noch einmal gegen die verhaßten Feinde. Schnittig rauschte die Karavelle heran, diesmal hart am Wind, aus leicht nördlich versetzter Richtung, mit Kurs Ost-Süd-Ost. »Die sind ja wirklich verrückt!« wetterte der Profos. »Feuer!« rief der Seewolf. Der Angriff lief auf ein ähnliches Ergebnis wie zuvor aus, und Philip Hasard Killigrew zeigte eine grimmige Miene. Nein, verrückt war Caligu nicht, und seine kurzen, wütenden Ausfälle waren auch keine Selbstmordunternehmen. Er riskierte das Minimum an Verlusten und erreichte damit Wesentliches: Hasards Bestreben, vom Riff freizukommen, wurde aufgehalten. Nach wie vor saß die ›Isabella‹ in ihrer Falle. Der Tag ging zur Neige, und schon jetzt war abzusehen, daß sie vor Dunkelwerden nicht in freies Wasser treiben würden. Hasard fluchte wieder. Caligu war ein durchtriebener Hund. Wieder drehte er rechtzeitig ab und fuhr eine Schleife. Er verzog sich nach Westen, bevor ihn die Kugeln von der Galeone voll treffen konnten. Durch diese hinhaltende Taktik
brachte er Hasards Mannschaft langsam aber sicher zur Raserei - bei aller Disziplin und Beherrschung. Bis zum Abend fand die ›Isabella‹-Crew keine Ruhe. Noch zweimal rückten die Piraten ihr auf den Pelz. Und beide Male gelang es dem Seewolf und seinen Gefährten nicht, die Piraten empfindlich zu treffen. Es war wie verhext. Die Zecke saß ihnen auf der Haut und piesackte sie.
9. Die Nacht senkte sich wie ein gigantischer Mantel auf die Karibik. Hasard schritt unruhig auf dem Achterkastell auf und ab. Er hatte die Arbeiten an Flaschenzug und Ankerspill abbrechen lassen. Er war keineswegs zufrieden. Gewiß, die Männer hatten ihr Äußerstes gegeben und die ›Isabella‹ auch wirklich ein Stück durch die u-förmige Kuhle vorangebracht aber eben nur ein Stück. Alles hätte anders aussehen können, wenn Caligu nicht gewesen wäre. »Ben«, sagte er. »Sir?« »Wir müssen sowohl die Galeone als auch den Felsen schützen, auf dem wir unsere Beute gestapelt haben. Von jetzt an teilt sich die Crew. Carberry und du, ihr übernehmt mit der einen Hälfte die Felsen. Setzt euch in die Beiboote und pullt hinüber. Ferris Tucker und ich bewachen mit der anderen Hälfte die ›Isabella‹.« »In Ordnung.« »Sucht euch selbst die Männer aus, die ihr mitnehmen wollt. Ich lasse euch freie Hand. Dan bleibt als Ausguck hier bei mir.« Ben Brighton stieg zu Carberry auf die Kuhl hinunter, dann wählten sie die Männer, die sie zu dem öden Eiland begleiten sollten. Kurz darauf enterten sie in die Beiboote ab: der
Bootsmann und der Profos mit Blacky, Batuti, Sam Roskill, Jean Ribault, Smoky, Al Conroy und Gary Andrews, Buck Buchanan, Luke Morgan sowie, ebenfalls aus der Gruppe der ehemaligen Karibik-Piraten, den beiden Holländern Jan Ranse und Piet Straaten. Sie nahmen Waffen mit an Bord. Schweigend pullten sie die Boote zu dem fünfzig Yards voraus liegenden Felseneiland. Der Seewolf enterte zu Dan in den Großmars auf. Neben dem Bürschchen regte sich ein schwarzer Schatten, als Hasard hinter die Segeltuchverkleidung stieg. Es war Arwenack, der Dan wieder einmal Gesellschaft leistete und eingeschlafen war. Etwas verdattert beäugte er Hasard, dann stieß er einen seufzenden Laut aus und kletterte ihm auf die Schulter. »Alles ruhig, Dan?