Marcel Kotthoff Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts
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Marcel Kotthoff Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts
Marcel Kotthoff
Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Priska Schorlemmer VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18129-5
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist die nur unwesentlich geänderte Fassung einer in den Jahren 2006 bis 2010 entstandenen und von Prof. Dr. Udo Kempf in Freiburg betreuten Dissertation. Zahlreiche Personen haben mich während der Arbeit an meiner Dissertation in Wort und Tat unterstützt – ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Mein hervorgehobener Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Udo Kempf für seine wissenschaftliche Anleitung. Er hat den Entstehungsprozess der Arbeit stets eng begleitet und mir in zahllosen Gesprächen mit seinem Rat zur Seite gestanden. Eine bessere akademische Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können. Herrn Prof. Dr. Hans-Werner Kuhn danke ich sehr herzlich für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens. Ein spezieller Dank gebührt zudem dem Institut des Hautes Etudes de Défense Nationale in Paris sowie dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg für die Gewährung eines Forschungsstipendiums. Auch wäre die vorliegende Arbeit ohne das freundliche Entgegenkommen des Institut Française des Rélationes Internationales in Paris, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und der Bibliothek des Deutschen Bundestages in Berlin nicht vorstellbar gewesen. Unverzichtbar für das Gelingen der Dissertation war die Unterstützung aus meinem privaten Umfeld. Besonderer Dank gilt dabei meinen Eltern, die mich in vielem stets bestärkt haben und meiner Freundin Verena Dix für ihr Verständnis und ihre Unterstützung. Hamburg, im Februar 2011
Marcel Kotthoff
Inhalt
Einleitung .............................................................................................................................15 I. Grundlagen .....................................................................................................................19 1
Theoretische Grundlagen .............................................................................................21 1.1 Der Begriff „Integration“ .....................................................................................21 1.2 Integrationstheorien .............................................................................................23 1.2.1 Intergouvernementalismus .............................................................................24 1.2.2 Föderalismus ..................................................................................................30 1.2.3 Funktionalismus und Neufunktionalismus .....................................................33 1.3 Policy-Analyse und Staatliches Interesse.............................................................37 1.4 Verhandlung der staatlichen Interessen auf der Ebene des zwischenstaatlichen Systems ................................................................................................................40 1.5 Zusammenfassung ...............................................................................................42
2
Grundzüge der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Frankreichs und (West-)Deutschlands in den Jahren 1949 bis 1989.......................................................45 2.1 Grundcharakteristika ............................................................................................45 2.1.1 Frankreich ......................................................................................................45 2.1.2 Bundesrepublik Deutschland ..........................................................................49 2.2 Schwerpunkte der bilateralen Sicherheitskooperation (1949-1989) ....................51 2.2.1 Anfangsphase und Elysée-Vertrag .................................................................51 2.2.2 Die 1970er Jahre.............................................................................................54 2.2.3 Die Vertiefung in den 1980er Jahren..............................................................57 2.3 Zusammenfassung ...............................................................................................59
II. Hauptteil ........................................................................................................................61 1
Europäisches Gleichgewicht oder Bündnisintegration? ...............................................63 1.1 Die französische Position: Sicherheit im Gleichgewicht .....................................63 1.2 Souveränität und militärische Kooperation ..........................................................69 1.3 Die Deutsch-Französische Brigade – Auftakt zu einer neuen Stufe der Kooperation .........................................................................................................71 1.4 Welches Leitbild für die europäische Sicherheit? ................................................73 1.5 Das Ringen um die Europäische Verteidigung ....................................................76 1.6 Der Beschluss zur Aufstellung des Eurokorps .....................................................80 1.7 Die WEU als organisatorischer Rahmen für das Eurokorps ................................83
8
Inhaltsverzeichnis 1.8 1.9
Europäische Sicherheitspolitik? – Das Vertragswerk von Maastricht .................86 Sicherheit in der Bündniskooperation – Die deutsche Position und das Bedingungsfeld des Dreiecks Bonn, Paris, Washington ......................................90 1.10 Der Gipfel von La Rochelle .................................................................................92 1.10.1 Das Aufgabenspektrum des Eurokorps ......................................................94 1.10.2 Kern der GASP oder Keil in der NATO? ..................................................96 1.11 Die Petersberg-Erklärung der WEU ..................................................................100 1.12 Richtungskämpfe um die Stellung des Eurokorps .............................................104 1.13 Das SACEUR-Abkommen ................................................................................110 1.14 Weiterentwicklung der GASP............................................................................113 1.15 Die Gemeinsame Erklärung zum Einsatz des Korps innerhalb der WEU .........116 1.16 Ein neues Bewusstsein in der europäischen Sicherheitspolitik? ........................117 Zwischenfazit .................................................................................................................122 2
Impulsgeber für die Weiterentwicklung von NATO und EU .....................................129 ESVI und CJTF oder die Flexibilisierung der Atlantischen Allianz ..................129 2.1 2.2 Das deutsche und das französische Verteidigungsweißbuch des Jahres 1994 ...131 2.3 Europäische Fortschritte ....................................................................................135 2.4 Welche Zielperspektive für die Europäische Union? .........................................139 2.5 Die Dringlichkeit einer europäischen Sicherheitsstruktur..................................143 2.6 Präsidentenwahl und Strategiekorrektur ............................................................145 2.7 Entfremdung ......................................................................................................149 2.8 « La décision française marque la fin d’une singularité » – Frankreich geht auf die NATO zu......................................................................153 2.9 Abschied von der Wehrpflicht - Ein neuer Ansatz für die bilaterale Kooperation .......................................................................................................157 2.10 Die Arbeiten an dem Maastricht-Folgevertrag ..................................................162 2.11 Die Errichtung des Europäischen Pfeilers – Der NATO-Gipfel von Berlin ......164 2.12 Welche Zielsetzung für die GASP? ...................................................................169 2.13 Das deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept ....................174 2.14 Zusammenführung von WEU und EU? .............................................................178 2.15 Prestigefrage – Die Besetzung des NATO-Südkommandos ..............................180 2.16 Frankreich kehrt nicht in die integrierte Struktur der NATO zurück .................183 2.17 Die bilaterale Sicherheitskooperation und der EU-Vertrag von Amsterdam .....186 2.18 Rückgriff auf Strukturen und Mittel der WEU ..................................................189 Zwischenfazit .................................................................................................................192
3
Die Relativierung des Duopols...................................................................................199 3.1 Stärkung der operativen Fähigkeiten und institutionellen Effizienz der Europäer .............................................................................................................199 3.2 Deutsch-französischer Leerlauf .........................................................................202 3.3 Die Suche nach Alternativen: Die französisch-britische Annäherung ...............205 3.4 Klärung des zukünftigen Status der WEU .........................................................210 3.5 Arbeiten an der GASP .......................................................................................212 3.6 Die ESVP als konkrete Perspektive ...................................................................216 3.7 Der Europäische Rat von Köln ..........................................................................218
Inhaltsverzeichnis
9
3.8
Die Weiterentwicklung des Eurokorps zu einem „Europäischen Krisenreaktionskorps“........................................................................................224 3.9 Zahlen und Zeitpläne – das European Headline Goal von Helsinki..................226 3.10 Mittelbereitstellungen und Führungsfragen .......................................................230 3.11 Die deutsch-französische Sicherheitskooperation wird in den europäischen Rahmen überführt ..............................................................................................238 Zwischenfazit .................................................................................................................243 III. Schlussbetrachtung....................................................................................................249 IV. Anhang ........................................................................................................................267 Quellennachweis ................................................................................................................273
Abkürzungsverzeichnis AA Anm. d. Verf. BFA ARRC BverfG. bzw. CDU CJTF CSU DASA DDR DFB DFVSR d.h. EA EADS Ebd. EC EEA EG EGV EP EPG EPZ est. ESVI ESVP EU EuGH EUR EUROFOR EUROMARFOR EUV EVG EWG EWWU FAWEU FAZ FDP FF FFA FN GASP GATT Hrsg. IFRI IHEDN IISS
Auswärtiges Amt Anmerkung des Verfassers Brigade Franco-Allemande Allied Rapid Reaction Corps Bundesverfassungsgericht Beziehungsweise Christlich Demokratische Union Combined Joint Task Force Christlich Soziale Union Deutsch Aerospace Aktiengesellschaft Deutsche Demokratische Republik Deutsch-Französische Brigade Deutsch-Französischer Sicherheits- und Verteidigungsrat Das heißt Europa-Archiv European Aeronautic Defence and Space Company Eben da European Community Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft EG-Vertrag Europäisches Parlament Europäische Politische Gemeinschaft Europäische Politische Zusammenarbeit Estimated Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäische Union Europäischer Gerichtshof Euro European Force European Maritime Force Vertrag über die Europäische Union Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Wirtschafts- und Währungsunion Forces answerable to the Western European Union Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Franc français Forces Françaises en Allemange Front National Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen Herausgeber Institut Français des relations internationales Institut des Hautes Etudes de Défense Nationale International Institut for Strategic Studies
12 KSZE NATO No. Nr. NZZ OTAN PCF PR PS RPF RPR S. SPD SOFRES SZ UDF UDR UMP UPF USA Vgl. Vol. WEU WWU
Abkürzungsverzeichnis Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa North Atlantic Treaty Organisation Numéro Nummer Neue Zürcher Zeitung Organisation du Traité de l’Atlantique du Nord Parti Communiste Français Parti Républicain Parti Socialiste Rassemblement du Peuple Français Rassemblement pour la République Seite Sozialdemokratische Partei Deutschlands Société fran9aise d´enquète par sondage Süddeutsche Zeitung Union pour la Démocratie Fran9aise Union des Démocrates pour la République Union pour un Mouvement populaire Union pour la France United States of America Vergleiche Volume Westeuropäische Union Wirtschafts- und Währungsunion
„Das zukünftige Bild Europas wird die Synthese dreier großer Sichtweisen sein: der Sichtweise Deutschlands, das ausgeprägt föderalistisch ist und seine Energien auf Europa, besonders auf dessen innere Aspekte, konzentriert; der Sichtweise Frankreichs, das seine staatliche Tradition ebenso einbringt wie seinen Wunsch, die europäische Identität in der Welt zu bekräftigen, und unter anderem mit Spanien und Italien eine starke mediterrane Dimension teilt; der Sichtweise Großbritanniens, das seine eigene Sicht der Welt und sein Bemühen um die Bewahrung seiner besten nationalen Besonderheit einbringt.“ – Alain Juppé
Einleitung
Betrachtet man Entwicklung und Ausprägungen der deutsch-französischen Beziehungen in den zurückliegenden beiden Dekaden, so lässt sich als ein Charakteristikum der bilateralen Zusammenarbeit der immer wieder aufkeimende Wunsch nach einer kongruenten Außenpolitik beider Partner ausmachen. Im Schwerpunkt stand dabei im wesentlichen die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auf diesem Feld hat sich dann auch die bilaterale Kooperation wie in keinem anderen Politikbereich institutionalisiert und damit konkretisiert. Insbesondere diese institutionelle Ausprägung, welche die deutschfranzösische Verteidigungspartnerschaft den Schwankungen aktueller Tagespolitik weitgehend entzieht, unterstreicht ihre Bedeutung für das Verhältnis beider Länder im Ganzen. Ausgehend von dieser Vorüberlegung, liegt der vorliegenden Untersuchung die Idee zugrunde, durch eine Analyse der deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ein erweitertes Verständnis der bilateralen Zusammenarbeit beider Länder zu erhalten. Als wesentliche wissenschaftliche Leistung soll dabei die in der bisherigen Forschung vernachlässigte Analyse der militärischen Kooperation beider Länder unter besonderer Berücksichtigung der geschaffenen bilateralen Militärverbände –insbesondere des Eurokorps – erbracht werden. Untersucht wird die Entwicklung der bilateralen Sicherheitskooperation zwischen dem Epochejahr 1990, dem der Zwang zur Revision überkommender (Sicherheits-)Strukturen immanent war und der Indossierung neuer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auf dem Europäischen Rat von Nizza im Dezember 2000. Zielsetzung ist es, die jeweiligen sicherheitspolitischen Interessen in Deutschland und Frankreich sowie deren Kontinuität und Wandel innerhalb des Untersuchungszeitraumes herauszuarbeiten. Von besonderem Gewicht ist dabei die Frage, welche sicherheitspolitischen Grundüberzeugungen in beiden Ländern jeweils zugrunde lagen und welche Imperative die französische, welche die deutsche Politik daraus ableitete. Hierfür erheblich ist nicht nur eine genaue Analyse der jeweiligen sicherpolitischen Grundsätze und Entscheidungsstrukturen, sondern auch der stete Blick auf die internationalen Rahmenbedingungen. Bezüglich des letztgenannten Punktes fokussiert sich die Bearbeitung auf zwei Dimensionen: (I) den europäischen und (II) den atlantischen Rahmen. Hinsichtlich der jeweiligen nationalen sicherheitspolitischen Grundsätze erscheint es geboten, den engeren Rahmen des Untersuchungszeitraumes zu verlassen und sich zunächst den grundlegenden Parametern der jeweiligen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zuzuwenden. Anliegen muss es hier sein, konstante Verhaltenseckpunkte herauszuarbeiten, die Aufschluss über gemeinsame Handlungsspielräume bieten können. Das ermittelte Substrat der jeweiligen staatlichen Interessenlage soll dann mit jenen sicherheitspolitischen Konzepten und Initiativen verknüpft werden, mit welchen beide Länder nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auf die Veränderung der sicherheitspolitischen Landschaft reagierten. Der Bearbeitungsgang wird dabei von den folgenden Fragen geleitet: Welche Weichenstellungen wurden als Reaktion auf internationale Umwälzungen und Krisen in der Sicherheitspolitik vorgenommen? Was waren die Beweggründe der jeweiligen Zielsetzung? Ging es dabei um eine Zementierung des Status quo oder um das Bestreben nach Ausbau M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
und Vertiefung, also um eine Modifizierung, der bilateralen Kooperation? In welchem Bindungsfeld funktionierte der Bilateralismus? Lässt sich eine Periodisierung herausarbeiten? Welche Funktion erfüllten dabei die bilateralen militärischen Verbände – allen voran das Eurokorps? Was wollte die jeweilige Seite wann durch die bilaterale Sicherheitspartnerschaft erreichen? Wurden bestimmte Integrationsansätze verfolgt? Was hat die bilaterale Kooperation schlussendlich bewirkt? In diesem Kontext verdient auch die Frage nach einer primär nationalen oder eher – im europäischen oder atlantischen Rahmen – supranationalen Ausrichtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erhöhte Aufmerksamkeit. Zur Durchführung der so umrissenen Bearbeitung werden zunächst in einem methodischen Teil anhand einer Auswertung der einschlägigen Integrationstheorien wesentliche Analyseinstrumente entwickelt. Zu diesen theoretischen Grundlagen tritt eine kurze Skizzierung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation in den Jahren 1949-1989. Der hierauf aufbauende Hauptteil vollzieht dann chronologisch die Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Untersuchungszeitraum nach. Dabei bietet sich, gemäß den Entwicklungsstadien der bilateralen Kooperation, eine Unterteilung in drei Darstellungsabschnitte an. Am Ende jedes Darstellungsabschnittes erfolgt ein Zwischenfazit. Schließlich werden die gewonnen Erkenntnisse in einem Schlussteil zusammengeführt. Zum verbesserten Verständnis ist dieser Schlussteil um einen Ausblick erweitert. Der Gang der Betrachtung wird dabei in entscheidenden Punkten immer wieder zu detaillierten Analysen der verschiedenen Beschlüsse, Begründungen und anderer bilateraler Verlautbarungen (Strategische Konzepte, Kommuniqués etc.) verdichtet. Am Umfangreichsten fällt dabei, gemäß des Schwerpunktes der Arbeit, die Analyse der bilateralen Militärstrukturen aus. Ebenfalls breiten Raum nimmt die Einordnung der von beiden Ländern geschaffenen Kooperation in die multilaterale Bündnispolitik sowohl im europäischen (WEU) und als auch im atlantischen Rahmen (NATO) ein. Die vorliegende Untersuchung legt folglich das Augenmerk auf eine möglichst präzise Darstellung der Verhandlungen der einzelstaatlichen Interessen im bilateralen Abstimmungsprozess sowie deren Verhandlung im multilateralen Rahmen. Demgegenüber tritt die Ausarbeitung der jeweiligen innerstaatlichen, sicherheitspolitischen Debatte zurück. Bei der Auswertung der konkreten Umsetzungsformen der bilateralen Sicherheitspartnerschaft wird ein wesentlicher Fokus auf der Darstellung der Verhandlungsprozesse liegen, an deren Ende schließlich die Einsetzung gemeinsamer militärischer Strukturen stand. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei zunächst der Analyse der Verhandlungsabläufe um die Aufstellung des gemeinsamen Militärverbandes Eurokorps. Leitend ist hierbei unter anderem die Frage, welche Funktion das Eurokorps in der Verteidigungspolitik beider Länder einnehmen sollte. Neben diesem, die Binnenstruktur betreffenden Analyseansatz soll die Bedeutung der bilateralen Sicherheitskooperation zudem im Umfeld der atlantischen Bündnispolitik bewertet werden. Anhand der Darlegung der jeweiligen Position der beiden NATO-Partnerländer USA und Großbritannien gegenüber der Institutionalisierung der deutsch-französischen Sicherheitspartnerschaft ist vorgesehen, das bilaterale Kooperationsstreben kritisch zu würdigen. Die im letzten Bearbeitungsschritt vorgenommene Zusammenführung der gewonnen Ergebnisse folgt der Zielsetzung, Thesen zu den Möglichkeiten und Grenzen der deutschfranzösischen Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzustellen. Der eigentliche Schlüssel zum Erfolg der vorliegenden Untersuchung liegt somit darin, anhand einer empirischen-analytischen Methodik, die jeweiligen sicherheitspolitischen
Einleitung
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Interessenlagen in Deutschland und Frankreich auszuwerten, unter Hinzuziehung internationaler Faktoren miteinander abzugleichen und zu einem Gesamtbild der deutschfranzösischen Sicherheitskooperation zusammenzuführen. Sowohl die theoretische Konzeptionalisierung als auch die empirische Analyse der vorliegenden Arbeit basiert – soweit möglich – auf den vorhandenen schriftlichen Quellen. Als Datenmaterial dienen daher, neben zugänglichen Archiven und Aktenbeständen, die offiziellen bi- und multilateralen Vereinbarungen, Reden, Interviewäußerungen und andere Verlautbarungen der beteiligten Akteure. Zur Erlangung dieses Datenbestandes wurden u.a. Recherchen in den Beständen des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, des Institut des Hautes Etudes de Défense Nationale und des Institut Française des Rélationes Internationales in Paris, des Eurokorps in Straßburg sowie der Bibliothek des Deutschen Bundestages und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin durchgeführt. Ergänzt wurden die so gewonnenen Daten durch eine Reihe von explorativ angelegten Hintergrundgesprächen mit maßgeblichen Akteuren der deutsch-französischen Sicherheitspolitik. Ein weiteres Standbein der Quellenrecherche bildet die umfassende Auswertung der einschlägigen deutsch-, englisch- und französischsprachigen Tageszeitungen. Abgerundet wird das aus diesen Quellen gewonnene Material durch eine Analyse der für den Untersuchungsrahmen relevanten Sekundärliteratur.
I. Grundlagen
1 Theoretische Grundlagen
1.1 Der Begriff „Integration“ Integration bedeutet nach Karl Deutsch grundsätzlich „…die Herstellung eines Ganzen aus Teilen, d.h. die Umwandlung vormals getrennter Einheiten in Bestandteile eines zusammenhängenden Systems.“1 Gemeinhin umfasst der Begriff zwei Bedeutungen: Er bezeichnet sowohl einen Zustand, wie auch einen Prozessablauf.2 Entsprechend führt Deutsch zum Integrationsbegriff weiter aus: „Integration ist mithin eine Beziehung zwischen Einheiten, die voneinander abhängig sind und zusammen Systemeigenschaften hervorbringen, die jede von ihnen allein nicht besitzt. […] Zuweilen [dient, MK] das Wort Integration auch zur Beschreibung des integrativen Vorganges […], durch den eine solche Beziehung oder ein solcher Stand der Dinge zwischen ehedem getrennten Einheiten erreicht wird.“3
Diese allgemeingültige Definition auf politische Systeme übertragen, lässt sich ein Integrationsprozess als die Verschmelzung vormals getrennter politischer Einheiten klassifizieren. Politische Integration zeichnet sich folglich durch gemeinsam agierende Organe/Institutionen aus. Diese haben in der Regel einzelne Entscheidungsbefugnisse und Kompetenzen von den beteiligten Staaten übernommen. Gemeinsam ist ihnen die Intention, eine neue Rechtsverfasstheit anzustreben.4 Hier liegt dann auch der Unterschied der Integration gegenüber der Kooperation. Letztgenannte versteht sich sowohl als Zielsetzung als auch als Methode, geordnete Beziehungen zwischen Staaten auf eine begrenzte Zusammenarbeit in bestimmten, klar abgegrenzten Politikfeldern zu definieren. Von einer dauerhaften Übertragung einzelstaatlicher Kompetenzen auf eine suprastaatliche Ebene wird dabei abgesehen. Nach Ernst Haas ist Integration ein Prozess, in dem politische Akteure unterschiedlicher Staaten überzeugt werden, ihre Loyalitäten, Erwartungen und politischen Aktivitäten auf eine neue Struktur zu übertragen, deren Institutionen Kompetenzzuständigkeiten über die existierenden (National-) Staaten besitzen oder einfordern können.5 Maßgeblich ist bei dieser Definition die Abkehr von der völligen Verschmelzung zweier oder mehrerer Einheiten. Genau dieser Punkt wurde später von Joseph Nye kritisch hinterfragt.6 Zentral bei Nyes Untersuchung ist die Betrachtung der unterschiedlichen Dimensionen der wirtschaftlichen, 1
Karl Deutsch, Die Analyse internationaler Beziehungen – Konzeption und Probleme der Friedensforschung, Frankfurt a.M. 1968, S.224. 2 Vgl.: Hiltrud Naßmacher, Politikwissenschaft, Oldenburg 1998, S.355. 3 Deutsch, Analyse internationaler Beziehungen S.224. 4 Vgl.: Christian Welz / Christian Engel, Traditionsbestände politikwissenschaftlicher Integrationstheorien: Die Europäische Gemeinschaft im Spannungsfeld von Integration und Kooperation, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Die europäische Option. Eine interdisziplinäre Analyse über Herkunft, Stand und Perspektiven der europäischen Integration, Baden-Baden 1993, S.129-169, hier: S.136. 5 Vgl.: Ernst Haas, The Uniting of Europe, Stanford 1968, S.16. 6 Joseph Nye, Comparative Regional Integration: Concept and Measurement, in: International Organization 22/1968, S.855-880, hier: S.858.
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Theoretische Grundlagen
sozialen und politischen Integration. Diese Differenzierung erlaubt es, den Begriff der Integration besser zu greifen und zu erklären. Nyes zentrales Anliegen war es, das Ausmaß beziehungsweise den Grad der politischen Integration zu bestimmen. Hierfür leitete er jene Kriterien ab, die Aussagen über ein Fortschreiten der Integration ermöglichten. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist vor allem Nyes Analyse der politischen Integration von Erheblichkeit. Diese wird – als sogenannte transnationale politische Interdependenz7 – sowohl als Zustand wie auch als Prozess8 definiert: „… bei dem eine Gruppe von Staaten freiwillig gemeinsame Institutionen schafft und weiterentwickelt, die es in zunehmenden Maße gestatten, innerstaatliche Entscheidungen der beteiligten Staaten vorherzusagen, oder denen zunehmend Entscheidungskompetenzen überlassen werden, wobei der bezüglich dieses Sachverhalts in einem gegebenen Zeitpunkt herrschende Zustand den Grad der Integration anzeigt.“9
Politische Integration verhält sich dabei in weiten Teilen komplementär zu den Faktoren wirtschaftliche Integration und soziale Integration. Hinsichtlich der politischen Integration werden vier Ausprägungsformen unterschieden.10 Bei dem ersten Typus der (I.) institutionel integration wird die Ausweitung politischer Integration anhand einer Skala mit den Endpunkten „starke zentrale Institutionen“ und „schwache zentrale Institutionen“ differenziert. Mit dem Typus der (II.) policy integration wird weiter der Umfang analysiert, in welchem Staaten gemeinsam handeln. Unterschieden wird hierbei die Anzahl der gemeinsam behandelten Politikbereiche (scope) und deren Bedeutung innerhalb des politischen Gesamtgefüges (salience) sowie die Gemeinsamkeiten innerhalb eines Bereiches (extent). Die Entstehung eines Gefühl gemeinsamer Identität oder gemeinsamer Verbindlichkeiten wird mittels des Typus der (III.) attitudinal integration analysiert. Als vierter Typus wird schließlich – für die vorliegende Arbeit von hervorgehobener Relevanz – die (IV.) security community klassifiziert. Bei dieser kann es durch das Gefühl einer Bedrohung, beispielsweise durch eine stärkere Macht, zur Integration von Staaten kommen, die auf sich allein gestellt zu schwach wären, um den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen wirksam entgegenzutreten.11 Den Gegebenheiten zwischenstaatlicher Systeme noch besser angemessen erscheint jene Typologisierung politischer Integration, die Johan Galtung Anfang der 1980er Jahre entwickelt hat.12 Galtung unterscheidet drei verschiedene Arten zwischenstaatlicher Integration: So würden sich etwa Staaten gemäß der (I.) vertikalen Integration aus Gründen der Arbeitsteilung zu einem in sich interdependentem System zusammenschließen. Charakte7
Vgl.: Friedrich Veitl, Zur politikwissenschaftlichen Theorie internationaler Integration, in: Günther Doeker / Friedrich Veitl (Hrsg.), Regionalismus und regionale Integration. Zur Theorie der regionalen Integration, Frankfurt a.M. 1981, S.7-65, hier: S.44. 8 Nye unterscheidet fünf Stufen bei der Herausbildung zwischenstaatlicher Ökonomien: (I.) Freihandelszone, (II.) die Zollunion, (III.) den gemeinsamen Markt, (IV.) eine Wirtschaftsunion und (V.) die völlige ökonomische Integration. Die Grenzen zwischen den Ausprägungen können mitunter fließend sein. Dies erschwert die Bewertung der Tiefe der erreichten Integration; vgl.: Nye, Comparative Regional Integration, S. 860; auch: Joseph Nye, Peace in Parts, Integration and Conflict in Regional Organization, Neuauflage, New York 1987, S.31-32. 9 Ruth Zimmerling, Externe Einflüsse auf die Integration von Staaten. Zur politikwissenschaftlichen Theorie regionaler Zusammenschlüsse, Freiburg/München 1991, S.31. 10 Nye, Comparative Regional Integration, S.865. 11 Vgl.: Nye, Peace in Parts, S.37. 12 Johan Galtung, Eine strukturelle Theorie der Integration, in: Günther Doeker / Friedrich Veitl (Hrsg.), Regionalismus und regionale Integration. Zur Theorie der regionalen Integration, Frankfurt a.M. 1981, S.129-163.
Theoretische Grundlagen
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ristisch ist hier die Über- und Unterordnung, die als sogenannte organizational integration beschrieben wird. Demgegenüber steht die gleichwertige, (II.) horizontale Integration, welche die partielle Zusammenarbeit von gleichrangigen Staaten beschreibt, um gemeinsame Probleme zu lösen. In dieser auch associational integration genannten Form dominiert das Prinzip der Affinität. Schließlich führt Galtung als drittes Schema den (III.) Regionalismus (territorial integration) an, der die Verbindung benachbarter Staaten aufgrund gemeinsamer geopolitischer Erwägungen beschreibt. Die territorial integration kann dabei unterschiedliche Wirkungsbereiche umfassen. Mit dem Letztgenannten ist bereits eine Brücke hin zu den Integrationstheorien geschlagen. Diese sind letztendlich von der Antwort auf die Frage geleitet, warum Staaten das Wagnis „Integration“ überhaupt eingehen, stellt diese doch den staatlichen Absolutheitsanspruch in Frage. 1.2 Integrationstheorien Generell haben Integrationstheorien das Ziel, Lösungen für sicherheitspolitische, wirtschaftliche oder etwa soziale Probleme zu beschreiben, die die Lösungskompetenz einzelner Staaten überschreiten. Daher kann die Kooperation oder gar die Verschmelzung zweier oder mehrerer Staaten geboten erscheinen.13 Ausschlaggebend sind dabei meist die Triebfedern sowie die einzelnen Stadien einer zwischenstaatlichen Integration.14 Durch das Aufstellen von Integrationstheorien sollen unabhängige Faktoren ermittelt werden, die einen Vergemeinschaftungsprozess nachvollziehbar machen. Das weitausgreifende Spektrum der Integrationstheorie lässt sich vereinfachend in zwei Untergruppen aufteilen: die der dynamisch-prozessorientierten und die der statisch-staatszentrierten Theorien.15 Das Erkenntnisinteresse konzentriert sich in ihnen jeweils auf die Herausbildung eines neuen, über- beziehungsweise zwischenstaatlichen Systems. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass sich das Handeln der staatlichen Akteure aufgrund von Lernprozessen, gemeinsamer Problemlösung und Entscheidungsfindung mit der Zeit wandelt. Betont wird ferner die Wahrscheinlichkeit beziehungsweise die Möglichkeit eines Systemwandels, wobei die stattfindenden Prozesse nicht zwangsläufig ungesteuert verlaufen müssen. Die klassischen Integrationstheorien des Funktionalismus und des Föderalismus sind im Bereich der dynamisch-prozessorientierten Theorien anzusiedeln. Das Erkenntnisinteresse statisch-staatszentrierter Theorien – wie etwa jener des Intergouvernementalismus – fokussiert sich hingegen auf die Kooperation von Staaten und ihrer Regierungen. Im Gegensatz zu den dynamisch-prozessorientierten Theorien werden hier die voluntaristischen Komponenten der bewussten Entscheidungsfindung bei Regierungen und staatlichen Eliten betont. Als exemplarisch für die zwischenstaatliche Integration gilt allgemein der Prozess der europäischen Integration. Gerade bei der Beschreibung seines Verlaufs sollen es Integrationstheorien ermöglichen, Stagnations- und Beschleunigungsphasen sowie Wandelungssymptome erklärbar zu machen.16 Wie so häufig in der historischen Betrachtung sind monokausale Analysemuster natürlich auch hier wenig wirklichkeitskonform.17 Folglich ver13
Vgl.: Ulrich Druwe et al. (Hrsg.): Internationale Politik. Band 3, Neuried 1998, S.104. Leon Lindberg / Philippe Schmitter (Hrsg.), Regional Integration: Theory and Research, Cambridge 1971, S.V. 15 Vgl.: Welz, Politikwissenschaftliche Integrationstheorien, S.133-134; Druwe, Internationale Politik, S.104-106. 16 Welz, Politikwissenschaftliche Integrationstheorien, S.130. 17 Vgl.: Klaus Giering, Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, Bonn 1997, S.9. 14
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Theoretische Grundlagen
mag es ein einzelner theoretischer Ansatz fast nie die Vielfalt der verschiedenen Entwicklungsphasen der europäischen Integration und ihre zugrundeliegenden Motivationen zu erklären. Es ist vielmehr der Dreiklang der drei „großen“ Integrationstheorien Intergouvernementalismus, Föderalismus, Funktionalismus und deren Mischformen,18 die das Werkzeug zur theoretischen Erklärung des europäischen Integrationsprozesses bereitstellen. Zum besseren Verständnis des Untersuchungsgegenstandes ist daher die nachstehende Herleitung dieser drei klassischen Integrationstheorien geboten. 1.2.1 Intergouvernementalismus Die Theorie des Intergouvernementalismus sieht die Staaten als die maßgeblichen Akteure des internationalen Systems an. Integrationsprozesse werden vor diesem Hintergrund hauptsächlich als Folge von zwischenstaatlichen Kooperationen verstanden. Zentral für das Prinzip des Intergouvernementalismus ist die Dimension des gemeinsamen Handelns von Regierungen. Verfechter des Intergouvernementalismus gehen von der Vorstellung aus, dass souveräne Staaten einer wie auch immer gearteten zwischenstaatlichen Integration nur dann zustimmen, wenn sie nach einer internen Nutzen-Analyse zu dem Schluss kommen, dass ihr jeweiliges politisches Eigeninteresse in dem Integrationsprozess weitgehend gewahrt bleibt und/oder die zwischenstaatliche Zusammenarbeit für die eigene Position vorteilhaft ist. Folglich ist das Leitbild des Intergouvernementalismus das eines Staatenbundes beziehungsweise das einer Konföderation souveräner Staaten, zumeist in Form einer Allianz. Diese Kooperationsformen können zum Ziel haben, eine Zusammenarbeit zwischen Regierungen auf genau eingegrenzten Gebieten aufzubauen. Charakteristisch ist dabei die Vorstellung, dass dem zu schaffenden zwischenstaatlichen Gebilde keine eigenständige Entscheidungskompetenz übertragen wird. Etwaig geschaffene, gemeinsame Institutionen dienen lediglich als Forum des Informationsaustausches. Beschlüsse oder gar weiterführende Kompetenzübertragungen sind daher ausschließlich als Folge einer Konsensbildung innerhalb der beteiligten staatlichen Akteure denkbar und unterliegen in der Regel dem Prinzip der Einstimmigkeit. Der Staat bleibt so die letztgebietende Entscheidungsinstanz.19 Als zentrales Element tritt so die Dimension des staatlichen Interesses hervor.20 Der Versuch einer Definition des Begriffs „Interesse“ wird durch seine Vielseitigkeit erschwert. Die Definition über die Wortbedeutung führt zum Rückgriff auf seine lateinische Herkunft. Die Konstruktion „interest“ hat die Bedeutung „es ist von Wichtigkeit“ oder anders „es ist daran gelegen“. In der römischen Rechtsgeschichte findet der Terminus zunächst in der Formulierung „id quod interest“ bei der Regelung von Schadensersatzansprüchen Verwendung. Später, in der mittelalterlichen Jurisprudenz dient er zur Bezeichnung der Form des Schadensersatzes. Erst im Verlauf der Renaissance wandelt sich der Begriff „Interesse“ zunehmend hin zu seiner der auch heute noch üblichen Bedeutung: „Eigennutz“ oder auch „Nutzen“ beziehungsweise „Vorteil“. Diese Wortauslegungen verschaffen dem Ausdruck auch Eingang in die Staats- und Moralkodizes des 17. beziehungsweise 18. Jahr18
Ebenda, S.267. Giering, Zweckverband und Superstaat, S.201. 20 Stattliches Interesse ist in der Literatur auch unter dem Begriff „nationales Interesse“ zu finden. Diese Analogie ist dem, in der englischen Sprache zu findenden Synonym „nation“ mit dem deutschen „Staat“ geschuldet. Für die vorliegende Arbeit ist die Dimension des deutschen Begriffes „Nation“ allerdings vernachlässigbar, da hieraus kein gesteigerter Erkenntnisgewinn abzuleiten ist. 19
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hunderts. Im 19. Jahrhundert schließlich konkretisiert sich der Begriff noch einmal und bezeichnet nunmehr zusätzlich einen Faktor, der im Sinne des Rationalismus das Handeln eines einzelnen Akteurs bestimmen kann. Entscheidende Wegmarke ist schließlich Max Webers Definition, dass es weniger (abstrakte) Ideen seien, die das menschliche Handeln beeinflussen, als vielmehr (konkrete) materielle oder ideelle Interessen. Interessen werden nun als verhaltensorientierte Ziele und Bedürfnisse von Einzelnen beziehungsweise Gruppen in einem sozialen Umfeld definiert.21 Hieran anknüpfend ist es das Verdienst von Karl Deutsch die Wertabhängigkeit von Interessen herausgearbeitet zu haben.22 Diese veranlasst wiederum Gottfried-Karl Kindermann zu folgender Definition: „Das Interesse ist (...) eine objektbezogene Willensgerichtetheit.“23 Dessen Zielvorgabe würde wiederum entscheidend von jenem Wert beeinflusst, den der Handelnde einem bestimmten Objekt zuschreibt. Ferner werden manifeste, dem Träger bewusste Interessen und latente, dem Träger unbewusste Interessen unterschieden. Dabei ist augenscheinlich, dass verschiedene Akteure nicht nur unterschiedliche, sondern auch gleiche Interessen haben können. Übereinstimmendes oder divergierendes Verhalten sei aber nicht zwangsläufig einer Konvergenz beziehungsweise einer Divergenz von Interessen geschuldet. Diese Einsicht macht deutlich, dass „Interessen“ über eine große Vielfalt und Variationsbreite verfügen können.24 Gleiche oder einander ergänzende Interessen können daher zu unterschiedlichen Formen von Zusammenschlüssen ihrer Träger führen. Ebenso ist das Gegenteil denkbar. Gleiches gilt für das potenzielle Konfliktlevel, welches aus gegensätzlichen Interessen erwachsen kann. In der Theorie des Intergouvernementalismus steht jedoch fest, dass Interessen direkte Auswirkungen auf die Struktur des zwischenstaatlichen Systems haben. Entscheidende Vorbedingung hierfür ist die Annahme, dass individuelle staatliche Interessen erst durch ihr Aufeinandertreffen relevant werden. Entsprechend kann man unter staatlichem Interesse grundsätzlich auch die Beschreibung des Wertkomplexes der Außenpolitik eines Landes verstehen.25 Fasst man diese Definition schärfer, erscheint es naheliegend, primäre oder vitale Interessen von sekundären Interessen zu unterscheiden. Vitale Interessen sind folglich solche, für die ein Staat bereit ist, sofort und anhaltend äußerste Maßnahmen zu ergreifen, also etwa militärische Gewalt einzusetzen. Hier sind grundsätzlich der Schutz des Territoriums wie auch der Schutz von staatlicher Integrität zu nennen, die neben objektiven Aspekten auch durch subjektive, sprich individuelle Komponenten komplettiert werden können. In Fortschreibung dessen sind die nachgeordneten oder sekundären staatlichen Interessen folglich jene Ziele, die Staaten im zwischenstaatlichen System gerne verwirklichen würden, für die sie jedoch nicht zwingend bereit sind, äußerste Maßnahmen zu ergreifen.26 Unterscheiden lassen sich staatliche Interessen weiterhin nach ihrer Dauer. So gibt es zum einen langfristig und dauerhaft angelegte Konzepte, wie beispielsweise etwa die Etablierung einer bestimmen sicherheitspolitischen oder ökonomischen Staatenordnung. Ergän21
Vgl.: Naßmacher, Politikwissenschaft, S.6. Deutsch, Analyse internationaler Beziehungen, S.75. 23 Gottfried-Karl Kindermann, Internationale Politik – Eine Einführung in das Fach, in: Leonard Reinisch (Hrsg.), Politische Wissenschaft Heute, München 1971; S.91-111, hier. S.103. 24 Hierzu auch: Hans-Jürgen Bieling, Intergouvernementalismus, in: ders., Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Auflage, Wiesbaden 2006, S.91-116, hier: S.92-93. 25 Joseph Frankel, International Relations, London, New York 1969, S.36. 26 Vgl.: Frederick Hartmann, The Relations of Nations, 5. Auflage, New York 1978, S.7-8. 22
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zend hierzu können bestimmte Ausgestaltungen von einzelnen Politikfeldern ebenfalls als temporäres staatliches Interesse bewertet werden.27 Da dieses Interesse immer wieder neuen Gegebenheiten angepasst werden muss, sind auch staatliche Interessen einem Wandel ihrer Form und Ausprägung unterworfen. Als wesentlich festzuhalten bleibt, dass sich eine Veränderung staatlichen Interesses nur sehr langsam – Abdul Aziz Said spricht von evolutionärer Entwicklung28 – vollzieht. Staatliches Interesse ist folglich von Kontinuität beziehungsweise schrittweiser Weiterentwicklung geprägt. Welche Willensausrichtungen bedingen nun das staatliche Interesse? Aus welcher Motivation heraus wird es gebildet? Für die Realistische Schule nach Hans Morgenthau ist das staatliche Interesse direkt mit dem Souveränitätsdenken der einzelnen Staaten verbunden. Das Grundmotiv staatlichen Interesses soll demnach der Wille sein, die eigene Existenz als Staat zu gewährleisten. Dieses Grundmotiv lässt sich mit dem bereits geschilderten, vitalen Interesse identifizieren. Staaten haben gemäß der Realistischen Schule ein vitales Interesse daran, ihre eigene Identität gegenüber Übergriffen anderer Staaten zu schützen.29 Hierbei können, neben konkreten Abwehrvorkehrungen, auch ideologische Motivationen oder lediglich gefühlte Bedrohungen ein Handeln begründen.30 Generell soll der Anspruch staatlichen Interesses für alle Politikfelder gelten. Das jeweilige staatliche Handeln erfolgt demnach auf Basis einer rationalistischen KostenNutzen-Analyse der Sachzwänge. Indem sich die Staaten an geo-politischen oder wirtschaftspolitischen Motivationen orientieren und dabei auf ihren jeweiligen Vorteil hoffen, würden sie ihrem staatlichen Interesse entsprechend handeln. Es wird deutlich, dass staatliches Interesse in seiner abstrakten Definition nur eingeschränkt greifbar ist. Hugh SetonWatson hebt daher hervor, dass staatliches Interesse maßgeblich von Regierungen definiert wird; diese würden die Außenpolitik definieren. Es seien die offiziellen Entscheidungsträger eines Staates, die für ihre Zeit jeweils das aktuelle staatliche Interesse formulieren und umsetzen würden.31 Zu untersuchen ist folglich, welche Kräfte bei der Bestimmung des Interesses eines Staates auf die Entscheidungsträger einwirkten. Im Zentrum der Analyse stehen nach klassischer Sicht damit die außenpolitischen Entscheidungs- und Funktionsträger. Dieses Modell vernachlässigt zunächst jedoch jene innerstaatlichen Gruppen, die ebenfalls das außenpolitische Auftreten eines Staates mitgestalten. Diese sind (I.) die soziopolitische Elite, (II.) die sozio-ökonomische Elite, (III.) die Medien und (IV.) schließlich die Öffentlichkeit.32 Alle vier Gruppen stehen in mehr oder weniger direktem Kontakt mit den Mitgliedern des zentralen politischen Entscheidungssystems, die unmittelbar an der 27
Vgl.: Gottfried Niedhardt, Deutschland in Europa: Interessenperzeption und Rollendefinition, in: Gottfried Niedhardt et al. (Hrsg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S.375-390, hier. S.381, sowie Nye,: Peace in Parts, S.196. 28 Abdul Aziz Said et al., Concepts of international politics in global perspective, Englewood Cliffs 1995, S.28. 29 Hans Morgenthau, Dilemma of Politics, Chicago 1958, S.66. 30 Vgl.: Theodore Couloumbis / James Wolfe, Introduction to International Relations: Power and Justice, 2. Auflage, Prentice Hall 1982, S.89. 31 Insofern wäre es sinnvoller von „Regierungsinteresse“ zu sprechen, was sich jedoch in der Realität nicht durchgesetzt hat; vgl.: Couloumbis, Power and justice, S. 85, siehe auch: Hugh Seton-Watson, Nations and States, An Enquiry into the origins of nations and the Politics of Nationalism, London 1977, S.212. 32 Siehe: Franco Rota, Leitfaden zur internationalen Politik. Eine Skizze zu Theorie und Praxis der politischen Entwicklung mit Verzeichnis internationaler Organisationen, 2. Auflage, München 1989, S.23; sowie: Kai Schellhorn, Der Staat: Die wichtigste Aktionseinheit in der internationalen Politik, in: Gottfried-Karl Kindermann (Hrsg.), Grundelemente der Weltpolitik, 4. Auflage, München 1991, S.165-179.
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Formulierung des staatlichen Interesses mitwirken. Maßgebliche Komponenten sind hier die Regierung, das Parlament, die Obersten Gerichtshöfe oder etwa – für die vorliegende Untersuchung relevant – führende Militärs.33 Die sozio-politische Elite umfasst all jene Akteure, die mittelbar an der politischen Willensbildung eines Staates mitwirken. Dabei sind Akteure dieser Gruppe all jene Personen, „… die Abläufe und Handlungszusammenhänge in der […] Politik prägen.“34 Darunter fallen alle Personen, die sich in einem politiknahen Umfeld bewegen, wie etwa Mitarbeiter von Behörden, Parteien, Fraktionen, politischen Stiftungen oder ähnlichem. Meinungsführer in der Öffentlichkeit sind diejenigen Personen, die Kraft ihres Amtes oder ihres Bekanntheitsgrades meinungsbildend wirken können.35 Meinungsbildend wirken darüber hinaus vor allem (Massen-)Medien. Als maßgeblicher Multiplikator der innerstaatlichen Kommunikation besitzen sie zweifelsohne Kontroll- und Selektionsinstrumente um die politische Willensbildung zu beeinflussen. In einem politischen System treffen also die Ansichten der maßgeblichen innerstaatlichen Gruppierungen aufeinander und bedingen das staatliche Interesse. Dieses wird gebildet, indem die Regierungen die miteinander im Wettbewerb stehenden Einzelinteressen der innerstattlichen Akteure zusammenführen und gegeneinander abgleichen.36 Staatliches Interesse speist sich folglich aus vielerlei Quellen. Es ist historisch gebunden und/oder kann vor dem jeweiligen politisch-kulturellen Kontext eines Staates formuliert werden. Es kann wirtschaftspolitisch und/oder geopolitisch motiviert sein und/oder soziale Überzeugungen spiegeln. Treffen die Interessen verschiedener Staaten aufeinander, bilden sich auf dieser Grundlage Strukturen des Umganges einzelner Staaten miteinander. Staatliche Interessen sollen mithin das zentrale Fundament für das zwischenstaatliche internationale System im Sinne des Intergouvernementalismus sein. Zentral für das Verständnis des zwischenstaatlichen Systems im Sinne des Intergouvernementalismus ist weiter der Theorieansatz Stanley Hoffmanns.37 Hoffmanns Theorie rückt die Staaten als maßgebliche Akteure ins Zentrum. Dabei bezieht sich Hoffmann auch auf von ihm diagnostizierte Mängel in der Theorie des Neofunktionalismus (siehe unten). Am Neofunktionalismus wird zunächst das Nichtvorhandensein eines Endpunktes der Integration kritisiert; dies sei nicht wirklichkeitsadäquat. Ebenfalls wird betont, dass der europäische Integrationsprozess und der hier zu beobachtende Fortbestand der (National-) Staaten den neofunktionalen Ansatz als Analysemethode widerlegen würden.38 Für Hoffmann ist es eine grundlegende Erkenntnis, dass der Staat auch vor dem Hintergrund der fortschreitenden europäischen Integration Bestand hat. Zur Untermauerung dieser These arbeitet er drei Faktoren heraus, die den Fortbestand der Staaten immer gewährleisten würden. Zunächst brächte (I.) das jeweilige „nationale Bewusstsein“ ein Gefühl des Zusammenhalts und der Besonderheit gegenüber anderen Gruppen zum Ausdruck, ohne jedoch von vorneherein antagonistisch belegt zu sein. Weiterhin werden (II.) die „nationale Situation“ des Staates – wobei zwischen inneren objektiven Fakten und subjektiven Kriterien
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Werner Patzelt, Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 1992, S.30-33. Druwe, Internationale Politik, S.72. Ebenda, S.174. 36 Vgl.: Morgenthau, Dilemma of Politics, S.74-75. 37 Stanley Hoffmann, Obstinate or Obsolete? The fate of the nation-state and the case of Western-Europe, in: Daedalus Nr. 95, 1966, S.862 – 915. 38 Ebenda, S.881. 34 35
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unterschieden wird39 – und schließlich (III.) der Nationalismus als Faktoren typisiert. Dabei sei der letztgenannte Faktor des Nationalismus – je nach seiner Interpretation – als latente oder absolute Doktrin zu sehen, die zwar nicht zwingend imperativen Charakter hat, aber als Grundtatsache verstanden werden muss, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können.40 Zentraler Punkt von Hoffmanns Theoriegebäude ist jedoch das Verständnis des (National-)Staates als Dreh- und Angelpunkt von Integrationsprozessen innerhalb des zwischenstaatlichen Systems. Grundlegend ist hierbei die Vorstellung, dass Integrationsprozesse ohne die Einwilligung der Staaten nicht möglich seien.41 Aufbauend auf der von der Realistischen Schule formulierten Prämisse, dass die Staatenwelt anarchisch strukturiert sei und es keine allgemein akzeptierte Autorität über den (National-)Staaten gäbe,42 sind es für Hoffmann daher die Staaten selber, die ihre jeweiligen Interessen wahren müssten. Um ihre Interessen möglichst optimal verwirklichen zu können, seien sie gezwungen, miteinander zu interagieren, also miteinander in Verhandlungen zu treten. Bei diesen Verhandlungen würden sie rational, ungebunden und ihren Interessen folgend agieren.43 Dabei wird schnell deutlich, dass Staaten prinzipiell kaum dazu in der Lage sind, völlig unabhängig von anderen Akteuren zu agieren; vielmehr erscheinen sie zwischenstaatlichen Abhängigkeiten unterworfen. Daher ist die Teilnahme am Dialog innerhalb der Staatenwelt für nahezu alle Staaten zwingend. Zumeist können sie nur so eine optimale Umsetzung ihres Eigeninteresses erreichen. Es liegt mithin durchaus im Interesse eines Staates, eine Integration in jenen Politikfeldern anzustreben, die von ihm alleine nicht zufriedenstellend ausgefüllt werden. Letztgenannter Punkt sei dann aber trotzdem immer ein bewusster, willentlicher Akt des jeweiligen Staates. Damit widerspricht die Theorie Hoffmanns der neofunktionalistischen Vorstellung, nach der Staaten zunächst nur nachgeordnete Kompetenzen abgeben, um anschließend – im Zuge eines spill-over-Effekts – Kernkompetenzen ebenfalls „vergemeinschaften“ zu müssen. Zentral ist dabei die Vorstellung, dass Kernbereiche staatlicher Souveränität (sog. „high politics“44) zu keinen Zeitpunkt disponibel sind. Ausnahmen von dieser Regel sind 39
Als objektive „innere“ Fakten werden die Sozialstruktur und das politische System benannt. Objektive „äußere“ Fakten sind demnach die Geographie des Staates oder etwa seine völker-rechtlich eingegangenen Verpflichtungen. Ferner bestimmen subjektive Faktoren die einzel-staatliche Situation: Relevant sind hier vor allem nach innen gerichtete Werte und Meinungen. Vgl.: Hoffmann, The fate of the nation-state, S.868. 40 Die Beziehung zwischen Nationalismus und anderen Faktoren ist komplex: So wird der Nationalismus einerseits von einem nationalen Bewusstsein beeinflusst, andererseits wird dieses aber durch den Nationalismus aktiviert. Vgl.: Hoffmann, The fate of the nation-state, S.869. 41 Bieling, Intergouvernementalismus, S.98-102. 42 Hierzu ausführlich: Hans Morgenthau / Kenneth Thompson, Politics among Nations, The Struggle for Power and Peace, New York 1948. 43 Vgl.: Christian Welz / Christian Engel, Traditionsbestände politikwissenschaftlicher Integrationstheorien: Die Europäische Gemeinschaft im Spannungsfeld von Integration und Kooperation, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Die europäische Option. Eine interdisziplinäre Analyse über Herkunft, Stand und Perspektiven der europäischen Integration, Baden-Baden 1993, S.129-169, hier: S.155-157. 44 Die Unterscheidung in high politics und low politics geht auf die Realismustheorie zurück. Kernbereiche innerer und äußerer Souveränität werden demzufolge als high politics bezeichnet (Außen- und Sicherheits-, Innen- und Justizpolitik), wohingegen wirtschaftliche und soziale Bereiche als low politics angesehen werden. Siehe hierzu: Leon Lindberg / Stuart Scheingold, Europe´s would-be polity. Patterns of change in the European Community, Englewood Cliffs 1970, S.263 Die hier vorgenommene Zuordnung von Politikfeldern zu den beiden Bereichen der high - bzw. low-politics ist heute nicht mehr unstreitig. Als Beispiel sei genannt, dass ökonomische Stabilität zweifellos dazu dient, den eigenen Staat und seine Interessen vor äußeren Bedrohungen jedweder Art zu schützen. Ferner können auch innenpolitisch sozial stabile Verhältnisse hergestellt werden. Deswegen werden
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nur für den Fall vorstellbar, in dem die Vergemeinschaftung von Kernkompetenzen die Zielperspektive ist. Dieses wiederum sei aber nur vorstellbar, wenn Staaten hierin eine dauerhaft optimierte Wahrnehmung ihrer Interessen sehen würden.45 Diese permanente Interessenkonvergenz zwischen Einzelstaaten bildet jedoch, aufgrund wechselnder Einflussfaktoren, die Ausnahme. Es sind daher zumeist Politikinhalte aus dem Bereich der „low-politics“, die mittels intergouvernementaler Kooperation angegangen werden. Hierzu errichten die Staaten entweder horizontal gegliederte Systeme der Zusammenarbeit oder strebten danach eine vertikal gegliederte Kooperation zwischen trans- beziehungsweise suprastaatlichen Institutionen und den Teilnehmerstaaten zu schaffen. Die Vorstellung, dass einzelstaatliche Kapazitäten zur Lösung spezifischer Probleme auf der zwischenstaatlichen Ebene bewusst gebündelt werden, um dem staatlichem Interesse besser nachkommen zu können, ist somit ein Schlüssel zum Verständnis des Intergouvernementalismus. Etwaige Souveränitätsübertragungen sind mithin letztlich nur Mittel, nicht Zweck. Dies hat zur Folge, dass die (National-)Staaten als maßgebliche Akteure erhalten bleiben.46 Andrew Moravcsik differenziert Hoffmanns Theoriegebäude weiterführend zum sogenannten liberalen Intergouvernementalismus aus.47 Wesentlicher Ansatzpunkt ist dabei sein Verständnis des zwischenstaatlichen Systems, in dem Staaten – anders als bei Hoffmann – nicht nur dem Druck anderer Staaten mit festgefügten Präferenzen für Macht, Sicherheit und Steigerung des Lebensstandards ausgesetzt sind. Vielmehr rückt die Analyse der Bildung des staatlichen Interesses in das Zentrum der Betrachtung. Moravcsik analysiert hierzu jene Prozesse, die zur Bildung der jeweiligen staatlichen Präferenzen führen. Diesem ersten Schritt folgt eine Aufschlüsselung, in welcher Form diese Interessen auf zwischenstaatlicher Ebene zum Ausdruck gebracht werden können und/oder welchen Wandel sie hier unterworfen sind. Grundlegend ist dabei unverändert die Prämisse, dass Staaten sich in ihren Handlungen nahezu ausschließlich rational verhalten.48 Demnach ist ihr Handeln nach Kosten-Nutzen-Analysen ausgerichtet und bestrebt, Vorteile (policy externalities) zu erreichen.49 Im Unterschied zu Hoffmann legt Moravcsik das Streben nach diesen Vorteilen allerdings schon auf der innerstaatlichen Ebene an. Bereits hier würden – mit Blick auf das zwischenstaatliche System – Kosten-Nutzen-Analysen angestellt und Abwägungen getroffen, die später Auswirkungen hätten und so einen Integrationsprozess beeinflussen würden. Damit ergeben sich de facto zwei Ebenen, mit denen sich aus intergouvernementaler Perspektive zwischenstaatliche Integrationsprozesse analysieren lassen: (I.) Zunächst ist die Betrachtung des staatlichen Interesses auf Ebene des Einzelstaates und (II.) die Verhandlung dieser staatlichen Interessen auf Ebene des internationalen Systems zu leisten.
heute – aufgrund ihrer nicht nur mittelbaren Bedeutung – auch Themenkreise, die ehemals als low-politics klassifiziert worden, in den Bereich der high-politics gerechnet. Giering, Zweckverband und Superstaat, S.72. 46 Zur Kritik an Hoffmanns Theoriegebäude vgl.: Bieling, Intergouvernementalismus, S. 108-110. 47 Andrew Moravcsik, Preferences and Power in the European Community: A Liberal Intergouvernementalist Approach, in: Simon Bulmer / Andrew Scott (Hrsg.), Economic and Political Integration in Europe: Internal Dynamics and Global Context, Cambridge 1994; auch: Andrew Moravcsik, The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, New York 1998. 48 Moravcsik, Preferences and Power, S.36. 49 Ebenda, S.41. 45
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1.2.2 Föderalismus Dem Föderalismus kommt als ein Gestaltungsprinzip staatlicher Ordnung große Bedeutung für das Verständnis von Integrationsprozessen zu. Bei der Beschreibung staatlicher Strukturen und Interessenlagen lassen sich immer wieder Merkmale des Föderalismus als stil- und formgebend herausarbeiten. Sie finden sich in den angestrebten beziehungsweise erreichten Ausprägungen der europäischen Integration ebenso wieder wie in der zwischenstaatlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Föderalismus, dessen etymologische Wurzel „foedus“ auf die lateinische Bezeichnung für Bund/Bündnis zurückgeht,50 steht als Oberbegriff für verschiedenste Formen der Zusammenfassung beziehungsweise Organisation eigentlich selbständiger Teile. Eine eindeutige Definition des Begriffes Föderalismus ist bisher allerdings nicht erreicht worden.51 Einhellig ist jedoch seine Abgrenzung gegenüber dem Pluralismus. Letzterer wird als Willensbildungssystem verstanden, welches aus in einem Verbund von Einzelakteuren zusammengesetzt ist. Als Wesensmerkmal des Pluralismus wird die Beibehaltung der jeweilig individuellen Eigenständigkeit und die räumliche Unabhängigkeit voneinander hervorgehoben. In Abgrenzung hierzu sind im Föderalismus die Einzelakteure des Verbundes territorial miteinander verbunden.52 Aus dieser Herleitung wird weiter ein definitorisches Merkmal des Föderalismus ersichtlich: Der Grad der Eigenständigkeit der sich zu einem Bund zusammenschließenden Einheiten.53 Das Völkerrecht unterscheidet für solche föderale Formen des organisatorischen Zusammenhalts zwischen (I.) Staatenbund und (II.) Bundesstaat.54 Max Frenkel definiert dabei einen Staatenbund wie folgt: „Ein Willensbildungssystem ist dann ein Staatenbund, wenn sich ein Verband aus Staaten, dass heißt aus völkerrechtsunmittelbaren Gebietskörperschaften zusammensetzt, die bei der Bildung des Verbandswillens in […] ständiger Form mitwirken.“55
Die Vergemeinschaftung staatlicher Bereiche sei hierbei nicht exklusiv, was dazu führen kann, dass ein einzelner Staat gleichzeitig Mitglied verschiedener (Staaten-) Bünde sein könne. Da die Gliedstaaten zumeist ihre Souveränität behielten und die Beschlussfassung des Bundes entweder mit einem Veto blockieren oder einfach nicht umsetzen könnten, sei ein Staatenbund zumeist inhaltlich wie zeitlich eine temporäre Ausprägungsform staatlicher 50
Vgl.: Rüdiger Görner, Einheit durch Vielfalt. Föderalismus als politische Lebensform, Opladen 1996, S.5-8. Michael Bothe, Föderalismus – ein Konzept im geschichtlichen Wandel, in: Tilman Evers (Hrsg.), Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Baden-Baden 1994, S.21. 52 Durch die Herausarbeitung des Territorialen als prägenden Faktor wird der Föderalismus auch zu einer Spielart des Pluralismus; vgl.: Max Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat, Band I, Föderalismus, Bern 1984, S.76-80. 53 Klaus Schubert, Föderalismus im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, in: Tilman Evers (Hrsg.), Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Baden-Baden 1994, S.33-45., hier: S.34. 54 Im Gegensatz zum Organisationsprinzip des Föderalismus sind die Begrifflichkeiten „Staatenbund“ und „Bundesstaat“ Rechtsbegriffe. D.h. sie sind Gegenstand des allgemeinen Staatsrechts bzw. der Staatstheorie. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen Staatenbund und Bundesstaat auch heute noch konsequent beachtet wird. Sie findet sich sowohl in der deutschen als auch in der französischen Sprache, in der sie durch die Begriffe „confédération“ und „fédération“ bezeichnet wird. Hinzu tritt allerdings eine andersartige Verwendung: Wird der Begriff Word „fédéralisme“ im Französischen hauptsächlich auf den zentralistischen Bundesstaat und die Stärkung der Einheit bezogen, so wird „Föderalismus“ im Deutschen gegenteilig als Selbständigkeit und Autonomie der Glieder eine Föderation verstanden. Vgl.: Ferdinand Graf Kinsky, Föderalismus: Ein gesamteuropäisches Modell, Bonn 1995, S.32. 55 Frenkel, Föderalismus, S.91. 51
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Kooperation.56 Historisch gesehen ist der Staatenbund daher auch Vorläufer des Bundesstaates. Letztgenannter wird wie folgt definiert: „Ein Willensbildungssystem ist dann ein Bundesstaat, wenn ein Staat, d.h. eine völkerrechtsunmittelbare Gebietskörperschaft, sich selbst wieder aus Gebietskörperschaften zusammensetzt, die eine verhältnismäßig große Eigenständigkeit besitzen und […] ebenfalls als Staaten bezeichnet werden, und die bei der Bildung des Staatswillens in festgelegter und ständiger Form mitwirken.“ 57
Nachdem das Mittelalter und die frühe Neuzeit von einer Fülle zwischenstaatlicher Bündnisse, Friedens- und Beistandspakte geprägt waren, wird der erste moderne Bundesstaat 1787 mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika begründet.58 Erstmals wird hier die traditionelle staatliche Einheit von Raum und Herrschaft mit dem Prinzip territorialer Teilung verknüpft. Diese Zusammenfassung ermöglicht eine Unterteilung des staatlichen Gesamtgebildes im Sinne eines Systems der „checks and balances“ und somit einer Austarierung der einzelnen Komponenten zueinander. Im Gegensatz hierzu etablierte sich in Europa im Zuge der Napoleonischen Kriege die Vorstellung eines zentralistischen Einheitsstaates. Die Strahlwirkung des letztgenannten Modells ist dabei prägend für das Verständnis staatlicher Organisation. Es wird heute noch zumeist als die staatliche Idealform verstanden. Gegenüber dem Staatenbund ist der Bundesstaat durch ein Bundesorgan gekennzeichnet, welches gegenüber den Bündnern gleichwertige beziehungsweise übergeordnete Rechte hat. Da hier jedoch die Grenzen fließend sind, ist dies als Klassifizierungskriterium wenig tragfähig. Als Unterscheidungskriterien können vielmehr die rechtliche Grundlage der Staatenverbindung, das Verhältnis der Bundesbehörden zu den einzelnen Bündnern oder etwa der völkerrechtliche Status der Glieder herangezogen werden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass neben dem klassischen Modell des Zusammenschlusses von Einzelakteuren die Entstehung einer Föderation – als Bundesstaat oder als Staatenbund – auch durch die Desintegration bestehender Einheitsstaaten denkbar ist. Gemein ist beiden Typen das Streben nach einem Ausgleich oder Gleichgewicht und der Achtung der Besonderheiten der einzelnen Bündner.59 So finden sich neben einer klassisch horizontalen Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative immer auch eine vertikale Machtaufteilung zwischen Bundesorgan/Zentralstaat und Bündnern/Gliedstaaten.60 In föderalen Strukturen verfügen die Bündner über ein bedeutendes Maß an Autonomie: Sie sind in der Legislative vertreten und auch sonst an der Willensbildung des Bundes hinlänglich beteiligt. Entscheidend für das Gelingen des Föderalismus ist daher auch die Subsidiarität zwischen Bundesorgan und Bündnern. Dominanz oder gar Hegemonie eines einzelnen Bündners bezeichnet man als hegemonialen Föderalismus; sind maßgebliche Kriterien wie Größe, Bevölkerungszahl, Wirtschaft oder militärisches Potenzial annähernd gleich verteilt, wird dies als symmetrischer Födera56
Vgl.: Kinsky, Föderalismus: Ein gesamteuropäisches Modell, S.18-19. Frenkel, Föderalismus, S.92. Carl Friedrich, Trends of Federalism in Theory and Practice, New York 1968, S.11-27. 59 Die Formulierung, dass das föderative Prinzip versuche, „…eine gewisse Einheit mit einer gewissen Vielfalt zu verbinden“ stammt von Carl Friedrich; siehe auch : Kinsky, Föderalismus, S.43. 60 Vgl.: Franz Heubl, Föderalismus – eine Chance für Europa, in: Heinz Laufer / Frank Pilz (Hrsg.), Föderalismus. Studientexte zur bundesstaatlichen Ordnung, München 1973, S.389-406, hier S.393. 57 58
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lismus klassifiziert. Allerdings ist dies in modernen Bundesstaaten zumeist nicht gegeben, da sich hier zum Teil stark differierende Kriterien finden.61 Man spricht in diesem Fall von einem asymmetrischen Föderalismus. Die bundesstaatliche Organisation kann folglich nur zwischen Bündnern bestehen, deren Rangverhältnis weder zu homogen noch zu heterogen ist. Ferner dürfen sie nicht der dauerhaften Dominanz eines einzelnen Bündners oder des Bundesorgans unterworfen sein. Nur bei wechselnden Führungsverhältnissen – durch alternierende Führung und/oder tragfähige Gegengewichte – wird ein föderales System stabilisiert. Hierdurch ist mithin ein permanenter Wandel innerhalb des föderalen Systems bedingt. Dieser permanente Wandel ergibt sich auch aus einer steten Abfolge von zentripetalen, also integrativen und zentrifugalen, also desintegrativen Tendenzen.62 Der Föderalismus ist damit als ein dynamischer Prozess zu verstehen, welcher in einem steten Kreislauf seine Einzelkomponenten gegeneinander austariert.63 Ein föderaler Zusammenschluss mit dem damit verbundenen Befugnistransfer seitens der Bündner auf Bundesorgane findet nicht alleine aufgrund zu lösender Aufgaben statt. Genauso ist es denkbar, dass den Bündnern daran gelegen ist, die unzureichenden Bedingtheiten des eigenen staatlichen Rahmens aufzuhebeln, um so etwa überkommende Antagonismen überwinden oder schlichtweg neue Kooperationsräume schaffen zu können. Die Schaffung einer integrativen Struktur, die beispielsweise einen Bundesstaat begründet und gestaltet, geht dabei intergesellschaftlichen Integrationsprozessen voraus. Die Form bestimmt sich dabei aus den drei zentralen Strukturdimensionen des Föderalismus: (I.) Der Dimension gemeinsamer Entscheidungsfindung durch Prinzipien der Solidarität und Konsultation. (II.) Der Dimension eines gemeinsamem Bewusstseins beziehungsweise der Akzeptanz der Repräsentation seitens des Bundes durch die Bündner. Schließlich (III.) der Dimension der gesellschaftlichen Verflechtung durch Gründung gemeinsamer Interessenvertretungen und der Schaffung einer gemeinsamen Gesellschaft.64 Fasst man zusammen, lässt sich Föderalismus vereinfacht unter folgender Formel fassen: Function follows form.65 Fritz Scharpf hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass Integrationsprozesse dennoch nicht immer reibungslos verlaufen und Verzögerungen auftreten können. Als Grund hierfür werden in erster Linie fehlerhafte institutionelle Strukturen genannt. Als beispielhaft wird hier das Stocken des Europäischen Integrationsprozesses der ersten Hälfte der 1980er Jahre gewertet. Trotz der sich stetig erhöhenden Zahl der Mitgliedstaaten und der fortschreitenden Kompetenzzuweisung an die suprastaatlichen Institutionen sei die Integration in diesem Zeitraum nahezu kaum vorangekommen.66 Als Grund für dieses Problem wird der kooperative Föderalismus angenommen, der die Europäische Gemeinschaft jener Jahre prägte67 und der sich durch eine zu hohe Interdependenz zwischen Bundesebene und Bündnern beziehungsweise einer hohen Abhängigkeit der Zentralinstanz von der einstimmigen Zustimmung der Glieder auszeichnete.68 Die Folge sei die Blockierung 61
Vgl.: Frenkel, Föderalismus, S.192. Bothe, Föderalismus, S.21. Vgl.: Martin Große Hüttmann, Thomas Fischer, Föderalismus, in: Hans-Jürgen Bieling, Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Auflage, Wiesbaden 2006, S.41-63, hier: S.48. 64 Giering, Zweckverband und Superstaat, S.199. 65 Hierzu: Große Hüttmann/Fischer, Föderalismus, S.49-52. 66 Fritz Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26, 1985, S.323-356, S.324. 67 Ebenda, S.348. 68 Giering, Zweckverband und Superstaat, S.123. 62 63
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einer weitergehenden Integration seitens der Regierungen der Mitgliedstaaten gewesen. Die Grenzen der Integration liegen nach diesem Verständnis folglich in der Weigerung der Mitgliedstaaten, Institutionen zu schaffen, die ihre Veto-Befugnisse aushebeln könnten. In der Tat fand Mitte der 1980er Jahre lediglich die Verlagerung von nachgeordneten Regelungs- und Verordnungsaufgaben auf die Brüsseler Zentralebene die Zustimmung der Mitgliedstaaten. Der Föderalismus hat dennoch – ungeachtet seiner Kritik – als Integrationsmethode und als flexibles staatliches Organisationsprinzip einen unveränderten Geltungsanspruch. In besonderem Maße gilt dies dort, wo ein Miteinander unterschiedlichster geographischer, ethnischer, kultureller oder ökonomischer Prägungen herbeigeführt werden soll.69 Da dieses Grundprinzip alle Bundesstaaten durchzieht wird deutlich, warum spezifische einzelstaatliche Interessen auch in föderalen Systemen weiterhin handlungsbestimmend sein können und grundlegende Kompetenzen staatlicher Macht nicht auf suprastaatliche Ebene übertragen werden. 1.2.3 Funktionalismus und Neufunktionalismus Eine erste entscheidende Wegmarke der Integrationstheorie des Funktionalismus ist die 1943 von David Mitrany veröffentlichte Arbeit „A Working Peace System“.70 Mitrany sucht darin nach einem Ansatz, die Staatenwelt hin zu einem harmonischeren Miteinander zu verändern und so einen dauerhaften Frieden zu etablieren. Er geht hierfür von der Annahme aus, dass das Prinzip des Nationalstaates eigentlich einen Anachronismus darstelle. Der technologische Fortschritt und die damit verbundene transnationale Gesellschaft würde es den Staaten zunehmend verwehren, ihre „vornehmste Aufgabe“, den Schutz ihrer jeweiligen Integrität autark zu garantieren. Gerade dies ist für Mitrany aber das entscheidende Kriterium für den Erfolg einer staatlichen Ordnung. Daher stellt er das Postulat einer zwischenstaatlichen Ordnung des „arbeitenden Friedens“, eines „working peace system“ auf, welches anstelle des bisherigen Systems des „beschützenden Friedens“ treten solle. Für den Funktionalismus ist die Annahme grundlegend, dass Integrationsprozesse prinzipiell in politische, sozio-kulturelle und ökonomische Themenfelder unterteilt werden können. Das Interesse gilt dabei zunächst den nicht-politischen Bereichen, in denen sich schneller transnationale Kooperationen etablieren würden. Einzelne Staaten würden Kompetenzen, die nicht einem Elementarbereich zuzuordnen seien, auf zwischenstaatliche Institutionen oder internationale Organisationen übertragen.71 Erfolge dieser Institutionen sowie hiermit verbundene prozessuale Notwendigkeiten erforderten dann in einem zweiten Schritt die Ausweitung der Kooperation auf angrenzende Bereiche.72 Grundlegend für das Verständnis des Funktionalismus ist also die Annahme, dass ein Integrationsprozess – einer Art Automatismus folgend – stetig voran schreitet und immer weitere Bereiche umfasst. Deutlich wird hier die Abgrenzung zum Föderalismus, der über die Schaffung eines Bundes eine Kooperation in gewisser Weise oktroyiert. Beim Funktionalismus entwickelt die Kooperation demgegenüber eine starke Eigendynamik und schafft ein Kooperationsgeflecht sowie 69
Schubert, Föderalismus, S.34 David Mitrany, A working peace system, Chicago 1966. Welz, Politikwissenschaftliche Integrationstheorien, S.138. 72 Mitrany, Working peace system, S.72-73. 70 71
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suprastaatliche Institutionen. Anders formuliert: Für den Funktionalismus gebietet die unumgängliche Lösung von Problemen beziehungsweise die Erfüllung bestimmter Funktionen die Schaffung spezifischer institutioneller Kooperationsformen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass die zwischenstaatliche Verknüpfung von Aufgaben, Funktionen und Problemen in einem System gleichrangiger Staaten geschieht und es im zwischenstaatlichen System kein Hierarchiegefälle gibt.73 Das automatische Ausgreifen bestehender Zusammenarbeit auf immer weitere Bereiche wird als „ramification“ bezeichnet.74 Folge dieser ramification sei in letzter Konsequenz die Beschneidung der Souveränität der beteiligten Staaten.75 Der Annahme nach geschähe dies in Folge der Arbeit der geschaffenen suprastaatlichen Institutionen, welche die Einzelstaaten dazu veranlassen würden, ihre Souveränität immer stärker auf die übergeordnete Ebene zu verlagern. Wie die Zielstruktur dieser nebeneinander bestehenden suprastaatlichen Institutionen jedoch aussieht, woran sich deren Kooperation orientiert, bleibt letztlich vage.76 Festzuhalten bleibt aber, dass am Ende einer Integration des Funktionalismus genau das verwirklicht werden soll, was an seinem Beginn intendiert worden war: die Schaffung einer Weltgemeinschaft, in welcher der Friede durch die Vernetzung und die Ausschaltung der (national-)staatlichen Ebene gesichert wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist der klassische Funktionalismus daher auch mehr normativer politischer Ratschlag denn wirklicher Theorieansatz. Die aufgezeigten Defizite des klassischen Funktionalismus sind der Anknüpfungspunkt für dessen theoretische Ergänzung, Revision und Neuformulierung. Zusammengefasst werden diese Weiterentwicklungen gemeinhin unter dem Begriff „Neofunktionalismus“. Zentral sind dabei die von Ernst Haas in seinen Arbeiten „Beyond the Nation State“77 und „The Uniting of Europe“78 entwickelten Überlegungen. Gemeinsam sind dem klassischen Funktionalismus und dem Neofunktionalismus das Verständnis eines sich verselbstständigen Voranschreitens der Integration: Eine sich ausweitende Kooperation in zunächst sekundären Themenfeldern, die schließlich auch auf primäre Interessenfelder ausgreift. Neu ist im Neofunktionalismus jedoch die Sichtweise einer starken Interdependenz zwischen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Sphäre, die das klassische Verständnis einer strikten Trennung von politischen und „gesellschaftlichen“ Bereichen ablöst.79 So ist der (Neo-)Funktionalismus jetzt nicht mehr auf eine isolierte Kooperation zwischen Staaten beschränkt. Neu ist weiter das Verständnis von regionalen Systemen der Integration. Wesentliche Akteure sind im Neofunktionalismus ebenfalls suprastaatliche Institutionen und Organisationen, die im Zuge eines Regelungsbedarfes geschaffen werden, sich bald eigene Kompetenzen schaffen und schließlich den Staat als maßgeblichen Akteur ablösen.80 Neben dieser schon bekannten institutionellen Dimension richtet sich der Fokus weiterführend auf die sozial-psychologische Integration. Diese sei von der Annahme ge73
Welz, Politikwissenschaftliche Integrationstheorien, S.138. In der deutschsprachigen Literatur findet sich der Begriff der „Verzweigungsdoktrin“; Vgl.: Giering, Zweckverband und Superstaat, S.44. 75 Vgl.: Mitrany, Working peace system, S.163. 76 Ebenda, S.73-76; ebenso. Haas, Beyond the Nation State, S.12. 77 Ernst Haas, Beyond the Nation State. Functionalism and international organisation, Stanford 1964. 78 Ernst Haas, The Uniting of Europe, Stanford 1968. Zu den ontologischen Grundlagen von Haas’ Arbeiten siehe: Dieter Wolf, Neo-Funktionalismus, in: Hans-Jürgen Bieling, Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Auflage, Wiesbaden 2006, S.65-90, hier: S.66-67. 79 Vgl.: Haas, Beyond the Nation State, S.46. 80 Veitl, Theorie internationaler Integration, S.38. 74
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prägt, dass – in dem Maße wie Kompetenzen auf suprastaatliche Institutionen übertragen werden – diese einen Loyalitätszuwachs durch die politischen Akteure der Einzelstaaten erfahren.81 Zentrales Element des Neofunktionalismus ist das von Haas entwickelte spill-overKonzept. In ihm wird die schon im klassischen Funktionalismus zu findende Annahme konkretisiert, dass aufgrund von Sachzwängen eine einmal begonnene, erfolgreiche Zusammenarbeit in einem Funktionsbereich zur Verknüpfung beziehungsweise Integration weiterer, themenverwandter Feldern führt.82 Diese Integrationsdynamik wird nach ihrer Spielart wie folgt unterschieden:83 (I.) Der functional spill-over ist dem ramification-Prinzip des klassischen Funktionalismus verpflichtet. Aus einer technisch-ökonomisch integrierten Aufgabe resultiere die funktionale Notwendigkeit, bestehende Kooperationen auszuweiten. Eine Erweiterungsform stellt – hierauf aufbauend – der (II.) political spill-over dar, der den Loyalitätstransfer auf suprastaatliche Institutionen beschreibt. Im Gegensatz zum klassischen Prozesskonzept wird hier ein Automatismus von ökonomischen Nutzen- und Interessenkalkülen zur Integration angenommen. Anders als beim erstgenannten functional spillover ist die willentliche Entscheidung der beteiligten staatlichen Interessenvertreter, also beispielsweise der jeweiligen Regierungen und/oder anderer gesellschaftlicher Gruppen, für das Voranschreiten des Integrationsprozesses entscheidend.84 Der (III.) cultivated spill-over schließlich hebt die institutionelle Dimension des Integrationsprozesses hervor. Antriebskraft sind hier die suprastaatlichen Institutionen, die dem aus den Integrationsprozessen erwachsenden Druck entsprechen, ihre Rolle als Interessenvertreter aktiv annehmen und schließlich selber als Initiator und Motor von Integrationsprozessen auftreten. Durch das so ausdifferenzierte und beschriebene spill-over-Konzept kann auch der Prozess der graduellen Kompetenzübertragung auf suprastaatliche Institutionen erklärt werden.85 Zentral ist dabei die Vorstellung, dass ein politischer spill-over durch einen willentlichen Akt der jeweiligen staatlichen Akteure, sprich der Regierungen, möglich ist. Politische Integration wird entsprechend als ein Prozess definiert, in dessen Verlauf die handelnden Akteure dazu veranlasst würden: „…to shift their loyalties, expectations and political activities towards a new centre, whose institutions possess or demand jurisdiction over the pre-existing national states.“86
In den 1960er und frühen 1970er Jahren entwickelte sich weiterführend die Theorie des „Modernen Neofunktionalismus“.87 Sein wesentliches Ausdifferenzierrungskriterium ist eine modifizierte Sicht des Automatismus innerhalb des ramification-Konzepts. Die von Leon Lindberg herausgearbeitete Bedeutung von Konvergenz und Kontinuität politischer Ziele für das Fortschreiten eines Integrationsprozesses ist hierfür ebenso maßgeblich88 wie 81
Haas, The Uniting of Europe, S.16. Vgl.: Giering, Zweckverband und Superstaat, S.59. 83 Diese Dreiteilung findet sich nicht explizit in Haas’ Ausführungen zum spill-over-Konzept; vgl.: Haas, The Uniting of Europe, S.291-299. 84 Siehe: Haas, The Uniting of Europe, S.17; sowie: Brent Nelsen, / Alexander Stubb (Hrsg.), The European Union. Readings on the Theory and Practice of European Integration, Boulder 1998, S.139. 85 Hierzu: Wolf, Neofunktionalismus, S.73-74. 86 Haas, The Uniting of Europe, S.16. 87 Vgl. hierzu ausführlich: Giering, Zweckverband und Superstaat; auch: Amitai Etzioni, A Paradigm for the study of political unification, in: World Politics XV, 1963, S.44-74. 88 Leon Lindberg, The Political Dynamics of European Economic Integration, Stanford 1963. 82
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die von Ernst Haas und Phillippe Schmitter hervorgehobene Loyalitätsverlagerung einzelstaatlicher Eliten hin zu den suprastaatlichen Institutionen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Verlauf der automatischen Ausweitung des Integrationsprozess auf immer neue Felder, diesen von bestimmten Variablen beeinflusst sehen. Diese werden in (I.) Hintergrundbedingungen, (II.) Initialvariablen und (III.) Prozessvariablen aufgeschlüsselt. Dabei beschreiben die (I.) Hintergrundbedingungen jene Faktoren, welche die Vorbedingungen des Integrationsprozesses darstellen, wie etwa Größe und Macht der beteiligten Staaten; Gestalt und Art des herrschenden Pluralismus; gegenseitige Komplementarität der maßgeblichen Akteure etc. Die (II.) Initialvariablen markieren die Bedingungen zum Zeitpunkt des Zusammenschlusses, wie etwa Ausmaß an Übereinstimmung hinsichtlich der angestrebten Integration oder die Stärke des jeweiligen politischen Engagements. Die (III.) Prozessbedingungen schließlich stellen diejenigen Faktoren dar, die den Integrationsprozess nach dessen Einsetzen beeinflussen. Hierzu werden etwa Art und Prozessablauf der kollektiven Entscheidungsfindung oder der Grad der jeweiligen Anpassungsfähigkeit gezählt. Dennoch ergab sich weiterer Ausdifferenzierungsbedarf. So war beispielsweise deutlich geworden, dass aufgrund von charisma und national self-assertation der beteiligten Akteure Integrationsprozesse nicht zwangläufig Automatismen sein müssten.89 Das Verständnis des spillover-Prozesses musste folglich überarbeitet90 und die Bedeutung der öffentlichen Akzeptanz für einen Integrationsprozess neu gewichtet werden.91 Auch wenn damit das ursprüngliche Konzept des Neofunktionalismus modifiziert und neuen Gegebenheiten angepasst wurde,92 verlor dieser dennoch als Konzept zur Erklärung der Europäischen Integration in den 1970er und 1980er Jahren erheblich an Gewicht. Die beiden Hauptgründe hierfür waren zum einen die bereits erwähnte Stagnation, in welche die Europäische Gemeinschaft in jenen Jahren rutschte und zum anderen die – trotz aller Ausdifferenzierungen – bestehenden Defizite zwischen neofunktionalen Theoriegerüst und Integrationswirklichkeit. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem damit verbundenen Bedarf nach einer neuen europäischen Ordnung kam es dann jedoch in den 1990er Jahre zu einem neuen Integrationsschub innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft. Diese Entwicklung gab auch der Theorie des Neo-Funktionalismus neue Impulse. Klaus Busch unternahm daher den Versuch, mit Hilfe modifizierter Funktionalismustheoreme die Europäische Integration erneut zu beschreiben. Aufbauend 89
Beispiel war hier etwa Frankreichs Rückzug aus der NATO im Jahr 1966; vgl. Philippe Schmitter, A Revised Theory of Regional Integration, in: Leon Lindberg / Philippe Schmitter (Hrsg.), Regional Integration: Theory and Research, Cambridge 1971, S.232-264, hier: S.232. 90 Spill-over bezeichnet die Ausweitung von scope (Ausmaß der Integration; sprich: Anzahl der involvierten Gruppen und Politikfelder sowie deren Bedeutung) und level (Reichweite der Integration). Dabei bezieht es sich auf den Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung und betrachtet die Aspekte der Kontinuität und der Entscheidungsmechanismen an sich; (höchster level = suprastaatliche Institution hat alleinige Kompetenz über einen Bereich; niedrigster level = Kompetenz bleibt vollständig auf einzelstaatlicher Ebene) des gemeinsamen Engagements, spill-back die Reduktion von scope und level des Integrationsprozesses. „Encapsulation“ bezeichnet das Verharren von scope und level im status quo; vgl.: Giering, Zweckverband und Superstaat, S.8085. 91 So soll etwa nicht nur suprastaatlicher Loyalitätentransfer wichtig sein, sondern zugleich auch der gesellschaftliche Konsens, der ständig die Entscheidungen der politischen Handelnden begleitet; siehe: Leon Lindberg / Stuart Scheingold, Europe´s would-be polity. Patterns of change in the European Community, Englewood Cliffs 1970. 92 Identifiziert werden elf Variablen, die sich auf Integrationsprozesse auswirken können; Schmitter, Revised Theory, S.246-253; auch: Busch, Spill-over-Dynamik, S.288-289 und Giering, Zweckverband und Superstaat, S.84-88.
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auf Ansätzen von Haas und Schmittler kam er zu dem Schluss, dass den unterschiedlichen Motivationen der einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem aber der inneren Logik des Integrationsobjektes als erklärende Variablen bisher keine ausreichende Beachtung beigemessen worden war. Diese Faktoren gewichtete er in seinem neofunktionalen Integrationsmodell neu. Wesentlich seien drei erklärende Vektoren, welche die Entwicklungsdynamik und das Fortschreiten der Integration bestimmen würden.93 Innerhalb dieses Vektorenverständnisses beschreibt (I.) Vektor A die einzelstaatlichen, die regionalen und die internationalen Hintergrundfaktoren, während (II.) Vektor B die Bündelung dieser Variablen in den Handlungsstrategien der jeweiligen Akteure abbildet. Als dritte Komponente stellt (III.) Vektor C die immanente Logik des Integrationsobjektes dar. Die für die Vektoren A und B relevanten Variablen werden aus den oben dargestellten Vorarbeiten von Haas und Schmitter übernommen. Darüber hinaus ist es für das Theoriegebäude von Busch unabdingbar, die grundlegenden, historisch gewachsenen Verhaltensmuster der einzelnen staatlichen Akteure sowie ihre Stellung gegenüber der Gemeinschaft als erklärende Variablen in Vektor B zu berücksichtigen. Die wesentliche Neuerung liegt aber in der Einführung des Vektors C. Mit ihm soll der diagnostizierte Hauptmangel des Haas-Schmitter-Modells – eine mangelhafte Einbeziehung der immanenten Logik der einzelnen Integrationsobjekte als erklärende Variable – überwunden werden. Die immanente Logik wird hier als die Summe der Voraussetzungen verstanden, die sich aus der Struktur des Integrationsobjektes selbst ergeben. Hinzu treten Regeln und Mechanismen auf dem Weg zur Verwirklichung einer integrierten Struktur. Kommt es in einem der genannten Bereiche zu Defiziten, wirken diese integrationshemmend, wenn nicht gar integrationsumkehrend.94 In diesem Zusammenhang entwickelt Busch das Verständnis von „Integrationsschwellen“, die auf dem Weg zu einer Vergemeinschaftung überschritten würden. Durch sie sollen in der ausdifferenzierten Form der funktionalen Integrationstheorie95 – diesmal aus sachlogischen Notwendigkeiten – jene Antriebskräfte erwachsen, die den Vergemeinschaftungsprozess hin zu einer Staatengemeinschaft vorantreiben. Es wird deutlich, dass Strukturen, Funktionen und deren Umsetzung als unabhängige Variablen zentral für die inhaltliche Ausgestaltung eines Integrationsprojektes sind. Von Erheblichkeit ist daneben der von Haas und seinen Nachfolgern herausgearbeitete Umstand, dass politische – oder wie bei dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand militärische – Akteure auf der Ebene der Einzelstaaten durch Übertragung von Loyalitäten das Ausmaß (scope) und die Reichweite (level) des Integrationsprozesses mitgestalten. Funktionalismus bleibt somit im Kern ein intentionaler Erklärungsansatz, der auf Strukturen und Systemnotwendigkeiten basiert. 1.3 Policy-Analyse und Staatliches Interesse Erkenntnisfördernd für die vorliegende Untersuchung ist ferner der konzeptionale Ansatz der Policy-Analyse.96 Diese basiert auf der im Englischen getroffenen Unterscheidung der 93
Busch, Spill-over-Dynamik, S.302. Ebenda, S.305. 95 Es sei festgehalten, dass in der vorliegenden Untersuchung – aus Gründen der Stringenz – die Ausdiffernzierung der funktionalen Integrationstheorie in Funktionalismus und Neofunktionalismus unter dem Begriff des Funktionalismus zusammengefasst wird. 96 Vgl.: Dieter Wolf, Integrationstheorien im Vergleich, Baden-Baden 1999, S.45-49. 94
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Begrifflichkeiten „polity“, „politics“ und „policy“.97 Die in diesem Zusammenhang zu betrachtende „policy“ stellt dabei auf die inhaltliche Dimension von Politik ab, die von einem politisch-administrativen Apparat, dem Policy-Netz,98 verarbeitet und erfüllt werden. Die Policy-Analyse stellt die Frage nach Entscheidungsgrundlagen und Einflussfaktoren. Weiterführend geht es zudem um die Frage, welche Folgewirkungen eine bestimmte policy eines Staates besitzt.99 Bezogen auf zwischenstaatliche Verflechtungen lässt dies vereinfacht auf ein „Warum“ von Integrationsprozessen komprimieren. Die Policy-Analyse untersucht einzelne Politikfelder und befasst sich vornehmlich mit tatsächlichen oder relativen Machtverteilungen zwischen den Staaten und dem jeweiligen Potenzial zur Einflussnahme.100 Dabei werden einzelne Politikfelder im Rahmen einer zyklischen Analyse aufgearbeitet. Fünf Phasen – deren Anfangs- und Endpunkte sich nicht immer eindeutig bestimmen lassen – kennzeichnen dabei die Abfolge101: (I.) Problemdefnition, (II.) Agenda-Setting, (III.) Formulierung, (IV.) Implementierung und schließlich (V.) Terminierung. Wesentliches Instrument bei der Analyse des Policy-Zyklus ist die Herausarbeitung von Sachnotwendigkeiten. Diese werden als Variablen beschrieben und einzelnen Phasen zugeordnet. Zur Anwendungsfähigkeit dieser strukturellen und funktionalen Bedingungen verwendet die Policy-Analyse vier Erklärungsebenen: (I.) das Policy-Netz, (II.) die Politik-Arena, (III.) externe Faktoren und (IV.) ordnungspolitische Vorstellungen. Das Policy-Netz beschreibt die administrativen Strukturen und das Zusammenwirken unterschiedlichster politischer und gesellschaftlicher Gruppen bei der Entstehung und Durchführung einer bestimmten policy. (I.) Policy-Netze erstrecken sich über alle Ebenen des politischadministrativen Systems und gliedern sich nach administrativen und/oder interessenabhängigen Strukturen. Die (II.) Politik-Arena befasst sich mit politischen Prozessabläufen. Hierbei werden nicht nur administrative Entscheidungsgänge betrachtet, sondern auch deren antizipierte Wirkung bei vermeintlich externen Akteuren, die gleichsam den Prozess der Policy-Formulierung, aber auch die Durchführung und gegebenenfalls eine Neuformulierung prägen. Unter den (III.) externen Faktoren und den (IV.) ordnungspolitischen Vorstellungen werden sozio-kulturelle oder ökonomische Bedingungen beziehungsweise beherrschende politische Ideen und Konzepte gewichtet, die das zu analysierende Politikfeld prägen. Leitbild der Policy-Analyse ist mithin die Annahme, dass die einzelnen Phasen des Policy-Zyklus einer sachlogischen Dynamik verpflichtet sind. Bestimmte Strukturen und Voraussetzungen innerhalb, aber auch außerhalb des eigentlichen politischen Bereichs bedingen dessen innere Dynamik. Zudem beeinflussen sie, was in politisch-administrativen Prozessabläufen umgesetzt werden soll. Durch die Hervorhebung von sachspezifischen 97
Die institutionelle Dimension von Politik – polity – bezeichnet die Verfahrensregelungen, Institutionen und Normen, in dem die beiden weiteren Politikdimensionen ablaufen: Inhalt und Prozess. Die prozessuale Dimension von Politik – politics – stellt auf die Entscheidungsprozesse und Durchsetzung von Interessen und Zielen durch Konsens oder Konflikt ab. Die inhaltliche Dimension von Politik schließlich – policy – verweist auf Inhalte, Aufgaben und Ziele. 98 Vgl.: Wolfgang Schumann, EG-Forschung und Policy-Anaylse. Zur Notwendigkeit, den ganzen Elefanten zu fassen, in: Politische Vierteljahresschrift 2/1991, S. 232-257, hier: S. 233, sowie: Werner Jann, PolicyForschung – ein sinnvoller Schwerpunkt der Politikforschung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 47/83, S.26-38. 99 Vgl. Adrienne Windhoff-Héritier, Policy-Analyse. Eine Einführung, Frankfurt a.M.1987, S.21-42. 100 Policy tritt in vielfältigen Erscheinungsformen auf: Möglich sind so unter anderem das Nicht-Agieren, die Symbolpolitik und konkrete Einzelkonzepte bis hin zur Grundlagenentscheidung. 101 Windhoff-Héritier, Policy-Analyse, S.64-114.
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Zwängen werden die innerhalb eines Policy-Netzes getroffenen Entscheidungen so rational darstellbar. Hierauf aufbauend lässt sich das außenpolitische Interesse eines Staates als Substrat der divergierenden Präferenzen der an der Policy-Gestaltung beteiligten innerstaatlichen Eliten definieren. Entsprechend der liberalen Theorie werden diese durch die verantwortlichen Regierungsvertreter des jeweiligen Einzelstaates zu einem (national-)staatlichen Interesse zusammengeführt.102 Aus sicherheitspolitischer Perspektive werden die Bildung und die Definition des staatlichen Interesses mit der Erwartung verknüpft, das eigene Sicherheitsempfinden innerhalb eines zwischenstaatlichen Systems artikulieren und verwirklichen zu wollen. Wesentlich ist dabei die Vorstellung, Grundaspekte der eigenen Souveränität wahren zu können und/oder andere Akteure (Staaten, Institutionen etc.) des zwischenstaatlichen Systems zu einer Übernahme des eigenen Sicherheitsbegriffes zu bewegen und diesen so dauerhaft zu etablieren. Dieses Ansinnen umfasst folglich sowohl die Definition objektiver Sicherheitsbedrohungen als auch die Beschäftigung mit einer möglichen Reaktion auf diese Bedrohungslagen – etwa in Form des Einsatzes von militärischen Mitteln. Eine Rolle spielen ferner auch rein subjektive Bedrohungsperzeptionen einzelner Akteure, die für andere Beteiligte nur mittelbar nachvollziehbar sind. Entscheidend aber ist die positive Einstellung des einzelnen Akteurs gegenüber der jeweiligen sicherheitspolitischen Zielsetzung. Bezogen auf den Prozess der europäischen Integration lassen sich so drei sicherheitspolitische Dimensionen herausarbeiten, die sich positiv mit dem jeweilig einzelstaatlichen Interesse verbinden. So kann die europäische Integration beispielsweise zunächst, im Sinne des realistischen Konzepts der balance of power, als ein Mittel gesehen werden, das relative Machtgewicht der europäischen Gemeinschaft (I.) nach außen und (II.) nach innen zu stärken. Erweitert man diese Vorstellung um eine ideologische Dimension, (III.) müsste Europa auf Grund seiner geopolitischen Situation und seiner finanziellen und militärischen Ressourcen sowie Potenziale zu einem wichtigen Akteur im zwischenstaatlichen System aufsteigen. In Umkehrschluss könnten die Mitgliedstaaten dadurch eine Aufwertung ihres eigenen Einflusses erwarten. Hinsichtlich eines geopolitisch motivierten Interesses muss angenommen werden, dass dieses zwischen den einzelnen Staaten deutlich variiert, innerhalb eines betrachteten Staates jedoch konstant ist. Weiterhin werden einzelstaatliche Interessen mit den jeweiligen geopolitischen Gegebenheiten in Relation stehen. Veränderungen auf diesem Feld sollten demnach auch einen Wandel des staatlichen Interesses nach sich ziehen. Die generellen Politikziele sollten Konformität mit den Zielsetzungen in einzelnen Politikbereichen, beispielsweise mit der Militär- und Sicherheitspolitik, aufweisen. Schließlich steht zu erwarten, dass im Wesentlichen die Staats- und Regierungschefs, die Außen- und Verteidigungsminister ebenso die Öffentlichkeit im Prozess der Bildung des geopolitisch-motivierten, staatlichen Interesses involviert sind. Dabei können diese Akteure, aufgrund divergierender Verprägungen und politischer Einstellungen, durchaus unterschiedliche Motivationen und Zielsetzungen verfolgen. Gerade innerhalb eines Regierungsapparates ist aber – auch aufgrund des jeweiligen Konformitätsgebots – von der Annahme einer in Übereinstimmung gebrachten Haltung zu einem Politikfeld auszugehen.103 Ferner ist davon auszugehen, dass, solange aus einer unilateral praktizierten Politik zumindest gleich hohe Vorteile wie aus einer multilateralen Zusammenarbeit erwartet werden können, für staatliche Akteure kaum 102 103
Moravcsik, Preferences and Power, S.39. Vgl. Moravcsik, The Choice for Europe, S.34-35.
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ein Anreiz dazu besteht, integrativen Strukturen beizutreten. Wenn jedoch durch eine zwischenstaatliche Kooperation negative äußere Einwirkungen vermieden werden können, ja konkrete Vorteile durch sie überhaupt erst ermöglicht oder gar höhere Vorteile wahrscheinlich werden, ergibt sich im einzelstaatlichen Interessenbildungsprozess ein Drang hin zu einer zwischenstaatlichen Kooperation. Welche Zielsetzungen von welchen Akteuren angestrebt werden und welche Positionen sie bei der Formulierung ihrer Interessen einnehmen, ist also vom jeweils einschlägigen Politikfeld abhängig. Weiter ist davon auszugehen, dass Regierungen nur jene Positionen als staatliches Interesse formulieren, für die infolge eines innerstaatlichen Erörterungsprozesses der relevanten Akteure ein Konsens gefunden werden konnte. Für diese Annahme sprechen der Legitimationsbedarf von Regierungen und ihr übergeordnetes Ziel der Bestandsicherung. Nimmt man als Beispiel eine demokratische Regierungsform, so ist die Regierung zudem bestrebt, die Interessen der relativ bedeutendsten Wähler- und Interessengruppen zu vertreten. Nur so kann sie ihre eigene Machtbasis dauerhaft erhalten.104 Weiter ist erneut festzuhalten, dass staatliches Interesse immer zuerst einen innerstaatlichen Formierungsprozess durchläuft. Dieser Prozess ist durch divergierende Anzahl von Akteuren und unterschiedliche Motivationen und Voreinstellungen geprägt. Aus dem so generierten staatlichen Interesse lassen sich inhaltliche Positionen ableiten, die von den jeweils einschlägigen staatlichen Akteuren auf der Ebene der zwischenstaatlichen Politik vertreten werden. In der Regel wird dabei eine möglichst optimale, sprich umfängliche Durchsetzung des eigenen Interesses im zwischenstaatlichen System angestrebt. 1.4 Verhandlung der staatlichen Interessen auf der Ebene des zwischenstaatlichen Systems Betrachtet man die Verhandlung der staatlichen Interessen auf Ebene des zwischenstaatlichen Systems, kann zunächst festgestellt werden, dass sich Regierungen – getreu den sie leitenden Interessen – bestimmte Präferenzen setzen und im Laufe von multilateralen Verhandlungsprozessen nach Lösungen streben, die für ihre jeweilige Absicht – hinsichtlich Realisierbarkeit, aber auch mit Blick auf mögliche Negativeffekte – eine möglichst optimale Verteilung von Kosten und Nutzen bedeuten. Voraussetzung hierfür sind gemäß der intergouvernementalen Verhandlungstheorie drei Prämissen.105 Zunächst wird davon ausgegangen, dass (I.) die zwischenstaatlichen Abstimmungsverfahren freiwillig zustande kommen. Werden weder politische, wirtschaftliche, militärische oder andere Druckmittel verwendet, besteht für die beteiligten Regierungen dauerhaft die Möglichkeit, den Verhandlungsprozess vollständig zu beenden, diesen zu blockieren oder ihn in eine alternative Richtung zu lenken. Auch wird weiter davon ausgegangen, dass (II.) die Kosten des jeweiligen Abstimmungsprozesses der beteiligten Akteure niedriger sind als der aus der angestrebten Gemeinschaftslösung zu erwartende Gewinn. Als dritte Prämisse steht die Annahme, dass (III.) das Verhandlungsergebnis das jeweilige relative Verhandlungsgewicht der beteiligten Akteure widerspiegelt. Zwischenstaatliche Verhandlungsabläufe sind zudem häufig von
104
Andrew Moravcsik, Negotiating the Single European Act, in: Robert Keohane / Stanely Hoffmann,(Hrsg.), The New European Community: Decisionmaking and Institutional Change, Boulder 1991, S.41-85. 105 Moravcsik, The Choice for Europe, S.60-64.
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asymmetrischen Interessenlagen zwischen den einzelnen Akteuren geprägt.106 In der Regel wird daher von einer Interessenhierarchie ausgegangen. Dieses Gefälle ist zumeist der Anlass für das Eingehen von Kompromissen: Je höher ein Akteur eine bestimmte Zielsetzung gegenüber anderen Zielsetzungen bewertet, desto eher ist er bereit, zur Erlangung dieses übergeordneten Interesses, Konzessionen auf anderen Feldern einzugehen. Zudem wird angenommen, dass ein Verhandlungsergebnis von drei Faktoren abhängig ist.107: So bestimmt (I.) der Wert einer unilateralen policy-Alternative die Verhandlungslinie des jeweiligen Akteurs und den Bereitschaftsgrad, ein Scheitern der Verhandlungen anzudrohen (Unilateral policy alternatives (threats of non agreement)). (II.) Ebenfalls bestimmend für die Verhandlungsposition der Akteure sind alternative Kooperationsmöglichkeiten (coalitional alternatives). Schließlich ist (III.) das Verhandlungsergebnis davon abhängig, welche Möglichkeiten sich für die Verknüpfung von behandelten Themenfeldern ergeben (Issue-linkage und package deals). Wie bereits oben dargelegt, ist die Überlegung, dass die aus einer Integration zu erwartenden Gewinne für den einzelnen Akteur ungleich höher seien als jene aus der besten unilateralen Alternative, wesentlich für das Handeln der Integrationsteilnehmer. Im Umkehrschluss bedingt dies das gewichtigste Verhandlungsinstrument jedes Akteurs: eine mögliche Übereinkunft durch eine Blockade oder gar von vorneherein durch eine Nichtteilnahme zu verhindern. Dieses Mittel ist jedoch nur dann überzeugend, wenn zumindest eine unilaterale Alternative existiert. Trifft dies zu, verbürgen die sogenannten threats of nonagreement, dass die erzielten Verhandlungsergebnisse für alle Beteiligten ein positives Ergebnis darstellen. Die relative Verhandlungsposition erwächst folglich immer auch aus der Option einer unilateralen Alternative. Je attraktiver diese in der Binnenwahrnehmung ist, desto nachdrücklicher wird der entsprechende Akteur im zwischenstaatlichen System sein Interesse vertreten.108 Wo alternative Kooperationen möglich sind, muss der verhandelnde Akteur nicht nur die unilaterale policy-Alternative bei seiner Entscheidungsfindung mit berücksichtigen, sondern zudem den Wert der Alternativkooperation abschätzen und berücksichtigen, wie sich dieser Wert in etwa verändern könnte, wenn andere Akteure an dieser (Alternativ-)Kooperation teilnehmen. Die Beurteilung der eigenen optimalen Verhandlungsstrategie wird so deutlich komplexer. Nicht nur das Beispiel des europäischen Integrationsprozesses zeigt, dass aus der Möglichkeit von Alternativkooperationen die Tendenz zu flexibilisierteren Integrationskonzepten erwächst.109 Das Vorhandensein einer oder mehrerer alternativer Kooperationsmöglichkeiten bedingt auch den Faktor der sogenannten threats of exclusion: Nur solange eine alternative Kooperationsmöglichkeit vorhanden ist, können jene Akteure, die aufgrund einer unnachgiebigen Verhandlungslinie den Abstimmungsverlauf behindern, mit einem Ausschluss beziehungsweise einer Nichtberücksichtigung ihrer Interessen bedroht werden.110
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Vgl.: Moravcsik, Preferences and Power, S.52. Ebenda, S.55, auch: Moravcsik, The Choice for Europe, S.63. 108 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Alternative nicht im Ausgangsstatus liegt. Die Alternative liegt vielmehr in einem möglichen Zusammenschluss ohne den nicht-integrationswilligen Akteur. 109 Als flexibilisierte Integrationskonzepte mit verschiedene Geschwindigkeiten sind z.B.: die abgestufte Integration, die differenzierte Integration, das „Europa à la carte“ sowie ein „Europa der variablen Geometrie“ anzuführen. Siehe: Giering, Zweckverband und Superstaat, S.99-108. 110 Vgl.: Moravcsik, Preferences and Power, S.59. 107
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Zumeist wird im internationalen System ein staatliches Interesses nie isoliert, sondern im Verbund mit anderen Zielsetzungen erörtert. Dies gilt im besonderen Maße für den europäischen Integrationsprozess, bei dem gemeinhin die Bildung sogenannter package deals – also der Bündelung mehrerer Themenfelder zu einem Verhandlungsblock – als wesentliches Moment für das Voranschreiten des Integrationsprozess ausgemacht wird. Bei den package deals kommt es zur Austarierung der divergierenden Interessen der einzelnen Akteure. Ansatzpunkt ist die Tatsache, dass Teilnehmer an einem Integrationsprozess durchaus unterschiedliche Prioritätensetzungen für unterschiedliche Verhandlungsfelder haben und ihre Interessen unterschiedlich gewichten. So kann es beispielsweise sein, dass ein marginaler Gewinn auf einem Feld für einen Akteur wichtiger ist, als ein vermeintlich größerer auf einem anderen. In Form von issue linkages, also der Verknüpfung von Themenfeldern, wird daher durch package deals versucht, komplizierte Interessendivergenzen zu überwinden. Das es hierbei zu Verteilungsproblematiken kommen kann, ist augenscheinlich. So werden für die beteiligten Akteure aus den package deals nicht ausschließlich Ergebnisse hervorgehen, die mit den am Anfang des Verhandlungsprozesses formulierten Interessen absolut übereinstimmen. Da diese auf der Akteursebene – im vorliegenden Fall jene der Einzelstaaten – auf Widerstand treffen können, werden package deals zumeist nur dann abgeschlossen, wenn die entstehenden Negativimplikationen einen bestimmten Rahmen nicht überschreiten.111 1.5 Zusammenfassung Zusammenführend muss zum theoretischen Analyserahmen der vorliegenden Untersuchung feststellen werden, dass – vor dem Hintergrund des jeweiligen sicherheitspolitischen Grundüberzeugungen Frankreichs und Deutschlands – insbesondere auf französischer Seite die Wahrung der staatlichen Eigenständigkeit vorherrschend ist. Daher kommt dem theoretischen Ansatz des Intergouvernementalismus für die vorliegende Untersuchung eine zentrale Rolle zu. Auf deutscher Seite ist demgegenüber eine gewisse Tendenz zur Verlagerung einzelstaatlicher Kompetenzen an ein zwischenstaatliches Kooperationsorgan zu beobachten. Daher gilt es zudem, Aspekte des (Neo-)Funktionalismus zu berücksichtigen. Die Zusammenschau der Analyseinstrumente beider Integrationsmodelle soll es ermöglichen, die Schaffung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Resultat unterschiedlich gearteter staatlicher Interessenlagen zu beschreiben. Beide Theorieansätze werden vornehmlich durch die Einbindung der policy-Analyse zum Einsatz gebracht. Funktionale und strukturelle Triebkräfte der bilateralen Sicherheits- und Verteidigungskooperation sollen so ermittelt und beschrieben werden. Dabei ermöglicht gerade die policy-Analyse die Bestimmung der jeweiligen politischen Voraussetzungen und Grundüberzeugungen, die zur Einführung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geführt haben. Erkenntnisfördernd erscheint es zudem – mit Blick auf die Gewichtung der Verhandlungseffizienz – weniger die Darstellung möglicher alternativer Verhandlungsoptionen als vielmehr die Fokussierung auf eine Beschreibung des Prozessablaufes und die Beurteilung seines Ergebnisses vor dem Hintergrund der jeweilig zugrunde gelegten staatlichen Interessen zu leisten. Hierfür ist es sinnvoll, jene Ausgangsinteressen, die vor Einsetzen des Abstimmungsprozesses aus dem staatlichen Interesse abgeleitet werden konnten, mit den tat111
Moravcsik, Preferences and Power, S.61.
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sächlich erreichten Verhandlungs- und Umsetzungsergebnissen zu vergleichen und zu gewichten. Auf diesem Wege kann eine Aussage über Erfolg oder Misserfolg der zwischenstaatlichen Verhandlungen aus Sicht des jeweiligen Akteurs getroffen werden. Weiter gilt es zu berücksichtigen, welcher Akteur sich in den Kernbereichen des verhandelten Projektes am besten positionieren und wer seine Interessen in Einzelfragen durchsetzen konnte. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das erzielte Ergebnis sowohl von den generellen sicherheitspolitischen Überzeugungen der verhandelnden Regierungen bestimmt wird, als auch von der relativen Intensität, mit der sie bestimmte Aspekte und Einzelfragen verfolgten. Grundlegend für diese Überlegung ist die Annahme, dass – wie oben ausgeführt – zwischen einzelnen Regierungen Asymmetrien in der relativen Intensität bestimmter staatlicher Interessen auszumachen sind. Es erscheint daher sinnvoll, neben einer ausschließlichen Betrachtung des bilateralen Bedingungsfeldes, auch Positionen von vermeintlich externen Akteuren zu berücksichtigen, die auf den Abstimmungsprozess mittelbar oder unmittelbar Auswirkungen hatten. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeutet dies eine hinreichende Beachtung der Positionen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Nordatlantischen Allianz (NATO) sowie der europäischen Partner, hier vor allem Großbritanniens. Durch die vorgenommene Verbindung der Theorie der Bildung staatlicher Interessen auf der einen und der Analyse zwischenstaatlicher Verhandlungen unter Zuhilfenahme wesentlicher Überlegungen der Theorien des Intergouvernementalismus und des (Neo-)Funktionalismus auf der anderen Seite, ergibt sich ein zweischichtiges Darstellungsgefüge, welches für die Analyse der deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung angewandt wird. Hierfür werden die jeweiligen Interessen Deutschlands und Frankreichs an einer Kooperation in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch die Nachzeichnung des bilateralen Abstimmungsprozesses erarbeitet. Weiterführend wird dann deren Einbettung in den europäischen und atlantischen Sicherheitsrahmen analysiert. Auf diesem Wege soll ein Aussagewert darüber gewonnen werden, inwiefern beide Staaten ihre jeweiligen Interessen umsetzen und wahren konnten. Das erzielte Verhandlungsergebnis muss ebenfalls in zwei Dimensionen bewertet werden: Zum einen hinsichtlich des Verlauf und der Effizienz des Verhandlungsprozess selber und zum anderen hinsichtlich der Gewichtung der Verhandlungsergebnisse vor dem Hintergrund der jeweiligen Ausgangsinteressenlage.
2 Grundzüge der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Frankreichs und (West-)Deutschlands in den Jahren 1949 bis 1989
Eine angemessene Beurteilung der deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Jahre 1990-2000 ist nicht möglich ohne eine generelle Betrachtung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Vorstellungen Frankreichs und (West-)Deutschlands zur Zeit des Kalten Krieges. Hierbei sind, neben den die jeweilige nationale Sicherheitspolitik beherrschenden Konzepten und Tendenzen, vor allem die spezifischen Ausprägungsformen der bilateralen Kooperation von Interesse. In der folgenden Zusammenfassung sollen deshalb die verteidigungspolitischen Konzeptionen beider Länder im Wesentlichen unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: (I.) Grundcharakteristika und (II.) Schwerpunkte der bilateralen Kooperation. Mit Blick auf den eigentlichen Bearbeitungsschwerpunkt im Zeitraum 1990-2000 wird dabei die Zeichnung eines umfassenden Bildes hinter der Profilierung der Leitmotive zurückstehen. 2.1 Grundcharakteristika 2.1.1 Frankreich Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sah sich die französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit einer grundlegend veränderten strategischen Lage konfrontiert. Die Etablierung einer durch strikte Bipolarität gekennzeichneten europäischen Nachkriegsordnung in Verbund mit dem Beginn des Dekolonisationsprozesses beschnitt Frankreichs Fähigkeit, autark außenpolitische Akzente zu setzen, nahezu vollständig. In diesem neuen außenpolitischen Rahmen – von französischer Seite ablehnend als „System von Jalta“112 identifiziert – erlebte die notorisch schwache IV. Republik dann auch eine Abfolge von außenpolitischen Rückschlägen, deren Bogen vom Verlust Indochinas über die Suez-Krise bis zu der sich verschärfenden algerischen Frage reichte. Das „System von Jalta“, ebenso wie der aus dem Schwarz-Weiß-Schema der Bipolarität resultierende Konformitätsdruck, lasteten auf der Außenpolitik der europäischen Mittelmacht Frankreich und reduzierten deren Handlungsspielräume nachhaltig.113 Erst mit der Einsetzung Charles de Gaulle als
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In Yalta bzw. Jalta auf der Krimhalbinsel, teilten die „.drei Großen“ Kriegsalliierten Großbritannien, Sowjetunion und USA im Februar 1945 das Nachkriegseuropa in Einflusssphären auf. Es war maßgeblich Charles de Gaulle, der die „Jalta-Formel“ prägte, vgl.: Hans-Dieter Lucas, Europa vom Atlantik bis zum Ural? Europapolitik und Europadenken im Frankreich der Ära de Gaulles (1958-1969), Bonn & Berlin 1992, S.43; Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart 1997, S.35. Vgl.: Stanley Hoffmann, La France dans le nouvel ordre européen, in : Politique étrangère 3/1990, S.503-512, hier : S.512; auch : Klaus Manfrass, Das deutsch-französische Verhältnis nach der historischen Zäsur des Jahres 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1995/B 30, S.11-18, hier: S.11-12.
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Staatsoberhaupt und der Errichtung der V. Republik im September 1958114 schien sich für Frankreich ein Weg aus dieser starren Konstellation zu eröffnen. De Gaulle, als Staatspräsident in der neuen Verfassung der V. Republik zentraler Sachwalter in der Außen- und Sicherheitspolitik,115 nahm bald nach seinem Amtsantritt hier grundlegende Weichenstellungen vor und verpflichtete Frankreich auf ein Leitbild, welches auch für seine Nachfolger geradezu verbindlich sein würde. De Gaulles erklärtes Ziel war es, Frankreich zur „grandeur“, zur Größe zurückzuführen. Die Konzeption hierfür lautete: Rückführung Frankreichs nach Europa als Plattform einer neuen Rolle Frankreichs in Europa und dadurch in der Welt.116 Dieses an das strategische Konzept der inneren Linie117 erinnernde Konzept bot Frankreich die Möglichkeit, sich nach einer Phase der imperialen Überdehnung neu zu formieren und sich neue außen- und sicherheitspolitische Handlungsspielräume zu erarbeiten. Einen der Hauptpfeiler bildete dabei eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die den Schutz des französischen Kernlandes autark gewährleisten konnte.118 So sollte die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass Frankreich innerhalb des globalen Machtkonzerts wieder an Gewicht gewann. Es war in sich logisch, dass de Gaulle seinen diesbezüglichen Schwerpunkt in der Nuklearpolitik setzte. Zunächst versuchte Frankreich Ende der 1950er Jahre eine gleichberechtigte Mitsprache bei den Planungen zum Einsatz der Nuklearwaffen der Atlantischen Allianz zu erhalten. Als dies – wie von de Gaulle erwartet119 – scheiterte, forcierte Frankreich sein bereits in der Spätphase der IV. Republik begonnenes eigenes Atomprogramm,120 welches am 13. Februar 1960 mit der Detonation der ersten französischen Atombombe in Reggane/Sahara eine konkrete Form bekam. Die so vorangetriebene Autarkisierung des französischen Verteidigungsapparates war keineswegs nur bloße Reaktion auf die strategische Lage in Europa; sie war zugleich eng verknüpft mit der in der klassischen Souveränitätslehre formulierten Pflicht eines Staates, zur selbstständigen Verteidigung seines Territoriums befähigt zu sein.121 Hieraus erwuchs dann in der Frühphase der V. Republik ein Junktim zwischen der staatlichen Legitimität Frankreichs einerseits und seiner Fähigkeit zur Selbstverteidigung andererseits. Folgerichtig beruhte auch die 114
Udo Kempf, Von de Gaulle bis Chirac. Das politische System Frankreichs, 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 1997, S.21-23. 115 Im exekutiven Bereich der Verteidigungspolitik fungiert zudem der Verteidigungsrat (Conseil de Défense) seit den 1960er Jahren als zentrales Entscheidungsorgan. Dem Verteidigungsrat, der die politischen Leitlinien definiert, sind zwei Ausschüsse beigeordnet. Dem (I.) Comité de Défense obliegt die allgemeine Ausrichtung der Verteidigung, während Entscheidungen militärischen Inhalts im (II.) Comité de défense resteint getroffen werden. Der Staatspräsident hat in diesen Gremien den Vorsitz. Der Premierminister wiederum bereitet die Sitzungen des Verteidigungsrates und auch der verteidigungspolitischen Ausschüsse vor und gewährleistet die Implementierung der Entscheidungen durch die Regierung. Zu diesem Zweck steht dem Premierminister ein Koordinierungsgremium, das Secrétariat Général de la Défense Nationale (SGDN) zur Verfügung, das personell aus den verschiednen Ministerien beschickt wird. 116 Vgl.: Ingo Kolboom, Ernst Weidenfeld (Hrsg.), Frankreich in Europa. Ein deutsch-französischer Rundblick, Bonn 1993, S.30. 117 Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Ungekürzter Text, 2. Auflage, Berlin 1999, S.376-383. 118 Vgl.: Friedrich von Krosigk, Französische Außenpolitik im Spannungsfeld von Mondialismus und Europäischer Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1989/B 39, S.35-45, hier: S.35. 119 Lucas, Europapolitik in der Ära de Gaulle, S.110-111. 120 Bereits in der Vierten Republik war die Atombewaffnung von ihren Befürwortern dazu auserkoren wurden, Frankreichs Ansehen zu stärken und das Land innerhalb der Atlantischen Allianz zumindest auf die gleiche Stufe mit Großbritannien zu stellen. 121 Beides aber war solange nicht gewährleistet, wie die Verteidigung des Staates im Wesentlichen von der Sicherheitsgarantie eines anderen Staates oder einer multinationalen Organisation wie der NATO abging.
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französische Verteidigungsstrategie, anders als jene der NATO,122 auf der Doktrin einer Kriegführung bis zum Äußersten. Fokussiert wurde das Verständnis im Begriff der „dissuation“ (Abratung). Naheliegend war ferner, dass der so in der Außen- und Sicherheitspolitik zentral gesetzte Souveränitätsgedanke auch noch eine andere Konsequenz hatte: Er war letztlich unvereinbar mit einem Beistandsautomatismus, wie ihn der Artikel 5 des Washingtoner NATO-Vertrags vorgab. Die Frage nach der Verlässlichkeit des Beistandsautomatismus beschäftigte nicht nur mit Blick auf die eigene Situation. Für Paris ging es vor allem um eine Frage: Wie würden sich die Vereinigten Staaten im Falle eines bewaffneten Konfliktes in Europa verhalten? Riskierte man in Washington wirklich einen atomaren Angriff auf das eigene Territorium, um Westeuropa vor dem sowjetischen Zugriff zu bewahren? An der Seine überwogen die Zweifel. Man befürchtete, dass die Vereinigten Staaten im Kriegsfall Europa sich selbst überlassen würden.123 Gerade für de Gaulle, Teilnehmer zweier Weltkriege, in denen sich nach seiner Einschätzung124 die Vereinigten Staaten jeweils erst viel zu spät an die Seite Frankreichs gestellt hatten, war dieses Szenario weit weniger abstrakt als für so manchen Atlantiker in Bonn, London oder Brüssel. Ausgehend von der Grundprämisse des französischen Strebens nach einem starken Europa als Träger einer kraftvollen französischen Außenpolitik und dem Zweifel an der Beistandstreue der Vereinigten Staaten stellte sich für die französische Führung zwangsläufig die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Verbleibens eigener militärischer Kräfte in den integrierten Strukturen der NATO. Schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre war es daher wiederholt zu Spannungen zwischen Paris und Washington gekommen, die vornehmlich konträre Vorstellungen über Mitspracherechte und Abstimmungsverfahren zum Gegenstand hatten. Im Frühjahr 1966 zog Paris dann die sicherheitspolitische Konsequenz. De Gaulle erklärte gegenüber dem amerikanischen Präsident Lyndon B. Johnson, sein Land sei zu dem Schluss gekommen, die Weltlage und die eigene Situation rechtfertigten nicht länger seinen Verbleib in der Atlantischen Allianz. Daher beabsichtigte „…Frankreich, auf seinem Gebiet die volle Ausübung seiner Souveränität […] zurückzugewinnen, seine Teilnahme an den „integrierten“ Kommandos zu beenden und der NATO keine Streitkräfte mehr zur Verfügung zu stellen.“125 Frankreichs Rückzug aus den Strukturen der NATO markierte aber auch den Schlusspunkt einer Abfolge von diplomatischen Rochaden, die dazu dienen sollten, Frankreichs diplomatisches Gewicht und sein Prestige zu erhöhen. Dabei war es wohl nicht die vorrangige Absicht de Gaulles gewesen, die Atlantische Allianz prinzipiell in Frage zu stellen, sondern einen Ausweg aus der Arithmetik der Bipolarität hin zum Tableau der Multipolarität zu schaffen. Inwieweit hierbei jedoch das Provozieren diplomatischer Konflikte mit der gebotenen Artikulation der eigenen Standfestigkeit verwechselt wurde, war allerdings nicht nur außerhalb Frankreichs umstritten.126 Frankreichs NATOAustritt hebt zugleich aber eine Grundtatsache hervor: Außen- und Sicherheitspolitik war
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Der sogenannten flexible response, die konventionelle Gefechte und einen begrenzten Atomkrieg umfasste. Charles De Gaulle in seiner Pressekonferenz vom 21. Februar 1966, abgedruckt in: Hans Stercken (Hrsg.), Vive la France – vive l’Europe! Aus den Reden Charles de Gaulles 1958-1968, München 1969, S.195. 124 Vgl. exemplarisch: Charles de Gaulle, Memoiren. Der Ruf 1940/41, Frankfurt am Main 1955, S.191-194 oder: ders., Memoiren der Hoffnung. Die Wiedergeburt 1958-1962, Wien et. al.1971, S.204-206. 125 De Gaulle in seiner Botschaft an Lyndon B. Johnson vom 7. März 1966, abgedruckt in: de Gaulle, Reden, S.197. 126 Alfred Grosser, Frankreich und seine Außenpolitik. 1944 bis heute, München 1989, S.322. 123
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für de Gaulle das zentrale Politikfeld. Das mit ihm verbundene Prestige war in gewisser Weise der Kitt, der das politische Gefüge der V. Republik zusammenhielt. In der sich anschließenden Phase bis zum Ende des Kalten Krieges verfolgten die Staatspräsidenten Georges Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und François Mitterrand den von de Gaulle eingeschlagenen Weg in der Außenpolitik konsequent. Auch die in den 1960er Jahren gefundene diplomatische Positionierung, gleichsam der acquis der Ära de Gaulle, hatte verpflichtenden Charakter. Unter de Gaulles Nachfolgern im Präsidentenamt galt, dass Frankreich sich mit der gegebenen Weltlage abzufinden hatte – freilich nicht ohne darauf bedacht zu sein, diese so umfangreich wie möglich zum eigenem Vorteil zu gestalten. Im besonderen Maße traf dies für das eigene Verhältnis zum Atlantischen Bündnisses zu. Durch seinen Schritt vom Frühjahr 1966 hatte es Frankreich vermocht, eine Stellung einzunehmen, in der ihm alle Vorteilte der NATO zu teil wurden, ohne sich in ihre Hierarchie eingliedern zu müssen. Ermöglicht wurde diese Konstellation vor allem durch den Umstand, dass atlantisches und französisches Sicherheitsinteresse in diesem Zeitraum weitgehend kongruent waren.127 Ein anderes zentrales Anliegen de Gaulles, der Aufbau eines Europas, welches als Verstärkung der Stimme Frankreichs in der Welt hätte gelten können, konnte allerdings auch im Verlauf der 1970er und 1980er nicht erreicht werden. Zwar gelangen gewisse Achtungserfolge, wie etwa der Ausbau der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG), die nicht nur aus französischer Sicht wichtigen Lomé-Abkommen, der KSZEProzess oder schließlich die Wiederbelebung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Vor dem Hintergrund der strategischen Bipolarität bedeutete dies alles allerdings kein wirkliches politisches Gewicht. Hinzu trat, dass die von de Gaulle als komplementär zum Aufbau Europas verstandene Positionierung der französischen Diplomatie als Avantgarde der Ost-West-Entspannung nach respektablen Anfangserfolgen deutlich erlahmte und sich mehr und mehr in protokollarischen Pflichtübungen erschöpfte.128 Überhaupt schien die hohe Kontinuität, welche die französische Außen- und Sicherheitspolitik nach de Gaulle prägte, nicht für seine großen Entwürfe zu gelten. Es ist augenscheinlich, dass sich nach den ambitionierten dessins der Ära de Gaulle in den Folgejahren ein, alles im allen, bescheidenerer Rahmen etablierte. Dabei verstanden sich sowohl Georges Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und François Mitterrand dem Beispiel ihres großen Vorgängers verpflichtet und im besonderen Maße für die Außenpolitik zuständig. Dennoch überwogen im Vergleich zu den 1960er Jahren die reaktiven Elemente und eine Ausrichtung auf eine Fortschreibung des Status quo. Auch das wiederholte, aber immer operativ und zeitlich begrenzte, militärische Engagement in Afrika oder im Arabischen Raum legt hiervon Zeugnis ab. Auch die verstärkten europäischen Initiativen in Mitterrands erster Präsidentschaft129 können diesen Eindruck nicht widerlegen. Zwar suchte Mitterrand nach einem neuen europäischen Gleichgewicht, diesmal in der Annäherung an Großbritannien und Italien als Gegengewicht zur Partnerschaft mit der Bundesrepublik – letztlich blieben die Erträge dieser 127
Grosser, Frankreichs Außenpolitik, S.349-351. Parallel zum Aufkommen der „Neuen deutschen Ostpolitik“ begann Frankreichs Bedeutung im Ost-WestDialog zu schrumpfen. 129 Auch hier war die absolut gesetzte nationale „Größe“ (grandeur) Frankreichs der Sockel für dessen außenpolitischen Anspruch. Diesen fasste Mitterrand in folgender Formel zusammen: « Il est dans la nature d’une grande nation de concevoir de grands dessins. » vgl.: François Mitterrand, Réflexions sur la politique extérieure de la France. Introduction à vingt-cinq discours, Paris 1986., S.140. 128
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Politik jedoch bescheiden und Frankreich kehrte wieder auf die angestammten außenpolitischen Wege zurück. 2.1.2 Bundesrepublik Deutschland Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 galt das Hauptaugenmerk der sich neu definierenden Sicherheits- und Verteidigungspolitik Westdeutschlands der Einbettung in ein möglichst stabiles, militärisches Bündnissystem. Vor dem Bedingungshintergrund eines den Westalliierten und später auch der Bundesrepublik gegenüber periodisch aggressiv auftretenden sowjetischen Machtapparats, sollte gerade die dauerhafte Verpflichtung der Vereinigten Staaten auf die (west-)deutsche Sicherheit gefestigt werden. Hinzu kam, dass die beiden potenziellen europäischen Partner, Frankreich und Großbritannien, weder über ein annähernd gleichwertiges militärisches Potenzial verfügten, noch – auch in Anbetracht der Erosion ihrer Kolonialreiche – über den nötigen politischen Willen zu verfügen schienen, der Bundesrepublik eine der amerikanischen Schutzmacht vergleichbare Garantie anzubieten. Gerade das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die nach hoffnungsvollen Anfängen schlussendlich am 30. August 1954 durch die französische Nationalversammlung abgelehnt wurde, wurden als hierfür exemplarisch empfunden.130 Die sicherheitspolitische Ankoppelung an Washington war damit seit Gründung der Bundesrepublik aus Bonner Sicht eigentlich alternativlos. Auch daher kam als Rahmen für eine deutsche Wiederbewaffnung mithin nur die bündnispolitische Integration in die Atlantische Allianz in Frage. In Übereinstimmung mit gleichlautenden Überlegungen in den Vereinigten Staaten, die angesichts der starken konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion in Europa dafür plädierten, die militärischen Potenziale der westeuropäischen Staaten besser auszuschöpfen, kam es daher im Jahr 1955 zur Aufstellung der Bundeswehr. Parallel wurde die Bundesrepublik im Mai 1955 in die NATO aufgenommen. Das Besatzungsstatut wurde aufgehoben und die Präsenz alliierter Streitkräfte durch einen Stationierungsvertrag geregelt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen erhielt die Bundesrepublik damit volle staatliche Souveränität.131 Die militärische Sicherheitspolitik (West-)Deutschlands war damit zugleich aber auch auf multilaterales Handeln festgeschrieben. Dies im Verbund mit einer exponierten Lage in der Ost-WestKonfrontation prägte die sicherheitspolitischen Ideenkreise der Bundesrepublik nicht nur bis zum Jahr 1989 nachhaltig. Weiteres Charakteristikum der bundesdeutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik war das Streben nach einer Rehabilitierung Deutschlands im internationalen und gerade im europäischen Umfeld. Dabei versprach die strikte Verfolgung des Kooperationsgedankens die Überwindung überkommener antagonistischer Schemata. Dies galt im besonderen Maße für eine mögliche Annäherung an Frankreich, hatte sich hier doch eine, in der Vergangenheit als nahezu unausweichlich angenommene, Konfrontationsstellung der beiden europäischen Zentralmächte wiederholt unheilvoll ausgewirkt.132 Aber auch der Zusammen130
Ernst Weisenfeld, Das Scheitern der Europa-Armee. Die erste Phase der Europa-Politik fand vor 40 Jahren ihr Ende in Paris, in: Dokumente 1994, S.281-286. 131 Hans Rattinger, Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung in ihre bündnispolitischen Grundlagen, Berlin 1988, S.17-20. 132 Ursprünglich war der französische Vorschlag zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft aus einem Widerspruch entstanden. Dieser bestand zwischen der immer lauteren Forderung (vor allem in den Ver-
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schluss der westeuropäischen Staaten, von der deutschen Seite seit Beginn der 1950er Jahre mit Nachdruck verfolgt, ging für Bundeskanzler Konrad Adenauer und seine Nachfolger deutlich über die Idee eines bloßen Konsultationsforums hinaus. Anders als Frankreich sah man in dem angestrebten europäischen Verbund dabei aber weniger den Sockel für ein umfassenderes außenpolitisches Programm als vielmehr den eigentlichen Zielrahmen an. So begriff die deutsche Seite beispielsweise den in den 1970er Jahren begonnenen Ausbau der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) von Anfang an als Teil eines politischen Integrationsprozesses. Überhaupt war die damalige Bundesregierung unter der Leitung von Kanzler Willy Brandt – nach der, von Konrad Adenauer und seinen beiden Nachfolgern erfolgreich betriebenen Etablierung der Bundesrepublik im westlichen Staatensystem – darauf bedacht, sich neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Dieser Zielsetzung folgte vor allem die „Neue deutsche Ostpolitik“ mit ihrer Annäherung an die Staaten des Ostblocks. Auch wenn die sicherheitspolitische Richtschnur dabei unverändert die feste strategische Verankerung im westlichen Bündnis blieb, agierte die Bundesrepublik im Verlauf der 1970er zunehmend selbstbewusster. Dies, im Verbund mit einer gegen Ende der 1970er Jahre zunehmend einer pazifistischen Grundhaltung anheim fallenden westdeutschen Öffentlichkeit, ließ bei den westlichen Verbündeten allerdings Zweifel an der sicherheitspolitischen Standhaftigkeit der Bundesrepublik aufkommen. Das eng mit dem NATO-Doppelbeschluss, also der Debatte um die atomare Nachrüstung des atlantischen Bündnisses, verwobene Ende der Regierung Helmut Schmidt tat hierzu ein Übriges. Auch wenn Bonn schließlich dann doch fest zur Nachrüstung mit Pershing II-Raketen stand, machte die Bundesrepublik zu Beginn der Kanzlerschaft von Helmut Kohl einen sicherheitspolitisch erschöpften Eindruck. An dieser Wahrnehmung konnten auch einzelne neue Initiativen, wie etwa eine Intensivierung der Sicherheitskooperation mit dem französischen Partner, kaum etwas ändern. In seinen Anfängen schon in den 1970er Jahren zu beobachten, drängte sich für die Bundesrepublik jetzt noch stärker der Eindruck eines „Handelsstaates“ auf.133 Als dessen Wesensmerkmal wird gemeinhin die Relativierung traditioneller staatlicher (insbesondere militärischer) Machtmittel in seinen Außenbeziehungen angenommen. Demgegenüber wird in der Außenpolitik eines Handelsstaates die Bedeutung ökonomischem Austausches hervorgehoben. Die „militärisch-politische Welt“ der souveränen Nationalstaaten soll zunehmend von der „Handelswelt“ der nunmehr in friedlichen Austauschbeziehungen miteinander verflochtenen und interdependenten Staaten ersetzt werden.134 Zu dieser Grundhaltung trug allerdings auch die den Umständen des Ost-WestKonflikts geschuldete Fesselung der politischen Souveränität der Bundesrepublik bei, die dieser auf dem Feld klassischen Außenpolitik einen eingeschränkten Handlungsrahmen zuwies. Der Weg einer ökonomisierten, auf staatliche Vernetzung setzenden Außenpolitik
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einigten Staaten) nach einem deutschen Beitrag zur Verteidigung der „Freien Welt“ – besonders akut angesichts des nordkoreanischen Angriffs auf Südkorea mit sowjetischer Billigung und Unterstützung – und der tiefen Abneigung der großen Mehrheit der französischen Öffentlichkeit gegen das Wiedererstehen einer deutschen militärischen Macht. Vgl. auch: Axel Sauder, Souveränität und Integration. Französische und deutsche Konzeptionen europäischer Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges (1990-1993), Baden-Baden 1995, S.123. Am Rande sei hier erwähnt, dass dieser Umstand bis zum Jahr 1989 auch zu einer Art „Arbeitsteilung“ in der bilateralen deutsch-französischen Zusammenarbeit führte. Während sich Frankreich das Feld der Außenpolitik vorbehielt, wo es seine nationale Autonomie und Aktionsfreiheit betonte, war die in ihren Souveränitätsrechten zurückgestufte Bundesrepublik höchstens für das Ökonomische zuständig. Vgl.: David S.Yost, La France dans la nouvelle Europe, in: Politique étrangère 4/1990, S.887-901; hier: S.887.
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war daher naheliegend. Fasst man zusammen, ist ein Charakteristikum der bundesdeutschen Sicherheitspolitik seit ihren Anfängen ihre stark institutionelle Orientierung:135 Gerade die europäische Sicherheit hoffte man vor allem durch Interdependenznetzwerke zwischen den Staaten erreichen zu können. Diese Netzwerke sollten nach dem in Bonn herrschenden Grundkonsens möglichst dauerhaft und formalisiert sein. Zugleich war man sich – vor dem Bedingungshintergrund des Ost-West-Konflikts – über die Unausweichlichkeit der engen sicherheitspolitischen Anlehnung an die Vereinigten Staaten durchgängig bewusst. Daher hatten bis 1989/90 alle anderen diesbezüglichen Kooperationen komplementären bzw. abstützenden Charakter. 2.2 Schwerpunkte der bilateralen Sicherheitskooperation (1949-1989) 2.2.1 Anfangsphase und Elysée-Vertrag Mit Errichtung der IV. Republik hatte sich im Verlauf der zweiten Hälfte der 1940er Jahre in der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine strukturelle Wende vollzogen, die sich zwar in ihren Mitteln, jedoch nicht in ihrer Zielsetzung von derjenigen der III. Republik unterschied. Nach wie vor lautete das Oberthema „Schutz vor Deutschland“.136 Anders als zuvor, sollte dies jedoch nicht mehr durch eine diplomatische und bündnispolitische Isolierung Deutschlands erreicht werden, sondern vielmehr durch die „Verankerung“ des westdeutschen Teilstaates in einem (west-)europäischen Verbund unter französischer Führung.137 Dabei versprach: « …un ancrage plus profond dans la Communauté européenne préviendrait à la fois un Sonderweg allemand et désamorcerait les craintes alliées d’un nouveau Rapallo. »138
Zugleich bot die Forcierung des westeuropäischen Integrationsprozesses für Frankreich, neben sicherheitspolitischen Aspekten, noch weitere Vorteile. Eröffnete doch ein starker, unter Führung Frankreichs stehender, westeuropäischer Verbund die Möglichkeit einer Aufbrechung der bipolaren Staatenordnung. Voraussetzung hierfür war eine auf beiderseitigem Einvernehmen beruhende enge Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik, die den außenpolitischen Einfluss Frankreichs verstärken und zugleich ein Höchstmaß an langfristiger Sicherheit vor möglichen deutschen Alleingängen garantieren konnte.139 Ein Einver-
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Peter Schmidt, Deutsche Sicherheitspolitik im Rahmen von EU,WEU und NATO, in: Außenpolitik, 47. Jg., III/1996, S.211-222, hier: S.221. 136 Vgl.: Hans-Georg Ehrhardt, Die „deutsche Frage“ aus französischer Sicht (1981-1987). Frankreich zwischen deutschlandpolitischen Befürchtungen, sicherheitspolitischen Nöten und europäischen Hoffnungen, München 1988, S.127. 137 Vgl.: Hoffmann, France dans le nouvel ordre européen, S.504. 138 Anne-Marie Le Gloannec, L’Allemagne de l’après-Yalta ou les hauts et les bas d’un double anniversaire, in: Politique étrangère 3/1989, S.411-421, hier: S.419; In Rapallo unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion am 17. April 1922 einen Grundlagenvertrag zur gemeinsamen Zusammenarbeit. Der Name Rapallo steht in Frankreich seitdem als Chiffre für eine deutsche Orientierung nach Osteuropa; vgl. hierzu: Wilhelm G. Grewe, Teilung und Vereinigung Deutschlands als europäisches Problem, Bonn 1991, S.34-35. 139 Wichard Woyke, Frankreichs Außenpolitik von de Gaulle bis Mitterrand, Opladen 1987, S.49.
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nehmen mit Deutschland ließ sich aber nur erreichen, wenn eine Politik der Aussöhnung mit dem ehemaligen „Erbfeind“ verfolgt wurde.140 Für Frankreich galt – wie bereits dargelegt – die nach außen gerichtete und mit eigenen militärischen Mitteln gestützte Schutzfunktion des Staates als Hauptcharakteristikum staatlicher Souveränität.141 Diesem Grundsatz folgte Ende der 1950er Jahre der Ausbau einer eigenständigen französischen Atomstreitmacht („force de frappe“), die ausschließlich dem Schutz des französischen Staatsgebietes, des sog. Sanktuariums („sanctuaire“) dienen sollte.142 Innerhalb dieser Verteidigungskonzeption nahm Westdeutschland eine Schlüsselstellung als strategisches Vorfeld (Glacis) ein.143 Die dieser Politik zugrunde liegende Prämisse einer strategischen Sicherung des französischen Kernlandes war nicht neu. Schon nach Ende des Ersten Weltkrieges hatte Frankreich versucht, den Rhein als eine vorgelagerte Militärgrenze zu setzen.144 In der strategischen Planung der V. Republik kam diese Funktion nunmehr einem anderen deutschen Fluss, der Elbe, zu.145 Neu hinzu trat nunmehr aber, dass die verteidigungspolitische Planung Frankreichs in Westdeutschland auf eine durchaus konvergierende Interessenlage stieß, da auch die Bundesrepublik, als Basis einer eigenständigen Außenpolitik, an einer möglichst dauerhaften militärischen Sicherung gegenüber den Ostblockstaaten interessiert war. Als zu dieser Interessenkonvergenz Anfang der 1960er Jahre auch in Bonn Zweifel an der unbedingten Verteidigungsbereitschaft der Amerikaner in Europa aufkamen,146 beeilte sich die französische Seite, Westdeutschland eine privilegierte Partnerschaft anzubieten, die auf den gemeinsamen verteidigungspolitischen Interessen aufbauen sollte.147 Als Bundeskanzler Adenauer und Staatspräsident de Gaulle am 22. Januar 1963 in Paris den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit (Elysée-Vertrag) unterzeichneten, begründeten sie damit eine enge bilaterale Sonderbeziehung, die innerhalb der Außenpolitik beider Länder beispiellos ist.148 Wichtigste Komponente innerhalb des Ver-
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Vgl.: Ehrhardt, Deutsche Frage, S.104. Ebenda, S.243; die nationale Souveränität genießt in Frankreich einen besonderen Stellenwert; siehe hierzu: Hans Schauer, Nationale und europäische Identität. Die unterschiedlichen Auffassungen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1997/B 10, S.3-13, hier: S.8-9. 142 Vgl.: Valérie Guérin-Sendelbach, Ein Tandem für Europa? Die deutsch-französische Zusammenarbeit der achtziger Jahre. Mit einem Vorwort von Ingo Kolboom, Bonn 1993. S.103; vgl. auch: Roland Höhne, Frankreichs Stellung in der Welt. Weltmacht oder Mittelmacht? in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1991 / B 47-48, S.37-46, hier: S.40-41. 143 Vgl.: Woyke, Frankreichs Außenpolitik, S.143. Frankreich sah vornehmlich Deutschland als Einsatzort seiner Nuklearwaffen an. Dies lässt sich an der Tatsache ablesen, dass der Wirkungsradius ihrer bodengestützten Pluton-Trägerraketen nur 150 km betrug. Das sich an der französischen Strategie-Doktrin vom bundesrepublikanischen Glacis bis zum Jahr 1989 wenig änderte, unterstrich auch der Beschluss des Verteidigungsrates (Conseil de défense) vom 30.Oktober 1981, ab dem Jahr 1992 die Pluton-Raketen durch die ebenfalls bodengestützten Hades-Raketen mit einem Wirkungsradius von 350 km zu ersetzen; vgl.: Guérin-Sendelbach, Ein Tandem für Europa?, S.108. 144 Vgl.: Werner Rouget, Schwierige Nachbarschaft am Rhein. Frankreich – Deutschland, herausgegeben von Joachim Bitterlich und Ernst Weisenfeld, Bonn 1998, S.37. 145 Siehe: Ingo Kolboom, Ernst Weidenfeld (Hrsg.), Frankreich in Europa. Ein deutsch-französischer Rundblick, Bonn 1993, S.29. 146 Vgl.: Woyke, Frankreichs Außenpolitik, S.33. 147 Lucas, Europapolitik der Ära de Gaulle, S.201. 148 Vgl. : Hans-Peter Schwarz, Eine Entente Elémentaire. Das deutsch-französische Verhältnis im 25. Jahr des Elysée-Vertrages. Mit einer Dokumentation von Ingo Kolboom, Erweiterte Neuauflage, Bonn 1990, S.6. 141
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tragswerkes bildete die Außen- und Verteidigungspolitik.149 Beide Länder verpflichteten sich im Elysée-Vertrag, den Partner vor jeder maßgeblichen außenpolitischen Entscheidung zu konsultieren, um so zu übereinstimmenden Positionen zu gelangen.150 Im Bereich der Verteidigungspolitik wurde die Zielsetzung des Vertrages sogar noch konkreter formuliert: Die Ausarbeitung einer gemeinsamen verteidigungspolitischen Konzeption wurde vorgesehen.151 Der Vertrag legte zudem fest, dass sich die Verteidigungsminister wenigstens einmal alle drei Monate treffen sollten. Auch in der konkreten militärischen Zusammenarbeit wurden weitreichende Inhalte angestrebt, wie etwa die Annäherung der jeweiligen Auffassungen auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik, eine Verstärkung des Personalaustausches zwischen den Streitkräften oder eine Ausarbeitung gemeinsamer Rüstungsvorhaben.152 Der französischen Seite ging es dabei allerdings weniger um ein wirkliches verteidigungspolitisches Zusammengehen mit Deutschland153 als vielmehr um die dauerhafte Bindung Westdeutschlands an die eigene strategische Planung.154 Die im Vertragswerk von 1963 statuierte Verteidigungskooperation, die Frankreichs Konzeption der „Sicherheit mit Deutschland als Sicherheit vor Deutschland“ noch verstärkte, hatte daher zunächst vornehmlich programmatischen Charakter.155 Fragt man sich mit Hans-Peter Schwarz, ob der Elysée-Vertrag ein historischer Zufall gewesen sei, muss die Antwort negativ ausfallen.156 Grundvoraussetzung der in ihm zum Ausdruck kommenden außenpolitischen Interessenkonvergenz zwischen dem Frankreich der V. Republik und der Bundesrepublik Deutschland war jedoch die europäische Nachkriegsordnung und hier vornehmlich die deutsche Teilung. Garantierte letztere im Zusammenspiel mit der Westbindung der Bundesrepublik doch, dass Deutschland nicht, wie zuvor, entweder ein Machtvakuum oder ein Machtzentrum in Europa wurde.157 Auch darf 149
In seinem ersten Teil beschäftigt sich der Elysée-Vertrag mit der Organisation der bilateralen Zusammenarbeit. Der zweite Teil behandelt das angestrebte, gemeinsame Programm (Außenpolitik, Verteidigung, Erziehung und Jugend); vgl. auch: Lucas, Europapolitik in der Ära de Gaulle, S.203-208. 150 Das Ziel war jedoch nicht eine gemeinsame Außenpolitik, sondern vielmehr eine ständige Abstimmung und Koordination, vgl.: Henri Ménudier, Deutsch-französische Beziehungen und europäische Integration, in: Robert Picht (Hrsg.), Das Bündnis im Bündnis. Deutsch-französische Beziehungen im internationalen Spannungsfeld, Berlin 1982, S.140-168, hier: S.159. 151 Der zentrale Satz lautet (III.1): „Auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik bemühen sich die zuständigen Stellen beider Länder, ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzeptionen zu kommen.“ Zur verteidigungspolitischen Programmatik des Elysée-Vertrages, vgl. auch: Ziebura, Deutschfranzösische Beziehungen, S.168. 152 Neben dem Austausch von Offizieren zwischen den Generalsstabs- und Führungsakademien beider Länder gab es seit 1963 eine bilaterale Vereinbarung über den Austausch von Rüstungsprogrammen, wie z.B. über die Panzerabwehrraketensysteme Milan und hot, das Flugabwehrsystem Roland, das Schulungsflugzeug Alpha-Jet und das Transportflugzeug Transall C-160. Im Jahr 1970 wurde dann das deutsch-französische Programmbüro (Bureau de Programme Franco-Allemand BPFA) als eine Zentralstelle für die Rüstungskooperation eingerichtet. 153 Vgl.: Ziebura, Deutsch-französische Beziehungen, S.220. 154 Dies konnte nur funktionieren, wenn die Bundesrepublik die ihr zugedachte Pufferfunktion aktiv wahrnahm. Das heißt durch bewaffneten Widerstand im Verbund mit den anderen NATO-Partnern den Vormarsch des aus dem Osten antretenden Gegners verzögerte, und ihn, mit Aussicht, auf den von Frankreich drohenden Nuklearschlag, von der Nutzlosigkeit seines Unterfangens überzeugte. 155 Dies wurde auch durch die Tatsache unterstrichen, dass die bilaterale Verteidigungskooperation erst Mitte der 1980er Jahre und unter veränderten Vorzeichen wieder aufgegriffen wurde, vgl.: Thilo Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die Deutsche Einheit, Stuttgart 2002, S.257. 156 Schwarz, Entente élémentaire, S.11. 157 Hieraus ergab die bis ins Jahr 1989/90 vorherrschende, französische Grundhaltung, die deutsche Frage als „auf Eis liegend“ zu betrachten; vgl.: Werner Rouget, Gleichberechtigte Einbindung. Frankreich hat keine Furcht
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nicht übersehen werden, dass die neue Achse Paris-Bonn in drei wesentlichen Punkten eine Unwucht aufwies: in (I.) ihrer Beziehung zu den Vereinigten Staaten, (II.) ihrer Funktionsweise innerhalb der NATO und (III.) bezüglich der Atomstrategie. Zwischen dem „europäischen Europa“ des General de Gaulle und dem „atlantischen Europa“, dem man in Bonn den Vorzug gab, bestand zudem eigentlich keine Übereinstimmung. 2.2.2 Die 1970er Jahre Nach dem verheißungsvollen Auftakt des Elysée-Vertrages wurde es schnell ruhiger um den deutsch-französischen Zweibund. Diese Entwicklung war auf deutscher Seite zu guten Teilen dem pro-atlantischen Kurs der Regierungen Ludwig Erhard und Georg Kiesinger geschuldet. Dabei hätte gerade die durch den Elysée-Vertrag vollzogene bilaterale Annäherung gerade für Deutschland die Chance geboten, als Parlamentär zwischen den sich entzweienden Polen Washington und Paris aufzutreten. Noch in den 1960er Jahren hatte die französische Führung unter de Gaulle auf ihrem Drang nach einer Reform der Entscheidungsabläufe in der Atlantischen Allianz hin zu einem stärkeren Gewicht der Europäer und damit Frankreichs beharrt. Für die Vereinigten Staaten stellte sich diese Frage aus nachvollziehbaren Gründen aber nicht. War die Allianz nicht vielmehr für Washington das beste Mittel, seine Führung in Europa und damit die eigene Sicherheit zu bewahren? Frankreich dagegen wollte von einem europäischen „Protektorat“ hin zu einer euro-atlantischen Partnerschaft übergehen – also zu einer auf zwei Pfeilern, einem europäischen und einem amerikanischen, ruhenden Allianz.158 Der transatlantische Dissens führte bekanntermaßen zum Rückzug der französischen Streitkräfte aus den integrierten Strukturen der NATO. Dabei hatte de Gaulle die letztliche Konsequenz dieses Ausscherens, die Konzeption der Verteidigungsfähigkeit Frankreichs, als globale Rundumverteidigung (defensé des tous aszimuts) von Anfang an klar vor Augen gehabt.159 Die französische Entscheidung führte die Bundesrepublik in eine komplizierte Situation. Aus strategischer Sicht wünschte niemand in Bonn ein isoliertes Frankreich, zumal dessen Ausscheren aus der Allianz den in Deutschland stationierten NATO-Streitkräften ihr unabdingbares strategisches Hinterland nahm. De Gaulle zerstreute solche Befürchtungen zwar gerne mit dem Verweis auf die faktische Schicksalsgemeinschaft beider Länder im Falle einer militärischen Aggression des Ostblocks gegen den Westen – die Zweifel blieben aber. In strategischen Fragen war mit dem General nach seinem Zug von 1966 aber erst einmal nicht zu diskutieren – die deutsch-französische Sicherheitskooperation durchschritt eine erste Entfremdungsphase. Frankreich war aber keinesfalls daran gelegen, dass der deutsche Partner dem eigenem Beispiel folgte. Er sollte vielmehr im Atlantischen Bündnis verbleiben.160 Überhaupt war – ausgehend von einer möglichst umfassenden Territorialvervor der Wiedervereinigung, in: Die Politische Meinung, 35. Jhrg., Nr.249 / März/April 1990, S.21-26, hier: S.22. 158 Ob Frankreich diese Politik als Mittel betrieb, um eine Führungsrolle in Europa einzunehmen oder ob sie Ziel an sich war ist umstritten; siehe hierzu beispielhaft die gegenläufigen Interpretationen bei: Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen; sowie: Ernst Weisenfeld, Charles de Gaulle. Der Magier im Elysée, München 1990. 159 Grosser, Frankreichs Außenpolitik, S.244-245. 160 Vgl. unter anderem de Gaulles Pressekonferenz vom 21. Februar 1966, abgedruckt in: de Gaulle, Reden, S.194196.
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teidigung des Westens – der Rückzug Frankreichs aus dem Bündnis nur wegen des festen Wissens um die Aufrechterhaltung der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa möglich gewesen. Diese wiederum hing vornehmlich von der Verankerung der Bundesrepublik im Westen und deren NATO-Bündnistreue ab. So funktionierte „…die französische Unberechenbarkeit[…] auf der Basis der deutschen Berechenbarkeit.“161 Der so erzielte Autonomiegewinn der französischen Verteidigungspolitik, bis 1989 ein Grundaxiom des außenpolitischen Denkens der V. Republik,162 stellte zugleich aber auch eine Spezialisierung dar, die auf der Prämisse beruhte, dass sich der Status des westdeutschen Teilstaates nicht veränderte.163 Diese Statusorientierung wurde für de Gaulles Nachfolger im Amt des Staatspräsidenten gleichsam verpflichtend. So erzielte dann auch der deutsch-französische Dialog unter Präsident Georges Pompidou (1969-1974) kaum Fortschritte. Zwar gab es – mit Blick auf die Verteidigungspolitik – einige neue kleinere Rüstungsprojekte, doch entbehrten diese einer Sonderstellung, da die Bundesrepublik gleichzeitig an zahlreichen Projekten mit anderen Partnerländern beteiligt war. Mit Blick auf den atlantischen Verbund wurden die Schwierigkeiten sogar eher noch größer, nachdem sich Pompidou darauf verlegte, die Vereinigten Staaten wiederholt öffentlich zu kritisieren. Frankreich verweigerte sich etwa, an den Verhandlungen über gegenseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen in Mitteleuropa (Middle European Forces Reduction/MEFR) teilzunehmen und klassifizierte sie als ein gegen Europa gerichtetes Projekt der beiden Supermächte, das dazu dienen sollte, die europäischen Staaten einem „Kondominium“ zu unterwerfen.164 Im deutsch-französischen Verhältnis herrschte zudem aufgrund der neuen Bonner Ostpolitik Verstimmung. Es wurde deutlich, wie wenig Paris – verließ man die Ebene der Rhetorik – an einer Veränderung des europäischen Status quo interessiert war. Weder Pompidou noch sein Nachfolger Giscard d’Estaing zeigten sich bereit, die deutsch-französischen Beziehungen in einer anderen Perspektive als jener der fortdauernden Teilung Europas begreifen zu wollen. Es erscheint so als eine Grundtatsache der deutsch-französischen Beziehungen bis 1989, dass Frankreich von seinem deutschen Partner stillschweigend die Führung in außenpolitischen, insbesondere aber in europäischen Status quo-Fragen einforderte.165 Dennoch waren es Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt, die darangingen, der deutsch-französischen Zusammenarbeit wieder eine hervorgehobene Rolle in den Außenpolitiken beider Länder zuzuweisen. Die hier erstmals aufgelegten, vielfältigen bilateralen Kooperationen trugen den deutsch-französischen Be161
Vgl.: Joseph Rovan, Europas Sicherheit als außenpolitisches Problem Frankreichs, in: Dokumente, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, 1/1984, S.91-96, hier: S.94. 162 Vgl.: Höhne, Frankreichs Stellung in der Welt, S.43. 163 Wie stark sich Frankreich trotz aller deklarierten nationalen Unabhängigkeit von dieser europäischen Nachkriegsordnung abhängig gemacht hatte, ließ sich an der extremen Nervosität ablesen, mit der man auf alle Anzeichen einer eventuellen Destabilisierung des deutschen „Vorfeldes“ oder einer Infragestellung der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa reagierte. Vgl.: Ziebura, Deutsch-französische Beziehungen, S.280-282; Elke Bruck, François Mitterrands Deutschlandbild. Perzeptionen und Politik im Spannungsfeld deutschland-, europa- und sicherheitspolitischer Entscheidungen 1989-1992, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S.78. 164 Lothar Ruehl, Der Aufschwung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit seit 1982, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.27-47, hier S.29. 165 Wie penibel Paris über die Wahrung dieser Arbeitsteilung wachte, wurde dadurch unterstrichen, dass bilaterale Spannungen immer dann auftraten, wenn die Bundesrepublik auf dem Feld der Außenpolitik eigene Schritte unternahm. Vgl.: Manfrass, Das deutsch-französische Verhältnis, S.11; Höhne, Frankreichs Stellung in der Welt, S.45.
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ziehungen den Titel „Motor für Europa“ ein.166 Auch normalisierte sich – für die Bonner Seite nicht unerheblich – das französische Verhältnis zur Atlantischen Allianz. Zentral hierbei waren die in der Amtszeit Giscard d’Estaings erarbeiteten Abkommen AilleretLemnitzer oder Ferber-Valentin, die ohne viel Auflebens militärische Optionen für die Kooperation der in Deutschland stationieren französischen Streitkräfte mit den NATOKräften schufen.167 Die im Verlauf der 1970er Jahren zunehmende militärische Handlungsfähigkeit der Sowjetunion auf dem europäischen Schauplatz führte Frankreich zudem verstärkt vor Augen, in welchem Maße man selbst von einer amerikanischen Truppenpräsenz mit entsprechender Ausrüstung abhängig war. So wurden jetzt die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Sicherheitssystem und der Erhalt der amerikanischen Schutzfunktion von der französischen Diplomatie als einander komplementäre Prozesse behandelt. 1976 erklärte der damalige französische Generalstabschef Guy Méry hierzu, Frankreichs Sicherheit beginne nicht erst an seinen Grenzen. Falls es in Europa zu Kampfhandlungen komme, hinge das Schicksal seines Landes von dem Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ab. Frankreichs Teilnahme an der Verteidigung seines westlichen Vorfeldes sei deshalb sein natürliches Interesse.168 Damit bewegte man sich wieder auf dem Boden der strategischen Planung der Allianz, ohne diesen de facto jemals wirklich verlassen zu haben. Der aufgrund der sowjetischen Nachrüstung prekären sicherheitspolitischen Situation in Europa wurde noch ein zusätzliches Element der Unsicherheit hinzugefügt: die „incertitudes allemandes“. Seit Beginn der 1970er Jahre war man in Paris in ständiger Sorge, die Bundesrepublik könne aufgrund ihrer eigenen staatlichen Interessenlage langfristig den gemeinsamen Weg einer militärischen Gegenmachtbildung gegenüber der Sowjetunion verlassen und den Verlockungen einer schleichenden Neutralisierung folgen. Sogar eine Politik der Anlehnung an die östliche Führungsmacht wurde für möglich gehalten. Dass in einer solchen Perspektive die Vereinigten Staaten weiterhin bereit sein könnten, ihr Engagement in Westeuropa aufrechtzuerhalten, erschien den französischen Experten unwahr-scheinlich. Zudem diagnostizierte man vermehrt eine zögerliche Haltung Washingtons in der Nachrüstungsfrage und überhaupt eine nicht nur verbale Abschwächung der amerikanischen Sicherheitsgarantien.169 Die Bedrohung durch neue sowjetische nukleare Mittelstreckenraketen sowie die vermeintlich neutralistischen Versuchungen der bundesdeutschen Politik führten dann ab 1979 zu einem sich stetig intensivierenden Dialog zwischen der Bundesrepublik und Frankreich. Diese Wiederbelebung der schon im ElyséeVertrag projektierten Sicherheitspartnerschaft erfolgte aus einem französischen Anstoß heraus.170
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Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.37. Ruehl, Der Aufschwung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit seit 1982, S.30. Hartmut Bühl, Ostpolitik und Rüstungskontrolle, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutschfranzösische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.213-232, hier: S.221. 169 Michael Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts – Interessen und Handlungsspielräume, in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.37-52, hier: S.41. 170 Nicole Gnesotto, Der sicherheitspolitische Dialog 1954 bis 1986, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.5-26, hier S.5. 167 168
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2.2.3 Die Vertiefung in den 1980er Jahren Die mit Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohl an Fahrt aufnehmende sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Bundesrepublik darf nicht als das Streben nach einer Alternative zur Atlantischen Allianz fehlverstanden werden. Frankreich ging es vielmehr um eine Stabilisierung des Status quo, bestenfalls um die Stärkung der „europäischen“ Position innerhalb des westlichen Bündnisses. Die Stärkung des eigenen politischen Gewichts dürfte ebenso mit ausschlaggebend gewesen sein. So bot man der deutschen Seite beispielsweise Ende der 1970er Jahre erstmalig an, die Bundesrepublik in die eigene atomare Verteidigungsplanung mit einzubeziehen.171 Zwar beschied Bonn dieses, vor dem Hintergrund der innenpolitischen Querelen um die deutsche AntiAtombewegung etwas grotesk anmutende, Angebot negativ,172 die diesbezüglichen französischen Offerten registrierte man aber gerne, wusste man doch, im Angesicht der zunehmend verteidigungs- und rüstungspolitische Aspekte betonenden Reagan-Ära, um das Prestige einer entsprechenden Allianz mit Paris. Hinzu trat Helmut Kohls Überzeugung von der Bedeutung einer dauerhaften Partnerschaft mit Frankreich, die er in ihrem historischen Kontext begriff. Neben diesen Faktoren bildete, wie schon bei Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, das wachsende persönliche Einvernehmen zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl eine weitere Triebfeder. Nachdem bereits in der Kanzlerschaft Helmut Schmidts auf dem 39. deutschfranzösischen Gipfel vom Februar 1982 jene Passagen des Elysée-Vertrages, die sich mit der Ausformung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik befassten, wieder in den Fokus der Gespräche gerückt waren, trieben Kohl und Mitterrand ab Oktober 1982 die Gespräche weiter voran. Dabei stand die Schaffung gemeinsamer Gremien gegenüber konkreten inhaltlichen Beschlüssen im Vordergrund. Beide Regierungen kamen überein, die halbjährlichen Treffen der Außen- und Verteidigungsminister im Rahmen der allgemeinen Gipfelkonsultationen zu verstetigen und einen Lenkungsausschuss zur Vorbereitung der Ministertreffen bzw. als ad-hoc-Gremium auf der Ebene der Generalstabschefs und der Politischen Direktoren einzurichten. Dieses Gremium konstituierte sich bald als „Ausschuss für Sicherheits- und Verteidigungsfragen“. Neben diesem bilateralen Ausschuss kümmerte sich die seit 1983 bestehende Arbeitsgruppe „Militärische Zusammenarbeit“ um die Festlegung der Bedingungen für einen gemeinsamen Einsatz deutscher und französischer Truppen. Weitere Arbeitsfelder dieser Gremien, die durch Unterarbeitsgruppen für die jeweiligen Teilstreitkräfte sowie durch zahlreiche Expertengruppen komplettiert wurden, waren Verbesserung der Interoperabilität, die Planung militärischer Ausbildungsvorhaben oder gemeinsamer Manöver. Im Bereich der Zusammenarbeit der Streitkräfte wurde ein sehr dichtes Netz von Kontakten auf allen Ebenen geknüpft. Allerdings zeigte die deutschfranzösische Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen auch in den 1980er Jahren immer wieder
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Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 5 September 1979; Die Zeit vom 7. September 1979. Trotz dieser Ablehnung tauchte das französische Atom-Angebot im Verlauf der 1980er Jahre periodisch immer wieder auf. So erklärte etwa Anfang des Jahres 1986 Staatspräsident François Mitterrand erneut die Bereitschaft seines Landes, die deutsche Seite über den etwaigen Einsatz seiner Nuklearwaffen auf deutschem Gebiet zu konsultieren. Die französischen Atomofferten stießen in Bonn auf wenig Gegenliebe Vgl.: Mitterrands Ausführungen anlässlich des 47.Deutsch-französischen Gipfels am 27./28. Februar 1986 in Paris, abgedruckt in: Adolf Kimmel, Pierre Jardin (Hrsg.) Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963. Eine Dokumentation, Opladen 2002., S.261-265.
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die Tendenz, sich in Einzelthemen und in der Gremienarbeit zu erschöpfen, ohne wirklich Konkretes zu erreichen. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre waren beide Partner bestrebt, eine neue Kooperationsstufe zu etablieren. Im Sommer 1987 kreisten die Gespräche zwischen Verteidigungsminister Manfred Wörner und seinem französischen Amtskollegen André Giraud um den von Helmut Kohl aufgebrachten Vorschlag,173 eine gemeinsame Brigade bestehend aus deutschen und französischen Soldaten aufzustellen. Im Verbund hiermit sollten auch die Lenkungsgremien auf der Ministerialebene neu gefasst werden. Nach der im September 1987 abgehaltenen gemeinsamen Militärübung „Kecker Spatz“, die beide als bedeutendes Beispiel für die enger gewordene deutsch-französische Sicherheitskooperation werteten,174 stellten Kohl und Mitterrand ihre Überlegungen zur Gründung eines gemeinsamen Verteidigungsrates vor. Aufbauend auf der bisherigen Gremienarbeit in diesem Bereich, sollte der Rat schwerpunktmäßig für die bilaterale Abstimmung in den Bereichen der Sicherheitspolitik, militärische Forschung und Rüstung sowie dem Einsatz gemischter Verbände zuständig sein. Anlässlich der 50. Deutsch-Französischen Gipfelkonsultationen in Karlsruhe im November 1987 wurde die Einrichtung des gemeinsamen „Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates“ (DFVSR) beschlossen.175 Der offizielle Aufstellungsbeschluss wurde anlässlich des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des Eylsée-Vertrages im Januar 1988 durch ein Ergänzungsprotokoll zum ursprünglichen Vertrag gefasst. Gemäß Artikel 2 dieses Protokolls setzt sich der Rat aus den Staats- und Regierungschefs und den Außenund Verteidigungsministern beider Partnerländer zusammen. Der Generalinspekteur der Bundeswehr und der Generalstabschef der französischen Streitkräfte nehmen danach lediglich kraft Amtes teil, ohne Mitglieder des Rats zu sein. Das Ratskomitee, das die Arbeiten des sich zweimal jährlich zusammentreffenden Gremiums vorbereitet, ohne selbst Entscheidungsbefugnis zu besitzen, besteht aus den Außen- und Verteidigungsministern. Insgesamt führen die Aufgaben des DFVSR weit über die Bestimmungen des ursprünglichen Elysée-Vertrages hinaus, da er für alle die Sicherheit Europas betreffenden Fragen Konsultations- und Entscheidungsgremium sein soll. Nach Artikel 4 des Ergänzungsprotokolls befasst sich das neugeschaffene Gremium auch mit nachstehenden Themenfeldern:
Ausarbeitung gemeinsamer Konzeptionen auf dem Gebiet der Verteidigung und der Sicherheit; Abstimmung in Fragen der Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung; Beschlussfassung hinsichtlich der Aufstellung gemischter Militäreinheiten; Beschlussfassung hinsichtlich gemeinsamer Manöver, der Ausbildung von Militärpersonal sowie der Zusammenarbeit bei Unterstützungsvereinbarungen; Verbesserungen der Interoperabilität der Ausrüstung und Entwicklung und Vertiefung der Rüstungszusammenarbeit.
Auch dem deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungsrat arbeiten verschiedene nachgeordnete Gremien zu. Das Ratskomitee, dem die Außen- wie die Verteidigungsminister, die politischen Direktoren der Außenministerien sowie ein hoher Beamter oder ein 173
FAZ 22. Juli 1987 „Das Umfeld einer gemeinsamen Brigade“. Süddeutsche Zeitung (SZ) 25. September 1987 „Paris und Bonn planen Verteidigungsrat“. 175 Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S. 238-247. 174
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General als Sekretär angehören, bildet die Steuerungsebene. Das ständige Sekretariat des DFVSR, welches im Mai 1989 in Paris seine Arbeit aufnahm, koordiniert die laufenden Arbeiten. Der deutsch-französische Ausschuss für Verteidigung und Sicherheit mit den Politischen Direktoren sowie dem Generalinspekteur der Bundeswehr und dem französischen Generalstabschef als höchste militärische Repräsentanten arbeitet dem Rat und dem Ratskomitee zu, indem er einen „Ausschussbericht“ vorlegt und damit eine Bilanz der Arbeiten zwischen den halbjährlichen Gipfelkonsultationen zieht.176 Der Ausschuss hat wiederum für die Umsetzung dieser Empfehlungen Arbeitsgruppen für die drei Bereiche Strategie und Abrüstung, Militärische Zusammenarbeit und Rüstungskooperation gebildet. Die wesentliche Aufgabe dieser Arbeitsgruppen besteht in der Erörterung und Abstimmung einschlägiger Einzelfragen sowie als Forum für die Konsultation von Experten. 2.3 Zusammenfassung Die intensivierte bilaterale Sicherheitskooperation der 1980er Jahre kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen beider Länder nach wie vor in wesentlichen Punkten weit auseinander liegen.177 So blieb der deutschfranzösische Bilateralismus durch die auf beiden Seiten dominierende Betonung taktischer, oftmals kurzfristiger Überlegungen gehemmt178 und somit einer Art „pragmatischen Minimalismus“ (Guérin-Sendelbach) verpflichtet. Dies war auf französischer Seite der Tatsache geschuldet, dass man zwischen 1963 und 1989 in der eigenen Europa- und Deutschlandpolitik eigentlich die Quadratur des Kreises betrieb. Zum einen ist hier der diffizile Versuch zu nennen, so höchst gegenläufige politische Zielsetzungen, wie die Schaffung bzw. Wahrung eigener nationaler Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit miteinander zu vereinbaren. Zum anderen fußten zentrale Pfeiler der französischen Außenpolitik, wie etwa der ab 1966 eingenommene Sonderstatus innerhalb des westlichen Bündnisses, auf dem Fundament gerade jenes europäischen Status quo, dessen Überwindung die V. Republik seit ihrer Gründung eigentlich immer wieder beschworen hatte.179 Für die deutsche Seite wiederum hatte die Kooperation mit Paris gegenüber der Allianz mit Washington vornehmlich ergänzenden Charakter. Die Logik der Ost-WestKonfrontation gebot Bonn nun einmal sicherheitspolitisch stets die enge Anlehnung an Washington. Ursächlich dafür war neben der Tatsache eines im Vergleich mit den Vereinigten Staaten deutlich geringeren militärischen Potenzials Frankreichs auch der von Paris hochgehaltene Grundsatz außenpolitischer Unabhängigkeit, den Staatspräsident Mitterrand exemplarisch in folgendem Diktum zusammenfasste: „La France décidera, et elle seule, des affaires de la France.“180 Die sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit zwischen beiden Partnern stieß daher immer dann, wenn sie das Feld der Symbolik und der 176
Zitiert nach: Philipp Wassenberg, Das Eurokorps. Sicherheitsrechtliches Umfeld und völkerrechtliche Bedeutung eines multinationalen Großverbandes, Baden-Baden 1999, S.123. 177 Ziebura, Deutsch-französische Beziehungen, S.328-330; auch: S.353. 178 Guérin-Sendelbach, Ein Tandem für Europa? S.228; siehe auch: Isabelle Renouard, Die deutsch-französische Zusammenarbeit heute, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S. 48-55, hier: S.52-55. 179 Hoffmann, La France dans le nouvel ordre européen, S.504. 180 Mitterrand, Réflexions, S.50.
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reinen Konsultationen verließ, auf Hindernisse, die sich aus der geschilderten, unterschiedlichen Prioritätensetzung ergaben. Deswegen folgerte Ingo Kolboom zurecht: die „…bisherige[n] Fortschritte betreffen mehr das Formale, nicht aber die Substanz der Kooperation.“181 Wie lautete also die Geschäftsgrundlage der deutsch-französischen Beziehungen von 1963 bis 1989? Auf der Basis des Gesagten lassen sich vier zentrale Bedingungen herausarbeiten, die in der Außen- und Sicherheitspolitik beider Länder in diesem Zeitraum gleich waren und daher eine Kooperation nahe legten. Diese vier Bedingungen waren: 1. 2. 3. 4.
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Der in beiden Ländern nach einer langen Periode der Feindschaft bestehende Wunsch nach „Aussöhnung“. Die gemeinsame aus dem Ost-West-Gegensatz erwachsende sicherheitspolitische Bedrohung, gegen die sich beide Länder möglichst umfassend schützen wollten. Das hiermit eng verknüpfte Bedürfnis, die Abhängigkeit von amerikanischen Entscheidungen im Krisenfall zu relativieren, um sicherheitspolitische Eigenständigkeit zu erlangen. Die auf sicherheitspolitischer Eigenständigkeit aufbauende Schaffung bzw. Vergrößerung des außenpolitischen Handlungsspielraumes, dessen wesentliche Bezugsgröße ein eigenständiges Europa bildete.
Ingo Kolboom, Im Westen nichts Neues? Frankreichs Sicherheitspolitik, das deutsch-französische Verhältnis und die deutsche Frage, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S. 68-89, hier: S.89.
II. Hauptteil
1 Europäisches Gleichgewicht oder Bündnisintegration?
1.1 Die französische Position: Sicherheit im Gleichgewicht Das Jahr 1990 markiert die entscheidende Zäsur der Geschichte Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Implikationen dieses Einschnittes betrafen in zentralen Punkten auch das deutsch-französische Verhältnis und – hiermit eng verknüpft – den weiteren Fortgang des europäischen Einigungsprozesses. Deutschlands Vereinigung, nach der Bekundung des prinzipiellen Einverständnisses seitens der Sowjetunion und den Volkskammerwahlen im März 1990 eine konkrete Perspektive, ließ Frankreich gerade im Hinblick auf die Wiedererlangung der vollen Souveränität und des damit einhergehenden Statusgewinns des deutschen Partners um die überkommende Aufgabenteilung im bilateralen Verhältnis fürchten.182 Parallel erodierte die gesamteuropäische Kräftebalance. Paris, das die amerikanisch-sowjetische Bipolarität des Kalten Krieges immer wieder als hegemonial kritisiert, zugleich aber zentrale Pfeiler seiner Außenpolitik auf ihr errichtet hatte,183 sah sich 1990 mit der Frage konfrontiert, welches Leitbild die neue ordnungs- und sicherheitspolitische Architektur Europas prägen sollte184 und wie hierin der eigene außenpolitische „Rang“ gewahrt werden konnte.185 Die aus den Fugen geratene Balance musste in veränderter Form wiedererrichtet, ein neues europäisches Gleichgewicht186 geschaffen werden. Schon Charles de Gaulle hatte die Auffassung vertreten, dass letztendlich immer nur das Gleichgewicht der Welt den Frieden garantieren werde.187 Hiervon war auch der nunmehrige französische Staatspräsident François Mitterrand überzeugt,188 der sich außenpolitisch stark dem Erbe des Gründers der V. Republik verpflichtet fühlte. Ähnlich wie bei 182
So warnte etwa François Mitterrand Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher bei ihrem Treffen mit am 30. November 1989, Europa könne in die Vorstellungswelt von 1913 zurückfallen. Vgl.: Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, München 1997, S.678. 183 Vgl.: Hoffmann, La France dans le nouvel ordre européen, S.504. 184 Alain Carton, Die neue Europäische Sicherheitslage aus französischer Sicht, in: Roland Kaestner (Redaktion), Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung, Dokumentation der Kolloquien des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg 1990, S.54-58. 185 Dem stand die Einschätzung zahlreicher Sicherheitsexperten gegenüber, das Frankreich zu den großen Verlierern der Beendigung des Kalten Krieges zählen würde; vgl.: Walter Schütze, Frankreichs Sicherheitspolitik im veränderten Umfeld – Neues Verhältnis zur NATO, in: Ingo Kolboom, Ernst Weidenfeld (Hrsg.), Frankreich in Europa. Ein deutsch-französischer Rundblick, Bonn 1993, S.213-228, hier: S.214. 186 Vgl.: Mitterrand in seiner Pressekonferenz in Kiew am 6. Dezember 1989; vgl.: Frankreich-Info vom 18. Dezember 1989, oder in seinem Gespräch mit Kohl am 4. Januar 1990; vgl.: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, Herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren unter Mitwirkung des Bundesarchivs, München 1998, Nr.135, S.682-690. Zur inhaltlichen Dimension des Gleichgewichtgedankens vgl. den Artikel „Gleichgewicht, Balance“ von Hans Fenske, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhardt Kosselleck, Band 2 E-G, Stuttgart 1975, S.959996, insbesondere: S.971-975. 187 Siehe: De Gaulle, Reden, S.199. 188 So hatte Mitterrand beispielsweise am 12. Mai 1982 vor dem Hamburger Übersee Club erklärt, Frankreich sei am „Gleichgewicht der Kräfte in der Welt (équilibre des forces dans le monde)“ interessiert, sowohl als Mitglied der Atlantischen Allianz wie auch als großes europäisches Land; zitiert nach: Schabert, Frankreich und die deutsche Einheit, S.235.
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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de Gaulle bildete auch in Mitterrands Vorstellungswelt Frankreichs nationale Unabhängigkeit (l’indépendance nationale) den Ausgangspunkt des außen-politischen Denkens.189 Diese, in Verbindung mit der ebenfalls absolut gesetzten nationalen „Größe“ (grandeur) Frankreichs, generierten einen außenpolitischen Anspruch: « Il est dans la nature d’une grande nation de conçevoir de grands dessins. »190 Dies sei zugleich Anspruch wie Aufgabe. Nur so könne Frankreich seinen, ihm aufgrund seiner Geschichte zustehenden, hohen „Rang“ in der Welt behaupten.191 Entscheidende Komponente hierfür war die sich auf verteidigungspolitische Autonomie begründende nationale Souveränität Frankreichs, die nicht teilbar war.192 Ausgehend von diesen Prämissen war auch Mitterrand davon überzeugt, dass jeder Staat (Außen-)Politik gemäß seiner Geographie mache.193 Auf die Situation des Jahres 1989/90 gewendet, bedeutete eine Nichtbeachtung des Gleichgewichtsgrundsatzes für Mitterrand dann auch eine Rückkehr zum „Europa der Kriege“ (l’Europe des guerres) vor dem Jahr 1914.194 Das Postulat des Gleichgewichts beinhaltete für Paris – neben einer bereits von de Gaulle attestierten Friedensgewähr – aber vor allem einen argumentativen Ansatzpunkt: Durch ihn erhielten die vornehmlich innerdeutschen Prozesse um eine mögliche staatliche Vereinigung eine europäische Dimension. Frankreich wurde so in die Lage versetzt, das eigene Mitspracherecht bei der Gestaltung des außen-politischen Umfelds dieses Prozesses anzumelden.195 Hiermit eng verknüpft war die prinzipielle Ablehnung einer „Abkoppelung“ der europäischen von der amerikanischen Außenpolitik, da dieser Schritt das Gleichgewicht der Kräfte und damit die Erhaltung des Friedens in Frage stellen würde.196 Schon de Gaulle hatte die deutsche Frage als ein europäisches Problem begriffen, das allein in einer entsprechenden Gestaltung der europäischen Machtgeographie aufgefangen werden könne.197 Es verwundert daher wenig, dass sich im ersten Halbjahr 1990 auf französischer Seite mit Blick auf die weitere europäische Entwicklung Krisenstimmung ausgebreitet hatte. Gelang es nämlich nicht, die deutsche Verei189
Vgl.: Mitterrand, Réflexions, S.7. Hiermit eng verknüpft war Mitterrands Überzeugung, dass „…die Außenpolitik Frankreichs […] in Paris bestimmt [wird, MK], sie wird hier entschieden, sie ist nicht abhängig von anderen.“ Mitterrand auf seiner Pressekonferenz vom 18. Mai 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. Juni 1989, hier: S.16. 190 Mitterrand, Réflexions, S.140. 191 Mitterrand auf seiner Pressekonferenz vom 18. Mai 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. Juni 1989, hier: S.6. 192 Vgl.: Mitterrand, Réflexions, S.166. 193 Vgl. Mitterrands Ausführungen in seinem Interview mit dem Fernsehsender TF 1 am 25. März 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. März 1990, hier: S.3; siehe auch: Schabert, Frankreich und die deutsche Einheit, S.328. 194 Mitterrand bei seinem Besuch der Karl-Marx-Universität in Leipzig am 21. Dezember 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 4. Januar 1990, hier: S.2; zu dem hier von Mitterrand vertretenden Gleichgewichtsgedanken vgl. auch: Ingo Kolboom, Deutsche Frage und Europäisches Gleichgewicht – Anmerkungen zu den Grenzen eines historischen Paradigmas, in Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. & Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg (Hrsg.), XIV. Deutsch-Französische Konferenz. Berlin 28. – 30.5.1990. Frankreich und Deutschland im neuen Europa. Referate – Berichte – Dokumente, Bonn 1991, S.47-53, hier: S.47. 195 Vgl.: Ernst Weisenfeld, Deutschland, Frankreich und der Osten Europas. Pariser Sorgen um ein neues europäisches Gleichgewicht, in: Dokumente, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Nr. 3/1992,S.192-198, S.195. 196 Vgl. Mitterrands Rede vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 1983, abgedruckt in: Europa-Archiv (EA), Folge 5/1983, D145-155, hier: D 149; zugleich zweifelte Mitterrand aber daran, dass die Amerikaner Europa im Konfliktfall verteidigen würden. Er sah sich daher dazu veranlasst, für Europa die Entwicklung einer eigenständigen, verteidigungspolitischen Identität zu fordern; vgl. auch: Mitterrand, Réflexions, S.101. 197 Vgl.: Schabert, Frankreich und die deutsche Einheit, S.157.