« Hasard ließ den Blick schweifen. »Bis jetzt ja. Die Piraten sind verschwunden. Wir haben Mondlicht, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn ich sie nicht rechtzeitig entdecken würde, falls sie wieder aufkreuzen.« Hasard schaute über die Cayos de las Leguas, die sich jetzt nicht mehr sichtbar über die Wasserfläche hinaushoben. Alles schien eine Fläche zu sein, und die Wellen trugen silbrige Streifen auf den Kämmen, die ihnen vom Mondlicht aufgesetzt wurden. »So weit, so gut«, sagte er. »Aber ich traue dem Frieden nicht. Caligu schleicht weiter um uns herum. Ich bin überzeugt, daß er in der Nacht zuschlägt. Wir müssen höllisch auf der Hut sein.« Er streichelte den Schimpansenjungen mit der rechten Hand. »Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl. Ich werde vorsorglich ein drittes Beiboot abfieren und an der Bordwand vertäuen lassen. Man weiß nie, wozu das gut sein kann.« * Maria Juanita betastete die Schnittnarbe, die sie im Gesicht
trug. Es war eine ganz unbewußte Bewegung. Das Meerwasser spülte gegen die Bordwände des Bootes, die Nacht hielt die vor ihr sitzenden Männer umhüllt, der Mond goß fahles, kaltes Licht über der Szene aus. Maria Juanita saß auf der Achterducht des einen Bootes, neben Caligu, und fühlte sich unangenehm an ein noch nicht lange zurückliegendes Erlebnis erinnert. Vor Cayman Grae hatten sie den Seewolf übertölpeln wollen. Sie hatten die ›Isabella V.‹ entern wollen und diesen Versuch furchtbar bezahlt. Sie war noch glimpflich mit einer Schnittwunde davongekommen. Doch die Blessur, die der Spanier Valdez ihr mit seinem Messer zugefügt hatte, bestimmte den weiteren Verlauf ihrer Existenz. Sie war unbrauchbar geworden für ihr Gewerbe - dem ältesten Gewerbe der Welt. Kundschaft, wie sie sie einst als Edelhure verwöhnt hatte, würde sie mit der Narbe niemals mehr ködern können. Folglich hatte sie also froh zu sein, den Platz an Caligus Seite einnehmen zu dürfen. Doch was war, wenn sie noch einmal verletzt wurde, was, wenn der Feind sie zum Krüppel stach, hieb, schoß? Dann würde auch Caligu sie wegwerfen wie ein nutzloses Bündel Lumpen. Sie erschauerte bei dem Gedanken. Sie hätte ihm gern ihre Meinung gesagt, diesem über sechs Fuß großen Kerl. Er hatte auf Grand Cayman entschieden, daß sie fortan bei allen Kampfhandlungen zugegen sein mußte, und von diesem Prinzip war er nicht mehr abgewichen. Sie hatte sich schließlich selbst zuzuschreiben, daß sie nun stets in der vordersten Linie mitzukämpfen hatte, während sich die anderen elf Mädchen im Achterkastell der Karavelle verstecken durften. Es war Mitternacht. Sie hatten einen gewaltigen Bogen quer durch die Inselkette beschrieben, nachdem sie die Galeone des Seewolfs zum letztenmal überfallen hatten. Caligu hatte seine Männer