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nigung in einen europäischen Rahmen „à la française“ einzubinden, bedeutete dies eine empfindliche Schmälerung des eigenen außenpolitischen „Ranges“. Andererseits barg eine Forcierung des (west-)europäischen Einigungsprozess zum Zwecke einer „Verankerung“ eines vereinigten Deutschlands in einen europäischen Rahmen die Gefahr, Frankreichs bisherige Führungsstellung in Europa zu schwächen.198 Im Elysée-Palast pochte man daher, je konkreter die Perspektive einer Lösung der deutschen Frage im Jahresverlauf 1990 wurde, auf ein deutsches Einlenken auf die Pariser Linie zum weiteren Fortgang des Europäischen Integrationsprozesses. Erschwert wurde dieses Vorhaben durch die nicht unberechtigte Furcht Bonns, dass eine Koppelung des Vereinigungsprozesses mit beispielsweise dem „enormen politischen Schritt“ (Roland Dumas)199 der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sowie der Politischen Union die Vereinigung deutlich verzögern würde und die Bundesregierung zum Gefangenen externer Faktoren machen könnte.200 Zentrales Ergebnis der dennoch erreichten Verständigung war dann die gemeinsame deutsch-französische Botschaft zur Beschleunigung des politischen Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft, die am 18. April 1990 an den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates gerichtet wurde.201 Die hierin Ausdruck findende wiedergewonnene Harmonie zwischen beiden Partnern prägte auch die am 25./26. April 1990 in Paris stattfindenden 55. Deutsch-Französischen Konsultationen.202 Maßgebliches Ergebnis war hier203 die mit Blick auf den am 28. April anstehenden EG-Sondergipfel in Dublin erfolgte Einigung von Kohl und Mitterrand auf ein gemeinsames weiteres Vorgehen auf den Feldern der WWU und der Politischen Union.204 Dabei sei gerade die Politische Union, so Dumas am 27. Juni 1990 vor dem französischen Senat, Ausdruck des deutsch-französischen Willens, die derzeitigen Kompetenzen der Gemeinschaft auszubauen und, über die einfache politische Zusammenarbeit hinausgehend, eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik herbeizuführen.205 Insofern war man sich in Paris durchaus darüber im klaren, dass: „…die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Politischen Union […] zur Folge haben [wird, MK], daß den Institutionen der Gemeinschaft Gewalten und Kompetenzen übertragen werden, die heute bei den nationalen Behörden, Parlamenten und Regierungen liegen.“206
198
Vgl.: Jacques Attali, Verbatim Tome III. Chronique des années 1988-1991, Paris 1995, S.372. Dumas in seinem Interview mit dem Radiosender RTL am 8. Oktober 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 25. Oktober, hier: S.13. 200 Vgl. Genscher, Erinnerungen, S.810. 201 Text der Botschaft abgedruckt in: EA 11/1990, D 283. Deutschland und Frankreich kehrten hiermit zu ihrer alten Geschlossenheit in europäischen Grundsatzfragen zurück. 202 Vgl.: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit, Nr.257, S.1056-1059; Genscher, Erinnerungen, S.762. Das, traditionell am ersten Tag stattfindende, Vier-Augen-Gespräch zwischen Kohl und Mitterrand fand, aufgrund der zurückliegenden Irritationen, ohne die üblichen Protokollanten statt; Horst Teltschik, 329 Tage, Innenansichten der Einigung, o.O. 1993, S.207. 203 Vgl. den Text der gemeinsamen Pressekonferenz von Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl zum Abschluss der 55. deutsch-französischen Konsultationen; abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7.Mai 1990. 204 Kohl sah sich nach den bilateralen Konsultationen „…in noch da gewesener Weise“ in Über-einstimmung mit dem französischen Staatspräsidenten und bestätigte diese Einschätzung auch für die Folgemonate; vgl.: Helmut Kohl, „Ich wollte Deutschlands Einheit.“ Dargestellt von Kai Dieckmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S.357, S.408, S.411, S.418. 205 Vgl. Dumas’ Rede im Senat am 27. Juni 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 2. Juli 1990, hier: S.2. 206 Ebenda, S.4. 199
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Dies bedeutete eine erhebliche Akzentverschiebung gegenüber der überkommenden Europadoktrin der V. Republik, welche zwar stets eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Staaten angestrebt,207 aber jedwede supra-nationale Organisation Europas abgelehnt hatte.208 Die sicherheitspolitische Kardinalfrage des Jahres 1990 war aber jene nach dem bündnispolitischen Status des vereinigten Deutschlands. In Bonn votierte man zwar für einen Verbleib in der NATO, hatte es in der ersten Jahreshälfte aber vermieden, diese Frage offen zu thematisieren, um den Fortgang des Vereinigungsprozesses nicht zu gefährden. In Paris sah man alle möglichen Alternativen zu einer NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland skeptisch. Dies galt vor allem für die Option einer bündnispolitischen Neutralität Deutschlands, die, so Außenminister Dumas im März 1990, das europäische und atlantische Gleichgewicht zerstören würde.209 Eine neutrales Deutschlands widersprach zudem der von Mitterrand bei seinem Treffen mit Präsident Bush am 18. April 1990 in Key Largo formulierten französischen Haltung, dass die NATO auch weiterhin als zentrale Institution für die Gewährleistung der Sicherheit und des Gleichgewichts in Europa sein müsse.210 Allerdings ging es Mitterrand dabei keinesfalls um eine statische Fortführung des Bündnisses, sondern vielmehr um dessen Transformation hin zu einem System, in welchem Europa zukünftig größere Mitspracherechte haben sollte.211 Dieses, für einige Experten überraschende,212 französische Bekenntnis zur Mitgliedschaft Deutschlands in der Allianz und damit zur NATO als Ganzes war der Einsicht geschuldet, dass eine effektive Gewährleistung der Sicherheit Westeuropas mittelfristig nur im atlantischen Verbund gewährleistet blieb.213 Darüber hinaus trug die NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands der Sorge Rechnung, dass eine Neutralisierung Deutschlands zu einem „strategischen Vakuum“ in Mitteleuropa führen214 bzw. Deutschland sich aus seiner „Verankerung im Westen“ und somit auch an der mittelbaren Kontrolle Frankreichs lösen könnte. Daher bemühte man sich in Paris, das „Ende der Bipolarität“ wie folgt verstanden zu wissen: „Meiner Meinung nach beinhaltet es [das „Ende der Bipolarität“, MK] die Freiheit eines jeden Staates, die Politik zu betreiben, die er wünscht, die Beziehungen zu unterhalten, die seinen Affinitäten entsprechen, und den Bündnissen anzugehören, denen er angehören möchte. Diesen
207
Vgl. hierzu beispielhaft de Gaulles Fernsehinterview vom 14. Dezember 1965, abgedruckt in: de Gaulle, Reden, S.228-230. 208 Vgl. de Gaulles Pressekonferenz vom 5. September 1960, abgedruckt in: De Gaulle, Reden, S.200-202. 209 Zitiert nach: Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts, S.52. 210 Philip Zelikow / Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, 2. Auflage, München 2001, S.322-323. 211 Vgl.: François Mitterrands gemeinsame Pressekonferenz mit George Bush anlässlich des Abschlusses ihres Treffens in Key Largo vom 19. April 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. März [sic!] 1990. 212 So etwa: Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte. Mit den wichtigen Dokumenten, bearbeitet von Klaus Becher, Bergisch Gladbach 1991, S.66-67. 213 Vgl.: Mitterrands Rede vor der Ecole de guerre am 11. April 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 3. Mai 1991; auch: Attali, Verbatim III, S.470. 214 Dieser Sorge verlieh Dumas in seiner Berliner Rede vom 1. März 1990 Ausdruck; siehe: Frankreich-Info vom 8. März 1990, insbesondere: S.3; vgl. hierzu auch: Ernst Weisenfeld, Welches Deutschland soll es sein? Frankreich und die deutsche Einheit seit 1945, Sonderauflage, München 1986, S.179; sowie: Ronald D. Asmus, A united Germany, in: Foreign Affairs, Volume 69, No. 2, S.63-76, insbesondere: S.68-69.
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letzten Punkt möchte ich betonen: Das Ende von Jalta ist nicht die automatische Infragestellung der Bündnisse.“215
Das französische Eintreten für eine NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands, welches mit der seit de Gaulle immer wieder wiederholten Formel von der „Überwindung der Blöcke“ doch eigentlich nicht vereinbar erscheint, offenbart in welchem Maße die französische Sicherheitspolitik letztlich mit der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa kalkulierte. Erst das gleichzeitig abgegebene Plädoyer für die Schaffung einer genuin europäischen Verteidigungspolitik erlaubte es Paris, seine eigene bündnispolitische Sonderstellung zu rechtfertigen. Getreu den Grundsätzen der französischen Europapolitik hatte so auch nach wie vor der eigene sicherheitspolitische Führungsanspruch bei der Neuordnung Europas Geltungsanspruch. Ein Eckpfeiler dieses Anspruches bildete ebenfalls unverändert der Ausbau der militärischen Zusammenarbeit mit dem deutschen Partner im Rahmen der WEU.216 Es wäre also verfehlt, in dem französischen Plädoyer für das Atlantische Bündnis des Jahres 1990 eine sicherheitspolitische Kehrtwende Frankreichs zu sehen. Mitterrand, der sich schon zuvor mehrfach zur Atlantischen Allianz bekannt hatte,217 ging es vielmehr darum, die NATO weiterzuentwickeln und in gewisser Form an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.218 Diese Anpassung sollte im Wesentlichen drei Zielsetzungen umfassen: 1. 2. 3.
Amerikanische Streitkräfte sollten weiter in Europa stationiert bleiben; die NATO musste auch in Zukunft ihren primär militärischen Charakter bewahren; Frankreich würde von seiner Autonomie in Verteidigungsangelegenheiten nicht abrücken.219
Auch die Abrüstungsinitiativen Moskaus ließen Paris im Frühjahr 1990 über eine europäische Orientierung der Sicherheitspolitik nachdenken. Eine Wiederbelebung der WEU wurde ebenso diskutiert wie die Schaffung einer sicherheitspolitischen Organisation im Rahmen der KSZE. 220 „Es braucht mehr und mehr […] eine Verteidigung, die nicht unbedingt ausschließlich europäisch ist (wir bleiben die Verbündeten der Amerikaner), aber deren europäische Achse präzisiert werden muß.“221 Diese Überlegung war nicht neu. Schon im Angesicht der NATO-Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er Jahre hatte Mitterrand wiederholt die Frage nach einer genuin europäischen Verteidigung gestellt und für eine Wiederbelebung der WEU plädiert.222 Damals waren die diesbezüglichen französischen Ambi215
Dumas in seiner Rede vor dem IHEDN am 6. Februar 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 9. Februar 1990, hier: S.5. 216 Vgl. exemplarisch: Dumas’ Interview mit Europe I vom 30. März 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 4. April 1990, insbesondere: S.3. 217 Etwa: Mitterrand, Réflexions, S.9-10. Zur französischen Haltung gegenüber der Atlantischen Allianz vgl. auch: Thierry Mileo, L’OTAN face à son nouvel environnement, in: Défense Nationale 3/1990, S.11-21, insbesondere: S.12-15. 218 Vgl. Teltschiks Schilderung der Äußerungen Mitterrands beim Londoner NATO-Sondergipfels am 5./6. Juli 1990, in: Teltschik, 329 Tage, S.299. 219 Siehe u.a.: Jean-Pierre Chevènement, La France et la sécurité de l’Europe, in : Politique Étrangère 3/1990, S.525-531, insbesondere S.527. 220 Vgl.: Die Welt vom 5. Juni 1990 „Frankreich sieht sich nicht als NATO-Modell“. 221 Mitterrand in seinem Interview mit dem Fernsehsender TF 1 am 25. März 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. März 1990, hier: S.7. 222 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.76.
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tionen ebenso wie bei der Frage des Ausbaus der EPZ aber eher begrenzt gewesen. Dies änderte sich nun unter dem Eindruck der zusammenbrechenden Ost-West-Ordnung und der deutschen Vereinigung. Ausgangspunkt und Herzstück dieses neuen Anlaufs zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte nach Pariser Vorstellungen die deutsch-französische Zusammenarbeit sein.223 Von deutscher Seite durchaus positiv aufgenommen, wurde der Vorstoß von Bonn um die Überlegung erweitert, die WEU zukünftig auf multinational integrierte Armee-Korps abzustützen – eine militärpolitische Entwicklungsperspektive, die innerhalb der NATO schon diskutiert wurde. Die Uneinigkeit über wesentliche strategische Fragen prägte aber nach wie vor das Pariser Verhältnis zur Atlantischen Allianz. Schon bei ihrem Treffen auf Martinique im März 1990 hatte Präsident Mitterrand dem Ansinnen seines amerikanischen Amtskollegen George Bush widersprochen, Frankreich solle seine Zustimmung einer Funktionsausweitung der NATO geben. Mitterrand vertrat hier die Auffassung, die Allianz dürfe sich nicht „…mit allem Möglichen“ beschäftigen.224 Auf dem Londoner NATO-Gipfel vom Juni 1990 erklärte Mitterrand dann, die neue NATO-Nuklearstrategie des „last resort“ sei mit der französischen Strategie des „prästrategischen Kernwaffenschlages“ unvereinbar.225 Drei Grundprinzipien bestimmten dabei die französische Haltung: „Es ist notwendig, die Kompetenzen der Allianz zu erweitern; Frankreich beabsichtigt, seine Autonomie in Fragen der Verteidigung zu wahren; Frankreich wird seine Politik der nuklearen Abschreckung, die rein defensiv ausgelegt ist, nicht ändern.“226 Insbesondere letzter Punkt, Eckpfeiler des französischen Souveränitätsdenkens, war eng verwoben mit dem französischen Verständnis einer nuklearen Abschreckung bis zum Äußersten.227 Davon ab stellte der Londoner NATO-Gipfel einen wichtigen Schritt zur Neugestaltung der europäischen Sicherheitsgeographie dar.228 Mit der Erklärung „Die Nordatlantische Allianz im Wandel“ wurde hier ein Angebot zur Beendigung der jahrzehntelangen Gegnerschaft mit dem Warschauer Pakt formuliert: „Die Atlantische Gemeinschaft wendet sich den Ländern Mittel- und Osteuropas zu […] und reicht ihnen die Hand zur Freundschaft. […] Die Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses schlagen […] den Mitgliedstaaten der Warschauer Vertragsorganisation eine gemeinsame
223
Vgl. Dumas’ Rede vor der Berliner Pressekonferenz am 1. März 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 8. März 1990, hier: S.5. Dumas’ Bekenntnis zur bilateralen Zusammenarbeit wurde von deutscher Seite dankend aufgegriffen; vgl. etwa: Genschers Rede vor der Westeuropäischen Union (WEU) in Luxemburg am 23. März 1990, in: Hans-Dietrich Genscher, Unterwegs zur Einheit: Reden und Dokumente aus bewegter Zeit, Sonderdruck des Auswärtigen Amtes, Berlin 1991, S.257-268, hier: S.262-263. 224 Financial Times vom 27. März 1990: „France and Germany align defence positions.“; Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, S.22. 225 Vgl. hierzu: Frédéric Bozo, La France, l’OTAN et l’avenir de la dissuasion en Europe, in: Politique Étrangère 2/1991, S.513-525. 226 Michel Rocards in seiner Rede vor dem IHEDN in Paris am 7. September 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 25. September 1989. 227 Diese Strategie stellte – nach den Worten des französischen Premierministers Michel Rocard, ein Hauptelement der französischen Außenpolitik dar. Diese hätte es Frankreich ermöglicht, eine wesentliche Rolle zu spielen und sei Grundvoraussetzung für Frankreichs fortbestehenden Einfluss; vgl.: Michel Rocards Rede vor dem IHEDN in Paris am 7. September 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 25. September 1989, hier: S.5-6. 228 Hierzu u.a.: Manfred Wörner, La sécurité européenne et l’avenir de l’Alliance, in: Politique étrangère 3/1990, S.609-615, hier : S.612-613.
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Erklärung vor, in der wir feierlich bekunden, dass wir uns nicht länger als Gegner betrachten […].“229
Zielsetzung der in London diskutierten NATO-Reform war es, die aktiven Streitkräfte kleiner, hochmobil und anpassungsfähig zu machen. In diesem Zusammenhang wurde auch beschlossen, die jeweiligen nationalen Streitkräfte so umzustrukturieren, dass sie in multinationale Korps organisiert werden konnten. Das Bündnis sollte sich zunehmend auf diese Verbände stützen, die nach einem Modularitätsprinzip miteinander verknüpfbar sein sollten.230 Hierbei bildeten nicht nur Einspar-, sondern auch Optimierungseffekte das Leitmotiv. Letztgenannte erhoffte man sich durch den Aufbau multinationaler Streitkräftestrukturen dann zu erzielen, wenn diese in einer Art internationaler militärischer Arbeitsteilung mündeten, bei der nicht mehr jeder Staat zwingend die Fähigkeit besitzen musste, das gesamte militärische Einsatzspektrum vollständig abzudecken.231 Dieser Logik folgte auch der im ersten Halbjahr 1990 erstmals diskutierte Aufbau einer europäischen Verteidigungsidentität innerhalb des Atlantischen Bündnisses,232 der den vorhandenen, aus französischer Sicht aber schlecht definierten, institutionellen Rahmen stärken sollte.233 1.2 Souveränität und militärische Kooperation Schon Anfang 1990 hatte der damalige Direktor des International Institut for Strategic Studies (IISS) in London, François Heisbourg, Frankreich aufgefordert, seine Verteidigungsstrategie zu überdenken.234 Im Kern seiner Überlegungen stand damals, neben der Infragestellung einiger bestehender Rüstungsvorhaben, die deutliche Reduzierung der französischen Truppen in Deutschland. Überlegungen dieser Art hatte die französische Führung, namentlich Staatspräsident François Mitterrand, bereits im Februar 1990 geäußert, als eine Vereinigung Deutschlands für Paris erstmals zur konkreten Perspektive wurde.235 Im Juli bekräftigte Mitterrand, dass Frankreich einen Abzug überdenke.236 Seine Begründung fand dieser Schritt – nach Außenminister Dumas – vor allem in dem veränderten völkerrechtlichen Status des vereinigten Deutschlands: „Ein Kriterium für die wiederhergestellte Souveränität ist natürlich der Abzug der ausländischen Truppen.“237 Auch wenn die deutsche Seite unter Helmut Kohl wiederholt versicherte, dass beide Partner künftig zusammen 229
Bulletin der Bundesregierung 90/1990. Ebenda. Jürgen Groß, Politische und geostrategische Aspekte der Entwicklung europäischer Streitkräfte-strukturen, in: Hans-Georg Ehrhardt (Hrsg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Positionen, Perzeptionen, Probleme, Perspektiven, Baden-Baden 2001, S.258-271, hier: S.259. 232 Bereits in den 1980er Jahre hatte man von Pariser Seite versucht, eine eigenständige, europäische Verteidigungsidentität zu begründen. Als Ansatzpunkt sollte schon damals eine generelle Aufwertung der WEU als sicherheitspolitisches Konsultationsgremium dienen; vgl.: Burkhardt Greif, Die französische Sicherheitspolitik: die Ära François Mitterrand, Frankfurt a.M. 1991, S.50. 233 Vgl. Rocards Rede vor dem IHEDN in Paris am 7. September 1989, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 25. September 1989. 234 Vgl.: Le Figaro vom 30. Januar 1990 235 Bruck, Mitterrands Deutschlandbild, S.240. 236 Vgl.: Mitterrands Interview mit Antenne 2 und TF 1 am 14. Juli 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 20. Juli 1990, hier: S.3. 237 Dumas in der Pressekonferenz nach dem Zweiten Treffen der sechs Außenminister der Ottawa-Gruppe in Berlin am 22. Juni 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 13. Juli 1990, hier: S.3. 230 231
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der „Motor für ein engeres außen-politisches Zusammenwirken der EG-Staaten gegenüber Osteuropa“ sein sollten, und demzufolge beide auch weiterhin die „Schlüsselrolle bei der Fortentwicklung der Gemeinschaft“ einnehmen würden,238 markierte für Paris die mit der Vereinigung wiedererlangte Souveränität des deutschen Partners eine deutliche Zäsur im bilateralen Verhältnis. Die Ankündigung des Abzuges der französischen Truppen in Deutschland (Forces Françaises en Allemagne/FFA) war somit sowohl Bedingung als auch unmittelbare Folge der nun mehr vollständig erlangten deutschen Souveränität.239 Entfiel doch so die rechtliche und auch die politische Legitimation für ihre Stationierung.240 Deutlich trat hervor, dass Deutschland mit dem Abflauen der Ost-West-Konfrontation seine Glacis-Funktion innerhalb der strategischen Planung Frankreichs eingebüßt hatte. Auch war es, zumal vor dem Hintergrund der zu erwartenden strategischen Neuausrichtung, naheliegend, den eigenen Verteidigungshaushalt durch den Abzug der über 20.000 Soldaten aus Deutschland zu entlasten.241 Die darüber hinaus gelegentlich angeführten Abzugsforderungen seitens einiger deutscher Städte und Gemeinden spielten daneben nur eine marginale Rolle. Ziel der Pariser Initiative war jedoch keinesfalls eine Beendigung der militärischen Zusammenarbeit, sondern deren Neudefinition: „Von da an […] kann Deutschland durch besondere Vereinbarungen, in bilateralen Abkommen, selbst entscheiden, daß es ausländische Truppen beibehält, aber die Präsenz dieser Truppen hat einen vollkommen anderen Charakter als die, die aus den Nachkriegsabkommen hervorgegangen ist.“242
Der angekündigte Truppenabzug war so vornehmlich ein Zeichen dafür, dass die Zeit der alten Sicherheitsordnung zu Ende ging und neue Strukturen geschaffen werden sollten. Die Pariser Forderung nach gesonderten bilateralen Abkommen zur Stationierung französischer Truppen in Deutschland war folglich nicht nur rein völkerrechtlichen Abwägungen geschuldet: Es ging auch, wie Mitterrand am Vorabend des 3. Oktober 1990 andeutete, um ein eindeutiges deutsches Bekenntnis zu einer europäischen Verteidigung im Allgemeinen und zur deutsch-französischen Sicherheitskooperation im Besonderen.243 Diese Setzung unterstreicht, wie sehr sich die französische Sicherheitspolitik im Angesicht des europäischen Umbruchs bemühte, die zukünftige Gestaltung der sicherheitspolitischen Landschaft Europas nicht vollkommen von der amerikanischen Position abhängig zu
238
Vgl. Kohls Rede im Rahmen der Konferenz des „Institut Français des Relations Internationales“ im „Centre de Conférences Internationales“ in Paris am 17. Januar 1990 zum Thema: „Die deutsche Frage und die europäische Verantwortung“; abgedruckt in: EA 4/1990, D108-115, hier: D111; hierzu auch: Daniel Colard, L’Allemagne unie et le couple franco-allemand, in: Défense Nationale 5/1991, S.99-114, hier: S.104-106. 239 Vgl.: Guérin-Sendelbach, Frankreich und das vereinigte Deutschland, S.92. 240 Siehe: Mitterrands Ausführungen in der gemeinsamen Pressekonferenz nach den 56. Deutsch-französischen Konsultationen am 18. September 1990 abgedruckt in: Frankreich-Info vom 24. September 1990 ; auch: Claire Tréan, La France et le nouvel ordre européen, in: Politique Etrangére, Frühjahr 1991, S.81-90, hier: S.85. 241 Vgl.: François Heisbourg, Réflexions sur la politique de défense de la France, in: Politique étrangère 1/1990, S.157-169, hier: S.165. 242 Dumas in der Pressekonferenz nach dem Zweiten Treffen der sechs Außenminister der Ottawa-Gruppe in Berlin am 22. Juni 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 13. Juli 1990, hier: S.3. 243 Mitterrand in seinem Interview mit den Fernsehsendern ARD und ZDF am 2. Oktober 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 10. Oktober 1990, hier: S.2.
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machen.244 Gleichzeitig, das hatte die französische Gesprächslinie hinsichtlich der Bündniszugehörigkeit Deutschlands deutlich gemacht, war man nicht bereit, durch eine Schwächung der NATO Abstriche bei der westeuropäischen und somit auch der französischen Sicherheit hinzunehmen.245 Deutlich tritt so hervor, dass Frankreich sehr wohl zwischen zwei sicherheitspolitischen Zielvorgaben zu unterscheiden wusste: der einer „Verteidigung Europas“ und der einer „europäischen Verteidigung“.246 Mitterrand verfolgte zudem den Grundsatz, dass Sicherheit „…wie überall in der Welt, das Gleichgewicht der militärischen Mittel zur obersten Voraussetzung [hat, MK].“ Erst wenn dieses gewährleistet sei, mache die militärische Konfrontation keinen Sinn mehr und Zusammenarbeit würde sich entwickeln.247 Demgegenüber erwuchsen für die deutsche Seite Sicherheit und Stabilität aus einer möglichst weitgehenden militärischen Integration der unterschiedlichen nationalen Streitkräfte – und nicht allein durch militärisches Gleichgewicht. So hatte Helmut Kohl im Mai 1990 formuliert: „Die Lehre der Geschichte ist, daß militärisches Gleichgewicht allein den Frieden nicht verbürgt…“; ein ungefähres militärisches Gleichgewicht habe den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ebenso wenig verhindert wie den Zweiten Weltkrieg. Die entscheidende Frage müsse deshalb nicht jene nach der Zahl der Divisionen, sondern jene nach der politischen Kontrolle sein. Deshalb habe die Bundesrepublik nahezu alle ihrer Streitkräfte voll und ganz der Atlantischen Allianz und damit integrierten Befehlsstrukturen unterstellt.248 Es ist auch daher richtig, wenn Alex Sauder folgert, dass Einhegung und Vernetzung staatlicher Macht ein zentrales Ziel der deutschen Sicherheitskonzeption sind.249 Für die Bundesrepublik verlor militärisches Gleichgewicht als traditioneller Sicherheitsfaktor in dem Maß an Gewicht, in dem die Staaten Europas miteinander kooperierten. Die Idee der „Machtpolitik“ wurde durch jene einer „Verantwortungspolitik“ ersetzt. 1.3 Die Deutsch-Französische Brigade – Auftakt zu einer neuen Stufe der Kooperation In diesem Spannungsfeld fand am 17. Oktober 1990 in Malmsheim bei Stuttgart die Indienststellung der Deutsch-Französischen Brigade unter Teilnahme des französischen Verteidigungsministers Jean-Pierre Chevènement und seines deutschen Amtskollegen Gerhard Stoltenberg statt. Die Idee zu einem deutsch-französischen Großverband war – wie oben
244
Vgl.: Stefan Fröhlich, Umbruch in Europa. Die deutsche Frage und ihre sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Siegermächte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1990/B 29, S.35-45, S.42. 245 Diesem Punkt kam ein besonderes innenpolitisches Gewicht zu, vgl.: Rouget, Frankreich, Europa und die Atlantische Allianz, S.249-250. 246 Vgl.: Guérin-Sendelbach, Ein Tandem für Europa?, S.151. 247 So exemplarisch formuliert in Mitterrands Rede anlässlich des Abschlussforums der Ecole de Guerre 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 3. Mai 1991. 248 Vgl.: Helmut Kohl: „Ein geeintes Deutschland als Gewinn für Stabilität und Sicherheit in Europa“, Rede vor der Interparlamentarischen Abrüstungskonferenz in Bonn, 23. Mai 1990, Bulletin der Bundesregierung 68/1990, S.587. 249 Sauder, Souveränität und Integration, S.116 u. S.132-133. Sauder benennt als Kennzeichen der deutschen Außenpolitik den Glauben an die Binnenwirkung von Integration. Durch sie sollte das Handeln von Staaten gemäßigt, auf Normen und Regeln verpflichtet und staatliche Autonomiefähigkeit eingehegt werden.
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dargelegt - am 19. Juni 1987 zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt worden.250 Anlässlich der Indienststellungszeremonie am 17. Oktober 1990 erklärte Chevènement, für den die deutsch-französische Brigade „unique en son genre“ war: « Un chapitre de l’histoire de l’ Europe se tourne, un autre est à écrire. La première page de ce nouveau chapitre, nous l’écrivons avec la brigade franco-allemande ».
Gerhard Stoltenberg betonte, die Brigade habe sowohl einen politischen Wert an sich als auch einen konkreten militärischen Auftrag.251 Ein Aspekt, den auch sein französischer Amtskollege bestätigte.252 Angesichts der Veränderungen im geostrategischen Umfeld hatte dieses Exempel gemeinsamer Sicherheitspartnerschaft, welches ja noch unter dem Eindruck des Kalten Krieges konzipiert worden war, an Bedeutung gewonnen. Ganz im Sinne der Mitte der Jahres 1990 vorgestellten neuen NATO-Konzeption für künftige multinationale Großverbände kam der deutsch-französischen Brigade nun ungeahnter Modellcharakter zu. Zugleich war die in Bonn von Anfang an gehegte Hoffnung, mit der gemeinsamen Brigade die französischen Streitkräfte schrittweise wieder stärker an die NATO-Strukturen heranzuführen, nach wie vor präsent. Dennoch gab es kritische Stimmen. Gefragt wurde vor allem, ob die deutschfranzösische Sicherheitszusammenarbeit vor dem Hintergrund der Umwälzungen in Europa ihren Zenit nicht bereits überschritten habe. So schrieb etwa die Neue Züricher Zeitung: „Angesichts der Veränderung der Lage in Europa und nach der deutschen Wiedervereinigung mutet dieser bilaterale integrierte Heeresverband außerhalb der NATO-Struktur nicht so sehr als Keim einer europäischen Armee, sondern vielmehr als ein schwieriges Experiment aus einer früheren Phase enger Kooperation an.“253 Dabei war der militärische Anspruch der Brigade anfangs durchaus bescheiden definiert. So heißt es etwa in Artikel 1 der am 2. November 1989 unterzeichneten Verwaltungsvereinbarungen für den Betrieb und die Organisation der Deutsch-Französischen Brigade, die Brigade solle unter anderem dazu dienen: „ …[I.] wann immer möglich die Festlegung gemeinsamer Verfahren sowie die Abstimmung der Bedingungen für die Dienstausübung und der Lebensbedingungen der Truppenteile zu erreichen, um die Verfahren der Interoperabilität zwischen den deutschen und französischen Truppenteilen […] zu überprüfen; [II.] das gegenseitige Kennenlernen zu fördern, [III.] die Standardisierung von Material und Ausrüstung wirksamer zu gestalten.“254
Der militärische Einsatzauftrag der Brigade war demgegenüber breiter definiert. So führte etwa Generalmajor Frank Schild, Befehlshaber des zuständigen deutschen Wehrbereichs250
Kohl äußerte, dass sich diese neue Qualität der deutsch-französischen verteidigungspolitischen Zusammenarbeit nicht gegen das Atlantische Bündnis richte. Auch seien die französischen Kernwaffen von dieser Kooperation ausgeklammert; vgl.: EA 42 (1987), Z 132. 251 Le Monde vom 19. Oktober 1990. 252 So gab Chevènement zu bedenken, dass die Brigade, auf der einen Seite : «…est important de matérialiser l’amitié franco-allemande » aber, auf der anderen Seite, « …pose un problème de doctrine, de concept stratégique »; vgl: Le Monde vom 19. Oktober 1990. 253 Neue Züricher Zeitung (NZZ) am 19. Oktober 1990. 254 Verwaltungsvereinbarungen für den Betrieb und die Organisation der Deutsch-Französischen Brigade; siehe: http://www.df-brgade.de/site_de/dok/vwv_02111989.htm.
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kommandos V aus, die deutsch-französische Brigade könne, neben Schutzaufgaben in rückwärtigen Kampfzonen, auch Einsätze am vorderen Rand der Verteidigung erfüllen. Ferner sei die Brigade im Kriegsfall als strategische Reserve der NATO-Heeresgruppe Mitte unterstellbar.255 Der Aufbau einer Brigade mit Soldaten aus zwei verbündeten, aber jeweils souveränen Staaten führte nicht nur zu den genannten militärisch-organisatorischen, sondern auch zu rechtlichen Problemen. So konnte diese Einheit weder den regulären deutschen Heeresstreitkräften noch den „Forces Françaises en Allemagne“ (FFA) angehören; sie stand außerhalb der bestehenden militärischen Integrationen. Zudem waren die jeweiligen nationalen Kontingente nicht der NATO assigniert.256 Räumlich waren die Einheiten der DeutschFranzösischen Brigade mit der gemischt-nationalen Stabseinheit und dem dazugehörigen Logistikbataillon am ersten Hauptquartier in Böblingen bei Stuttgart und je einem deutschen Jägerbataillon ebenfalls in Böblingen und einem Artilleriebataillon in Horb am Neckar sowie dem 110. französischen Infanterieregiment in Donaueschingen disloziert. Die Stationierungsentscheidung begleiteten von Beginn an Diskussionen über rechtliche und logistische Rahmenbedingungen und Unterhaltskosten,257 die aber durch ein Entgegenkommen der deutschen Seite auf den Feldern Logistik und Infrastruktur gelöst wurden. 1.4 Welches Leitbild für die europäische Sicherheit? Ein anderes sicherheitspolitisch relevantes Projekt des Jahres 1990 war das von Paris verfolgte Konzept einer Europäischen Konföderation. Nukleus dieser Konföderation sollte die bestehende europäische Zwölfergemeinschaft bilden,258 die ihre Strukturen hierfür allerdings noch festigen müsse. In einem zweiten Schritt sollte dann ein zwischenstaatlicher Kooperationsrahmen geschaffen werden, in dem sich Gesamteuropa wiederfinden könne.259 Das wichtigste Kennzeichen der so gearteten Konföderation sollte der gleichberechtigte Zugang und das Recht aller Staaten auf Kooperationsbeziehungen untereinander sein. Dafür sollte eine Dialogstruktur zwischen der Europäischen Gemeinschaft, also dem Europa der Zwölf, und den Mittel- und Osteuropäischen Staaten geschaffen werden, welche die Voraussetzungen für eine europäische Selbstverwaltung nach französischer Lesart schuf. Überhaupt waren die Traditionslinien zu dem klassischen, gaullistischen Konzept eines „Europa vom Atlantik zum Ural“ beziehungsweise des „europäischen Europa“ unverkennbar.260 Dennoch ging es nicht darum, einen Ersatz für die bestehenden westeuropäischen
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Vgl.: Stuttgarter Zeitung vom 27. September 1988. Von deutscher Seite wurden der Deutsch-Französischen Brigade mit einer Heimatschutzbrigade ganz bewusst solche Truppen unterstellt, die nicht der Kommandostruktur der NATO assigniert waren. Da Frankreich seinerseits im Jahre 1966 seine gesamten Streitkräfte aus dem militärischen Teil der NATO ausgegliedert hatte, wurden auch von französischer Seite zur Aufstellung der D/F-Brigade der NATO keine Truppen „entzogen“. 257 Hierzu etwa: Die Welt vom 30. September 1988. 258 Vgl. den Text von Mitterrands Neujahrsansprache vom 31. Dezember 1989, abgedruckt in: Le Monde vom 2. Januar 1990; siehe auch: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Umbruch in Europa. Die Ereignisse im 2. Halbjahr 1989. Eine Dokumentation, Bonn o.J., S.167-168 259 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.142. 260 Mitterrand sprach in leichter Abwandlung von einem „Europa der Geographie“. 256
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Strukturen zu finden, denn „…die Konföderation ist nicht vorstellbar ohne die europäische Gemeinschaft.“261 Die Konföderation beginne vielmehr dort, wo die Gemeinschaft ende.262 Hieraus lässt sich unschwer ablesen, dass die französische Führung im Jahr 1990 darauf bedacht war, die Kohärenz innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht durch eine übereilte Erweiterung zu gefährden. Gleichzeitig war man bemüht, den Mittel- und Osteuropäischen Staaten die Beitrittsperspektive zur EG nicht gänzlich zu verwehren, um die der Gemeinschaft der Zwölf zugedachte Schlüsselrolle bei der Neuordnung Europas nicht zu gefährden.263 Dabei ging es der französischen Seite jedoch weniger um konkrete rechtliche Normen oder Institutionen, sondern vielmehr um die Formulierung eines Leitbildes,264 dessen eigentlicher Inhalt aber recht vage formuliert blieb. Ziel der Initiative265 war es, ein Europa zu gestalten, welches zwei Extreme umging: Hegemonie und Zersplitterung.266 Für Paris war das Konföderationsprojekt dabei in vielerlei Hinsicht ein diplomatischer Königsweg, erlaubte er es Frankreich doch – durch den Verweis auf die gesamteuropäische Dimension der Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa – als Anwalt des europäischen Interesses aufzutreten. Gleichzeitig bot die vage Formulierung des Konföderationsprojekts auch hinreichend großen Spielraum bei den anstehenden Verhandlungen. Wie wenig man sich dabei von konkreten Vorstellungen leiten ließ, verdeutlichte letztlich auch das Bestreben der französischen Führung, die Europäische Konföderation nicht zum Lösungsansatz für die durch die Erosion des europäischen Status quo aufgeworfenen Sicherheitsfragen zu stilisieren. Vielmehr müsse die Konföderation, so die französische Seite, das Ergebnis der Lösungen sein, die man finden müsse, um auf die neuen sicherheitspolitischen Fragen zu antworten.267 Mit der Unterzeichnung der Charta von Paris im November 1990 war man auf französischer Seite dann davon überzeugt, dass Europa sich wieder um ein und dieselbe Vision der Welt, um ein Erbe gemeinsamer Werte, jener der Demokratie und Grundrechte, versammelt hatte.268 So bekannte sich die „Charta von Paris“ vom 21. November 1990 mit Blick auf die europäische Sicherheitspolitik zu einem konkreten Gestaltungsauftrag. Eine mögliche Grundlage hierfür sollte der schon bestehende Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa sein.269 Eine andere Entwicklungsachse hin zu diesem Ziel war die deutsch-französische Kooperation. Es wirkte sich positiv aus, dass die bilateralen Unstimmigkeiten des ersten Halbjahres 1990 zwischenzeitlich überwunden waren. Das es im bilateralen Verhältnis wieder 261
Hubert Védrine, Jean Musitelli, Die Veränderungen der Jahre 1989-1990 und das Europa des nächsten Jahrzehnts, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 5. Juli 1990, S.8. Ebenda. 263 Roland Dumas: „Mit dem Vorschlag, gemeinsam und auf gleichberechtigter Basis eine europäische Konföderation zu gründen, hat der Präsident der Republik ihnen [den Ländern Osteuropas, MK] […] einen Ersatz für den zur Zeit nicht möglichen Beitritt zu unserer Gemeinschaft gegeben.“ Dumas in seiner Rede im Senat am 27. Juni 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 2. Juli 1990, hier: S.6. 264 Vgl.: Attali, Verbatim III, S.382; S.385. 265 Mitterrands Initiative wurde deswegen als Europäische „Konföderation“ betitelt, weil das Wort „Gemeinschaft“ schon belegt war; vgl.: Attali, Verbatim III, S.382. 266 Vgl.: Dumas’ Rede im Senat am 27. Juni 1990, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 2. Juli 1990, hier: S.7; siehe auch: Alain Carton, Hans-Dieter Heumann, Deutschland, Frankreich und die Sicherheit in Europa, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Nr. 1/1991, S.10-16, S.13. 267 Vgl.: Dumas’ Rede vor dem IHEDN am 6. Februar 1990, in: Frankreich-Info vom 9. Februar 1990. 268 Vgl.: Mitterrands Rede anlässlich des Abschlussforums der Ecole de Guerre 1991, in: Frankreich-Info vom 3. Mai 1991. 269 Vgl.: Bulletin der Bundesregierung vom 24. November 1990. 262
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„klappte“, unterstrichen für Kohls außenpolitischen Berater Horst Teltschik nicht zuletzt die Ergebnisse der 56. Deutsch-Französischen Konsultationen vom 17./18. September 1990,270 die den Grundstein für ein gemeinsames Voranschreiten in zentralen Bereichen der Europapolitik legten.271 Bereits im unmittelbaren Vorfeld hatte sich Joseph Rovan für eine enge „entente fondamentale“ zwischen Frankreich und Deutschland im Bereich der Sicherheitspolitik ausgesprochen. Diese sollte neben gemischten Truppenverbänden und gemeinsamen Rüstungsprogrammen auch gemeinsame strategische Konzepte bis in den Nuklearbereich hinein umfassen.272 Auch die deutsche Seite hatte erkannt, dass eine Politische Union der Europäer ohne eine Einbeziehung der Sicherheitspolitik Stückwerk bleiben würde. „Für uns“, so Kohl in einer Regierungserklärung vom 22. November 1990, „…gilt unverändert, dass das europäische Einigungswerk ohne die volle Einbeziehung der Sicherheitspolitik und langfristig der Verteidigung unvollständig bleibt.“ Konkret suchte der deutsche Kanzler jedoch den auseinanderstrebenden Anforderungen der deutschamerikanischen und deutsch-französischen Freundschaft dadurch gerecht zu werden, dass er die deutsch-französischen Initiativen strikt als den Versuch deklarierte, über einen möglichen Ausbau der WEU lediglich den europäischen Pfeiler der NATO stärken zu wollen.273 Hierzu passte, dass die in der EURO-Gruppe der NATO organisierten Verteidigungsminister am 5. Dezember erklärten, für die europäischen Mitgliedstaaten des Bündnisses sei die Übernahme größerer Verantwortung in der Verteidigungspolitik geboten.274 Kohl und Mitterrand forderten dann auch in ihrem gemeinsamen Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates, Giulio Andreotti vom 6. Dezember 1990, die Politische Union solle eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfassen, die „…sich auf alle Bereiche erstreck[t]. Ihr Ziel sollte es sein, die wesentlichen Interessen und die Werte der Union […] zur Geltung zu bringen, ihre Sicherheit zu stärken“. Darüber hinaus müsse die Union eine „echte“ Sicherheitspolitik umfassen, die zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik führen sollte. Als Vehikel dieses Prozesses schlugen Frankreich und Deutschland jetzt auch erstmals eine Verzahnung zwischen WEU und Union vor. Diese solle allerdings die von Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der Atlantischen Allianz respektieren.275 Dennoch herrschte über das Ziel einer gemeinsamen Verteidigung zwischen Bonn und Paris keineswegs vollständige Übereinstimmung. So antwortete Außenminister Dumas Mitte Dezember auf die Frage, ob Verteidigung und Sicherheit vergemeinschaftet werden könnten: „…die Sicherheit ja, die Verteidigung jedoch nicht. Die Abschreckungsdoktrin verträgt sich nicht mit kollegialen Entscheidungen über Verteidigungsfragen. Die Sicherheitspolitik ist jedoch die Fortsetzung unserer gemeinsamen Außenpolitik.“276 Gerade gegenüber dem Atlantischen Bündnis war die französische Haltung unverändert skeptisch – ein Punkt, der die bestehenden Auffassungsunterschiede zu Bonn exemplarisch unterstrich. 270
Teltschik, 329 Tage, S.336. Vgl.: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit, Nr.424, S.1544-1546 ; auch: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik 1990/91. Auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Eine Dokumentation, Bonn 1991, S.176-179. 272 Vgl.: Joseph Rovan „Pour une défense franco-allemande » in Le Monde vom 15. September 1990. 273 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.114. 274 Vgl.: EA, Nr. 8/1991, D200-201, hier D201. 275 Bulletin der Bundesregierung vom 11. Dezember 1990. 276 Roland Dumas in seinem Interview mit Les Echos vom 13. Dezember 1990, zitiert nach: Sauder, Souveränität und Integration, S.202. 271
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Das Bündnis müsse tiefgreifende Veränderungen in seiner Organisation durchführen, bevor sich die eigene Haltung ihm gegenüber verändere, ließ Paris verlauten.277 Die Debatte über die zukünftige Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäer kaprizierte sich also mehr und mehr auch auf die Frage, welchen Platz und welche Rolle dabei den Vereinigten Staaten zukam.278 1.5 Das Ringen um die Europäische Verteidigung „Nun stehen wir vor der Masse, der wir Form geben müssen; dem Europa, das aufzubauen ist, […] mit der Ruhe, die angemessen [ist, MK], wenn man die künftige Welt errichtet.“ François Mitterrand279
Das Jahr 1991 stand sicherheitspolitisch unter zwei Auspizien: zum einen der des Golfkrieges, der in der ersten Jahreshälfte eine internationale Streitmacht gegen die irakische Besetzung Kuwaits handeln ließ.280 Zum anderen entspann sich eine Debatte um die zukünftige Ausgestaltung des Nordatlantischen Bündnisses und – damit eng verknüpft – um die Schaffung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäer. Wesentlich war dabei vor allem die Frage, wie die GASP gestaltet werden sollte. Bedingungshintergrund für die Ausgestaltung der GASP war die Erosion des sicherheitspolitischen Umfeldes in Osteuropa, dessen markanteste Punkte der beginnende Konflikt in Jugoslawien und die Auflösung des Warschauer Paktes waren.281 Die osteuropäischen Staaten sahen sich mithin gezwungen, neue militärische Allianzen und Mechanismen der militärischen Zusammenarbeit zu suchen,282 die im Idealfall schlussendlich in einen gesamteuropäischen Sicherheitsraum einmündeten. Dieses Streben wurde auch in Paris und Bonn erkannt. Angedacht wurde hier – im Einklang mit dem Washingtoner Partner283 – unter anderem eine Fortentwicklung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in 277
Roland Dumas in seiner Erklärung am Rande der Ministertagung des Nordatlantikrates am 17. Dezember 1990 in Brüssel, abgedruckt in: EA Nr. 6/1991, D159-160, hier D159. 278 Boyer, Das französisch-amerikanische Verhältnis, S.7. 279 Mitterrand in seiner Rede anlässlich des Abschlussforums der Ecole de Guerre 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 3. Mai 1991, hier: S.6. 280 In den Vereinigten war die Enttäuschung greifbar, als im Herbst 1990 erkennbar wurde, dass das vereinigte Deutschland im Hinblick auf einen möglichen Golfkrieg weiterhin den alten Weg militärischer Nichteinmischung fortsetzen wollte. Gerade die Vereinigten, die Deutschland 1989 als „partner in leadership“ hervorgehoben hatten, erwarteten von der Bundesregierung eine neue Form internationaler Handlungsfähigkeit zum Schutz gemeinsamer Interessen und Werte. Aber Bonn verweigerte die Entsendung deutscher Streitkräfte und beteiligte sich lediglich materiell und finanziell. Demgegenüber begründete Mitterrand – ganz in der Tradition de Gaulles – die Beteiligung Frankreichs am Golfkrieg mit Verpflichtung, Frankreichs Rang in der Weltpolitik entsprechend zu handeln; vgl. hierzu auch: Alfred Frisch, Frankreichs weltpolitische Ambitionen und seine Hinwendung zu Europa, in: Dokumente 1999, S.100-104, hier: S.100. 281 Am 25. Februar 1991 trafen sich auf Vorschlag des Präsidenten der UdSSR Michael Gorbatschow die Außenund Verteidigungsminister des Warschauer Paktes in Budapest und besiegelten dort mit einem Protokoll die Auflösung der Gültigkeit aller im Rahmen des Warschauer Pakts abgeschlossenen militärischen Vereinbarungen mit Wirkung zum 31. März 1991. In Prag wurde dann auch am 1. Juli 1991 das Protokoll über die Beendigung des Warschauer Paktes von den sechs Mitgliedsländern unterzeichnet. 282 Eine Form dieser Zusammenarbeit stellte etwa die „Viségrad-Kooperation“ dar, die aus einem System bilateraler Übereinkünfte zur militärischen Kooperation zwischen Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn bestand. Siehe hierzu: Wassenberg, Eurokorps, S.30. 283 James Bakers Rede vor dem Aspen-Institut in Berlin am 18. Juni 1991, in: EA 1991, D337-344.
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Europa (KSZE) hin zum zentralen Gremium für die Sicherheit in Europa. Ähnlich wie für den deutschen Partner galt es für Paris aber zunächst, die Politische Union der Europäischen Gemeinschaften voranzubringen. Anfang Februar 1991 legten die Außenminister beider Länder ein Papier zur Fortentwicklung der GASP vor, in dem als Zielperspektive eine europäische Verteidigungsgemeinschaft umrissen wurde.284 Motor dieses Prozesses sollte die Westeuropäische Union (WEU)285 sein, die schrittweise eine organische Beziehung zur Politischen Union entwickeln und die schließlich integraler Bestandteil derselbigen werden sollte. Dazu sollten die Beschlüsse des Europäischen Rates Richtschnur für die Arbeit der WEU werden.286 Die WEU sollte ferner als „Kanal“ dienen, über den die Politische Union der Europäer und die NATO zusammenarbeiteten könnten. Wohl nicht zuletzt deshalb war man auf deutscher Seite davon überzeugt: „…die Stärkung des europäischen Pfeilers im Bündnis und die Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität [sind, MK ] verschiedene, aber zusammenhängende Prozesse, die aber insgesamt die Geschlossenheit und Effektivität des Bündnisses erhöhen werden.“ 287
In Paris sah man dies anders. Auch wenn man hier durchaus bereit war, die Beziehungen zur NATO in Teilen neu zu gewichten,288 beurteilte man die Zukunftsperspektiven des Atlantischen Bündnisses eher skeptisch: War nicht nach Wegfall der sowjetischen Bedrohung der – im amerikanischen Kongress ja diskutierte – Rückzug der amerikanischen Truppen aus Europa nur eine Frage der Zeit?289 Damit würde sich ein Schritt vollziehen, der von einigen Beobachtern schon Mitte der 1980er Jahre diagnostiziert worden war. So hatten etwa Karl Kaiser und Pierre Lellouche schon 1986 den teilweisen Abzug der Vereinigten Staaten aus Europa binnen eines Zeitraumes von zehn bis fünfzehn Jahre „…als sehr wahrscheinlich“ erachtet.290 Als Gründe hierfür galten wachsende Divergenzen zwischen den Staaten beiderseits des Atlantik über eine ganze Reihe strategischer, politischer und wirtschaftlicher Fragen und eine weiter wachsende amerikanische Ungeduld in Bezug auf ein Engagement der Europäer – vor allem bei Krisen außerhalb des NATO-Gebiets. Unter 284
Zu Einzelaspekten vgl.: Alain Carton/ Hans-Dieter Heumann, Deutschland, Frankreich und die Sicherheit in Europa, in Dokumente 1991, S.10-16. Zur Rolle der WEU in den 1980er Jahren, vgl.: Ingo Kolboom, Im Westen nichts Neues? Frankreichs Sicherheitspolitik, das deutsch-französische Verhältnis und die deutsche Frage, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S. 68-89, hier: S.77-81. 286 Gemeinsames deutsch-französisches Papier zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Politischen Union vom 6. Februar 1991, abgedruckt in: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik 1990/91. Auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Eine Dokumentation. Stuttgart 1991, S.338-341. 287 Vgl. die Rede Hans-Dietrich Genschers vor der WEU-Versammlung am 8. Juli 1991, in: Bulletin der Bundesregierung vom 12. Juli 1991. 288 Le Monde vom 19. März 1991 « La France participera désormais aux travaux du Comité des plans de défense de l’OTAN » ; Hans-Georg Ehrhart, La sécurité européenne vue par le PS et le SPD, in: Documents 5/1991, S.25-31, hier: S.26-28. 289 Vgl. hierzu u.a.: François Géré, L’Europe et l’OTAN dans la stratégie américaine, in : Défense Nationale 8/1991, S.49-65, S.57 sowie S.59-61. 290 Karl Kaiser und Pierre Lellouche, Das deutsch-französische Duo und die Sicherheit Europas: Gesamtschau und Empfehlungen, in: dieselben (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.291-305, hier: S.297. 285
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diesen Umständen erschien es fragwürdig, ob das im Jahr 1949 geschaffene Atlantische Bündnis im Jahr 2000 strategisch, politisch und wirtschaftlich für die Vereinigten Staaten noch immer so bedeutsam sein wird wie in den vergangenen Jahren. Paris verfolgte auch daher unverändert das Ziel einer europäischen Eigenständigkeit in der Sicherheitspolitik.291 Diese zutiefst gaullistische Ambition wurde aber von der Atlantischen Allianz konterkariert, die zunehmend bestrebt war, ihre Strukturen den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und auch eine verstärkte politische Rolle einzunehmen. Insbesondere nachdem die NATO auf ihrer Brüsseler Tagung am 27. Mai 1991 beschlossen hatte, ein Schnelles Eingreifkorps (Allied Rapid Reaction Corps, ARRC) der europäischen Bündnispartner unter britischer Führung aufzustellen,292 bekundete die französische Seite offen ihre Ablehnung: Ein solches Instrument sei eigentlich der Politischen Union der Europäer vorbehalten gewesen und hätte diese befähigen sollen, unabhängig von den Amerikanern agieren zu können. Außenminister Dumas stellte auf der Frühjahrstagung der Westeuropäischen Union nochmals klar, für sein Land sei die WEU die einzige Organisation, die für europäische Verteidigungsfragen zuständig sei. Das Ziel müsse hierbei „…nicht [rein, MK] militärisch, sondern politisch [sein, MK]. Wenn wir Europa aufbauen wollen, dann müssen wir auch eine europäische Verteidigung aufbauen.“293 Hier lag der Gegensatz zur Position der Vereinigten Staaten, die der amerikanische Verteidigungsminister Dick Cheney bei seinem Frankreichbesuch am 26. Mai 1991 exemplarisch formulierte: Washington lehnte die Schaffung einer europäischen Verteidigungsorganisation außerhalb der NATO strikt ab.294 Auch das Britische Verteidigungsweißbuch von 1991 kritisierte eine solche Organisation: „Der Versuch einer Bildung vollkommen voneinander verschiedener west-europäischer Verteidigungsorganisationen, wobei die Zwölf [Mitglieder der EG, MK] die WEU am Ende völlig schluckten, würde sich störend auf die NATO auswirken. Dies würde mindestens zwei Klassen europäischer NATO-Staaten zur Folge haben und das Prinzip gleicher Sicherheit für alle untergraben. […] Dieser Weg würde zur Verwirrung führen…“295
Demgegenüber hatte Jacques Delors, Kommissionspräsident der Europäischen Gemeinschaften, wenige Wochen zuvor erklärt, dass eine Europäische Union nur dann denkbar sei, wenn eine „progessive Integration“ der WEU und langfristig ihre Aufnahme in die Gemeinschaft angestrebt würde.296 Auch läge es, so Delors – wie gewohnt in enger Abstimmung mit François Mitterrand – weiter, im Interesse der Atlantischen Allianz, wenn die 291
Die Atlantische Allianz könne nicht dauerhaft aufrechterhalten werden, ohne dass man die neuen europäischen Realitäten berücksichtige, lautete das entsprechende Diktum; vgl.: Védrine/Musitelli, Das Europa des nächsten Jahrzehnts, in: Frankreich-Info vom 5. Juli 1991, hier: S.7. 292 Vgl.: Kommunique der gemeinsamen Ministertagung des Verteidigungs-Planungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe der NATO vom 29. Mai 1991; in: EA 1992 D32-36. Die Übertragung des ARRCKommandos an Großbritannien wurde weithin als Kompensation für den abgeschafften Obersten Alliierten Befehlsbereich Ärmelkanal angesehen. 293 Die Welt vom 6. Juni 1991 „Die NATO verärgert Frankreich“. 294 So schreib etwa Le Figaro: « Avec François Mitterrand, Edith Cresson, Roland Dumas et Pierre Joxe, M. Cheney insistera particulièrement sur l’opposition américaine à la formation d’une force militaire européenne indépendante de l’OTAN » in : Le Figaro vom 27. Mai 1991 « La sécurité européene vue par les Etats-Unis » 295 Verteidigungsweißbuch der britischen Regierung vom 9. Juli 1991 in: EA 1991 D485-502, hier: D495. 296 Vgl. Jacques Delors’ Rede vor dem International Institute for Strategic Studies (IISS) 7. März 1991, in: EA 1991, D366-373, hier: D371.
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Europäer dort mit einer Stimme sprechen würden.297 Die Verstimmungen zwischen Paris und Washington rührten auch daher, dass US-Außenminister James Baker gemeinsam mit seinem deutschen Kollegen Genscher im Frühsommer 1991 in einer „Gemeinsame[n] Erklärung über die Weiterentwicklung der europäischen und transatlantischen Architektur“ eine Initiative ankündigte, die, durch die Schaffung eines NATO-Kooperationsrates mit den ehemaligen Angehörigen des Warschauer Paktes, die Rolle der Allianz in Fragen der europäischen Sicherheit stärken sollte. Zusätzlich gesteigert wurde der französische Unmut noch durch den Beschluss der Ministertagung des Nordatlantikrates in Kopenhagen am 6./7. Juni 1991,298 den europäischen Pfeiler des Bündnisses durch die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) zu stärken: Entwertete die NATO mit diesen raschen Entscheidungen nicht die von Frankreich gewollte, innereuropäische Debatte über eine „Europäische Sicherheitspolitik“ im WEU-Rahmen? Es wird deutlich, dass Frankreich die Schaffung einer wie auch immer gearteten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität als zunächst rein europäische Angelegenheit verstanden wissen wollte, die nicht von außen oktroyiert wurde. So sollte verhindert werden, dass die NATO, die in Kopenhagen erklärt hatte, sie allein sei der Siegelbewahrer des strategischen Gleichgewichts in Europa,299 bei der Neugestaltung Europas vermehrt auch eine politische Rolle einnahm.300 Überhaupt schien für Frankreich im Sommer 1991 nicht nur mit Blick auf die für Ende des Jahres terminierte Regierungskonferenz von Maastricht der „Augenblick der Wahrheit“ (Mitterrand)301 für die zukünftige Ausgestaltung der europäischen Außenpolitik gekommen. Dabei war für Paris klar, dass diese eine klare Perspektive auf eine tragfähige, gemeinsame Verteidigung haben müsse.302 Auch wenn man sich dieser Zielsetzung selbst im traditionell mehr atlantisch ausgerichteten Bonn nicht entziehen wollte und konnte, war der Pariser Kurs gegenüber der Atlantischen Allianz auch in der innerfranzösischen Debatte nicht unumstritten. So fragte etwa Alexis Lloyd in der Zeitung La Libération, ob die französische Ablehnung der NATO noch zeitgemäß sei. Wieder einmal laufe Frankreich Gefahr, so Lloyd in seiner Schlussfolgerung, an den Rand gedrängt zu werden.303 297
Ebenda, D 372. Bulletin der Bundesregierung vom 11. Juni 1991. 299 Vgl.: Die Erklärung zu den sicherheitspolitischen Kernfunktionen der NATO im neuen Europa innerhalb des Kommuniqués der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 7. Juni 1991 in Kopenhagen, abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung vom 11. Juni 1991. 300 Der Washingtoner Vertrag zielte von Beginn an nicht allein auf die Errichtung eines Militärbündnisses ab. So verpflichtet beispielsweise Art. 2 des Vertrages über die Nordatlantische Alianz zur friedlichen Ausgestaltung der internationalen Beziehungen und zur Entwicklung wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Die Wahrnehmung der NATO als vornehmlich militärische Organisation stellte sich erst in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ein; vgl.: Rattinger, Sicherheitspolitik, S.25-29. 301 Mitterrand in seiner Rede vor der Berliner Pressekonferenz am 19. September 1991, in: Frankreich-Info vom 23.September 1991. 302 Elisabeth Guigou, Beigeordnete Ministerin für Europäische Angelegenheiten, in der Zeitung Le Monde am 23. Juni 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. Juni 1991, hier: S.3. 303 La Libération vom 25. Juni 1991 « La France sans l’OTAN ou l’anachronisme d’une illusion » Alexis Lloyd führt hier aus: « …La France se trouve donc à nouveau isolée dans uns situation irritante bien que previsible: la réorganisation des structures de l’OTAN est devenue une quasi-certitude, sur laquelle nous n’avons que peu d’influence en raison de notre position au sein de l’Alliance, alors que le projet d’une politique de défense communautaire reste à l’état de lointaine ébauche.…La crispation française dans uns conception exclusivement communautaire de l’UEO serait porteuse de son propre échec. Le maintien du statu quo est davantage synonyme de marginalisation que de glorieuse indépendance. » 298
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Flankiert wurde diese Debatte von einer krisenhaften Zuspitzung der Entwicklung im zerfallenden Jugoslawien. Im Frühsommer 1991 schickten sich mit Slowenien und Kroatien zwei bisherige Teilrepubliken an, den überkommenden jugoslawischen Staatenverband zu verlassen und ihre Unabhängigkeit zu erklären. Auf einschlägige Anfragen hin hatte man sich innerhalb der Europäischen Gemeinschaft jedoch darauf verständigt, entsprechende Erklärung nicht anzuerkennen.304 So drängten die Westeuropäer nach erfolgter Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens vom 25. Juni 1991 dann auch darauf, die Erklärung für drei Monate auszusetzen. Dieses Drängen und die fortgesetzte Finanzhilfe der EG an Belgrad vermittelten der jugoslawischen Zentralregierung den Eindruck, der Westen und vornehmlich die EG befürworte die Aufrechterhaltung der Einheit Jugoslawiens. Auch deshalb intervenierte die jugoslawische Volksarmee in beiden Ländern. Die Situation eskalierte mehr und mehr, zumal sich Bonn und Paris – auch mangels diplomatischer und militärischer Alternativen – zu lange an einer Sicherung des Status quo ante orientierten. Diese Alternativlosigkeit führte insbesondere Paris vor Augen, dass Europa zukünftig in der Lage sein müsste, auf ähnlich gelagerte Konflikte autonom reagieren zu können. Mitterrand formulierte in diesem Kontext im September 1991 den Bedarf nach einer (europäischen) Interventionstruppe, die nach Ausrüstung und Umfang geeignet wäre, die Konfliktparteien in Jugoslawien dauerhaft zu trennen.305 Auch daher war man in Paris bestrebt, der WEU zukünftig eine stärkere Rolle zu geben.306 Hierzu passte, dass der Ministerrat der WEU bereits am 27. Juni 1991 in Vianden/ Luxemburg beschlossen hatte, die Westeuropäische Union zukünftig und im Einklang mit der in der Haager Plattform von 1987307 getroffenen Feststellung, dass das europäische Einigungswerk ohne eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik unvollständig sei, als festen Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses auszubauen.308 1.6 Der Beschluss zur Aufstellung des Eurokorps „Europa kann ja nicht eine Außenpolitik ohne die Perspektive einer gemeinsamen Verteidigung haben. Eine amputierte Außenpolitik dieser Dimension gäbe Elisabeth Guigou309 es nicht.“
Die Entscheidung, einen deutsch-französischen militärischen Großverband in Form eines Europäischen Korps aufzustellen, ist eine der markantesten Zäsuren der europäischen 304
Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen? Aktualisierte Ausgabe, Berlin 1997, S.400. Mitterrand in seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit dem deutschen Bundespräsidenten am 20. September 1991 in Weimar, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 25. September 1991. 306 Ein niederländischer Plan sah eine militärische Intervention unter dem Dach der Westeuropäischen Union vor. Auf dem WEU-Außenministertreffen am 18./19. September 1991 drückten Paris und Bonn ihre volle Unterstützung für dieses Vorhaben aus. Schlussendlich wurde es jedoch verworfen, ebenso wie ein Friedensplan der EG-Außenminister vom 13. Oktober 1991. 307 WEU-Erklärung zur „Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen“ vom 27. Oktober 1987, abrufbar unter: http://www.weu.int/index. 308 Mitterrand in seiner Rede vor der Berliner Pressekonferenz am 19. September 1991, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 23. September 1991. 309 Elisabeth Guigou, Beigeordnete Ministerin für Europäische Angelegenheiten, in der Zeitung Le Monde am 23. Juni 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. Juni 1991, hier: S.3. 305
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Sicherheitspolitik der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Aufbauend auf den Erfahrungen der im Oktober 1990 in Dienst gestellten gemeinsamen Brigade sollte mit dem sich später unter dem Namen „Eurokorps“ firmierenden Verband ein konkreter Schritt unternommen werden um der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine Gestalt zu geben. Dabei war die Idee kein neues Konzept. Schon 1987, rund vier Jahre zuvor, war im Umfeld des WEU-Beschlusses zu Grundlagen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Schaffung eines „Europa-Korps“ ins Auge gefasst worden. Diese – ursprünglich britische310 – Idee zielte damals darauf ab, mit diesem aus WEU-Einheiten bestehenden Korps die Bedeutung Europas innerhalb der Atlantischen Allianz zu stärken und zugleich als „Katalysator“ einer genuin europäischen Identität in Sicherheitsfragen zu dienen.311 Als Vorbild diente im Jahr 1987 der unmittelbar zuvor gefällte Beschluss zur Aufstellung der DeutschFranzösischen Brigade. Schon damals war als „Harter Kern“ der künftigen europäischen Verteidigungsgemeinschaft der WEU-Staaten eine erweiterte deutsch-französische Einheit ins Auge gefasst worden. Der Entschluss, die sicherheitspolitische Kooperation mit Frankreich hin zu einem militärischen Großverband zu verdichten, war im Bundeskanzleramt in Bonn gefallen. Unmittelbar nach Mitterrands Ankündigung vom September 1990, die in Deutschland stationierten französischen Truppen abzuziehen, griff man hier den Gedanken eines gemeinsamen deutsch-französischen Armee-Korps auf. Im Januar 1991 kam es zu ersten konkreten Gesprächen mit der französischen Seite auf Berater-Ebene. Zeitlich parallel hierzu führte Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991 aus: „…es [muss, MK] darum gehen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die langfristig auch die Perspektiven einer gemeinsamen europäischen Verteidigung einschließt. Das bedeutet, dass auch wir Deutsche zu größerem Engagement bereit sein müssen.“312
Dies beinhalte, so Kohl weiter: „…eine Struktur, die sich – mit weiterhin strikt defensiver Ausrichtung – auf kleinere, beweglichere Streitkräfte stützt. Ein weiterer neuer Ansatz könnte sein, multinationale, das heißt, aus Angehörigen verschiedener Partnerländer gebildete Einheiten zu schaffen.“ Die Übereinstimmungen mit Mitterrands bekanntem Wunsch, für die Politische Union den Grundsatz einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik festzuschreiben, die nicht nur auf dem Papier bestand, sondern über konkrete Handlungsinstrumente verfügte, waren augenscheinlich.313 Auch ließen sich Traditionslinien zur 1969 in Den Haag bzw. durch die Annahme des Luxemburger Berichts im Oktober 1970 durch die Staats- und Regierungschefs der EWG aufgelegten „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (EPZ) ausmachen. Nunmehr wurde die sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension allerdings wesentlich deutlicher gefasst. Parallel entwickelte sich in Deutschland und Frankreich eine Diskussion um die zukünftigen Aufgaben und
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Konzipiert wurde sie von Mitgliedern der sogenannten „Bow Group“, einer Vereinigung von konservativen Mitgliedern des britischen Unterhauses. FAZ 2. November 1987: „Ein „Europa-Korps“ außerhalb der NATO“. 312 Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung am 30. Januar 1991, abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung vom 31. Januar 1991. 313 Staatspräsident Mitterrand während seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Kohl am 24. April 1991 in Paris, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 26. April 1991. 311
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die dafür erforderliche Ausrüstung der Streitkräfte.314 Insbesondere für die französische Seite deutete sich dabei ein entscheidender Umbruch an, da die Nuklearbewaffnung, zu deren Gunsten man in früheren Jahren andere Truppenteile vernachlässigt hatte, ihre Bedeutung eingebüßt hatte.315 Der weitere Weg in Richtung Europa-Korps führte dann von dem bereits erwähnten Gemeinsamen Deutsch-Französischen Papier zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit vom Februar 1991 über die sich im Frühjahr entspinnende Diskussion über die militärische Aufgabenverteilung zwischen WEU und NATO hin zum deutsch-französischen Gipfel am 29./30. Mai 1991 in Lille, auf dem Helmut Kohl mit Blick auf mögliche Eingreifverbände der NATO und der WEU von einem „Nicht nur, sondern auch“316 sprach. Auf sich anschließenden informellen Treffen zwischen Mitterrand und Kohl317 wurde die dann im Spätsommer 1991 getroffene Entscheidung, einen deutsch-französischen Großverband aufzustellen, weiterentwickelt. Zentrale Wegmarke dabei war das (informelle) Treffen von Kohl und Mitterrand am 23. Juli 1991 in Bad Wiessee am Tegernsee, bei dem man sich – auf einen konkreten Vorschlag der deutschen Seite hin318 – darauf verständigte, in unmittelbarer Zukunft einen gemeinsamen militärischen Großverband aufzustellen. Gerade im Elysée-Palast war man über diesen Durchbruch mehr als zufrieden, bedeutete dies doch endlich ein veritables Gegenstück zu der dynamischen Entwicklung, welche die NATO seit dem Jahr 1990 durchlaufen hatte.319 Zudem verstand man die Schaffung einer von den Vereinigten Staaten unabhängigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität schlichtweg als in der Logik des europäischen Integrationsprozesses begründet. Dabei wollte man die deutsch-französische Korps-Initiative durchaus konstruktiv verstanden wissen, denn: „…die Schlacht um die Demokratie wurde im Frieden gewonnen. Aber das bedeutet auch, daß die Atlantische Allianz sich erneuern muß, wobei das Band der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten[…] bestehen bleibt.[…] Die deutsch-französische Zusammenarbeit im Sicherheitsund Verteidigungsbereich […, ist, MK] gegen niemanden gerichtet…“ 320
Es wird deutlich, dass man auch in Paris, ähnlich wie Washington, nach einer Zwei-SäulenStruktur in der Atlantischen Sicherheitspartnerschaft strebte. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: Die europäische Säule sollte von den Europäern völlig neu ent314
Vgl. exemplarisch die Rede von Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg auf der 32. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 13. März 199, in: Bulletin der Bundesregierung vom 15. März 1991. La Libération vom 3. April 1991 « Programmation militaire: l’austérité continue ». 316 Helmut Kohl in der gemeinsamen Pressekonferenz mit François Mitterrand am 30. Mai 1991 in Lillie, abgedruckt in: Adolf Kimmel, Pierre Jardin (Hrsg.), Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963. Eine Dokumentation, S.312. 317 Maßgeblich waren hier u.a. die Treffen von Mitterrand und Kohl am 24. April 1991 in Paris; am 25. Juni 1991 in Paris und am 23. Juli 1991 in Bad Wiessee (Tegernsee). 318 Sauder spricht demgegenüber von einem Vorschlag der französischen Seite; vgl.: Sauder, Souveränität und Integration, S.292-293. Kohls außenpolitischer Berater Joachim Bitterlich bestätigt demgegenüber, dass es sich um eine deutsche Initiative gehandelt habe. 319 Auch war man in Paris darüber erfreut, dass der Befehlsstab für das deutsch-französische Korps seinen Sitz im französischen Straßburg haben werde, wie Verteidigungsminister Joxe vor dem Finanzausschuss der Nationalversammlung unterstrich; Vgl.: Die Welt vom 6. November 1991 „Frankreich bringt den Sitz und eine Panzerdivision ein“. 320 Die französische Premierministerin Cresson in ihrer Rede vor dem IHEDN am 5. September 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 11. September 1991. 315
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wickelt und nicht durch Umwidmung bestehender Strukturen durch die NATO gewährt werden.321 Hintergrund war hier zu guten Teilen die selbstgewählte französische Sonderrolle innerhalb des Bündnisses, die eine aktive Teilnahme an einem NATO-internen Gestaltungsprozess verwehrte. Erst wenn ein „Gleichgewicht der Interdependenzen“, wie es der Leiter des Planungsstabes im Quai d’Orsay, Jean-Marie Guéhenno bezeichnete, wäre man in Paris bereit, enger mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren. Dies hieß konkret, dass Frankreich bereit war, einen gewissen amerikanischen Einfluss auf Europa zu akzeptieren, wenn im Gegenzug ein eigener Einfluss auf die amerikanische Politik ausgeübt werden könnte.322 Für die Bundesrepublik hingegen verschärfte sich durch die „Europa-Korps“Entscheidung einmal mehr der Spagat zwischen Paris und Washington. Der Öffentlichkeit wurde die deutsch-französische Entscheidung am 14. Oktober 1991, also wenige Wochen vor dem Zusammentreten des Europäischen Rats von Maastricht, in Form eines gemeinsamen Briefes von Kohl und Mitterrand an den Vorsitzenden des Europäischen Rats, den niederländischen Ministerpräsidenten Ruud Lubbers, vorgestellt. In ihrer „Botschaft zur gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik“323 machten der deutsche Bundeskanzler und der französische Staatspräsident erstmals weitreichende Vorschläge zur Entwicklung der Politischen Union und der Sicherheitspolitik. Ziel war es, der GASP, als einer der zentralen Punkte des künftigen EU-Vertrages, Substanz zu verleihen. Auch daher lieferte die gemeinsame Initiative konkrete Textentwürfe zu den einschlägigen Artikeln des zu formulierenden EU-Vertrages und Erklärungen zu den vorrangigen Bereichen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU sowie zur Zusammenarbeit zwischen WEU, Europäischer Union und Atlantischer Allianz. Dabei wurde die Errichtung des „Europa-Korps“ wie folgt beschrieben: „Die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit wird über die bestehende Brigade hinaus verstärkt. Diese verstärkten deutsch-französischen Einheiten könnten somit den Kern für ein europäisches Korps bilden, wobei Streitkräfte anderer Mitgliedstaaten der WEU einbezogen werden könnten. Diese neue Struktur könnte […] Modellcharakter für eine engere militärische Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten der WEU insgesamt haben.“ 324
1.7 Die WEU als organisatorischer Rahmen für das Eurokorps Die Hauptanliegen der gemeinsamen Botschaft Kohls und Mitterrands vom 14. Oktober 1991 war es, die Rolle der WEU als Bestandteil der europäischen Einigung zu stärken. Dementsprechend sollte der schrittweise Ausbau der WEU zu der Verteidigungsinstitution der Europäer vollzogen werden. Eckpunkte dieses Prozesses sollten eine verstärkte Rüstungskooperation, die Bildung von militärischen, der WEU zugeordneten Einheiten, die Einrichtung eines militärischen WEU-Planungs- und Koordinierungsstabes und die Harmonisierung der Reihenfolge und Dauer der Präsidentschaften von EG und WEU sein. Der projektierte Planungs- und Koordinierungsstab sollte sowohl gemeinsame Übungen militä321
Vgl. hierzu etwa: Regierungserklärung von Premierministerin Edith Cresson am 22. Mai 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 28. Mai 1991, hier: S.5. 322 Jean-Marie Guéhennol, Sicherheit und Verteidigung in Europa. Es geht nicht nur um Organisation, sondern auch um Grundfragen, in Dokumente 2/1992, S.121-127, hier S.123. 323 Bulletin der Bundesregierung vom 18. Oktober 1991. 324 Ebenda.
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rischer Einheiten der Europäer organisieren als auch die Planung für denkbare Einsatzszenarien koordinieren. Kohl und Mitterrand luden zudem alle Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, die zugleich NATO-Mitglieder waren, ein, der WEU beizutreten. Deutlich trat das Ansinnen hervor, durch die Schaffung von Tatsachen, wesentliche Komponenten der projektierten Politischen Union und insbesondere den projektierten bi- bzw. multilateralen militärischen Großverband als Verhandlungsmasse in die Schlussabstimmungen zur Maastrichter Regierungskonferenz einzubringen, um dieser so zum Erfolg zu verhelfen. Bundeskanzler Kohl würdigte in der Pressekonferenz anlässlich der 58. deutschfranzösischen Gipfelkonsultationen am 14./15. November 1991 in Bonn in diesem Zusammenhang den deutsch-französischen Vorstoß als Schritt hin zur politischen Einigung Europas. Dieser Prozess sei immer „…ein Weg auch der Vorstöße und Anstöße von Frankreich und Deutschland gewesen.“ 325 Der Fortschritt in der Einigung Europas sei die Voraussetzung für „…das Glück unserer eigenen Völker und das Glück der Völker Europas,“ so Kohl weiter. Mit Blick auf die bilaterale Eurokorps-Initiative ergänzte Mitterrand, Deutschland und Frankreich würden lediglich „ein Modell“ vorschlagen, welches niemanden aufgezwungen werden sollte.326 Die Schaffung eines bilateralen militärischen Großverbandes, mehr noch die damit verbundene Stärkung der WEU, war weder in Deutschland noch Frankreich unumstritten. Während jedoch in Deutschland der Schritt vom 14. Oktober 1991 vor der Gewissheit des atlantischen Sicherheitsverbundes eher als Ergänzung der bisherigen Bündnispolitik verstanden wurde,327 wertete man ihn auf französischer Seite zumeist als Akzentuierung von sicherheitspolitischer Eigenständigkeit.328 Sein eurozentrischer Ansatz stellte – betrachtet man das Panorama der innerfranzösischen Debatte jener Tage – einen Mittelweg zwischen den Anhängern zweier sich gegenüber stehender Denkschulen dar, die sich mit Dominique Moïsi als „Pragmatiker“ einerseits und als „Traditionalisten“ andererseits bezeichnen lassen. 329 Moïsi zufolge fanden sich die Pragmatiker vornehmlich innerhalb des französischen Militärs und befürworteten eine Rückkehr Frankreichs in die militärischen Ausschüsse der Alantischen Allianz, wie etwa das Military Committee, um bündnisinterne Entscheidungsprozess beeinflussen zu können. Eine Rückkehr französischer Truppen in die integrierten NATO-Strukturen wurde von den „Pragmatikern“ aber abgelehnt. Demgegenüber lehnten die „Traditionalisten” das Atlantische Bündnis schon aus Prinzip strikt ab und befürworteten eine vornehmlich an nationalen Parametern orientierte Verteidigungspolitik. Diese in gewisser Weise auch als „gaullistisch“ zu bezeichnende Linie hatte ihre Anhänger sowohl am linken Rand der Parti Socialiste als auch am rechten der konservativen Opposition.330 Die NATO-Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 7./8. November 1991 in Rom stand ganz im Zeichen des neuen Strategischen Konzepts des Bündnisses. Mit seiner Verabschiedung am 7. November 1991331 ging ein Prozess zu Ende, 325
Vgl.: Kimmel/Jardin, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963, S.315-321, hier: S.317. Ebenda, S.319. Bernard Brigouleix, Welches Tandem für welches Europa? Frankreich fürchtet ein neues deutsches Rollenverständnis, in: Dokumente 1991, S.268-272, hier: S.269-270. 328 Vgl. hierzu auch: Joseph Rovan, La politique de défense franco-allemande. Un bilan peu satisfaisant. Un espoir encore fragile, in : Documents 4/1991, S. 49-52. 329 Herald Tribune vom 7. November 1991 „The Place for France is in NATO“. 330 Auffällig war Mitterrands Bemühen, nie direkt mit diesen politischen Lagern in Konflikt zu geraten. HansGeorg Ehrhart, La sécurité européenne vue par le PS et le SPD, in : Documents 5/1991, S.25-31, hier: S.27. 331 Zusammenfassung abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung 128/1991. 326 327
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der auf dem Londoner NATO-Gipfel 1990 seinen Anfang genommen hatte. Aufbauend auf den geleisteten Vorarbeiten der bisherigen NATO-Konferenzen und unter dem Eindruck der Auflösung der Sowjetunion, wurde eine Bedrohung durch einen groß angelegten Angriff auf die Bündnispartner in Europa als nicht mehr wahrscheinlich angesehen. Vielmehr seien es nun andere, vielgestaltige Gefahrenquellen, wie beispielsweise die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen oder Terrorakte, welche das zukünftige Sicherheitspanorama prägen würden. Hieraus könnten Krisen entstehen, die durch eine rasche Eskalation geprägt seien und eine entsprechend schnelle Reaktion erfordern würden (Teil I). Die konventionellen Streitkräfte wurden daher in (1.) Hauptverteidigungs- bzw. Verstärkungskräfte mit niedrigem Bereitschaftsgrad zur Verteidigung der territorialen Unversehrtheit des Bündnisgebietes und (2.) in Sofort- bzw. Schnellreaktionskräfte mit hohem Bereitschaftsgrad zur Reaktion auf Krisen aufgeteilt.332 Diese Lagebeurteilung markierte zugleich das Ende der „Vorneverteidigung“ im klassischen Sinne. Demgegenüber wurde der Grundsatz der flexible response, unter verminderter Abstützung auf nukleare Waffen, beibehalten (Teil IV). Die NATO dehnte ihren Einsatzrahmen über das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten hinaus auch auf das sicherheitspolitische Umfeld der europäischen NATO-Partner aus. Die Bereiche Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie Dialog und Kooperation mit bündnisfreien Staaten wurden verstärkt (Teil III). Auch bekannte sich die Atlantische Allianz nunmehr ausdrücklich zu ihrer (sicherheits-)politischen Rolle.333 In der Lageeinschätzung mit den jeweiligen Vorstellungen konform laufend, sorgte letztgenannter Punkt für die zu erwartende Kritik der französischen Seite. Zwar hatte Mitterrand, um einer sicherheitspolitischen Isolation seines Landes vorzubeugen, seit dem Frühjahr 1991 die Annäherung Frankreichs an die NATO akzentuiert und in Rom seine Zustimmung zum „Neuen Strategischen Konzept“ formuliert. Dabei war es aber mehr um die Wahrung des eigenen Interesses als um Integrationsbestrebungen gegangen. Die Kurzformel lautete unverändert: „Mitspracherecht: ja, Selbsteinbindung: nein.“ Wie groß der bestehende Dissens zwischen Paris und dem Bündnis unverändert war, trat auf der abschließenden Pressekonferenz des RomGipfels am 8. November 1991 deutlich zu tage, auf welcher Staatspräsident Mitterand sein « Oui à la Alliance, mais non à la Sainte-Alliance » bekräftigte; Frankreich wünsche sich nach wie vor eine unpolitische NATO.334 Eine Rückkehr in die integrierte NATOMilitärstruktur komme nicht in Frage, zumal dies „…weder heute und noch weniger morgen“, so Mitterrands Sprecher Jean Musitelli, ein Hindernis für fruchtbare Zusammenarbeit sein werde.335 Der erklärte Wille der Allianz, zu einer politischen Rolle, mehr noch die Forderung des britischen Premierministers John Major, die Atlantische Allianz müsse bei der Entwicklung der Beziehungen zu den Staaten Mittel- und Osteuropas „eine Führungsrolle“ spielen, und die Einschätzung von NATO-Generalsekretär Manfred Wörner, der europäische Kontinent brauche die „Führerschaft“ der Allianz, gingen Mitterrand entschie-
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Vgl. hierzu auch die, am 13. Dezember 1991 durch die Verteidigungsminister der NATO beschlossene die MC 400 „MC Directive for the Military Implementation of the Alliance’s Strategic Concept“. 333 So heißt es im Text: „Die Allianz ist das wesentliche Forum für Konsultationen unter den Verbündeten und für die Vereinbarung von politischen Maßnahmen, die sich auf die Sicherheits- und Verteidigungsverpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten nach dem Nordatlantikvertrag auswirken.“ Teil II des Strategischen Konzepts der NATO von 1991, in: EA 1992, D55-56, hier D56. 334 Le Figaro vom 09./ 10. November 1991 « Paris marque sa différence ». 335 Die Welt vom 13. November 1991 „Paris wünscht unpolitische NATO“.
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den zu weit.336 Das alte französische Spannungsfeld zwischen Exklusivität und Isolation zeigte seine Beständigkeit. Dennoch sollte an der Bündnisfähigkeit der Franzosen kein Zweifel bestehen, wie Verteidigungsminister Alain Joxe vor den Teilnehmern des „Cours supérieur interarmées“ exemplarisch formulierte: „Im Bedarfsfall werden die französischen Streitkräfte in enger Abstimmung mit den Alliierten eingesetzt.“337 Überhaupt: Frankreich müsse sich schon deshalb an der europäischen Sicherheit beteiligen, da seine eigene territoriale Integrität vom Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent abhängen würde.338 Dazu müssten die französischen Streitkräfte, so Joxe vor der Nationalversammlung, in zwei Kategorien aufgeteilt werden: (I.) professionalisierte, hochmobile Eingreifkräfte und (II.) schwere Hauptverteidigungskräfte.339 Einzig wirkliches positives Ergebnis des NATO-Gipfels war für Paris das in der „Erklärung von Rom“340 formulierte Bekenntnis der Allianz zu einer europäischen Sicherheitsund Verteidigungsidentität.341 Es war festgestellt worden, dass die neue Sicherheitsarchitektur in Europa nicht von der NATO allein, sondern nur von einem Geflecht ineinander greifender Institutionen umfassend geleistet werden könne. Die Atlantische Allianz und die europäischen Organisationen der WEU, KSZE, EG/EU oder etwa der Europarat sollten und müssten einander ergänzen. Hierzu passte, dass Bonn ebenfalls und vor allem mit Blick auf die Maastrichter Regierungskonferenz die WEU weiter stärken wollte.342 Auch die WEU stellte im Kommuniqué ihrer Ministertagung vom 18. November 1991 eine mögliche Annäherung an die NATO in Aussicht.343 Für die französische Seite hatte Mitterrand bereits einige Wochen zuvor die Zielsetzung erläutert: Alle demokratischen Länder Europas müssten so zusammen arbeiten, „…daß sie mit denselben Rechten ausgestattet sind und […], daß das Wiederaufflackern von nationalen Bestrebungen, das ja Bestandteil der errungenen Freiheiten ist, sich nicht gegen die Freiheit wendet.“344 1.8 Europäische Sicherheitspolitik? – Das Vertragswerk von Maastricht Die 46. Tagung des Europäischen Rates am 9./10. Dezember 1991 setzte den Schlussstein unter die seit Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA)345 Mitte der 336
Die Zeitung La Libération schrieb am 9. November 1991 gar von einem „gaullistischen“ Abgang Mitterrands. FAZ vom 12. Dezember 1991. 338 Vgl.: die Ausführungen von Verteidigungsminister Joxe in der Assemblée Nationale am 13. November 1991, in: Sauder, Souveränität und Integration, S.186. 339 Financial Times vom 15. November 1991 “French army to be split”. 340 Vgl.: „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats vom 8. November 1991 in: EA 1992, D64-70. 341 Im Text der Erklärung heißt es: „Wir [die Atlantische Allianz, MK] sind uns darüber im klaren, daß es Sache der betreffenden europäischen Verbündeten ist, darüber zu entscheiden, welche Maßnahmen zur Formulierung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Verteidigungsrolle erforderlich sind.“ In. EA 1992, D66; siehe auch: La Libération vom 8. November 1991 « Feu vert de Bush à une défense européenne » . 342 Helmut Kohl, Erinnerungen 1990-1994, S. 386-388. 343 Vgl.: EA 1992, D 73-75. 344 Mitterrand in seiner Rede vor der Berliner Pressekonferenz am 19. September 1991, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 23. September 1991. 345 Die EEA wurde am 17./28. Februar 1986 unterzeichnet und stellte die erste große Vertragsreform des Vertrags über die Europäischen Gemeinschaften dar. Der wichtigste Fortschritt der EEA war die Einführung des Mehrheitsprinzips als Entscheidungsregel im Ministerrat. 337
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1980er Jahre laufenden Verhandlungen zum „Vertrag über die Europäische Union“.346 Von Anfang an war es dabei darum gegangen, aus dem Streben nach einer gemeinsamen europäischen Politik auch einen Beitrag zur Überwindung der Konflikte und der nationalstaatlichen Konkurrenzlogik zu ziehen.347 Bezogen auf die europäische Sicherheit stand dabei seit dem Jahr 1990 zudem der Gedanke im Mittelpunkt, dass es in Europa keine Räume unterschiedlicher Stabilität geben dürfte, die zum Nährboden neuer Konflikte werden könnten.348 Die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Maastrichter Gipfel im Dezember 1991 beschlossen daher die Vertiefung ihrer Gemeinschaft durch die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion und die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) im Rahmen des neuen Unionsvertrages zur GASP auszubauen. Die einschlägigen Artikel (Art. J-J.11) unter Titel V des Maastrichter Vertragswerkes zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) stehen im Zeichen dieser Grundannahmen. Als maßgebliche Vorarbeit ist unter anderem die Deutsch-französische Botschaft vom 14. Oktober 1991 zu werten. Nachdem einleitend Ziele, Abstimmungsgrundsätze (Feststellung gemeinsamer Standpunkte durch den Europäischen Rat, Art. J.2 II EUV) und Verfahrensfragen geregelt werden, wird die projektierte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Art. J 4 I EUV beschrieben: „Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“
Aus dieser Formulierung wird das Spannungsfeld deutlich, welches die Maastrichter Verhandlungen zur GASP prägte.349 Das Bestreben Frankreichs, aber auch Deutschlands, der WEU bei der sicherheitspolitischen Umgestaltung Europas eine Schlüsselstellung zu geben, blieb somit zunächst unverwirklicht. Allerdings wurde das Ziel erreicht, die WEU „…zum integralen Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union“ (Art. 14 J 4 II EUV) zu erklären. Konkretisiert wurde dies in einer im Rahmen der Maastrichter Konferenz abgegebenen „Erklärung zur Rolle der Westeuropäischen Union und ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz“ durch die Mitgliedstaaten der WEU.350 Diese
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„Vertrag über die Europäische Union“ vom 7. Februar 1992 (Ausfertigungsdatum), in: Bundesgesetzblatt (BGBl) 1992 II 1253 ff; hier zitiert nach: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.) Europäische Gemeinschaft Europäische Union. Die Vertragstexte von Maastricht mit den deutschen Begleittexten. Bonn 1993, S.171-245. 347 Matthias Dembinsk, Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Abschied vom Leitbild „Zivilmacht Europa“? in: Peter Schlotter (Hrsg.) Europa-Macht-Frieden? Zur Politik der „Zivilmacht Europa“, Baden-Baden 2003, S.72-100, S.74. 348 Bühl, Europäische Sicherheit, S.152-153. 349 So wurde etwa die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen vertraglich festgeschrieben (Art. J 4 IV EUV). Siehe hierzu auch: Alrun Deutschmann, Die britische Position zur GASP/ESVP: Von Maastricht nach Nizza, in: Hans-Georg Ehrhardt (Hrsg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Positionen, Perzeptionen, Probleme, Perspektiven, Baden-Baden 2001, S.58-73, hier: S.60-60; ebenso: Mark Lyall Grant, L’Union européenne: Un point de vue britannique, in: Défense Nationale 6/1991, S.97-102. 350 Die im Rahmen der Maastrichter Konferenz abgegebene „Erklärung zur Rolle der Westeuropäischen Union und ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz“, in Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.) Europäische Gemeinschaft Europäische Union. Die Vertragstexte von Maastricht mit den deutschen Begleittexten. Bonn 1993, S. 258-262.