zusammengestaucht. Sie waren furchtsam darauf bedacht gewesen, auch ja immer die Tiefe unter der Karavelle richtig auszuloten und das Schiff nicht auflaufen zu lassen. Ein neuer Rudergänger war von Caligu eingeteilt worden. Das Schicksal des alten schwebte den Piraten immer noch vor Augen. Sie paßten also höllisch auf, ja keinen Fehler zu begehen. Sie hatten es geschafft. Die Karavelle lag jetzt nordwestlich des kahlen Eilandes, auf dem Killigrew seine Schätze gehäuft hatte - in angemessener Entfernung. Caligu hielt sie außer Sichtweite. Sie hatten die beiden Beiboote zu Wasser gelassen, sich hineingesetzt und pullten jetzt im Schutz der Felseninsel auf deren Nordufer zu. »Es muß mit dem Leibhaftigen zugehen, wenn der Seewolf uns entdeckt«, sagte Caligu. »Messer, was meinst du?« »Sie haben einen guten Ausguck, aber zaubern kann der auch nicht«, erwiderte das Messer. Er saß vor O’Driscoll auf einer Ducht und bediente einen der Riemen. »Die Insel ist nicht durchsichtig, und damit befinden wir uns für die Hunde auf der ›Isabella‹ im toten Winkel.« Caligu grinste. »Wir nehmen die Insel im Sturm. Das wird ein Fest. Wir hauen diesen Bastarden reihenweise die Köpfe ab. Oh, natürlich stoßen wir auf Widerstand, meine kleine Maria Juanita, du brauchst mich gar nicht so erschrocken anzusehen. Glaubst du denn, der Seewolf läßt seine Beute über Nacht unbewacht?« »Nein. Ich denke nur an die Schußwaffen, die die Kerle haben.« »Es ist besser, wenn wir schweigen«, sagte O’Driscoll. »Sie könnten uns hören.Wir sind dicht genug heran.« Ohne auch nur noch ein Wort zu verlieren, pullten die Piraten über die letzte Kabellänge, die sie noch von dem Eiland trennte, auf das schroffe Nordufer zu. Caligus Boot lag vorn. Ein Mann kauerte im Bug und lotete die Wassertiefe aus vorsichtshalber.
Das Ufer des Eilandes fiel ziemlich steil in die Fluten ab. Es gab also kein Flachwasser, in das die Männer hinabgleiten konnten, um watend die Boote bis ans Land zu ziehen. Sie mußten anders verfahren. Vorsichtig schoben sie sich bis dicht unters Ufer heran. Dann streckten sie die Hände aus, um den Aufprall abzufangen. Fender dämpften zusätzlich den Stoß ab. Lautlos legten sie an. Die erste Bootsbesatzung schlich sich auf das steinige Ufer. Caligu sprach nicht, er bedeutete nur durch Gebärden, was zu tun war. Die Festmacher des Bootes wurden unter Steine geklemmt. Auch das zweite Boot legte an und wurde geräumt. Wenig später pirschte sich Caligu an der Spitze seines wilden Haufens auf die Erhebung in der Mitte der winzigen Insel zu. Gleich hinter ihm glitten das Messer, Patrick O’Driscoll und Maria Juanita dahin. Der Ire schloß besonders dicht auf. Er konnte kaum den Augenblick abwarten, mit seinen Exkameraden abzurechnen. Er hielt das Messer gezückt, mit dem er Luke Morgan verletzt hatte. * Ben Brighton, Carberry und die anderen hatten sich auf der Kuppe der Erhebung versammelt. Einige hockten auf Schatzkisten, andere hatten Gold- und Silberbarren als Sitzgelegenheit gewählt. Jean Ribault kauerte etwas abseits vor dem goldenen Stockanker und beobachtete den nördlichen Bereich des Eilandes, Ganz bis zum Ufer hinunter konnte er allerdings nicht sehen, einige schroffe Felsen versperrten ihm den Ausblick. Sie hatten kein Feuer angezündet. Die Flammen hätten als leuchtendes Fanal weit über die See hinausgeschimmert und den Piraten als willkommene Orientierung gedient. »Glaubst du, daß sie heute nacht noch aufkreuzen?« fragte Al Conroy seinen Nebenmann Gary Andrews.