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formulierte eine weitgehende Zustimmung zu den die WEU betreffenden Bestimmungen im EU-Vertrag. Gleichzeitig wurde aber die Eigenschaft der WEU als selbstständige Organisation betont. Der stärkeren Rolle der WEU bei einer zukünftigen Verteidigungspolitik der EU wurde prinzipiell akzeptiert. Die WEU sollte sich zur Verteidigungskomponente der EU entwickeln. Mit Blick auf die Brückenfunktion der WEU zwischen EU und NATO wurde hier erstmals der Begriff der doppelten Unterstellung (umgangssprachlich: double hatting) geprägt. Damit war eine variable Steuerung von Aktionen und der Assignierung von Truppenteilen zwischen der NATO und der WEU gemeint. Um die Zusammenarbeit der WEU mit allen Mitgliedstaaten der sich fortan als Union bezeichnenden Europäischen Gemeinschaft bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik besser abstimmen zu können, wurde in einer zweiten Erklärung der neun WEUMitgliedstaaten,351 gem. Art. XI WEU-Vertrag,352 eine Einladung an alle übrigen Mitglieder der EU ausgesprochen, dieser beizutreten oder zumindest Beobachter zu werden.353 Den übrigen NATO-Mitgliedstaaten wurde eine assoziierte Mitgliedschaft mit vollen Teilnehmerrechten an WEU-Aktivitäten angeboten. Hinsichtlich der integralen Zusammenarbeit zwischen Union und WEU wurde der Ansatz verfolgt, durch eine Parallelisierung der jeweiligen nationalen Präsidentschaften in beiden Organisationen und die Verlegung des WEU-Sekretariats nach Brüssel eine strukturelle und organisatorische Annäherung zu erreichen.354 Im Rahmen der sich konkretisierenden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sollte die WEU als ausführendes Organ konkrete Entscheidungen vorbereiten und die vom Rat beschlossenen gemeinsamen Aktionen mit verteidigungspolitischen Bezügen durchführen.355 Es muss daher festgehalten werden: Zwar hat die Europäische Union in der Verteidigungspolitik bis auf das in Art. J 8V EUV benannte Politische Komitee der GASP keine eigenständige institutionelle Basis, sie hat sich aber durch die Benennung und Klassifizierung sicherheitspolitisch relevanter Themenfelder in Art. J 1 EUV Handlungskompetenz gegeben. Hierfür bediente sich die Union der Europäer der WEU, die als ihr operativer Arm fungieren sollte. Die WEU wurde dadurch in ein subsidiäres Verhältnis zur EU gesetzt. Bezüglich des Verhältnisses WEU – NATO wurde zum einen die europäische Eigenständigkeit durch die Entwicklung eines eigenständigen „Pfeilers“ innerhalb der Allianz betont und zum anderen die Zielsetzung hervorgehoben, „Komplementarität zwischen der entstehenden europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität und der Allianz“356 zu gewährleisten. In diesem Kontext ist festzuhalten, dass Deutschland und Frankreich substantielle, schon in ihrer gemeinsamen Initiative vom Oktober 1991 genannte Punkte umsetzen konnten. Hinsichtlich des in Art. J.4 EUV avisierten Endpunktes einer gemeinsamen Verteidigung der Europäer wurden in Art. J.4 I EUV drei ihrem Inhalt und Wesen nach variable Entwicklungsschritte vorgesehen. Im ersten Schritt sollte mit Inkrafttreten des 351
Ebenda. BGBl. 1955 II, 287. 353 So wurde mit Griechenland noch im selben Jahr ein Beitrittsprotokoll unterzeichnet. 354 „Erklärung zur Rolle der Westeuropäischen Union und ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz“ , Unterabschnitte A & D, in Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.) Europäische Gemeinschaft Europäische Union. Die Vertragstexte von Maastricht mit den deutschen Begleittexten. Bonn 1993, S. 258-262. 355 Ebenda, Unterabschnitt A, S.260. 356 Ebenda, Unterabschnitt B, S. 260-261. 352
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EUV am 1. November 1993 die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt werden. In diesem Rahmen sollten die Europäer gemeinsame Aktionen in dem nach Art. J.3 EUV geregelten Verfahren beschließen können. In einem zweiten, mittelfristig angelegten Schritt wurde die gemeinsame Verteidigungspolitik projektiert, deren institutionelle Ausprägung jedoch eng mit der in Art. J 10, J 4 VI EUV genannten Folgekonferenz im Jahr 1996 verknüpft wurde. Der dritte Schritt schließlich sollte – bei einer schon vorhandenen gemeinsamen Verteidigungspolitik – zu einer gemeinsamen Verteidigung der Europäer führen.357 Paris hatte damit seine angestammte europapolitische Zielsetzung vorangebracht, den Europäern ein sicherheitspolitisches Forum zu verschaffen, das sie dazu befähigen sollte, eine eigenständige die Rolle der Vereinigten Staaten austrahierende Stellung in der internationalen Politik einzunehmen.358 Auffallend ist die starke Rolle des Europäischen Rates und die damit verbundene Festschreibung des Prinzips der Intergouvernementalität in Bezug auf die GASP (Art. J 2 II, J 3 I, J 8 I&II EUV). Es ist augenscheinlich, dass der Maastrichter Vertrag zwar die noch heute gültige Drei-Säulen-Struktur der Europäischen Union errichtete, innerhalb der einzelnen Säulen aber verschiedene Integrationsansätze und Entscheidungsverfahren zur Anwendung kamen. Supranationale Elemente einschließende Entscheidungsverfahren mit weitreichenden Beteiligungsrechten der Kommission und des Europäischen Parlaments finden sich demnach nur in der ersten, auf den Römischen Verträgen und der EEA basierenden „Säule“. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als zweite „Säule“ ist ebenso wie die dritte „Säule“ der „Bestimmungen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“ zwar unter dem gemeinsamen Dach des Maastrichter Vertrages eingefügt, aber nicht in den Gemeinschaftsbereich überführt worden. Dieses begründet hinsichtlich der Politikfelder der Europäischen Union eine Disparität der Integrationsmethoden und der einzelnen Entscheidungsverfahren. Hinsichtlich der Entwicklung der GASP hatte die französische Seite sehr darauf geachtet, dass diese streng den Regeln des intergouvernementalen Prinzips orientiert blieb.359 Daher wurde der Europäische Rat als zentrales Entscheidungs- und Lenkungsorgan festgeschrieben und sowohl das Konsensprinzip als auch die Beibehaltung eines nationalen Vetos gewährleistet. Festzuhalten bleibt auch, dass die GASP mit dem Vertragswerk von Maastricht in einer Form proklamiert wurde, die das eigentlich erforderliche institutionelle Rüstzeug vermissen ließ – ähnlich wie dies im Jahre 1971 bei der EPZ360 der Fall gewesen war. Sowohl die deutsche als auch die französische Seite äußerten sich zum Ende der Maastrichter Gipfelkonferenz zufrieden mit dem Erreichtem. Bundeskanzler Helmut Kohl, der in Bezug auf die Politische Union von „beachtlichen Fortschritten“ sprach, betonte, dass das Europa der Zwölf sich „…auf die Herausbildung einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität verpflichtet“361 hätte. Die WEU werde die 357
Hierzu auch: Charles de Llamby, Les perspectives d’une politique de défense européenne, in : Défense Nationale 7/1992, S.25-36, insbesondere : S.31-35. Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.35, S.108; sowie: Schütze, Frankreichs Sicherheitspolitik, S.226. 359 Vgl.: Regelsberger, Die GASP, S.14. 360 Schon 1982 hatte es einen Versuch des deutschen Außenministers Genscher und seines italienischen Kollegen Colombo gegeben, der EPZ eine sicherheitspolitische Dimension zu verleihen. 361 Vgl.: „Erklärung des Bundeskanzlers vor der Presse“ anlässlich des Abschlusses des Europäischen Rates von Maastricht am 11. Dezember 1991, in: Bulletin der Bundesregierung vom 17. Dezember 1991, Hervorhebungen durch den Verfasser. 358
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Brücke zu einer „…sich erneuernden NATO“ sein. Der Weg zur Europäischen Union sei nunmehr unumkehrbar362 – ein Anliegen, welches für Helmut Kohl unabdingbar gewesen war. Durch die Vertragsartikel zur GASP und die WEU-Erklärung bekäme die Politische Union der Europäer die angestrebte Dimension.363 Diesen Punkt griff auch Mitterrand in seiner Einschätzung der Maastrichter Regierungskonferenz und des Vertrages auf und betonte mit Blick auf die GASP: „Mit der Zeit wird es eine gemeinsame Verteidigung geben, eine Perspektive, die unserer Ansicht nach für die Politische Union von wesentlicher Bedeutung ist. Die französische und die deutsche Delegation haben gefordert, daß diese Maßnahme im Vertrag festgeschrieben wird.“364
Mitterrand hob weiter hervor, welche Bedeutung für die europäische Identität in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Schaffung einer eigenen Rolle der WEU einnähme. Diese würde die NATO ergänzen, ihr aber nicht unterstehen.365 Frankreich, so Mitterrand, habe „… in den Punkten, an die man sofort denkt – Wirtschafts- und Währungsunion, Politische Union, Auftakt zu gemeinsamen Streitkräften – das erreicht […], was es erreichen wollte.“366 Sein Land stehe nunmehr im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich „…mit seinen Partnern stärker [da, MK] als wenn es allein gestellt bliebe.“ 367 Der Maastrichter Vertrag habe, gerade durch das Einbringen der Sicherheitsfragen in das europäische Programm, Europa neben der Wirtschafts- und Währungspolitik endlich das langersehnte zweite Standbein gebracht. 1.9 Sicherheit in der Bündniskooperation – Die deutsche Position und das Bedingungsfeld des Dreiecks Bonn, Paris, Washington „Das Fazit [des Nato-Gipfels, MK] von Rom lautet: Die NATO bleibt das unverzichtbare Fundament für Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent. […] In Rom wurde aber auch die Brücke zu den Beschlüssen von Maastricht geschlagen. Alle Bündnispartner haben sich zur Weiterentwicklung einer europäischen Sicherheitsidentität und zum Ausbau des europäischen Pfeilers im Bündnis bekannt. […] Dieser Weg ist unumkehrbar,“368 formulierte der deutsche Regierungschef im Januar 1992. Maastricht hatte die prinzipielle Verpflichtung der Europäer auf die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ge362
Vgl.: Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag am 13. Dezember 1991 über die Ergebnisse des Europäischen Rates in Maastricht, in. EA 1992, D110-117, hier: D110. 363 Ebenda, D114. 364 Vgl.: Pressekonferenz des französischen Staatspräsidenten nach der Tagung des Europäischen Rates in Maastricht am 10. Dezember 1991, in: EA 1992, D97-100, hier D97. 365 Ebenda, D98. 366 Mitterrand auf seiner Pressekonferenz nach dem Europäischen Rat in Maastricht am 10. Dezember 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 18. Dezember 1991, hier: S.3; Hervorhebungen durch den Verfasser. Schon in seiner Rede anlässlich des Abschlussforums der Ecole de Guerre 1991 hatte Mitterrand die Schaffung eigener militärischer Kräfte in Aussicht gestellt: „Nun wird die politische Union auf dem Gebiet der Außenpolitik unweigerlich die Schaffung einer eigenen militärischen Macht mit sich bringen“, vgl.: Frankreich-Info vom 3. Mai 1991, insbesondere S.3. 367 Premierminister Bérégovoy in seiner Rede vor dem IHEDN am 3. September 1992, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 14. September 1992, hier: S.12. 368 Helmut Kohl in seiner Rede anlässlich des Treffens der Chefs der Generalstäbe der WEU-Staaten in Bonn am 27. Januar 1992, abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung vom 31. Januar 1992.
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bracht. Aber wie sollte es im Einzelnen weitergehen? Das Dilemma zwischen europäischer Eigenständigkeit und atlantischer Anbindung bestand nach wie vor. Welchen Weg würde die deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskooperation nehmen, welche institutionelle Ausprägung sollte die europäische Verteidigung bekommen? Für die deutsche Seite hielten sich in der Sicherheitspolitik dabei Kontinuität und Wandel fast gänzlich die Waage. Die Zielsetzungen deutscher Bündnispolitik zu Beginn der 1990er Jahre waren: 1. Vermeidung verteidigungspolitischer Renationalisierungstendenzen, 2. Beförderung der europäischen Integration und einer eigenständigen europäischen Verteidigungsidentität auf Grundlage der Überzeugung, dass ohne eine belastbare Sicherheitskomponente die Europäische Union letztlich unvollständig sei; 3. Beibehaltung einer engen Verknüpfung der europäischen und der nordamerikanischen Sicherheitspolitik.369 Letztgenannter Punkt war das Hauptunterscheidungskriterium gegenüber dem französischen Verständnis, welches unverändert einer Strategie des „l’Europe d’abord“ anhing. Auch im Verlauf des ersten Halbjahres 1992 meldete Paris immer wieder Vorbehalte gegen eine politische Rolle des Atlantischen Bündnisses im allgemeinen und gegen eine Ausweitung des Bündnisses auf Osteuropa im Besonderen an.370 Dabei ging es Paris aber keineswegs um eine Infragestellung der Atlantischen Allianz im Rahmen des status quo, sondern vielmehr darum, zu klären, wer nach dem Ende des Kalten Krieges federführend europäische Sicherheitsbelange gestaltete: die Europäer selbst oder die Nordamerikaner. Für Paris gab es in dieser Frage anscheinend nur ein „Entweder-oder“. Auch deswegen verfestigte sich der diesbezügliche Dissens mit Washington im Verlauf des Jahres 1992. Begünstigt wurde dies durch den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, in dem der demokratische Herausforderer Bill Clinton dem republikanischen Amtsinhaber George Bush vorhielt, über das globale Engagement der Vereinigten Staaten die ökonomischen Herausforderungen der amerikanischen Innenpolitik zu vergessen. Vermeintliche europäische Undankbarkeit, wie man Frankreichs NATO-Gegenkurs auch interpretieren konnte, war deswegen nicht nur ärgerlich, sondern schmälerte auch die Erfolgsbilanz Präsident Bushs. Hinzu trat, dass ausgerechnet Deutschland, von dem Washington aufgrund der wohlwollenden Hilfestellung der Amerikaner bei der Vereinigung eigentlich treues Bundesverhalten erwartete, sicherheitspolitisch gegen die NATO zu konspirieren schien. Für die amerikanische Seite mutete es daher wie ein Lippenbekenntnis an, wenn etwa Roland Dumas am 11. Mai 1992 in Washington erklärte, der Plan, ein europäisches Sicherheitssystem zu entwickeln, dürfte nicht als Gegenfeuer, als eine „Kriegsmaschine gegen die NATO“ oder andere bestehende Organisationen verstanden werden.371
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Sauder, Souveränität und Integration, S.172; Joachim Krause hat mit Blick auf diese Leitsätze der deutschen Außenpolitik den Begriff einer deutschen „Grand Strategy“ verwendet. Diese Klassifizierung führt jedoch zu weit, setzt ein zu konkretes politisches Konzept voraus und muss daher zurückgewiesen werden; vgl.: Joachim Krause, Auf der Suche nach einer Grand Strategy. Die deutsche Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung, in: Internationale Politik 2005, S.16-25, hier: S.17. 370 Vgl. exemplarisch: Die Welt 05. Februar 1992 „Paris sorgt sich um die NATO“. 371 Pressekonferenz des französischen Außenministers Roland Dumas in Washington am 11. Mai 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 19. Mai 1992.
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In Washington hatte man im Wahlkampfjahr 1992 nicht den Sinn für die Nuanciertheiten deutsch-französischer Befindlichkeiten. Ansonsten hätte man sicherlich klar wahrgenommen, dass die deutsch-französische Sicherheitspartnerschaft seit ihrer Wiederbelebung in den 1980er Jahren mehr von überschaubaren Zielsetzungen und einer allmählichen Entwicklung, denn von hochtrabenden Visionen geprägt war. Von Anfang an war es nicht darum gegangen, die Bundesrepublik Deutschland vor die Wahl zwischen Europa und Amerika zu stellen oder Frankreich in die integrierte militärische Organisation der NATO zurückzuführen. Vielmehr sollten diese starren Alternativen überwunden, neue Handlungsfelder eröffnet werden.372 Vor allem aber mangelte es an einem: « Pour qu’il existe un « couple militaire franco-allemand », il faudrait que les deux pays pratiquent la même politique. Ce ne peut être le cas. » 373
Einig war man sich allerdings darin, dass nur eine starke Europäische Union die schwierigen Aufgaben bewältigen konnte, vor denen Europa insbesondere mit Blick auf die Auflösung der überkommenen Strukturen im östlichen Teil des Kontinents stand.374 1.10 Der Gipfel von La Rochelle Neben der Tagung des WEU-Ministerrates auf dem Petersberg zu Bonn am 19. Juni 1992 stellt der 59. deutsch-französische Gipfel am 21. und 22. Mai 1992 in La Rochelle das zentrale Ereignis in der europäischen Sicherheitspolitik des Jahres 1992 dar. Ebenso wie das Petersberg-Treffen war er Markstein auf dem Weg zu der im Vertrag von Maastricht projektierten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei ist der Gipfel von La Rochelle lediglich als Abschluss jenes Prozesses zu verstehen, der am 14. Oktober 1991 mit der gemeinsamen Botschaft von Kohl und Mitterrand seinen Anfang genommen hatte. Schon der deutsch-französische Sicherheitsrat hatte am 15. November 1991 in einer Presseerklärung angekündigt, die Planungen hinsichtlich Auftrag und Art der Verbindungen des Deutsch-Französischen Korps zur WEU und zur NATO bis April 1992 abzuschließen.375 Am 15. Januar 1992 erteilte der Gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitsrat in Bonn dem deutschen und dem französischen Verteidigungsminister den Auftrag, der KohlMitterrand-Initiative vom Herbst 1991 einen offiziellen Rahmen zu geben sowie einen Zeitplan für die Aufstellung des projektierten Großverbandes zu entwerfen. Die beiden 372
Isabelle Renouard, Die deutsch-französische Zusammenarbeit heute, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.48-55, hier: S.55. Le Figaro 20. Januar 1992 « La défense de l’Europe au café du Commerce » ; vgl. auch: Jean-Marie Guéhenno, Défense européenne et sécurité européenne, in : Documents 3/1992, S.22-30, insbesondere: S.24-27. 374 Helmut Kohl in seiner Rede auf der 33. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Leipzig am 12. Mai 1992, abgedruckt in: EA 1992, D445-448, hier D447. Hierbei sollte auch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eine wesentliche Rolle spielen. So brachte Frankreich den Vorschlag auf, einen „KSZE-Sicherheitsvertrag“ auszuarbeiten, der allen Teilnehmerstaaten offen stehen sollte. Kernpunkte sollten dabei: (I.) die Entwicklung rechtlicher Formen für die Verpflichtungen der KSZE auf dem Gebiet der Sicherheit, (II.) die Erarbeitung zusätzlicher Verhaltensregeln und (III.) das Bemühen um größere Sicherheitsgarantien für KSZE-Teilnehmerstaaten in Verbindung mit Konfliktverhütungsmechanismen sein; vgl. Dumas’ Ausführungen vor der vierten Helsinki-Folgekonferenz am 24. März 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. März 1992. 375 Siehe: Kimmel/Jardin, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963, S.321. 373
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Verteidigungsminister bildeten daraufhin eine ad hoc-Gruppe, die in den Folgemonaten in mehreren Treffen die vorbereitenden Arbeiten zur inhaltlichen Ausgestaltung der Initiative übernahm. Anfang Mai 1992 wurde das Ergebnis dann den Verteidigungsministern ausgehändigt, die hieraus einen Bericht erarbeiteten, der als Entscheidungsgrundlage für die Gipfelkonsultationen am 21./22. Mai 1992 dienen sollte. Zudem hatten Kohl und Mitterrand, getrennt voneinander, wiederholt an die WEU-Partner appelliert, der deutschfranzösischen Initiative zu folgen und sich an einem, auf Basis des deutsch-französischen Verbandes entstehenden, „Europäischen Korps“ zu beteiligen.376 Der Vorschlag wurde Kohl und Mitterrand am 11./12. Mai 1992 zur abschließenden Genehmigung vorgelegt.377 Es gab keine wesentlichen Einwände und so wurde dieser Vorschlag anlässlich der Sitzung des deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats am 21./22. Mai 1992 in La Rochelle durch das Ratskomitee als „Bericht von La Rochelle“ gebilligt und angenommen: Das eine Mannschaftsstärke von bis zu 40.000 Soldaten umfassende Korps sollte nach Durchlaufen einer Aufstellungsphase seine volle Einsatzbereitschaft im Jahr 1995 erreichen – im selben Jahr wie der Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) Einsatzverband der NATO und gerade rechtzeitig vor der für das Jahr 1996 vorgesehenen Überarbeitung des Vertrages der Europäischen Union. Auf der Pressekonferenz des La Rochelle-Gipfels sprach die deutsche Seite mit Blick auf das Korps von der „…Realisierung [eines, MK] gemeinsamen, seit Jahren gehegten Wunsches.“378 Das Korps, so Bundeskanzler Kohl, verwirkliche das, was die Amerikaner von den Europäern seit Jahren forderten. Der Militärverband sei daher vielmehr „…ein Beitrag zum [Atlantischen, MK] Bündnis.“ Demgegenüber erklärte Mitterrand zum Einsatzspektrum des Eurokorps klar: „Alles ist möglich, jeder Einsatz ist möglich“379 – somit auch jener außerhalb der NATO. Dass die Akzentsetzung auf französischer Seite nicht im gleichen Maße auf das Verhältnis zur NATO fixiert war, verwundert nicht. Roland Dumas unterstrich: „Die Europäer konzentrieren sich auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Währung und der Politik. Warum sollten sie sich nicht auch in der Außenpolitik konzentrieren und gleichzeitig in der Sicherheitspolitik, die die Weiterführung der Außenpolitik ist?“ 380 Die Zeitung Le Figaro machte dann auch den „l’impératif de défense européenne“ aus; das Projekt eines deutsch-französischen Korps sei eine « … confirmation pratique de ce qui avait été qualifié à Maastricht de « perspective de défense commune »». 381 L’Humanité vermeldete zudem, dass vier weitere Staaten daran interessiert seien, dem „Eurokorps“ zuzugehören: Belgien, Luxemburg, Spanien und Italien. Gleichfalls gäbe es aber zu bedenken, dass: „… l’ambassadeur amércain auprès de l’OTAN, William Taft, avait estimé que la participation à une structure militaire européene serait incompatible avec l’appartenance à l’OTAN. » 382 Die Süddeutsche Zeitung zitierte mit Blick auf Bedenken in der deutschen Innenpolitik, das Korps könne in Konflikte außerhalb des NATO-Bereichs 376
So etwa Helmut Kohl am 27. Januar 1992 vor den Generalstabschefs der WEU-Staaten in Bonn; zu finden in: Bulletin der Bundesregierung vom 31. Januar 1992 Le Monde 13. Mai 1992 « Paris et Bonn définissent les missions du corps franco-allemandes ». 378 Vgl.: EA 1992, D455-456, hier: D455. 379 Vgl.: Gemeinsame Pressekonferenz von Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand am 22. Mai 1992, in: Kimmel/ Jardin, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963, hier: S.322-324, S.324. 380 Vgl.: Die Welt 23. Mai 1992 „Kohl: Armeekorps ist Ergänzung zur NATO“. 381 Vgl.: Le Figaro vom 22. Mai 1992 « L’impératif de défense européenne » und – mit ähnlichem Tenor: L’Humanité 21. Mai 1992 « L’Eurocorps naît à la Rochelle ». 382 Vgl.: L’Humanité 23. Mai 1992 „Garde-a-vous“. 377
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verwickelt werden, Bundeskanzler Kohl mit den Worten: „Die Ausrede, die das geteilte [Deutschland, MK] hatte, nimmt uns niemand mehr in der Welt ab.“383 1.10.1 Das Aufgabenspektrum des Eurokorps Der „Bericht von La Rochelle“ bildet die Grundlage für die Aufstellung des deutschfranzösischen Korps und ist das erste Basisdokument des sich innerhalb des Textes unter dem Namen „EUROKORPS“ firmierenden militärischen Großverbandes. Der La-RochelleBericht sieht für das Korps Einsätze (franz.: missions) im Rahmen der Europäischen Union vor. Diese werden in drei Hauptbereiche aufgeschlüsselt: (I.) Gemeinsame Verteidigung gemäß Art. V des Washingtoner Vertrags und des Brüsseler Vertrags; (II.) Einsätze zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens und schließlich (III.) humanitäre Operationen. Die Verwendung (emploi) des Eurokorps im Rahmen dieses Einsatzspektrums gliedert sich dabei wie folgt: « Les possibilités d’emploi du corps européen qui découlent de ces missions sont les suivantes: I. Emploi avec combat, II. Emploi pour le maintien de la paix, III. Emplois humanitaires: Dans le cadre d’actions humanitaires, l’emploi du Corps européen peut inclure: 1. l’assistance en cas de catastrophes (naturelles ou accidentelles), 2. l’aide en cas de famine, 3. l’aide aux réfugiés, 4. les opérations d’évacuation dans les régions de crise. »
Das Auftragsspektrum wird durch drei Rahmenbedingungen festgelegt. Die Einsätze des Korps sollen (I.) im Rahmen der Perspektive der Europäischen Union, (II.) der jeweiligen verfassungsrechtlichen Grenzen der am Verband beteiligten Staaten sowie (III.) der Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen stehen. Der Bericht von La Rochelle eröffnet damit als rechtlicher Rahmen dem multinationalen Großverband ein so weites Wirkungsfeld, wie es den einzelnen Staaten zuvor nicht offen gestanden hatte. Die Einsätze sollen von den unterstellten Einheiten in erster Linie gemeinsam durchgeführt werden.384 Nach den Unterstellungsregelungen des Berichts von La Rochelle ist das Eurokorps ein gemeinsames Instrument der Regierungen der beteiligten Staaten. Der Bericht sieht ferner die Einrichtung eines „Gemeinsamen Komitees“ (Comité commune) vor, welche die Vorgaben der Regierungen umsetzt und dem Korpsstabs übermittelt. Das Komitee soll auch für die politisch-militärische Koordination zwischen den Regierungen und den internationalen Organisationen und insbesondere der NATO und der WEU zuständig sein. Gemäß dem Bericht bleibt die gemeinsame Entscheidung über einen möglichen Einsatz des Korps jedenfalls in der Verantwortung des jeweiligen truppenstellenden Staates, oder genauer seiner Regierung. Das Gemeinsame Komitee soll vorbereitend für jeden Einsatz und im Sinne des zugrunde liegenden Auftrags die Modalitäten, das Verfahren für den Einsatz und die Übertragung der Führungsverantwortung festlegen. Der Einsatz des Euro383 384
Vgl.: Süddeutsche Zeitung (SZ) 23./24. Mai 1992 „Eurokorps steht allen Staaten der EG offen“. Im Wortlaut : « Les unités sont affectées prioritairement au corps et sont prévues pour un emploi conjoint. ».
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korps ist also immer eine souveräne Entscheidung der Regierungen. Hätten die Regierungen über einen Einsatz positiv entschieden, würden sie diesen dem Rat der WEU oder dem der NATO anbieten. Nach einer entsprechenden Antwort seitens der WEU oder der NATO würden dann Art und Umfang des Einsatzes im Detail festgelegt und förmlich durch die Partnerländer beschlossen. Im weiteren Verfahren wird dieser Beschluss dann von den Generalstabschefs in eine militärische Weisung an den Kommandierenden General des Korps umgesetzt. Erst danach beginnt der Einsatz des Korps. Dabei fällt der Auftragserfüllung unter WEU-Mandat die erste Priorität zu: « La vocation européenne du corps le conduira à agir en priorité dans le cadre de l’UEO, en conformité avec les orientations définies par l’Union Européenne. »
Mit Blick auf die Nordatlantische Allianz führt der Bericht aus, dass ein Einsatz des Korps im Rahmen der Beistandspflicht des Artikel V Washingtoner Vertrag im Sinne der Stärkung des Europäischen Pfeilers der Allianz sei.385 Hinsichtlich der Einsatzmodalitäten spricht der La Rochelle-Bericht von der Aushandlung eines einschlägigen Vertrags (accord spécial) auf politischer Ebene mit den zuständigen NATO-Institutionen. Dieser solle von Regelungen und Protokollen auf militärisch-operationeller Ebene begleitet werden. Maßgabe hierbei soll es sein, die prioritäre Unterstellung der dem Korps zugeordneten Truppen unter das Kommando des Kommandierenden Generals des Eurokorps sicherzustellen. Erst wenn die am Korps beteiligten Staaten einen Einsatz selbst abgelehnt hätten, sollte dieser einzelstaatlich oder auch im Rahmen des Atlantischen Bündnisses möglich sein.386 Weiter umschreibt der Bericht die Aufgaben des Kommandierenden Generals des Eurokorps wie folgt:
Operationelle und logistische Planung Mitwirkung bei Bestimmung und Zielsetzung der militärischen Ausbildung Kontrolle des Ausbildungsstandes, Planung und Ausführung von Manövern Vorschlagsrecht zu allen allgemeinen Fragen, namentlich hinsichtlich Kräfteorganisation
Dabei ist der Kommandierende General selber ausschließlich dem Gemeinsamen Komitee verantwortlich, nicht seinem Entsendestaat. Truppendienstlich bleiben die dem Korps zugeteilten Verbände aber in jeder Hinsicht national unterstellt. Folglich bilden die KorpsTruppen auch organisatorisch keine unabhängige Struktur, sondern werden dem Korps lediglich prioritär zugeordnet, die jeweilige nationale Unterstellung bleib bestehen: « Les unités affectées au Corps européen demeurent donc toute hypothèse dans une chaîne organique nationale. » Ein Sonderstatus fiel hierbei dem Personal des Korpsstabs im Hauptquartier des Eurokorps und der Deutsch-Französischen-Brigade zu, für die im Bericht von La Rochelle ein eigener Rechtsstatus angedacht wird.
385
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Trotz dieser expliziten Formulierung gab es zunächst Spekulationen um das Rangverhältnis zwischen Korps und Atlantischer Allianz ; vgl.: Joachim Schild, Das Eurokorps – ein deutsch-französischer Irrweg?, in: Lendemains 68, 1992, S.131-139, hier: S.135. Im Wortlaut : « Dans le cas où le Corps, après décision politique des États parties, ne serait pas engagé, les troupes redeviendraient disponibles pour un engagement dans le cadre national ou atlantique. ».
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Ferner wird ausgeführt, dass der Generalstab des Eurokorps der landgestützten Operationsführung verpflichtet ist („…vocation essentiellement terrestre“) und folglich personell mit Angehörigen des (Land-)Heeres zu bestellen ist. Der personelle Gesamtumfang des Korps ist auf eine Sollstärke von 40.000 Mann angelegt, die zunächst aus deutschen und französischen Einheiten gebildet werden soll. Hinsichtlich der dem Korps assignierten Truppen wird eine dynamische Zuordnung vorgesehen, da die Zusammensetzung der Korpstruppen nach Einsatzspektrum und –lehren veränderbar sein soll. Mit Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen (dispositions juridiques) spricht der Bericht von La Rochelle von einer Verpflichtung zur Aufgabenteilung und zur Reziprozität. Für die rechtlichen Vereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten ist eine zweistufige Struktur vorgesehen: (I.) eine zwischenstaatliche Vereinbarung über Aufstellung und Arbeitsweise des Aufstellungsstabes des Eurokorps und (II.) eine zwischenstaatliche Vereinbarung über Aufstellung und Arbeitsweise des Verbandes selber. Der Bericht schließt mit einem Aufruf an die Außen- und Verteidigungsminister Deutschlands und Frankreichs ihre Bemühungen fortzusetzen, andere WEU-Staaten zu einer Teilnahme am Eurokorps zu bewegen. 1.10.2 Kern der GASP oder Keil in der NATO? Die Ergebnisse des Gipfels von La Rochelle stellten die Weichen dafür, dass Frankreich – zum ersten Mal nach dem Rückzug aus der NATO 1966 – eigene Truppenverbände wieder dauerhaft in eine integrierte Militärstruktur einband. Dabei war die vorgesehene Unterstellungsstruktur des Eurokorps in gewisser Hinsicht mit jener der Atlantischen Allianz vergleichbar. Die dem Korps assignierten Einheiten verblieben, sofern kein konkreter Einsatzauftrag vorlag, truppendienstlich national unterstellt. Bereits im Vorfeld des Treffens von La Rochelle hatte sich die deutsche Forderung durchgesetzt, dass die deutschen KorpsKontingente auch weiterhin der NATO assigniert bleiben konnten. Zunächst hatte die französische Seite an eine vollständige und ausschließliche Zuordnung dieser Einheiten zum Korps gedacht. Schlussendlich einigte man sich aber darauf, das Korps in Krisensituationen dem Oberbefehl der NATO zu unterstellen.387 Eine exklusive Bindung der Truppen an das Korps gab es folglich nicht. Allerdings hatte der strikt pro-europäische Kurs, den die französische Politik seit der zweiten Hälfte des Jahres 1990 auf der Ebene der offiziellen Erklärungen und Kommuniqués verfolgte, bei der Auftragsdefinition für das Korps eine konkrete Umsetzung erfahren: Indem seine Einsätze in die Perspektive der Europäischen Union gestellt werden und es „…auch mit Maßnahmen der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens beauftragt, sowie im Rahmen von humanitären Aktionen eingesetzt werden“ konnte,388 war das Korps prinzipiell dazu befähigt, Kern der, von Frankreich beharr-
387
Vgl.: Deutsch-Französische Auffassungsunterschiede zum Eurocorps, in: IAP-Dienst Nr. 10/92 vom 19. Mai 1992. 388 Die Erklärung zur Aufstellung des deutsch-französischen Korps, abgedruckt in: EA 13/1992, D454-455. In dem entsprechenden Passus des deutsch-französischen Zwischenberichts vom November 1991 war allerdings noch davon die Rede, dass die Aufträge des gemeinsamen Korps „…zur Erhaltung und zur Wiederherstellung des Friedens auf der Grundlage der Weisungen der Politischen Union“ zu erfolgen hätten. Außenminister Genscher hatte sich damals einer eindeutigen Zuordnung unter ein Mandat der Europäischen Union allerdings widersetzt. Siehe hierzu: FAZ vom 12. Mai 1992.
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lich geforderten,389 europäischen Eingreiftruppe zu werden. Dass Frankreich mit dem Eurokorps seine in Deutschland stationierten Streitkräfte in eine multinationale Struktur einbrachte, folgte vor allem einer Zielsetzung: Die bündnis- und europapolitische Isolierung, in die Paris nach der durch die NATO im Mai 1991 beschlossen Aufstellung einer schnellen NATO-Eingreiftruppe (Allied Rapid Reaction Corps, ARRC) geraten war, konnte so durchbrochen werden. Auch wenn sich Bonn und Paris recht rasch auf eine gemeinsame Kompromissformel zur Einrichtung des Eurokorps einigen konnten, waren doch die Motive hinter dem Projekt auf beiden Seiten teilweise grundverschieden. In Bonn beglückwünschte man sich, Frankreich mit dem gemeinsamen Korps der Integration der NATO wieder ein Stück näher gebracht zu haben.390 Paris hingegen wollte das Korps als Schaffung des Kerns einer zukünftig genuin europäischen Verteidigung – ggf. unter Ausschluss der Vereinigten Staaten – verstanden wissen.391 Zweiter Einschätzung ist zu folgen: Das Eurokorps als solches war weit weniger Indiz für einen Annäherungsversuch Frankreichs an die Allianz als vielmehr Funktionsträger für einen europäischen Zusammenschlusses in Verteidigungsfragen, der geeignet war, die Begründung einer genuin europäischen Verteidigungsidentität im Rahmen der GASP zu fördern. Ein weiterer Aspekt war der symbolische Wert des militärischen Großverbandes zweier ehemaliger militärischer Erzfeinde.392 Dieser war zunächst insbesondere für Helmut Kohl von zentraler Bedeutung, manifestierte sich doch in ihm der gegenüber der „historischen Erfahrung“ (Karl Lamers) grundsätzlich veränderte Charakter des durch die Vereinigung wiedererstarkten Deutschlands und dessen Bekenntnis zur europäischen Zusammenarbeit. War die Deutsch-französische Brigade noch primär Symbol einer enger werdenden deutsch-französischen Freundschaft und dadurch zunächst mit einem eher protokollarischen Charakter versehen, sollte das Eurokorps konkret zur Konstituierung einer neuen europäischen (Verteidigungs-) Identität beitragen. Es war die erklärte Absicht der Gründungsstaaten, nicht nur die deutsch-französische Zusammenarbeit zu intensivieren, sondern auch einen Impuls für die Ausgestaltung einer europäischen Verteidigungsidentität zu geben. Dabei stellte man gerade von deutscher Seite bewusst in Rechnung, dass multilaterale militärische Strukturen eine Angleichung der jeweiligen nationalen Ausrüstungs- und Operationsstandards bedeuteten.393 389
Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, S.32-33; auch: Igor Mitrofanoff, L’eurocorps: mode d’emploi, in: Défense Nationale 12/1992, S.29-36, hier: S.30-32. 390 Karen Donfried, The Franco-German Eurocorps: Implications for die U.S. Security role in Europe (Congressional Research Service [CRS] Report for Congress), Washington 22. Oktober 1992, S.7. 391 Christoph Neßhöver, Holger Schrader, Frankreich auf dem Weg zu einer „Multilateralisierung“ seiner Deutschlandpolitik? in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.), Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.68-82, hier: S.76-78; siehe auch: Financial Times vom 21. Mai 1992: “National units will form European defence corps”. 392 In diesem Sinne schrieb auch La Libération am 21. Mai 1992 unter dem Titel « La naissance de l’Eurocorps, un cactus pour l’OTAN » : « Paris et Bonn font en effet accomplir un saut qualitatif à l’intégration européenne. Il y a certes une dimension symbolique forte dans la décision des anciens « ennemis héréditaires » de créer ce corps dont l’état-major multinational sera situé à Strasbourg, au cœur des conflits d’antan. …Le message ainsi envoyé à une Europe en proie aux résurgences nationalistes et au doute est, de ce point de vue, significatif. ». 393 So waren zum Beispiel beim Eurokorps Maßnahmen zur Herstellung der Fähigkeit zur Zusammenarbeit bei den unterschiedlichen Führungs- und Informationssystemen und den Fernmeldesystemen zu treffen. So sollte die Führungsfähigkeit dieses Großverbandes ermöglicht werden. Die Schwierigkeiten national bereits vorhandene bzw. fertig konzipierte Systeme aneinander anzupassen wurde dabei besonders deutlich; vgl.: Wessels/Winzen, Interoperabilität und Ausrüstung, S.385-386.
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Obwohl, wie geschildert, die in La Rochelle vorgenommene förmliche Entscheidung zur Aufstellung des Korps eigentlich niemanden so recht hätte überraschen dürfen,394 schlug der Beschluss dennoch hohe Wellen. Am Rande der turnusgemäßen NATOFrühjahrstagungen kam es Ende Mai 1992 zum offenen Dissens zwischen den Amerikanern und Briten auf der einen und den Deutschen und Franzosen auf der anderen Seite. Zwar hatte die Euro-Gruppe der NATO auf ihrer Tagung am 25. Mai 1992 in Brüssel ihre Unterstützung für die Entwicklung der WEU zur Verteidigungskomponente bekräftigt, aber zugleich darauf hingewiesen, dass „…die Notwendigkeit von Transparenz und Komplementarität zwischen der WEU und dem Bündnis“ bestand.395 Im Umfeld der Ministertagung des Verteidigungsplanungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe am 26./27. Mai 1992 traten die transatlantischen Verstimmungen offen zu tage. So lehnten NATOGeneralsekretär Manfred Wörner und der amerikanische Verteidigungsminister Richard Cheney in Brüssel eine öffentliche Bewertung des Eurokorps ab. Verteidigungsminister Cheney führte lediglich aus, das Korps müsse die auf dem NATO-Gipfel in Rom vereinbarten Kriterien erfüllen.396 Auch der von deutscher Seite am Rande der Brüsseler Tagungen ins Spiel gebrachte Vorschlag, einem südeuropäischen Land das Kommando über das Eurokorps anzutragen397 und ihm so seinen exklusiven deutsch-französischen Charakter zu nehmen, konnte die aufgereizte Stimmung nicht besänftigen, zumal der Bericht von La Rochelle ja anderes vorsah. Die amerikanische Seite verlangte vom Bonner Partner vielmehr, sich bei der Detailplanung für das Eurokorps gegenüber Paris im Sinne der Interessen der Allianz voll durchzusetzen. Überhaupt: Hatte nicht schon de Gaulle versucht, durch eine Kooperation mit Deutschland die Amerikaner zu schwächen?398 Mehr und mehr wurde deutlich, dass Washington das Eurokorps als Infragestellung des Verbleibs amerikanischer Truppen auf dem Kontinent begriff oder begreifen wollte. Auch der in Brüssel gefasste Beschluss der Bündnispartner,399 die Lagerungs- und Instandhaltungskosten für das in Europa deponierte Ausrüstungsmaterial der amerikanischen Streitkräfte künftig aus dem Infrastrukturfonds der Allianz zu finanzieren,400 wurde von amerikanischer Seite zwar befriedigt zur Kenntnis genommen, konnte den zweifelnden Grundtenor aber nicht ändern. Die Skepsis überwog, zumal Briten und Amerikaner das Korps für ungeeignet hielten, die militärischen Kräfte Europas zu modernisieren.401 Die eigentlichen Gründe gingen aber tiefer, traf doch das Vorhaben gerade die Vereinigten Staaten in einer Zeit außenpolitischer Ungewissheiten und innenpolitischer Nöte. Amerikas sicherheitspolitisches Selbstverständnis war durch das
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Hierzu auch: Wassenberg, Eurokorps, S.67, der hier allerdings nur wenig überzeugend argumentiert. Vgl.: Erklärung der Verteidigungsminister der Euro-Gruppe in der Nato über ihre Tagung am 25. Mai 1992, in: EA 1992, D461-463. 396 FAZ 29. Mai 1992 „Amerikanische Zurückhaltung in Brüssel“. Auch Italiens Verteidigungsminister Rognoni ging in Brüssel auf Distanz: Sein Land habe nicht die Absicht, sich dem Korps anzuschließen. 397 Frankreich sollte in diesem Fall das Amt des stellvertretenden Kommandeurs zugesprochen bekommen, während Deutschland den Chefs des Stabes stellen wollte. 398 Grosser, Frankreichs Außenpolitik, S.258-259. 399 Vgl.: Kommuniqué der Ministertagung des Verteidigungs-Planungsausschusses und der Nuklearen Planungsgruppe der Nato vom 27. Mai 1992, in EA 1992, D463-467, D464. 400 Dieser wurde zu rund 27 Prozent von der Bundesrepublik getragen; vgl.: Frankfurter Rundschau vom 29. Mai 1992 „Cheney verstärkt Druck auf Bundesrepublik“. 401 NZZ 26. Mai 1992 „Skepsis in der NATO gegenüber dem Eurokorps“. 395
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Absterben des Kommunismus und die darauf abgestimmte Strategie der NATO in schweres Fahrwasser geraten.402 So schien sich der von Kohl und Mitterrand beschworene neue „Kern“ der GASP eher zu einem „Keil“ zu entwickeln, der sowohl Europa selbst als auch das atlantische Gefüge zu spalten drohte. Dies traf vor allem für das Verhältnis zwischen Paris und Washington zu in welchem sich das Klima sich nach der La Rochelle-Entscheidung mehr und mehr abkühlte.403 Es wurde die Befürchtung geäußert, dass durch die Aufstellung des Eurokorps die Handlungsfähigkeit der NATO unnötig geschwächt und die amerikanische Bereitschaft, Truppen weiterhin auf europäischen Boden zu stationieren, vermindert würde, bevor die Europäer ihre Fähigkeit zu eigenständigem Handeln im Verteidigungsbereich überhaupt erlangt hätten. Zudem sei das Korps militärisch nutzlos. Sein Symbolismus würde nur viel Geld kosten; die Korps-Verbände weder in der taktischen Ausbildung noch in der Qualität der Bewaffnung, nicht einmal bei den Fernmelde-Mitteln zusammenpassen. Das Eurokorps sei vielmehr ein rein politisches Symbol ohne sicherheits- und verteidigungspolitischen Wert für die Union der Europäer. Oder, wie es Herbert Kremp formulierte, das Korps stehe für „…eine Art franco-germanische[r] Nationalstiftung“, die „…als Euro-Ballon in prestigegeschwängerter Luft“ hänge.404 Da half es wenig, wenn man von deutscher Seite betonte, das Eurokorps sei durchaus auch als Beitrag zur NATO zu verstehen, wie dies Bundesverteidigungsminister Rühe tat. Zu schwer wog die Pariser Ablehnung jedes Bündnisautomatismus für die Truppen des Eurokorps, die ja erst auf Beschluss der beteiligten Regierungen einsetzbar waren. Für die Vereinigten Staaten und Großbritannien bedeutete gemeinsame Verteidigung eben, „…dass man drinnen ist und nicht draußen“405 oder, wie Le Figaro NatoGeneralsekretär Wörner zitierte: « Le problème de l’intégration du corps franco-allemand dans le cadre général de l’OTAN n’est pas résolu. »406 Der ehemalige amerikanische Botschafter in Deutschland Richard Burt warnte: „Das treibt uns aus Europa hinaus.“ Deutschland drohe sich zu übernehmen, wenn man annähme, mit dem Korps Frankreich wieder näher an die NATO heranzuführen zu können, ergänzte Brent Scowcroft, Chef des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus.407 Dennoch gab es Stimmen, die mit dem Eurokorps durchaus Positives verbanden. So hatte schon im März der Oberbefehlshaber der NATO, General John Galvin, den amerikanischen Kongress aufgefordert, den Aufbau eines deutsch-französischen Korps als Keimzelle einer westeuropäischen Streitmacht zu unterstützen und sich dabei auf den Grundsatz berufen: „Wenn es der NATO nicht schadet, sollen die Europäer es tun.“408 Auch William Taft, Botschafter der Vereinigten Staaten bei der NATO, konnte dem Eurokorps nicht nur 402
FAZ 29. Mai 1992 „Tragende Säulen geraten ins Wanken“. SZ 30./31. Mai 1992 “Bonn und Paris – wer zieht von über den Tisch?”. 404 Die Welt 29. Mai 1992 „Das Korps, das spaltet“. 405 SZ 27./28. Mai 1992 „Bonn will künftiges deutsch-französisches Korps der Kontrolle des NATOOberbefehlshabers unterstellen“. 406 Le Figaro 28. Mai 1992 « Bonn a donné des garanties à Washington ». 407 Der Spiegel 23/1992 „Spaltpilz in der Allianz“. Rudolf Augstein formulierte in der gleichen Ausgabe des Spiegel unter dem Titel „Pariser Korps-Geist“: „ Gegen wen sollte dieses Korps eigentlich tätig werden und unter wessen Oberbefehl? Wir wissen doch, dass Frankreich in der NATO, die als einzige unseren Schutz gewähren kann, nicht mitarbeitet. Wir wissen, dass Paris stets für sich eine Sonderrolle beansprucht. Sie haben Richelieu und Ludwig XIV. und Napoleon und den Sedanstag und den Einmarsch ins Ruhrgebiet noch nicht hinter sich gelassen.“ 408 Stuttgarter Zeitung vom 27. März 1992 „Galvin wirbt für deutsch-französisches Korps“. 403
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Schlechtes abgewinnen, gab aber zu bedenken, dass gerade das mit dem Korps ebenfalls verbundene deutsch-französische Versöhnungswerk schon durch die Atlantische Allianz gewährleistet sei: „No institution in Europe has demonstrated the capacity to manage nationalist sentiment in the security field so well [as NATO, MK], and it may be doubted that any ever will.”409
Die amerikanische Seite erhöhte daher in den folgenden Wochen den Druck auf Bonn, von den Korps-Plänen abzurücken oder diese doch erheblich zu relativieren.410 Letztlich stand auch die Frage im Raum, warum die Franzosen nach wie vor auf ihrer Sonderrolle innerhalb der Allianz beharrten?411 Die Antwort muss differenziert ausfallen: Zwar war man in Paris von der Zweckmäßigkeit der NATO gerade im Hinblick auf eine Art sicherheitspolitischer Grundversorgung überzeugt,412 betrachte das Atlantische Bündnis aber als nicht geeignet, der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die erforderlichen neuen – über das Spektrum einer passiven Abwehrfunktion hinausgehenden – Handlungsfelder zu eröffnen. Dies wurde insbesondere vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Situation im ehemaligen Jugoslawien als kritisch empfunden. Premierminister Bérégovoy formulierte es wie folgt: „Früher haben wir die aus dem Osten kommende Invasion befürchtet; heute müssen wir weit über unsere Grenze hinausschauen, schnell handeln, um den Frieden zu bewahren. […] Die großen Aufgaben unserer Verteidigung [sind, MK] anspruchsvoll geblieben: durch Abschreckungswaffen unsere vitalen Interessen schützen, eine Handlungsfähigkeit in Europa und außerhalb Europas entwickeln, um im Rahmen unserer Bündnisse die Gesamtheit unserer Interessen in der Welt zu schützen.“ 413
1.11 Die Petersberg-Erklärung der WEU Unbeirrt von der Kritik am Eurokorps verfolgte Frankreich Im Jahresverlauf 1992 weiter die Zielsetzung, die WEU als Instrument der GASP aufzubauen. Die WEU sollte als militärischer Arm der EU etabliert werden, um so die erwartete Reduzierung des amerikanischen Engagements in Europa414 und die damit verbundene Erosion der NATO schrittweise durch
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Herald Tribune 30./31. Mai 1992 „A French-German Corps? Well, why not?“. Vgl. hierzu: Herald Tribune 29. Juni 1992 „U.S. vexes Bonn on Eurocorps“; hierin heißt es: “Unfortunately for the Germans, the French have managed to place themselves in the middle of several major international issues. They have delayed resolution of the General Agreement on Tariffs and Trade talks by refusing to slash agricultural subsidies ; hesitated to support a European show of force against Serbia, and insisted on an unclear degree of independence from NATO for the European army.” 411 La Libération 12. Juni 1992 « OTAN : le débat sur la participation française est relancé ». 412 Vgl. Roland Dumas’ Ausführungen auf seiner Pressekonferenz in Washington am 11. Mai 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 19. Mai 1992. 413 Premierminister Bérégovoy in seiner Rede vor dem IHEDN am 3. September 1992, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 14. September 1992; Hervorhebungen durch den Verfasser. 414 Vgl. hierzu exemplarisch: André Dumoulin, La fermeture d’installations militaires américaines en Europe, in: Défense Nationale 12/1992, S.37-51. 410
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eine gemeinsame Konstruktion der Europäer zu ergänzen und notfalls zu ersetzen.415 Sowohl für die Verantwortlichen in Bonn als auch in Paris galt es, in Europa das Bewusstsein zu schaffen, dass man in einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden sei.416 Um dem europäischen Anspruch auf sicherheitspolitische Autonomie Glaubwürdigkeit zu verleihen, bedurfte es nach dem La Rochelle-Beschluss nun noch einer förmlichen Beschlussfassung der WEU. Diese wurde von der deutschen WEU-Präsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 1992 vorbereitet und auf dem WEU-Ministerrat am 19. Juni 1992 in Form der „PetersbergErklärung“417 der WEU-Außen- und Verteidigungsminister verabschiedet. Diese Erklärung sah für die WEU erstmals konkrete militärische und politische Aufgaben vor und erweiterte das Einsatzspektrum der WEU sowohl inhaltlich wie räumlich. Fußend auf der Erkenntnis, dass ein lediglich wirtschaftlich starkes Europa allein für die Gewährung der Sicherheit des Kontinents nicht ausreichte, bekundeten die Minister darin ihre Absicht, die operativen Fähigkeiten der WEU im Einklang mit dem Maastrichter Vertrag weiterzuentwickeln und der WEU ein eigenes Verfahren für die wirksame Durchführung von Konfliktverhütungsund Krisenbewältigungsmaßnahmen zu geben. Die Westeuropäische Union sollte somit in die Lage versetzt werden, „…sich gemeinsam mit der Europäischen Union in vollem Umfang am Aufbau der europäischen Sicherheitsarchitektur zu beteiligen.“ Dabei wurde Einvernehmen mit der Atlantischen Allianz angestrebt, von deren Rolle als unverzichtbare Grundlage der europäischen Sicherheit sich die WEU-Minister überzeugt zeigten. Ferner begrüßten sie den am 25. Mai auf der Brüsseler Tagung der Euro-Gruppe der NATO gefassten Beschluss, einige oder alle der Aufgaben der Euro-Gruppe an die Westeuropäische Union zu übertragen. Schon seit der Unterzeichnung des Brüsseler Pakts am 17. März 1948 seitens Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg war die Geschichte der Westeuropäischen Union vom Ringen um eine spezifisch europäische Verteidigungspolitik geprägt gewesen. Weder das Protokoll zur Änderung des Brüsseler Pakts vom 23. Oktober 1954, die darin statuierten Schritte, Beitritt (West-)Deutschlands und Italiens, noch die Anfang der 1960er Jahre seitens Frankreich unternommen Reformansätze konnten allerdings darüber hinwegtäuschen, dass neben der Atlantischen Allianz für eine europäische Eigenständigkeit in der Verteidigungspolitik kaum Raum blieb. Dies lag auch daran, dass sowohl der am 19. Oktober 1961 von Frankreich vorgelegte sogenannte Fouchet-Plan I als auch der sogenannte Fouchet-Plan-II vom 18. Januar 1962 den europäischen Partnern zwar die Schaffung einer „unauflöslichen Union der europäischen Staaten“ mit einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik vorschlugen, die zentrale Frage nach den Beziehungen zwischen eben dieser „unauflöslichen europäischen Union“ und den atlantischen Bündnissystem aber vollständig ausklammerten. Letztlich scheiterten beide Pläne wohl auch daran. Erst anlässlich des 30. Jahrestags der Änderung des Brüsseler Vertrags konnte auf der Tagung des WEU-Ministerrats in Rom am 26./27. Oktober 1984 und der hier abgegebenen Erklärung418 diese Lähmung überwunden werden. Im Sinne einer fortschreitenden Integration Europas wurden hier die Ziele einer engeren sicherheits- und verteidigungspoli415
Christoph Neßhöver, Holger Schrader, Frankreich auf dem Weg zu einer „Multilateralisierung“ seiner Deutschlandpolitik? in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.68-82, hier: S.76-78. 416 So Bundesaußenminister Klaus Kinkel in seiner Rede vor der Versammlung der WEU am 2. Juni 1992 in Paris, in: Bulletin der Bundesregierung vom 4. Juni 1992. 417 Wortlaut der „Petersberg-Erklärung“ der WEU in: Bulletin der Bundesregierung vom 23. Juni 1992. 418 Bulletin der Bundesregierung 129/1984.
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tischen Kooperation innerhalb der WEU formuliert. So sollte insbesondere der europäischen Kooperation im Rüstungsbereich neue Impulse verliehen werden. Der nächste entscheidende Schritt war dann im Jahr 1987 die Verabschiedung der Erklärung „Plattform Europäischer Sicherheitsinteressen“ auf der Tagung des WEU-Ministerrates am 26./27. Oktober 1987 in Den Haag.419 Zwei Gesichtspunkte verliehen den hier gefassten Beschlüssen Bedeutung. Einerseits wurden durch sie der Grundstein für, unter rein europäischer Führung stehende, militärische Großverbände mit zwei oder mehr Teilnehmerstaaten gelegt. Andererseits wurde der Weg für eine gemeinsame Sicherheitsidentität und daraus resultierende Verteidigungsfähigkeit geebnet. Hierdurch sollte Europa in die Lage versetzt werden, sich im Bedarfsfall von der NATO abzukoppeln und rein europäische Militärverbände einzusetzen. Unter dem Stichwort Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität wurde die Verpflichtung zu gegenseitiger Solidarität und zum Beistand im Fall eines Angriff gemäß Art. V WEU-Vertrag auf eine Stufe mit der Beistandspflicht aus Art. 5 NATO-Vertrag gehoben. Demgegenüber büßten Rüstungskontrolle und Abrüstung, vormals Hauptinhalt des WEU-Vertrags, ihre vorrangige Bedeutung ein. Hieran indirekt anknüpfend erklärten nun die Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Mitglieder auf dem Petersberg ihre Absicht, die operative Rolle der WEU durch die Bereitschaft zu stärken: „…militärische Einheiten des gesamten Spektrums ihrer konventionellen Streitkräfte für unter der Befehlsgewalt der WEU durchgeführte, militärische Aufgaben zur Verfügung zu stellen.“ Dabei wurde hervorgehoben, dass die Entscheidung über die Teilnahme an bestimmten Operationen der WEU nach wie vor bei den Mitgliedern als souveräne Staaten und entsprechend ihrer jeweiligen Verfassung liegen würde. Die Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, zeitnah anzugeben, welche militärischen Einheiten und Stäbe sie der WEU für Einsätze der Europäer zur Verfügung stellen konnten (Forces answerable to WEU, FAWEU). Bereits fest stand zu diesem Zeitpunkt, dass das Eurokorps als erster Großverband in das FAWEU-Konzept eingepasst werden sollte. Die FAWEUEinheiten sollten ferner aus allen Teilstreitkräften stammen und multinational einsetzbar sein. Auch, so die Petersberg-Erklärung, sollte es möglich sein, dass die FAWEU-Truppen militärische Verbände umfassen konnten, die bereits der NATO assigniert waren. Dieses Prinzip einer doppelten Zuordnung („double hatting“) war schon auf dem NATO-Gipfel in Rom Ende 1991 diskutiert und kurz vor dem Petersberger Treffen vom britischen Verteidigungsministers Malcolm Rifkind konkretisiert wurden.420 Die Erklärung der Mitgliedstaaten, der Westeuropäischen Union prinzipiell und dauerhaft konventionelle Streitkräfte zu unterstellen, hob den verfestigten Willen der Europäer hervor, die WEU als Verteidigungskomponente der Europäischen Union auszubauen und dafür institutionell weiterzuentwickeln. Hierzu hatte der deutsche Generalinspekteur General Naumann im Mai 1992 erklärt: „Die WEU soll nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs der EG der Nukleus einer späteren europäischen Verteidigungsidentität sein. Wir wollen sie ausgestalten und entwickeln, aber
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Bulletin der Bundesregierung 112/1987. Rifkinds Zielsetzung war es hierbei wohl gewesen, alle europäischen multinationalen Verbände – vor allem aber das neugeschaffene Eurokorps – unter NATO- und WEU-Kontrolle zu stellen.
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so, dass alles, was dort geschieht, komplementär zur NATO und mit den NATO-Strukturen kompatibel ist. […] Es ist nicht beabsichtigt, eigene WEU-Truppen zu schaffen…“421
Die FAWEU-Einheiten sollten unter der WEU-Befehlsgewalt in einem, in der PetersbergErklärung neu-definierten Einsatzspektrum eingesetzt werden: „Militärische Einheiten der WEU-Mitgliedstaaten, die unter Befehlsgewalt der WEU eingesetzt werden, könnten neben ihrem Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung […] auch für folgende Zwecke eingesetzt werden: o Humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze; o Friedenserhaltende Aufgaben; o Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur o Herbeiführung des Friedens.“
Um dieses Spektrum von sowohl neu hinzugetretenen friedenssichernden Aufgaben als auch weiterhin bestehenden Aufgaben kollektiver Selbstverteidigung gemäß Art. V WEUVertrag erfüllen zu können, mussten die FAWEU-Truppen (schwere) Selbstverteidigungsund (leichte) Kriseneinsatzkapazitäten umfassen. Die neuen Aufgabenfelder wurden als „Petersberg-Aufgaben“ klassifiziert. Durch die Definition dieser Aufgaben wurde eine regionale Entgrenzung des WEU- und des EU-Operationsrahmens vorgenommen. Er war dazu geeignet, die Europäische Union als sicherheits- und verteidigungspolitischen Akteur mit weltweiter Handlungsfähigkeit zu begründen. Dieser Schritt war dem von den Mitgliedstaaten und hier insbesondere von Frankreich empfundenen Bedürfnis geschuldet, die rudimentär bestehende außenpolitische Koordinierung der Europäer grundlegend zu reformieren.422 Allerdings spiegelten die so vorgenommenen Weichenstellungen ebenso das französische Bestreben wider, Streitkräfteintegration weitgehend zu vermeiden. Zudem wies der Wortlaut der Petersberg-Erklärung nicht auf das aktuelle gemeinsame Verständnis der Vertragsparteien hin, sondern prognostiziert eine Entwicklung der operationellen Rolle der WEU im Rahmen einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Europäer. Die Petersberg-Aufgaben bezeichnen daher lediglich den dynamischen Anpassungsprozess des WEUVertrags an die in Maastricht projektierten Zielsetzungen, ohne die Grundlage des ursprünglichen Vertragswerkes zu verlassen.423 Sie bestätigten ferner die Erweiterung der als klassisches Verteidigungsbündnis angelegten Westeuropäischen Union auf das Feld friedenssichernder Aufgaben. Die regionale Entgrenzung der militärischen Aufgaben der WEU wurde in Paris als Erfolg gewertet. Der neue, weltweite Anspruch beinhaltete, dass „…die WEU zumindest auf deklaratorischer Ebene der NATO auch im Hinblick auf die Aufgabe der kollektiven Selbstverteidigung gleichgestellt worden ist“.424 Gegen ein double hatting der der WEU zugeordneten Truppenteile leistete man demgegenüber Widerstand. Offenkundig verfolgte Paris weiter die Strategie, den militärisch-strategischen Einfluss der Amerikaner in Europa so weit wie möglich einzudämmen. Zugleich war allerdings unverkennbar, dass angesichts der großen Widerstände, die die NATO den Plänen für eine größere sicherheits- und vertei421
Generalinspekteur Klaus Naumannn in seiner Rede vor der 33. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Leipzig am 12. Mai 1992, abgedruckt in: EA 1992, D448-454, hier: D452. 422 Regelsberger, Die GASP, S.13. 423 Vgl. hierzu: Wassenberg, Eurokorps, S.96. 424 Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, S.42.
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digungspolitische Eigenständigkeit Westeuropas entgegenbrachte, man in Paris um eine deutlich flexiblere und kompromissbereitere Haltung bemüht war. Am deutlichsten kam dies in der auf dem Petersberg getroffenen Entscheidung zur prinzipiellen Vereinbarkeit einer gleichzeitigen WEU- und NATO-Assignierung zum Ausdruck, die eigentlich das Ende für die von Paris bisher angestrebte, von der NATO-autarke, europäische Sicherheitsstruktur bedeutete. 1.12 Richtungskämpfe um die Stellung des Eurokorps Die Diskussion um Zielsetzung und Auswirkungen der deutsch-französischen Verteidigungszusammenarbeit riss den Sommer 1992 über nicht ab. Das Eurokorps, so die französische Zeitung Le Monde, stehe deshalb zur Debatte, weil :« …à côté du pôle politique représenté par l’UEO, il pourrait devenir le catalyseur d’une défense européenne. […] Enfin, les réactions d’autres Etats européens montrent aussi que la coopération militaire entre la France et l’Allemagne réveille quelques sensibilités. » Mit Blick auf die ablehnende Rolle Großbritanniens führte die Kommentierung weiter aus: « Le rejet britannique est compréhensible : le rang et le rôle de la Grande-Bretagne reposent sur les relations spéciales avec les Etats-Unis. La réserve d’Etats plus petits – le meilleur exemple en est les Pays-Bas – est liée à la crainte d’un condominium franco-allemand sur l’Europe occidentale. » 425 Caspar Weinberger, ehemaliger amerikanischer Verteidigungsminister und Vertrauter von George Bush, beschwor in diesem Zusammenhang gar eine mögliche Spaltung des westlichen Bündnisses. Die neue deutsch-französische Verteidigungszusammenarbeit drohe, „…der so erfolgreichen West-Allianz ausgerechnet in einem Augenblick weiteren Schaden zufügen, in dem sie einen solchen Schlag am wenigsten verkraften kann.“426 Demgegenüber kritisierte die französische Opposition vor allem die auf dem Petersberg gefundene Regelung zum double hatting. So schrieb etwa Pierre Lellouche: « Très concrètement : est-ce que nous Français acceptons ou non, qu’en temps de paix, nos unités affectées à l’Eurocorps soient placées sous « un double chapeau », une double intégration : intégration dans le cadre de l’UEO et de l’ »Union » européenne pour les interventions hors zone OTAN où l’Europe pourrait décider d’agir seule, et intégration dans l’OTAN pour les cas d’actions conjointes avec l’Alliance ? […] En d’autres termes, la vrai question pour la France, restée sans réponse jusqu’ici malgré le débat sur Maastricht, n’est pas de savoir si elle refuse tout lien politique ou de commandement entre les « forces européennes » et celles de l’OTAN, mais jusqu’où la France est prête à aller dans l’intégration militaire en Europe même. »427
Auch auf dem Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München war das deutschfranzösische Zusammengehen und das Eurokorps ein zentrales Thema. Präsident George Bush zeigte sich gegenüber dem deutschen Bundeskanzler enttäuscht über die jüngsten Entwicklungen. Zwischen Washington und Paris beständen eine Reihe von Differenzen –
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Le Monde 23. Juni 1992 « Ambiguïtés franco-allemandes ». Vgl.: den Namensbeitrag von Caspar Weinberger unter dem Titel “Ein Unheil verkündendes Vorzeichen für Amerika“ in: Der Spiegel 27/1992. 427 Le Figaro 24. Juli 1992 « Le corps franco-allemand et l’avenir de la défense européenne ». 426
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gerade in den wesentlichen Sicherheitsfragen.428 Frankreich sei nicht bereit, die Rolle der NATO zu erweitern, so Bush. Dies mache es schwierig, in seinem Land die notwendige Unterstützung für die weitere militärische Präsenz in Europa zu erhalten.429 Auch die britische Regierung um Premierminister John Major zweifelte daran, dass angesichts der zum Teil stark unterschiedlichen Positionen der europäischen Staaten in Fragen der Sicherheitspolitik die Europäische Union kurz- und bis mittelfristig in der Lage sein würde, mit Hilfe der WEU eine tragfähige Alternative zur NATO aufzubauen. Für London war das Zustandekommen einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik maßgeblich davon abhängig, ob es gelänge, gemeinsame sicherheitspolitische Interessen zu definieren, die über den Grundkonsens der Landesverteidigung hinausgehen und ob eine für alle europäischen Akteure befriedigende Zuordnung der atlantischen Komponente gelänge. Der hieraus abzulesende Dissens, wurde auch von François Mitterrand empfunden, der gegenüber der Presse erklärte: „Das deutsch-französische Korps entsprach weder den Wünschen noch den Absichten der Amerikaner.“ 430 Wenn man mit den Amerikanern, so Mitterrand weiter, über das deutsch-französische Korps spräche, schlage einem sofort Misstrauen entgegen: „Und die NATO?“. Diese Befürchtungen seien jedoch unbegründet: „…die Allianz, die WEU und das deutsch-französische Korps ergänzen sich.“431 Es wurde deutlich, dass auf französischer Seite nach wie vor folgendes Credo galt: „Frankreich zielt nicht darauf ab, dieser oder jener Bedrohung zu begegnen oder Souveränitätsübertragungen in einem Bereich zu beschleunigen […]. Es geht darum, die Globalität unseres Vorgehens auf die Europäische Union hin zu bekräftigen, die sich a priori keiner Option, auch nicht der ehrgeizigsten, verschließen kann, ohne das Risiko, die Glaubwürdigkeit des aktuellen Integrationsprozesses zu schwächen.“432
Für die deutsche Seite waren auch zu diesem Zeitpunkt der Fortbestand der Atlantischen Allianz und die Stärkung der europäischen Sicherheitsidentität kein Widerspruch. Auch hier hatte man das Empfinden, dass der Gegensatz von amerikanischer Seite „aufgebauscht“ würde. Vielmehr, so die Einschätzung von Helmut Kohl, wolle die französische Seite keinen Rückzug der Amerikaner aus Europa – auch deshalb nicht, um nicht allein mit den Deutschen sein zu müssen.433 In der neuen strategischen Lage Europas waren für die deutsche Verteidigungspolitik augenscheinlich die Faktoren Vertiefung der europäischen Integration434 und Erweiterung des militärstrategischen Handlungsrahmens über den Bereich der NATO hinaus von besonderer Bedeutung. Allerdings hatte man auch in Bonn auf die Frage, wie man etwas Eigen-
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So fragten sich etwa das amerikanische State Departement, ob Frankreich nicht der Feind Nummer 1 der Vereinigten Staaten geworden sei; vgl.: International Herald Tribune, 2. Juli 1992: “US-French Ties: The Big Chill. With Cold War’s end comes new level of mistrust”. 429 Kohl, Erinnerungen 1990-1994, S.463-464. 430 Mitterrand in seiner Pressekonferenz nach dem Weltwirtschaftsgipfel in München am 8. Juli 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 15. Juli 1992. 431 Ebenda. 432 Premierministerin Cresson in ihrer Rede vor dem IHEDN am 5. September 1991, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 11. September 1991. 433 Kohl, Erinnerungen 1990-1994, S.463. 434 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.93.
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ständiges schaffen konnte, ohne zu bereits bestehenden Strukturen etwas Neues hinzuzufügen, keine befriedigende Antwort. In Frankreich wurde der Richtungsstreit um Europas sicherheitspolitische Zukunft verschärft durch eine heftige innerfranzösische Debatte über den allgemeinen außenpolitischen Kurs.435 Diskutiert wurde hier nicht nur der bilaterale Großverband Eurokorps und die anstehende Transformation der französischen Streitkräfte,436 sondern auch das Maastrichter Vertragswerk, welches als Auftakt zu dem Verlust nationaler Eigenständigkeit gebrandmarkt wurde.437 Der bekannte französische Spannungsbogen zwischen dem Plädoyer für ein selbstständiges Europa und der gleichzeitigen Abneigung gegenüber jeglichem Souveränitätstransfer war erneut sichtbar. Dabei lag das Problem der französischen Konzeptionen abermals in ihrer zu hohen Status-quo-Orientierung. Dies galt insbesondere für die Frage einer Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Staaten. Die ordnungspolitischen Vorstellungen Frankreichs erweckten hier den Eindruck, dass sie langfristig die Koexistenz zweier unterschiedlicher Strukturen in Europa anstrebten, was sich zu guten Teilen aus einer mittelfristig als negativ zu bescheidenen Lageentwicklung vornehmlich in Süd-Ost-Europa ableitete. Für die deutsche Seite hingegen bedeuteten Konflikte und Krisen in Osteuropa und vornehmlich im zerfallenden Jugoslawien weitere Argumente für die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung als Erweiterungsschritt der sich ausdifferenzierenden Europäischen Union. So sprach etwa Bundesaußenminister Genscher davon, dass die Antwort der Europäischen Gemeinschaften auf die erwachenden Nationalismen in Osteuropa sein müsse, „…ihnen das Tor zur Gemeinschaft zu öffnen“.438 In dieser Situation suchte Staatspräsident François Mitterrand den Befreiungsschlag und stellte den Vertrag von Maastricht zur Volksabstimmung. Diese wäre nicht notwendig gewesen, da im französischen Kongress die nötige Zustimmungsmehrheit bestand. Dennoch billigten beide Parlamentskammern am 23. Juni 1992 die für eine Volksabstimmung notwendige Verfassungsreform.439 Es ist anzunehmen, dass Mitterrand seine eigene, durch die innenpolitischen Debatten erschütterte Position durch das Plebiszit über den Maastrichter Vertrag festigen wollte. Zudem war eine unzweifelhafte Zustimmung der Franzosen zum europäischen Vertragswerk unabdingbar für die Legitimation von Frankreichs Füh435
In der französischen Parteienlandschaft gab in den 1990er Jahren drei europapolitische Strömungen: die begeisterten Befürworter Europas (Européens de coeur), die radikalen Gegner (nationalistes irréductibles) und die zahlenmäßig größte Gruppe, die zwar die weitere Vertiefung anstrebt, in der sich aber eine Reihe von divergierenden Meinungen ausmachen lassen (Européens de raison). Siehe auch: Sylvie Goulard, Französische Europapolitik und öffentliche Debatte in Frankreich, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) Discussion Paper C62 2000, Bonn 2000, S.3-5. 436 La Libération 2. Juli 1992 « Défense : Joxe programme la grande mutation ». 437 Le Figaro 25. /26. Juli 1992 „Les quatre erreurs de la politique française » par Pierre Lellouche : « …M. Mitterrand, […] s’est ensuite précipité dans le wagon de l’integration européenne maximale : ce furent les accords de Maastricht. Je doute des résultats de cette politique. […] Un erreur, s’agissant des problèmes stratégiques : l’insistance du côté français à opposer l’UEO es « l’Europe » à l’OTAN, comme si les deux choses étaient totalement incompatibles, aboutit à donner l’impression aux Américans, aux Anglais, aux Allemandes, que nous essayons de casser l’Allinace en poussant les Américans dehors. […] Par une triste ironie de l’histoire, toutes ces erreurs risquent, si l’on n’y prend garde, d’encourage en dernière analyse l’emergence d’un axe Washington-Berlin autour duquel s’oronnancera le futur systéme de défense européen, la France en faisant les frais son isolement. » 438 Sauder, Souveränität und Integration, S.122. 439 Valérie Guérin-Sendelbach, Frankreich und das vereinigte Deutschland. Interessen und Perzeptionen im Spannungsfeld, Opladen 1999,S. 136-137.
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rungsanspruch in Europa. Das am 20. September 1992 abgehaltene Referendum ging bei einer Wahlbeteiligung von 69,68% und rund 51% der Abstimmenden für das Maastrichter Vertragswerk knapper aus, als zuvor erwartet. Mitterrand, der die Abstimmung indirekt zum Plebiszit über seine Person stilisiert hatte, fühlte sich dennoch bestätigt. Sein Diktum: „Ich habe gesagt: Frankreich ist unser Vaterland, Europa ist unsere Zukunft“440 hatte eine knappe Mehrheit gefunden. Das Maastricht-Referendum markiert zugleich eine Wende in der französischen Europapolitik. Der pro-europäische Konsens, der sich seit Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte und der Lancierung des Binnenmarkt-Projekts Mitte der 1980er Jahre eingestellt hatte, löste sich nunmehr Schritt für Schritt auf.441 Mitterrand selbst, der im Wendejahr 1989/90 die europäische Karte gespielt hatte und nunmehr die Schaffung der Europäischen Union als sein politisches Lebenswerk betrachtete, stand nach der MaastrichtAbstimmung innenpolitisch angeschlagen dar. Einer der wenigen europapolitischen Aktivposten in dieser Lage war das Eurokorps, welches laut Premierminister Bérégovoy für das gemeinschaftliche Europa und für Frankreich eine zusätzliche Garantie für einen dauerhaften Frieden darstelle. Das Korps, so der Premierminister in einer Rede am Institut des Hautes Etudes de Defense Nationale (IHEDN), biete der WEU ein Musterbeispiel für eine engere militärische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und würde zudem die Rolle der Europäer innerhalb des Atlantischen Bündnisses stärken. Dabei ermögliche die projektierte Kommandostruktur des Korps, nationale Souveränität und europäischen Aufbau in Einklang zu bringen.442 Ebenfalls unbestritten war, dass die Integration militärischer Stäbe im Rahmen der NATO seit deren Gründung eine positive Wirkung entfaltet hatte. Dies insbesondere deswegen, als damit die geschichtlich gewachsene Gegnerschaft unter den Staaten West- und Mitteleuropas, vor allem zwischen Deutschland und seinen Nachbarn, strukturell aufgebrochen wurde. Sicherheitspolitisch war es allerdings weiter fraglich, in welcher Weise die Aufgabenteilung zwischen NATO und WEU zukünftig organisiert werden oder beispielsweise das double hatting des Eurokorps funktionieren sollte. Zwar hatte sich der Nordatlantikrat in seiner Sitzung vom 2. September 1992 darauf verständigt, den Europäern NATO-eigene Ressourcen für ihre Bemühungen zur Herstellung des Friedens im ehemaligen Jugoslawien zur Verfügung zu stellen – eine prinzipielle Regelung war durch diese Einzellösung jedoch eher unwahrscheinlicher geworden. Daran änderte auch der nahezu zeitgleich erfolgte Vorschlag des französischen Generals Michel Fennebresque nichts, für eine europäische Verteidigung folgende Rahmenbedingungen zu schaffen:
440
« Préciser et clarifier ses cadres et hypothèses d’emploi.… Parallèlement, doter l’UEO des organes politiques et militaires nécessaires à gestion d’une crise. Doter toutes les unités de l’Eurocorps d’un même statut à l’égard de chacun de leurs « employeurs » possibles, UEO et OTAN, et leur donner les mêmes possibilités d’action dans les différentes hypothèses envisageables.
Staatspräsident Mitterrand in seinem Fernsehinterview vom 12. April 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 16. April 1992. 441 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.125. 442 Premierminister Bérégovoy in seiner Rede vor dem IHEDN am 3. September 1992, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 14. September 1992, hier: S.10.
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Europäisches Gleichgewicht oder Bündnisintegration? Apporter à cet embryon de force européenne les compléments indispensables pour rendre son emploi possible et donc crédible, à savoir des moyens de commandement, de renseignement et logistiques […] pour préparer, couvrir et appuyer l’engagement des forces terrestres, qui devront elles-mêmes et progressivement étoffées. »443
Unmittelbar nach der Maastricht-Volksabstimmung verdichteten sich daher auf französischer Seite Anzeichen eines Richtungswechsels in der NATO-Frage. So dachte etwa Verteidigungsminister Pierre Joxe öffentlich über den Anstoß einer euro-atlantischen Debatte über zukünftige Sicherheitspolitik nach,444 während Premierminister Bérégovoy auf einem in Paris stattfinden Kolloquium zur Sicherheitspolitik die angestammte Bedeutung des Atlantischen Bündnis hervorhob und betonte, dieses müsse weiterhin eine „Hauptrolle“ spielen; Frankreich habe die Absicht der NATO „völlig treu“ zu bleiben.445 Einig waren sich beide Politiker, die in enger Abstimmung mit der Sicherheitspolitischen Abteilung des Elysée-Palastes vorgingen, in der Überzeugung, die französische Zusammenarbeit mit der NATO funktioniere umso müheloser je eher sich die Atlantische Allianz einer „wirklichen Wandlung“ unterziehe. Dies korrespondierte mit der Intention Bonns, ein neues Verhältnis Frankreichs zur Atlantischen Allianz anstoßen zu wollen. Insgesamt kann man festhalten, dass Frankreich ab dem Spätsommer eine neue Beziehung zur NATO suchte. Dabei ging es nach Bekunden des damaligen französischen Generalstabschefs Jacques Lanxade446 darum, auf dem Wege einer NATO-Reform die Zusammenarbeit im Bündnis neu zu ordnen und „gerechter“ auszutarieren. Anlass war die sich konkret an der Entwicklung der Jugoslawien-Krise festzumachende Einsicht, dass der eigenen Stellung aus der Distanz zur NATO mehr Nachteile als Vorteile erwuchsen.447 Nach Monaten der amerikanisch-französischen Zwistigkeiten bemühte sich Paris daher nun verstärkt, die bezüglich des Korps geäußerten Befürchtungen zu zerstreuen. Ein anderer Aspekt war die sich mehr und mehr durchsetzte Erkenntnis, dass die Errichtung des Korps ohne die Billigung der NATO wohl nicht zu kriegen sei. Dabei war auffällig, wie unterschiedlich nach wie vor in Bonn und Paris die Erwartungen blieben. Während sich die deutsche Regierung bemühte, die gebotenen Abstimmungen zwischen EU/WEU und NATO zu einer rein „technischen“ Angelegenheit herunterzustufen und die „europäische Verteidigung“ überhaupt an einen weiter entfernten Horizont zu rücken, war für Frankreich diese Frage unverändert von zentraler Natur. Allerdings wirkte es sich als wesentlich vereinfachend aus, dass diese nicht mehr mit dem zwingenden Impetus verbunden wurde, die Klärung des Verhältnisses zwischen Eurokorps und Allianz als Amboss für eine Grundsatzdebatte über die Reform der NATO zu instrumentalisieren. Im Verlauf des November 1992 verdichteten sich die Anzeichen, dass die Formalisierung des double hatting-Status erreicht werden könnte. Schon in den im November 1992 erschienen neuen „Verteidigungspolitische Richtlinien“ für die Bundeswehr hatte Bonn die komplementäre Funktion von WEU und NATO herausgestellt und betont:
443
Le Figaro 4. September 1992: « Vers une défense commune ». Le Figaro 1. Oktober 1992 « OTAN : Paris pense à de nouvelles relations »; siehe weiterführend: Jean-Pierre Froehly: NATO und Rüstungsindustrie: ESVI am Scheideweg? in: Dokumente 1998, S.375-382, hier: S. 377. 445 FAZ 2. Oktober 1992 „Das Verhältnis zu Amerika und der Atlantischen Allianz“. 446 Admiral Jacques Lanxade im Gespräch mit dem Verfasser am 24. September 2008. 447 Im Elysée-Palast war man vor allem darüber zunehmend unzufrieden auf die militärische Planung keinen unmittelbaren Einfluss nehmen zu können. 444
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„Die WEU[…] ermöglicht den Europäern[…] besonders in solchen Krisensituationen handlungsfähig zu sein, in denen die NATO nicht in der Lage oder nicht willens ist, einzugreifen.[…] Die WEU muß dazu auf europäische Streitkräfte zurückgreifen und diese führen können. Streitkräfte und Führungsstrukturen können aus europäischen Kräften der NATO, aus multinationalen Kooperationsformen sowie aus nationalen Quellen bereitgestellt werden.“448
Ausdrücklich wurde von Bonn also die Vorrangstellung der Atlantischen Allianz betont. In Paris war man ebenfalls an einer Klärung interessiert. Nach ersten diesbezüglichen Äußerungen Roland Dumas’ Anfang des Monats449 thematisierte man die Frage auf der turnusgemäßen WEU-Tagung in Rom.450 Schließlich wurde am 30. November 1992 seitens Deutschlands und Frankreichs dem Nordatlantikpakt vorgeschlagen, in einem Abkommen die Bedingungen für einen Einsatz des Eurokorps im Rahmen der NATO festzulegen. Hierzu sollte, gemäß eines Vorschlages des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates vom 4. Dezember,451 ein „Besonderes Abkommen“ zwischen dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR), dem französischen Generalstabschef und dem deutschen Generalinspekteur ausgefertigt werden. Während auf deutscher Seite insbesondere hohe Militärvertreter, die dem Eurokorps ohnehin skeptisch gegenüber standen und dessen Einsatzwert bezweifelten, erleichtert darüber waren, das leidige Thema so endlich lösen zu können, um so die „Marter“ (General Klaus Naumann), die sie seit dem Sommer in den militärischen Gremien der NATO immer wieder erlebt hatten, zu beenden, bestand Paris darauf, das auszuhandelnde Abkommen so zu formulieren, « … que l’Eurocorps conserve sa « spécificité européenne ».452 Das Abkommen sollte den besonderen Rang und den eigenständigen Charakter des Korps im direkten Vergleich zu bestehenden, vergleichbaren Verbänden deutlich werden lassen.453 Wieder einmal zeigte sich das von Frankreich verfolgte Konzept eines „Wandels durch Annäherung“. Von Anfang an war dabei klar, dass man in Paris allenfalls bereit war, das Korps und damit die assignierten eigenen Truppenteile unter ein „operational command“ des SACEUR zu stellen. Diese einsatzspezifische Kommandounterstellung war, im Einklang mit dem Bericht von La Rochelle, an die Bedingung gebunden, dass die truppenstellenden Staaten einem möglichen Einsatz zustimmten. Auf keinen Fall sollte der Eindruck einer Rückkehr Frankreichs in die integrierte militärische Struktur der NATO entstehen. Auch die mit diesem Schritt eindeutig verbundene französische Annäherung an die Planungs- und Entscheidungsgremien der Atlantischen Allianz wollte man richtig verstanden wissen. Es ginge Frankreich darum, wie dies Verteidigungsminister Joxe nochmals betonte, « … à la rénovation de l’Alliance atlantique » mitzuwirken.454
448
Vgl.: Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung“, Bonn 1992, S.20. 449 Vgl. etwa Dumas’ Ausführungen in der Haushaltsdebatte in der Nationalversammlung am 03. November 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 17. November 1992. 450 Vgl. auch FAZ vom 21. November 1992 „Die WEU treibt Ausbau zum Verteidigungsarm der EG voran“. 451 Bulletin der Bundesregierung vom 9. Dezember 1992. 452 Le Figaro 3. Dezember 1992 « L’Eurocorps se rapproche de l’OTAN ». 453 FAZ 5. Dezember 1992 „Einbindung des deutsch-französischen Korps in das atlantische Bündnis“ 454 L’Humanité 4. Dezember 1992 « La porte de La Rochelle ».
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1.13 Das SACEUR-Abkommen Am 21. Januar 1993 wurde in Bonn der 30. Jahrestag der Unterzeichnung des DeutschFranzösischen Vertrages feierlich begangen. Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand würdigten dabei vor allem die bilaterale Annäherung in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik: Diese stehe unzweideutig in der Perspektive der Europäischen Union und der Atlantischen Allianz. Der deutsche Bundeskanzler betonte, die Europäische Union müsse jetzt alles dafür tun, eine Außen- und Sicherheitspolitik zu erhalten, die diesen Namen wirklich verdiene. Deutschland und Frankreich wollten hierbei Schrittmacher sein. Diesem Ziel sei auch das Eurokorps verpflichtet.455 Der französische Staatspräsident prognostizierte hieran anknüpfend, dass „…das deutsch-französische Korps mit europäischer Bestimmung [beweisen wird, MK] daß europäische Verteidigungsidentität, Zusammenhalt der Allianz und deutsch-französische Freundschaft durchaus kompatible Begriffe sind, die sich nicht gegenseitig ausschließen.“456 Für die deutsche Seite stand zudem fest: „Europa braucht den sicheren und festen Anker der Europäischen Gemeinschaft mehr denn je. […] Dieses Europa kann nur in enger transatlantischer Verbindung sein inneres Gleichgewicht und seine äußere Handlungsfähigkeit erlangen.“ 457
Die so herausgestellte transatlantische Verbindung wurde am selben Tag im Brüsseler NATO-Hauptquartier mit Unterzeichnung des so genannten „SACEUR-Abkommens“ durch den obersten NATO-Befehlshaber in Europa (Supreme Alliied Commander Europe/SACEUR), dem französischen Generalstabschef und dem deutschen Generalinspekteur wesentlich gestärkt. Inhalt des Abkommens war die Regelung des Rangverhältnisses des Eurokorps gegenüber den Befehlsstrukturen der Atlantischen Allianz. Wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen der Vereinbarung war die beschriebene Veränderung der französischen Haltung in dieser Frage. Konkret hatte der französische Außenminister Roland Dumas schon im November 1992 vor der Nationalversammlung eine förmliche Kooperationsvereinbarung zwischen dem Korps und der Atlantischen Allianz in Aussicht gestellt und erklärt: „Glauben sie mir: Das Europa der Verteidigung wird kommen. […] Aber dieses „Europa der Verteidigung“ muß sich entwickeln und wird sich entwickeln als europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz. Die Allianz, unsere Bindung an unsere Freunde, die Vereinigten Staaten, wird dadurch gestärkt, insbesondere durch die Aufstellung des europäischen Korps, das im Krisenfall der Allianz zur Verfügung gestellt werden wird, natürlich auf Beschluß der Mitgliedstaaten. Dieses Korps wird seine Rolle voll übernehmen.“458
455
Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Rede in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland am 21. Januar 1993, in: Bulletin der Bundesregierung vom 25. Januar 1993. Mitterrand in seiner Rede anlässlich der Zeremonie zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des deutschfranzösischen Vertrages am 21. Januar 1993 in Bonn, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 1. Februar 1993. 457 Der Elysée-Vertrag sei hierfür eine gute Ausgangsbasis, da dieser, von vorne herein, durch seine europäische Perspektive gekennzeichnet gewesen sei. Gleiches gelte für seine Öffnung gegenüber den anderen europäischen Partnern; vgl.: Rede von Bundesaußenminister Kinkel vor dem Deutschen Bundestag aus Anlass des 30jährigen Bestehens des Elysée-Vertrags am 21. Januar 1993; in: Bulletin vom 25. Januar 1993. 458 Außenminister Dumas in der Haushaltsdebatte in der Nationalversammlung am 3. November 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 17. November 1992. 456
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Nach dieser prinzipiellen Festlegung der französischen Politik war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Frankreich, Deutschland und die Allianz über den Wortlaut eines entsprechenden Abkommens verständigten. Das SACEUR-Abkommen459 vom 21. Januar 1993 beschreibt das Eurokorps als dafür vorgesehen, zur gemeinsamen Verteidigung der Alliierten und zu Krisenoperationen gemäß Art. 5 des Washingtoner Vertrages und des neuen Strategischen Konzepts der NATO beizutragen (SACEUR-Abkommen, Absatz 3). Im Zuge der gemeinsamen Verteidigung solle das Korps der Verfügungsgewalt des SACEUR unterstellt werden („…mis à la disposition“). Dieser sei autorisiert, das Korps mit den ihm nachgeordneten NATOKommandostäben Central Europe/ CINCENT oder Commander Land Forces Central Europe/COMLANDCENT im Verband zum Einsatz zu bringen (Absatz 3a). Das Abkommen eröffnet zudem die Perspektive eines Einsatzes des Eurokorps im Rahmen der NATOKrisenreaktion (Absatz 3b). Hier soll jede Form des präventiven oder reaktiven Einsatzes möglich sein. Gleiches gelte für einen mittelbaren NATO-Einsatz im Rahmen anderer Institutionen kollektiver Sicherheit (Absatz 4). Die Planungen für einen Einsatz des Korps im Rahmen des eröffneten Missionsspektrums lägen prinzipiell in der Verantwortlichkeit der Atlantischen Allianz (Absatz 6). Demgegenüber wird allerdings bekräftigt, dass die Entscheidung über den Einsatz des Korps in jedem Fall unter Vorbehalt der Regierungen der an ihm beteiligten Staaten steht (Absatz 14). Nach dieser prinzipiellen Entscheidung würde das Korps in diesem Fall unter ein „commandement opérationnel“ des SACEUR gestellt werden (Absatz 15). Zugleich wird die Perspektive eröffnet, dieses „commandement opérationnel“ auch weiter zu delegieren. Prinzipiell solle jedoch das Prinzip der einheitlichen Kommandounterstellung, sprich der Einsatz des Korps als Einheit, gewahrt bleiben (Absatz 17). Um eine effektive Zusammenarbeit sicherzustellen, wird der Kommandierende General des Eurokorps durch das Abkommen verpflichtet (Absatz 20), den SACEUR regelmäßig über:
Ausbildungsstand und Operationsfähigkeit der einzelnen dem Korps zugeordneten Einheiten; Ausrüstung und Bewaffnung; Logistische Fähigkeiten und Ausbildungsinhalte und Übungsprogramme des Korps
zu unterrichten. Neben dieser weitreichenden Verpflichtung des Kommandierenden Generals wird die enge Abstimmung zwischen Allianz und Korps durch das in Absatz 21 des Abkommens statuierte Recht des SACEUR gestärkt dem Korps regelmäßig Anforderungsziele mitzuteilen, die er in Bezug auf: 459
logistische Mittel, Bereitschaftsgrad der Einheiten des Eurokorps, Ausbildungsstand des Personals, Übungsplanung und –niveau und Interoperabilität Das gemeinhin als SACEUR-Abkommen bezeichnete Dokument vom 21. Januar 1993 trägt im Französischen den Titel: „Accord spécifique réglant les conditions d’emploi du Corps Européen dans le cadre de l’Alliance Atlantique“ (unveröffentlicht).