»Glauben ist nicht wissen. Möglich ist aber alles.« »Das hast du gut gesagt, Gary. Aber, verdammt noch mal, ich spüre die Müdigkeit bis in die Knochen. Wirklich, ich hätte nicht übel Lust, bald mal wieder ein bißchen an meiner Koje zu horchen.« Ben Brighton hatte das Gespräch verfolgt. »Morgen ist ein anderer Tag. Morgen schaffen wir es, die ›Isabella‹ von dem Riff zu lösen. Danach kriegt ihr eure verdiente Ruhe.« Jean Ribault fuhr plötzlich zusammen. Er hob die Hand. Augenblicklich trat völlige Stille ein. Der Franzose zog seine Pistole. Carberry kroch zu ihm und verständigte sich flüsternd mit ihm. »Was ist los, Jean?« »Ein Geräusch - wie das Scharren eines Stiefels über Stein.« »Du meinst ...« Weiter gelangte der Profos nicht, denn in diesem Moment schwang sich eine Gestalt hinter einem der unterhalb der Kuppe liegenden Felsquader hervor. Die Reaktion der Männer war gedankenschnell. Der Franzose ging hinter dem goldenen Anker in Deckung und brachte die Pistole in Anschlag. Carberry warf sich herum und alarmierte die anderen durch einen gedämpften Ruf. Dann brach die Hölle los. Die Piraten, allen voran Caligu, stürzten reihenweise aus ihren Verstecken hervor. Brüllend stürmten sie bis zur Kuppe empor und warfen sich auf die Crew. Jean Ribault und einige andere feuerten sofort. Aber die Übermacht war zu groß, sie konnte nicht auf so kurze Distanz völlig zurückgeworfen werden. Jean Ribault drehte seine Radschloßpistole um und zog den dicken Knauf einem Angreifer über den Schädel. Dann warf er die Waffe weg und zückte seinen Degen. Einem anstürmenden wüsten Karl mit rotem Kopftuch und wild schlackernden Ohrringen stieß er die Klinge tief in die Brust. Er riß sie heraus
und stellte sich dem nächsten Gegner entgegen. Es war Patrick O’Driscoll. »Und jetzt zu uns, du Hund!« keuchte der Ire. Ihr Zweikampf ging in dem allgemeinen Getümmel unter. Caligu hieb mit seinem Entermesser um sich und brachte zwei Mann zu Fall - Jan und Al Conroy. Carberry warf sich in die Bresche und focht erbittert gegen den Riesen an. Maria Juanita zog Blacky das Messer über den Arm, aber weiter gelangte sie nicht. Blacky legte sie übers Knie und versohlte ihr nach Strich und Faden den Hintern. »Das tust du nicht noch einmal, Rose von Kastilien!« rief er. Ein Pirat wollte ihn abstechen, doch er warf ihm die Frau entgegen. Es war ein Wunder, daß Maria Juanita nicht in die Klinge des Piraten stürzte. Die Männer des Seewolfs hatten ihre Feuerwaffen abgeschossen. Zum Nachladen blieb keine Zeit. Der Kampf tobte über die Felsenkuppe. Es war eine mörderische Auseinandersetzung von Mann zu Mann, in der Caligu und seine Horde die Oberhand zu gewinnen drohten. * »Pullt!« stieß Hasard hervor. »Mein Gott, pullt, was das Zeug hält, sonst kommen wir zu spät!« Er hatte das dritte Beiboot gleich beim ersten Schuß auf dem Felseneiland mit fünf Männern besetzt: Valdez, Ferris Tucker, Matt Davies, von Hutten und Pete Ballie. Er hockte neben von Hutten auf der Ducht und griff selbst mit in die Riemen. So schnell sie irgend konnten, legten sie die fünfzig Yards zurück. Das Boot legte an, und sie sprangen an Land. Der Seewolf hetzte als erster die Anhöhe hinauf. Er blieb stehen, als er etwas Konkretes in der Dunkelheit erkennen konnte. Seine doppelläufige Reiterpistole flog hoch. Ein Pirat wollte soeben dem verwundeten Jan Ranse einen Morgenstern auf den Kopf