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für notwendig hält. Im Gegenzug stellt das NATO-Hauptquartier dem Korpsstab Materialien und Ergebnisse eigener Aufklärungskapazitäten, Übungsauswertungen und nachrichtendienstliche Erkenntnisse zur Verfügung (Absatz 23). Auch wenn sein genauer Wortlaut der Geheimhaltung unterliegt, war das mediale Echo auf das SACEUR-Abkommen durchweg positiv.460 Es schien ein Schlusspunkt unter einen transatlantischen Dissens gesetzt worden zu sein, der über ein Jahr angehalten hatte. Wesensmerkmal des als „Höhepunkt in der Geschichte der NATO“ (General Klaus Naumann) titulierten Abkommens ist jedoch seine vielschichtige Lesbarkeit und sein ambivalenter Charakter. Da Paris sein prinzipielles Einverständnis gegeben hatte, seine Korps-Truppen auch im NATO-Auftrag einzusetzen, wertete die Bonner Regierung die Aufstellung des Korps als einen erfolgreichen Ansatz, um Frankreich wieder näher an die Allianz heranzuführen.461 Das von Anfang an postulierte Ziel schien erreicht. Demgegenüber hatte die französische Politik immer wieder erklärt, dass man keinesfalls mit dem Gedanken spiele, de Gaulles Schritt von 1966 zu revidieren und wieder in die integrierten Kommandostrukturen der Allianz zurückzukehren.462 Für Paris war das SACEUR-Abkommen dann auch vielmehr die schriftliche Fixierung gaullistischer Überzeugungen: (I.) Einsatz französischer Truppen nur nach vorheriger Zustimmung der französischen Regierung, (II.) kein Bündnisautomatismus, aber (III.) Solidarität im Verteidigungsfall. Auch das „commandement opérationnel“, das dem SACEUR zugestanden wurde, war, so der damalige französische Generalstabschef Lanxade, einer der Mitunterzeichner des Abkommens, ja nicht vielmehr als eine nachgeordnete, ausführende Kompetenz. Die assignierten Truppenverbände blieben an erster Stelle immer dem Korps und erst an zweiter Stelle der NATO zugeordnet, wodurch der europäische Beitrag klar ablesbar bleibe. Entscheidendes Zugeständnis der französischen Seite war jedoch, neben der erstmalig erfolgten Einbindung eigener Truppenverbände in die Planungsabläufe des SACEUR und in die damit verbundenen Weisungsbefugnisse, die prinzipiell gegebene Einwilligung, das Eurokorps nicht nur für die europäische Verteidigung, sondern auch für andere Missionen unter das operative Kommando der NATO zu stellen. Dieses Entgegenkommen war der Einsicht geschuldet, dass es ohne eine formelle Regelung der Beziehungen NATO – Eurokorps nicht gehen konnte,463 zumal der deutsche Partner das Atlantische Bündnis als unverzichtbaren Faktor betrachtete, ohne dessen operative und logistische Unterstützung ein Einsatz des Korps nicht möglich sei.464 Das SACEUR-Abkommen, welches den Sonderstatus des Korps und dessen europäische Identität aber weitestgehend wahrte, bedeutete für die französische Seite daher keine Revision ihrer bisherigen militärischen Bündnispolitik, sondern eher eine Vergrößerung des 460
Vgl. exemplarisch: SZ 22. Januar 1993 „Eurokorps in NATO eingebunden“ oder Financial Times 22. Januar 1993 „NATO blessing for the Eurocorps“. 461 Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, S.43. 462 So etwa: Außenminister Dumas vor der Nationalversammlung am 3. November 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 17. November 1992. Siehe auch: Mitterrands Ausführungen in seiner Pressekonferenz nach dem Weltwirtschaftsgipfel in München am 8. Juli 1992, in: Frankreich-Info vom 15. Juli 1992. 463 Alfred Frisch, Le corps franco-allemand de l’OTAN, in : Documents 1/1993, S.13-19, hier : S.14; auch: PaulMarie de la Gorce, Une réflexion nouvelle sur la politique de défense, in : Défense Nationale 1/1993, S.9-16, hier : S.13-14. 464 Dass das französische Einverständnis zum SACEUR-Abkommen zu guten Teilen auch der neuen NATOPolitik Washingtons unter Präsident Bill Clinton geschuldet war, der erst am 20. Januar 1993, also einem Tag vor der Unterzeichnung des SACEUR-Abkommens vereidigt wurde, muss dahin gestellt bleiben; dieser Auffassung ist aber: Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.137.
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Einflusses in der europäischen Verteidigungspolitik. Insofern betrieb auch die Regierung Mitterrand mit der Zustimmung zum SACEUR-Abkommen eigentlich eine zutiefst gaullistische Politik. Dem General war es ebenfalls zu keinem Zeitpunkt darum gegangen, sein Land lediglich aus der atlantischen Bindung zu lösen, sondern vielmehr Wege zu finden, den Status und das Gewicht Frankreichs nach innen und außen zu stärken.465 1.14 Weiterentwicklung der GASP Nachdem durch das SACEUR-Abkommen ein prinzipielles Einvernehmen mit der NATO erzielt werden konnte,466 rückten wieder verstärkt Aspekte der innereuropäischen Zusammenarbeit und Abstimmungsfragen in den Fokus der deutsch-französischen Sicherheitskooperation. In einem „Gemeinsamen Tagesbefehl“ verkündeten der deutsche und der französische Verteidigungsminister am 22. Januar 1993: „Unsere Partner in Europa sind eingeladen, sich im [Euro-]Korps zu beteiligen. Denn Deutschland und Frankreich verstehen ihre Zusammenarbeit nicht als exklusiv. Sie wollen vielmehr Motor für den Ausbau der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsidentität sein, und sie wollen den europäischen Pfeiler in der Atlantischen Allianz stärken.“ 467
Auf der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 6. und 7. Februar 1993 war die weitere Entwicklung der europäischen Sicherheitsstruktur neben dem Balkan-Konflikt das beherrschende Thema. Bundeskanzler Kohl hielt hier eine Grundsatzrede zu den Sicherheitsinteressen Deutschlands: „Sicherheit“ dürfe sich nicht allein an militärischen Aspekten orientieren, sondern müsse ein breiteres Implikationsspektrum umfassen. Deutschland, das auf ein stabiles gesamteuropäisches Umfeld „…elementar angewiesen ist“, so Kohl, setze daher auf die europäische Integration. Diese sei Eckpfeiler der deutschen Sicherheitspolitik und zudem Kohls ganz persönliche politische Vision.468 In diesem Kontext stehe auch das Eurokorps: „Mit der gleichen Zielsetzung haben wir gemeinsam mit Frankreich das Eurokorps begründet. Die anfängliche Kritik ist inzwischen verstummt. […] Das Eurokorps – das wir bald um andere interessierte Partner erweitern wollen – wird als spezifisch europäischer Beitrag die Atlantische Allianz stärken.“ 469
465
Schon in den 1960er Jahren hatte es zwischen dem französischen Generalstabschef Charles Ailleret und dem NATO-Oberbefehlshaber Lyman Lemnitzer ein bilaterales Abkommen gegeben, welches Art und Umfang einer französischen Beteiligung an den Planungsverfahren der Atlantischen Allianz regelte; vgl.: Peter Schmidt, Frankreichs neues Verhältnis zur NATO: Preisgabe oder Verwirklichung gaullistischer Prinzipien? in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.113 -128, hier: S.124. 466 Ein weiteres Anzeichen für diese Annäherung zwischen neuer europäischer und überkommender transatlantischer Sicherheitspolitik war der erste Besuch des WEU-Generalsekretärs Willem van Eekelen bei NATOGeneralsekretär Manfred Wörner nach Umzug der WEU an ihren neuen Sitz in Brüssel am 27. Januar 1993. 467 Gemeinsamer Tagesbefehl, ausgegeben anlässlich des 30. Jahrestages der Unterzeichnung des ElyséeVertrages; in: Bulletin der Bundesregierung vom 25. Januar 1993. 468 Rede des Deutschen Bundeskanzlers auf der 30. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 6. Februar 1993, in: Bulletin der Bundesregierung vom 10. Februar 1993. 469 Ebenda.
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In seiner Rede umriss Kohl das zentrale Problem der Verteidigungspolitik der europäischen Staaten: Sicherheit ließ sich unter den neuen geopolitischen und geostrategischen Bedingungen weder geographisch, institutionell oder gar inhaltlich fest vorausbestimmen. Kein Staat Europas – selbst Russland nicht – hatte für alle möglichen Fälle der Sicherheitsvorsorge die entsprechenden Streitkräfte zur Verfügung. Sicherheitsfragen mussten, wie dies die vormalige französische Premierministerin Cresson vor dem IHEDN betont hatte „…wieder in einen globalen Kontext gestellt werden.“470 Daher waren in Paris vermehrt Stimmen zu hören, die den Augenblick für gekommen erachteten, sich die Frage zu stellen, ob Frankreich nicht zugleich in zwei Richtungen gehen sollte; zum einen in Richtung auf eine Stärkung des europäischen Strukturen und zum anderen wohl bedachte Schritte hin zu einer französischen Wiederannäherung an das Bündnis. Überhaupt, so etwa Alain Juppé, damals Generalsekretär des Rassemblement pour la République (RPR): Warum sollte es keine französische Beteiligung an bestimmten NATOGremien, wie etwa dem Planungsstab, geben?471 Die Konsequenz war, dass geeignete Sicherheitsstrukturen auf internationaler Ebene gesucht werden mussten, da sich nur in der Zusammenarbeit die Fähigkeiten der einzelnen Staaten ergänzen und bündeln ließen.472 Dies war sowohl der Grund für die kontinuierliche Funktionsausweitung der Atlantischen Allianz, als auch für die Bestimmung einer ESVI innerhalb derselbigen. Eine andere Triebfeder war die Furcht vor einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik, die sowohl in Bonn als auch in Paris als Rückschritt angesehen wurde. Die Fortschreibung der Verknüpfung Europas und Nordamerikas in einem gemeinsamen Sicherheitsraum473 wurde hiergegen als ein probates Mittel erachtet, ebenso wie die Errichtung multinationaler Verbände wie dem Eurokorps.474 Letztgenannter Aspekt erfuhr auf deutscher Seite eine weitere Ausdifferenzierung, indem Bundeskanzler Kohl dafür plädierte, das Korps unmittelbar nach seiner Aufstellung auch für Wehrpflichtige zu öffnen: „Es wäre schließlich eine besonders gute Sache, wenn das deutsch-französische Eurokorps bald, vielleicht schon ab 1995, Wehrpflichtige aus beiden Ländern aufnehmen und ausbilden könnte – in den entsprechenden Schulen in Frankreich und Deutschland gibt es nicht wenige junge Leute, die dies gerne tun würden.“ 475
In Frankreich hingegen war nach der vernichtenden Wahlniederlage der Parti Socialiste bei den Wahlen am 28. März 1993 und der Einsetzung der Regierung Edouard Balladur mehr um den eigenen Einfluss im europäischen Sicherheitsfragen besorgt. Im Wahlkampf hatte Balladur den „irrlichternden“ Kurs des Staatspräsidenten zwischen „europäischem“ Eurokorps auf der einen und Einbindung in die Atlantische Allianz auf der anderen Seite kritisiert. Aus den Reihen der Regierung um Edouard Balladur und aus der liberalen Union 470
Premierministerin Cresson in ihrer Rede vor dem IHEDN am 5. September 1991, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 11. September 1991. Alain Juppé in seinem Interview mit Le Monde vom 6. Februar 1993, zitiert nach: Dokumente 1993, S.214. 472 Bühl, Europäische Sicherheit, S.139. 473 Dieses wurde auch in Paris nicht bestritten und von Außenminister Dumas beispielsweise bei seinem Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahr 1992 zum Ausdruck gebracht, vgl.: Pressekonferenz von Außenministers Dumas in Washington am 11. Mai 1992, abgedruckt in Frankreich-Info vom 19. Mai 1992. 474 Vgl.: Bulletin der Bundesregierung vom 3. März 1993. 475 Bundeskanzler Kohl in seiner Rede in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland am 21. Januar 1993, in: Bulletin der Bundesregierung vom 25. Januar 1993. 471
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pour la Démocratie Française (UDF) gab es nunmehr verstärkt Anzeichen dafür, dass das Land ein neues Verhältnis zum atlantischen Sicherheitsbündnis anstrebte:476 In gewisser Weise der, von Valéry Giscard d’ Estaing ausgegebenen Parole folgend, dass Frankreich wieder eine Führungsrolle in Europa einnehmen sollte und nicht weiterhin „Opfer Europas“477 bleiben solle, bemühte man sich um eine strategische Neupositionierung. Angemahnt wurde, die innere Dynamik der NATO-Reform nicht zu unterschätzen. Hier sei es besser, aktiv mitzugestalten als nachher „mit leeren Händen“ dazustehen.478 Der neue französische Außenminister Alain Juppé sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, unverkrampfter mit der NATO umzugehen: „…le couplage avec les Etats-Unis est et demeure plus nécessaire que jamais. ». Allerdings betonte man nach wie vor auch, eine breitere Beteiligung Frankreichs im Bündnis dürfe nicht eine erneute Integration bedeuten. Zu bedenken sei: « S’il est légitime que la France s’attache à la promotion d’une défense européenne, il n’est pas moins indispensable qu’elle inscrit sa contribution dans la cadre transatlantique. »479 Dieser dialogorientiertere NATO-Kurs Frankreichs war zu guten Teilen auch der Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien geschuldet.480 Am 12. April 1993 hatte die Atlantische Allianz hier begonnen, die Resolution 816 des UNO-Sicherheitsrates umzusetzen; Frankreich lief Gefahr – wie schon in der Vergangenheit – aufgrund seiner Sonderstellung außen vor zu bleiben. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien führte den Europäern klar vor Augen: Wenn sie ihre Interessen zur Geltung bringen wollten, mussten sie handlungsfähiger werden, die Sichtbarkeit und Kontinuität ihrer Außenpolitik erhöhen und für ein geschlossenes Auftreten Sorge tragen. Es war daher augenscheinlich, dass die Regierung Balladur eine größere Rolle innerhalb der transatlantischen Organisation suchte, um das Manko zu beheben, dass am NATO-Hauptquartier SHAPE kein Franzose an den militärischen Planungen der NATO direkt beteiligt war.481 Verteidigungsminister François Léotard verfolgte daher einen NATO-Annäherungskurs, der sich in gewisser Weise das Nachbarland Spanien zum Vorbild nahm. Spanien, welches sich mit seinem Militär ebenfalls nicht in die militärische Integration der NATO eingebunden hatte, nahm dennoch an den halbjährigen Tagungen der Nuclear Planning Group und des Defense Planning Committee der Allianz regulär teil. Überhaupt, so die nun vermehrt geäußerte Einschätzung, habe nicht zuletzt das SACEUR-Akommen unterstrichen, welch hohen Stellenwert man der NATO für zukünftige Sicherheit Europas zuschreibe.482 Zeitlich parallel konkretisierte sich auf der europäischen Ebene das Forces answerable to WEU (FAWEU)-Konzept. Rund elf Monate nach der Petersberg-Erklärung der WEU unternahmen die Außen- und Verteidigungsminis476
Le Figaro 10./ 11. April 1993 « Edouard Balladur : la fin de l’exception française ». Der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’ Estaing in seinem Rundfunkgespräch mit Europe1 am 15. März 1993, zitiert nach: Dokumente 1993, S.215. 478 Verteidigungsminister Léotard in seinem Interview mit Le Monde am 13. Mai 1993. Schon sein Amtsvorgänger Joxe hatte angesichts der Teilnahme der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten an der Ministertagung des Nordatlantischen Rates am 20. Dezember 1991 befürchtet, er selbst könne bald „…der letzte Verteidigungsminister in ganz Europa“ sein, der nicht an den Treffen der Atlantischen Allianz teilnehme. 479 Le Figaro 27. April 1993 « Alain Juppé définit les rapports entre la France et l’OTAN ». 480 Zur französischen Einschätzung der Jugoslawienkrise vgl. u.a.: Bertrand Dufourcq, Das Mittelmeer – seine Probleme, seine Herausforderungen. Eine europäische Gefahrenanalyse aus französischer Sicht, in: Dokumente 1993, S.97-105, hier: S.99-101. 481 Ingo Kolboom, Pensées hérétiques sur la politique étrangère et européenne de la France, in : Documents 4/1993, S.32-37, hier : S. 34-35. 482 Herald Tribune, 13. Mai 1993 „ France seeks a greater Role in NATO“. 477
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ter Deutschlands, Frankreichs und des in engen Beitrittsverhandlungen zum Eurokorps stehenden Belgiens auf der Tagung des WEU-Ministerrats am 19. Mai 1993 in Rom den entscheidenden Schritt, um die Modalitäten eines Einsatzes des Eurokorps unter dem Dach der Westeuropäischen Union zu ermöglichen. Auf Basis des deutsch-französischen Memorandums am 30. November 1992, welches das Eurokorps als möglichen Bestandteil der FAWEU deklariert hatte, erklärten die Eurokorps-Trägerstaaten dem WEU-Rat nunmehr förmlich die Einsatzmöglichkeit des Korps für militärische Operationen der WEU.483. 1.15 Die Gemeinsame Erklärung zum Einsatz des Korps innerhalb der WEU In der Gemeinsamen Erklärung484 zum Einsatz des Europäischen Korps im Rahmen der WEU vom 19. Mai 1993 wurden Rolle und Auftrag, Einsatzplanung, Kommandounterstellung und operative Kontrolle geregelt. Die Grundlage stellte ein Auftrag des WEUMinisterrats an das Ständige Komitee des Eurokorps dar. Im Mantel einer generellen Absprache zwischen der WEU und jenen Ländern, welche FAWEU-Truppen stellen, wurde hier festgelegt, in welcher Form sich künftig die gemeinsamen Beziehungen gestalten sollten (Absatz 1). Mit Blick auf Rolle und Auftrag des Korps wurde zunächst ausgeführt, dass das Korps für das gesamte Spektrum der Petersberg-Aufgaben einsetzbar sei (Absatz 4). Voraussetzung für einen Einsatz im Rahmen der WEU sei – analog dem SACEURAbkommen – die Zustimmung der Regierungen der beteiligten Staaten. Ein Einsatz des Korps im Rahmen der WEU könne dabei auf Basis von Planungen erfolgen, welche beispielsweise die Planungszelle der WEU erarbeitet hätte (Absatz 5) Um dieser Bestimmung Vorschub zu leisten, wurde eine regelmäßige Konsultation zwischen dem Kommandierenden General des Eurokorps und der WEU-Planungszelle über folgende Punkte bestimmt (Absatz 6): 1. 2. 3. 4.
Ausrüstungsstand; Logistische Fähigkeiten; Ausbildungs- und Übungsstand Operationelle Fähigkeiten und Interoperabilität.
Für die Einsatzplanung wurde festgehalten, dass die WEU-Planungszelle bei Bedarf auf die militärischen und logistischen Planungskapazitäten des Eurokorps zurückgreifen könnte (Absatz 10). Hinsichtlich Kommandounterstellung und operativer Kontrolle im WEURahmen bekräftigte die Erklärung, dass der Einsatz des Korps in jedem Fall unter Vorbehalt der Regierungen der am Korps beteiligten Staaten stehe (Absatz 13). Das Korps könnte zudem ebenfalls unter ein „commandement opérationnel“ der WEU gestellt werden (Absatz 14). Hiermit einher ging die Übertragung der Planungskompetenzen an die dafür von der WEU eingerichteten Organe (Absatz 15). Die Kommandogewalt des Kommandierenden Generals des Eurokorps, der jeden Einsatz der dem Korps assignierten Verbände autorisieren muss (Absatz 16), blieb hiervon unberührt. Schließlich wurde die Option eröffnet, dass FAWEU-Einheiten, die nicht zu den Korps-Truppen gehören, im Rahmen von WEU483 484
Bulletin der Bundesregierung 133/1993. Die Vereinbarung vom 19. Mai 1993 trägt im Französischen den Titel: „Déclaration commune fixant les conditions d’emploi du Corps Européen dans le cadre de l’Europe Occidentale“ (unveröffentlicht).
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Einsätzen in die Eurokorps-Unterstellung aufgenommen werden und so im Verbund mit den Korps operieren können (Absatz 18). Dem Korps wurde so eine Schlüsselstellung auf dem Weg zu selbstständigen militärischen Einsätzen der WEU zugesprochen. Entscheidend war aber, dass durch die Gemeinsame Erklärung keine eigene Handlungsvollmacht der WEU entstand, da jede Operation des Korps zunächst durch die Regierungen der beteiligen Staaten autorisiert werden musste. Die Souveränität der Teilnehmerländer über ihr militärisches Engagement blieb unangetastet. Die Analogie zum SACEURAbkommen tritt hier deutlich hervor. Ebenfalls ist zu betonen, dass das Korps gegenüber der WEU, die ja anders als die NATO zu diesem Zeitpunkt über noch keine erprobten militärischen Planungskapazitäten verfügte, einen andere Rolle einnahm, als gegenüber dem Atlantischen Bündnis. Die gegenüber dem Verhältnis Eurokorps-NATO unterschiedliche Rangstellung des Korps zur WEU wurde auch dadurch unterstrichen, dass die am Korps beteiligten Staaten sich gegenüber der Westeuropäischen Union lediglich „erklärten“ und nicht, wie mit dem SACEUR, ein völkerrechtlich-verbindliches Abkommen schlossen. Auf dem WEU-Gipfel in Rom wurde ferner – dem Vorbild des Eurokorps folgend – die im Rahmen der NATO von Belgien, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden neu aufgestellte Luftmechanisierte Multinationale Division Europa-Mitte (Multinational Division (Central)/MND(C)) sowie die ebenfalls neu aufgestellte britischniederländisch Amphibische Gruppe (UK/NL Amphibious Force) als FAWEU–Einheiten klassifiziert. Zugleich erklärten die WEU-Vertreter ihre Einsicht in die Notwendigkeit, die europäischen Streitkräfte auf einem Niveau zu belassen, welches geeignet war, die Erfordernisse gemeinsamer Verteidigung und der Petersberg-Aufgaben zu erfüllen.485 1.16 Ein neues Bewusstsein in der europäischen Sicherheitspolitik? Die sicherheitspolitische Entwicklung zeigte, dass der von Charles de Gaulle aufgestellte und von François Mitterrand unverändert zentral gesetzte strategische Grundsatz, Frankreichs Sicherheitspolitik ruhe allein auf einer autarken Entscheidungsgewalt über die eigene Atomstreitmacht, mehr und mehr an Bedeutung einbüßte.486 Nicht zuletzt die jüngsten Entwicklungen auf dem Balkan führten Paris vor Augen, dass militärische Sicherheitspolitik und Verteidigung immer stärker auf rein konventionelle Bedrohungen eingestellt sein müsste, deren jeweiliger Verlauf zudem schwer vorhersehbar war. Dies bedeutete mittelfristig die Hinwendung zu rein konventionellen Truppenverbänden, die gegenüber klassischen Panzerkontingenten nicht nur mobiler waren, sondern auch über bessere Führungssysteme verfügten. Als Antwort auf diese Herausforderung hatte die NATO das Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF), also flexibel einsetzbarer Militärverbände, ins Leben gerufen. Dies in Verbindung mit der Grundeinsicht, dass neue, anders ausgerüstete, militärische Einheiten notwendig seien, um zukünftigen Sicherheitsbedrohungen zu begegnen, bedeutete für alle europäischen Staaten zugleich aber auch die Auseinandersetzung mit 485
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Auf gleicher Tagung wurden auch die Multinational Division (Central) und der britisch-niederländische amphibische Verband als FAWEU-Einheiten von der WEU klassifiziert; siehe: Kommuniqué der Ministertagung der Westeuropäischen Union am 19. Mai 1993 in Rom, in: EA 1993, D285-289. Siehe: Das Fernsehinterview von Mitterrand vom 12. April 1992. In diesem führt er aus: „Die Verteidigung Frankreichs wird sich weiterhin wesentlich auf die Atomstreitmacht stützen. […] Ich bestätige, daß die wesentliche Grundlage für die Sicherheit Frankreichs der Besitz der Atomwaffe ist, denn die mächtigsten Länder der Welt besitzen sie auch, vor allem in Europa.“ in: Frankreich-Info vom 16. April 1992.
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hohen haushaltspolitischen Anstrengungen im Verteidigungsbereich – einer Bürde, die den auf eine Friedensdividende eingestellten Staatshaushalten zuwider lief. Insbesondere in der innerfranzösischen Debatte wurde daher mit der europäischen Integration die Vorstellung verbunden, die Ressourcen der zu klein gewordenen europäischen Staaten ließen sich bündeln, um so neuen gestaltungspolitischen Einfluss zu gewinnen.487 Dementsprechend wurde die Debatte um die Ausgestaltung der ESVP in Frankreich ab 1993 mehr und mehr so geführt, als gelte es, militärische Mittel zu erwerben, damit die Europäische Union im Sinne traditioneller Großmachtpolitik den eigenen Willen durchsetzen kann. Ein Blick auf die öffentliche Meinung bestätigt diesen Eindruck. Anders als der deutsche Partner, dessen Bevölkerung es mehrheitlich ablehnte, dass sich Europa zu einer militärischen Großmacht ähnlich wie die Vereinigten Staaten entwickelt, wurde diese Perspektive in Frankreich von über 60% der Bürgerinnen und Bürger begrüßt.488 Bezüglich des Eurokorps zog man beiderseits des Rheins nach wie vor an einem Strang. Im Rahmen des 61. Deutsch-Französischen Gipfels am 1. und 2. Juni 1993 in Beaune begrüßte der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat die erzielten Fortschritte bei der Aufstellung des Korps: Der Weg zu einer Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik schien geebnet. Man äußerte sich ferner zuversichtlich, dass die Konsultationen mit der belgischen Seite über einen Beitritt zum Eurokorps bald abgeschlossen werden könnten.489 Der entsprechende Beschluss der belgischen Regierung erfolgte dann auch am 25. Juni 1993.490 Im Sommer 1993 bekundete Spanien ebenfalls sein nachhaltiges Interesse an einer Beteiligung am Eurokorps.491 Das vormals rein deutschfranzösische Eurokorps schien nun seiner Namensgebung gerecht zu werden. Hierdurch löste sich auch die von einigen Kommentatoren gesehene, aber schon durch das SACEURAbkommen abgemilderte Gefahr auf, das Korps könne primär der Festigung der französischen Sonderstellung außerhalb der Atlantischen Allianz dienen.492 Entsprechend stringent verliefen dann auch die sicherheitspolitischen Gespräche auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen am 21./22. Juni 1993.493 Wie weit die Entwicklungen um ein rein europäisches Sicherheitskonzept mit eigenen militärischen Kräften gediehen waren, dokumentierte auch die Ende Sommer in verschiedenen europäischen Hauptstädten diskutierte Frage, ob dem Eurokorps unterstellte Truppenteile sich am UNO-Einsatz am Horn von Afrika beteiligen sollten.494 487
Ernst Weisenfeld, Frankreich und Mitteleuropa. Zu den Verhandlungen über eine „Europäische Konferenz“, in: Dokumente 1993, S.356-360. 488 Vgl.: Dembinsk, ESVP, S.87. Zum öffentlichen Meinungsbild vgl. die Untersuchung des Chicago Council on Foreign Relations und des German Marshall Fund of the United States: Worldviews 2002. Europen Public Opinion and Foreign Policy, S.15. Die Untersuchung ist abrufbar unter www.worldviews.org. 489 Bulletin der Bundesregierung vom 11. Juni 1993. 490 Belgien, das sowohl NATO- als auch WEU-Mitglied ist, trat formell am 12. Oktober 1993 anlässlich einer Tagung des Ministerrats der WEU mit einer entsprechenden Erklärung dem Eurokorps bei. Gleichzeitig unterzeichnete Belgien eine gesonderte Erklärung zum SACEUR-Abkommen um die Übernahme aller mit dem Beitritt verbundenen Verpflichtungen bezüglich der Atlantischen Allianz zu bestätigen. 491 FAZ 2. Juli 1993 „Spanien will sich an Eurokorps beteiligen“. 492 Kai Burmester, Atlantische Annäherung - Frankreich Politik gegenüber der NATO und den USA, in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.92-112, hier: S.108. 493 Kommuniqué des Europäischen Rates in Kopenhagen am 22. Juni 1993, in: EA 1993, D 276-279. 494 Die Debatte ignorierte dabei freilich, dass der Stab des Korps sich noch in seiner Aufstellungsphase befand, ein Einsatz von Korps-Truppen also nur unter einem anderen militärischen Kommando möglich gewesen wäre; siehe: Die Welt 13. September 1993 „Rückt Euro-Korps im nächsten Jahr in Somalia ein?“.
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In Deutschland und Frankreich war man sich einig, dass derjenige, der nach wie glaube, die jeweiligen staatlichen Interessen ließen sich mit einer Rückkehr zu einer rein nationalen Politik besser verwirklichen, nichts aus der Geschichte gelernt habe.495 Allerdings hatten sich die jeweiligen Voraussetzungen der Außen- und Sicherheitspolitik weder in Deutschland noch in Frankreich verschoben. Frankreichs Außenminister Juppé bekräftigte im Oktober vor der 48. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen die überkommenden Grundsätze der französischen Außenpolitik:
Der Wille nach Unabhängigkeit – souverän zu sein in seinem Urteil und seinen Entscheidungen; Die Wahrung der französischen Interessen gleich welcher Art; Das Festhalten an den Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit sowie das Bestreben diesen weltweit Geltung zu verschaffen; und schließlich Beharrlichkeit und manchmal Halsstarrigkeit im Dienste dieser Prinzipien.496
In ihrer „Gemeinsamen Botschaft“ vom 27. Oktober 1993 an den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates, Jean-Luc Dehaene, äußerten sich Helmut Kohl und François Mitterrand erneut zur weiteren Entwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Darin heißt es: „So schlagen wir vor, dass der Europäische Rat die Außenminister auffordert, unverzüglich damit zu beginnen, eine gemeinsame Politik zu erarbeiten, dies vor allem auch durch gemeinsame Aktionen entsprechend dem Vertrag.“ Gleiches sahen beide Politiker für die WEU vor: „Dazu gehört nach unserer Auffassung [auch, MK] die Stärkung der WEU und die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im Rahmen dieser Organisation.“ 497
Als Zielperspektive für den letztgenannten Punkt wurde die erste Sitzung des WEUMinisterrates im Jahr 1994 genannt. Das Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht zur Europäischen Union wurde von der förmlichen Indienststellung des provisorischen Stabes des Eurokorps am 5. November 1993 begleitet. Eigentlich war vorgesehen gewesen, dass Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl an der Zeremonie in Straßburg teilnehmen sollten. Der Elysée-Palast hatte im Vorfeld Hoffnungen gehegt, diesen Anlass als Geburtsstunde eines neuen europäischen Selbstbewusstseins und als Manifestation französischen Führungsanspruches ausgestalten zu können. Im Bundeskanzleramt war man jedoch nach längeren Überlegungen zu dem Schluss gekommen, die feierliche Indienststellung des ja nach wie vor außerhalb der NATO stehenden Korps auf die Kabinettsebene zu verlegen und somit protokollarisch herabzustufen, um neue transatlantische Unstimmigkeiten zu vermeiden. Aufgrund von 495
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Bundeskanzler Kohl in seiner Rede in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland am 21. Januar 1993, in: Bulletin der Bundesregierung vom 25. Januar 1993. Alain Juppé in seiner Rede vor der 48. Sitzung der VN-Generalversammlung, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 5. Oktober 1993. Staatspräsident Mitterrand hatte ähnliches anlässlich einer Rede vor dem Abschlussforum der Ecole de Guerre 1991 ausgeführt. siehe: Frankreich-Info vom 3. Mai 1991, hier: S.4-5. Auch in ihrer positiven Einschätzung der Vereinten Nationen lagen Staatspräsident Mitterrand und die Regierung Balladur weitestgehend auf einem einheitlichen Kurs; die VN sei der „…Ort, an dem Recht gesprochen wird“; vgl.: Mitterrand in seinem Interview mit der Tageszeitung Le Monde am 9. Februar 1993. „Gemeinsame Botschaft“ von Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand an den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates vom 27. Oktober 1993, in: Bulletin der Bundesregierung vom 30 Oktober 1993.
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„Terminüberschneidungen“498 des Bundeskanzlers war es dann an Verteidigungsminister Volker Rühe, das Korps als einen „Meilenstein“ für die praktische Ausgestaltung der Europäischen Union zu würdigen. „Das Eurokorps […] ist ein wichtiger Schritt, dass Europa als Ganzes verteidigungspolitisch handlungsfähig wird.“ Dabei ginge es nicht darum, ein „Schattenreich von Nationen“ zu schaffen, die ihre Identität verloren hätten, sondern von eben diesen Identitäten zu profitieren. Auch dafür habe das Korps Modellcharakter. Schon wenige Wochen zuvor hatte sich der deutsche Verteidigungsminister gegen die Entstehung eines „Zwischeneuropa“ gewandt: „Es gilt, Konsens zu finden – zwischen den Europäern selbst und zwischen Europa und den USA.“499 Multinationalität der Streitkräfte, so Rühe am 5. November in Straßburg weiter, sei dabei der zukunftsweisende Schlüsselbegriff: Die Verklammerung nationaler Militärverbände demonstriere den Willen, gemeinsam zu handeln. An die angetretenen Soldaten gewandt hob Rühe ferner hervor: „Sie werden eines Tages sagen können: „Ich war dabei, als die Armee der Europäer geboren wurde“.500 In der Pressekommentierung überwog demgegenüber eine nüchternere Betrachtung. Hauptproblem des Korps sei unverändert das deutsche Grundgesetz, welches einen Einsatz der deutschen Korps-Truppen im Sinne der Petersberg-Aufgaben bisher unmöglich mache, so die Libération.501 Le Monde rechnete schlicht die Kosten für die Neubauten der Gebäude des Korpsstabs vor: rund 220 Million Francs, die sich die beteiligten Nationen (D/F/B) zu je einem Drittel teilen wollten.502 Von diesem Ereignis merklich beeinflusst, waren die Gespräche zur Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitsstruktur auf der Tagung des WEU-Ministerrats am 22. November 1993 in Luxemburg: „Eingedenk in die Notwendigkeit, spezifische europäische militärische Optionen zu ermöglichen, die außerhalb der Fälle kollektiver Verteidigung nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages liegen, erwarten die Minister vom NATO-Gipfel [am 10./11. Januar 1994 in Brüssel, MK] die Unterstützung des Grundsatzes, dass die WEU nicht nur auf Streitkräfte und Ressourcen der europäischen Verbündeten, sondern auch auf kollektive Mittel der Atlantischen Allianz wie Kommunikationssysteme, Kommandoeinrichtungen und Hauptquartiere zurückgreifen können sollte.“ 503
Dies traf sich mit der im Verlauf des Jahres 1993 durchgesetzten Haltung innerhalb der Atlantischen Allianz. Deren Generalsekretär Manfred Wörner hatte wiederholt auf die mangelnde operationelle und materielle Ausstattung der WEU hingewiesen. Es sei an der 498
Zum Unmut der deutschen Seite wurde dieses Vorgehen an die französische Presse weitergegeben; vgl.: Le Figaro 6./7. November 1993 « L’état-major de l’Eurocorps installé à Strasbourg » oder Libération 6./7. November 1993 « Europe: Un état-major pour un embryon de défense ». 499 Dies läge auch im amerikanischen Interesse, da Nordamerika ein Europa als Partner haben müsse, das in sich stabil, berechenbar und handlungsfähig sei. Nur so ließen sich gemeinsame globale Herausforderungen bewältigen. Vgl.: Die Rede von Volker Rühe vor der Karls-Universität in Prag am 8. Oktober 1993, in : Material für die Presse, Der Bundesminister der Verteidigung, Pressestab, Nr. XXX/16 vom 8. Oktober 1993. 500 Rede von Verteidigungsminister Rühe anlässlich der feierlichen Indienststellung des Europäischen Korps in Straßburg am 5. November 1993, in: Bulletin der Bundesregierung vom 10. November 1993; Hervorhebungen durch den Verfasser. 501 Dies sei zudem ein Zustand, der von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung begrüßt würde; Libération 6./7. November 1993 « Europe: Un état-major pour un embryon de défense » . 502 Le Monde 7./8. November 1993 « Le PC de l’Eurocorps est installé à Strasbourg ». 503 Vgl.: Erklärung des Ministerrats der Westeuropäischen Union am 22. November 1993 in Luxemburg, in: EA 1994, D106-111; auf dieser Tagung kam man auch darüber überein, die WEU-Präsidentschaft – analog derjenigen der Europäischen Union – vom 1. Juli 1994 an, auf sechs Monate zu verkürzen.
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Zeit, so Wörner auch bei der Eröffnung der Herbstversammlung der WEU in Paris am 29. November 1993, dass Europa eine größere Verantwortung und einen verstärkten Einsatz für seine eigene Sicherheit übernähme. Dabei sei der Rückgriff auf Ressourcen der NATO vorstellbar – auch um kostspielige Verdoppelungen von Strukturen zu umgehen.504 Mit Blick auf dieses Ziel der Erhöhung der eigenen Handlungsfähigkeit beschloss der Ministerrat der WEU in Luxemburg, die europäische Rüstungskooperation durch eine Verlegung des Rüstungssekretariats der Westeuropäischen Rüstungsgruppe (WERG) in Lissabon zum Sitz der WEU in Brüssel und dessen Eingliederung in die WEU zu optimieren.505 Die multilaterale Rüstungskooperation war mehr und mehr auch bestimmendes Thema der deutschen-französischen Gespräche. In einer gemeinsamen Erklärung des deutschen und des französischen Verteidigungsministers von Anfang Dezember 1993 bekundeten diese ihre Absicht, neue Lösungen für die sich im Bereich der Rüstungsindustrien stellenden Probleme zu finden. Hierzu gaben beide Partner bekannt, dass sie beschlossen hatten, die bestehende Organisation für Rüstungs- und Rüstungsforschungsprogramme der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu vereinfachen. Dabei sollte der Schwerpunkt auf die rationellere Gestaltung der Managementverfahren laufender und künftiger Vorhaben gelegt werden. Ferner bekundete man die Absicht, über die Interoperabilität hinaus Fragen der Ausrüstungsstandardisierung des Eurokorps zu bearbeiten.506 Diese deutsch-französische Einigkeit prägte auch die am 1. Dezember 1993507 vom DFVSR veröffentlichte Erklärung über die Perspektiven der bilateralen Sicherheitskooperation: „Deutschland und Frankreich stellten darüber hinaus Übereinstimmung mit Blick auf das Gipfeltreffen des Atlantischen Bündnisses vom 10. und 11. Januar 1994 fest, […dieses muss, MK] der weiteren Anpassung der Allianz an das neue strategische Umfeld unter Berücksichtigung folgender Ziele dienen […]: x Bekräftigung der Vitalität der transatlantischen Solidarität und der Bedeutung einer engen und gleichberechtigten Partnerschaft auf beiden Seiten des Atlantiks […] x Bekräftigung der Notwendigkeit, die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität im Rahmen dieser Partnerschaft als Folge der Schaffung der Europäischen Union weiterhin zu stärken […] x Anpassung der Strukturen und Verfahren der Allianz […].“508
Deutlich trat hier nochmals die Akzentverschiebung der Regierung Balladur im Verhältnis zur Atlantischen Allianz zu tage. Überhaupt schien Frankreich seit dem Regierungswechsel außenpolitische Meriten eher auf dem Feld der OSZE als auf dem der NATO-Reform zu suchen. Balladurs (OSZE-)Stabilitätspakt, der ein regionales Gleichgewicht zwischen 504
NZZ 1. Dezember 1993 „Transatlantische und europäische Sicherheit“. Erklärung des Ministerrats der Westeuropäischen Union am 22. November 1993 in Luxemburg, in: EA 1994, D106-111; hierzu auch: Alfred Frisch, Le corps franco-allemand de l’OTAN, in : Documents 1/1993, S.13-19, hier : S.17-18. 506 Gemeinsame Erklärung der beiden Verteidigungsminister, abgegeben im Rahmen des 62. DeutschFranzösischen Gipfels in Bonn, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-Französische Beziehungen, S.338; siehe auch: Yves Sillard, Vers l’Europe de l’armement, in: Défense Nationale 5/1993, S.23-27. 507 Zuvor hatte Bundeskanzler Kohl auf dem 62. Deutsch-Französischen Gipfel am 30.November und 1. Dezember 1993 nochmals unterstrichen, „…dass das Eurokorps unbestreitbar ein sehr bedeutendes Element der militärischen Strukturen geworden ist.“ Vgl.: Protokoll der Gemeinsamen Pressekonferenz nach Abschluss des 62. Deutsch-Französischen Gipfels in: Kimmel/Jardin, Deutsch-Französische Beziehungen, S.334-336. 508 Vgl. Kimmel/Jardin, Deutsch-Französische Beziehungen, S.336-338, hier: S. 337. 505
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Westeuropa und dem militärischem Potenzialen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion herstellen wollte,509 hatte dabei das Ziel, durch verstärkte und formalisierte Konsultationsmechanismen dem Risiko zunehmender nationalistischer Tendenzen in Mittel- und Osteuropa entgegen zu wirken und eine gesamteuropäische Friedensordnung zu garantieren.510
Zwischenfazit Die deutsch-französische Partnerschaft der Jahre 1990-1993 war von den in Mittel- und Osteuropa stattfindenden Umwälzungen geprägt. Deutsche Vereinigung, Etablierung demokratischer Strukturen, Ende des Warschauer Pakts, Auflösung der Sowjetunion und der Beginn des Jugoslawienkonflikts hinterließen gerade in der bilateralen Sicherheitskooperation tiefe Spuren. Man kann von einer Neuformierungsphase sprechen. Diese bilaterale Neuausrichtung setzte schon vor der formellen Erlangung der staatlichen Einheit Deutschlands mit der Ankündigung des Abzuges der französischen Truppen aus Deutschland im Sommer 1990 – also unmittelbar – ein. Trotz der beträchtlichen Veränderungen der europäischen Sicherheitslage lässt sich für die Bundesrepublik Deutschland in den ersten Jahren nach Ende des Kalten Krieges eine hohe Kontinuität in den sicherheitspolitischen Einschätzungen ausmachen. Überkommene Leitmotive wurden überwiegend weiterverfolgt. Zentraler Aspekt war dabei die spätestens seit den 1970er Jahren zu beobachtende Tendenz, Sicherheitspolitik nicht nur als auf militärische Verteidigung ausgerichtete Vorkehrungen zur Friedenssicherung zu begreifen. Vielmehr dominierte eine Sichtweise, die Möglichkeiten zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte vornehmlich auf politischem und wirtschaftlichem Wege – also ohne den Einsatz militärischer Mittel – suchte.511 Ebenso wurde das Leitmotiv der „Stabilität“ – infolge der Unzulänglichkeiten traditioneller Gleichgewichtspolitik, und damit anders als im französischen Verständnis des „équilibre européen“ – nicht mehr nur als der bloße Ausgleich von Gewicht und Gegengewicht gesehen.512 Dies war auch nach der Vereinigung Deutschlands und der Erlangung der vollen Souveränität stilprägend. Anderes Charakteristikum war die Sorge um eine „Wiederkehr der Geschichte“, also der europäischen Staatenwelt vor 1914 mit ihren zahlreichen zwischenstaatlichen Antagonismen. Daher war Deutschland in den 509
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Dabei ist zu recht kritisiert worden, dass das von Edouard Balladur zwischen dem westlichen Europa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) angestrebte Gleichgewicht in seiner Grundstruktur das ehemalige Ost-West-Gleichgewicht fortschreiben wollte und somit letztlich der status-quo-Sicherung diente; so: Michael Meimeth, Christoph Neßhöver, Die gesamteuropäische Dimension französischer Sicherheitspolitik: Mitterrands Konföderationsprojekt und Balladurs Stabilitätspakt, in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-WestKonflikts, Opladen 1997, S.149-171, hier: S.167. Der ursprünglich vorgesehene, völkerrechtlich bindende Vertrag, wurde aber nach Beratungen innerhalb der EU in ein politisch verbindliches Abkommen abgewandelt. Vgl.: Schlussfolgerungen des Europäischen Rates am 29. November 1993 in Brüssel, in: EA 1994, D 2-9. Peter Schmidt, Deutsche Sicherheitspolitik im Rahmen von EU, WEU und NATO, in: Außenpolitik 3/1996, S.211-222, hier: S. 211. Internationale Organisationen wurden als Dialogforen zur politischen Lösungen wiederstrebender Interessen begriffen. Ungebundenheit und autonome Handlungsfähigkeit von Staaten wurden als Sicherheitsrisiko angesehen und sollten daher von einem übergeordneten Integrationsnetz überlagert werden in das möglichst viele alle Staaten eingewoben waren. Die subjektive Interessenpolitik der Staaten sollte gegenüber einer, am gemeinsamen Interesse orientierten, Politik zurücktreten. Vgl.: Alain Carton/ Hans-Dieter Heumann, Deutschland, Frankreich und die Sicherheit in Europa, in Dokumente 1991, S.10-16.
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Jahren nach 1990 bestrebt, der deutschen Einheit die Einheit Europas folgen zu lassen. Die Schaffung der Europäischen Union, von Interdependenzen und zwischenstaatlichen Verflechtungen gerade in der Sicherheitspolitik geprägt, erhielt so ihre eigentliche Begründung. Rüstungskontrolle und Abrüstung waren weitere sicherheitspolitische Versatzstücke. Auf dieser Grundlage fokussierte sich die deutsche Sicherheitspolitik nach 1990 auf folgende Bereiche:
Beibehaltung bzw. Weiterentwicklung der bestehenden Bündnissysteme Westeuropas. Ausbau kooperativer Strukturen der Sicherheit durch Weiterentwicklung vertrauensund sicherheitsbildender Maßnahme mit den Staaten Mittel- und Osteuropas. Entwicklung neuer, integrierter Streitkräftestrukturen und der zwischenstaatlichen Verflechtung.
Für die hohe Kontinuität der deutschen Sicherheitspolitik nach 1990 mitverantwortlich zeichnete auch die Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten ihre angestammte sicherheitspolitische Führungsrolle behalten sollten. Ohne diesen Beitrag erschienen die großen Herausforderungen, vor denen Europa stand, nicht lösbar. Hieraus leitete sich ein sicherheitspolitisches Grundaxiom der deutschen Politik ab: Die NATO sollte Rückgrat der europäischen Sicherheitsordnung und unersetzliches Konsultations- und Entscheidungsforum für transatlantische Sicherheitsfragen bleiben. Demgegenüber war die sicherheitspolitische Interessenlage Frankreichs in den Jahren 1990-1993 deutlichen Änderungen unterworfen. In erster Linie lag dies an der hohen Spezifikation, welche die französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Ära de Gaulle gekennzeichnet hatte. Die Anpassungsleistung müsste daher ungleich höher ausfallen. Insgesamt kann man die französische Sicherheitspolitik jener Zeit dennoch als Neuausrichtung auf Basis überkommener Leitbilder werten. Zentraler Faktor blieb dabei die (national-) staatliche Ebene. Der Staat, so die französische Grundannahme, war der maßgebliche Akteur im zwischenstaatlichen System und hier – Kraft seiner Souveränität – befähigt, autonom zu handeln. Ausgehend von dieser Überzeugung glaubte namentlich François Mitterrand im Jahr 1990 zunächst an eine Wiederkehr des „équilibre européen“ als zwischenstaatliches Ordnungsmodell Europas. Die zügigen und erfolgreichen Verhandlungen über den Vertrag zur Europäischen Union ließen Frankreich hiervon jedoch vermehrt Abstand nehmen. Sicherheitspolitisch setzte Frankreich ab dem Jahr 1991 auf die Schaffung einer europäischen Verteidigungspolitik im Rahmen der Westeuropäischen Union und/oder der EG/EU. Neben der gaullistischen Idee eines selbstständigen Europa war dabei die ungewisse Zukunft des Engagements der Vereinigten Staaten handlungsbestimmend. Die sich in Washington in den Jahren 1990-1993 entspinnende Debatte über das „Ob“ und die Kosten einer amerikanischen Truppenpräsenz in Europa registrierte man in Paris aufmerksam. Es stand außer Frage, dass sich die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nach dem Ende der atypischen Zwischenperiode des Kalten Krieges ändern mussten. Aus französischer Sicht dürfte Europa nunmehr nicht mehr von dem Wohlwollen anderer, nichteuropäischer Staaten abhängig bleiben.513
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Vgl.: Den Namensbeitrag Dominique Moisi in der International Herald Tribune vom 6. August 1991; auch: Michael Meimeth, Welche Rolle für die USA und die NATO? in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph
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In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Transformationsprozess, den die NATO in den 1990er Jahren durchlief, kein Automatismus war. Der eigentliche Wesenskern der Allianz, der kollektive Verteidigungsfall, war mit der Auflösung des Warschauer Paktes in weite Ferne gerückt. Das wahrscheinlichere Einsatzszenario waren nunmehr vom Umfang her begrenzte Operationen mit spezialisierten Kräften zur Friedenserhaltung, wie etwa im zerfallenden Jugoslawien. Logik und Organisation der Atlantischen Allianz würden diesem Anforderungsprofil aber nicht entsprechen, wiederholte man in Paris514 – nicht ohne Berechtigung. Dabei darf Frankreichs Position außerhalb der militärischen Integration der NATO nicht übersehen werden. Wie ließ sich diese noch rechtfertigen, wenn man nun auf die Bedeutung der Allianz setzte? Nach Canossa zu gehen, war nicht das Ansinnen Mitterrands. Die französische Perzeption lässt sich mit folgende Worten umreißen. Die Amerikaner kurz vor der Rückverlegung, die bisher dominierende NATO organisatorisch nicht in der Lage, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und die Europäer selber nicht befähigt, sicherheitspolitisch eigenständig zu agieren. Mitterrands Drängen auf eine eigenständige Sicherheitspolitik der Europäer außerhalb der NATO mag in der Rückschau als anachronistisches gaullistisches Glaubensbekenntnis erscheinen, im Angesicht der sicherheitspolitischen Konstellation nach 1990 hatte es aber durchaus seine realpolitische Fundierung. Die französische Sicherheitspolitik fokussierte sich nach dem Kalten Krieg folglich auf folgende Bereiche:
Wahrung des intergouvernementalen Prinzips. Entwicklung eines europäischen Bewusstseins in der Sicherheitspolitik. Kooperation mit den ehemaligen Mitgliedsländern des Warschauer Pakts. Etablierung neuer, ausschließlich den Europäern zur Verfügung stehender Sicherheitsstrukturen, etwa auf Basis der WEU.
Es wäre jedoch falsch, den französischen Einsatz zur Stärkung der WEU als Gegenentwurf zur NATO zu verstehen. Die Funktion der Atlantischen Allianz bei der Verteidigung Europas wurde grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Die französische Verhandlungslinie in bezug auf die NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands unterstreicht dies. Gerade vom militärischen Standpunkt her schätzte man die Amerikaner.515 Der WEU war vielmehr die Rolle einer rein europäischen Sicherheitsstruktur zugedacht, die die Europäer in die Lage versetzen sollte, auf Augenhöhe mit den Amerikanern zu verhandeln und zusammenzuarbeiten.516 Dass die europäische Sicherheitsstruktur, nach schleppendem Anlauf, mit der Ankündigung Frankreichs und Deutschlands, einen militärischen Großverband zu gründen, erst Fahrt aufnahm, ist bezeichnend für die Schlüsselstellung des bilateralen Motors in der Europapolitik der 1980er und der frühen 1990er Jahre. Die Initiative ging auf einen im Win-
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Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-WestKonflikts, Opladen 1997, S.83-90, hier: S.85. Außenminister Roland Dumas in seiner Rede beim Nordatlantikrat am 17. Dezember 1992, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 22. Dezember 1992. Gottlobe Fabisch, Auf dem Weg zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität? Frankreichs Verteidigungspolitik 1995-1997, Aachen 1999, S.169. Exemplarisch: Mitterrands diesbezügliche Ausführungen auf seiner Pressekonferenz nach dem Gipfel von Maastricht am 10. Dezember 1991, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 18. Dezember 1991, S.3.
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terhalbjahr 1990/91 im deutschen Kanzleramt ausgearbeiteten Vorschlag zurück. Die Ankündigung des Abzuges der französischen Streitkräfte aus Deutschland hatte hier Befürchtungen geweckt, das Zweier-Verhältnis könnte eine Art integratorischen Rückschritt erleiden. Mit der Korps-Initiative sah man diese Gefahr gebannt und auch den Anstoß zu einer dauerhaften, da institutionalisierten Aussöhnung der beiden ehemaligen Gegner. Die deutsche und die französische Sichtweise waren in diesem Punkt nahezu deckungsgleich. Damit stand der Anspruch des Korps auch deutlich über jenem der Deutsch-Französischen Brigade, die 1988 mehr aus Gedanken der Interoperabilität ins Leben gerufen worden war. Kohl und Mitterrand verstanden das „Euro-Korps“ gleichsam aber auch als Auftakt zu einer gemeinsamen Armee der Europäer. Die Korps-Initiative ging in ihrer Bedeutung damit deutlich über eine, in der deutsch-französischen Zusammenarbeit ja häufig zu findende, Geste517 symbolischer Rückversicherung hinaus. Erst mit der, nach dem förmlichen Beschluss zur Aufstellung des Korps im Mai 1992, einsetzenden Kritik an dem deutschfranzösischen Verband relativierte sich die anfängliche Euphorie zusehends. Zunächst brachte der Großverband aber Substanz auf das bisher spärlich bestellte Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer. Die Korps-Initiative überdeckte viele der Schwierigkeiten im bilateralen Interessenabgleich zur GASP. Man kann von einem Leuchtturmprojekt in unbekannten Gewässern sprechen. Allgemein überwog weiter das Unkonkrete, wie auch die einschlägigen GASP-Artikel des Maastricht-Vertrages zeigten. Zwar legten diese Zeugnis vom festen Willen der Europäer zur Formulierung einer eigenständigen Außenpolitik ab, Praktisch-Durchführbares blieb das Vertragswerk aber weitgehend schuldig. Nur die Festschreibung der Intergouvernementalität als Abstimmungsprinzip in der GASP sollte weit in die Zukunft deuten. Der Beschluss des bilateralen Gipfels von La Rochelle im Mai 1992 zur Errichtung des Europäischen Korps ist einer der markantesten Punkte der deutsch-französischen Sicherheitskooperation. Dass man dabei auf einer Blaupause aufbaute, die schon in den 1980er Jahren erwogen worden war, ist in gewisser Hinsicht charakteristisch für die nicht unbedingt vor neuen Ideen sprühende Sicherheitspolitik Deutschlands und Frankreichs jener Zeit. Umfang und Auftrag des Korps waren ambitioniert formuliert: ein schwerer, mechanisierter Großverband mit einer Truppenstärke von rund 40.000 Mann, der zu weltweiten Kampfeinsätzen verwendet werden konnte. Die Aufstellung von neuen Truppenteilen war, mit Ausnahme des in Straßburg angesiedelten Korpsstabs, nicht vorgesehen. Bestehende Einheiten sollten vielmehr umgewidmet, sprich neu unterstellt werden. Von einem geschlossenen, „monolithischen“ Verbund kann also nicht gesprochen werden. 518 Eher schon wandelte man auf dem Beschlussgrund des Londoner NATO-Gipfels von 1990, der ja das Postulat militärischer Modularität in multi-nationalen Korps errichtet hatte. Die weltweite Verwendung in robusten Operationen war laut dem La Rochelle-Bericht an das Einvernehmen der Regierungen und die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Entsendestaaten geknüpft. An einen zeitnahen Einsatz des Korps war also nicht denken, zumal auf 517
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Vgl.: Greif, Sicherheitspolitik in der Ära Mitterrand, S.68; Wichard Woyke, Gesellschaftliche Grundlagen der französischen Sicherheitspolitik und ihre Auswirkungen auf die deutsch-französischen Beziehungen, in: Wolfgang Asholdt und Heinz Thoma (Hrsg.), Frankreich. Ein unverstandener Nachbar (1945-1990), Bonn 1990, S.87-99, hier: S.94; Ziebura, Deutsch-französische Beziehungen, S.346-347. Die verschiedenen Truppenteile des Eurokorps verfügten über ein beachtliches militärisches Potenzial: 322 gepanzerte Aufklärungsfahrzeuge, 645 Kampfpanzer, 518 Schützenpanzer, 83 Flugabwehrpanzer mit Rohrwaffen und 57 mit Raketen, 304 Artilleriefahrzeuge, davon 24 mit Raketen, 599 Panzerabwehrraketen und 683 Transportfahrzeuge.
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deutscher Seite die verfassungsrechtliche Grundlage für Kampfeinsätze nicht geklärt war. Auch ein sich über drei Jahre hinziehender Aufstellungszeitplan sprach gegen kurzfristig anberaumte Missionen – etwa auf dem Balkan. Der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler schufen so eine sicherheitspolitische Struktur, die erst nach dem Ausscheiden Mitterrands und nach der nächsten Bundestagswahl überhaupt militärische Relevanz entfalten würde. Da demgegenüber die europa- und bündnispolitischen Auswirkungen unmittelbar waren, ist es folgerichtig, die Bedeutung des Eurokorps weniger im militärischen und mehr im politischen Bereich zu verorten. Über die für Deutschland maßgeblichen Aspekte der bilateralen Integration und der institutionalisierten Aussöhnung ist bereits gesprochen worden. Auch war das Korps, mit Blick auf den Jugoslawienkonflikt, geeignet, den Vorwurf der Untätigkeit zu entkräften. Dass ein tatsächlicher Einsatz noch in weiter Ferne lag, stand auf einem anderen Blatt. Für Frankreich bedeute das mit anderen europäischen Staaten aufzustellende Korps zudem den Weg aus einer bündnispolitischen Sackgasse. Dem durch die voranschreitende Funktionsausweitung der NATO aufgebauten Integrationsdruck konnte Paris nun eine eigene Struktur entgegenstellen, die, als potenzieller Nukleus einer tragfähigen europäischen Sicherheitsstruktur über das Potenzial verfügte, Alternativen zur Atlantischen Allianz aufzuzeigen. Mit dem noch im Sommer 1992 bekundeten Interesse Belgiens, Italiens oder Spaniens nach einer Beteiligung am Korps bewahrheitete sich diese Kalkulation. Die Vereinigten Staaten waren jetzt genötigt, sich mit den französischen Vorstellungen zur europäischen Sicherheit auseinander zu setzen – und sei es nur aus dem Grund, das Rangverhältnis zwischen Korps/WEU-Unterstellung und NATO-Assignierung der betroffenen militärischen Einheiten zu klären. Das Eurokorps ist so auch aus der Perspektive einer sich verbessernden Verhandlungsposition Frankreichs gegenüber der NATO zu werten. Wenn man sich in Bonn also dazu beglückwünschte, Frankreich und die Allianz durch das Korps einander näher gebracht zu haben, bedeutete dies konkret, dass man dem Pariser Partner die Tür zu einer Beteiligung an der bündnisinternen Reformdebatte ein Stück weit geöffnet hatte. Die angestammte Bonner Scharnierfunktion zwischen Washington und Paris wurde einmal mehr deutlich. Exemplarisch lassen sich hier erneut die drei Wirkungsebenen der deutschfranzösischen Sicherheitskooperation ablesen: (I.) gegenseitige Versicherung; (II.) Anstoßpunkt für europäische Projekte; (III.) Anstoßpunkt für Veränderungen innerhalb der Atlantischen Allianz. Exemplarisch lässt sich die Katalysator-Funktion, die die deutsch-französische Sicherheitskooperation und gerade das Eurokorps in den Jahren 1991, 1992 und 1993 für die Entwicklung einer europäischen Sicherheitspolitik erfüllte, an der „Petersberg-Erklärung“ der WEU ablesen. Die in den Petersberg-Aufgaben niedergelegte Definition zukünftiger Militäreinsätze der Europäer sowie das im FAWEU-Konzept zum Ausdruck kommende Konzept der Modularität spiegeln zentrale Punkte des La Rochelle-Berichts wider. Für das FAWEU-Konzept war der von Deutschland beim Eurokorps beschrittene Weg, bestehende Truppenteile aus der reinen NATO-Assignierung in eine Doppelunterstellung gegenüber NATO – WEU zu überführen, die entscheidende Voraussetzung. Die sich, mit diesem Konstrukt eines double hatting zwangsläufig aufdrängende Frage des Rangverhältnisses zwischen NATO- gegenüber WEU-Assignierung richtete sich dann wieder vornehmlich an Frankreich, welches die sicherheitspolitische Unabhängigkeit der Europäer ja zentral setzte. Der am Ende der im zweiten Halbjahr 1992 geführten Diskussionen über das double hatting stehende Kompromiss sollte sich als dauerhaft erweisen. Mit dem SACEUR-
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Abkommen bestätigte auch Paris die zentrale Rolle der Atlantischen Allianz für die Verteidigung Europas. Ausgehend von diesem Sockel verjüngte sich das Spektrum der Sicherheitspolitik der Europäer auf, vom Umfang her begrenzte, militärische Einsätze wie jene des Petersberg-Katalogs. Auch bei diesen Missionen wurde eine zumindest mittelbare Beteiligung der NATO nicht ausgeschlossen. Die so gefundene Aufteilung besteht bis zum heutigen Tag. Der vornehmlich von Frankreich erhobene Selbstvertretungsanspruch der Europäer in der Sicherheitspolitik hatte sich also deutlich relativiert. Dieser Beschneidung war auf französischer Seite die Erkenntnis vorausgegangen, dass eine autonome europäische Sicherheitsstruktur beim deutschen Partner nicht gewünscht wurde und weder finanziell noch organisatorisch realisierbar war. Befördert wurde das französische Einlenken zudem durch die im SACEUR-Abkommen gefundenen Regelungen. Diese ließen sich mit überkommenen gaullistischen Axiomen gut vereinen: (I.) Einsatz französischer Truppen nur nach vorheriger Zustimmung der französischen Regierung, (II.) kein Bündnisautomatismus, aber (III.) Solidarität im Verteidigungsfall. Auch blieben die Truppen des Eurokorps immer an erster Stelle dem Korps und erst an zweiter Stelle der NATO zugeordnet, wodurch der europäische Beitrag klar ausweisbar war. Das Eurokorps-WEU-Abkommen schließlich bestätigte die interdependente Stellung des Eurokorps. Die Klärung der bündnispolitischen Stellung des Eurokorps, der gefundene Modus für die Truppenstellung innerhalb der WEU und die prinzipielle französische Akzeptanz der Funktion der NATO erklären zu guten Teilen die ab dem Frühjahr 1993 zu beobachtende Etablierungsphase in der deutsch-französischen Sicherheitskooperation. Nach der vorangegangenen Formierungsphase folgte nunmehr eine Konsolidierung. Mit Blick auf den gesamten Untersuchungszeitraum kann man aber auch von einem Zwischenstadium sprechen. Auf französischer Seite wirkte sich zudem der nach der Parlamentswahl vom Mai 1993 erfolgte Eintritt in eine cohabitations-Administration hemmend aus. Zwischen dem Staatspräsidenten und dem Premierminister trat schnell ein Dissens über den weiteren sicherheitspolitischen Kurs Frankreichs zutage. Die hieraus erwachsende Pattsituation führte zu einer Erlahmung, die bis zu Mitterrands Ausscheiden aus dem Präsidentenamt zwei Jahre später andauern sollte. Der bilaterale Abstimmungsprozess zur europäischen Sicherheitspolitik stockte aber auch, weil der von der Korps-Initiative zunächst überdeckte Zielkonflikt über den eigentlichen Zweck der bilateralen Kooperation nunmehr wieder deutlicher hervortrat. Während Bonn die geschaffenen, integrierten Institutionen als Endpunkt und nicht als Basis für neue Vorhaben erachtete, rückte für Frankreich mehr und mehr die Frage in den Mittelpunkt, welche sicherheitspolitischen Schritte auf Basis eben dieses Sockel unternommen werden konnten. Paris verstand die europäische Integration nach wie vor nicht als Selbstzweck, sondern als dienlichen Bündelungsprozess einzelstaatlicher Ressourcen zur Erlangung größeren gestaltungspolitischen Einflusses. Daher erweckte der innerfranzösische Diskurs über die Ausgestaltung der europäischen Sicherheitspolitik in periodischem Abstand den Eindruck, es gelte vornehmlich, der Europäischen Union militärische Kapazitäten anheim zu stellen, damit diese dann – ganz in der Tradition der Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts – den politischen Interessen Frankreichs weltweit Geltung verschaffen konnten. In Folge dessen verlor – nach dem nahezu synchronen Auftritt in den Jahren 1991 und 1992 – die bilaterale Sicherheitskooperation im Jahresverlauf 1993 mehr und mehr an Elan, ohne jedoch ihr hohes Einvernehmen abzulegen. Da hierbei auch die sich wieder intensivierte Abstimmung zwischen Bonn und Washington eine Rolle spielte, zeigte sich erneut,
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dass sich das deutsch-französische Bedingungsfeld einfacher entschlüsseln lässt, wenn man die Rolle der Vereinigten Staaten als externen Faktor berücksichtigt. Stand es doch um die deutsch-französische Interessenabgleich immer dann nicht sonderlich gut, wenn die deutsche Seite die transatlantische Kooperation besonders betonte.
2 Impulsgeber für die Weiterentwicklung von NATO und EU
2.1 ESVI und CJTF oder die Flexibilisierung der Atlantischen Allianz Mit dem Treffen der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikpakts in Brüssel am 10./11. Januar 1994 schloss die Atlantische Allianz formell jenen Umstrukturierungsprozess ab, den sie im Sommer 1990 als Reaktion auf das Ende der Ost-West-Konfrontation eingeleitet hatte. Aufbauend auf den Entscheidungen der NATO-Gipfel von London 1990 und Rom 1991519 vereinbarten die NATO-Partner nunmehr die Anpassung der militärischen Strukturen des Bündnisses an das CJTF-Konzept für Alliierte Teilstreitkraftübergreifende Einsatzverbände.520 Diese innere Umstrukturierung wurde durch ein Kooperationsangebot nach außen komplettiert. Die Allianz formulierte in Brüssel eine Einladung an die im Nordatlantischen Kooperationsrat beteiligten Staaten und an die KSZE-Länder, sich am neuen Dialogforum der Allianz, der „Partnerschaft für den Frieden“ (Partnership for Peace, PfP) zu beteiligen.521 Auch für das Verhältnis NATO und WEU stellte der Brüsseler Gipfel einen entscheidenden Fortschritt dar. Die Staats- und Regierungschefs erklärten am 11. Januar 1994 ihre uneingeschränkte Unterstützung des Wunsches der WEU nach Rückgriff auf NATOStrukturen: „Wir unterstützen uneingeschränkt die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität, die – wie im Vertrag von Maastricht gefordert – in der längerfristigen Perspektive einer, mit der Politik der Atlantischen Allianz zu vereinbarenden, gemeinsamen Verteidigungspolitik innerhalb der Europäischen Union, zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. […] Wir sind daher bereit, auf der Grundlage von Konsultationen im Nordatlantikrat kollektive Ressourcen des Bündnisses für WEU-Operationen zur Verfügung zu stellen […].“522
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Das auf diesen Gipfel erarbeitete und verabschiedete „Neue Strategische Konzept“ der NATO hatte lediglich Rahmen und Prinzipien für die gemeinsame Verteidigung weiterentwickelt. Die konkrete militärische Umsetzung dieser Vorgaben war Dezember 1991 mit zwei Dokumenten des Militärausschusses (MC 317 & MC 400) begonnen und bis zum Brüsseler Gipfel 1994 konkretisiert worden. 520 Von dem CJTF-Konzept versprach sich die Allianz eine Effizienzsteigerung bei der Durchführung ihrer militärischen Operationen; vgl.: Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikpakts, abgeben zum Abschluss ihrer Tagung in Brüssel am 10./11. Januar 1994, in: Bulletin der Bundesregierung vom 17. Januar 1994. 521 Die Eckpunkte dieses Partnerschaftsprogramms wurden in einem Rahmendokument niedergelegt; siehe: Rahmendokument „Partnerschaft für den Frieden“ der Atlantischen Allianz, in: EA 1994, D133-134. 522 Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikpakts, abgeben zum Abschluss ihrer Tagung in Brüssel am 10./11. Januar 1994, in: Bulletin der Bundesregierung vom 17. Januar 1994.
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zugleich wurde deutlich, dass die Allianz diesen Schritt hin zur Sicherheits- und Verteidigungsidentität der Europäer nicht als Anfang vom Ende der transatlantischen Bindung begriff, sondern diese eher gestärkt sah523: „Wir unterstützen die Entwicklung trennbarer, jedoch nicht getrennter Potentiale, die den europäischen Bedürfnissen gerecht werden und zur Sicherheit der Allianz beitragen können.“524
Anders formuliert: Die europäischen Bündnispartner erhielten so mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit, ohne die Grundlage des Bündnisses verlassen zu müssen. Das CJTFKonzept war hierbei ein Schlüsselelement. Trennbare, aber nicht getrennte militärische Kräfte (separable, but not separate forces) gaben der NATO-Struktur die nötige Flexibilität, Aufgaben der Konfliktprävention und des Krisenmanagements zu bewältigen. Sie eröffneten zudem die Perspektive, Einheiten aus der NATO-Assignierung für Einsätze der Europäer herauszulösen und beispielsweise unter WEU-Kontrolle agieren zu lassen. Diese zukünftige Zusammenarbeit zwischen NATO und WEU war aus amerikanischer Sicht mit der Hoffnung verbunden, dass die WEU-Staaten so verpflichtet werden konnten, ihre überkommenen Streitkräftestrukturen zu modernisieren, stärker operativ auszurichten und in die Lage zu versetzen, auch außerhalb des NATO-Gebietes handeln zu können.525 Die mit dem Brüsseler Gipfel gegebene Einwilligung der Vereinigten Staaten zum Aufbau eines europäischen Pfeilers in der NATO war zugleich Schlusspunkt des, maßgeblich von Frankreich in den Jahren 1990-1992 verfolgte, Bestrebens, eine von der NATO autarke Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäer zu errichten.526 Wie tiefgreifend dieser Schritt war, zeigt die Tatsache, dass das Eurokorps mit dem Brüsseler Beschluss und aufbauend auf dem SACEUR-Abkommen ebenfalls Modul des CJTF-Konzepts wurde.527 Nach dem double hatting-Prinzip blieb das Korps zwar primär der WEU als ein Element der FAWEU zugeordnet – neben seinen deutschen und belgischen Truppenteilen waren jetzt aber auch seine französischen und spanischen Streitkräfte mittelbarer Bestandteil des „Europäischen Pfeilers“ der NATO. Insbesondere auf deutscher Seite war man mit den Ergebnissen von Brüssel zufrieden.528 Vor dem Deutschen Bundestag erklärte Kanzler Helmut Kohl am 13. Januar 1994: „Die Nato unterstützt [jetzt, MK] unmissverständlich den Vertrag von Maastricht und damit die weitere politische Einigung Europas.“ Nun gelte es, gemeinsam mit allen europäischen
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In Brüssel erklärten die Staats- und Regierungschefs ihre uneingeschränkte Unterstützung der Entwicklung der WEU als Verteidigungskomponente der EU. Sie betonten allerdings, dass dies den europäischen Pfeiler der Allianz stärken, die transatlantische Bindung festigen und die europäischen Bündnispartner zu mehr Verantwortung für die gemeinsame Sicherheit und Verteidigung führen müsse. Vgl.: Bulletin der Bundesregierung vom 17. Januar 1994. 524 Ebenda. 525 Wassenberg, Eurokorps, S.73. 526 Von Anfang an hatten die meisten europäischen NATO-Staaten, allen voran Großbritannien, dem Aufbau eines „Europäischen Pfeilers“ den Vorzug gegeben. Vgl.: Diego A. Ruiz Palmer, The future of West European Security and Defence cooperation – A United States perspective, in: Peter Schmid (Hrsg.), In the Midst of Change: On the development of West European Security and Defence cooperation, Baden-Baden 1992, S.159185. 527 Robert Löwenstein, Das Europäische Korps im Rahmen der Atlantischen Allianz, in: Ernst Martin (Hrsg.), Eurokorps und Europäische Einigung, Bonn 1996, S.245-260, hier: S.253-254. 528 Joachim Bitterlich, Intérêts, objectifs et stratégies de la politique européenne de l’Allemagne, in : Documents 1/1994, S.20-24, insbesondere : S.22-23.
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Partnern, die Sicherheit des Kontinents dauerhaft zu sichern.529 In Frankreich begrüßte die Regierung Balladur die jüngsten Einigungsschritte ebenfalls. Nach einem Treffen der Verteidigungsminister von Großbritannien, Frankreich und Deutschland in London Ende Januar 1994, bei dem die Auswirkungen der Brüsseler Entscheidungen Gegenstand waren, erklärte Verteidigungsminister Léotard, die Verzahnung von WEU- und NATO-Strukturen durch das CJTF-Konzept sei ein entscheidender Schritt, zumal sich so neue Möglichkeiten eröffneten, die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Allianz zu befördern.530 Dass man dabei in der französischen Administration keinesfalls die stillschweigende Wiedereinreihung in die militärische Integration im Sinn hatte, sondern vielmehr den Aufbau einer gleichberechtigten Partnerschaft, war selbstredend.531 Nach wie vor lag hierin der wesentliche Unterschied zur deutschen Position, welche zwar ebenfalls die Reform der Atlantischen Allianz umfasste, die überkommende Verflechtung europäischer und transatlantischer Entwicklungen aber als gegeben erachtete.532 2.2 Das deutsche und das französische Verteidigungsweißbuch des Jahres 1994 Im Frühjahr 1994 passten Deutschland und Frankreich in zwei nahezu zeitgleich erscheinenden Weißbüchern zur Verteidigung ihre sicherheitspolitischen Grundsätze an die veränderten strategischen Rahmenbedingungen an und gaben sich neue militärische Zielvorgaben. Die zeitliche Parallelität war kein Zufall. Im Vorwort zum deutschen Weißbuch 1994 stellte Bundesverteidigungsminister Volker Rühe heraus, dass die Ausarbeitung der beiden Strategiepapiere Deutschlands und Frankreichs in enger Abstimmung erfolgt sei.533 Damit solle das Streben beider Länder unterstrichen werden, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam zu entwickeln und voranzubringen. Laut dem deutschen Verteidigungsminister verfolgte die Bundesregierung mit ihrem Weißbuch die Zielsetzung, eine politische und strategische Analyse der Lage mit Deutschlands Rolle in den internationalen Institutionen zu verbinden, um daraus den veränderten Auftrag der Streitkräfte und die dafür künftig notwendigen Fähigkeiten abzuleiten.534 Ausgangspunkt war der Grundsatz, dass die im deutschen Grundgesetz vorgegebenen Werte und Richtlinien jene Interessen bestimmen müssten, an denen sich Deutschland in seinem sicherheitspolitischen Handeln orientierte. Als weitere Orientierungspunkte nannte das Weißbuch politische Konstanten und langfristig wirkende Rahmenbedingungen, wie etwa die geopolitische Mittellage Deutschlands als Land mit den meisten Nachbarn in Europa; die wirtschaftliche Lage als exportabhängige Industrienation und die starke Verflechtung mit der Weltwirtschaft; und schließlich die Erfahrungen und Verpflichtungen der deutschen 529
Vgl.: Erklärung des Bundeskanzler am 13. Januar 1994 vor dem Deutschen Bundestag, in: EA 1994, D135-136. SZ 28. Januar 1994 „Rühe: Deutsche Einsätze im Ausland einplanen“; zur britischen Haltung vgl.: Philippe Moreau Defarges, La Grande-Bretagne et l’Europe, in: Défense Nationale 6/1993, S.85-91. 531 Erklärung des französischen Außenministers Juppé nach der EU-Ratstagung in Brüssel am 7. Februar 1994 vor der Presse, in: EA 1994, D 227-228. 532 „Europäische Sicherheit und die Zukunft der Bundeswehr“, Rede von Bundesminister Rühe in Berlin am 21. März 1994, in: Bulletin der Bundesregierung vom 28. März 1994. 533 Die britische Regierung veröffentlichte im Jahr 1994 ebenfalls ein neues Verteidigungsweißbuch; eine gute Zusammenschau aller drei Weißbücher liefert: Bernard de Bressy, Trois Livres blancs européens sur la défense, in: Défense Nationale 11/1994, S.75-87. 534 „Europäische Sicherheit und die Zukunft der Bundeswehr“, Rede von Bundesminister Rühe in Berlin am 21. März 1994, in: Bulletin der Bundesregierung vom 28. März 1994. 530
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und europäischen Geschichte (S.42). Auf dieser Basis wurden fünf zentrale Interessen der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands benannt: 1. 2. 3. 4. 5.
die Bewahrung von Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger Deutschlands und der Unversehrtheit seines Staatsgebiets; die wechselseitige Integration der Demokratien in der Europäischen Union, das dauerhafte, auf eine Wertegemeinschaft und gleichgerichtete Interessen gegründete transatlantische Bündnis; eine auf Ausgleich und Partnerschaft bedachte Heranführung unserer östlichen Nachbarn an westliche Strukturen und die Gestaltung einer neuen europäischen Sicherheitsordnung, die weltweite Achtung des Völkerrechts.
Im Rahmen einer Betrachtung der deutschen Bündnisverpflichtungen orientierte sich der Blick auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dann aber eher an deren Bedingtheiten, denn an deren Möglichkeiten. So wurde herausgestellt, dass „…die Entwicklung eigener WEU-Kommando- und Streitkräftestrukturen […] nicht vorgesehen“ sei (S.60). Jedoch setzte „…die Bundesregierung […] sich dafür ein, daß die WEU für das Krisenmanagement ebenso handlungsfähig wird wie die NATO.“ Voraussetzung hierfür sei eine klare Definition der gemeinsamen politischen Ziele und der damit verbundenen militärischen Aufgaben der Europäer. Die WEU-Partner sollten zeitnah damit beginnen, gemeinsame Einsätze durchzuführen und diese von Anfang bis Ende selbstständig bestreiten (S.61). Getreu dem zuvor formulierten Credo, dass die Nordatlantische Allianz weiterhin die Grundlage der Sicherheit Deutschlands sei (S. 50), wurde das Handeln im WEURahmen schlussendlich in die Perspektive des europäischen Pfeilers der NATO gestellt. Mit Blick auf die deutsch-französische Sicherheitszusammenarbeit betonte das Weißbuch deren besonderen historischen und politischen Rang (S.62). Von ihr gingen viele wichtige Impulse für die Gestaltung der europäischen Sicherheitsordnung aus. Ein hoher Stellenwert wurde dabei der Rüstungskooperation mit dem französischen Partner eingeräumt. Die im Dezember 1993 beschlossene Intensivierung und Institutionalisierung dieser Kooperation solle das Management der gemeinsamen Projekte künftig vereinfachen und effizienter machen sowie den Nukleus für die schon in Maastricht projektierte „Europäische Rüstungsagentur“ bilden (S.63). Die sich verändernde Rolle der Bundeswehr wurde als die einer Bündnisarmee definiert: Diese habe zukünftig zwei verteidigungspolitische Hauptfunktionen wahrzunehmen: (I.) Zusammen mit Alliierten und anderen Partnern internationale Krisen und Konflikte bewältigen und (II.) die Verteidigung Deutschlands gewährleisten zu können (S.89). Beide Aufgaben bedeuteten eine Ablösung des überkommenen, raumdeckend angelegten Konzepts der Vorne-Verteidigung durch das flexiblere Prinzip der militärischen Gegenkonzentration je nach Bedarfsfall. Hierzu seien aufwuchsfähige Streitkräfte in hinreichender Anzahl erforderlich. Auch aus diesem Grund sollte die Allgemeine Wehrpflicht unbedingt beibehalten werden. Mit Blick auf die anzustrebende Struktur der Bundeswehr beschrieb das Weißbuch die Aufschlüsselung in drei Streitkräftekategorien (S.93):
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präsente Krisenreaktionskräfte (KRK); weitgehend mobilmachungsabhängigen Hauptverteidigungskräfte (HVK); die Militärische Grundorganisation (MGO).535
Ähnlich wie bei seinem deutschen Gegenstück war für das französische Livre blanc sur la Défence 1994 das veränderte strategische Umfeld Ansatz für eine Überprüfung der strategischen Zielsetzungen. Hieraus erfolgt die Benennung etwaiger Konsequenzen für Zusammensetzung und Umfang der französischen Streitkräfte und deren Ausrüstung. Die Einschätzung der neuen Sicherheitslage Europas entwickelt sich dabei weitgehend in Analogie zum deutschen Weißbuch. So wird bereits in der Einleitung die deutliche Verbesserung der geostrategischen Situation Frankreichs seit 1990 festgestellt (S.27). Demgegenüber habe sich an der Zielsetzung französischer Sicherheitspolitik im Grunde nichts geändert: nach wie vor seien die nationalen Interessen Frankreichs die Triebkräfte seiner Sicherheitspolitik. Das Livre blanc definiert hierzu drei Interessen-Felder536 (S.49-50):
die intérêts vitaux, also die Unverletzlichkeit des französischen Staatsgebiets und seiner Bürger und der Schutz der für die Ausübung seiner Souveränität unabdingbaren Grundlagen des französischen Staates; die intérêts stratégiques, die sich aus der geopolitischen Lage und der internationalen Wirtschaftsverflechtung Frankreichs ergeben; und schließlich die intérêts du rang, die aus Frankreichs Rolle und Selbstverständnis als einer der führenden Nationen der Welt erwachsen würden.
Um diese Interessen vor dem Hintergrund des Endes der Ost-West-Konfrontation bestmöglich wahren zu können, werden (I.) der Aufbau Europas und insbesondere die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie (II.) die Entwicklung einer globalen Verteidigungspolitik in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen als Kernpunkte der französischen Verteidigungspolitik benannt. Das im Jahr 1959 etablierte Leitbild der dissuasion nucléaire wird aufrechterhalten. Die nukleare Abschreckung bildet auch für die Autoren des Livre blanc 1994 die finale Rückversicherungsoption (S.95). Anders als im Kalten Krieg werde diese nunmehr in noch stärkerem Maße durch eine Abschreckung mit konventionellen Kräften ergänzt (S.102-103).537 Diese Abschreckung richtete sich, in indirekter Anknüpfung an die französische „tous-azimuts“-Doktrin der 1960er Jahre, wieder gegen
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Dabei geht das deutsche Weißbuch von einem Personalumfang von 370.000 aktiven Soldaten aus, die im Bedarfsfall auf eine Verteidigungsumfang von 650.000 bis 700.000 Soldaten aufwachsen können. Als Haushaltsrahmen wird ein Budget von 48,481 Mrd. DM für das Jahr 1994 und ein Finanzplan von jeweils 47,5 Mrd. DM für die Jahre 1995-1997 benannt (Weißbuch 1994, S.98). Schon das französische Verteidigungsweißbuch von 1971 hatte als Leitbild das Konzept der „Drei Kreise“ gehabt. Diese bestanden aus (I.) der Verteidigung des französischen Staatsgebiet und den angrenzenden Gebieten, in dem die „vitalen Interessen“ (intérêts vitaux) Frankreichs lagen. (II.) Dem zweiten Kreis mit den „intérêts majeurs“ Frankreichs, der den europäischen Kontinent und die nordafrikanischen Ländern umfasste und sich als Sanktuarium verstehen ließ; und (III.) den überseeischen Territorien und Besitzungen Frankreichs. Hintergrund war die Annahme, dass zukünftige regionale Konflikte in Mittel- und Osteuropa nicht von einer nuklearen Eskalationsszenarien geprägt sein würden und somit keine unmittelbare Bedrohung für das eigene Territorium bestand.
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jegliche Bedrohung der französischen Interessen.538 Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass nach dem Ende des Kalten Krieges der strategische Gegner nicht mehr eindeutig definierbar war. Es zeigte sich, dass neben Kontinuitäten wie der Befähigung, seine intérêts vitaux gegen jeden Gegner allein zu verteidigen, oder dem von Verteidigungsminister Léotard schon früh formulierten539 eindeutigen Bekenntnis zur Beibehaltung der Wehrpflicht, auch neue militärstrategische Zielsetzungen wie die Projektionsfähigkeit der konventionelle Streitkräfte hinzutraten. In diesem Zusammenhang ist auch der angestrebte Auf- bzw. Ausbau der Satellitenbeobachtungskapazität des Typs Helios zu sehen (S.130). Die strategische Ausrichtung weitete sich nunmehr auf eine weltweite Kriseninterventionsfähigkeit, deren Hauptradius jedoch in Europa gesehen wurde.540 Der Aspekt der Kriseninterventionsfähigkeit gewann so erheblich an Gewicht, denn zukünftige Einsätze seien eher in Distanz zum nationalen Territorium Frankreichs zu erwarten (S.95).541 Dabei steht die geopolitisch gebotene Fokussierung auf Europa als Dreh- und Angelpunkt des sicherheitspolitischen Interessen Frankreichs an erster Stelle (S.59): « La restauration de l’Europe dans ses dimensions polititiques, historiques et culturelles oblige à établir un système de sécurité nouveau pour succéder au face-à-face de l’époque de la guerre froide. »
Das Livre blanc unterstrich zudem die gewachsene Bedeutung binationaler bzw. multinationaler militärischer und rüstungspolitischer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene (S.60). Die Kooperationen mit verschiedenen europäischen Partnern seien von unterschiedlicher Intensität, ständen aber alle in der Perspektive der Europäischen Union und der WEU. Mit Blick auf die deutsch-französischen Zusammenarbeit wird die Rolle des Gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrates hervorgehoben. Die Aufstellung des Eurokorps wird als bedeutende Pionierleistung gewertet; sie sei Vorbild für die Aufstellung anderer multinationaler Einheiten im Rahmen der WEU. Neben die NATO träte so eine rein europäische Kommandostruktur, zu der mehrere „Eurokorps“ gehören könnten. Mit dieser Setzung wurde allerdings auch von der zuvor noch vertretenden Zielperspektive gemeinsamer Streitkräfte in einer Form einer europäischen Armee abgerückt. Zwar bleibe die Atlantische Allianz die wesentliche Verteidigungsorganisation, nur sei das amerikanische Engagement für Europa nach dem Ende des Warschauer Paktes relativiert (S.58). « La France continuera de favoriser un renforcement de l’UEO complémentaire du rôle de l’OTAN. » (S.63). Die Phase der Ungewissheiten in Bezug auf die NATO war für Frankreich also auch 1994 noch nicht beendet. Die Allianz müsse sich erneuern, ein Prozess, an dem sich Frankreich beteiligen werde. Auch dadurch bekannte sich das Livre blanc zu den Beschlüssen des Brüsseler NATO-Gipfels vom Januar 1994 (S.66):
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Verteidigungsminister Joxe hatte Anfang 1992 den Begriff der „tous-azimuts“ erstmals wieder verwendet und in die strategische Debatte, um die Ausrichtung der Verteidigungsstrategie Frankreichs eingeführt; vgl.: Sauder, Souveränität und Integration, S.241. 539 SZ 16. Dezember 1993 „Paris sucht militärische Rolle für Europa“. 540 Ausnahmen bildeten auch weiterhin die jeweiligen Sicherheitskooperation mit den Ländern Afrikas (S.77) – nach wie vor ein französisches Alleinstellungsmerkmal. 541 Hierzu benennt das Livre Blanc sechs mögliche Einsatzszenarien (S.107-118).
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« L’organisation militaire doit répondre à de nouveaux impératifs de souplesse et de modularité, pour être capable de s’adapter à la diversité des situations envisageables, des milieux d’engagement et des moyens nécessaires, commme aux exigences des évolutions politiques. »
Einen klaren Bruch mit überkommenen Traditionen bedeutete auch die Fall-zu-FallTeilnahme von Verteidigungsminister und Generalstabschef an den Gremien der Atlantischen Allianz nach Entscheidung von Staatspräsident und Premierminister (S.67-69).542 Die bereits im Jahr 1983 vorgenommene Einteilung der französischen Streitkräfte in schnelle Eingreifverbände (Force d’Action rapide, FAR) und schwere Einheiten (Corps Blindé Mécanisé, CBM) zur (Haupt-) Verteidigung wurde, auf Basis der im Sommer 1991 erstellten Planungen zur Umstrukturierung der Landstreitkräfte, mit dem ursprünglichen Zielhorizont 1997 beibehalten.543 Das Livre blanc sieht für die Streitkräfte eine Struktur und Ausrüstung vor, die sie befähigt, maßgeschneiderte Interventionsstreitkräfte zusammenzustellen bzw. sich leicht in multinationale Streitkräftekoalitionen einfügen zu können. 544 2.3 Europäische Fortschritte Auf der Tagung des Ministerrates der WEU am 9. Mai 1994 in Luxemburg wurde mit der „Kirchberg-Erklärung“ der WEU545 dann der nächste Schritt eingeleitet: Die WEU begrüßte die seit ihrem Treffen im November 1993 erzielten Fortschritte hinsichtlich eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO. Insbesondere die auf ihrem Brüsseler Gipfel vom Januar erklärte, prinzipielle Einwilligung der NATO, ihre Ressourcen und Fähigkeiten der WEU zur Verfügung zu stellen, fand nachhaltige Zustimmung. Auf Betreiben Deutschlands hin bekräftigten die Minister ihre Überzeugung, dass auch die ESVI zu einer Gemeinsamen Verteidigung der Europäer führen könnte. Diese Zielperspektive sei aber, wie auch durch die NATO in Brüssel gefordert, nur in Verbindung mit einer transatlantischen Komponente denkbar. Die Kirchberg-Erklärung bedeutete auch den Auftakt für die WEU-interne Bestimmung der für die Erfüllung der Petersberg-Aufgaben erforderlichen Ressourcen und Potenziale durch die Mitgliedstaaten. Daher wurden nunmehr auch für die Multinationale Division (Mitte) und den Amphibischen Verband Bedingungen für deren Einsatz im Rah542
Kai Burmester, Atlantische Annäherung - Frankreich Politik gegenüber der NATO und den USA, in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.92-112, hier: S.103; Françoise ManfrassSirjacques, Die französische Sicherheitspolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, HSFK-Report 2/1999, S.6-9. 543 Das Konzept „Armée de terre 1997“ basierte auf einer Reduzierung der französischen Landstreitkräfte bis zum Jahr 1997 um 50 000 Mann (rund 20%). Auch die Relationen zwischen Wehrpflichtigen, Zeitsoldaten und Offizieren haben sich in der französischen Armee in der ersten Hälfte der 1990er Jahre deutlich verschoben. Gab es 1992 noch rund 156.000 Wehrpflichtige, 28.200 Zeitsoldaten mit Mannschaftsstatus und ca. 76.000 Offiziere und Unteroffiziere, war nunmehr vorgesehen, die Zahl der Wehrpflichtigen bis zum Jahr 1997 auf 115.000 Mann zu reduzieren. Die Zahl der Zeitsoldaten unter den Mannschaften sollte dagegen um ein Drittel auf 9.000 Mann angehoben werden; die der Offiziere und Unteroffiziere sank unwesentlich auf 72.800 Mann. 544 Hiefür wurde von einem zukünftigen Personalumfang von 120.000 bis 150.000 aktiven Soldaten für die Armée de terre und 95.000 bis 100.000 für die Gendarmerie nationale ausgegangen. Als Zielperspektive für die Marine wurde ein Umfang der Hochseeflotte von 65 bis 70 Schiffen bei 50 Kampfeinheiten genannt. Die Struktur der Luftwaffe sollte sich um 20 Kampfgeschwader gruppieren (S.147-149). 545 „Kirchberg-Erklärung“ der Westeuropäischen Union vom 9. Mai 1994 in: Bulletin der Bundesregierung 1994 vom 20. Mai 1994.
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men der WEU festgelegt. Begrüßt wurde zudem die Entscheidung Luxemburgs, sich am Eurokorps zu beteiligen. Auf deutscher Seite war man nach den Ergebnissen des Januar-Gipfels in Brüssel und der Kirchberg-Erklärung überzeugt, dass die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in der EU entscheidend vorangebracht worden war: „Innerhalb der Europäischen Union sind nationale Sonderwege ebenso wenig möglich wie das Denken in Einflusssphären, Koalitionen und Gegenkoalitionen und in Kategorien von Eindämmung und Hegemonie. Das „Europäische Konzert“ des Fürsten Metternich, die „balance of power“ des Lord Castlereagh und das Vertragssystem des Fürsten von Bismarck beruhten auf dem Grundgedanken, Gewicht und Gegengewicht in eine filigran austarierte Balance zu bringen. Die Strategie der „balance of power“ gehört aber ins 19. Jahrhundert; ihr Korrelat ist die „splendid isolation“, die sich im Europa von heute niemand mehr leisten kann und will.“546
Für Bonn galt es nunmehr, die sicherheitspolitische Perspektive über den Rand der Europäischen Union hinaus auf die mittel- und osteuropäischen Staaten auszuweiten. Neben dem Ausbau bi- oder gar trilateraler Sicherheitskooperation, wie der deutsch-französischenpolnischen Vereinbarung von März 1994547 und dem Europäischen Stabilitätspakts,548 stand nun für die Bundesregierung insbesondere die Umsetzung des in Brüssel aufgelegten Partnership for Peace-Programm der NATO auf der Agenda. Man vertrat die Auffassung, dass es ein strategischer Fehler sei, wenn die Allianz sich nur in den Kategorien der Verteidigung bewegte. Die NATO müsse Stabilität jetzt vielmehr „exportieren“, um nicht früher oder später selbst von externen Instabilitäten erfasst zu werden.549 Der Unterschied zur französischen Haltung lag offenkundig in der Bewertung der politischen Bedeutung der NATO. Paris zweifelte darüber, was die so gerühmte „strategische Bindung“, das Fundament der transatlantischen Schicksalsgemeinschaft noch wert sei – zumal die Amerikaner im Jugoslawien-Konflikt gezeigt hatten, dass sie in Zukunft nicht mehr automatisch in alle Europa betreffenden Krisen eingreifen würden. Pierre Lellouche veranlasste dies zu dem Schluss: „Praktisch aber steht Europa von nun an seinem Schicksal allein gegenüber.“550 Paris ging es mit Blick auf die gesamteuropäische Sicherheitslage um die Etablierung der Handlungsmaximen Integration und Kooperation, aber eben im europäischen und nicht im atlantischen Rahmen. Auch deswegen setzte man auf den Europäischen Stabilitätspakt, anlässlich dessen Pariser Eröffnungskonferenz am 27. Mai 1994 Helmut Kohl und Eduard Balladur erklärten, dessen Zielsetzung sei es, einen europäischen Rahmen für vertrauensvolle Verhandlungen zur Ausgestaltung eines gutnachbarschaftlichen Verhältnisses anzubieten. Der Stabilitätspakt sei eine erste Aktion im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland und Frankreich seien daher entschlossen, den „Pakt für Sicherheit und Stabilität in Europa“ zum Erfolg zu führen.551
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Vortrag von Verteidigungsminister Volker Rühe an der Universität Oxford am 19. Mai 1994, in: EA 1994, D443-448. Stuttgarter Zeitung 5. März 1994 „Militärische Einheiten sollen gemeinsam üben“. 548 Abgedruckt in: Frankreich-Info vom 23. März 1994. 549 Vortrag von Verteidigungsminister Rühe an der Universität Oxford am 19. Mai 1994, in: EA 1994, D443-448. 550 Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.70. 551 Vgl.: Europa-Archiv 1994, D407-408. 547
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Mehr noch aber als der Auftakt der Verhandlungen über den Stabilitätspakt gab das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zu möglichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr552 der französischen Seite Hoffnung, in absehbarer Zukunft eine auf eine einsatzbereite WEU abgestützte553 und damit eigenständige europäische Sicherheitsstruktur etablieren zu können. Das deutsche Verfassungsgericht hatte am 12. Juli festgestellt, dass der Einsatz der Bundeswehr auch außerhalb des NATO-Gebietes mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Diese Einsatzermächtigung umfasse auch friedensschaffende Kampfeinsätze. Der Beschluss hierzu liege als Exekutivmaßnahme bei der Bundesregierung, stehe aber unter Parlamentsvorbehalt. Deutschland war es mithin möglich, das gesamte, in den Petersberg-Aufgaben umrissene, militärische Einsatzspektrum der WEU zu erfüllen.554 Für die Bundesregierung bedeutete das Urteil die endgültige Absage an einen deutschen Sonderweg, da wie in anderen europäischen Ländern auch, Regierung und Parlament über militärische Kampfeinsätze entscheiden könnten.555 Dabei sei das Urteil, wie Verteidigungsminister Rühe feststellte, aber kein Marschbefehl für weltweite Einsätze. Für den Einsatz der Bundeswehr gäbe es keinerlei Automatismus.556 Allerdings sei der europäische Aspekt des Karlsruher Urteils bedeutsam. Es würde so ein ernsthaftes Hindernis für Deutschlands Bündnis- und Partnerschaftsfähigkeit in der Allianz, in der Europäischen Union und in der WEU beseitigt.557 Zwei Tage nach dem Verfassungsgerichtsurteil wurde auf der Pariser Champs Elysées die traditionelle Militärparade zum französischen Nationalfeiertag unter Beteiligung auch deutscher Verbände des Eurokorps abgehalten. Der deutsche Verteidigungsminister hatte am Vortag in einem Interview mit der Zeitung Le Figaro Frankreich als den natürlichen Partner seines Landes bezeichnet und erklärt: « Les intérêts profonds de l’Allemagne et de la France coïncident. »558 Die zentrale Rolle, die dem Eurokorps auf dem Weg zu einer europäischen Verteidigung nach dem Willen Frankreichs und Deutschlands zugewiesen war, schien sich zu bewahrheiten. Kohl und Mitterrand erklärten zu diesem Anlass, das Korps habe Modellcharakter für eine engere militärische Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten der WEU insgesamt.559 Mit der Parade deutscher Truppen auf den Champs Elysées erlebte die aus dem Elysée-Vertrag hervorgegangene deutsch-französische Zu552
BVerfGE 90,286 ff. Im Frühsommer 1994 war in Frankreich die Befürchtung aufgekommen, die WEU könne erneut zu einem bloßem« forum politique » degenerieren, so etwa: Le Figaro 13. Juni 1994 « Le vague à l’âme de l’UEO ». 554 Bis zu diesem Zeitpunkt war die Bundesregierung auf Basis eines Gutachtens für Bundessicherheitsrat aus dem Jahr 1982 davon ausgegangen, dass das Grundgesetz eine deutsche Beteiligung an VN-Operationen nicht decken würde. Siehe hierzu: Hacke, Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, S.391-392. 555 Erklärung der Bundesregierung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994, abgegeben vom Bundesminister des Auswärtigem vor dem Deutschen Bundestag am 22. Juli 1994, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Juli 1994. 556 Die Bundesregierung betonte, dass in jedem Einzelfall über eine militärische Beteiligung Deutschlands unter Abwägung der überkommenden Wertmaßstäbe, der deutschen Sicherheitsinteressen, der Risiken für die Soldaten und der historischen Verantwortung Deutschlands entschieden werden müsse; vgl.: Volker Rühe am 12. September 1994 vor dem Industrieclub Düsseldorf, in: Bulletin der Bundesregierung vom 22. September 1994. 557 Erklärung der Bundesregierung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994, abgegeben vom Bundesminister des Auswärtigem vor dem Deutschen Bundestag am 22. Juli 1994, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Juli 1994. 558 Le Figaro 13. Juli 1994 „Volker Rühe: « La France est notre partenaire naturel ». 559 Die Welt 12. Juli 1994 „Feinde von einst gemeinsam“¸ die selbe Zeitung sprach wenige Tage später auch von einer „Europäischen Revolution“; vgl.: Die Welt vom 20. Juli 1994 “Soldaten als Träger der europäischen Revolution“. 553
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sammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine ihrer Kulminationsstunden.560 Das Truppendefilee verdeutlichte zugleich auch das Spannungsfeld, in dem das Eurokorps stand: auf der einen Seite war es Symbol der deutsch-französischen Versöhnung und damit „Schauverband“561, zum anderen war es dazu vorgesehen, das „Exekutivorgan der WEU“ (General Helmut Willmann) zu werden und damit auch ein Versuch, die Militärkulturen beider Länder einander anzunähern.562 Die sich hieraus ergebenden Erschwernisse wurden von der französischen Seite dabei klarer gesehen als von ihrem deutschen Partner. So spielte der Versöhnungsaspekt zwar bei Mitterrand eine maßgebliche Rolle, 563 in der Regierung Balladur hingegen fokussierte man sich mehr und mehr auf den militärischen Nutzwert des Verbandes: „Lassen Sie uns das Eurokorps erst einmal zu einem Erfolg werden, das wäre schon viel.“564 Auch das Eurokorps sollte auf das Ziel ausgerichtet werden, aus der WEU eine echte „europäische Allianz“ (Balladur) zu machen, welche die Europäische Union in die Lage versetzte, selbst die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleisten.565 Widerspruch und Übereinstimmung zur deutschen Position, welche die NATO als einzig wirklich handlungsfähige Sicherheitsinstitution erachtete,566 lagen hier dicht beieinander: Übereinstimmung in der Beurteilung des bestehenden, starken Gefälles zwischen den militärischen Handlungsfähigkeiten der Allianz und denen der Europäer; Widerspruch aber gegen die deutsche Überzeugung, die Vereinigten Staaten seien selbst langfristig für die gesamteuropäische Stabilität gänzlich unverzichtbar. Auch aus diesem Widerspruch heraus brachte Balladur daher die Erstellung eines europäischen Verteidigungsweißbuchs ins Gespräch und setzte sich im zweiten Halbjahr 1994 verstärkt für die Errichtung einer europäischen Satellitenbeobachtungskapazität auf Basis des französischen Helios-Systems ein.567 Diese Initiative hatte, mit Blick auf die Atlantische Allianz, freilich enge Grenzen. Nach wie vor galt der Kurs des Staatspräsidenten, der, auch vor dem Hintergrund der NATO-Konferenz in Sevilla am 29./30. September 1994, an 560
Schon im Frühjahr 1994 hatte Bundesaußenminister ausgeführt: „[Deutschland und Frankreich, MK] verbindet die historische Erkenntnis: Zwei so große Nachbarstaaten im Herzen Europas können nur miteinander existieren.“ Alle Zukunftsfragen der Europäischen Union, so Kinkel weiter, ließen sich nur lösen, wenn Deutschland und Frankreich sie gemeinsam zu beantworten suchten. Rede von Klaus Kinkel vor dem Institut Français des Relations Internationales in Paris am 24. März 1994, in: Europa-Archiv 1994, D316-319. 561 So führte etwa Stanislaw Poniatowski, Sprecher der republikanischen Partei, am 14. Juli 1994 in einem Interview mit dem Fernsehsender RTL aus: „Ich bin für dieses Europäische Korps, doch würde ich es vorziehen, wenn man letzteres nicht nur einzig und allein bei Paraden einsetzte. Ich meine, ihm kommt ein anderer Verwendungszweck zu.“ Zitiert nach: Dokumente 1994, S.395 562 Helmut Neubauer, Die deutsch-französische Brigade – Vom politischen Symbol zum einsatzfähigen Großverband, in: Ernst Martin (Hrsg.), Eurokorps und Europäische Einigung, Bonn 1996, S.333-350, hier: S.348, bzw.: Stuttgarter Zeitung vom 24. September 1994 „Vom Schauverband zur Kampftruppe“. 563 Dieser spielte jedoch aufgrund seiner, sich im Verlauf des Jahres 1994 mehr und mehr bemerkbar machenden Krankheit, eine zunehmend zurückgezogene Rolle; hierzu: Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.55. 564 Eduard Balladur in seinem Interview mit Le Figaro vom 30. August 1994. 565 Ebenda. 566 Diese Haltung hatte Volker Rühe am 12. September 1994 vor dem Industrieclub Düsseldorf bekräftigt:„Die NATO ist unsere einzige wirklich handlungsfähige Sicherheitsinstitution. Sie ist die einzige internationale Organisation, die echte Sicherheitsgarantien geben kann.. […] Für die gesamteuropäische Stabilität und die strategische Balance ist Amerika unverzichtbar.“ Vgl.: Bulletin der Bundesregierung vom 22. September 1994. 567 Financial Times 9. September 1994 « Balladur details plans for tighter defence network ». in diesem Kontext brachte der französische Premierminister auch seine Hoffnung auf finanzielle Beteiligung des deutschen Partners zum Ausdruck.
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der erstmals seit fast 30 Jahren wieder ein französischer Verteidigungsminister teilnahm, die Rückkehr Frankreichs in die integrierten militärischen Strukturen der NATO strikt ablehnte.568 2.4 Welche Zielperspektive für die Europäische Union? Für nachhaltige Verstimmung im deutsch-französischen Verhältnis sorgte im Spätsommer 1994 jedoch das sog. „Schäuble-Lamers-Papier“.569 Veröffentlicht im Vorfeld des Wahlkampfes zur Wahl des 13. Deutschen Bundestages am 16. Oktober 1994, enthielt das von den CDU-Politikern Karl Lamers und Wolfgang Schäuble erarbeitete Papier Vorschläge, wie die Europäische Union angesichts der als notwendig bezeichneten Erweiterung gestaltet werden könnte, um ihre Handlungsfähigkeit zu wahren und eine Überdehnung ihrer Institutionen zu verhindern. Ansatzpunkt das Papiers war die Vertiefung der Integration des „Kerns“ der Union, der sich – nach Auffassung der Autoren – aus Deutschland und Frankreich sowie Belgien, den Niederlanden und Luxemburg zusammensetzte (S.5-6). Mit Blick auf die übrigen EU-Staaten bzw. die potenziellen Beitrittskandidaten sollte hingegen ein Konzept der „variablen Geometrie“, eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten angewandt werden, um das erwartete Dilemma zwischen Erweiterung und Vertiefung zu lösen (S.4-5). Hinsichtlich der im Vertrag von Maastricht projektierten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mahnte das Papier – auch vor dem Hintergrund der Kriege im früheren Jugoslawien – die Dringlichkeit entscheidender Schritte in Richtung auf eine gemeinsame europäische Verteidigung an (S.9). Neben der Erstellung eines „strategischen Konzepts“ für die EU (S.9) und der Einrichtung einer, mit weitreichenden Kompetenzen versehenen GASP-Planungszelle (S.10) sah das Schäuble-Lamers-Papier die enge Verflechtung von WEU und EU in Folge der für 1996 vorgesehenen Revisionskonferenz des EU-Vertrags vor. Es waren natürlich weniger diese Überlegungen zur GASP, die für Irritationen sorgten, als vielmehr die vorgeschlagenen, institutionellen Reformen, die für das identifizierte „Kerneuropa“ den Ausbau zu einem Bundesstaat vorsahen. Dies lehnte Frankreich entschieden ab. Eine Aufgabe staatlicher Souveränität kam nicht in Frage.570 Inhalt und Tonlage des deutschen Vorschlages ließen zudem vermuten, dass die überkommende Rollenverteilung im deutsch-französischen Zweibund, nach der Paris das Tempo bei den gemeinsamen Initiativen und Projekten vorgab, nicht mehr als unverrückbarer Lehrsatz galt. Er-
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Frankfurter Rundschau (FR) 10. September 1994 „Mitterrand bleibt auf Distanz zur NATO“. Bei dem Schriftsatz handelte es sich eigentlich um ein Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 1. September 1994 mit dem Titel „Überlegungen zur europäischen Politik“. Aufgrund der Tatsache, dass die beiden tragenden Autoren des Papiers, Wolfgang Schäuble und Karl Lamers, direkte Vertraute des deutschen Bundeskanzlers waren und der Aussagegehalt des Papiers damit eine bestimmte Qualität erhielt, wurde der Schriftsatz jedoch nahezu ausschließlich als „Schäuble-Lamers-Papier“ bezeichnet. Elektronisch abrufbar unter: www.cducsu.de/dokumente. 570 Der beigeordneter Minister für europäische Angelegenheiten Alain Lamassoure sprach wenige Wochen später gar von einer „Verletzung“ Frankreichs: „Die Beurteilung von Herrn Lamers, für den die Souveränität des nationalen Staates „…seit langem nur noch eine leere Hülse ist“, verletzt in Frankreich tief. Denn die Souveränität ist hier eine jahrhundertealte Idee, in der nicht nur die konkrete Staatsgewalt zum Ausdruck kommt, sondern auch die „Macht, Macht zuzuweisen.“ Lamassoure in seiner Ansprache vor der Europäischen Bewegung am 21. Dezember 1994, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 4. Januar 1995. 569
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schwerend trat hinzu, dass es sich bei beiden Politikern um Vertraute des deutschen Bundeskanzlers handelte. Der Grund für die französische Verstimmung über den deutschen Vorschlag war nach offizieller Lesart das französische Bestreben, Europa durch die Verstärkung der Konsultation und der Kooperation zusammenführen und nicht zu entzweien, wie dies Schäuble und Lamers noch lange unterstellt wurde.571 Diese Zusammenführung Europas sollte aber – und dies war die wesentliche Botschaft –nicht um den Preis des Verlustes der eigenen Unabhängigkeit und der hierauf fußenden Persönlichkeit des französischen Staates erkauft werden.572 Dieser war unverändert Hauptbezugsrahmen der französischen Europapolitik, seine Interessen der Maßstab oder, wie Balladur es formulierte: „Die Organisation Europas bedeutet für Frankreich ein zusätzliches Element der Stärke und des Einflusses.“ 573 Zudem hatte Eduard Balladur seinem Interview mit der Zeitung Le Figaro am 31. August 1994 eine eigene Vision zur zukünftigen Ausgestaltung der Europäischen Union umrissen: ein Europa der „Konzentrischen Kreise“. Auch der französische Premierminister ging dabei von einem Europa der variablen Geometrie und der unterschiedlichen Geschwindigkeiten aus. Daher sollte sich die europäische Zusammenarbeit in konzentrischen Kreisen organisieren deren äußerster und damit lockerster Kreis die EU und Staaten, wie die südlichen Mittelmeeranrainer oder die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) umfassen sollte. Mithin war eine enge Kooperation zwar erstrebenswert, eine Einbindung von Integrationsstrukturen der EU aber nicht vorgesehen. Einem engeren Kreis sollten die potenziellen Beitrittskandidaten angehören. Den engsten Kreise bildeten dann – laut Balladurs Vorstellung – die bestehenden Mitgliedstaaten der EU, die jedoch nicht ein bundesstaatlich organisiertes „Kerneuropa“ darstellten, sondern, je nach Politikfeld und bilateraler Kooperationsdichte, mehrere „noyaux durs“ (harte Kerne) formten. Auch der engste Kreis war folglich von einer variablen Geometrie geprägt, wobei Deutschland und Frankreich als „noyau central efficace“ erachtete wurden, der an allen „noyaux durs“ beteiligt sei. 574 Mit Blick auf die GASP stimmte Balladur in nahezu allen Punkten zwar stillschweigend mit den Vorschlägen von Schäuble und Lamers überein, forderte aber mit Blick auf die europäische Verteidigungskooperation: „Der militärische Kreis zum Beispiel täte gut daran, Großbritannien, Italien und Spanien zu umfassen.“ 575 Auf dem am Vorabend der informellen NATO-Herbsttagung der Verteidigungsminister im spanischen Sevilla ebenfalls dort stattfindenden WEU-Ministerrats vom 29. September 1994 brachten die WEU-Staaten ihre Zufriedenheit über den Abschluss des sowjetischen/russischen Truppenabzugs aus Deutschland zum 31. August 1994 zum Ausdruck.576 Begrüßt wurde auch die Übereinkunft der Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen vom 15. September 1994, den Ausbau ihrer trilateralen militärischen Kooperation zu 571
So etwa auch noch rund zwei Jahre später der französische Außenminister Herve de Charette in seiner Berliner Rede über die deutsch-französischen Beziehungen am 7. Oktober 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 16. Oktober 1996, S. 3, S.8; Dabei belegte der Umstand, dass die französische Reaktion auf das SchäubleLamers-Papier ausschließlich durch die Kohabitationsregierung formuliert wurde, deutlich den Rückzug Mitterrands in wesentlichen Gestaltungsfragen der Europapolitik. 572 Edouard Balladur am 30. November 1994 in Le Monde. 573 Ebenda. 574 Vgl. hierzu auch: Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.131. 575 Edouard Balladur am 30. November 1994 in Le Monde. 576 Der sowjetisch-russischen Seite wurde zur Erfüllung dieses Unterfangens von Deutschland über den Zeitraum 1990-1994 ein Betrag voin insgesamt rund 12 Milliarden DM zugesagt, wovon rund 7,8 Mrd. DM für Wohnungsbaumaßnahmen in Russland vorgesehen war.
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stärken und die Rüstungskontrolle zu intensivieren.577 Wesentliches Ergebnis war aber die förmliche Beitrittserklärung Spaniens zum Eurokorps.578 Spanien, das ähnlich wie Frankreich nicht Teil der integrierten Militärstrukturen der NATO war, unterzeichnete am Folgetag im Umfeld der NATO-Herbsttagung eine gesonderte Erklärung zum SACEURAbkommen vom 21. Januar 1993, um die Übernahme aller mit dem Beitritt verbundenen Verpflichtungen gegenüber der Atlantischen Allianz zu bestätigen. Das Treffen der NATOVerteidigungsminister am 29./30. September 1994 stand ganz unter dem Vorzeichen der erstmaligen Teilnahme eines französischen Vertreters seit dem Ausscheren Frankreichs im Jahr 1966. Von Seiten der politischen Führung Frankreichs bemühte man sich darum, die Bedeutung dieses Schrittes zu relativieren. Hauptmotiv sei Frankreichs Interesse, bei dem laufenden NATO-Reformprozess ein gewichtiges Wort mitzureden. Überhaupt, so ließ das Hôtel Matignon verlauten, würde Washington sein Engagement in Europa mittelfristig verringern und die Europäer daher stärkere Gestaltungsmöglichkeiten erhalten. Der Platz Frankreichs sei im Zentrum dieser Veränderungen.579 Seine Regierung habe gezeigt – so die schon merklich vom anstehenden Präsidentschaftswahlkampf 1995 geprägte Einschätzung Edouard Balladurs – dass Europa den Interessen Frankreichs nützlich sein kann, wenn dieses seinen politischen Willen eindeutig formuliere. Die europäische Ordnung sei folglich eine „ergänzende Möglichkeit“, Macht und Einfluss auszuüben.580 Mit Blick auf die integrierten Strukturen der Allianz betonte Verteidigungsminister Léotard in Sevilla, von einer veränderten französischen Haltung könne keine Rede sein. Auch künftig werde er nur „von Fall zu Fall“ bei den Tagungen der NATO-Verteidigungsminister zugegen sein – vor allem dann, wenn französische Streitkräfte von Entscheidungen der Allianz direkt betroffen seien oder die eigenen Sicherheitsinteressen auf dem Spiel ständen.581 Beherrschendes Thema des auf Europa zentrierten sicherheitspolitischen Diskurses wurde aber mehr und mehr die Vorbereitung der Revision des EU-Vertrags auf den ab 1996 einsetzenden Verhandlungen zur Maastricht-Folgekonferenz. Schon das Schäuble-LamersPapiers und Balladurs Entwurf eines Europas der „Konzentrischen Kreise“ hatten den Schluss nahe gelegt, dass für die eigenständige Verteidigung der Europäer die „Stunde der Wahrheit“ 582 anstand: „In Wirklichkeit muß der Vertrag von 1996 für die Außen- und Sicherheitspolitik das sein, was der Vertrag von 1992 für die Währungsunion war, das heißt, er muß über den bloßen Grundsatz hinaus ein Ziel, einen Zeitplan und ein Entscheidungssystem festlegen und die geeigneten Orga577
Erklärung der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens über ihre Treffen in Bamberg am 15. September 1994; in: Bulletin der Bundesregierung vom 20. September 1994. 578 Vorausgegangen war ein Beschluss des Spanischen Ministerrats über den Beitritt vom 1. Juli 1994. 579 Die Welt vom 1. Oktober 1994 „Frankreich engagiert sich stärker in der NATO“. Zur französischen Einschätzung der Europapolitik der Regierung Clinton vgl. auch: François Géré, De la « nouvelle stratégie » de Bush à la « diplomatie totale » de Clinton, in: Défense Nationale 6/1993, S.27-36. 580 Premierminister Edouard Balladur in seinem Interview mit Le Monde vom 30. November 1994, zitiert nach: Dokumente 1994, S.493. 581 Bezeichnend war, dass der französische Generalstabschef nicht an der Zusammenkunft teilnehmen dürfte; gleichwohl sprach Bundesverteidigungsminister Rühe mit Blick auf Léotards Teilnahme von einem historischen Treffen. siehe auch: FAZ vom 30. September 1994 „Frankreich nähert sich unübersehbar der NATO“. 582 So mahnte etwa Enrique Baron, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, Anfang November 1994: « La grande question qui se pose maintenant, vu le grand débat sur la Conférence intergouvernementale de 1996 pour réviser et mettre l’union à jour, est de savoir si le moment est venu de définir une politique de défense commune », .Le Figaro 3. November 1994 « Europe: défense, l’heure de vérité » ; auch : NZZ 4. November 1994 „Widersprüche in Europas Sicherheitssystem“, Namensbeitrag von Michael Stürmer.
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Impulsgeber für die Weiterentwicklung von NATO und EU ne definieren, damit wir gemeinsame Aktionen in die Wege leiten und deren Durchführung überwachen können.“583
In diesem Zusammenhang ist auch die „Noorwijk-Erklärung“ der Westeuropäischen Union vom 14. November 1994 zu sehen. In ihr definierte die WEU ihre Kriterien und Modalitäten für die effektive Nutzung des von der NATO entwickelten Konzepts Alliierter Streitkräftekommandos (CJTF).584 Es wurde bestätigt, dass diese von der NATO und der WEU gleichermaßen genutzt werden sollten, um die beiderseitige Zusammenarbeit zu verbessern. WEU-Operationen sollten damit erheblich beschleunigt und kostengünstiger ausgeführt werden können. Mit Zufriedenheit konstatierte der Ministerrat von Noorwijk, „…daß detaillierte Vorkehrungen für eine enge Zusammenarbeit zwischen WEU-Sekretariat und dem EU-Ratssekretariat getroffen und die Modalitäten für den Austausch von Informationen […] vereinbart worden sind.“ Ziel der WEU-Minister sei es, mit Blick auf die EURegierungskonferenz 1996, nunmehr die im Maastrichter Vertrag vorgesehene Anlehnung der WEU an die EU voranzubringen.585 Nach wie vor offen war allerdings, ob die Westeuropäische Union ihre eigene operative Rolle nicht trotzdem unabhängig weiterentwickeln würde. Die Parlamentarische Versammlung der WEU sprach sich daher auf ihrer Herbsttagung Ende November/Anfang Dezember 1994 für noch weiterführende Schritte aus. In der Empfehlung 566 der Versammlung vom 1. Dezember 1994 schlug diese dem Ministerrat u.a. vor, (1.) die Rolle des Generalsekretärs in der Form zu stärken, dass die Verantwortlichkeiten der WEU im Vergleich zu jenen der EU und der NATO klar definiert werden; (2.) die operative Rolle der Planungsstelle zu stärken; (3.) eine schnell einsetzbare multinationale europäische Einheit für humanitäre Interventionen aufzustellen; (4.) die Erstellung eines Weißbuches über die europäische Sicherheit voranzutreiben, und (5.) die Schaffung einer Europäischen Rüstungsbehörde zu beschleunigen.586 Dabei müsse die unternommene Stärkung der WEU „…teilweise ihre Grundlage in der NATO“ haben. Diese könne aber „…nicht eine gescheiterte NATO ersetzen“587 Dieses Spannungsfeld war vor allem für die französische Position zur WEU charakteristisch. Während Bonn eigentlich von Anfang an die Wiederbelebung der WEU in Ergänzung zum Atlantischen Bündnis gesehen hatte, tat sich die französische Führung unverändert schwer damit, die Gewichtsverteilung zwischen WEU und NATO zu definieren. Da half es wenig, die Gefechtsstandübungen mit beiden Organisationen zu intensivieren,588 wenn man gleichzeitig Besorgnis über die Umsetzung gemeinsamer Beschlüsse kundtat.589 583
Alain Lamassoure, Minister für europäische Angelegenheiten am 7. Dezember 1994 in der FAZ. „Noorwijk-Erklärung“ der Westeuropäischen Union vom 14. November 1994, in: Internationale Politik 2/1995, S.76-82. 585 Dabei wurde auch die Rolle der KSZE in der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur betont; NoorwijkErklärung der Westeuropäischen Union vom 14. November 1994, in: Internationale Politik 2/1995, S.76-82; siehe in diesem Zusammenhang auch das Budapester Dokument der KSZE mit dem Titel „Der Weg zu echter Partnerschaft in einem neuen Zeitalter“, veröffentlicht nach dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE am 5./6. Dezember 1994 in Budapest; in: Bulletin der Bundesregierung vom 23. Dezember 1994. 586 „Empfehlung 566“ über eine europäische Verteidigungspolitik der Versammlung der WEU vom 1. Dezember 1994, in: Internationale Politik 2/1995, S.103-105. 587 Vgl.: Das Parlament vom 2. Dezember 1994 „Als Instrument ausbauen“. 588 Le Monde 19. November 1994 « La France multiplie les exercices d’état-major avec l’OTAN et l’UEO ». 589 Siehe: Stuttgarter Zeitung 22. November 1994 „Balladur gegen rasche Erweiterung der NATO“. 584
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Hinter diesen diplomatischen Rochaden steckte allerdings zu guten Teilen auch schon der französische Vorwahlkampf.590 Unverrückbar schienen im Dezember 1994 lediglich die anstehenden Hauptaufgaben der Europäischen Union. Diese waren nach Frankreichs Europaminister Alain Lamassoure:
die Erweiterung der Union nach Mittel- und Osteuropa; die Notwendigkeit, die europäischen Institutionen an die doppelte Entwicklung der Erweiterung und Vertiefung anzupassen; die Vertiefung der Union insbesondere im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.591
Dabei fehlte, so Lamassoure, mit Blick auf die GASP vor allem (I.) ein Entscheidungssystem; (II.) ein gemeinsames Gremium, welches für die GASP jene Rolle übernähme, die die Kommission für die EU-interne Politik spiele und schließlich (III.) ein einsatzfähiges militärisches Instrument.592 2.5 Die Dringlichkeit einer europäischen Sicherheitsstruktur Anfang 1995 bezeichnete der französische Verteidigungsminister François Léotard das eben begonnene Jahr als entscheidend für die weitere Entwicklung der europäischen Verteidigung. Zusammen mit dem deutschen Partner sei es nun unabdingbar, die auf diesem Feld begonnenen gemeinsamen Initiativen konsequent weiter zu führen.593 Außenminister Alain Juppé sprach anlässlich des 20jährigen Bestehens des Planungsstabes beim Quai d’Orsay ebenfalls von der Dringlichkeit entscheidender Schritte in Richtung einer europäischen Verteidigung: „Es steht fest, daß Europa zur Unterstützung seiner politischen Initiativen über eine militärische Kapazität verfügen muß. Das Beispiel Jugoslawien zeigt, daß Europa zwar eine gemeinsame politische Linie, den Willen zum gemeinsamen Handeln braucht, aber ebenso eine „kritische Masse“ auf militärischer Ebene, die ohne Deutschland und Italien schwer zu erreichen sein wird.“594
Die Vereinigten Staaten müssten sich, so Juppé weiter, daran gewöhnen, Europa als „echten Partner“ zu betrachten. Dies gelte insbesondere dann, wenn diese sich in Krisen nicht militärisch engagieren würden. In dieser Forderung nach einer „echten“ Partnerschaft lässt sich deutlich die Akzentverschiebung ablesen, die sich innerhalb der französischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik seit dem Beginn der zweiten cohabitation-Regierung im Jahr 1993 vollzogen hatte. War es zuvor noch Mitterrands vorrangiges Bestreben gewesen, Eu590
Sogar das, zuvor schon mehrfach von französischer Seite negativ beschiedene, Konzept einer « armée européenne » bemüht; Le Monde 9. Dezember 1994 « M. Balladur propose la construction d’une « armée européenne » » 591 Alain Lamassoure, Beigeordneter Minister für europäische Angelegenheiten, in seiner Ansprache vor der Europäischen Bewegung am 21. Dezember 1994, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 4. Januar 1995. 592 So sei Europa in Bosnien zwar in der Lage gewesen, den Friedensplan zu erarbeiten, hätte diesen, in Ermangelung eines geeigneten „militärischen Werkzeugs“, nicht vor Ort umsetzen können. 593 Le Figaro 8. Januar 1995 « François Léotard célèbre la défense européenne ». 594 Alain Juppé in seiner Rede zum 20jährigen Bestehen des Planungsstabes beim französischen Außenministerium am 30. Januar 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 21. Februar 1995.
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ropas und damit ja mittelbar auch Frankreichs Verteidigung gänzlich unabhängig von der Atlantischen Allianz zu organisieren, ging es nun darum, Europas Stellung innerhalb der Allianz entscheidend aufzuwerten. Auch dadurch – so die entscheidende Einsicht – ließ sich Frankreichs Einfluss mehren. Diese Stoßrichtung hatten dann auch die Forderungen Edouard Balladurs, gemeinsame Regeln für europäische Einsätze und Mittel für humanitäre und friedenserhaltende Operationen „…in erster Linie auf unserem Kontinent“595 aufzustellen. Nur wenn die Europäer ihre Militärpotenziale umstrukturierten und sie den neuen Einsatzszenarien anpassten, war (Kontinental-)Europa in der Lage, das nötige Gewicht zu erlangen, um den angloamerikanischen Block in der Allianz auszutarieren. Dies erklärt den erheblichen Bedeutungszuwachs, den vor allem die WEU in der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Mitte der 1990er Jahre erfuhr. Während Deutschland – primär mit Blick auf die Fortentwicklung des Maastrichter Vertragswerks – die Umstrukturierung der Westeuropäischen Union vorantrieb, spielte in Frankreichs WEU-Politik immer auch die so möglich werdende Relativierung der Bedeutung der NATO eine Rolle. Man sah sich in diesem Sinne auf einem gutem Wege, als der WEU-Ministerrats auf seiner Tagung in Lissabon am 15. Mai 1995 weitere Initiativen zum Aufbau eigenständiger europäischer Militärkapazitäten beschloss.596 Vorangegangen war die Entscheidung Spaniens und Italiens, zusammen mit Frankreich eine Kooperation bestimmter Heeres- sowie bestimmter Marineverbände einzugehen. Der Impuls zur Bildung dieser Verbände war Ende 1993 vom Elysée-Palast ausgegangen. Die zunächst trilateral-integrierten Verbände mit dem Titel „European Force/EUROFOR“ für den Heeresverband und „European Maritime Force/EUROMARFOR“ für den Marineverband sollten allen WEU-Mitgliedstaaten zur Teilnahme offen stehen. Die in Lissabon unterzeichneten Grundlagendokumente, die dem Grundschema der entsprechenden Vereinbarungen für das Eurokorps folgten,597 deklarierten beide Militärverbände als Bestandteil des FAWEU-Konzepts.598 Als Operationsgebiet war in erster Linie der Mittelmeerraum vorgesehen.599 Schwerpunkt der WEU-Verhandlungen in Lissabon war aber die von Paris seit Mitte 1992 geforderte Verbesserung der Kommunikationssysteme und die Modernisierung der Aufklärungskapazität der WEU – ein Punkt den nunmehr auch die deutsche Seite als wesentlich erachtete.600 Insbesondere galt dies für die Benennung derjenigen Mittel, welche die WEU im Zusammenspiel mit der NATO benötigte, um Operationen eigenständig 595
FR 14. Februar 1995 „Balladur ruft nach humanitären Euro-Korps“. Kommuniqué der Tagung des Ministerrats der WEU in Lissabon am 15. Mai 1995, in: Internationale Politik 8/1995, S.97-104. 597 Rosenberger, Deutsch-Französische Sicherheitspartnerschaft, S.201-205 mit entsprechenden Belegstellen. 598 Am 15. Mai 1995 erklärte auch Portugal seinen Beitritt zur „EUROFOR“ und zur „EUROMARFOR“. 599 Während für die „EUROMARFOR“ keine eigenen Kommandostrukturen beschlossen wurden, war für den Heeresverband die Aufstellung eines multinationalen Stabes in Florenz vorgesehen, der noch am 1. Oktober 1995 seine Arbeit aufnehmen und bis Oktober 1996 seine Funktionsfähigkeit sicherstellen sollte. Dieser Zielhorizont, der sich augenscheinlich am Datum der Maastricht-Folgekonferenz der EU orientierte, galt auch für den Abschuss der Arbeiten der EUROMARFOR-Planungszelle, der ebenfalls für den Oktober 1996 vorgesehen wurde. Insgesamt sollte „EUROFOR“ etwa 10.000 Mann umfassen, wobei jedes Teilnehmerland dem Verband Kräfte in der Größenordnung einer Brigade zuordnen sollte. Siehe auch die Kommentierung in : Le Monde 17. Mai 1995 « L’Europe renforce sa capacité opérationelle de défense ». 600 Vorangegangen war die, sich in Jugoslawien erneut bewahrheitete, Erkenntnis, dass eine frühzeitige und zuverlässige Lageinformation die Voraussetzung für die Bewältigung internationaler Krisen ist; vgl. hierzu die Ausführungen von Bundesaußenminister Kinkel vor Parlamentarischen Versammlung der WEU am 19. Juni 1995 in Paris, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Juni 1995. 596
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durchführen zu können.601 Zu diesem Zweck wurde beschlossen, die bisher provisorisch funktionierende Anlage für den Empfang und die Auswertung von Satellitenphotos im spanischen Torrejon in eine dauerhafte WEU-Station umzuwandeln, Kommunikationssysteme zu harmonisieren und die Möglichkeit einer eigenen WEU-Weltraumaufklärung zu prüfen.602 2.6 Präsidentenwahl und Strategiekorrektur Die Zäsur des Jahres 1995 ist die Wahl des französischen Staatspräsidenten am 7. Mai, bei der Jacques Chirac, Kandidat des gaullistischen Rassemblement pour la Rèpublique (RPR), mit 52,6% der Stimmen gegen den Kandidaten der Parti Socialiste (PS), Lionel Jospin (47,3%) gewann. Mit Blick auf die deutsch-französische Kooperation in der Sicherheitsund Verteidigungspolitik war schon zuvor deutlich geworden, dass diese mit dem Wechsel im Amt des Staatspräsidenten ebenfalls Änderungen unterworfen sein würde. Anders als Mitterrand, der in einer seiner letzten Reden als Präsident erklärt hatte: „Die europäische Politik wird nach mir fortgeführt, so wie sie vor mir begonnen hat, vielleicht nicht auf dieselbe Art, aber schließlich verpflichtet die Geschichte, die Geschichte befiehlt und wird immer da sein, um die anderen daran zu erinnern,“603
ging es seinem Nachfolger weniger um die Last der europäischen Geschichte604 denn um die praktische Durchführbarkeit der französischen Außen- und Sicherheitspolitik. Chirac hatte sich im Wahlkampf mehrfach und explizit zum erreichten acquis in der deutschfranzösischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bekannt, diese aber nie als Selbstzweck verstanden.605 Die Zusammenarbeit in diesem Bereich, die – koordiniert durch den DeutschFranzösischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat – neben den gemeinsamen Einheiten, wie dem Eurokorps, auch nahezu den gesamten rüstungspolitischen Entscheidungsprozess abbildete, waren für Chirac vielmehr eine Vorwegnahme der Instrumente der zukünftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer. Dabei war gerade mit Blick auf die gemeinsamen deutsch-französischen Militäreinheiten augenscheinlich, dass diese nur bedingt einsatzfähig waren, zumal wenn sie nicht, wie im CJTF-Konzept vorgesehen, auf kollektive NATO-Ressourcen zurückgreifen konnten. Zwar machte die Entwicklung gerade des Eurokorps gute Fortschritte, was seinen Ausdruck auch in dem am 6. Mai 1995 formu601
Kommuniqué der Tagung des Ministerrats der WEU in Lissabon am 15. Mai 1995, in: Internationale Politik 8/1995, S.97-104. 602 NZZ 16. Mai 1995 „Verbesserte Einsatzbereitschaft der WEU“. 603 Mitterrand in seiner Ansprache anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Europa am 8. Mai 1995 in Berlin, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 10. Mai 1995. 604 Zur europapolitischen Grundhaltung Jacques Chiracs vgl.: Goulard, Europapolitik und öffentliche Debatte in Frankreich, S.5-6. 605 So stellte Chirac sie zumeist in die Perspektive einer europäischen Schnellen Eingreiftruppe; vgl. exemplarisch : Jacques Chirac am 16. März 1995 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Paris, in: Internationale Politik 9/1995, S.80-82. In diesen Kontext ist zu erwähnen, dass Helmut Kohl zunächst mit anderen Präsidentschaftskandidaten, wie Jacques Delors oder Edouard Balladur, sympathisiert hatte und sich erst relativ spät im Wahlkampf mit Chirac arrangierte; vgl.: Hans Stark, Frankreich-Deutschland – die schwierige „relance“, in: Dokumente 1999, S.184-192, hier: S.181.
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lierten Beitrittswunsch Luxemburgs fand,606 doch hemmten nicht nur juristische Probleme, wie etwa die Frage nach der Rechtsstellung des Hauptquartiers des Eurokorps in Straßburg und der ihm permanent unterstellten Korpstruppen,607 maßgeblich die Herausbildung belastbarer Strukturen. Entscheidendes Hemmnis war aus französischer Sicht das sich verstetigende Festhalten der deutschen Seite an einer Einbettung der bilateralen Kooperation in den Rahmen der Atlantischen Allianz. So ordnete etwa der Kommandierende General des Eurokorps, der deutsche Generalleutnant Helmut Willmann, das allgemeine Rollenverständnis des Korps explizit in den Kontext der NATO-Strategie ein. Der Großverband sei, so Willmann, nicht der Kern einer künftigen europäischen Armee, sondern ein Baustein in einer späteren europäischen Verteidigungsstruktur.608 Die hierin zum Ausdruck kommende Ablehnung eines europäischen Alleingangs stand jedoch nicht mehr gänzlich im diametralen Gegensatz zu den französischen Ambitionen. Schon der von der Regierung Balladur begonnene Prozess des französischen rapprochement an die NATO in den Jahren 1993-1995, insbesondere die Teilnahme von französischen Delegationen an Sitzungen des NATO-Militärausschusses oder schließlich des französischen Verteidigungsministers am NATO-Rat, hatte in eine ähnliche Richtung gedeutet. Anders als sein Vorgänger Mitterrand, der Frankreichs „rang“ innerhalb des Atlantischen Bündnisses unverändert in seiner Exklusivität, in seiner Ausnahmestellung begründet sah, war Jacques Chirac hier eher zu Konzessionen bereit, zumal ja seit dem Brüsseler NATO-Gipfel vom Januar 1994 feststand, dass Europas Verteidigung in enger Anlehnung an die NATO entwickelt werden sollte. All dies fußte auf der Grundüberzeugung, die Martine Aubry im Mai 1995 exemplarisch formulierte: « La France ne peut construire seule sa défense ».609 Zwar galt es nach wie vor, wie der neue Premierminister Alain Juppé in seiner Regierungserklärung am 23. Mai 1995 ausführte, Frankreichs Bestimmung als Weltmacht zu bekräftigen. Doch genau dieses „…Festhalten an der Bestimmung Frankreichs führt auch dazu, […dass wir, MK] ein in sich abschottendes Verteidigungsmodell ablehnen. Im Hinblick darauf müssen wir unsere Mittel an die neuen strategischen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen.“610 Dieses Bekenntnis richtete sich in erster Linie natürlich an den Aufbau des „Europas der Verteidigung“, aber – und dies war eine wesentliche Paradigmenverschiebung611 – 606
Der offizielle Beitritt erfolgte am 7. Mai 1996. Zuvor waren am 6. und 9. September 1995 der NATO-Rat und der Rat der WEU unterrichtet worden und der formelle Antrag auf Aufnahme einer integrierten Aufklärungskompanie in die bestehende belgische mechanisierte Division des Eurokorps am 9. September 1995 in gleich lautenden Schreiben an die Außen- und Verteidigungsminister der bisherigen Teilnehmerstaaten durch das Großherzogtum Luxemburg gestellt worden. 607 Vgl. hierzu: Wassenberg, Eurokorps, S.214. 608 NZZ 13./ 14. Mai 1995 „Gespräch mit General Willmann: Breites Aufgabenspektrum des Eurokorps“. 609 Vgl.: Le Monde vom 22. Mai 1995. 610 Premierminister Alain Juppé in seiner Regierungserklärung am 23. Mai 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 29. Mai 1995. 611 Hierzu muss erwähnt sein, dass auch François Mitterrand die Atlantische Allianz nie als gänzlich obsolet betrachtete und sich gar eine stärkere Beteiligung seines Landes in ihr vorstellen konnte, wenn sich diese verändern würde. So hatte etwa der Vertraute Mitterrands, Außenminister Dumas, bei seinem Besuch in Washington 1992 erklärt: „Frankreich ist Mitglied der Atlantischen Allianz. Es hat nie, weder direkt noch indirekt, den Wunsch oder den Willen geäußert, sich daraus zurückzuziehen. Es erkennt also ihre Zweckmäßigkeit an, aber es will wissen, wozu sie dient. Und deshalb erklären wir unseren amerikanischen Freunden, daß man in dem Augenblick, wo man die „NATO II“ zum Leben erwecken will, auch Europa erblühen lassen sollte, ohne sich vorzustellen, daß es der NATO schaden könnte.“ Vgl.: Pressekonferenz des französischen Außenministers Roland Dumas in Washington am 11. Mai 1992, abgedruckt in Frankreich-Info vom 19. Mai 1992. Allerdings
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auch an die Atlantische Allianz, die man in Paris nunmehr als das wesentliche und dauerhafte Band der Solidarität zwischen Amerika und Europa verstanden wissen wollte.612 Dies bedeutete freilich nicht, dass Jacques Chirac sich anschickte, das Erbe de Gaulles, jene verteidigungspolitische Balance zwischen Autonomie und Kooperation, aufzugeben, die der General nach seinem Amtsantritt 1959 wir folgt definiert hatte: « Il faut que la défense de la France soit française. (…) Un pays comme la France, s’il lui arrive de faire la guerre, il faut que ce soit sa guerre. Il faut que son effort soit son effort. S’il en était autrement, notre pays serait en contradiction avec tout ce qu’il est depuis ses origines, avec son rôle, avec l’estime qu’il a de lui même, avec son âme. Naturallement, la défense françaises serait, le cas échéant, conjugée avec celle d’autres pays. Cela est dans la nature des choses. Mais il est indispensable qu’elle nous soit popre, que la France se défende par elle-même, pour ellemême et à sa façcon. »613
Aber: Wie konnten die von Charles de Gaulle formulierten sicherheitspolitischen Leitlinien der nationalen Souveränität auf der einen und der Suche nach einer bedeutenden Rolle in der Staatenwelt auf der anderen Seite im Jahr 1995 zufriedenstellend miteinander vereinbart werden? Jacques Chiracs Sonderbeauftragter für Sicherheits- und Verteidigungsfragen und zugleich Verteidigungspolitischer Sprecher der RPR, Pierre Lellouche mahnte an, die europäische Verteidigung benötige mit Blick auf die näher rückende Regierungskonferenz der Europäischen Union zur Reform des Maastricht-Vertrages einen neuen Impuls.614 Die Wechselwirkung zwischen Europäischer Union und Atlantischer Allianz müsse nunmehr die konzeptionellen Vorüberlegungen hinter sich lassen und in ein konkretes Stadium eintreten. Es sei dabei ein vitales Interesse Europas, eine möglichst intensive Bündnisbeziehung zu den Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten. Als Konsequenz aus den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen sei ferner der Aufbau einer rein europäischen Befehlskette im Rahmen der WEU und der Institutionen der Europäischen Union (z.B. europäischer Sicherheitsrat) unabdingbar.615 Dies traf auch bei dem Partner Deutschland auf Zustimmung, dessen Position Bundesverteidigungsminister Rühe auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 1995 wie folgt umriss: „Künftig sollten Europa und Amerika ihre außen- und sicherheitspolitischen Strategien umfassender koordinieren, als es die bisherige, auf Europa fokussierte Sicherheitskooperation im NATO-Rahmen zuließ.“616 Dabei sollte die „transatlantische Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft“ mehr sein, als die Summe aus NATO und einem europäisch-amerikanischen Prosperitätsraum, sondern vielmehr den Kern und die treibende Kraft einer nördlichen Stabilitätszone bilden, die Nordamerika, die Europäische Union und Russland in eine neue kooperative Balance führen könnte.617 Es war ein in sich logischer Schluss, wenn die deutsche Seite betonte, war Mitterrand bezüglich der Wandlungsfähigkeit der Allianz, insbesondere in Hinblick auf die Abmilderung des amerikanischen Einfluss äußerst skeptisch. 612 Vgl. die Regierungserklärung von Premierminister Alain Juppé am 23. Mai 1995, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 29. Mai 1995. 613 Charles de Gaulle, Rede vor der Ecole militaire am 3. November 1959, zitiert nach: Sauder, Souveränität und Integration, S.184. 614 Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.75. 615 Ebenda, S.71-72. 616 Volker Rühe vor der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 4. Februar 1995, in: Bulletin der Bundesregierung vom 6. Februar 1995. 617 Ebenda.
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Atlantische Allianz und Westeuropäische Union seien keine alternativen Optionen, Sicherheitsverpflichtungen durch die Hintertür nicht akzeptabel und die Kongruenz der Mitgliedschaften in NATO und WEU das Ziel deutscher Sicherheitspolitik.618 Auch daher begrüßte man in Bonn das Kommuniqué des WEU-Ministerrats von Lissabon, in dem die Weiterentwicklung des institutionellen Dialog zwischen der WEU und der NATO noch einmal förmlich erklärt festgeschrieben wurde.619 Allerdings lässt es sich nicht übersehen, dass es der deutschen Seite und hier namentlich Bundeskanzler Helmut Kohl mehr und mehr darum ging, das Projekt der europäischen Verteidigung als Überwindung der überkommenden, nationalstaatlich organisierten Sicherheitspolitik Europas und damit als supranational verstanden zu wissen.620 Dies stand jedoch in diametraler Ausrichtung zur Prioritätensetzung des neuen französischen Staatspräsidenten. Chirac strebte die Aufwertung des intergouvernementalen Prinzips der Europäischen Union an, indem er eine Aufwertung des Europäischen Rates gegenüber der Kommission und die Einbeziehung der nationalen Parlamente in europapolitische Entscheidungsprozesse forderte.621 Gleiches galt für die militärstrategischen Planungen Frankreichs. Hier müsste ein Mischverhältnis zwischen der Prioritätensetzung der eigenen Autonomiefähigkeit und der Kooperation mit den Verbündeten gefunden werden. Schwerpunkt auf letztgenanntem Feld war die seit dem Sommer 1994 konkret angedachte Intensivierung der europäischen Rüstungszusammenarbeit. Diesem Bestreben wurde sowohl aufgrund des eigenen Drängens hin auf eine supranationale Verteidigungsorganisation, als auch vor dem Hintergrund haushaltspolitischer Zwänge von Bonner Seite gerne entsprochen. Außenminister Klaus Kinkel formulierte vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU: „Eine gemeinsame Sicherheitspolitik verlangt eine ausreichende verteidigungsindustrielle Basis.“622 Diese sollte allerdings nicht nur ein europäisches System von Aufklärungssatelliten umfassen.623 Deutschland und Frankreich verständigten sich im Frühsommer 1995 auch darauf, gemeinsam ein militärisches Transportflugzeug zu entwickeln,
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Vgl. die Ausführungen von Volker Rühe auf dem Frühjahrstreffen der Nordatlantischen Versammlung am 29. Mai 1995 in Budapest, in: Bulletin der Bundesregierung vom 2. Juni 1995. Dies stand in engem Zusammenhang mit den, von der Bundesregierung entwickelten Grundsätzen für die strategische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, die Volker Rühe wenige Tage zuvor in Bonn vorgestellt hatte: „(I.) Kein Mitglied der Union kann sich alleine verteidigen; (II.) die Sicherheit Europas ist unteilbar; (III.) Europa muss gleichberechtigter Partner Nordamerikas werden; (IV.) europäische strategische Handlungsfähigkeit ergänzt die Atlantische Allianz, kann sie aber nicht ersetzen; (V.) atlantische und europäische Sicherheit müssen sich derselben Strukturen bedienen.“ Vgl.: Volker Rühe am 11. Mai 1995 in Bonn, in: Internationale Politik 8/1995, S.91-97, hier: S. 93; siehe auch: Anne-Marie le Gloannec, L’Allemange, l’Europe et la sécurité, in: Défense Nationale 7/1996, S.37-42, hier: S.41. 619 Kommuniqué der Tagung des Ministerrats der WEU in Lissabon am 15. Mai 1995, in: Internationale Politik 8/1995, S.97-104. 620 Hierbei sah sich Helmut Kohl in Übereinstimmung mit dem scheidenden Präsidenten François Mitterrand. Dieser habe, nicht zuletzt durch seine Entscheidung, dass Eurokorps am Militärdéfilé des 14. Juli 1994 in Paris teilnehmen zu lassen, ein „Bekenntnis“ zum (supranationalen) Charakter der europäischen Verteidigung abgelegt hatte; vgl.: Kohls Beitrag für die Zeitung Le Monde vom 11. Mai 1995, in: Bulletin der Bundesregierung vom 17. Mai 1995. 621 Vgl.: Chiracs außenpolitische Grundsatzrede vom 16. März 1995 in Paris; in Auszügen wiedergegeben in: Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.168. 622 Bundesaußenminister Kinkel vor Parlamentarischen Versammlung der WEU am 19. Juni 1995 in Paris, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Juni 1995. 623 FAZ 20. Juni 1995 „Für WEU-Beteiligung an Maastricht II“ sowie FAZ 21. Juni 1995 „Bonn und Paris planen Transportflugzeug“.
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welches als Nachfolgemodell die angestammte „Transall“ – ebenfalls eine deutschfranzösische Gemeinschaftsentwicklung – ersetzen sollte.624 2.7 Entfremdung Trotz dieser Übereinstimmungen blieb das Verhältnis zwischen Jacques Chirac und Helmut Kohl von Anfang an distanziert. Zu unterschiedlich waren die europa- und sicherheitspolitischen Zielsetzungen, zu präsent die Harmonie zwischen Kohl und Chiracs Vorgänger. Auch teilte Chirac, mit Blick auf die bilaterale Sicherheitskooperation, nicht Helmut Kohls Zufriedenheit mit dem Erreichten, sondern drängte zum Voranschreiten: Europa sollte eine militärische Krisenreaktionseinheit erhalten, um Konflikte – wie jene im ehemaligen Jugoslawien – eigenständig lösen zu können.625 In diesem Zusammenhang kritisierte Paris vor allem das Eurokorps: Dieses sei zu stark auf einen Verteidigungsauftrag zugeschnitten. Die bisherige Schwerpunktsetzung ginge, zumal die kollektive Verteidigung ohnehin schon von der NATO abgedeckt würde, am Bedarf der Europäer völlig vorbei.626 Chiracs Berater Lellouche kritisierte, dass die „multinationale Herrlichkeit“ des Korps nicht der Endpunkt sein könne. Sie sei vielmehr Ausgangspunkt für seine Auftragserfüllung. Frankreichs habe die Absicht, den deutschen Partner aus seiner historisch bedingten außenpolitischen Zurückhaltung herauszuführen, denn: „Frankreich weiß um die Last der Geschichte. Unser Land zollt der mustergültigen deutschen Demokratie Anerkennung und hat zum Teil Verständnis für Deutschlands durchaus berechtigte Vorbehalte. Als loyaler Partner muss Frankreich jedoch seinen deutschen Freunden sagen, dass ihr Land heute, um mit Helmut Schmidt zu sprechen, nicht mehr „nur Handelsmacht“ sein kann. Die Zukunft des Friedens und strategische Fragen sind auch Angelegenheiten des vereinten Deutschlands.“627
Es war daher auch an die Adresse des französischen Partners gerichtet, wenn Helmut Kohl auf der Pressekonferenz nach dem 65. deutsch-französischen Gipfel am 11. Juli 1995 in Straßburg davon sprach, dass man gemeinsam davon überzeugt sei, dass beide Länder sich ihrer Verantwortung stellen müssten.628 Trotz dieser Zusage blieb die Unwucht im deutsch-französischen Motor bestehen – hauptsächlich deswegen, weil Paris mit immer neuen Initiativen irritierte. Nur einen Tag 624
Die Mitte Juli 1995 bekannt gegebene Entscheidung Großbritanniens, anstelle des europäischen Kampfhubschraubermodells „Tiger“, das amerikanische Konkurrenzmodell „Apache“ anzuschaffen (hierzu: Le Monde 15. Juli 1995 „La victoire de l’Apache“), wirkte als Dämpfer, fügte das rüstungspolitische Band zwischen Deutschland und Frankreich aber umso enger. Zur britischen Entschiedung führte Staatspräsident Chirac aus : „L’Angleterre a commis une erreur par rapport à la nécessité d’avoir une défense européenne forte.“ vgl.: Le Figaro 15. Juli 1995 « Grande-Bretagne: quelle préférence européenne ? » . 625 Libération 21. Juli 1995 « L’Euroforce, une utopie nécessaire » . 626 So der Berichterstatter des Ausschusses für Verteidigung und Außenpolitik im französischen Senat, Pierre Caldaguès am 24. Juni 1995 in der Nationalversammlung, siehe: FAZ vom 1. Juli 1995 „Auf dem ChampsElysées nicht unter feindliches Feuer geraten. Alle sprechen von der Eingreiftruppe, wer spricht vom Eurokorps?“. 627 Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.75. 628 Bundeskanzler Kohl auf seiner gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Staatspräsidenten anlässlich des 65. deutsch-französischen Gipfels am 11. Juli 1995 in Straßburg, in: Kimmel/Jardin (Hrsg.), Die deutsch-französischen Beziehungen, S.350-353, hier S.351.
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nach dem Treffen von Straßburg verkündete Chirac am 12. Juli 1995 die Wiederaufnahme der französischen Atomtestes im Mururoa-Atoll. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit schlug dieser Schritt hohe Wellen, hatte man hier doch die Hoffnung gehegt, mit dem Ende des Kalten Krieges auch in ein postatomares Zeitalter eintreten zu können. In Bonn, welches nur „unzureichend“ (Joachim Bitterlich) über den Schritt informiert worden war, reagierte man zurückhaltend. Zum wirklichen Reizthema zwischen beiden Ländern wurde Frankreichs atomarer Kurs aber erst Anfang September. Der guten Tradition französischer Premierminister folgend, hielt Alain Juppé am 7. September 1995 die Eröffnungsrede bei der Jahrestagung des Institut des Hautes Etudes de Défense Nationale (IHEDN) in Paris. Am nächsten Tag titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung – ähnlich wie fast alle anderen deutschen und französischen Zeitungen – „Juppé: Sicherheit Deutschlands auch nuklear garantieren“. In der Tat hatte der französische Premierminister am Vortag eine Art europäische Nukleardoktrin mit französischem Sockel formuliert. Ausgehend von der überkommenen Vorstellung der „Abschreckung des Schwachen gegen den Starken“, die auf einer Verengung der strategischen Gleichung in einer Konfrontation Frankreichs und mit der Sowjetunion beruht hatte und in der Tradition der, nahezu als klassisch zu bezeichnenden, französischen Auffassung, dass Kernwaffen prinzipiell kriegsverhindernde Wirkung besitzen, 629 setzte Juppé vor dem IHEDN die nahezu komplette Änderung des strategischen Umfelds in den Kern seiner Überlegungen. Frankreichs Ziel einer atomaren Abschreckungsfähigkeit gegenüber „tous azimuts“, die in letzter Konsequenz bedeute, dass eine Nuklearkooperation mit anderen Staaten ausgeschlossen sei, stehe im unüberbrückbaren Spannungsverhältnis zu dem laufenden Streben nach einer europäischen Verteidigungskooperation. Dies führte Juppé zu dem Schluss: „Da wir zur Zeit eine gemeinsame Verteidigungspolitik mit unseren europäischen Partnern, darunter Großbritannien, anstreben und gleichzeitig an der Erneuerung des Atlantischen Bündnisses arbeiten, glaube ich, dass die Dimension der Gemeinsamkeit konstitutiver Bestandteil unserer Doktrin werden muss.“630 Dieser Schritt sei auch deswegen unausweichlich, da die Zukunft des französischen Staates immer stärker im Zusammenwirken mit allen europäischen Ländern entschieden werden würde, sich der Bedingungsrahmen für die Durchsetzung staatlichen Interesses und souveränen Handelns verändert hätte. Der Kooperation mit Deutschland als dem engsten Verbündeten Frankreichs, käme dabei eine Schlüsselrolle zu.631 In Bonn reagierte man auf dieses Danaer-Geschenk mit kühler Reserviertheit. Regierungssprecher Hausmann erklärte, das Angebot des französischen Premierministers Juppé zu einer Sicherheitsstrategie der „konzertierten Abschreckung“ für Europa müsse „…sorgfältig geprüft werden.“ Außenminister Kinkel wurde deutlicher: Man habe sich in Deutschland unmissverständlich und für immer gegen jede eigene Nuklearbewaffnung 629
Die eigene Nuklearmacht hatte Frankreich ferner auf mehreren Ebenen eine politische Dividende geboten: I. Auf dem europäischen Kontinent als einzige westliche Nuklearmacht; II. gegenüber den Vereinigten Staaten als Zeichen der Selbstständigkeit gegenüber der amerikanischen Dominanz im System der Bündnisintegration und III. gegenüber der Sowjetunion als selbstständiger Verhandlungspartner. Hierzu eingehender: Uwe Nerlich, Der Bedeutungswandel der französischen Nuklearstreitmacht, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.165-179, hier: S.170. 630 Alain Juppé in seiner Rede vor dem IHEDN am 7. September 1995, in: Frankreich-Info vom 11. September 1995. 631 Ebenda.
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entschieden und wolle auch keine Beteiligung bei anderen, „…auch nicht über die Hintertür.“ 632 Der außenpolitische Sprecher der SPD, Karsten Voigt, bezeichnete den Pariser Vorschlag gar als bloßes „…Alibi für die Wiederaufnahme der Atomtests“.633 Überhaupt war das französische Angebot eine Wiederauflage. Ende der 1970er Jahre hatte die französische Seite, vor dem Hintergrund der atomaren Nachrüstung der Sowjetunion, angeboten, die Bundesrepublik in die eigene atomare Planung mit einzubeziehen.634 Schon damals war man in Bonn skeptisch gewesen, ob Frankreichs Atomstrategie, deren tragende Säule ja die autonome Entscheidungsfähigkeit über den Einsatz seiner Nuklearstreitmacht war, überhaupt die unverhandelbare Verknüpfung mit dem Schicksal der Bundesrepublik zuließ. Für die strategische Situation des Jahres 1995 trat ferner hinzu, dass man in Zweifel zog, ob atomare Abschreckung sich überhaupt als wirksames Mittel gegen die prognostizierten Konflikte von geringer militärischer Intensität eigne. Letztgenannter Punkt spielte auch in der innerfranzösischen Diskussion eine hervorgehobene Rolle.635 Ebenfalls diskutiert wurde die Annahme, dass Nuklearwaffen sicherlich nicht das Kernstück der angestrebten, europäischen Sicherheitsunion sein würden.636 Paris ging es wohl vielmehr darum, das eigene Atompotenzial einmal mehr zu nutzen, um den Anspruch auf eine Führungsrolle in Europa zu betonen. Nicht die Entscheidung über den Einsatz der Atomwaffen wurde dem deutschen Partner angeboten – diese musste auf jeden Fall „national“ bleiben (Chirac) – sondern vielmehr die „consultation“ über deren Einsatzmöglichkeiten.637 Frankreichs Nuklearpolitik des Sommers 1995 verdeutlicht so vor allem das Bestreben der neuen Regierung, der eigenen Außenpolitik größere Handlungsfähigkeit und Tatkraft zu verleihen. Schon de Gaulle hatte für die Außenpolitik die Notwendigkeit der Kraft, der Stärke betont.638 Dabei war der militärische Aspekt und der Nutzwert der force de frappe wiederum nicht das Entscheidende: Was zählte war die Sorge, niemals in einer Situation der Schwäche zu verhandeln, beim Verhandeln selbst nie Schwäche erkennen zu lassen. Zu diesem Credo bekannte sich Jacques Chirac, indem er gerade die Sicherheits- und Verteidigungspolitik wählte, um Frankreichs außenpolitischen Handlungsspielraum zu erweitern. Diese Schwerpunktsetzung bedeutete für die Beziehungen zu Deutschland jedoch nur dann eine negative Implikation, wenn die deutsche Seite nicht bereit war, unumwunden die französischen Ambitionen zu unterstützen. Das hierfür erforderliche prinzipielle Einvernehmen bestand im Spätsommer 1995 jedoch noch unverändert; nicht nur aufgrund der gemeinsa632
Die Welt 9./10. September 1995 „In Bonn Zurückhaltung zu Juppés Atom-Vorstoß“. Ebenda. Auch: Ulrike Guérot, Atomtests und konzentrierte Abschreckung. Ein französischer Vorschlag und die deutschen Reaktionen, in: Dokumente 1996, S.24-28; Guérot wertet das französische Angebot einer „dissuasion concertée“ in erster Line als Versuch, die Debatte um die Reform der Atlantischen Alianz voranzubringen. 634 FAZ vom 5. September 1979 oder Die Zeit vom 7. September 1979; die Bundesregierung hatte schon damals diese Angebote negativ beschieden. 635 Vgl. hierzu etwa: Pierre Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, in: Ernst Martin (Hrsg.), Eurokorps und Europäische Einigung, Bonn 1996, S.53-101, hier: S.54. 636 Ernst Weisenfeld, Chiracs Frankreich auf bekannten Wegen. Nur der Paukenschlag der Atomtests markiert den Wandel, in: Dokumente 1995, S.268-271; Bühl, Europäische Sicherheit, S.155. 637 Die Felder für eine solche Zusammenarbeit sind weit zu interpretieren: sie reichen von der einfachen Unterrichtung über Einsatzgrundsätze und Bewaffnung bis zur Konsultation, zur gemeinsamen Planung und sogar bis zur Stationierung französischer (und britischer) Waffen auf europäischen Trägersystemen. 638 Charles de Gaulle hatte hierzu in seiner Rundfunk- und Fernsehansprache vom 19. April 1963 ausgeführt: „[…] es genügt nicht, freie Hände zu haben, um handlungsfähig zu sein. Es bedarf der Kraft.“ zitiert nach: Alfred Grosser, Frankreich und seine Außenpolitik. 1944 bis heute, München 1989, S.223. 633
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men Zielsetzung, ein Europa zu schaffen, „…in dem Kriege endgültig der Vergangenheit angehören“,639 sondern auch wegen des Voranschreitens der gemeinsamen militärischen Kooperationen. Insbesondere galt dies für die noch von Mitterrand und Kohl vorangetriebene Aufstellung des Eurokorps, welches planmäßig Ende November 1995 seine volle Einsatzbereitschaft meldete. Die intendierte Verwebung der militärischen Denkmuster beider Länder, in Führungsidealen und Traditionsverständnis zum Teil grundverschieden, funktionierte dabei erstaunlich reibungslos.640 Fast schien es so, als würde in „…Richtung Europa das Militär der Politik vorauseilen.“641 Auf dem Feld der bilateralen Rüstungspolitik war man ebenfalls bestrebt, dem Partner entgegenzukommen. So führte die Bundesregierung Mitte Oktober 1995 Gespräche über das französische Angebot einer Beteiligung am Bau des optischen Satellitenaufklärungssystems Helios II. Ein solches Projekt war schon einmal in den 1980er Jahren Gegenstand der bilateralen Gespräche gewesen. Isabelle Reouard, damalige stellvertretende Leiterin der Politischen Abteilung im Quai d’Orsay hatte damals festgestellt: „Die Auswirkungen [dieses, MK] Projekts […] sind offensichtlich beträchtlich. Auf politischer Ebene ist das Interesse an einer eigenen Beobachtungskapazität klar ersichtlich.“642 Zum Zeithorizont 1995 wünschte Paris sich erneut eine finanzielle Beteiligung Deutschlands an den auch europäisch nutzbaren Aufklärungssatelliten in Höhe von bis zu zwei Milliarden Mark über einen Zeitraum von zehn Jahren.643 Beim WEU-Außenministertreffen am 9./10. September 1995 im spanischen Santander war der französische Vorschlag einer dissuasion concertée der Europäer ebenso Thema wie das von Paris nunmehr forciert vorgetragene Ansinnen, die WEU zum starken Arm Europas auszubauen und mit einem Militärstab und operativen Planungskapazitäten auszustatten.644 Dabei vertrat Paris die Ansicht, dass die Stärkung der WEU, des „einzig bestehenden Werkzeugs“ 645 der Europäer in der Sicherheitspolitik, Priorität haben müsste. 639
Bundesaußenminister Kinkel vor Parlamentarischen Versammlung der WEU am 19. Juni 1995 in Paris, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Juni 1995. 640 Das musste sogar der sonst notorisch argwöhnische Spiegel anerkennen; vgl.: Spiegel 46/1995 „Einmalig in der Welt“. 641 Vgl. FAZ 10. November 1995, S.5. Dabei darf nicht übersehen werden, dass zwischen Bonn und Paris eine prinzipiell unterschiedliche Bewertung der bi- bzw. multilateralen Militärkooperation bestand. Während Bonn diese als Selbstzweck erachtete und versuchte, die europäische Integration über eine möglichst umfassende Einbettung in transnationale (europäische) Strukturen zu erreichen und so etwa zusammen mit den Niederlanden am 30. August 1995 in Münster das I. Deutsch-Niederländische Korps feierlich indienststellte, verfolgte Paris unverändert die Linie, die eigene Souveränität in Verteidigungsfragen weitmöglichst gewährleistet zu sehen. Hierzu: Rosenberger, Deutsch-Französische Sicherheitspartnerschaft, S.198-199. 642 Isabelle Renouard, Die deutsch-französische Zusammenarbeit heute, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S. 48-55, hier: S. 52; siehe auch: Stuttgarter Zeitung vom 5. Juli 1985. 643 Da die Vereinigten Staaten, die Deutschland seit längerem Zugang zu eigenen Aufklärungsdaten gewährten, Bonn hingegen den Kauf eines „optischen Satelliten“ der Firma Lockheed angeboten hatten, befand man sich in einer vertrackten Situation, bei der die Bundesregierung im Umgang mit seinen wichtigsten verteidigungspolitischen Partnern einmal mehr einen Modus sicherstellen wollte, mit dem keine Seite verprellt würde und der dem deutschen Wunsch nach einer kostengünstigen Lösung entsprochen werden konnte; siehe hierzu: FAZ 14. Oktober 1995 „Beteiligung an Aufklärungssatelliten?“. 644 La Libération 12. September 1995 „Les Quinze divisés sur la défense européenne ». 645 Juppé in seiner Rede zum 20jährigen Bestehen des Planungsstabes beim französischen Außenministerium am 30. Januar 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 21. Februar 1995. Dabei war sich Juppé darüber im Klaren: „Aber die Mittel sind nicht alles. Man muß auch den Willen haben, sie zu nutzen. Die Europäer dürfen keine Gelegenheit zum Handeln mehr verpassen, die ihnen angemessen sind, wie in Ruanda, wo Frankreich sich trotz der Appelle der WEU allein engagieren mußte.“
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Die in Santander eröffnete Diskussion zog sich bis zum turnusgemäßen Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Staaten am 14. November in Madrid. Hier billigte die WEU das von ihrem Ständigen Rat erarbeitete Dokument über die „Aufstellung und Zusammenführung von Streitkräften der WEU-Operationen“. Diese legte Mechanismen und Verfahren für die Aufstellung und Zusammenführung von europäischen Streitkräften in Krisenzeiten zur Durchführung einer Mission auf der Grundlage der PetersbergErklärung fest.646 Der Westeuropäischen Union sollte mit diesen auf einer sogenannten FAWEU-Liste ausgewiesenen Streitkräften ein Werkzeug für die bessere Nutzung ihrer operationellen Fähigkeiten zur Verfügung gestellt werden.647 In Paris registrierte man dabei aufmerksam, dass die WEU mithin auf einem guten Wege war, sich zu einer belastbaren militärischen Alternative zur Atlantischen Allianz zu entwickeln. Dennoch erklärte man Anfang Dezember 1995 förmlich, eine Rückkehr Frankreichs in die Atlantische Allianz sei vorstellbar. 2.8 « La décision française marque la fin d’une singularité »648 – Frankreich geht auf die NATO zu Frankreichs Kurswechsel gegenüber der Atlantischen Allianz war keinesfalls abrupt. Schon in der zweiten Präsidentschaft François Mitterrands hatte sich ab dem Jahr 1993, spätestens aber mit der Zustimmung zum „Neuen Strategischen Konzept“ der Allianz Anfang 1994, eine größere Beweglichkeit im französischen Verhältnis zur NATO angedeutet. Während des Präsidentschaftswahlkampfes 1994/95 hatte Jacques Chirac dann die Bedeutung der amerikanischen Präsenz auf dem europäischen Kontinent wiederholt gewürdigt; eine Einschätzung, die auch Premierminister Juppé in seiner Rede vor dem IHEDN Anfang September 1995 bekräftigte.649 Nicht nur dem versierten Beobachter war daher aufgefallen, dass sich im Verhältnis Frankreichs zur Atlantischen Allianz Veränderungen andeuteten. Exemplarisch brache Daniel Vernet diese Entwicklung in Le Monde auf folgende Formel: „France-OTAN: la fin de tabous“.650 Am 5. Dezember 1995 war der Zeitpunkt gekommen. Nachdem Staatspräsident Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU wenige Tage zuvor noch ein Ende der
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Vgl.: Erklärung des WEU-Ministerrates vom 14. November 1995 in Madrid, in: Internationale Politik 5/1996, S.80-87. Ferner wurde in Madrid das Dokument „Schritte zur Umsetzung einer Operation einer humanitären Einsatzgruppe der WEU“ gebilligt und die Arbeiten zur Vorbereitung humanitäre Missionen der WEU begrüßt. 647 Mit Blick auf die europäische Rüstungszusammenarbeit wurde festgelegt, dass der Dialogs zwischen der WEAG und den operativen Nutzern so intensiviert werden sollte, dass die Rüstungszusammenarbeit enger am militärischen Bedarf ausgerichtet werden könne.“ Vgl.: Erklärung des WEU-Ministerrates vom 14. November 1995. 648 François de Rose, Ambassadeur de France, in Le Figaro vom 5. Januar 1996 «Le rapprochement FranceOTAN ». 649 Alain Juppé vor dem IHEDN am 7. September 1995: „Nun wird Frankreich immer wieder verdächtigt, den Abbau bzw. die Aufgabe der amerikanischen Präsenz auf dem europäischen Kontinent zu betreiben. Muß ich wirklich wiederholen, daß dies weder unseren Interessen noch unseren Absichten entspricht?“ in: FrankreichInfo vom 11. September 1995. Die innerfranzösische Debatte um das eigene Verhältnis zur NATO war dabei besonders durch den Konfliktverlauf in Jugoslawien geprägt; vgl.: Jacques Baumel, La France, l’Otan et l’Europe, in: Défense Nationale 3/1995, S.85-88, hier: 85-87. 650 Le Monde vom 31. Oktober 1995.
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« impuissance » Europas in Sicherheitsfragen angemahnt hatte,651 verkündete Außenminister Hervé de Charette auf der Ministertagung des Nordatlantikrats die Absicht seines Landes, sich an den politischen und militärischen Gremien des Bündnisses und damit dessen Entscheidungsprozessen wieder regelmäßig zu beteiligen.652 Sein Land, so de Charette, vertrete die Ansicht: „…es [ist, MK] an der Zeit […], den Reformgeist des Gipfeltreffens von 1994 wiederzubeleben. Und es ist bereit dazu. Die französischen Behörden haben beschlossen, aktiv an der Erneuerung des Bündnisses mitzuwirken.“653
Bisher habe die Anpassung und die Unterstützung der NATO bei der Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität keine ausreichenden Fortschritte gemacht. Diesem Prozess neue Impulse zu geben, sei nun das Anliegen Frankreichs. Die europäische Verteidigungsidentität sei die natürliche Ergänzung der transatlantischen Sicherheitsbindung. Die ESVI ergänze die Allianz und stärke diese, „… im Interesse aller“654 Deutlich tritt aus diesen Äußerungen hervor, dass die französische Wiederannäherung an die NATO den gleichen Überlegungen verpflichtet war, wie die Pariser Atomofferte von Anfang September. Erneut ging es darum, den eigenen (außen-)politischen Handlungsspielraum zu vergrößern. Vorausgegangen war die Einsicht, dass die Europäer auf die militärische Kontribution der Vereinigten Staaten angewiesen waren,655 und dass „…kein europäischer Partner es hinnehmen [würde, MK], daß sein europäisches Engagement der atlantischen Option zuwiderlaufen könnte.“656 Auch hatten die Kürzung der Militärausgaben der europäischen Partnerländer nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem eines deutlich vor Augen geführt: wenn Frankreich eine Führungsrolle innerhalb der Europäischen Sicherheitspolitik einnehmen wolle, konnte man es sich nicht leisten, ein von nahezu allen seinen Partnern als wesentlich erachtetes Forum zu ignorieren: die Atlantische Allianz.657 Folglich war aus Chiracs Sicht die Schaffung der GASP und die damit eng verknüpfte Umgestaltung der WEU eigentlich nur im Einvernehmen mit den Vereinigten Staaten mög651
Le Monde 5. Dezember 1995 « M.Chirac renouvelle sa demande d’une « européanisation concrète » de l’OTAN ». 652 Frankreich werde allerdings nur eine kleine Gesandtschaft, bestehend aus zwei Generälen und acht Stabsoffizieren, zum NATO-Hauptquartier nach Brüssel entsenden, so de Charette; vgl. Hervé de Charettes Rede auf der Ministertagung des Nordatlantikrates in Brüssel am 5. Dezember 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 11. Dezember 1995. 653 Ebenda. 654 De Charette in seiner Rede bei der Ministertagung des Nordatlantikrates in Brüssel am 5. Dezember 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 11. Dezember 1995; siehe hierzu auch: Alfred Frisch, Europäische Verteidigungspolitik. Von der Wiederaufrüstung zu Frankreichs nuklearem Angebot, in: Dokumente 1996, S.29-35, insbesondere: S.33-35. 655 Gleiches galt – aus geostrategischen Gründen – auch für die Amerikaner. Diese Interdependenz bedinge eine Partnerschaft unter Gleichberechtigten, welche die Möglichkeit einer gemeinsamen regionalen und weltweiten Einflussnahme schaffe, die der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe auf folgende Formel brachte: „Gleichberechtigte Partnerschaft ist das Schlüsselwort für die künftigen Beziehungen zwischen USA und Europa.“ zitiert nach: Bühl, Europäische Sicherheit, S.158. siehe auch: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Reform der Europäischen Union. Deutsch-französische Initiativen, in: Dokumente 1996, S.456-461. 656 Alain Juppé in seiner Rede vor dem IHEDN am 7. September 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 11. September 1995. 657 Hans-Georg Ehrhardt, France and NATO: Change by Rapprochement? Hamburg 2000, S.15; Daniel Colard, Frankreich und die Atlantische Allianz, in: Dokumente 1998, S.364-368, hier: S.367-368.