schmettern. Hasard drückte ab. Der Pirat brach gurgelnd zusammen. Der Morgenstern polterte auf den kahlen Fels. Hasard feuerte den zweiten Schuß ab, und in das Krachen mischte sich der Klang der Feuerwaffen seiner fünf Begleiter. Die Piraten heulten unter dem unerwarteten Angriff auf. Nachdem die Schußwaffen unbrauchbar waren, mischten sich Hasard und die anderen mit ihren Degen und Messern unter die Kämpfenden. Der Seewolf entdeckte Caligu. Caligu lag mit Edwin Carberry im Gefecht. Der Profos war in arge Bedrängnis geraten und hatte Mühe, die Verteidigung aufrechtzuerhalten. Doch bevor Caligus Entermesser ihm den Garaus bereiten konnte, war der Seewolf heran. »Caligu!« schrie er. Der Hüne fuhr herum. Er wich vor dem wutentbrannt zustechenden Carberry zurück. Dann erkannte er auch, daß die Lage aussichtslos geworden war. Ein Teil seiner Männer lag reglos neben dem Schatz, andere wälzten sich in ihrem Blut und brüllten zum Steinerweichen. Caligu schrie vor Zorn. Er packte Maria Juanita, riß sie mit sich und lief zur Nordküste der Insel hinunter. Das Messer und einige andere folgten ihm sofort. Patrick O’Driscoll ließ von Jean Ribault ab, mit dem er ergebnislos gefochten hatte. Um ein Haar verfehlte ihn die spitze Degenklinge des Franzosen, als er Reißaus nahm. »Ihnen nach!« rief der Seewolf. Er stürmte über die Kuppe, erreichte den Abhang und saß dem Iren dicht auf den Fersen. Er hätte ihn eingeholt und zum Straucheln gebracht, wenn O’Driscoll nicht einen Stein gehabt hätte. Diesen Stein schleuderte er. Hasard mußte ausweichen, um nicht voll am Kopf getroffen zu werden. Sein Fuß hakte irgendwo hinter. Er stürzte. Weit streckte er seinen Degen von sich, sonst hätte ihn die Klinge durchbohrt. Er fluchte, raffte sich wieder auf und führte seine Männer an, die voll Haß dem Nordufer entgegenliefen.
Caligu brüllte auf seine Männer ein. Sie warfen sich in die Boote, stießen vom Felsenufer ab und pullten, als säßen ihnen tausend Teufel der Hölle im Nacken. Caligu stieß fürchterliche Verwünschungen aus und schüttelte die Fäuste gegen den Seewolf und seine Crew. Al Conroy und Luke Morgan schleuderten ihre Messer. Eines blieb in der Steuerbordwand des letzten Bootes stecken. Ein paar andere Männer warfen ebenfalls ihre Messer. Doch die Piraten waren schon zu weit entfernt. O’Driscoll schrie: »Wir sprechen uns wieder, ihr Hurensöhne!« »Laß dich nie wieder blicken«, brüllte Carberry. »Diesmal bist du Dreckskerl noch mit heiler Haut davongekommen. Das nächste Mal drehe ich dir eigenhändig den Hals um!« Ben Brighton erschien mit einer frisch nachgeladenen Muskete neben Hasard. Hasard nahm sie entgegen, legte an und schickte den Piraten einen donnernden Schuß nach. Jemand schrie auf. Vielleicht hatte das gehackte Blei ein Ziel gefunden. Lebensgefährlich konnte die Wunde aber auf diese Entfernung nicht mehr sein. »Wir folgen ihnen«, sagte Al Conroy. Der Seewolf schüttelte den Kopf. »Das hat keinen Zweck. Ehe wir mit unseren Booten die Insel umrundet haben, hat die Nacht sie verschluckt. Gehen wir nach oben und versorgen die Verwundeten.« Die Piraten waren abgeschlagen worden. Erleichtert stellte Philip Hasard Killigrew fest, daß keiner von Bens Männern tödlich verletzt worden war. Er ließ den Kutscher holen. Der Rest der Nacht verstrich rasch, und Caligu ließ sich mit seinem, Rudel von Galgenvögeln nicht mehr blicken. Aber was brachte der nächste Tag?
ENDE
Mann über Bord! von John Curtis