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lich.658 Diese Einsicht korrelierte mit dem in Frankreich bestehenden Konsens darüber, dass die NATO und damit auch das sicherheitspolitische Engagement der Vereinigten Staaten in Europa auch zum Zeitpunkt 1995 und noch lange darüber hinaus eigentlich unabdingbar seien.659 Der Punkt war vielmehr, dass man in Paris nicht dazu bereit war, hierfür den Preis einer fortdauernden amerikanischen Hegemonie zu zahlen und daher in weitgehender Übereinstimmung eine tiefgreifende strukturelle Umgestaltung der Atlantischen Allianz anstrebte. Dies führt zu dem Schluss, dass die amerikanisch-französischen Beziehungen in den Bereichen der Sicherheit und der Verteidigung von einem hohen Maß an Kontinuität geprägt blieben. Nach wie vor war Paris nur dann zu maßgeblichen Integrationsschritten mit einem möglichen Souveränitätsverlust bereit, wenn sich die eigenen Interessen nicht anders verwirklichen ließen.660 In dem konkreten Fall war es die sich aus dem Bedürfnis nach einem deutlich vergrößerten außenpolitischen Handlungsspielraumes ergebende Notwendigkeit, die eigene bündnispolitische Isolation aufzugeben, da die maßgeblichen Verbündeten nicht bereit waren, die NATO hinter sich zu lassen. Wie eng der europäische Wirkungsrahmen mit den zentralen nationalen Interessen Frankreichs verwoben war, unterstreicht auch de Charettes Aussage, das Herz der französischen Politik sei die Außenpolitik, sei Europa – hier liege Frieden und Wohlstand und „…die Ausstrahlung Frankreichs, anders gesagt die Macht unseres Landes.“661 Es war daher auch kein wirklicher Bruch mit der Tradition de Gaulles, wenn man sich nun anschickte, die Entscheidung des Generals aus dem Jahr 1966 zu überdenken – vielmehr muss sie als eine dem veränderten Umfeld geschuldete Flexibilität verstanden werden. Mit Blick auf das Leitmotiv bestand Kontinuität: Sowohl de Gaulles als nunmehr auch Chirac strebten nach einer „europäischen Identität“ in der Verteidigungspolitik.662 Deswegen war es nur folgerichtig, wenn nach der Ankündigung vom Dezember 1995 die Überzeugung vertreten wurde, man habe die Ideale des Generals nicht verraten. Auch General de Gaulle sei schließlich Pragmatiker gewesen und habe sich immer an die Entwicklungen anzupassen gewusst.663 Es lief durchaus mit dieser angestammten Politik konform, die Atlantische Allianz als das wesentliche Gremium zu betrachten, in dem die gemeinsamen Interessen der Europäer und der Amerikaner vertreten werden. Chirac strebte danach, Frankreich und Europa in die Lage zu versetzen, eine Sicherheitsarchitektur zu entwickeln, deren wesentliches Merkmal Eigenständigkeit war. Dies bedeutete im Umkehrschluss aber nicht zwangsläufig das Ende der Atlantischen Bindung. Die Formel hierfür lautete: « La France change pour changer l’Alliance ».664 Präsident Chirac strebte folglich nach Unabhängigkeit im Bündnis statt vom 658
Auch ließ sich so eine kostenintensive Verdoppelung militärischer Strukturen vermeiden. Yves Boyer, Das französisch-amerikanische Verhältnis in der Bereichen der auswärtigen Beziehungen und der Verteidigung, in: KAS – Auslandsinformationen 4/1995, S. 3-26, Hier: S. 3; Bozo, Frédéric, La France et l’Alliance : les limites du rapprochement, in : Politique Étrangère 4/1995, S.865-877; insbesondere: S.865-869. 660 Axel Sauder, Europäisierung der Force de „frappe“? Zur Gründung des europäischen Pfeilers in der NATO, in: Dokumente 1996, S.36-42, hier: S.41-42; auch: Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.283. 661 Außenminister Hervé de Charette in seinem Interview mit Le Figaro vom 20. Dezember 1995; Medard Ritzenhofen, Die Chirac-Doktrin. Frankreichs neue Außen- und Verteidigungspolitik, in: Dokumente 1996, S.100-103, insbesondere: S.100-101. 662 Da er diese in der NATO nicht verwirklichbar sah, hatte Charles de Gaulle 1966 die Militärintegration der Allianz verlassen. Vgl.: Lucas, Europa vom Atlantik bis zum Ural? S.288-293. 663 Diese Ansicht vertrat beispielsweise Außenminister de Charette. 664 Vgl.: Le Figaro vom 6. Dezember 1995. 659
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Bündnis. So überwog dann auch in der Eigenwahrnehmung der auf der Habenseite zu verbuchende, neu gewonnene Handlungsspielraum gegenüber außenpolitischer Traditionspflege und dem damit verbundenen Verharren in einer unbeweglichen Position. Die Reaktionen auf den Schritt Frankreichs hin zur NATO waren erwartungsgemäß positiv. Der amerikanische Außenminister Warren Christopher sprach von einem „klaren Signal der Einheit“ des Bündnis665, während der deutsche Partner über Frankreichs Schritt hin zur Atlantischen Allianz hoch erfreut war – schien sich damit doch der Druck der Scharnierfunktion, die Bonn zwischen Paris und Washington seit Beginn der 1960er Jahre eingenommen hatte, zu relativieren. Außenminister Kinkel erklärte für die deutsche Bundesregierung: „Die französische Entscheidung zeigt die Vitalität des Bündnisses.“666 Nunmehr schien ein wesentliches Hindernis für die auf das Jahr 1996 terminierte MaastrichtFolgekonferenz aus dem Weg geräumt zu sein: der mögliche französische Vorbehalt gegen eine Vernetzung der GASP mit der NATO. Seitens der deutschen Regierung konnte man sich jetzt darauf konzentrieren, für die GASP mehr Handlungsfähigkeit und ein einheitliches Auftreten der Union nach außen anzustreben. Hierzu wollte man in dem Maastricht-Folgevertrag einen geeigneten Unterbau für Analyse und Planung, Vorbereitung und Umsetzung von außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen der Union schaffen. Dabei war das längerfristige Ziel, die Integration der WEU in die Europäische Union, unter Schaffung einer Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates auch für die WEU. Auch, so die Haltung der Bundesregierung weiter, führe im Bereich der Außenpolitik kein Weg an genau definierten Bereichen für Mehrheitsentscheidungen der europäischen Partner vorbei.667 Die Ansicht, dass die seit dem Maastricht-Vertrag erzielten Ergebnisse auf dem Gebiet der GASP der Weiterentwicklung durch die anstehende Regierungskonferenz bedürften, wurde an der Seine geteilt. Paris signalisierte im Dezember seine Bereitschaft, das Entscheidungsverfahren auf dem Feld der GASP nach „flexibleren Modalitäten“ zu gestalten.668 Zudem, so Außenminister de Charette, solle der WEU – in möglicher Vorwegnahme dessen, was eine europäische Verteidigungspolitik zum Gegenstand haben könne – sowohl auf operationeller als auch auf organisatorischer Ebene größere Bedeutung zukommen.669 Von dem bilateralen Konsens in Bezug auf die GASP zeugt auch das gemeinsame Schreiben von Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Chirac an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates, den spanischen Ministerpräsidenten Felipe González vom 6. Dezember 1995. Veröffentlicht am Vorabend des 66. deutsch-französischen Gipfels in BadenBaden, wurden hier mit Blick auf die Regierungskonferenz 1996 erneut konkrete Schritte angemahnt; um die GASP an die internationalen Gegebenheiten anzupassen und ihr einen leistungsfähigen institutionellen Unterbau zu ermöglichen.670 665
Le Monde 7. Dezember 1995 « La France reprend sa place au Comité militaire de l’OTAN ». Stuttgarter Nachrichten 6. Dezember 1995 „Rückbesinnung nach fast 30 Jahren“. 667 Vgl. die Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Europa-Politik, abgegeben von Außenminister Kinkel am 22. Juni 1995 vor dem Deutschen Bundestag, in: Internationale Politik 9/1995, S.122-124. 668 Außenminister de Charette in seinem Interview mit Le Figaro vom 20. Dezember 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. Dezember 1995, hier: S.6. 669 Ebenda. 670 Gemeinsames Schreiben des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates vom 6. Dezember 1995, Internationale Politik 8/1996, S.80-81; siehe hierzu auch: Gottlobe Fabisch, Auf dem Weg zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität? Frankreichs Verteidigungspolitik 1995-1997, Aachen 1999, S.187. 666
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Der 66. deutsch-französische Gipfel am 7. Dezember hatte dann, neben den Tagungsordnungspunkten: Entwicklung des Eurokorps,671 Gründung einer deutsch-französischen Rüstungsagentur und Abfassung eines Abkommens über den von Frankreich angestrebten Aufklärungssatelliten Helios II,672 auch Gespräche über die weitere Zukunft der WEU zum Gegenstand. Schwerpunkt hierbei war die Klärung des Verhältnisses der Westeuropäischen Union zur Atlantischen Allianz auf der einen und gegenüber der Europäischen Union auf der anderen Seite. Klarheit sollte, so waren sich beide Partner einig, vor allem darüber bestehen, in welchen Missionen und mit welchen verteidigungspolitischen Bezügen die WEU von der Europäischen Union in Zukunft überhaupt beauftragt werden konnte.673 Dabei war es für die französische Seite vorrangig, dass die Errichtung des europäischen Pfeilers der NATO unabdingbare Voraussetzung für das weitere Voranschreiten zu sein habe. Gerade der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien habe gezeigt, dass die von de Gaulles bereits in den 1960er Jahren angemahnte Reform der Strukturen der Atlantischen Allianz dringend geboten sei.674 Nochmals hob man hervor, der Schritt auf das Bündnis zu sei kein Abrücken von bisher gehegten Überzeugungen: « La France n’est pas allée à Canossa » so Verteidigungsminister Charles Millon vor dem IHEDN. Hierdurch werde vielmehr das legitime Anliegen befördert, « …que les Européens construisent les moyens de leur autonomie politique et stratégique. ».675 2.9 Abschied von der Wehrpflicht - Ein neuer Ansatz für die bilaterale Kooperation „Was nützt ein überdimensioniertes militärisches Instrument, wenn der soziale Aspekt und die öffentlichen Defizite unser Land auf den Weg des Niedergangs bringen werden?“ Jacques Chirac676
Chiracs Ankündigung, Frankreich unter bestimmten Voraussetzungen wieder in den Kreis der NATO-Partner zurückzuführen und sich an der Debatte über die Modernisierung der Allianz zu beteiligen, bestimmte Anfang des Jahres 1996 die sicherheitspolitische Agenda. Dieser Schritt, nach offizieller Lesart das Anliegen verfolgend, die europäische Identität in der Allianz zu stärken, war für Paris zugleich Reaktion auf die Konflikte auf dem Balkan, aber auch in Uganda und in Ruanda.677 Wie dargelegt, ruhte der französische Ansatz dabei 671
Dieses hatte plangemäß am 30. November 1995 seine volle Einsatzbereitschaft gemeldet; Le Monde 1. Dezember 1995 « L’Eurocorps est devenu opérationnel » . Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.353. 673 Bei gleicher Gelegenheit hatte WEU-Generalsekretär José Cutileiro kritisiert, dass fast zwei Jahre nach dem Beschluss der NATO, der WEU zur Vermeidung von Doppelarbeit ihre kollektiven Mittel zur Verfügung zu stellen, über dessen Umsetzung nach wie vor Uneinigkeit bestehe; hierzu: Das Parlament 15. Dezember 1995 „Gemeinsamen strategischen Raum schaffen“. 674 Le Figaro 25. Dezember 1995 « OTAN : Charles Milion veut un « état-major européen » ; Charles Million wird hier wie folgt zitiert: « Eh bien, par exemple, l’emergence d’un véritable état-major européen au sein de l’OTAN qui ne soit pas une simple doublure un état-major qui soit en prise directe sur les troopes, car l’avenir est aux opérationsà géometrie variable, reposant sur un pillier ou sur un autre, avec un nombre différent de participants selon les cas ». 675 Charles Milion vor dem IHEDN am 19. Dezember 1995, zitiert nach: Le Figaro 20. Dezember 1995 « La relance de Charles Millon » . 676 Jacques Chirac vor dem IHEDN am 23. Februar 1996, in: Internationale Politik 5/1996, S.101-107. 677 Vgl.. Juppé vor dem IHEDN am 10. September 1996, abgedruckt in. Frankreich-Info vom 16. September 1996, S.2. 672
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auf zwei Säulen: (I.) Ein europäisches Sicherheitssystem würde nur dann effektiv sein, wenn es sich im Kern auf die NATO abstützen könne. Zugleich war (II.) seine präventive Wirkung aber nur dann vollständig, wenn die Europäer politisch und militärisch auch ohne den amerikanischen Partner handeln könnten. Insbesondere letztgenannter Aspekt wurde von Paris im Winterhalbjahr 1995/1996 konsequent dazu verwendet,678 die vorherige, anachronistisch gewordene Außenseiterrolle abzustreifen und sich als Protagonist der NATOReform zu positionieren. Wissend, dass die europäischen NATO-Partner französischen Reformvorschlägen notorisch ablehnend oder im besten Fall skeptisch gegenüberstanden – weil zumeist viel gefordert wurde, ohne Substantielles zu liefern679 – war der französischen Seite nun jetzt daran gelegen, den genuin europäischen Aspekt in der möglichen neuen Struktur der Allianz klar zu umreißen.680 Hiermit eng verwoben war das von Frankreich und Deutschland auf ihrem 66. bilateralen Gipfel in Baden-Baden im Dezember 1995 gefasste Ziel einer Gemeinsamen Rüstungsagentur. Durch sie sollte nicht die bilaterale Verteidigungskooperation eine ausdifferenziertere Gestalt bekommen, sondern auch Impulse für die gesamteuropäische Entwicklung gesetzt werden. Es war daher dem französischen Streben nach einem handfesten europäischen Sockel in der Verteidigungspolitik nur zuträglich, als die Rüstungsbeauftragten beider Länder am 6. Februar 1996 in Bonn die Deutsch-Französische Rüstungsagentur förmlich beschlossen.681 Der Schritt vom 6. Februar war dabei mit der Hoffnung verbunden, dass ihre bilaterale Initiative mittelfristig in einer Europäischen Rüstungsagentur aufgehen würde, wie sie im Maastrichter Vertrag vorgesehen worden war. Bisher war dieses Vorhaben nicht über den Status eines Tagungsordnungspunktes herausgekommen. Die Reaktionen aus den anderen europäischen Hauptstädten auf das deutschfranzösische Voranschreiten in der Rüstungspolitik waren durchweg positiv. Insbesondere London signalisierte für das Projekt Unterstützung682 – ein wesentlicher Aspekt, denn durch eine Beteiligung Großbritanniens verbesserte sich die Aussicht, der Agentur eines Tages den Status eines offiziellen Organs der WEU zu verleihen. Die deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskooperation schickte sich also – wie beabsichtigt – auf Basis einer bilateralen Verankerung an, Strahlwirkung auf die europäischen Partner zu erlangen.
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FR 3./4. Februar 1996 „Chiracs europäische Visionen“. The Economist 10. Februar 1996 „France’s changing view of the world“. 680 In dem von der WEU angestrebten, „separable but not separate“-Konzept sollte das Eurokorps das Kernstück des europäischen Beitrages bilden. Zugleich war es als möglicher „erster Baustein“ einer europäischen Streitmacht konzipiert. Alternativ war angedacht, das Eurokorps als „harten Kern“ einer schnellen Eingreiftruppe der Europäer im Umfang von 10.000 Mann auszugestalten. Diese Option schloß die Perspektive ein, den ursprünglichen Ausrüstungsstand des Korps mit seinen schweren Panzerverbänden zu überwinden und den Großverband mit leichteren, hoch-mobilen, luftverlegbaren Kräften auszurüsten. Diese Idee stand beispielsweise im Mittelpunkt eines politischen Entwurfs von Pierre Lellouche, des verteidigungspolitischen Sprechers der neogaullistischen RPR; hierzu: Die Welt 1. Februar 1996 „Eurokorps als Grundstein für Verteidigungsidentität. 681 Hierzu: Karina Forster, Perspektiven deutsch-französischer und europäischer Rüstungskooperation, Aktuelle Frankreich Analysen des Deutsch-Französischen Instituts (DFI) Nr. 10, Ludwigsburg 1998, S.3-4. 682 So ließ das britische Foreign Office zur deutsch-französische Rüstungsagentur verlauten: « It is the only potential European agency which we are asking to join at the moment. » Nachdem Großbritannien zuvor immer wieder europäische Initiativen abgelehnt hatte, veränderte sich die britische Haltung aufgrund des auch in London stärker gewordenen Bestrebens, der eigenen Rüstungsindustrie gegenüber der starken amerikanischen Konkurrenz eine bessere Ausgangslage zu schaffen. Hierzu: Financial Times 13. Januar 1996 « Europe’s armies start to link arms » 679
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Seiner Zufriedenheit über diese Entwicklung verlieh der deutsche Bundeskanzler Ausdruck: Der Verbund wichtiger Teile der deutschen Streitkräfte, so Helmut Kohl am 3. Februar in München, mit Einheiten anderer europäischer Verbündeter zeige, welch erfolgreichen Weg man zurückgelegt habe. Das Eurokorps, die Zusammenarbeit in der deutschfranzösischen Brigade sowie das neugeschaffene deutsch-niederländische Korps seien ein Erfolg.683 Europa sei in der Sicherheitspolitik dabei, nationale Bezugsräume zu überwinden. Explizit nannte Kohl ferner die „…zwischen Deutschland und Frankreich ins Auge gefasste Möglichkeit, es jungen Wehrpflichtigen zu erlauben, den Wehrdienst im jeweils anderen Land zu leisten. Diesem Beispiel sollten wir auch mit anderen Partnern folgen.“684 Am 22. Februar 1996 verkündete der französische Staatspräsident Jacques Chirac das mittelfristige Ende der Wehrpflicht in den französischen Streitkräften. Neben den oben genannten haushaltspolitischen Zwängen war die Entscheidung für das neue Streitkräftemodell vor allem dem Ziel verpflichtet, langfristig eine glaubwürdige europäische Verteidigung aufzubauen, die zugleich den bewaffneten Arm der Europäischen Union und den europäischen Pfeiler des Atlantischen Bündnisses stellen konnte.685 Frankreich, so der Staatspräsident wenige Tage später vor der französischen Militärakademie, ziehe mit diesem Schritt unter anderem die Lehren aus den Erfahrungen des Golfkrieges und den Jugoslawienkonflikten. Ziel sei es, die Fähigkeit zu erlangen, in sehr kurzer Zeit größere Truppen an jeden Ort der Welt zu verlegen, wenn eine Krisenlage es erfordere.686 Die Verlegefähigkeit sei damit zukünftig das vorrangige Befähigungsmerkmal der konventionellen Truppen. Die französischen Streitkräfte sollten in die Lage versetzt werden, an einem vom Mutterland entfernten Einsatzort bis zu 30.000 Mann zu verlegen und gleichzeitig auf einem anderen Einsatzszenario eine Truppe im Umfang von einer Brigade einsetzen zu können. 687 Im Hinblick auf die Führungskomponenten sollten die Streitkräfte in multinationalen, teilstreitkraftübergreifenden und komplett integrierten Einheiten zusammengefasst werden können, die in der Lage sind, alle Arten von Einsätzen durchzuführen und die ihnen zugewiesenen nationalen Kontingente unter ein „operational command“ zu nehmen. Hieran, so Chiracs Ankündigung, wolle er das aktuelle militärische Planungsgesetz ausrichten.688 683
Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl bei der 33. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 3. Februar 1996, in: Bulletin der Bundesregierung vom 14. Februar 1996. Ebenda. 685 Staatspräsident Jacques Chirac in seiner Rede vor der Militärakademie in Paris am 26. Februar 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 28. Februar 1996. 686 Ebenda. 687 Die Luftwaffe müsse rund 100 Kampfflugzeuge auf verlegbaren Stützpunkten dislozieren können. Die Marine schließlich müsse permanent einen bedeutenden Marinewaffenverband einsetzen können; vgl. Chiracs Ausführungen vor der Militärakademie am 26. Februar 1996. 688 Wichtigstes Planungsinstrument Frankreichs für die mittelfristigen Verteidigungsausgaben ist traditionell das militärische Planungsgesetz (Loi de programmation militaire), das die Prioritäten der Ausrüstungsentwicklung und der Personalstärke der französischen Armee auf einen Zeitraum von mehreren Jahren festlegen soll. Es war allerdings in den 1980er und 1990er Jahren die Regel, dass keines dieser Planungsgesetze bis zum Ende seiner ursprünglichen Laufzeit verfolgt wurde. Das Planungsgesetz 1990-93 wurde aufgrund der Veränderungen im internationalen Umfeld ausgesetzt und durch ein Übergangsgesetz für den Zeitraum 1992-94 abgelöst. Dies wurde aber wegen des Regierungswechsels 1993 nie von der französischen Nationalversammlung verabschiedet. Das Planungsgesetz 1995-2000 wiederum, das auf Basis des Verteidigungsweißbuches 1994 konzipiert war, wurde ein Jahr nach Beginn seiner Laufzeit wegen geänderter Prioritätensetzung und knapper Haushaltsmittel ebenfalls außer Kraft gesetzt und durch das Planungsgesetz 1997-2002 ersetzt. Schwerpunkt war hier die Realisierung der Umstrukturierung der französischen Armee in Richtung Berufsheer. 684
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Die Entscheidung des französischen Staatspräsidenten zeugte von der Einsicht in das geänderte Wesen bewaffneter Einsätze. Zukünftig lag die militärische Priorität auf mobileren, schnell verlegbaren und sofort verfügbaren Kräften, die weltweit, fern der eigenen Grenzen operieren könnten. Es handelte sich demzufolge eher um Eingreiftruppen als um klassische Kräfte, wie sie für den Schutz der nationalen Staatsgebiete vorgesehen waren. Diese Einsätze, so hatte Chiracs sicherheitspolitischer Berater Lellouche ausgeführt, würden immer häufiger in einem multinationalen und vornehmlich europäischen Rahmen erfolgen.689 Mit Blick auf die nuklearen Streitkräfte verwies der Staatspräsident auf seine Verantwortung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Frankreichs. Dies sei eine Aufgabe, die es ihm auferlege, den Fortbestand dieser Abschreckungsstreitmacht, der Force de frappe, sicherzustellen. Dennoch habe er beschlossen, die bodengestützte Komponente der französischen Nuklearmacht auf dem Plateau d’Albion stillzulegen, da deren Aufgabe vor dem Hintergrund der aktuellen Bedrohungslage nicht mehr erforderlich sei. Auch habe man – nach Konsultation mit dem deutschen Bundeskanzler – beschlossen, das HadèsTrägersystem für atomare Kurzstreckenraketen kurzfristig auslaufen zu lassen.690 Unabhängig davon sei die atomare Komponente für Frankreichs Verteidigungsstrategie nach wie vor elementarer Bestandteil und eine zwingende Notwendigkeit. Bei dem Projekt der europäischen Sicherheit stand für Chirac, nach eigenem Bekunden, an erster Stelle die Kooperation mit Deutschland. Die angekündigten Schritte in Richtung Professionalisierung der Streitkräfte dürften die bilaterale Verteidigungskooperation nicht schwächen, sondern müssten sie stärken. Sie sei eine der wesentlichen Aspekte für die französische Sicherheit. Allerdings sollten die anstehenden Veränderungen ebenfalls genutzt werden, um der deutsch-französischen Zusammenarbeit einen „neuen Schwung“ zu verleihen.691 In welche Richtung diese bilaterale Belebung für ein strategisches Europa gehen sollte, zeigte dabei die Schwerpunktsetzung auf erhöhte Einsatz- und Verlegefähigkeit der umfangreichen, insgesamt 50.000 bis 60.000 Mann starken, sog. Projektionskräfte („forces de projection“). Der französische Staatspräsident bewegte sich damit auf dem Boden einer Forderung Paul Reynauds, der mit Blick auf Frankreich und mehr noch auf die Europäische Union gefordert hatte, Abschied von der „Armee der Tradition“ zu nehmen und sich einer „Armee der Bedürfnisse“ zuzuwenden – also einem Streitkräftekonzept, welches den großen Veränderungen des politisch-strategischen Umfelds gerecht würde.692 Der deutsche Partner wurde von der Verkündigung und vom Umfang der französischen Streitkräftereform überrascht.693 Dennoch war man merklich bemüht, die Contenance zu wahren. So begrüßte der Bundeskanzler in seiner Erklärung vom 23. Februar das in der Ankündigung Chiracs zur Streitkräftereform zum Ausdruck kommende, klare Bekenntnis 689
Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.86-87. Jacques Chirac vor dem IHEDN am 23. Februar 1996, in: Internationale Politik 5/1996, S.101-107. Staatspräsident Jacques Chirac in seiner Rede vor der Militärakademie in Paris am 26. Februar 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 28. Februar 1996. 692 Dieses Bestreben wurde von Chiracs Berater Lellouche schon seit langem verfochten; vgl.: Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.68. 693 Insbesondere Verteidigungsminister Volker Rühe rügte, dass er zu spät und zu wenig über die Pläne zur Verkleinerung und Umstrukturierung der französischen Streitkräfte informiert worden sei. SZ 7. März 1996 „Irrungen und Verwirrungen auf französisch. Bonn ist irritiert über Pariser Vorstellungen zur Zukunft der Atlantischen Allianz“. 690 691
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zur Bedeutung und weiteren Vertiefung der deutsch-französischen Sicherheitszusammenarbeit. Er selbst, so Kohl, sei frühzeitig über die französischen Überlegungen zur Streitkräftereform informiert worden.694 In der Tat, so Kohls außenpolitischer Berater Joachim Bitterlich, hatte es unter anderem bei dem deutschen-französischen Gipfel in Baden-Baden im Dezember 1995 ein allgemeines Gespräch zu den französischen Reformvorhaben gegeben. Hier sei auch ein mögliches Aussetzen der Wehrpflicht in Frankreich angesprochen worden. Eine verfestigte Beschlusslage oder gar ein konkreter Zeitplan sei aber nicht benannt worden. Diese Schilderung wird von Außenminister de Charette bestätigt, der verlauten ließ, erst nach der offiziellen Ankündigung der Reform des französischen Verteidigungsapparates habe es vertiefte Konsultationen mit Deutschland gegeben.695 Letztendlich, so auch die Auffassung im Bundeskanzleramt, sei die Entscheidung über die Wehrpflicht ohnehin souveränes Recht eines jedes Landes. Dennoch muss konstatiert werden, dass Deutschland im ersten Halbjahr 1996 wohl kaum mit einem solchen Schritt gerechnet hatte – ging doch Helmut Kohl zum Jahreswechsel696 und auch noch auf der 33. Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 1996 davon aus, dass deutsche und französische Wehrpflichtige mittelfristig einen Teil ihres Grundwehrdienstes in den Streitkräften des jeweiligen Partnerlandes ableisten könnten.697 Umso größer waren jetzt die Irritationen. Frankreichs Abkehr von der Wehrpflicht brachte die deutsche Politik zudem auch anderweitig in arge Bedrängnis. Die Frage lautete: Was unterscheidet die sicherheitspolitische Lage Deutschlands von der Frankreichs, warum also hat Deutschland eine Wehrpflicht und Frankreich bald nicht mehr? 698 Da half es wenig, wenn der deutsche Bundeskanzler schlicht erklärte, er sehe keinen Anlass, „… das bewährte Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland aufzugeben.“ 699 Auch schien eine substantielle Präsenz französischer Soldaten in Deutschland gefährdet, ein Punkt, der für die Bundesregierung – ähnlich wie 1990 – von hervorgehobener Bedeutung war. Irritiert war man in Bonn ebenfalls über die mit der Streitkräftereform einhergehende Pariser Ankündigung, wesentliche bilaterale Rüstungsprojekte einer Revision unterziehen zu wollen.700 Gerade die Infragestellung des gemeinsamen militärischen Transportflugzeugs, ein Schlüsselvorhaben im Hinblick auf die von Frankreich ja explizit angestrebte Projektionsfähigkeit von Streitkräften und, durch den Auftragnehmer Airbus-Konsortium, Eckpfeiler der sich entwickelnden, europäischen Rüstungskooperation, löste im deutschen Verteidigungsministerium und im Bundeskanzleramt Verwunderung aus, zumal Paris als Begründung vornehmlich Etatprobleme anführte.701 Gleiches hatte der Elysée-Palast schon 694
Erklärung von Bundeskanzler Kohl zur Reform der französischen Streitkräfte vom 23. Februar 1996; in: Bulletin der Bundesregierung vom 28. Februar 1996. 695 Außenminister de Charette vor dem IHEDN am 2. April 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 10. April 1996, hier: S.4. 696 Die Welt 30. Dezember 1995 „Soldatenaustausch schon 1996?“. 697 Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl bei der 33. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 3. Februar 1996, in: Bulletin der Bundesregierung vom 14. Februar 1996. 698 Die Welt 1. März 1996 « Frankreichs Heeresreform bringt Bonn in Verlegenheit » Namensbeitrag von Rüdiger Moniac. 699 Erklärung von Bundeskanzler Kohl zur Reform der französischen Streitkräfte vom 23. Februar 1996; in: Bulletin der Bundesregierung vom 28. Februar 1996. 700 FR 26. Februar 1996 „Frankreich bleibt auf dem Boden. Bonn von Ausstieg aus Euro-Militärtransporter überrascht“. 701 Financial Times 24./25. Februar 1996 „France pulls out of air project“; die FT folgerte zu einer möglichen Umstrukturierung, sprich Verkleinerung des Projekts, zutreffend: “Reducing the size of the aircraft would
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Mitte Februar beim gemeinsamen Projekt des Panzerabwehr- und Erdkampfhubschraubers „Tiger“ getan.702 Dies war ein Novum in der bilateralen Sicherheitspolitik seit 1990, war man zuvor doch bemüht gewesen, finanzielle Aspekte nachgeordnet zu betrachten. Auch waren der Pariser Ausstieg aus der Wehpflicht und die französischen Haushaltsprobleme ja nicht die ersten atmosphärischen Störungen – der Bogen ließ sich bis zurück zum Sommer 1995 spannen, als der Partner die Wiederaufnahme seiner Atomtests verkündet hatte. 2.10 Die Arbeiten an dem Maastricht-Folgevertrag Es muss in engem Zusammenhang mit der französischen Armeereform gesehen werden, dass Verteidigungsminister Millon noch im Februar 1996 das Postulat nach einer Umstrukturierung der Atlantischen Allianz erhob und allem voran die Errichtung eines rein europäischen Generalstabes forderte.703 Es wurde zunehmend deutlich, dass das französische Änderungsstreben nicht nur nationale Strahlwirkung entfalten, sondern gleichsam auch andere Akteure zur Änderung ihrer bisherigen Standpunkte bewegen sollte.704 Das Diktum Alain Juppés, Frankreich verfolge mit seiner Streitkräftereform einen „globalen Ansatz“705, der alle militärpolitischen Aspekte miteinander verwebe, ließ sich auch so interpretieren. Insgesamt muss der französische Vorstoß vor allem aber in direktem Zusammenhang mit den vorbereitenden Arbeiten zum Ratstreffen der Atlantischen Allianz im Juni und der im April 1996 beginnenden Maastricht-Folgekonferenz der EU gesehen werden. Auf dem Berlin-Gipfel sollten die von der Allianz in Brüssel im Januar 1994 begonnenen Arbeiten zur Transformation des Bündnisses und zur Implementierung des CJTF-Konzeptes abgeschlossen werden. Paris ging es hier darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, an den militärischen Beschlüssen des Militärkomitees der NATO und – durch seine Verteidigungsminister – an den strategischen Beschlüssen des Bündnisses maßgeblich mitzuwirken. Basis dieses Gestaltungsanspruches sollte die Schaffung einer „europäischen Verteidigungsidentität“ in der NATO sein.706 Ähnlich wie sein Amtsvorgänger setzte Staatspräsident Jacques Chirac dafür auf das Gewicht eigenständiger europäischer Strukturen – bei Mitterrand war es in erster Linie noch das Eurokorps-Projekt gewesen. Jetzt brachte man einen möglichen europäischen Generalstab auf die Agenda.707 Auch dieses Vorhaben schien geeignet, bei den Verhandlungen mit dem atlantischen Partner eine Verhandlungsmasse in den Händen zu haben, die es – wenn zunächst auch nur theoretisch – ermöglichte, eliminate the main rationale for its development, which is to carry helicopters and tanks which cannot fit into a Hercules [die vorhandene, amerikanische Alternativmodell, MK].” 702 Le Monde 13. Februar 1996 « Bonn presse Paris de maintenir leurs programmes d’hélicoptères » . 703 Verteidigungsministers Millon mit der Wochenzeitschrift „Valeurs Actuelles“; Millon schlug vor, einen autarken Generalstab der Europäer zu schaffen, dem auch Streitkräfte zugeordnet werden könnten, die nicht notwendigerweise der NATO angehörten. 704 Entsprechend zurückhaltend war auch die Reaktion bei den Verbündeten; vgl. etwa FAZ 6. März 1996 „Bonn von Frankreichs Plänen zum Umbau der NATO überrascht“. 705 Premierminister Juppé in seiner Rede vor der französischen Nationalversammlung am 20. März 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. März 1996. 706 Diese Reform sollte nach Vorstellung des Quai d’Orsay noch 1996 implementiert werden; vgl.: Handelsblatt 21. Februar 1996 „Bonn und Paris wollen die Europäisierung der NATO noch in diesem Jahr vorantreiben“. 707 Dieser sollte entweder im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) oder in Form bilateraler Vereinbarungen mit europäischen Regierungen geschaffen werden; vgl.: Die Welt 16. März 1996 „Ein europäischer Generalstab – ohne NATO und USA?“.
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gegebenenfalls eine alternative „europäische“ Handlungsoption verfolgen zu können. Dem gleichen Motiv geschuldet war im Übrigen zu guten Teilen auch die Entscheidung hin auf eine Professionalisierung der Streitkräfte und der Erhöhung ihrer Projektionsfähigkeit. Anknüpfungspunkt für die Initiative zu einem europäischen Generalstab bildete die kurz zuvor in Brüssel errichtete militärische Planungszelle der WEU, die in Frankreich ohnehin schon als europäischer „Ersatz-Generalstab“ gehandelt wurde.708 Eng verbunden hiermit war die Frage, ob es gelingen würde, die Westeuropäische Union als Verteidigungskomponente der EU und/oder als europäischen Pfeiler der NATO weiter auszubauen. Premierminister Juppé schlug hierzu die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Streitmacht unter dem Mandat der WEU vor. Diese sollte eine Stärke von 250.000 bis 300.000 Mann haben.709 Auch sollte die europäische Verteidigung auf eindeutige Missionen festgelegt werden. Da die Europäische Union, so Außenminister de Charette, in ihrem damaligen Stadium nur eine virtuelle Verteidigungskompetenz besaß; die WEU, über Kompetenzen aber keine eigenen Mittel verfüge und das Atlantische Bündnis Kompetenzen und Mittel noch auf seine traditionellen Aufgaben ausgerichtet habe.710 Für die Sicherheit Europas seien mithin drei Eckpunkte unumgänglich: I. II. III.
Die Schaffung einer starken und solidarischen Europäischen Union, die die Integration der WEU in die Strukturen der Union leisten könne. Ein erneuertes, sprich ausgewogeneres Atlantisches Bündnis, welches, neben dem gemeinsamen Vorgehen, den Europäern im Einzelfall Mittel für eigene militärische Aktionen bereit stelle. Eine eigenständige europäische Sicherheitsorganisation, die auch Russland mit einschließen sollte.711
Mit Blick auf die Europäische Union hatte Frankreich ferner einen Generalsekretär oder einen „Hohen Repräsentanten“ für die GASP vorgeschlagen, der vom Europäischen Rat ernannt und kontrolliert werden sollte.712 Mit Blick auf die am 29. März 1996 in Turin eröffnete EU-Regierungskonferenz zur Erarbeitung des Maastricht-Folgevertrages: „…ein wichtiges Ziel dieser Verhandlungen ist es, Europa eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu geben, die es ihm erlaubt, seinen ganzen Einfluss auf der internationalen Bühne geltend zu machen, wenn es erforderlich ist.“713 708
So etwa der Sicherheitspolitiker Jacques Baumel im der Nationalversammlung, zitiert nach: Stuttgarter Zeitung 30. November 1995 „Europa sollte Weltpolitik betreiben“ 709 Premierminister Juppé auf der Konferenz der Europäischen Demokratischen Union in Paris am 13. März 1996 , vgl. u.a.: SZ 14. März 1996 „Juppé für europäische Armee“. Um die angestrebte Gesamtstärke zu erreichen forderte der französische Premierminister bei dieser Gelegenheit die großen europäischen Saaten auf, jeweils 50.000 bis 60.000 Mann beizusteuern. 710 Außenminister de Charette vor dem IHEDN am 2. April 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 10. April 1996, hier: S.5. 711 Ebenda, S.5-6; siehe auch Laurent Goetschel, L’Union européenne et la sécurité collective, in : Relations internationales, Été 1996, S. 143-161, hier : S.152-154. 712 Die französische Seite unterstrich in diesem Zusammenhang erneut: „Der Europäische Rat wird bei der GASP eine zentrale Rolle spielen.“; vgl.: Michel Barnier, Beigeordneter Minister für Europäische Angelegenheiten in seinem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 26. Oktober 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. November 1995. 713 Staatspräsident Chirac in seiner Rede vor beiden Kammern des britischen Parlaments am 15. Mai 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 21 Mai 1996, hier: S.4.
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Die Europäische Union müsse ihre Vertretung nach außen verbessern, ihre Positionen und Interessen besser verteidigen. Erneut wurde deutlich, dass Frankreichs Hinwendung zum Atlantischen Bündnis und das Bemühen um vertiefte europäische Zusammenarbeit nicht als alternative Optionen anzusehen waren, sondern als zwei Seiten derselben Medaille. Dieses deckte sich in weiten Teilen mit der Zielsetzung der deutschen Seite. Auch hier verfolgte man die Konzeption, eine „neue“ europäische Ordnung auf der Basis einer, über die bloße Verteidigungsfähigkeit hinausgehenden, Sicherheitsstruktur mit entsprechend starken Institutionen zu schaffen.714 Unverändert lag für Bonn eine europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik in der Logik des fortschreitenden Integrationsprozesses: Die europäische Integration könne sich nicht alleinig auf eine gemeinsame Außenhandels- und Agrarpolitik oder die Wirtschafts- und Währungsunion beschränken. Der Feind von gestern sei zwar verschwunden, Stabilität würde man aber nicht mehr durch die Ausgewogenheit militärischer Potentiale gewinnen, so etwa Verteidigungsminister Volker Rühe. Heute würde der Feind vielmehr Instabilität heißen.715 Im Einklang mit dem französischen Partner bekannte man sich daher zu einem klaren Gestaltungsauftrag: „Unsere europäische Zentrallage, unser ökonomisches Gewicht und unser Einfluß in allen wichtigen internationalen Organisationen geben uns die Möglichkeit, das Gesicht unseres Kontinents maßgeblich mitzugestalten. […] Stabilität im östlichen Europa gibt es nur, wenn wir NATO und Europäische Union zukunftsfähig machen, sie öffnen für unsere östlichen Nachbarn und diesen Prozeß in die richtige Balance zu einer neuen Partnerschaft mit Russland bringen.“ 716
Streitig zwischen Deutschland und Frankreich war allerdings nach wie vor die Frage, ob die GASP Angelegenheit langfristig Gemeinschaftsaufgabe oder Bestandteil der Regierungskooperation sein sollte.717 2.11 Die Errichtung des Europäischen Pfeilers – Der NATO-Gipfel von Berlin Der WEU-Ministerrat am 7. Mai 1996 im britischen Birmingham stand ganz im Zeichen der Arbeiten an der europäischen Verteidigung. Die Minister erinnerten hier nicht nur an ihr Bekenntnis zur Schaffung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität,718 sondern begrüßten ferner die seit ihrer Tagung in Madrid erzielten Ergebnisse. Zu diesen gehörten: Fortschritte in Richtung auf die Fertigstellung des CJTF-Konzepts, Einrichtung eines ständigen Lagezentrums und der Arbeitseinheit für militärisches Nachrichtenwesen in der Planungszelle am Sitz der WEU und die Einigung auf ein WEU-Konzept für strategische Mobilität zur Erleichterung der Durchführung von in der Petersberg-Erklärung defi-
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Bühl, Europäische Sicherheit, S.144. Volker Rühe am 5. Februar 1996 in Hamburg, in: Bulletin der Bundesregierung vom 14. Februar 1996. 716 Ebenda. 717 Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.80. 718 Diese sollte „…es den Europäern durch wirksame politische Mittel und militärische Fähigkeiten ermöglichen […], ihrer Verantwortung auf dem Gebiet der gemeinsamen Sicherheit und Verteidigung in Europa und darüber hinaus gerecht zu werden und gleichzeitig das transatlantische Band zu stärken.“ Vgl.: Erklärung des WEU-Ministerrats in Birmingham vom 7. Mai 1996; in: Internationale Politik 10/1996, S.76-83. 715
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nierten Missionen.719 Im Umfeld des Treffens trug die französische Seite erneut vor, dass für friedensunterstützende Auslandseinsätze ein einfaches Prinzip zur Anwendung kommen sollte: Teilnahme ausschließlich der Staaten, die dazu bereit und in der Lage seien; demgegenüber sollte den übrigen nicht-teilnehmenden Staaten nicht die Möglichkeit eröffnet werden, die Durchführung solcher Aktionen über ein Vetorecht zu verhindern. Da aber die Friedenseinsätze im Interesse aller Bürger der Union erfolgen und alle Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Sicherheit in einer Schicksalsgemeinschaft stehen würden, wären solche Einsätze von allen Mitgliedsstaaten im Verhältnis zu ihrem wirtschaftlichen und demographischen Gewicht zu finanzieren. Schon zuvor hatte es die Regierung Chirac/Juppé als nicht realistisch erachtet, ein europäisches Sicherheitssystem aufzubauen, das entweder auf dem Prinzip der Einstimmigkeit oder aber einem zwingenden Mehrheitsbeschluss beruhen würde.720 Kein Mehrheitsbeschluss könne Frankreich, Deutschland oder irgendein anderes Land dazu bewegen, gegen seinen Willen in einen Konflikt einzugreifen und das Leben seiner Soldaten einzusetzen. Mit der deutschen Seite teilte man ebenso die Überzeugung, dass die Voraussetzung für eine zukünftig tragfähige transatlantische Partnerschaft eine gerechtere Verteilung der Verantwortung zwischen Europa und Nordamerika sein müsste.721 Dabei waren, nach den Worten des deutschen Verteidigungsministers, zur Schaffung der „Neuen NATO“ vier Aufgabenfelder zu bearbeiten: (I.) Schaffung eines freien und geeinten Europa; (II.) Forcierung der Strukturreform des Bündnisses unter gleichzeitiger, strategischer Öffnung nach Osten und Süden; (III.) Entwicklung einer wirklichen Politischen Union der EU; (IV.) Verbesserung der strategischen Handlungsfähigkeit Europas und deren Sichtbarmachung.722 Zwischen Bonn und Paris schien sich mehr und mehr Konsens darüber einzustellen, dass die Verteidigung des Territoriums von NATO-Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags Hauptaufgabe und vornehmliche Angelegenheit der Allianz bleiben sollte. Dies traf sich mit einer deckungsgleichen Ansicht der britischen Regierung, die zudem seit längerem der Ansicht war, dass die Definition einer europäischen Verteidigungspolitik mit einer nüchternen Beurteilung dessen beginnen sollte, was die Europäer überhaupt an sicherheitspolitischer Zusammenarbeit erwarten könnten. Auch London erachtete es für prinzipiell falsch, separate, rein europäische Militärstrukturen zu entwickeln. Die Europäer, so der offizielle britische Standpunkt, sollte das in der NATO errichtete Fundament nutzen und das Bündnis müsse weiterhin imstande sein, die Verteidigung und die Sicherheit des Kontinents zu gewährleisten.723 Trotz dieser Übereinstimmungen in wichtigen Punkten herrschte zwischen Bonn und Paris seit dem französischen Vorstoß zur Abschaffung der Wehrpflicht vom Februar er-
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Die Minister beauftragten in Birmingham den Ständigen Rat der WEU ferner, in enger Abstimmung mit der NATO an der Umsetzung des CJTF-Konzepts zu arbeiten und das Konzept der WEU zugeordneten Streitkräfte (FAWEU) weiter zu verbessern. 720 Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.80-81. 721 Helga Haftendorn, Le triangle stratégique Bonn-Paris-Washington, in: Politique Étrangère 3/1996, S.553-567 ; hier : 361-363. 722 Volker Rühe an der John Hopkins School in Washington D.C. am 30. April 1996; in: Bulletin der Bundesregierung vom 2. Mai 1996. 723 Alle zu schaffenden Strukturen müssten daher einer „variablen Geometrie“ Rechnung tragen. Vgl.: Konzept der britischen Regierung für die Erörterung der Europäischen Sicherheit auf der Regierungskonferenz 1996 vom 1. März 1995, in: Internationale Politik 9/1995, S.74-79.
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kennbar Disharmonie,724 die auch im Umfeld des informellen Treffens zwischen Kohl und Chirac am 10. Mai 1996 in Bonn nicht überwunden werden konnte. Zwar sagte Chirac dem deutschen Kanzler bei der etwa dreistündigen Zusammenkunft zu, nun doch und trotz der einschneidenden Einsparungen im Verteidigungsetat an den deutsch-französischen Militärund Rüstungsprojekten festzuhalten und relativierte damit frühere Verlautbarungen.725 Hinsichtlich des allgemeinen Kurses blieb Jacques Chirac jedoch vage. Grundsätzliche Einigkeit bestand nur noch über das gemeinsame Vorgehen in Bezug auf das Verhältnis EU-NATO: Auf dem anstehenden NATO-Gipfel in Berlin wollten beide Partner die Arbeiten zur Errichtung eines europäischen Pfeilers in der Atlantischen Allianz entscheidend voranbringen.726 Hierzu hatte der französische Generalstabschef, General Jean-Philippe Douin, einige Tage zuvor in einer Sitzung des NATO-Militärausschusses in Brüssel erklärt, sein Land sei bereit, sich in eine „neue militärische Struktur“ der NATO einzugliedern.727 Überhaupt schien es für Paris mehr und mehr entscheidend zu sein, zu einer besseren Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu kommen.728 Im Vorfeld des NATO-Gipfels von Berlin erklärten in diesem Sinne französische Politiker und Experten übereinstimmend, die weitere Entwicklung der NATO müsse in Richtung „Militärisierung“ und nicht in Richtung „Politisierung“ gehen.729 Dabei verband sich die Logik des „europäischen Pfeilers“ eng mit dem Bestreben, innerhalb der NATO-Struktur Bestandteile einer doppelten, einer europäischen sowie einer atlantischen, Nutzung zu erkennen, wie Außenminister de Charette es formulierte.730 Es entsprach daher vollends der französischen Zielsetzung als das Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats in Berlin am 3. Juni 1996 erklärte, der 1990 in London eingeleitete und auf dem Brüsseler Gipfel im Jahr 1994 weiter vorangebrachte Prozess der Anpassung und Erneuerung des Bündnisses, habe nunmehr den für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität entscheidenden Impuls erhalten.731 Die Allianz erklärte in 724
Axel Sauder, Les changements de la politique de défense française et la coopértion franco-allemande, In : Politique étrangère 3/1996, S.583-597, insbesondere : 585-587 ; auch: International Herald Tribune 30. Mai 1996 « French-German Military Vision Clouds Again ». 725 FR 13. Mai 1996 „Rüstungsprojekte trotz Sparetats“. 726 Le Monde 12./13. Mai 1996 « Helmut Kohl et Jacques Chirac jettent les Bases du « pilier européen » de l’OTAN » ; vgl. hierzu auch den gemeinsamen Beitrag des deutschen und des französischen Außenministers für die Tageszeitungen FAZ, Le Figaro und Financial Times vom 29. März 1996, in dem u.a. heißt: „Im Rahmen der Atlantischen Allianz muß daher eine echte europäische Identität entstehen.“. 727 Handelsblatt 25. April 1996 „Chirac zu militärischer Kooperation bereit“. „Der Begriff „militärische Integration“ existiert nicht mehr“, erklärte Douin weiter. Künftig müsse man von einer „neuen Struktur“ sprechen. „Entweder wird eine neue Struktur geschaffen, dann machen wir mit; oder nicht – dann machen wir nicht mit“. 728 Juppé vor dem IHEDN am 10. September 1996, abgedruckt in. Frankreich-Info vom 16. September 1996, S.3. 729 Meimeth, Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, S.23 mit den entsprechenden Nachweisen. Im Vorfeld des Berlin-Gipfels war zudem durch Verteidigungsminister Millon erneut die Alternative einer rein europäischen Kommandostruktur thematisiert worden; vgl.: Solms, Friedhelm, Deutschfranzösische Dissonanzen, in : Blätter für deutsche & internationale Politik 1997, S.821-829, hier S. 822. 730 Außenminister de Charette vor dem IHEDN am 2. April 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 10. April 1996, hier: S.5. Dabei befände man sich im übrigen in bester gaullistischer Tradition, da der europäische Verteidigungspfeiler ja schon 1962 von Frankreich ins Auge gefasst worden sei, aber nicht hätte verwirklicht werden können; vgl.: De Charettes Ausführungen am 19. März 1996 in der Nationalversammlung zu den Beziehungen zur NATO, in: Bulletin d’ information Nr. 57/93 vom 20. März 1996 731 Damit wurde ein Anpassungsprozess zuende gebracht, an dessen Startpunkt der NATO-Gipfel von Rom am 7./ 8. November 1991 noch explizit zwischen der „Entwicklung einer europäischen Sicherheitsidentität und Rolle in der Verteidigung“ im Rahmen der WEU und EU und einem „europäischen Pfeiler im Bündnis“ unterschieden hatte. Im Kommuniqué der Ministertagung zum Berlin-Gipfel 1996 definierte dann § 7 als Grundlage für die Entwicklung der ESVI innerhalb der Allianz eine „ die Aufstellung militärisch kohärenter und leistungsfä-
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Berlin formell, die Entwicklung der ESVI in der NATO zu unterstützen, indem sie auf Ersuchen und in Abstimmung mit der WEU Strukturen bereitstelle und die militärische Planung für typische, von der WEU identifizierte Aufgaben durchführe. Auf der Grundlage der vom WEU-Rat und Nordatlantikrat bereitzustellenden politischen Weisung sollte dies im Wesentlichen folgende Punkte umfassen: (I.) die erforderlichen Informationen über Ziele und Umfang für typische WEU-Aufgaben; (II.) Identifikation von für Planungserfordernissen und Übungen von Führungselementen und Truppenteilen für typische WEU-Operationen; und (III.) Entwicklung von Operationsplänen, die durch NATO-Militärausschuss und Rat an die WEU zur Prüfung und Billigung weitergeleitet werden. 732 Die Allianz vereinbarte in Berlin weiter, ihre Strukturen entsprechend den Bedürfnissen der Europäer umzugestalten, wobei allerdings die oberste Priorität der Beibehaltung der Leistungsfähigkeit des Bündnisses galt. Damit war der Wirkmächtigkeit der ESVI zugleich eine klare Grenze gezogen – dies nicht zuletzt deshalb, weil man in Washington befürchtete, dass die EU-Regierungen eines Tages mit vorab bestimmten kleinsten gemeinsamen Nenner in den NATO-Abstimmungsprozess hineingehen würden und sie so die Effektivität des Bündnisses und seine Handlungsfähigkeit aushöhlen könnten. Die Internal Adaption, die Einsatzbefähigung der Allianz auf dem Feld der sog. Non-Article 5 – objectives,733 ruhte dabei auf dem CJTF-Konzept. Dies war zugleich Schlüsselelement der ESVI. Der starre Beistandsautomatismus des Art. 5 NATO-Vertrag wurde so aufgebrochen und die Möglichkeit eröffnet, Fähigkeiten und Ressourcen flexibel einzusetzen und coalitions of the willing zu bilden, die auch Kontingente beinhalten konnten, die nicht von NATOMitgliedsländern bereitgestellt wurden. Durch diese Setzung, die gerade den Ländern Osteuropas eine enge Kooperation mit der Allianz ermöglichte, zementierte die NATO ihre Position als maßgebliche Sicherheitsorganisation in Europa. Als weitere Zielsetzungen der ESVI wurden der Erhalt der Allianz als wesentliches Forum für Konsultationen, die volle Transparenz zwischen NATO und WEU bei der Krisenbewältigung und vor allem die Nutzung des CJTF-Konzepts als militärisches Strukturprinzip festgelegt.734 Die letztgenannte Festlegung war der französischen Seite – mit Blick auf Missionen im Rahmen des Petersberg-Spektrums – ebenso wichtig hervorzuheben, wie die Schaffung der NATO-Lenkungsgruppe, welche die Leitlinien und die möglichen Interventionen des Bündnisses auf politischer und militärischer Ebene koordinierte. Noch in Berlin erklärte Außenminister de Charette hierzu: „Auf Anregung der Europäer durch einen gemeinsamen Konsens, wie ich meine, wurde die Notwendigkeit erkannt, den politischen und den militärischen Bereich durch diese Gruppe stärker miteinander zu verbinden, denn es hat sich in der Praxis gezeigt, daß nicht nur die Entscheidung politisch ist, sondern daß [sic] auch ein großer Teil der Umsetzung, viele der konkreten
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higer Kräfte […], die unter der politischen Kontrolle und strategischen Richtlinienkompetenz der WEU operieren können.“ Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats in Berlin am 3. Juni 1996; in: Internationale Politik 10/1996, S.87-97. Dieser beschrieb Missionen, die das Engagement der NATO auf die Bereiche Konfliktbegrenzung und Friedenserhaltung erweitern. Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats in Berlin am 3. Juni 1996; in: Internationale Politik 10/1996, S.87-97; siehe auch: Le Figaro 14. Juni 1996 « OTAN : le retour de la France ».
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Impulsgeber für die Weiterentwicklung von NATO und EU Arbeiten und täglichen Entscheidungen bei einer Intervention zwar im militärischen, aber auch im politischen Bereich liegen.“735
Frankreich, bemüht darum, Europa einen eigenen Platz in der Sicherheitspolitik zu schaffen, sah sich bestärkt: Der WEU und damit den Europäern wurden nun tragfähige eigene militärische Handlungen ermöglicht. Als weiteres Ergebnis des Berlin-Gipfels lässt sich die Schaffung eines Stellvertretenden SACEUR als faktischen Chef der europäischen Komponente des Bündnisses und damit die Möglichkeit einer rein europäischen Befehlskette festhalten. Die Zufriedenheit auf französischer Seite war augenscheinlich: Ein neues Bündnis sei dabei, sich zu organisieren; in diesem sei Frankreich bereit, voll und ganz seinen Platz einzunehmen. Allerdings werde sein Land weiterhin allein und frei über seine Streitkräfte verfügen sowie über ihren Einsatz entscheiden: „Kurz, es behält – was selbstverständlich ist, aber ausdrücklich gesagt werden sollte – seine Unabhängigkeit und seine Souveränität.“736 Auch die deutsche Seite bewegte sich auf dieser Linie. Die noch vor wenigen Jahren so diametral positionierten Organisationen WEU und NATO schienen nunmehr weitgehend in Übereinstimmung gebracht. In Bonn begrüßte man dabei – ebenso wie der französische Partner – vor allem die Tatsache, dass NATO-Kräfte und -Fähigkeiten nun der WEU zur Verfügung gestellt werden konnten. Allerdings erkannte man ebenso klar, dass die hierin implizierte Hürde eines einstimmigen Beschlusses des NATO-Rats bedeutete, das alle, auf dem Berliner Abkommen fußenden Einsätze der WEU durch ein amerikanisches Veto blockierbar waren.737 Zufriedenheit bestand im Bundeskanzleramt und im Verteidigungsministerium zudem über die Tatsache, dass die zu findende neue Verzahnung von atlantischer und europäischer Sicherheit dem Eurokorps aufgrund seiner auf den Pfeilern SACEUR- und WEU-Abkommen beruhenden Brückenstellung zwischen beiden militärischen Strukturen eine gewichtige Bedeutung zumaß. Die deutsch-französische Sicherheitspartnerschaft schien – nach Monaten der Stagnation – wieder auf festerem Boden zu stehen. So begrüßte dann auch der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat die Ergebnisse der Ministertagung vom 3. Juni als „einen bedeutenden Meilenstein“738 zur Entwicklung der ESVI. Durch die Berliner Beschlüsse sah sich die WEU in ihrer Rolle als europäische Verteidigungsorganisation ebenso gestärkt, wie durch das am 2. Mai 1996 ausgefertigte WEUNATO-Sicherheitsabkommen. Dies beantwortete jedoch nicht die Frage, ob die Westeuropäische Union ihren Status als selbstständige Organisation behalten würde oder mittelfristig – wie es das Ziel der meisten WEU-Mitglieder war – in die Europäische Union inkorporiert würde.739
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Außenminister de Charette auf dem NATO-Ministerrat in Berlin am 3. Juni 1996, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 6. Juni 1996, S.2. 736 Der französische Außenminister Herve de Charette in seiner Pressekonferenz auf dem NATO-Ministerrat in Berlin am 3. Juni 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 6. Juni 1996; siehe auch: Jacques Chirac vor dem IHEDN am 8. Juni 1996, in: Internationale Politik 10/1996, S.103-106. 737 Vgl.: Löwenstein, Das Europäische Korps im Rahmen der Atlantischen Allianz, S.259. 738 Gemeinsame Erklärung des DFVSR vom 5. Juni 1996 anlässlich der Tagung in Dijon, in: Bulletin der Bundesregierung vom 19. Juni 1996. 739 FAZ 7. Juni 1996 „WEU begrüßt NATO-Beschluss“.
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Widerstand hiergegen kam vor allem aus London. Außenminister Robin Cook führte an, es sei nicht akzeptabel, wenn die Europäische Union durch die schrittweise Übernahme der WEU eine eigenständige Verteidigungsorganisation aufbaue, selbst wenn diese innerhalb der NATO angesiedelt sei. Notwendigkeit für neue Strukturen bestehe nicht, da die NATO sich bewährt habe.740 In den Vereinigten Staaten fand die skeptische Haltung der Regierung Clinton gegenüber den WEU-Plänen breiten Widerhall im Kongress. Resolutionen sowohl des Senats als auch des Repräsentantenhauses, die sowohl von den Republikanern als auch von den Demokraten mitgetragen wurden, hoben die besondere Bedeutung der Atlantischen Allianz hervor.741 Allerdings hatte diese angloamerikanische Position durch das Ausscheren der Niederländer aus dem Club der „Atlantiker“ an Boden verloren.742 2.12 Welche Zielsetzung für die GASP? Nachdem das Kooperationsverhältnis von WEU und NATO prinzipiell geklärt schien, waren die deutsch-französischen Gespräche im Sommer 1996 von Gesprächen zum weiteren Ausbau und den Zielsetzungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer geprägt. Für Paris war dabei bekanntermaßen entscheidend, dass die Reform der Atlantischen Allianz nur dann erfolgreich sei, wenn die Europäer in der Lage wären, der GASP eine starke Eigenständigkeit zu verleihen. Erreicht werden sollte dies ausschließlich über eine Stärkung des Intergouvernementalen Prinzips. Die Rolle des Europäischen Rats bei der Definition der Leitlinien und Prioritäten der gemeinsamen Verteidigung sollte entscheidend gestärkt werden.743 Zudem setzte Paris, hierin ähnlich der deutschen Seite, auf eine Flexibilisierung der Entscheidungsverfahren in der Union. Europa, so die Überzeugung Jacques Chiracs, sollte so befähigt werden, ein « grand acteur du monde » zu werden.744 Zusammensetzen sollte sich dieses Vorhaben aus drei Komponenten; einer « …Union européenne forte, une Alliance atlantique rénovée et une organisation de sécurité européenne donnant toute sa place à la Russie. »745 Die konzeptionelle Übereinstimmung dieser Trias zu de Gaulles außen-politischem Tableau ist deutlich erkennbar, die Traditionslinien augenscheinlich. Dies galt im gleichen Maße für die Abneigung der Administration Chirac/Juppé gegen alles Supranationale.746 Es sollte lediglich versucht werden, „…dem nationalen Elan die europäische Dimension zu verleihen“747 – insbesondere auf dem Feld der Verteidigungspolitik, denn „…die Verteidigung Frankreichs darf nicht eng konzipiert sein, wie ein Rückzug auf uns selbst – heute 740
Auf britischer Seite konnte man sich eher mit dem Wortlaut des Kommuniqués des Berlin-Gipfels anfreunden, welches ausführte: „Diese neue NATO ist zu einem integralen Bestandteil der sich herausbildenden, breit angelegten kooperativen Sicherheitsstruktur in Europa geworden.“ Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats in Berlin am 3. Juni 1996; in: Internationale Politik 10/1996, S.87-97. 741 Thränert, Die USA und die ESVP, S.222. 742 Regelsberger, Die GASP, S.16. 743 Juppé vor dem IHEDN am 10. September 1996, abgedruckt in. Frankreich-Info vom 16. September 1996, S.3. 744 Le Monde 9./10. Juni 1996 « Jacques Chirac exhorte l’Europe à s’affirmer comme « un grand acteur du monde ». 745 So Chirac am 8. Juni 1996 vor dem IHEDN. 746 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.174. 747 Alain Juppé in seiner Rede vor dem IHEDN am 7. September 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 11. September 1995.
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weniger denn je.“748 Grundeinsicht dabei war, dass Frankreich – anders als die Vereinigten Staaten in ihrer Position als weltweite „Supermacht“749 – aufgrund seiner begrenzteren Ressourcen zur Durchsetzung seiner Interessen auf Kooperation mit Partnern angewiesen sei. Nach wie vor hatte man in Paris nicht die Absicht, eine „… von ihnen [den Vereinigten Staaten, MK] beherrschte unipolare Welt hinzunehmen.“750 Deswegen war Chiracs Akzeptanz der ESVI-Politik lediglich eine Anpassung oder wie Jean-Louis Dufour es formulierte: „Le monde change, le gaullisme aussi“.751 An der Seine präferierte man von den beiden möglichen Entwicklungsmodellen, die für die GASP im Gespräch waren, jenes einer – nach NATO-Vorbild – stärker personenbezogenen Struktur, welches die Einsetzung eines „Generalsekretärs“ vorsah. Gegenüber dem Alternativmodell, der Einsetzung eines Direktoriums durch den Ministerrat, sah man durch die Einsetzung eines Generalsekretärs die Frage der Permanenz und der Kohärenz der europäischen Außenpolitik besser gelöst, zumal dieser „hohe Vertreter“ direkt dem Europäischen Rat nachgeordnet sein sollte.752 Mit Blick auf das Binnenklima der deutsch-französischen Kooperation war man indes bestrebt, wieder in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen. Der gemeinsame Verhandlungserfolg des NATO-Gipfels von Berlin schien hierfür die optimale Voraussetzung zu bilden. Der 67. deutsch-französische Gipfel am 5./6. Juni 1996 bemühte sich daher sichtlich um Einhelligkeit. Der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat würdigte ausdrücklich den Zwischenbericht zum gemeinsamen deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungskonzept, das am 10. Mai in Bonn durch Chirac und Kohl angefordert worden war. Dieses Papier sollte auf dem nächsten bilateralen Gipfel im Dezember beschlossen werden und die „…sehr weitgehenden Übereinstimmungen“ in den Auffassungen beider Länder hinsichtlich der Strategie, der Aufgaben der Streitkräfte und der Rüstungspolitik hervorheben.753 Gerade auf dem Feld der gemeinsamen Rüstungspolitik war jedoch nach wie vor vieles im Unklaren. Zwar wurden die Verteidigungsministerien beider Länder beauftragt, ein allgemeinen Rahmenabkommens über die Satellitenprogramme (Projektumfänge: Helios II & Horus) bis zum Herbstgipfel des DFVSR vorzubereiten, doch überwogen die Finanzierungsunsicherheiten.754 Dabei erschien gerade Frankreich auf diesem Feld immer weniger konsensbereit.755 748
Premierminister Juppé in seiner Rede vor der französischen Nationalversammlung am 20. März 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. März 1996. 749 Zum Rangverhältnis europäischer und amerikanischer Militärpotenziale vgl.: Oliver Thränert, Zwischen Hoffnungen und Befürchtungen: Die USA und die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: HansGeorg Ehrhardt (Hrsg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Positionen, Perzeptionen, Probleme, Perspektiven, Baden-Baden 2001, S.216-228, hier S.216-220. 750 Außenminister de Charette in seinem Interview mit Le Figaro vom 20. Dezember 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. Dezember 1995, hier: S.3. 751 L’Evenement Du Jeudi – EDJ vom 27. Juni 1996 752 Dieses deckte sich mit seitens der Atlantischen Allianz erhobenen Forderungen: „Wir brauchen darüber hinaus mehr Kontinuität sowie ein „Gesicht“ und eine „Stimme“ für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). […] Diese Persönlichkeit würde den Rat in allen Fragen der GASP unterstützen und die gemeinsame Arbeitseinheit leiten.“ Vgl.: Kommuniqué der Tagung der NATO-Verteidigungsminister als Nordatlantikrat am 13. Juni 1996 in Brüssel, in: Internationale Politik 10/1996, S.108-115. 753 Gemeinsame Erklärung des DFVSR vom 5. Juni 1996 anlässlich der Tagung in Dijon, in: Bulletin der Bundesregierung vom 19. Juni 1996; zur französischen Bewertung der Ergebnisse des Gipfeltreffens von Dijon vgl. auch: Charles Millon, Vers une défense nouvelle, in: Défense Nationale, 7/1996, S.13-19, hier: S.17. 754 Es mutete da schon etwas seltsam an, dass auf dem Höhepunkt der bilateralen Finanzierungs-querellen in zentralen Rüstungsprojekten ein ehemaliger französischer Korvettenkapitän in einer der führenden Tagesszei-
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Der Eindruck der deutschen Seite, dass Paris nur noch dem eigenen Interesse folgte756 und hier zudem ziemlich erratisch vorging, steigerte sich noch einmal, als am 17. Juli 1996 die Auswirkungen der Reform der französischen Streitkräfte auf die in Deutschland stationierten Truppen verkündet wurden. Ohne den Aufenthaltsvertrag aufzulösen,757 sollte die Masse der in Deutschland stationierten französischen Streitkräfte (Forces Françaises Stationées en Allemagne FFSA) bis zum Jahr 1999 abgezogen werden. Danach betraf die Auflösung oder Verlegung der auf deutschem Boden stationierten französischen Einheiten insgesamt elf Regimenter und sollte sich auf den Zeitraum zwischen 1997 und 1999 erstrecken. Wichtig war der französischen Seite die Betonung ihres unveränderten Engagements im Rahmen des Eurokorps. Neben der Verlegung von Logistik- und Fernmelderegimentern sollten die vier Regimenter der dem Eurokorps zugeordneten und von der Auflösung betroffenen 1. Panzerdivision durch vier gleichwertige, allerdings in Frankreich stationierte, Einheiten ersetzt werden.758 In Deutschland verblieben nach der Reform neben den drei (teil-)französischen Einheiten der deutsch-französischen Brigade (dem Stab und dem Versorgungsbataillon in Müllheim, dem Panzerspähregiment 3 in Immendingen und dem Infanterieregiment 110 in Donaueschingen) nur das Jägerbataillon 16 in Saarburg.759 Bundeskanzler Helmut Kohl hatte der Stationierung französischer Einheiten auf deutschem Boden eine hohe Bedeutung und Symbolkraft beigemessen und sie als Ausdruck der vertieften Kooperation beider Länder stets begrüßt. Dass diese nun aufgrund von rein haushalterischen Erwägungen faktisch beendet wurde, bestätigte den Eindruck, dass Jacques Chirac für bilaterale Symbolpolitik allein wenig übrig hatte. Anders als zuvor wurden die deutsch-französischen Kooperationsprojekte nunmehr anscheinend einer harten KostenNutzen-Kalkulation unterstellt. Zwar beschwor man in Paris – etwa mit Blick auf die operationellen Fähigkeiten (Einsatzplanung, Kommunikation, Verlegung etc.) – gerne die bilaterale und die europäische Dimension760 oder den gemeinsamen Willen Frankreichs und Deutschlands als „Motor“ Europas.761 Aus Bonner Sicht waren dies jedoch mehr und mehr Worthülsen ohne konkreten Inhalt. 762 Es war wohl nicht ohne Zusammenhang mit der französischen Verteidigungs- und Haushaltspolitik, als das Bonner Verteidigungsministeritungen den Bau eines gemeinsamen Flugzeugträgers forderte; vgl.: Le Monde 7. Juni 1996 „Construisons un porte-avions avec l’Allemagne“ par Philippe Sautter . 755 Vgl. in diesem Sinne auch die Ausführungen Juppés vor dem IHEDN am 10. September 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 16. September 1996, S.3. 756 Zu den Motivationslagen auf französischer Seite vgl. auch: Medard Ritzenhofen, Diplomatische Aktivitäten, innenpolitische Ansätze. Jacques Chirac bevorzugt eine Außenpolitik „tous azimuts“, in: Dokumente 1996, S.188-191. 757 Im Notenwechsel vom 21. Dezember 1966 hatte Frankreich zudem erklärt, dass es die Ausübung seines Aufenthaltsrechts in der Bundesrepublik vom Einverständnis der deutschen Regierung abhängig mache. Zur Abzugsankündigung vgl. auch: Karl-Heinz Bender, Das Ende einer Epoche. Der Abzug der französischen Streitkräfte, in: Dokumente 1996, S.462-466. 758 Le Monde 19. Juli 1996 « Modalités nouvelles pour l’engagement français dans l’Eurocorps ». h ierin heißt es u.a.: « La France a proposé aux allemands, d’autre part, de mettre, le cas échéant, à la disposition de l’Eurocorps, des « modules » de forces plus légères et créés pour la circonstance, comme des unités d’hélicoptères. » 759 Vgl. Frankreich-Info vom 17. Juli 1996. 760 Premierminister Juppé in seiner Rede vor der französischen Nationalversammlung am 20. März 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. März 1996. 761 Alain Juppé in seiner Rede vor dem IHEDN am 10. September 1996, abgedruckt in. Frankreich-Info vom 16. September 1996. 762 Zum sich verändernden deutsch-französischen Verhältnis vgl. u.a.: Daniel Colard, Le partenariat Paris-Bonn: un couple modulable, in: Défense Nationale 19/1996, S.61-71, insbesondere: S.67-71.
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um Anfang Oktober 1996 verlautbaren ließ, der geplante deutsch-französische Beobachtungssatellit sollte vorerst nicht gebaut werden.763 Für Verteidigungsminister Rühe hatte, wie er vor dem Verteidigungsausschuss des Bundestages im Rahmen der Vorstellung des geänderten Beschaffungskonzept der Bundeswehr ausführte, auch der Bau der Satellitenprogramme Helios II und Horus keine oberste Priorität mehr. Auch vom deutschfranzösischen Kampfhubschrauber Tiger sollten in den Jahren 2001 bis 2006 nur noch 50 von ehemals projektierten 212 Maschinen beschafft werden.764 Bonn drückten schon länger haushaltspolitische Zwänge, doch hatten diese bisher bei der Finanzierung deutschfranzösischer Projekte zurückgestanden. Die nunmehrige Ankündigung bedeutete daher eine markante Zäsur im bilateralen Verhältnis, die als Reaktion auf einen seit dem Sommer 1995 veränderten Politikstil der Administration Chirac/Juppé zu werten ist. Für das – gerade in Rüstungsfragen gestörte – deutsch-französische Verhältnis bedeutete es folglich eine Entlastung, als Ende Oktober 1996 offiziell wurde, dass sich Großbritannien ebenso wie Italien an der von Paris und Bonn initiierten Europäischen Rüstungsagentur als Gründungsmitglieder beteiligen wollten.765 Überhaupt bewahrte die positive europäische Entwicklung im Herbst 1996 das bilaterale Verhältnis vor einer schlimmeren Hängepartei. So wurden auf der Tagung des WEUMinisterrats am 19. November 1996 in Ostende die Beziehungen zur NATO entscheidend geändert. Die WEU hatte im Vorfeld einen Katalog zu möglichen WEU-Missionen erarbeiten lassen, die auf Basis der Petersberg-Aufgaben einen Rückgriff auf Mittel und Kapazitäten der NATO erforderlich machten. In Ostende galt es, die Grundlage für ein WEUNATO-Rahmenabkommen zu legen, welches die genauen Modalitäten der gemeinsamen Mittelnutzung regeln und ein Verfahren zur gegenseitigen Einsatzplanung festlegte. Nach Auffassung Bonns ging es hierbei vornehmlich darum, innerhalb der NATO militärisch kohärente und leistungsfähige Streitkräfte aufzustellen, die auch unter der politischen Kontrolle und strategischen Richtlinienkompetenz der WEU operieren konnten.766 Dieses Anliegen deckte sich mit ähnlich lautenden Überlegungen innerhalb der Allianz.767 Hingegen setzte Paris unverändert auf die Stärkung der europäischen Komponente. Der Europäische Rat müsse zu der höchsten Konzeptions- und Entscheidungsinstanz in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung ausgebaut werden, auch um die institutionellen Bindungen zwischen EU und WEU enger zu fassen: „Die WEU muß – wie in Maastricht vereinbart – die eigenständige Verteidigungskomponente der Europäischen Union werden.“768 Dennoch sah man sich in Bonn und Paris, was die Entwicklung des Komplexes NATO-WEU-GASP anging, auf gutem Wege. Dazu trug auch die deutsche Unterstützung des französischen Anliegens bei, im Rahmen der Rückkehr Frankreichs in das Bündnis ein 763
FR 8. Oktober 1996 „Wenig Chancen für deutsch-französische Satelliten. Im Verteidigungsministerium fehlt nach den Kürzungen das Geld / Zusage des Bundeskanzlers in Frage gestellt“. 764 Zu weiteren Beschaffungsvorhaben, die durch die Kürzungen gefährdet waren, gehörten der Eurofighter, ein Einsatzgruppenversorger der Marine und andere kleinere Rüstungsvorhaben; FAZ 10. Oktober 1996 „Die Bundeswehr muss sparen“. 765 Die Gründung der Agentur war für den 12. November 1996 vorgesehen. U.a.: Le Figaro 2./3. November 1996 « Londres et Rome rejoignent l’agence de l’armement. La Grande-Bretagne et l’Italie seront aux côtés de la France et de l’Allemagne » . 766 Bulletin der Bundesregierung 104/1996. 767 Kommuniqué der Tagung der NATO-Verteidigungsminister als Nordatlantikrat am 13. Juni 1996 in Brüssel, in: Internationale Politik 10/1996, S.108-115. 768 Jacques Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.2.
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bedeutendes militärisches Oberkommando besetzen zu können. Jacques Chirac hatte sich bei seinem amerikanischen Amtskollegen Bill Clinton persönlich für Besetzung des Regional-Kommandos NATO-Süd durch einen Franzosen verwandt.769 Die amerikanische Seite hatte die Anfrage aber negativ beschieden, weswegen sich die personelle Besetzung des Regional-Kommandos NATO-Süd, dem bisher stets ein Amerikaner vorgestanden hatte, zu einem grundsätzlichen Dissens entwickelt. Dabei ging es zu guten Teilen auch um die anstehende Strukturreform des Atlantischen Bündnisses. Angedacht war die Reduzierung der bestehenden insgesamt acht NATORegionen in Europa und im Atlantik auf vier bis sechs Kommandobereiche, zum anderen um die Streichung einer kompletten Entscheidungsebene sowie um die Verringerung der 65 integrierten Hauptquartiere auf höchstens 20.770 Für Frankreich ging es bei dieser Strukturdebatte vor allem darum, ob neben NATO-Nord und NATO-Mitte, die unter britischem bzw. deutschem Kommando standen, nicht auch das Kommando NATO-Süd und damit alle europäischen Regionen zukünftig unter Führung eines Europäers stehen sollten. Allerdings hatte die amerikanische Regierung schon im Vorfeld wiederholt durchblicken lassen, dass sie den Posten in Neapel auf keinen Fall zur Disposition stellen würde, zumal ihm unter anderem die 6. amerikanische Flotte im Mittelmeer unterstand, die eine strategische Schlüsselfunktion für das amerikanische Engagement im Nahen Osten hatte. Aus Washingtoner Sicht hatte sich Chirac, dessen Ansinnen, ein bedeutendes Kommando zu erhalten, man im Prinzip nachvollziehen konnte, daher schlichtweg die falsche Position ausgesucht.771 Im Machtspiel um die wichtigsten Kommandopositionen in der neustrukturierten NATO ergriff der deutsche Verteidigungsminister Rühe Partei für den französischen Partner. Frankreichs Ansinnen sei eine „europäische Position“.772 Es müsse klar werden, so Rühe am 19. November in London, dass in der Neuen NATO – einem Bündnis mit neuer Rolle und neuen Aufgaben – eine angemessene Balance von gemeinsamer Verantwortung und gemeinsamen Lasten geschaffen würde, welche sowohl amerikanische als auch europäische Interessen gleichermaßen gerecht werde. In dieser Atlantischen Allianz könne folglich wenig so bleiben, wie es früher war. Niemand könne für sich überproportionalen Einfluss reklamieren, der den grundlegend veränderten politischen und strategischen Bedingungen nicht entspräche. 773 Auch der deutsche Bundeskanzler begrüßte in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich die französischen Vorbereitungen zur vollständigen Rückkehr in die atlantischen Strukturen774 und unterstützte so gleichsam die französischen Ambitionen. Der deutsch-französische Gipfel Anfang Dezember 1996 in Nürnberg war demgegenüber wieder von den leidigen Rüstungsfragen dominiert. Die deutsche Seite ließ nun auch offiziell verlautbaren, dass sie den Eintritt in die Satellitenprogramme Helios II und Horus 769
International Herald Tribune 22. November 1996 „France softens demand for NATO post“. NZZ 17. November 1996 „Streit um das Regional-Kommando NATO-Süd“. So war man in Washington durchaus bereit, Paris, im Rotationsverfahren mit Großbritannien und Deutschland die anderen europäischen Regionalkommandos oder das Oberkommando über die im Aufbau befindlichen NATO Rapid-Reaction Forces anzubieten. Vgl.: International Herald Tribune 6. Dezember 1996 „France and NATO“. 772 FAZ 15. Oktober 1996 « Rühe für erste kleine NATO-Erweiterung bis zum Jahr 1999“. 773 Verteidigungsminister Rühe am 19. November 1996 vor dem Royal Institute of International Affairs in London; in: Internationale Politik 2/1997, S.108-113. 774 Bundeskanzler Kohl in seinem Beitrag für Le Nouvel Observateur vom 28. November 1996. 770 771
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angesichts der aktuellen Haushaltslage zurückstellen würde.775 In Nürnberg wurde am 9. Dezember 1996 zudem das gemeinsame deutsch-französisches Sicherheits- und Verteidigungskonzept durch den DFVSR verabschiedet. Der guten Tradition eines gemeinsamem Briefes des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates folgend, hatte das Schreiben diesmal als Hauptgegenstand den eindringlichen Appell zum weiteren Ausbau der europäischen Außenpolitik. Das Schreiben forderte die „…stufenweise Annäherung einer operativ gestärkten WEU an die europäische Union mit dem Ziel ihrer schrittweisen Integration in die Europäische Union.“ Als „ersten Schritt“ schlugen Chirac und Kohl hierfür die Einfügung einer allgemeinen politischen Solidaritätsklausel in die Verträge, die „… unterhalb der Schwelle einer militärischen Beistandsklausel liegen solle“, sowie die Verankerung der sog. PetersbergAufgaben der WEU im neuen Unionsvertrag vor. Gerade auf dem Feld der GASP müsse die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anstehenden erneuten Erweiterungsrunden – durch eine größere Effizienz der Entscheidungsverfahren sowie eine wirksamere Umsetzung der Beschlüsse erhöht werden. Hierzu solle der Europäische Rat in die Lage versetzt werden, die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der GASP bestimmen zu können. Zudem wurden Maßnahmen zur Lockerung des Konsensprinzips angeregt. Im Bereich der GASP solle zudem verstärkt auf Mehrheitsentscheidungen zurückgegriffen werden; insbesondere bei so genannten reinen Durchführungsbeschlüssen.776 2.13 Das deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept Mit Beginn des Jahres 1997 übernahm Frankreich die Präsidentschaft der Westeuropäischen Union. Schon im vorangegangenen Dezember hatte Jacques Chirac die Agenda der französischen WEU-Präsidentschaft mit der Benennung dreier WEU-Prioritäten umrissen: Diese seien der (I.) Aufbau der erforderlichen operativen Fähigkeiten, (II.) Stärkung der institutionellen Bindungen zur Europäischen Union und (III.) Restrukturierung ihrer internen Funktionsweise.777 Zunächst aber schlug eine Generaldebatte in der französischen Nationalversammlung am 29./30. Januar 1997 über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Administration Chirac/Juppé hohe Wellen. In der Debatte warf die Opposition der Regierung vor, sie betreibe die „NATO-isierung“ Europas. In der Atlantischen Allianz habe sich – so der Vorsitzende der Parti Socialiste, Lionel Jospin – nach Chiracs Ankündigung einer möglichen französischen Reintegration nichts verändert; die Vereinigten Staaten hätten nach wie vor
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Gemeinsame Erklärung des DFVSR vom 9. Dezember 1996, abgegeben in Nürnberg; in: Bulletin der Bundesregierung vom 16. Dezember 1996. 776 Dennoch sollte der Europäische Rat, der den höchsten politischen Willen der Union repräsentieren würde, auch künftig seine Entscheidungen grundsätzlich im Konsens treffen; vgl.: Gemeinsame Botschaft von Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident Jacques Chirac an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates und Ministerpräsidenten von Irland, John Bruton vom 9. Dezember 1996, in: Bulletin der Bundesregierung vom 11. Dezember 1996. 777 Jacques Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.3.
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uneingeschränkt das Sagen. Regierung und Staatspräsident Chirac würden einem „Trugbild“ folgen, wenn sie glaubten, daran etwas ändern zu können.778 Auch das auf dem 68. bilateralen Gipfel verabschiedete, aber erst unlängst veröffentlichte deutsch-französische Sicherheitskonzept sorgte für heftige Debatten. Der Vorsitzende der PS-Fraktion in der Nationalversammlung Laurent Fabius vermerkte mit unüberhörbaren Sarkasmus, es sei ein Unding, dass ein Dokument von noch nicht einmal 20 Seiten zehn Wochen gebraucht hätte, um die 500 Meter vom Elysée-Palast zum Palais Bourbon zurückzulegen.779 Aber auch inhaltlich gab es Kritikpunkte. Frankreich würde sich nach den Deutschen richten, monierte Jospin.780 Überhaupt wolle Chirac Frankreich samt seiner nuklearen Force de frappe den Verbündeten ausliefern bzw. die ungeliebte NATO mit deutscher Hilfe europäisieren.781 Die Vorlage für diese Kontroverse zwischen den Dogmatikern des gaullistischen Fundamentalismus in der Nuklearpolitik und den Pragmatikern des europäisch-atlantischen Realismus hatte zu guten Teilen auch der deutsche Verteidigungsminister geliefert. Volker Rühe hatte zuvor in einem Fernsehinterview die Schlussfolgerung gezogen, mit dem Sicherheitskonzept bekenne sich Frankreich in letzter Konsequenz zur NATOVerteidigungsplanung und vor allem zu deren nuklearstrategischem Teil. Auch daher sahen sich die französischen Sozialisten – in der Kontinuität Mitterrands – nun veranlasst, das Erbe der dissuasion nationale indépendante gegen „…das Abdriften hin zur Unterwerfung unter USA und NATO“ – wie es Laurent Fabius formulierte – verteidigen zu müssen. Außenminister de Charette hielt dem entgegen, bei dem deutsch-französischen Sicherheitskonzept handle es sich weder um einen Vertrag noch um eine Novität. Der Text würde vielmehr schon Bekanntes zusammenfassen, um den DFVSR eine politische Direktive anheim zu stellen.782 Die Zeitung Libération brachte die Ursache dieses Furors auf den Punkt: „Période préélectorale“.783 Denn tatsächlich war der Inhalt des am 9. Dezember 1996 beschlossenen bilateralen Konzepts wesentlich weniger heikel als die Debatte in der Nationalversammlung vermuten lässt. Im ersten Teil des Konzepts wird festgehalten, dass es die Intention des DeutschFranzösischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates sei, der bilateralen Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit und Verteidigung einen neuen Impuls zu verleihen – sowohl in europäischer wie auch in atlantischer Perspektive.784 Ausgehend von der großen Übereinstimmung bei den Sicherheitsinteressen beider Länder bilde das Konzept den Rahmen für die Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen. Die Schicksalsgemeinschaft, die Deutschland und Frankreich verbinden würde, liege insbesondere in den weitreichenden Übereinstimmungen in strategischen und gesellschaftspolitischen Grundfragen begründet. Die sich hieraus ableitende Sicherheits- und Verteidigungspolitik gebiete für beide Länder ähnliche Zielsetzungen. Diese werden von dem Sicherheitskonzept wie folgt umschrieben: 778
Die Welt 30. Januar 1997 „Allianz mit Bonn löst Wirbel aus.“ Es war in der Tat Chirac gewesen, der in der Konsultation am 9. Dezember der schon vorbereiteten Veröffentlichung des Dokuments als Teil der Gipfelerklärung widersprach, um sich Zeit für eine Vorbereitung seines Parlaments und damit der französischen Öffentlichkeit zu geben. Die Zeitung Le Monde kam dann aber am 25. Januar (S.2) dem Kabinett zuvor. 780 Handelsblatt 30. Januar 1997 „Verteidigungskonzept löst in Paris Eklat aus“. 781 FAZ 31. Januar 1997 „Nach amerikanischem Vorbild“. 782 Die Welt 1. Februar 1997 „Paris und Bonn planen für Europa“. 783 La Libération 30. Januar 1997 « L’accord franco-allemand débarque à l’Assemblée » . 784 Gemeinsames deutsch-französisches Sicherheits- und Verteidigungskonzept, gebilligt bei der 16. Sitzung des DFVSR am 9. Dezember 1996 in Nürnberg; in: Bulletin der Bundesregierung vom 5. Februar 1997. 779
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Impulsgeber für die Weiterentwicklung von NATO und EU Sicherstellung der Integrität der nationalen Territorien, freie Souveränitätsausübung und Schutz der Bürger; Koordinierte Verstärkung des jeweiligen Beitrages zu den militärischen Bündnissen (Atlantische Allianz, WEU); Erhaltung und Stärkung des europäischen Kontinents und seiner Randzonen, einschließlich des Mittelmeerraums sowie in den für die wirtschaftlichen Aktivitäten und für den freien Handel beider Länder wichtigen Regionen; Beitrag zur weltweiten Erhaltung des Friedens in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und den Zielen der GASP der Europäischen Union.
Beide Partner bekennen sich mit dem Konzept ausdrücklich zu dem Ziel, die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik unter dem Dach des Europäischen Rates voranzubringen und so die verteidigungspolitische Perspektive der Europäischen Union zu verwirklichen. Dabei verstehe es sich, dass die Gesamtheit der jeweiligen konventionellen Streitkräfte – einschließlich der schnell verlegbaren Krisenreaktionskräfte – vorrangig verfügbar für die Verteidigung der Verbündeten im Rahmen des modifizierten Brüsseler und des Washingtoner Vertrags bliebe. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung des Eurokorps hervorgehoben. Dieses sei Ausdruck des gemeinsamen Engagements für die kollektive Verteidigung. Deutschland und Frankreich bekennen sich dazu, die notwendigen militärischen Planungen gemeinsam vornehmen zu müssen. Das Konzept verfolge hierzu das Ziel, Leitlinien für die militärische Zusammenarbeit zu entwickeln. Diese seien folgenden Zielsetzungen verpflichtet: (I.) Annäherung der Menschen, (II.) Annäherung der Strukturen und der Doktrinen, und (III.) Koordinierung und Zusammenlegung wichtiger Fähigkeiten. Zu diesem Zweck wurden die Führungsstäbe beider Streitkräfte beauftragt, im Rahmen der Arbeitsgruppe „Militärische Zusammenarbeit“:
Konzeptionelle Felder für die gemeinsame Studienarbeit zu identifizieren und dort, wo es sinnvoll erscheint, Studien gemeinsam durchzuführen oder die Ergebnisse nationaler Studien auszutauschen, konzeptionelle Vorstellungen auszutauschen, abzustimmen und, wo immer möglich, zu harmonisieren.
Hieraus sollten dann die für beide Armeen notwendig gehaltenen Fähigkeiten abgeleitet werden.785 Mit Blick auf die immer größer werdende gegenseitige Abhängigkeit der französischen und deutschen Verteidigungsindustrie bekannten sich beide Partner ebenfalls zu der Zielsetzung, ihre Rüstungspolitik in einem noch größerem Umfang zusammenführen. Dem Ausbau der Zusammenarbeit in der Rüstungspolitik wurde dabei ein bedeutender Platz eingeräumt; dieser sei künftig die einzige Art, Kapazitäten für die Rüstungsproduktion in Europa zu erhalten. Ausdrücklich wurde hierzu eine, über den engen bilateralen Rahmen hinausgehende, europäische Kooperation ins Auge gefasst. Die nationalen Rüstungsdirekto785
Diese sollten dann autonom oder in gegenseitiger freiwilliger Abhängigkeit realisiert werden, wobei letzteres am ehesten der intendierten Komplementarität und der Zusammenführung militärischer Komponenten entsprach.
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ren wurden beauftragt, im Rahmen der Arbeitsgruppe „Rüstungskooperation“ vorhandene Strukturen zu nutzen, um die Vorbereitung, Entwicklung und Herstellung künftiger Ausrüstungsgegenstände für beide Armeen gemeinsam zu untersuchen. Insgesamt sollte für die künftige Ausrüstung weitestgehend auf rein nationale und damit isolierte Varianten verzichtet werden.786 Diese sich intensivierende deutsch-französische Rüstungszusammenarbeit entspräche – laut dem Konzept – nicht nur den jeweiligen Interessenlagen der beiden Partner. Sie solle ferner dem Ziel dienen, eine gesamteuropäische Rüstungspolitik zu begründen. Auf dieser Grundlage sollen für die deutsch-französische Rüstungskooperation und Rüstungspolitik wiederum Leitlinien ausgeführt werden, die auch in technischer und industrieller Hinsicht die Definition einer industriellen und technologischen Strategie ermöglichen sollten. Als Planungsgrundlage wurde der gemeinsame operative Bedarf definiert.787 In politischer Hinsicht gelte unverändert die bilaterale Motorfunktion für eine gesamte europäische Rüstungspolitik. Insgesamt gesehen stellte das deutsch-französische Sicherheitskonzept vom 9. November 1996 die gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in die Perspektive der Europäischen Union, aber – ungleich bedeutsamer – ebenso in jene der Atlantischen Allianz. Die deutsche Bundesregierung zeigte sich höchst zufrieden mit dem Papier, schien es doch die eigene Position innerhalb des spannungsgeladenen Dreiecks Washington-BonnParis entscheidend verbessert zu haben. Auch in der Rüstungspolitik sah man sich einen entscheidenden Schritt vorangekommen.788 Die nächste Anpassungsphase sei dennoch unausweichlich, so der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Klaus Rose.789 Das Interesse der deutschen Rüstungsindustrie liege darin, langfristig tragfähige Strukturen zu entwickeln.790 Die französische Seite bemühte sich demgegenüber – nach den heftigen Protesten der Opposition – das bilaterale Sicherheitskonzept als bloßes Orientierungspapier deklarieren zu wollen: Das Papier sei der Weiterentwicklung des strategischen Umfelds geschuldet und bringe lediglich die allgemeine Übereinstimmung der französisch-deutschen Ansichten in der Sicherheitspolitik zum Ausdruck.791 Es ist daher zutreffend, wenn Hans-Georg Ehrhardt 786
Ferner sollte ein Verfahren für die Beschaffung von Ausrüstung für gemeinsam zu realisierende Fähigkeiten festlegt werden (Unterpunkte: nationale Produktion, Gemeinschaftsproduktion, Kauf im jeweils anderen Partnerland, Kauf in Drittländern) 787 Zugleich soll die Ausrüstung der Streitkräfte zu geringsten Kosten ermöglicht werden ebenso „… wie das Streben nach Standardisierung der europäischen Rüstungsgüter im Rahmen einer gemeinsamen Planung und unter Berücksichtigung der Vorgaben der Allianz.“ 788 Zumal die türkische Regierung Anfang Februar 1997 verkündete, dreißig Hubschrauber vom Typ Cougar AS532 im Wert von rund 600 Mio. Deutsche Mark beim deutsch-französischen Konsortium Eurokopter zu bestellen; vgl: Le Monde 13. Februar 1997 « La Turquie va commander trente hélicoptères au groupe francoallemand Eurocopter » . 789 Die Welt 10. Januar 1997 „Rüstungsindustrie muss kooperationsfähig bleiben“. 790 Klaus Rose warnte aber zugleich, die französische Rüstungsindustrie stehe vor einem Umbruch mit weit reichenden Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund dürfe es nicht verwundern, wenn die französische Seite alles unternehmen werde, um soviel wie möglich in europäische Strukturen hinüberzuretten. Von Deutschland solle vielmehr der Versuch unternommen werden, der deutsch-französischen Zusammenarbeit – weitgehend bestimmt durch die Kooperation von DASA und Aerospatiale – eine deutschangelsächsische zur Seite zu stellen; ebenda. 791 Vgl.: die Ausführungen von Außenminister de Charette in der Generaldebatte der Nationalversammlung am 29. November 1997; in: Frankreich-Info vom 4. Februar 1997; hierzu auch: Das Parlament 7./14. Februar 1997 „NATO-isierung Frankreichs oder doch nicht? Das gemeinsame Verteidigungskonzept erregt die französische Opposition – die deutsche hingegen nicht“.
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mit Blick auf das deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept festhielt: „Wie so häufig bei deutsch-französischen Projekten ist auch zu diesem Text eine europäische und eine atlantische Lesart möglich.“ 792 2.14 Zusammenführung von WEU und EU? Kernpunkt der französischen WEU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1997 war die Fortentwicklung der Arbeiten an der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsstruktur. Schon im September 1996 hatte Premierminister Juppé mit merklichem Missmut festgestellt, der Aufbau Europas habe bisher noch nicht den entscheidenden Durchbruch im Verteidigungsbereich erlaubt. Die Zufriedenheit über immer engere Kooperationen zwischen Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien oder etwa den Benelux-Länder dürfe nicht die tatsächlichen Unzulänglichkeiten verschleiern. Dies gelte es zu ändern. Es sei nun an der Zeit, jene Weichenstellungen zu treffen, die es ermöglichten, eine neue Etappe zu erreichen.793 Zunächst war hier in erster Linie eine entsprechende Neufassung des MaastrichtFolgevertrags für die Europäische Union vorgesehen. Die hierzu laufenden Abstimmungsarbeiten sollten auf einer für das zweite Halbjahr 1997 terminierten Abschlusskonferenz zu Ende gebracht werden. Mit Blick auf die WEU war vorgesehen, diese unter der amtierenden französischen Präsidentschaft in die Lage zu versetzen, der „bewaffnete Arm Europas“ zu werden.794 Die Europäer sollten so endlich die Befähigung erhalten, militärisch gemeinsam zu agieren, wenn es um den Erhalt des Friedens oder die Lösung von Konflikten ging. Zu diesem Zweck verfolgte die französische WEU-Präsidentschaft nach eigenem Bekunden vier Ziele: (I.) die WEU sichtbar und glaubwürdig zu machen; (II.) die Bindungen zwischen WEU und EU enger zu gestalten; (III.) die Beziehungen zwischen WEU und NATO zu stärken; und schließlich (IV.) dem Dialog zwischen WEU und Drittländern wieder Substanz zu geben.795 Substanz erlangten diese Zielsetzungen mit dem, einen Tag vor dem 40. Gründungsjubiläum der Europäischen Gemeinschaften durch die WEU-Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Belgien vorgelegten Plan zur Integration der WEU in die EU.796 Dieser Plan sah drei Integrationsstufen vor: Demnach sollte in der ersten Phase die institutionelle Selbstständigkeit der WEU erhalten bleiben, die Strukturen und Regeln beider Organisationen sollten einander angeglichen werden. In der zweiten Stufe sollte dann die Union verteidigungspolitische Entscheidungskompetenz im Bereich des Krisenmanagements übernehmen. In der dritten Stufe schließlich würden dann die noch separaten Organe und Gremien verschmolzen. Auch sollte die militärische Beistandsgarantie der WEU in einem kollektiven Verteidigungsfall in den EU-Vertrag überführt werden.797 792
Hierzu: Hans-Georg Ehrhardt, Von der GASP zur GEVP? Das deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept, in: Dokumente 1997, S.102-107, hier: S.106. 793 Juppé vor dem IHEDN am 10. September 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 16. September 1996, S.2. 794 De Charette in der Debatte in der Nationalversammlung am 29. Januar 1997, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 4. Februar 1997. 795 De Charette in seiner Pressekonferenz nach dem WEU-Ministertreffen am 13. Mai 1997 in Paris, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. Mai 1997. 796 Abgedruckt in. Agence Europe vom 24./25. März 1997, S.4-5. 797 Die Welt 25. März 1997 „Drei-Stufen-Plan zur Integration der WEU vorgelegt“.
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Aus französischer Sicht sollte darüber hinaus die Verbindung zwischen NATO und WEU aus einer rein europäischen Kommandokette bestehen.798 Paris verbuchte es daher als Erfolg, als – zur Stärkung der Glaubwürdigkeit der Westeuropäischen Union auf politischer und militärischer Ebene – der WEU-Gipfel am 13. Mai 1997 die Aufstellung eines eigenen Militärausschusses beschloss.799 Hierzu hatte die deutsche Seite, mutandis mutandi, stets betont, die Westeuropäische Union habe bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (in der NATO) eine spezifische Rolle; sie ermögliche es, als Bindeglied zwischen Europäischer Union und NATO, das politische Handeln der Europäer mit dem militärischen Handlungspotenzial der WEU und der NATO zu verbinden.800 Die WEU-Minister behandelten ferner die Festlegung von Grundsätzen für den Einsatz von Streitkräften der WEU-Staaten für Operationen der WEU und die Organisation operationeller Mittel für Aufgaben auf der Grundlage der Petersberg-Erklärung.801 Die englische Delegation beharrte darauf, die WEU in erster Linie in Richtung auf eine Erfüllung der Petersberg-Kataloges zuzuschneiden, während die NATO für die Verteidigung Europas verantwortlich bleiben sollte. Ferner beauftragte der Ministerrat den Ständigen Rat der WEU, eine Vereinbarung über die Modalitäten der Zusammenarbeit mit der Atlantischen Allianz zu treffen. Hierfür wurde vorgesehen, dass die Allianz auf Ersuchen der Europäer die militärische Planung für bestimmte WEU-Missionen vornehmen konnte.802 Indessen war die europäische Kooperation in der Rüstungspolitik nach dem Impuls durch das deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskonzepts nicht recht vorangekommen. Zwar fehlte es nicht an Appellen, die die Notwendigkeit der Bildung grenzüberschreitender Kooperationen zwischen den jeweiligen nationalen Produzenten von Verteidigungsgerät anmahnten,803 es mangelte jedoch an der praktischen Umsetzung. Folglich stockte der Abstimmungsprozess immer von Neuem. In Paris wurde kolportiert, insbesondere die Deutschen hätten zwischenzeitlich einfach genug von der „Pariser Arroganz“ und den häufigen französischen Kehrtwenden.804 Wahrscheinlicher war aber, dass die Lähmung durch den französischen Wahlkampf verursacht war, in dem die oppositionelle Parti Socialiste konsequent die nationale Karte spielte und die Regierung Juppé in arge Bedrängnis brachte. Neue Impulse erhoffte man sich daher erst von dem für Anfang Juni anberaumten 69. bilateralen Gipfeltreffen in der Provence.
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Verteidigungsminister Charles Millon in seiner Pressekonferenz nach dem WEU-Ministertreffen am 13. Mai 1997 in Paris, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 27. Mai 1997. 799 Die Welt 14. Mai 1997 „WEU beschließt Militärausschuss“. 800 Erklärung des deutschen Außenministers anlässlich der WEU-Ministerratstagung in Paris am 13. Mai 1997, in: Bulletin der Bundesregierung vom 16. Juni 1997. 801 Bei diesem Punkt wurde vor allem die Teilnahme am der Verteidigungsplanungsprozess der Atlantischen Allianz diskutiert. Vgl.: „Erklärung von Paris“ des Ministerrats der WEU abgegeben anlässlich seiner Tagung am 13. Mai 1997 in Paris, in: Bulletin der Bundesregierung vom 16. Juni 1997. 802 Ebenda. 803 In der Industrie war auch deswegen ein deutliches Unbehagen vernehmbar, weil die Gründung europäischer Rüstungskonzerne die Frage nach Marktanteilen und der Bewahrung der einzelstaatlichen Profile stellte. Gerade in der traditionell gut entwickelten französischen Industrie wollte daher zunächst durch Fusionen im eigenen Lande Kräfte konzentrieren, um bei nachfolgenden Allianzen mit europäischen Partnern einen Führungsanspruch erheben zu können. 804 FAZ 2. April 1997 „Schrille Töne im Dreieck zwischen Paris, London und Bonn“.
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2.15 Prestigefrage – Die Besetzung des NATO-Südkommandos Wenig glücklich verlief auch die Diskussion um eine etwaige Rückkehr Frankreichs in die Atlantische Allianz. Jacques Chirac, der mit der Rückkehr-Ankündigung bekanntermaßen den öffnenden Zug für seine Außenpolitik gesucht hatte, war im Jahresverlauf 1996 und mehr noch zu Beginn des Jahres 1997 zunehmend in die Defensive geraten. Im französischen Vorwahlkampf war ohne entscheidende Zugeständnisse seitens der Vereinigten Staaten nur mit atlantischer Bündnistreue kein Staat zu machen. Zeitgleich hatte man aber wenig unternommen, den amerikanischen Partner davon zu überzeugen, dass die Rückkehr Frankreichs eine wirkliche Bereicherung für das Bündnis sei. Zwar engagierte man sich, zusammen mit Deutschland und Polen, mittelbar im Rahmen des Partnership for PeaceProgramms805 und machte so Schritte auf das Bündnis zu. Zugleich sorgten aber französische Vorschläge zu einem Fünfergipfel zwischen den Vereinigten Staaten, Russland, Großbritannien, Deutschland und Frankreich zur Beilegung des Streits um die NATOOsterweiterung für nachhaltige Verstimmung.806 Es gelang Paris schlichtweg nicht, aus der eignen Sonderstellung das gewünschte Kapital zu schlagen. Man hatte im veränderten bündnisinternen und internationalen Kräfteverhältnis einfach nicht mehr das Gewicht,807 auf das sich Charles de Gaulle zwischen 1958 und 1966 hatte stützen können, bevor man „die militärische NATO“ verließ. Auch deswegen war sein Nachfolger Jacques Chirac darauf angewiesen, mit dem nötigen „Glanz“, also einem gesicherten militärischen Befehlseinfluss, in das Allied Command Europe zurückzukehren. Der Anspruch, ein Europa zu formen, das sich seiner selbst bewusst sei808 und seine Verantwortung für seine Verteidigung im Rahmen des Atlantischen Bündnisses selbstbewusst übernahm,809 wurde so in gewisser Weise auch zur Bürde. Paris hatte sich daher – symbolträchtiger Politik niemals abgeneigt – in der ersten Jahreshälfte 1996 darauf festgelegt, als Gegenleistung für seine Rückkehr in das Bündnis, den Posten des NATO-Regionalkommandos Süd in Neapel (AFSOUTH) zu fordern. Von einem diesbezüglichen Engagement erhoffte man sich einen doppelten Ertrag: einmal den Amerikanern ein überaus prestigeträchtiges Kommando abzuverlangen und zum anderen in einer Region Flagge zu zeigen, die für die geostrategischen Interessen Frankreichs von hervorgehobener Bedeutung war: dem Mittelmeer. Schon seit längerem hatte man immer wieder verlauten lassen, neben Afrika sei die Verbundenheit mit dem Mittelmeerraum das Charakteristikum der französischen Außenpolitik: 805
NZZ 4. Februar 1997 „Bonn, Paris und Warschau wollen kooperieren. Verstärkung der trilateralen militärischen Zusammenarbeit“. Die drei Länder strebten an, wenigstens einmal pro Jahr eine trilaterale Militärübung abzuhalten. Bonn und Warschau stellen dabei ausdrücklich den Bezug zum PfP-Programm der NATO her. 806 Stuttgarter Zeitung 7. Februar 1997 „Chiracs Gipfelvorschlag verärgert NATO-Partner“. Hierzu auch: Gemeinsamer Beitrag des deutschen und des französischen Außenministers für die russische Tageszeitung „Iswestija“ vom 15. Februar 1997 mit dem Titel: „1997 – Das Jahr der europäischen Sicherheit“, in: Bulletin der Bundesregierung vom 18. Februar 1997. Hier heißt es u.a.: „Deutschland und Frankreich sind in diesem Bereich einer Meinung. Europa hat zu lange unter Spaltungen gelitten. Wir wollen das Entstehen neuer Gräben vermeiden. Die europäische Sicherheit und Stabilität ist für uns unteilbar. […] Unser Ziel ist die Schaffung einer kooperativen europäischen Sicherheitsarchitektur, die als tragendes Element auf einem engen Beziehungsnetz zwischen unseren Staaten und den bestehenden Organisationen basiert.“ 807 Die Welt 7. Januar 1997 „Neue NATO-Fragen“ von Lothar Rühl. 808 So etwa: Der französische Außenminister Herve de Charette in seiner Berliner Rede über die deutschfranzösischen Beziehungen am 7. Oktober 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 16. Oktober 1996, S.6. 809 Außenminister de Charette in seinem Interview mit Le Figaro am 25. März 1997, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 8. April 1997.
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„Gerade weil das Mittelmeerbecken mit großen Ungewissheiten konfrontiert werden und dauerhafte Spannungen erleben wird, muß Frankreich langfristige Vorstellungen von den Beziehungen zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers entwickeln.“810
Präsident Chirac betonte nun, sein Land wolle aus dem Mittelmeer ein Bindeglied machen und es zum wesentlichen Betätigungsfeld der Europäischen Union ausbauen: Man müsse eine Brücke in den Süden bauen.811 Der Nahe und Mittlere Osten sowie die MaghrebRegion seien, so Pierre Lellouche ergänzend, die natürliche Verlängerung Europas.812 Inoffiziell ging es Frankreich aber in erster Linie natürlich ausschließlich um eine neue interne Organisation der Atlantischen Allianz als Ergebnis des Berlin-Gipfels vom Juni 1996. In der Tat hatte die Administration Chirac/Juppé deutliche Probleme mit dem, wie sie es ausdrückte, „Umstand“, dass der SACEUR nicht nur der oberste Befehlshaber der NATO, sondern zugleich der Befehlshaber der amerikanischen Truppen sei: „Anders gesagt ist er die direkte Zweigstelle des Chefs des Weißen Hauses in Europa.“813 Hier versprach die Besetzung der Regionalkommandos mit Europäern Linderung. Die nationale Besetzung des RC Süd wurde dabei für Paris als Testfall für den Reformwillen der Amerikaner gewertet. Waren die Vereinigten Staaten bereit, einer neuen Aufteilung der Verantwortlichkeiten einen Platz einzuräumen? Dabei wurde der bekannte Topos der Selbstlosigkeit bemüht: Frankreich beanspruche bei der Umbesetzung der großen NATO-Kommandos nichts für sich selbst sondern für die Europäer.814 Im Spätsommer 1996 hatte Jacques Chirac daher den bereits erwähnten Brief an seinen amerikanischen Amtskollegen Clinton geschrieben und diesem darin die eigenen Vorstellungen zu einer Umbesetzung des RC Süd dargelegt. Die Reaktion Clintons war förmlich-abweisend, was zu Unstimmigkeiten während eines informellen NATO-Treffens in Bergen am 25./26. September 1996 führte. Frankreich drohte hier, seine Rückkehr in das Bündnis nochmals zu überdenken, wenn sein Wunsch nicht berücksichtigt werde. Daraufhin gab der amerikanische Verteidigungsminister William Perry offiziell die Ablehnung der Vereinigten Staaten bekannt: Das Mittelmeer sei eine amerikanische Kompetenzzone von unveräußerlicher strategischer Bedeutung, in der die 6. Amerikanische Flotte operiere – einer der Schlüsselverbände in der weltweiten Sicherheitsstrategie Washingtons. Im Laufe der nächsten Monate spitzte sich der Konflikt weiter zu, da Paris auf seiner Forderung insistierte. Großbritannien, welches die französischen Ambitionen anfänglich mit Sympathie begleitet hatte, rückte im Oktober 1996 hiervon mit der Bemerkung ab, die Forderung sei unrealistisch.815 Damit entfiel auch die ursprünglich von Paris bemühte Legitimation, im Namen der Europäer zu handeln. Dennoch, man hatte sich festgelegt und fürchtete nun, internationales Renommee zu verspielen, wenn man den Anspruch nicht aufrecht erhielt. Vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU erneuerte Chirac daher 810
Alain Juppé in seiner Rede zum 20jährigen Bestehen des Planungsstabes beim französischen Außenministerium am 30. Januar 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 21. Februar 1995. 811 Staatspräsident Jacques Chirac in seiner Rede. „Frankreich und der arabische und mediterrane Raum“ am 8. April 1996 an der Universität Kairo, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 11. April 1996. 812 Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.58. 813 Außenminister de Charette in seinem Interview mit Le Figaro vom 20. Dezember 1995. Zum französischen Skeptizismus gegenüber Washington und der NATO siehe auch: Alain Joxe, , Représentation des alliances dans la nouvelle stratégie américaine, in Politique Étrangère 2/1997, S.323-337. 814 De Charette in seinem Gespräch mit Le Monde am 2. März 1997. 815 Auch andere europäische NATO-Staaten, namentlich Italien, distanzierten sich daraufhin offen von der französischen Forderung.
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am 3. Dezember 1996 den Wunsch nach einer Europäisierung der NATORegionalkommandos.816 Die Besetzung des AFSOUTH war zu einer Machtfrage geworden, bei der Paris gegenüber Washington nur verlieren konnte. Dabei war man sich eigentlich darüber einig, dass „…die Definition angemessener Befehlsverantwortlichkeiten zugunsten der Europäer […] für den Erfolg der Reform unerlässlich“ sei.817 Auch das Treffen der NATO-Außenminister am 18. Februar 1997 in Brüssel brachte keine Fortschritte, zumal der französische Vertreter de Charette abermals den Erfolg der NATO-Reform ausschließlich auf die Besetzung des Regionalkommandos in Neapel reduzierte.818 Erst im März 1997 schien man die festgefahrene Situation überwinden zu können, als der amerikanische Verteidigungsminister Cohen verlauten ließ, die Frage lasse sich gegebenenfalls mittelfristig lösen.819 Dann sei auch eine Besetzung des RC Süd im Rotationsverfahren zwischen verschiedenen Ländern denkbar.820 Deutschland, von dem französischen Taktieren auf eine harte Probe gestellt,821 griff diesen Vorschlag auf, um erneut zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten zu vermitteln. Gemeinsam mit Großbritannien, Italien und Spanien schlug man vor, die Postenrotation bei AFSOUTH im Jahr 2002 beginnen zu lassen. Frankreich jedoch lehnte diesen Vorschlag ab und isolierte sich damit jetzt gänzlich.822 Das Unternehmen Neapel erwies sich als zu ehrgeizig für die Pariser Kräfte und selbst für jene der Europäer, denn: mit dem gesamten Mittelmeerraum bis an die Grenzen des NATO-Gebietes im Nahen Osten, im Schwarzen Meer und entlang der türkischen Grenzen bis zum Kaukasus umfasste AFSOUTH einen erheblichen operativen Wirkungskreis, der zudem hauptsächlich mit amerikanischen Verbänden versehen war.823 Der Konflikt um Besetzung des Regionalkommandos verdeutlichte aber auch, dass die französische NATOPolitik unter Chirac eigentlich nicht auf einem neuen sicherheitspolitischen Konzept basierte, sondern durch überkommende Zielsetzungen geprägt war. Unverändert ging es darum, ein europäisches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten im Bündnis zu installieren. In letzter Konsequenz bedeutete die amerikanische Zurückweisung für Paris, die angekündigte Rückkehr in die NATO zurückzustellen – ein Schritt, der im Sommer 1997 offiziell bekannt gegeben wurde. So scheiterte die vollständige Rückkehr Frankreichs in die NATO an zu ehrgeizigen Zielsetzungen. Allerdings hatten auch die Vereinigten Staaten die Chance vergeben,824 den Europäern glaubhaft zu machen, dass sie für das Ziel eines ein 816
Jacques Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.3. De Charette hatte am 11. Dezember 1996 ferner – als Kompromissangebot – vorgeschlagen, die 6. Amerikanische Flotte aus der NATO-h Hierarchie herauszulösen und eine gleichgewichtige Aufteilung der Verantwortlichkeiten im Mittelmeerraum zwischen einem europäischen Kommando und einem amerikanischen Kommando herzustellen; hierzu: Le Monde vom 11. Dezember 1996. 817 De Charette in seiner Rede beim Nordatlantikrat in Brüssel am 18.Februar 1997, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 21. Februar 1997. 818 Ebenda. 819 Le Monde 9. April 1997 « Le dilemme européen de Jacques Chirac ». 820 Das Parlament 16. Mai 1997 „Paris sucht seine Rolle in der Neuen NATO: Noch zieren sich die Franzosen“: 821 Le Monde 17. März 1997 « L’intransigeance française sur l’OTAN teste la solidarité allemande » . 822 Die Welt 1. April 1997 „Chiracs Vorstoß nach Neapel ist abgeschlagen“; auch: Alfred Frisch, L’identité européenne de la défense. Un projet en panne, in: Documents 3/1997, S.70-74, hier: S.71-72. 823 Vgl. hierzu: Christian Schmidt, Le dilemme franco-américain, in : Défense Nationale 1/1997, S.71-77 ; Marcel Duval, La stratégie americaine en Méditerranée : perception par un Français, in : Défense National 10/1997, S.30-45. 824 Hans-Georg Ehrhardt, France and NATO: Change by Rapprochement? Hamburg 2000, S.10 ; Gilles Andréani, La France et l’OTAN après la guerre froide, in : Politique Étrangère 1/1998, S.77-92, insbesondere 89-92.
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neues Gleichgewicht innerhalb der Atlantischen Allianz zu wirklichen Zugeständnissen bereit waren. 2.16 Frankreich kehrt nicht in die integrierte Struktur der NATO zurück Der Fokus der Atlantischen Allianz lag trotz der Debatte um die Besetzung von AFSOUTH aber auf Osteuropa. Gerade dieser Umstand war für Deutschland von hervorgehobener Bedeutung. Das Atlantische Bündnis schickte sich auf seinem, für Anfang Juli 1997 terminierten Gipfel in Madrid an, bestimmten Mittel- und Osteuropäischen Staaten konkrete Beitrittsgespräche anzubieten. Hierzu hatte der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, Nachfolger des Nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR), auf seiner Tagung im portugiesischen Sintra am 30. Mai 1997 die nötigen Weichen gestellt.825 Über die Frage nach der Anzahl der Beitrittskandidaten war es allerdings erneut zum Dissens zwischen Washington und Paris gekommen, da sich der amerikanische Präsident dafür aussprach, die Kandidatenzahl auf lediglich drei Länder zu beschränken (Tschechische Republik, Ungarn und Polen). Frankreich hingegen wollte zusätzlich Slowenien und insbesondere Rumänien in diesen Kreis mit aufgenommen wissen. Der neue französische Verteidigungsminister Alain Richard kritisierte, es sei „nicht berechtigt“, zwischen Rumänien und Ungarn eine Trennlinie zu ziehen und sah sich von seinem italienischen Amtskollegen Andreatta unterstützt, der gar von einem „Irrtum“ sprach.826 Wieder einmal befand sich Bonn zwischen beiden Polen Paris und Washington, neigte diesmal aber deutlich der amerikanischen Haltung zu,827 auch weil man hinter Chiracs Gegenposition ein abermaliges Störmanöver infolge der Südkommando-Affäre vermutete. Außerdem sprach für Bonn nichts gegen eine bald folgende zweite Erweiterungsrunde. Paris stellte daraufhin erneut seine Rückkehr in die Atlantische Allianz in Frage – ein Schritt, den man am NATO-Hauptquartier in Brüssel schon erwartete, zumal die Wahl zur französischen Nationalversammlung vom 25. Mai/1. Juni 1997 die Parti Socialiste an die Regierung gebracht und Lionel Jospin zum Premierminister gemacht hatte.828 Letztgenannter hatte im Wahlkampf den französischen Annäherungskurs an das Bündnis wiederholt heftig kritisiert und damit nicht nur dem NATO-Skeptizismus François Mitterrands seine Referenz erwiesen. Nicht nur deswegen war in Brüssel die anfängliche Euphorie über eine mögliche Rückkehr Frankreichs, schnell der Ernüchterung über die damit einhergehenden diplomatischen Rochaden und überzogene französische Anspruchshaltungen gewichen. Wenn Paris jetzt nun doch nicht wollte – dann eben nicht, so konstatierte man sichtlich entnervt.829 825
Zusammenfassung des Vorsitzenden der Tagung des Nordatlantischen Kooperationsrats und des EuroAtlantischen Partnerschaftsrats am 30. Mai 1997 in Sintra/Portugal, in: Internationale Politik 9/1997, S.96-100. 826 SZ 14./15. Juni 1997 „Paris stellt Rückkehr in Militärstruktur in Frage“. 827 SZ 7./8. Juni 1997 „Kohl und Clinton auf einer Linie. Der Bundeskanzler unterstützt die amerikanische Position gegenüber Frankreich“. 828 Bei der Wahl erreichte das Linksbündnis (PS und Verbündete: 273 Mandate, linke Splittergruppen: 9 Mandate, PCF: 38 Mandate und Ökologen: 7 Mandate) die absolute Mehrheit, das rechte Lager dagegen verlor: UDF: 108 Mandate, Gaullisten: 134 Mandate, Verschiedene Rechte: 7 Mandate; vgl.: Udo Kempf, Von de Gaulle bis Chirac. Das politische System Frankreichs, 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Opladen 2007. 829 Vgl.: Le Monde 7. Juni 1997 « Les responsables de l’OTAN ne croient plus dans un retour prochain de la Franche. Paris resterait en dehors du dispositif militaire intégré » .
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Ende Juni 1997 wurde das Scheitern von Chiracs Plänen unausweichliche Gewissheit. Die Zeitung Le Monde titelte am 29./30. Juni : « France – OTAN: une bonne idée en panne ». Wenig überraschend verkündete Außenminister Hubert Védrine nun, man werde, entgegen den ursprünglichen Plänen, nicht in die militärische Kommandostruktur der Atlantischen Allianz zurückkehren. Die Rahmenbedingungen seien schlichtweg „nicht erfüllt“. Verantwortlich dafür sei vor allem die unflexible Haltung der Vereinigten Staaten – dies wolle man auf dem anstehenden NATO-Gipfel in Madrid am 8. Juli ebenso deutlich zur Sprache bringen wie die Urheberschaft der Amerikaner für die sogenannte „kleine Lösung“ in der Frage der Erweiterung des Bündnisses nach Osteuropa.830 Die Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses am 8./9. Juli 1997 in Madrid stand ganz im Zeichen „…der Verwirklichung ihrer Vision einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung für das ganze Europa auf der Grundlage von Menschenrechten, Freiheit und Demokratie näher zu kommen.“831 Wesentliches Ergebnis war die konkrete Einladung an die Tschechische Republik, Ungarn und Polen, Beitrittsgespräche mit der NATO aufzunehmen und somit die Osterweiterung der Allianz konkret anzugehen.832 Die Gipfelerklärung ging ausdrücklich auch auf das Verhältnis zwischen Allianz und EU ein: „Das Bündnis und die Europäische Union teilen gemeinsame strategische Interessen. Wir begrüßen die auf dem Europäischen Rat von Amsterdam erzielten Übereinkünfte. Die NATO bleibt das wesentliche Forum für Konsultationen unter den Verbündeten und für die Vereinbarung von politischen Maßnahmen, die sich auf die Sicherheits- und Verteidigungsverpflichtungen der Verbündeten nach dem Washingtoner Vertrag auswirken.“ 833
Geprägt war das Treffen jedoch hauptsächlich von dem Dissens zwischen Washington und Paris. Dabei ging vor allem um politische Aspekte. Frankreich stellte sich an die Spitze jener neun NATO-Mitgliedstaaten, die auf die Einbeziehung Rumäniens und Sloweniens in den Kreis der Beitrittskandidaten beharrten. Infolgedessen geschah genau das, was NATOGeneralsekretär Solana unbedingt hatte vermeiden wollen: Die Staats- und Regierungschefs traten in eine ergebnisoffene Diskussion ein, in der die Gegensätze hart aufeinander prallten.834 Frankreich beharrte darauf, Rumänien und Slowenien ebenfalls zum konkreten Aspirantenkreis hinzuzurechnen und verweigerte sich jedem Kompromiss. Vermittlungs-
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SZ 4. Juli 1997 „Paris gibt im Streit über NATO-Erweiterung nach“. Der Elysée-Palast werte diese Erklärung des Quai d’Orsay – die angeblich nicht abgestimmt gewesen war – als Signal dafür, dass der neue Premierminister Jospin auch in der Außenpolitik eigene Zeichen setzen wolle. Die Außenpolitik war jedoch bekanntermaßen „domaine reservé“ des Präsidenten. Vielmehr hätten sich Chirac und Jospin gerade zur NATO-Reform bisher noch nicht abgestimmt. Dazu erklärte Chirac-Berater Lellouche, es sei höchste Zeit für eine Klärung der Rollen, wenn Frankreich weiter mit einer Stimme sprechen wolle; vgl. u.a.: Handelsblatt 3. Juli 1997 „Paris bleibt der militärischen Integration der NATO fern“. 831 „Erklärung von Madrid“, abgegeben anlässlich des Treffens der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses in Madrid am 8./9. Juli 1997, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Dezember 1997. 832 Zudem wurde am 30. Mai 1997 in Sintra formulierte Vorschlag, den Nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR) durch einen Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPR) zu ersetzen, und so dem Beziehungsgeflecht zwischen NATO, NAKR und PfP eine einheitliche Struktur zu gegeben, förmlich angenommen. 833 „Erklärung von Madrid“, abgegeben anlässlich des Treffens der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses in Madrid am 8./9. Juli 1997, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Dezember 1997. 834 FAZ 9. Juli 1997 „Bitterkeit im Verhältnis zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten“.
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versuche von deutscher Seite brachten keine Abhilfe, Bundeskanzler Kohl sprach später gar von „herben Diskussionen“ zwischen ihm und Chirac vor aller Augen.835 Auch brachte der französische Präsident abermals die Frage nach einem europäischen Verantwortungszuwachs auf die Tagesordnung.836 Für das leidige Thema signalisierten die Partner offen Ablehnung; in Madrid sollte es vornehmlich um Erweiterungsfragen gehen. Letztendlich wurde die französische Seite schlichtweg übergangen – wohl auch, weil Paris die Gespräche ja schon im Vorfeld für gescheitert erklärt hatte. Das Gefälle zum Ergebnis des Berlin-Gipfels konnte kaum größer ausfallen: Nur 13 Monate zuvor hatte man in Berlin die zukünftige militärische Zusammenarbeit von Amerikanern und Europäern noch mit euphorischen Prognosen bedacht. Der damalige französische Außenminister de Charette hatte das Verhältnis der Amerikaner und der Europäer noch überaus positiv bewertet; die transatlantische Bindung sei in ihrem strategischen Umfeld und einer völlig neuen Konstellation gestärkt.837 Der hierdurch vermeintlich zum Ausdruck kommende „starke Wille“ (de Charette) Frankreichs hatte ein gutes Jahr später kaum noch Wirkmächtigkeit. Den Grad der Verstimmung, den der NATO-Gipfel hinterließ, verdeutlichten unter anderem Chiracs Ausführungen bei der abschließenden Pressekonferenz am 9. Juli. Vor laufenden Kameras versicherte der Präsident einem erstaunten Publikum, Rumänien und Slowenien sei von der NATO eine klare Beitrittsperspektive aufgezeigt worden. Bei der nächsten, für 1999 terminierten, Erweiterungsrunde würden sie Priorität bekommen: « Personne ne peut contester que la Roumanie ait fait des efforts considérables pour remplir toutes les conditions que l’on est en droit d’exiger pour l’entrée dans l’OTAN. » 838
Im Schlussdokument des Gipfels war aber nur von einer bloßen Vertagung des Beitrittsgesuches beider Länder die Rede gewesen, ohne ihnen einen prioritären Status einzuräumen.839 Es verwundert nicht, dass sich die sicherheitspolitischen Gespräche zwischen Paris und Bonn in der Folgezeit auf einen Tiefpunkt zu bewegten; Bundesaußenminister Kinkel und Verteidigungsminister Rühe zeigten sich verständnislos angesichts der „erratischen Entscheidungen“ eines „eruptiven“ französischen Präsidenten.840 Nach dem offenen Disput auf dem Madrid-Gipfel musste man sich also vermehrt um bilaterale Schadensbegrenzung bemühen. Es traf sich, dass Deutschland dem französischen Partner in der Präsidentschaft 835
Spiegel 29/1997 „Ohne Schnulzen und Schmalz“. Präsident Chirac in seiner Pressekonferenz beim NATO-Gipfel in Madrid am 8. Juli 1997, in: Textes officiels de l’Ambassade de France à Bonn vom 10. Juli 1997. Auf die Besetzung von AFSOUTH angesprochen führte Chirac aus : « Ces discussions n’ont pas été interrompues. Elles l’ont été provisoirement et matériellement pendant la formation du gouvernement. Je le répète une fois de plus : la France a une objectif qui consiste à tout faire pour permettre le développement d’une défense européenne. […] C’est la position que j’avais prise, il y a un an et demi. C’est celle du ministre des Affaires étrangères, M. Védrine et du gouvernement. J’ai bien indiqué au président Clinton depuis un an et demi, qu’il ne s’agissait pas là d’un conflit entre les Etats-Unis et la France, en aucun pas, mais qu’il s’agissait d’un problème de rapport entre L’OTAN et la France, problème qui se réglera aujourd’hui, demain, quand les conditions seront réunies. Elles ne le sont pas aujourd’hui. » 837 Außenminister de Charette auf dem NATO-Ministerrat in Berlin am 3. Juni 1996, abgedruckt in: FrankreichInfo vom 6. Juni 1996, S.3. 838 Präsident Chirac in seiner Pressekonferenz beim NATO-Gipfel in Madrid am 9. Juli 1997, in: Textes officiels de l’Ambassade de France à Bonn vom 10. Juli 1997. 839 Stuttgarter Zeitung 10. Juli 1997 „Chiracs Erzählungen kommen beim Publikum nicht gut an“. 840 Spiegel 29/1997 „Ohne Schnulzen und Schmalz“. 836
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der WEU nachfolgte. Schon bei ihrem Gipfel in Nürnberg im Dezember 1996 hatten die deutsche und die französische Seite eine Koordinierung ihrer Präsidentschaften vereinbart. Den „Staffelstab“ (Kinkel) für das zweite Halbjahr übernahm Deutschland daher mit folgenden Zielen:
Weiterentwicklung des Verhältnisses von WEU und Europäischer Union, insbesondere Umsetzung der Ergebnisse der Regierungskonferenz; weitere Vertiefung des Verhältnisses von WEU und NATO, insbesondere Fortführung der Berlin-Beschlüsse der NATO; vertiefte Einbeziehung der Assoziierten Partner in die militärische Arbeit der Westeuropäischen Union; und schließlich weiterer Ausbau der operationellen Fähigkeiten der WEU.841
Wohltuend für das angeschlagene bilaterale Verhältnis wirkten zudem Signale seitens des französischen Verteidigungsministeriums, bei den Rüstungsprogrammen nunmehr eine stärkere Harmonisierung zwischen beiden Partnern anzustreben.842 Dieses war auch einer der Kernpunkte des gemeinsamen Sicherheitskonzepts vom Dezember 1996 gewesen. Flankierend wirkte hier die schon im Juni getroffene Entscheidung den gemeinsamen Kampfhubschrauber „Tiger“ nun doch in Serie zu produzieren.843 Auch die erneute Harmoniedemonstration auf dem 70. deutsch-französischen Gipfel in Weimar passte in dieses Bild. Es wirkte vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen jedoch sichtlich bemüht, wenn man hier verlautbaren ließ, „…das Außergewöhnliche an den deutsch-französischen Beziehungen […] ist ihre Normalität.“844 2.17 Die bilaterale Sicherheitskooperation und der EU-Vertrag von Amsterdam Am 2. Oktober 1997 wurde in Amsterdam die Neufassung des EU-Vertrages feierlich unterzeichnet. Der Amsterdamer Vertrag (AV) war das Ergebnis der Regierungskonferenz zur Reform der europäischen Verträge, die am 29. März 1996 in Turin eröffnet und am 16. Juni 1997 mit der Vorlage des neuen Vertragsentwurfes an den Europäischen Rat von Amsterdam beendet wurde.845 Mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik ging es bei der 841
Erklärung des deutschen Außenministers anlässlich der WEU-Ministerratstagung in Paris am 13. Mai 1997, in: Bulletin der Bundesregierung vom 16. Juni 1997. Gleichzeitig sprach sich der neue französische Verteidigungsminister Alain Richard gegen eine Privatisierung der Waffenindustrie aus und bekannte sich unzweideutig zur Entscheidung von Präsident Chirac eine Berufsarmee einzuführen – dies obwohl in der linken Regierungskoalition gegen dieses Vorhaben noch starke Widerstände herrschten.; Le Monde 25. Juli 1997 « L’armée et la cohabitation » ; NZZ 26./27. Juli 1997 „Frankreich für harmonisierte Rüstungspolitik“. 843 SZ 2. Juni 1997 „“Tiger“ soll doch in Serie produziert werden“; Die Welt 16. Juni 1997 „Gute Aussichten für Eurocopter. Le Bourget: Chirac sieht Gemeinschaftsunternehmen als Vorläufer für Neuordnung Europas“; Le Figaro 19. Juni 1997 « Le tigre prêt pour la production en série » 844 Lionel Jospin auf der Pressekonferenz anlässlich des Deutsch-französischen Gipfels in Weimar am 19. September 1997, in: Internationale Politik 11/1997, S.95-97. Jacques Morizet, La coopération franco-allemande après le sommet de Weimar, in : Défense Nationale 12/1997, S.20-29. 845 Die Neufassung war – ebenso wie das Vertragswerk von Maastricht – als Mantelvertrag angelegt. Er führte die einzelnen Änderungen der europäischen Verträge (EUV, EGV, EGKSV, EAGV) zusammen und nahm in eine umfassende Vereinfachung dieser geltenden Verträge vor. Vertragsvereinfachung und Neukodifizierung gehörten zum Mandat der 1996 eingesetzten Regierungskonferenz. 842
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Neufassung des EU-Vertrages vornehmlich um Überprüfung und Ausdiffernzierung der GASP-Bestimmungen des ursprünglichen Vertragswerkes. Frankreich hatte sich hier für einen substantiellen Ausbau stark gemacht – eine effektive GASP sollte Europas Außenpolitik weltweit Geltung verschaffen. Auch Deutschland verfolgte das Ziel einer effektiven GASP, allerdings vornehmlich aus der Überzeugung heraus, das Konfliktlagen wie im ehemaligen Jugoslawien der Nachweis für deren dringende Notwendigkeit seien.846 Das Konzept einer weltweit handlungsfähigen Union, die nach französischer Lesart auch eine ausreichende „machtpolitischmilitärische Fundierung“ (Meimeth) verlangte, sollte nach Chiracs Überzeugung vornehmlich auf die Staats- und Regierungschefs als Träger der einzelstaatlichen Souveränität zugeschnitten sein.847 Schon im Jahr 1995 war dazu von französischer Seite erklärt wurden: „Was bedeutet ein Europa der Verteidigung? Es erfordert zunächst, daß sich bei der Regierungskonferenz [von Amsterdam, MK] eine echte gemeinsame Außenpolitik entwickeln kann, welche eine unerlässliche Voraussetzung für jede Verteidigungspolitik ist. […] Das Europa der Verteidigung erfordert auch, daß wir gemeinsam die große Reform der NATO erfolgreich abschließen. Das militärische Engagement der Vereinigten Staaten auf dem europäischen Kontinent ist erforderlich. Aber sie [sic] reicht nicht aus, um die europäischen Krisen beizulegen, und die Vereinigten Staaten selbst ermutigen uns, diesen „europäischen Pfeiler“, diese „separable, but not separated forces“ auszubauen, diese Truppen, die die Europäer einsetzen könnten, wenn eine ernste, aber begrenzte Krise auf ihrem Kontinent aufflammt.“848
An dieser Einschätzung hatte sich auch nach dem Regierungswechsel im Frühjahr nicht viel geändert und so pochte die französische Führung in Amsterdam dann auch auf die Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips für zentrale Entscheidungen der GASP. Im Einzelnen nahm der neugefasste Vertrag in Art. 11 I EUV (AV) zunächst die Inkorporierung der Petersberg-Aufgaben der WEU in die GASP vor.849 Ebenfalls in Art. 11 I EUV akzentuiert der Vertrag von Amsterdam – anders als sein Vorgänger, der noch von „der Union und Ihren Mitgliedstaaten“ sprach – durch die ausdrückliche Betonung gemeinsamer Ordnungsvorstellungen der „Union“ den nunmehr hervorgehobenen Stellenwert kollektiver Maßnahmen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Gemäß Art. 12 EUV (AV) wird das in Art. 11 II EUV (AV) formulierte Kohärenzgebot von GASP und einzelstaatlicher Außenpolitik unter anderem durch die Instrumente der gemeinsamen Strategien (Art. 13 II EUV (AV)), gemeinsamen Aktionen (14 I EUV (AV)) und gemeinsamen Standpunkte (Art. 15 EUV (AV)) gewährleistet. Diese Trias entfaltet eine im MaastrichtVertrag noch nicht zu findende Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten. Die Bindewirkung 846
Volker Rühe vor der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 4. Februar 1995, in: Bulletin der Bundesregierung vom 6. Februar 1995. 847 Staatspräsident Jacques Chirac in seinem Interview mit La Libération vom 25. März 1996. 848 Michel Barnier, Beigeordneter Minister für Europäische Angelegenheiten in seinem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 26. Oktober 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 7. November 1995, Hervorhebung durch den Verfasser. 849 Die Übernahme der Petersberg-Aufgaben in den Amsterdamer Vertrag brachte jene „regionale Entgrenzung der militärischen Aufgaben der WEU“, die schon François Mitterrand verfolgt und im Bereich der kollektiven Selbstverteidigung als zumindest deklaratorische Gleichstellung der WEU mit der NATO interpretiert hatte. Zugleich wurde die künstliche – wenngleich politisch damals unerlässliche – Trennung von ökonomischen, politischen und militärischen Aspekten der europäischen Sicherheit, welche die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) geprägt hatte, überwunden und durch einen umfassenden Anspruch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ersetzt.
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des jeweiligen Instrumentariums für die Politik des einzelnen Mitgliedstaates wird ausdrücklich statuiert (Art. 13 II; Art. 14 III; Art. 15 EUV (AV)). Art. 13 I, Art 17 I und Art. 18 EUV (AV) begründen die Schlüsselstellung des Europäischen Rates und seines Vorsitzes bei der Bestimmung der Grundsätze und der Durchführung der GASP. Eine Setzung, die ganz den französischen aber auch den deutschen Vorstellungen entsprach. Artikel 17 I EUV (AV) eröffnet für die GASP erstmals die schrittweise Festlegung einer Verteidigungspolitik der Union und die Perspektive einer gemeinsamen Verteidigung. Laut Art. 17 I EUV (AV) ist die Westeuropäische Union integraler Bestandteil der Entwicklung der Union und eröffnet dieser den Zugang zu operativen militärischen Kapazitäten. Es ist Anliegen der GASP, die engere institutionelle Beziehung der Union zur WEU im Hinblick auf ihre Inkooperierung in die EU zu fördern. In diesem Zusammenhang wird die Rolle der Nordatlantischen Allianz für die kollektive Verteidigung ausdrücklich betont und für unverändert gültig erklärt. Art. 17 II EUV (AV) benennt als Kooperationsmasse zwischen EU und WEU das gesamte Spektrum der Petersberg-Aufgaben. Hierzu wird in Art. 17 III EUV (AV) direkte Durchgriffsmöglichkeiten der Union auf die Kapazitäten der WEU festgeschrieben.850 Gegenüber der zentralen Funktion des Europäischen Rates und seines Vorsitzes bei Formulierung und Umsetzung der GASP werden der Kommission (Art. 18 IV; Art. 22; Art. 27 EUV (AV)) und dem Parlament (Art. 21 EUV (AV)) nur Beteiligungs- bzw. Antragsrechte eingeräumt. Ein weiteres Charakteristikum ist das – von Frankreich geforderte – Einstimmigkeitsgebot für Beschlüsse zur GASP aus Art. 23 I EUV (AV). Durch diese Aufrechterhaltung der Einstimmigkeitsregel werden die Einflussmöglichkeiten der Mitgliedstaaten gewahrt. Zugleich eröffnet Art. 23 I EUV (AV) einzelnen Mitgliedern aber die Möglichkeit, durch Stimmenthaltung einen Beschluss zur GASP nicht mittragen zu können, ohne ihn dadurch nicht zustande kommen zu lassen. Dieses Instrument einer „Konstruktiven Enthaltung“ eröffnet bisher nicht bestehende Flexibilisierungsmöglichkeiten, indem er letztendlich auch für die GASP das Zustandekommen von coalitions of the willing ermöglichte. Die Gestaltwerdung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde durch die im Amsterdamer Vertragswerk vorgesehene Funktion eines Hohen Vertreters für die GASP sowie der ihn unterstützenden Strukturen deutlich. Gemäß Art. 18 III EUV (AV) wird die Aufgabe des Hohen Vertreters vom Generalsekretär des Rates wahrgenommen. Zu den Aufgaben des Hohen Vertreters gehören neben einer Allgemeinen Unterstützung des Rates in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten insbesondere die Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer Entscheidungen (Art. 26 EUV (AV)). Wesentlich ist auch das, ebenfalls in Art. 26 EUV (AV) begründete, Mandat, auf Ersuchen des Vorsitzes im Namen des Rates den Dialog mit Dritten zu führen.851 Fasst man zusammen, so lassen sich als Eckpunkte der im Amsterdamer Vertrag kodifizierten GASP mithin festhalten: 850
Diese wurden von der WEU mit ihrer „Erklärung der Westeuropäischen Union zur Rolle der WEU und ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz“ vom 22. Juli 1997 bestätigt; vgl.: Thomas Läufer (Hrsg.) Der Vertrag von Amsterdam. Texte des EU-Vertrages und des EG-Vertrages mit den deutschen Begleittexten, Bonn 2000, S.254-261. 851 Der Definition der Rolle des Hohne Vertreters in Art. 26 EUV (AV) waren Auseinandersetzungen zwischen der Kommission, dem Parlament und einzelnen Mitgliedstaaten vorausgegangen. Der Kompromiss fiel schlussendlich zugunsten der Berufung des Generalsekretärs des Rates zum Hohen Vertreter für die GASP aus, der dem Rat verantwortlich war. Damit blieben die Forderungen der Kommission und des Parlaments unerfüllt, die die Ernennung eines Kommissars verlangt hatten.
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Aufnahme der Petersberg-Aufgaben; die Klassifizierung der WEU als integraler Bestandteil der EU; eine stärkere politische Definition des Europäischen Rates; die Konkretisierung der Außen- und Verteidigungspolitik über die Entwicklung Gemeinsamer Standpunkte, Gemeinsamer Aktionen sowie Gemeinsamer Strategien und deren Verbindlichkeit für alle Mitgliedstaaten; das Prinzip der konstruktiven Enthaltung; Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates gegenüber der WEU.
Insgesamt war man in Bonn und Paris über das in Amsterdam Erreichte zur GASP verhalten-optimistisch. Das von der französischen Seite verfolgte Ziel, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Westeuropäische Union zum bewaffneten Arm der Europäischen Union werden zu lassen,852 war formell erreicht, musste allerdings jetzt mit Inhalt und konkreten Zusagen über militärische Mittel gefüllt werden. In Bonn vertrat man den Standpunkt, dass „…die Frage der Annäherung EU-WEU, auch was die Entscheidungsprozesse anbelangt, […] auf einem guten Weg“853 sei auch wenn die wesentliche Strecke noch zurückgelegt werden müsste.854 Die bilaterale Zusammenarbeit hatte sich – insgesamt gesehen – einmal mehr bewährt.855 Allerdings stellten die Amsterdam-Klauseln wenig mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Gerade Großbritannien, dessen ursprüngliche Zielsetzung es ebenfalls gewesen war, ein „…nach außen orientiertes Europa zu fördern, das in der Lage sei, stabilisierend zu wirken“,856 hatte hier bremsend gewirkt. Eine zu große europäische Eigenständigkeit in der GASP gegenüber der NATO und den Vereinigten Staaten hatte London zu verhindern gewusst. 2.18 Rückgriff auf Strukturen und Mittel der WEU Die Herbst-Tagung der WEU am 17./18. November 1997 in Erfurt stand ganz im Zeichen der durch den Amsterdamer Vertrag gemachten Vorgaben der Europäischen Union. In der „Erklärung von Erfurt“ hoben die WEU-Mitgliedstaaten die Bedeutung des in Amsterdam gefassten Beschlusses hervor, die Sicherheits- und Verteidigungsdimension der Europäischen Union unter Rückgriff auf Strukturen und Mittel der WEU auszubauen.857 Wesentlicher Aspekt war für die WEU-Minister die Befugnis des Europäischen Rates zur Festlegung von Leitlinien, die für die Westeuropäische Union im Prinzip bereits Gül-
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Vgl. hierzu auch: Melanie Piepenschneider, Der Amsterdamer Vertrag: Eine versöhnliche Bilanz, in: Dokumente 1997, S.399-406, S.404; Philippe Moreau Defarges, De la politique étrangère et de sécurité commune, in: Défense Nationale 3/1997, S.81-87. 853 Klaus Kinkel in einem Interview mit dem Deutschlandfunk anlässlich der Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrags am 2. Oktober 1997, in: Internationale Politik 11/1997, S.97-99. 854 Erklärung der Deutschen Bundesregierung zum Europäischen Rat in Amsterdam, abgegeben von Bundeskanzler Helmut Kohl am 27. Juni 1997 in Bonn; in: Bulletin der Bundesregierung vom 1. Juni 1997. 855 Regelsberger, Die GASP, S.58. 856 Konzept der britischen Regierung für die Erörterung der Europäischen Sicherheit auf der Regierungskonferenz 1996 vom 1. März 1995, in: Internationale Politik 9/1995, S.74-79; Hervorhebungen durch den Verfasser. 857 „Erklärung von Erfurt“ des Ministerrates der WEU abgegeben anlässlich seiner Tagung in Erfurt am 18. November 1997, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Dezember 1997.
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tigkeit hätten.858 Diesem Anspruch hatte die WEU mit ihrer Erklärung zu ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz vom 22. Juli 1997 gebilligt.859 Ferner formulierten die Minister in Erfurt den Auftrag an den Ständigen Rat, die Modalitäten für die Durchführung von eigenen militärischen Operationen unter Heranziehung multinationaler FAWEU-Hauptquartiere zu prüfen.860 Neben dieser Entwicklung gelte es, die Verzahnung mit Mitteln und Fähigkeiten der NATO zu entwickeln. Diesem Ziel folgend hatte die WEU – von Bonn sowie von Paris wohlwollend begleitet – seit dem NATOGipfel von Berlin 1996 aktiv zur Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) beigetragen. Es war ihr nunmehr möglich, militärisch kohärente, leistungsfähige Streitkräfte unter politischer Kontrolle und strategischer Führung der WEU zu schaffen. Frankreich hatte in diesem Zusammenhang darauf gedrängt, wichtige Arbeiten zu den europäischen Führungskomponenten zu leisten. Ebenso waren umfassende Konsultationen zu den Modalitäten von Freigabe beziehungsweise Rückführung der in Anspruch zu nehmenden NATO-Kapazitäten geführt worden. Wesentliches Ergebnis dieser Gespräche war die Einsicht, das militärische Operationen der WEU ohne die Inanspruchnahme der NATO-Beteiligung nicht realistisch seien.861 Der WEU-Ministerrat glich darüber hinaus, ab dem November 1997, die Abfolge der WEU-Präsidentschaften an jene der Europäischen Union an und entwickelte die Beteiligungsrechte der Europäischen Union an den Arbeiten der WEU auf der durch Art. 17 III EUV (AV) vorgegebenen Linie weiter. Der deutsche Vorsitz zeigte sich mit den in Erfurt erzielten Ergebnissen zufrieden: Wichtige Etappenziele seien erreicht worden.862 Die Westeuropäische Union sei in ihren drei Hauptfunktionen:
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Zum Rangverhältnis EU-WEU vgl. auch: Guido Lenzi, The WEU between NATO und EU, ZEI Discussion Paper C4/1998, Bonn 1998. 859 Diese wurden von der WEU mit ihrer „Erklärung der Westeuropäischen Union zur Rolle der WEU und ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zur Atlantischen Allianz“ vom 22. Juli 1997 bestätigt; vgl.: Thomas Läufer (Hrsg.) Der Vertrag von Amsterdam. Texte des EU-Vertrages und des EG-Vertrages mit den deutschen Begleittexten, Bonn 2000, S.254-261. 860 In Erfurt wurde von Deutschland und den Niederlanden das Personal des ersten Deutsch-Niederländischen Korps als FAWEU-Kraft für Einsätze im Rahmen der Petersberger Aufgaben förmlich benannt. 861 Zu dieser ernüchternden Erkenntnis kam schließlich auch der Ministerrat und der Politische Ausschuss der WEU selbst in ihrer Bewertung der Amsterdamer Beschlüsse im November 1997: Während die Minister ihre Überzeugung bekräftigten, dass die NATO nach wie vor von zentraler Bedeutung für die Stabilität und Sicherheit in Europa sei, folgerte der Ausschuss in seiner Empfehlung an den Rat unmittelbar nach dem Gipfel: „The decisions that are taken, by the European Union in Amsterdam and by the Atlantic Alliance in Madrid have led to a situation that gives rise to serious doubts as to whether the project of a Common European defence is still a real political objective being pursued by all governments of the relevant European countries. Whereas it would seem that the Atlantic Alliance and NATO have succeeded in adjusting more efficiently to the new international security situation, one has the impression that Europeans are still lagging behind. This impression has been greatly reinforced by the failure of Amsterdam to make substantial progress in establishing a European security and defence identity in the framework of the European Union.” Assembly of the WEU, Report of the Political Committee: WEU after Amsterdam. The European security and defence identity and the application of Article V of the modified Brussels Treaty – reply to the annual report of the Council, 454 Session, Doc. 1584, 19 November 1997, S.18. Siehe hierzu: Wassenberg, Eurokorps, S.111. 862 Rede des deutschen Außenministers bei der WEU-Herbsttagung in Paris am 1. Dezember 1997 in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Dezember 1997.
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als operationelles Instrument für eigenständiges Krisenmanagement im Kreis der EUMitgliedstaaten und der europäischen NATO-Partner; als Baustein für den Ausbau der sicherheitspolitischen Dimension der Europäischen Union und als wichtiges, ergänzendes Instrument bei der Heranführung der mittel- und osteuropäischen Staaten an die euro-atlantischen Strukturen
gestärkt worden.863 Dies, in Verbindung mit den Beschlüssen der Union zum Vertrag von Amsterdam, habe weitere Fortschritte hinsichtlich der Inkorporierung der WEU in die Europäische Union gebracht. Nunmehr käme es darauf an, die jeweiligen Entscheidungsprozesse noch enger miteinander zu verzahnen. Zwischen NATO und WEU sollte uneingeschränkte Transparenz bei der Krisenbewältigung herrschen. Wesentlich sei die Frage, ob die WEU als operationelles Instrument für europäisches Krisenmanagement durch eine erleichterte Konsensbildung gestärkt werden könne. Für Deutschland lag hier – anders als für Frankreich – der Schlüssel zum Erfolg nicht in der Übertragung des EU-Prinzips der konstruktiven Enthaltung auf die WEU. Denn anders als in der Europäischen Union war in der WEU ein Mitgliedsstaat, der einen Beschluss über die Petersberg-Operation aktiv mitgetragen hat, nicht verpflichtet, auch an der Durchführung dieses Beschlusses teilzunehmen. Insgesamt war man zufrieden: in Bonn, weil sich die WEU mehr und mehr zu einem „Instrument vermehrter europäischer Verantwortung in Sicherheitsfragen“864 wandelte, das eine Ergänzung zur NATO darstellte; in Paris, weil die Aufwertung der WEU als Kooperationspartner der NATO nunmehr Gestaltungsräume bot, die nach vertagter Rückkehr in das Atlantische Bündnis sonst verschlossen geblieben wären. Der Wahrnehmung von Gestaltungsräumen war auch die Ankündigung von Verteidigungsminister Alain Richard verpflichtet, sein Land werde, ungeachtet der grundsätzlich reservierten Haltung zur Allianz, seine Mitarbeit an bestimmten Projekten und Programmen der NATO intensivieren. Richard benannte hierfür vier Kooperationsfelder865: Erstens die Combined Joint Task Forces, die ja für die operative Befähigung der WEU und damit der GASP unabdingbar waren, zweitens die Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität in der NATO, was prinzipiell eng mit dem ersten Punkt verwoben war, drittens die zunehmende Vernetzung von NATO und WEU. Als letztes Feld einer intensivierten Teilnahme führte Richard die Stärkung des Kooperationsprogramms Partnership for Peace an. Motivationslage war hier wohl abermals das Bedürfnis, den eigenen Einfluss zu wahren. Gleichzeitig forcierte Paris, im engen Schulterschluss mit Bonn, den weiteren Ausbau der Europäischen Rüstungsagentur,866 indem es u. a. zusammen dem deutschen Partner und Großbritannien die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie stärkte.867 Das Projekt des Aufklärungssatelliten Helios II sollte derweil ohne den deutschen Partner auf dem Weg
863
Ebenda. Badische Zeitung 10. Dezember 1997 „Das hässliche Entlein neben der NATO“. FAZ 2. Oktober 1997 „Frankreich kehrt vorerst nicht in die militärische Integration der NATO zurück. 866 Die Welt 18. November 1997 „Rüstungsagentur wird ausgebaut“. 867 Vgl. die Gemeinsame Erklärung des britischen Premierministers, des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten zur europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie vom 9. Dezember 1997, in: Internationale Politik 7/1998, S.81. 864 865
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gebracht werden.868 Die Ministertagung des Nordatlantikrats am 16. Dezember 1997 in Brüssel setzte zum Jahresende den Schlusspunkt unter den Streit um die Besetzung des Regionalkommandos AFSOUTH, indem sie die Einigung über eine neue NATOKommandostruktur formell feststellte.869
Zwischenfazit Das Jahr 1995 markiert die markanteste Zäsur in der deutsch-französischen Sicherheitskooperation der 1990er Jahre. Mit dem Ausscheiden François Mitterrands und der Wahl Jacques Chiracs zum Staatspräsidenten vollzog sich in der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein einschneidender Richtungswechsel. Schon seit dem Jahr 1993 hatte sich gezeigt, dass die bisherige sicherheitspolitische Linie Frankreichs in Anbetracht der Jugoslawienkriege und der Entwicklung in Mittel- und Osteuropa nicht hinlänglich war. Die von Mitterrand gespielte WEU-Karte war weitgehend folgenlos geblieben. Demgegenüber rückte die Atlantische Allianz – vom deutschen Partner wohlwollend begleitet – auf dem europäischen Sicherheitstableau immer stärker in die zentrale Position. Mit den ESVIBeschlüssen des Brüsseler NATO-Gipfels vom Januar 1994 wurde Paris dann jegliche Initiative genommen. Ab diesem Zeitpunkt war eine Neupositionierung unausweichlich. Die cohabitation-Administration Mitterrand-Balladur sorgte jedoch für einen Schwebezustand, der sich bis zum Mai 1995 quälend hinzog. Der nach der Wahl Jacques Chiracs eingeleitete Wechsel in der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hatte unmittelbare Auswirkungen auf die bilaterale Kooperation und den deutschen Partner. Im Vordergrund stand für Paris jetzt nicht mehr die Pflege gemeinsamer Projekte als Selbstzweck. Vielmehr begriff man diese ab dem Jahr 1995 vermehrt als Sockel für weiterführende Vorhaben im europäischen und atlantischen Rahmen. Exemplarisch hierfür war das neue Verständnis, welches die Administration ChiracJuppé dem Eurokorps entgegenbrachte. Ab Oktober 1995 formell voll einsatzbereit, sollte es seine Einsatztauglichkeit möglichst rasch unter Beweis stellen. Dies scheiterte jedoch am Zögern Bonns, wo man, trotz des einschlägigen Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1994, vor den Unwägbarkeiten militärischer Einsätze zurückschreckte. Zudem wusste man auf der deutschen Seite um die, entgegen der Papierform, rudimentär entwickelte Operationsfähigkeit der eigenen Streitkräfte. Nicht übersehen werden darf auch das sich ebenfalls hemmend auswirkende Bestreben Helmut Kohls, das Eurokorps in erster Linie als Projekt der deutsch-französischen und der europäischen Aussöhnung begreifen zu wollen. Durch die Integration von Streitkräften, so der leitende Gedanke, werde zwischen868
869
Die Welt 15. Dezember 1997 „Paris baut „Helios-2“ offenbar ohne Bonn“; bzw. Le Monde 14./15. Dezember 1997 « La France lance sans l’Allemagne le projet de satellites espions européens Hélios-2 ». Hier heißt es : « Enfin, Bonn est la cible de fortes pressions de Washington pour l’achat d’un système clés en main d’observation militaire au groupe Lockheed-Martin-Loral ou, plus simplement encore, pour un abonnement à des informations recueillies par des satellites espions américains au profit des états-majors allemands. ». Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats am 16. Dezember 1997 in Brüssel, in: Internationale Politik 7/1998, S.81-92. Die neue Struktur umfasste zwei Strategische Kommandos (SC), eines für den Atlantik und eines für Europa. Das Strategische Kommando Atlantik bestand aus drei Regionalkommandos (RC). Im SC Europa befanden sich zwei Regionalkommandos – das RC Nord (Brunssum) unter britischer bzw. deutscher Führung und das RC Süd (Neapel) unter amerikanischer Verantwortung. Zusammengenommen brachte die neue NATO-Struktur eine Reduzierung von 65 Hauptquartieren auf 20.
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staatlichen Antagonismen die Geschäftsgrundlage genommen – zumindest militärisch. Ob Jacques Chirac diese Überlegung teilte oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Sein sicherheitspolitischer Schwerpunkt lag jedenfalls nicht auf der von Kohl und Mitterrand noch zentral gesetzten Aussöhnung Westeuropas. Der neue französische Staatspräsident lokalisierte Bedrohungen der Sicherheit (West-)Europas mehr in dessen Peripherie, etwa auf dem Balkan oder in Nordafrika. Der Mentalitätswechsel vom Weltkriegsteilnehmer Mitterrand hin zum Veteranen des französischen Algerienkriegs Chirac war deutlich zu spüren. Dies wirkte sich negativ auf die deutsch-französische Waffenbrüderschaft aus. Hinzu trat, dass Chirac in veränderter Form auf die gaullistischen Maximen rekurrierte, als Vorgänger Mitterrand dies zuletzt in den Jahren 1993-1995 getan hatte. Sicherheitspolitische Fragen hatten autark in Paris entschieden zu werden, erst danach waren sie dem Partner in Konsultationen näher zu bringen. Die Entscheidungsabläufe im Umfeld der Beschlüsse zur Wiederaufnahme der französischen Atomtests, der Annäherung an die NATO oder der Aussetzung der Wehrpflicht belegen dies. Die mit viel Elan schon im ersten Regierungsjahr von der neuen Administration angegangene Generalüberholung der französischen Sicherheitspolitik war so merklich von dem Bestreben bestimmt, Frankreich politisch und strategisch wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dabei spielten die Betonung von politischem Willen, Tatkraft und Flexibilität – ganz im Sinne de Gaulles870 – eine wesentliche Rolle. Bezogen auf die Wiederaufnahme der Atomtests war dabei der tatsächliche militärische Nutzwert der force de frappe wieder einmal nicht das Entscheidende: Nach der weitgehenden sicherheitspolitischen Apathie der letzten beiden Amtsjahre Mitterrands wollte man schlichtweg die eigene Leistungsfähigkeit demonstrieren. Demgegenüber stand die Anfang 1996 angekündigte Aussetzung der Wehrpflicht ganz im Zeichen der Anforderungen der neuen Sicherheitslage. Schon der Petersberg-Katalog der WEU hatte das Panorama kleinerer, zeitlich begrenzter Einsätze mit einem allerdings weltweiten Operationsradius gezeichnet. Die Schlüsselwörter waren Planung und Führung, Modularität und Projektionsfähigkeit. Hierauf sollten nunmehr auch die französischen Streitkräfte vermehrt eingestellt werden. Angesichts ihres damaligen Ausbildungs- und Ausrüstungsstandes sah man sich mit einer erheblichen Modernisierungsleistung konfrontiert. Die Wehrpflicht wurde da als ein zusätzlicher Ballast empfunden. Ihre Aussetzung erhielt so die innere Logik. Frankreichs Entscheidung sorgte für eine tiefgreifende Verstörung im deutschfranzösischen Verhältnis. Kohl fühlte sich düpiert, mehr noch: vom französischen Partner im Stich gelassen. Für sein auf Integration ausgelegtes Sicherheitsmodell, war die Wehrpflicht maßgeblich – nur durch sie hatte das in der Deutsch-Französischen Brigade und im Eurokorps angelegte Aussöhnungswerk Aussicht auf Verbreitung über den vergleichsweise engen Rahmen der (Berufs-) Militärs hinaus. Noch am 3. Februar 1996, wenige Tage bevor Paris sich von der Wehrpflicht abwendete, hatte der Bundeskanzler auf der Münchner Sicherheitskonferenz von der Überwindung nationaler Bezugsräume in der europäischen Sicherheitspolitik gesprochen. Explizit hatte Kohl hier die „…zwischen Deutschland und Frankreich ins Auge gefasste Möglichkeit, es jungen Wehrpflichtigen zu erlauben, den Wehrdienst im jeweils anderen Land zu leisten“871 genannt. Die Pariser Entscheidung ver870
871
Charles de Gaulle in seiner Rundfunk- und Fernsehansprache vom 19. April 1963: „[…] es genügt nicht, freie Hände zu haben, um handlungsfähig zu sein. Es bedarf der Kraft.“ zitiert nach: Alfred Grosser, Frankreich und seine Außenpolitik. 1944 bis heute, München 1989, S.223. Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl bei der 33. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 3. Februar 1996, in: Bulletin der Bundesregierung vom 14. Februar 1996.
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setzte diesem Projekt den Todesstoß. Dass die Grundidee des CJTF-Konzepts der NATO, welches die WEU ja in gewisser Weise in ihr FAWEU-Schema übernommen hatte, letztlich auf eine Professionalisierung der europäischen Streitkräfte hinaus wollte, tröstete da wenig – im Gegenteil: Bonn sah sich unter Zugzwang gesetzt. Für Kohl selbst bedeutete Frankreichs Absage an die Wehrpflicht mithin zusätzlich die Aussicht auf innenpolitische Fährnisse schwer abzusehender Tragweite. Es gehört zu den Wesenszügen der deutsch-französischen Sicherheitspolitik in den 1990er Jahren, stark auf Symbolkraft fixiert zu sein. Die Parade deutscher Truppenverbände des Eurokorps auf den Champs Elysées am 14. Juli 1994, mehr noch das zu diesem Anlass bemühte bilaterale Pathos ist hierfür nur ein Beleg. Neben der Indienststellung der Deutsch-Französischen Brigade 1990 und dem Beschluss von La Rochelle zur Gründung des Eurokorps 1992 stellt sie einen der Kulminationsmomente der bilateralen Sicherheitskooperation dar. Das von Mitterrand und Kohl spätestens zehn Jahre zuvor in Verdun begonnene Aussöhnungswerk fand hierin seinen Abschluss. Allerdings begann nach dem Höhepunkt die Katharsis. Verdeutlichte das Truppendefilée vom 14. Juli 1994 doch das Spannungsfeld, in dem das Eurokorps stand. Auf der einen Seite war es Symbol der deutsch-französischen Versöhnung und damit „Schauverband“, zum anderen war es dazu vorgesehen, das „Exekutivorgan der WEU“ zu werden und damit auch ein Versuch, die Militärkulturen beider Länder einander anzunähern. Ab dem Jahr 1996 kühlte sich die bilaterale Sicherheitskooperation merklich ab. Die Gründe hierfür lagen nicht nur in der veränderten politischen Linie Frankreichs, sondern auch in einer zunehmend erstarrenden deutschen Haltung. Diese hatte, neben den genannten Faktoren, ihre Gründe zu guten Teilen auch in der sich mehr und mehr einer stärkeren europäischen Rolle öffnenden Bündnispolitik der NATO. Die auf den NATO-Treffen von Brüssel im Januar 1994 und Berlin im Juni 1996 gefassten Beschlüsse zu den Combined Joint Task Forces und zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) in der NATO versicherten Deutschland der langfristigen Verzahnung europäischer und atlantischer Sicherheitsbelange. Der noch in den Jahren 1991-1992 und in Teilen den Jahres 1993 gefürchtete, amerikanischen (Teil-)Rückzug aus Europa und ein damit verbundenes, langsames Entschlafen der Atlantischen Allianz schien abgewendet. Das Kompensationsversprechen, welches die Intensivierung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation in den Jahren 1991-1992 – zusätzlich zum bereits erwähnten Aussöhnungsaspekt – so verheißungsvoll gemacht hatte, verlor deutlich an Strahlkraft. Gerade die ESVI innerhalb der NATO war für Bonn ein wesentliches Instrument für die Ausgestaltung einer dauerhaften Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten. Die Stärkung des europäischen Pfeilers in der Allianz und die Herausbildung eines sicherheitspolitischen Arms in der Europäischen Union wurden als komplementäre, miteinander eng verknüpfte Prozesse, die so ausgerichtet werden sollen, dass sie sich gegenseitig stärken. Die Allianz sollte daher, nach dem Willen Bonns, das entscheidende Konsultationsforum für alle Sicherheitsfragen in Europa bleiben. Hieraus leitete sich auch ab, dass sicherheitspolitische Entscheidungen zunächst in der NATO fielen und hier auch entschieden werden sollten, ob die Allianz handeln würde oder, nachgeordnet, die Europäer. In Bonn unterschied man mit Blick auf die europäische Verteidigung deutlich zwischen zwei Bedingungszusammenhängen: einerseits der Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung Europas, die der NATO vorbehalten bleiben sollte, und andererseits dem Bestreben der Europäer, auf ihrem Kontinent und darüber hinaus auch dann handlungsfähig zu sein,
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wenn sich die Amerikaner nicht engagieren konnten oder wollten. In diesem Sinne war die deutsche Seite dann auch für eine begrenzte strategische Autonomie der Europäer.872 Im Wesentlichen wurde damit die Washingtoner Sichtweise der ESVI, die sich ebenfalls auf ein hierarchisches Verhältnis zwischen der NATO und den Europäern im Sinne des topdown-Ansatzes und für die Wahrung der strategischen Autorität aussprach, übernommen. Auch die französische Seite stand der ESVI aber nicht gänzlich ablehnend gegenüber. Der im Zuge des ESVI-Prozesses betriebene Aufbau eines genuin-europäischen Pfeilers wärmte hier nicht nur die Herzen des bürgerlichen Lagers um Edouard Balladur und Jacques Chirac, sondern auch jene der Sozialisten. Frankreich, das in seiner Sicherheitspolitik zumeist Autarkie anstrebte, sich –paradoxerweise – gerade deswegen aber auch häufig international isoliert fühlte, sah neue Handlungsspielräume, vor allem mit Blick auf die Etablierung neuer Entscheidungsstrukturen innerhalb der Allianz. Das erklärte Ziel lautete, die Mehrheitsverhältnisse so zu gewichten, das keiner der beiden Partner diesseits und jenseits des Atlantiks mehr ohne die Zustimmung des anderen handeln konnte. Dass Frankreich jedoch als Zaungast bei der Reform der NATO kaum Mitspracherechte erhalten würde, war sowohl für Jacques Chirac wie auch für die meisten Politisch-Handelnden evident. In bester gaullistischer Tradition hatte Alain Juppé hierfür die treffende Formel gefunden: „Ich war immer der Meinung, daß Frankreich von der Welt ausgehen muß, wie sie ist, aber daß es sie nicht so hinnehmen muß, wie sie ist.“873 Der ab Herbst 1995 einsetzende Annäherungskurs an die NATO wird so erklärlich. Auch war Frankreichs Annäherung nicht vorbehaltlos, wie man geflissentlich betonte: Die Rückkehr sei nur denkbar, wenn die NATO sich nachhaltig verändere. Was das konkret heißen sollte, war allerdings nicht abschließend geklärt. Zwar hatte man eine noch stärkere Teilhabe der Europäer gefordert,874 war sich aber gleichzeitig darüber im Klaren, dass diese nicht über die dafür erforderlichen militärischen Fähigkeiten verfügten. Dennoch wurde so der Fixpunkt einer weitgehend autarken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik festgelegt. Die Frage, in welchem Rahmen sich die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik verwirklichen sollte, hatte unmittelbare Auswirkungen auf die bilaterale Sicherheitskooperation. Diese war bisher eigentlich nur, aufgrund des französischen Sonderstatus in der NATO, unter dem Dach der WEU möglich gewesen. Doch schon das SACEURAbkommen hatte alternative Wege aufgezeigt. Mehr und mehr ging es ab dem Jahr 1994 um die Frage, wie der deutsch-französische, aber auch der europäische Beitrag innerhalb des Dreiecks NATO-WEU-EU organisieren ließ. Der ESVI-Kurs der NATO eröffnete hier neue Möglichkeiten. Demgegenüber war das Eurokorps klar in der Perspektive der Europäischen Union und der WEU gegründet worden. Gerade Paris legte auf dieses Wesensmerkmal gesteigerten Wert. Gemäß Art. 14 J 4 II EUV war die WEU nunmehr integraler Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union. Die bilateralen Bemühungen um die europäische Sicherheit kamen mithin nicht an einer Weiterentwicklung der WEU vorbei. Wie sollte das Verhältnis EU-WEU aber schlussendlich aussehen? Welche Verfahren sollten bei einer sicherheitspolitischen Zusammenarbeit von EU/WEU und Atlantischer Allianz angewandt werden? Die Erklärungen von Kirchberg (1994), Noorwijk (1994) Bir872
Generalleutnant Helmut Willmann in seinem Interview mit Ernst Martin, in: ders., Eurokorps und Europäische Einigung, S.279-280. 873 Alain Juppé in seiner Rede zum 20jährigen Bestehen des Planungsstabes beim französischen Außenministerium am 30. Januar 1995, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 21. Februar 1995. 874 Vgl. hierfür beispielhaft die Ausführungen von Außenminister de Charette auf dem NATO-Ministerrat in Berlin am 3. Juni 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info Nr. 28/96 vom 6. Juni 1996, S.6.
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mingham (1996), Madrid (1995), Paris (1997) und Erfurt (1997) zeugen von dem Bestreben der WEU, die ihr zugewiesene Scharnierfunktion zwischen EU und NATO wahrzunehmen. Nicht unerheblich war dabei, dass man in Bonn und Paris – vom militärischen Standpunkt her – um die Bedeutung der NATO wusste. Gerade der Verlauf der Kriege im ehemaligen Jugoslawien hatte vor Augen geführt, wie wenig man in Krisensituationen zumindest mittelfristig auf den militärischen Beitrag der Vereinigten Staaten verzichtet konnte. Trotz dieses Wissens und der weitreichenden Beschlüsse des NATO-Gipfels in Berlin zur ESVI ließ sich der Spannungsbogen EU-WEU-NATO dennoch erst einmal nicht entschärfen. Auch deswegen gerieten die bilateralen Sicherheitsinstitutionen, allen voran das Eurokorps, in den Jahren 1996-1999 in ein Zwischenstadium. Gerade in Paris wollte man zu viel. Die Querelen um das NATO-Südkommando belegen dies ebenso wie die bilaterale Überhitzung bei der Frage der satellitengestützten Aufklärungskapazitäten oder der innenpolitische Streit um das deutsch-französische Sicherheitskonzept. Angesichts des erratischen Partners war man in Bonn zunehmend konsterniert. Der harmonische Gleichschritt, der die deutsch-französische Sicherheitskooperation unter Mitterrand gekennzeichnet hatte, war in einen wilden Tempowechsel übergegangen. Als Frankreich im Sommer 1997 schließlich erklärte, der Atlantischen Allianz nun doch weiter fernzubleiben, empfand man dies in der deutschen Regierung als herben Rückschlag. Es ist angeführt worden, dass Frankreich selbstbewusst aus den gescheiterten Verhandlungen über seine Rückkehr in die Atlantische Allianz hervorging.875 Dieser These ist nicht zu folgen. Vielmehr war die sicherheitspolitische Position Frankreichs im zweiten Halbjahr 1997 von einer gewissen Ausweglosigkeit gekennzeichnet. Hierzu trug die stockende sicherheitspolitische Entwicklung innerhalb der Europäischen Union mit bei. Die einschlägigen Verhandlungen um die Revision des Maastricht-Vertrages waren seit ihrem Beginn von dem Schisma zwischen ESVP und ESVI, aber auch von dem ungeklärten Rangverhältnis zwischen EU und WEU dominiert. Einigkeit bestand lediglich in der Sichtweise, dass die europäische Architektur unvollständig blieb, solange sie nicht auch den Bereich der Sicherheit und Verteidigung umfasse. Die Erheblichkeit der WEU wurde ebenfalls gesehen, genauso der Bedarf einer eindeutigen institutionellen Zuständigkeit – darüber hinaus begangen aber schon die Unwägbarkeiten. Die Arbeiten zum EU-Vertrag von Amsterdam beseelte der Gedanke, dem wirtschaftlichen Gewicht Europas eine politische Identität an die Seite zu stellen. Die größten Innovationsanstrengungen lagen dabei in den Fragen der europäischen Verteidigung. Dass der deutsch-französische Motor gerade hier in den Jahren 1996 und 1997 stockte, lässt sich deutlich ablesen. Allerdings dürfen die pro-atlantischen Verzögerungen anderer EUMitgliedstaaten, vornehmlich Großbritanniens, als Faktor nicht übersehen werden. Die GASP-Komponenten des Vertrages von Amsterdam markieren folglich einen Zwischenstand. Aus französischer Sicht war die in Amsterdam festgeschriebene Wahrung des intergouvernementalen Prinzips als Erfolg zu werten. Der Europäische Rat blieb Sachwalter der GASP, wurde lediglich durch zuarbeitende Gremien ergänzt [Art. 13 I; Art 17 I; Art. 18 EUV (AV)]. Das Ziel, Voraussetzungen für eine Kooptierung der WEU als bewaffneten Arm der EU zu schaffen, wurde ebenfalls erreicht. Gemäß Art. 12 EUV (AV) wurde das in Art. 11 II EUV (AV) formulierte Kohärenzgebot von GASP und einzelstaatlicher Außen875
Ulrike Guérot, Doppelte Partnerschaft: Das deutsch-französische Tandem in der Europäischen Union und im Atlantischen Bündnis, in: Ralph Thiele, Hans-Ulrich Seidt (Hrsg.), Herausforderung Zukunft. Deutsche Sicherheitspolitik in und für Europa, Frankfurt a.M. 1999, S.176-196, hier: S.189.
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und Sicherheitspolitik unter anderem durch die Instrumente der gemeinsamen Strategien [Art. 13 II EUV (AV)], der gemeinsamen Aktionen [14 I EUV (AV)] und der gemeinsamen Standpunkte [Art. 15 EUV (AV)] gewährleistet. Diese Trias entfaltete eine im MaastrichtVertrag nicht zu findende Verpflichtung der Mitgliedstaaten. Dies entsprach weitgehend den Bonner Vorstellungen. Dennoch stellten die Klauseln des Amsterdamer Vertragswerkes wenig mehr als einen kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Sie waren so in keiner Weise geeignet, die sich in einer Eiszeit befindliche deutsch-französische Sicherheitskooperation wieder Fahrt aufnehmen zu lassen. Die bilaterale Hängepartie sollte vielmehr bis zur Bundestagswahl im September 1998 andauern.
3 Die Relativierung des Duopols
3.1 Stärkung der operativen Fähigkeiten und institutionellen Effizienz der Europäer Zum Zeithorizont 1998 war durch die deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft vieles erreicht worden. Seit 1990 war es beiden Partnern stets darum gegangen, ihre sicherheitspolitische Kooperation als Impuls zu nutzen, um die gesamteuropäische – und in Teilen auch die atlantische – Entwicklung anzustoßen beziehungsweise voranzubringen. Zwar war Frankreich, auch zur Enttäuschung Bonns, nicht in die Atlantische Allianz zurückgekehrt; gemeinsam hatte man aber durch den EU-Reformvertrag von Amsterdam und die Weiterentwicklung der WEU zu einem Instrument der GASP Europa eine sicherheitspolitische Perspektive gegeben. Das Eurokorps und andere multilaterale Großverbände waren als FAWEU-Einheiten assigniert worden, ihr Einsatz war jedoch ohne den Rückgriff auf Kapazitäten der NATO nicht möglich.876 Der Schritt zu einer wirklichen militärischen Einsatzbereitschaft war somit noch nicht vollzogen. Gerade der WEU fehlten trotz der Weiterentwicklung ihrer institutionellen Struktur unverändert wesentliche technische Voraussetzungen für eigene militärische Aktionen. Damit war aber nicht alleinig die, von Frankreich seit langem geforderte, Stärkung der operativen Fähigkeiten Planung, Logistik und Aufklärung oder die Schaffung einer wettbewerbsfähigen industriellen und technologischen Basis im Verteidigungsbereich gemeint.877 Vielmehr ergab sich das eigentliche Hindernis aus einem Zielkonflikt. In Bonn und Paris bestand eine prinzipiell unterschiedliche Auffassung über Dimension und Ziele der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Spätestens mit Amtsantritt Jacques Chiracs hatte Frankreich danach gestrebt, das außenpolitische Gewicht Europas – und damit auch das eigene – durch ein starkes, weltweit einsatzfähiges militärisches Instrument entscheidend zu vergrößern.878 Diesem Willen zu einer verbesserten, militärischen Machtprojektion war der mit dem 1996 verabschiedeten Programmgesetz eingeleitete Umbau der französischen Streitkräfte hin auf eine Berufsarmee gefolgt. Zusammen mit der politischen und militärischen Kooperation im europäischen Rahmen – hier in erster Linie mit Deutschland – und dem Wiederannäherungskurs an die NATO sollte so der Sockel für weitere außenpolitische Zielsetzungen geschaffen werden. Demgegenüber stand eine Sichtweise der deutschen Bundesregierung, welche die bi- bzw. multilaterale militärische Integration als den End- und nicht den Startpunkt von militärischer Sicherheitspolitik erachtete: „Ziel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt es, den Bau des Hauses Europa zu vollenden und das friedliche Zusammenleben der europäischen Völkerfamilie dauerhaft zu sichern.“879 Die Kooperation von Soldaten aus verschiedenen Staaten unter 876
Bühl, Europäische Sicherheit, S.152. Vgl. Jacques Chiracs Ausführungen vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.4. 878 Schon das französische Verteidigungsweißbuch aus dem Jahr 1994 hatte davon gesprochen, neben den vitalen und strategischen Interessen auch jene Interessen zu verteidigen, aus denen sich der Rang Frankreichs in der Welt ableite. 879 Helmut Kohl, Deutsche Sicherheitspolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Außenpolitik 49. Jg., 1/1998, S.5-15, hier S.6. 877
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Relativierung des Duopols
einem militärischen Oberbefehl war für Bundeskanzler Helmut Kohl Beispiel gelebter Vertrauensbildung880 und aus Sicht der Bundesregierung Absicherung gegen das Aufkommen nationaler Sonderwege.881 In diesem Sinne und mit Blick auf die uneingeschränkte sicherheits- und verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit Europas sprach man sich für „…die Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration der NATO“ aus.882 Die Bundesregierung vertrat weiter die Auffassung, es sei keineswegs die Hauptaufgabe deutscher Streitkräfte, im Ausland eingesetzt zu werden. Ihr Auftrag sei vielmehr die Landes- und Bündnisverteidigung.883 Dieser mangelnde Wille zur Projektion militärischer Macht, die scheinbare Zufriedenheit mit dem bereits Erreichten, die deutliche Verweigerung Bonns, im Gleichschritt mit Paris auf der Weltbühne zu agieren, ließen in den Augen Frankreichs ein konkretes Bekenntnis zur operativen Rolle der WEU vermissen. Auch stand Deutschland in Paris – wie in London884 – im Verdacht, der GASP/ESVP lediglich rein formellen Charakter zu attestieren und den immer engeren Zusammenschluss der europäischen Partner um seiner selbst willen zu betreiben. Frankreich strebte halt nicht die Etats-Unis d’Europe an, sondern ein Europe unie des Etats.885 Gerade für Jacques Chirac, der nach dem Scheitern der französischen Wiederannäherung an die Atlantische Allianz alles auf die WEU-Karte setzen musste, war die Konkretisierung der operativen Befähigung der Westeuropäischen Union und damit des militärischen Potenzials der Europäer in zudem dringend geboten886: « Pour la France, [l’UEO, MK] a la vocation à devenir l’agence de défense de l’Union européenne, progressivement intégrée dans ses institutions […]. »887
Innerhalb der Westeuropäischen Union wurde dies ähnlich empfunden, Lluis Maria de Puig, amtierender Präsident der WEU-Versammlung forderte im März 1998 die Mitgliedsländer auf, aus dem bloßen Bereitschaftsstatus und der damit verbundenen Passivität herauszutreten. Nur durch die Aktivierung der WEU sei es den Europäern möglich, das Ziel einer gemeinsamen Verteidigung zu erreichen.888 Dies war im Frühjahr 1998 alles andere als konkrete Perspektive. Nachdem die im Vorjahr, unter französischem und unter deut880
Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 7. Februar 1998, in: Bulletin der Bundesregierung vom 2. März 1998. 881 Vortrag von Verteidigungsminister Volker Rühe an der Universität Oxford am 19. Mai 1994, in: EuropaArchiv 1994, D443-448. 882 Kohl, Deutsche Sicherheitspolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, S.10; Hervorhebungen durch den Verfasser. 883 Vgl.: „Spiegel-Gespräch mit Volker Rühe“ in: Der Spiegel 42/1997. Verteidigungsminister Rühe führte bei dieser Gelegenheit aus, es wäre völlig falsch, die gesamten deutschen Streitkräfte so umzugestalten, dass die überall in der Welt einsetzbar seien. 884 Vgl.: Rede des britischen Außenministers Malcolm Rifkind am 19. Februar 1997 in Sankt Augustin, in: Internationale Politik 3/1997, S.120-124; auch: Ulrike Guérot, Von Maastricht bis Nizza. Zur aktuellen deutschfranzösischen Europa-Diskussion, in: Dokumente 2000, S.280-286, hier: S.282. 885 Jacques Chirac in seiner Rede auf der französischen Botschafterkonferenz am 26. August 1998, abgedruckt in: Textes officiels Nr. 16/1998; vgl. hierzu die richtige Kommentierung von Goulard, Europapolitik und öffentliche Debatte in Frankreich, S.11. 886 Zudem hatte Chirac schon frühzeitig das Jahr 1998, das Datum des fünfzigjährigen Bestehens der WEU als eine Art „Deadline“ für ihre Reform benannt. Siehe: Jacques Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.5. 887 Jacques Chirac in seiner Rede auf der französischen Botschafterkonferenz am 26. August 1998, abgedruckt in: Textes officiels Nr. 16/1998. 888 Le Figaro 17. März 1998 « Cinquante ans de défense européenne »Namensbeitrag von Lluis Maria de Puig.
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schem Vorsitz, konsequent verfolgten Reformen hin auf eine Umwandlung der WEU diese formell in die Lage versetzt hatten, als militärischer Arm der Europäer zu agieren, stockte der Transformationsprozess nun wieder. Fest stand lediglich, dass der errichtete Militärausschuss der WEU bis Ende Mai in Brüssel seine Arbeit aufnehmen sollte.889 Unmittelbar vor Erreichen dieses Etappenziels verschärfte sich der Unmut über das andauernde Schattendasein der WEU. Bei der Eröffnung ihrer Frühjahrssession in Paris wurde Klage über das Fehlen eines schlüssigen Konzepts der EU für deren Beziehungen zur WEU geführt.890 Erschwerend trat die Haltung Washingtons hinzu, der WEU bei den mit der NATO gemeinsamen Planungs- und Einsatzverfahren kaum Autonomie zuzugestehen.891 Nicht nur aus Pariser Sicht unterstrich dies einmal mehr, dass die Atlantische Allianz selbst eigentlich nicht existent war, zumal sie als Kollektiv lediglich nur über einige Liegenschaften und ein Luftfrühwarnsystem verfügte.892 In den maßgeblichen Führungsfähigkeiten und Aufklärungskapazitäten war die vorgesehene Inanspruchnahme von NATOKapazitäten daher letztlich ein Rückgriff auf amerikanisches Potenzial. Die alte französische Forderung nach einer eigenständigen europäischen Befehlsstruktur893 hatte nach wie vor Aktualität. Die Union müsse, so die von der Regierung Jospin postulierte Forderung, selbstständig in der Lage sein, sich weltweit vor bewaffneten Konflikten zu schützen, diese zu verhindern, zu beenden oder wenigstens begrenzen und eindämmen zu können. Während dieses reaktive Verständnis von Bonn voll geteilt wurde, hatte man dort aber erhebliche Probleme mit dem überkommenen894 Ansinnen der französischen Seite, Europas weltweite Wirkmächtigkeit um ihrer selbst willen aufzubauen und den Kontinent als einen der sicherheitspolitischen Hauptakteure der Welt zu etablieren.895 Die Schwierigkeiten, mit denen Paris bei der gewünschten Potenzialisierung Europas rechnete, lagen zu guten Teilen der divergierenden deutschen Haltung begründet. Bonn vertrat bei Zielen und Inhalten der GASP wesentlich moderatere Ansprüche. Ebenso den französischen Ambitionen zuwiderlaufend war die reservierte Haltung Großbritanniens. Aus der Überzeugung heraus, dass eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik auf einen britischen Beitrag nicht verzichten könne, hatte die Regierung Jospin daher schon im Herbst 1997 Gespräche mit London über eine Verstärkung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit aufgenommen.896
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Die Welt 11. Mai 1998 „Der militärische Arm der EU bleibt schwach“. NZZ 19. Mai 1998 „WEU-Versammlung in Paris“. 891 Der bekannte Vorwurf der amerikanischen Seite, die Europäer sollten sich nicht darauf konzentrieren, autonome Entscheidungsstrukturen aufzubauen, sondern ihre militärischen Fähigkeiten entsprechend dem Anforderungsprofil des erweiterten Aufgabenspektrums zu verbessern, stand erneut im Raum. Nach Washingtoner Sicht gaben die ESVI-Strukturen den Europäern zwar das Recht zu handeln, nicht aber eigenständig zu entscheiden. 892 Regelsberger, Die GASP, S.33. 893 Diese hatte schon der damalige Außenminister de Charette in seinem Interview mit Le Figaro am 20. Dezember 1995 gefordert. 894 Jacques Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.2. 895 Jacques Chirac in seiner Pressekonferenz zu europapolitischen Fragen am 16. April 1998 in Paris, in: Internationale Politik 9/1998, S.69-71, hier: S.69. 896 Schon 1994 hatte Paris, wegen der deutschen Zögerlichkeiten im Umgang mit militärischen Einsätzen, im Verbund mit Großbritannien versucht, eine gemeinsame Afrika-Strategie zu entwickeln. So regte man die „Verkoppelung von französischen und britischen Interventionskapazitäten im Rahmen einer ‚interafrikanischen’ Interventionsstreitmacht an“. Paris und London schlugen vor, „…mit Hilfe der WEU die Krisenpräven890
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3.2 Deutsch-französischer Leerlauf Die Ministertagung des Nordatlantikrates am 28. Mai 1998 in Luxemburg beurteilte den Fortgang der Arbeiten zur Gestaltung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität in der Allianz derweil als „…auf gutem Wege“. 897 Die ständige Stärkung der Kooperationsbeziehungen zwischen der NATO und der WEU wurde ausdrücklich gewürdigt. Auf Grundlage des Prinzips trennbarer, jedoch nicht getrennter Fähigkeiten würden NATO und WEU in regelmäßigen Treffen und in gemeinsamer Sitzung Konsultationen über die Planung und Durchführung WEU-geführter Operationen abhalten. Zudem seien militärische Übungen der WEU unter Nutzung von NATO-Kräften und -Fähigkeiten geplant. Der Ständige NATO-Rat erhielt in Luxemburg darüber hinaus den Auftrag, sicherzustellen, dass die entscheidenden Elemente zur Umsetzung der Entscheidungen von Brüssel und Berlin in Bezug auf ESVI zum Jubiläumsgipfel der NATO in Washington im April 1999 abgeschlossen sein würden. Die Tagung des Nordatlantikrats am 11. Juni 1998 in Brüssel stand ebenfalls ganz im Zeichen der Vorbereitung auf das Washingtoner Gipfeltreffen. Effektive Streitkräfte, Strukturen und Verfahren der Allianz seien die Voraussetzung dafür, dass das Bündnis weiterhin für kollektive Verteidigung einträte und die Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) in der NATO unterstützen könne.898 Auf dem Feld der GASP drehte der deutsch-französische Motor im Sommer 1998 demgegenüber nahezu im Leerlauf. Abstimmungen über die bevorstehende Einführung der gemeinsamen europäischen Währung und die projektierte Erweiterung der Europäischen Union unter gleichzeitiger Wahrung ihrer institutionellen Effizienz überlagerten die sicherheitspolitische Debatte. Gerade die laufenden Erweiterungsverhandlungen der Europäischen Union mit den potenziellen Beitrittsländern stellten die Partner dabei vor große Herausforderungen. Letztgenannten Punkt hatten Bundesaußenminister Klaus Kinkel und sein französischer Amtskollege Hubert Védrine bereits zu Jahresbeginn als wesentliche Aufgabe der europäischen Politik klassifiziert und eine gründliche Vorbereitung angemahnt.899 Dies galt insbesondere deshalb, weil beiden Partnern klar vor Augen stand, dass die Europäische Union weder „…alle Beitrittskandidaten auf einmal integrieren“900 könne, noch ein Beitritt dieser Länder gegen den Widerstand Russlands zustande kommen würde. Prägend für die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik des Sommers 1998 war aber die Bundestagswahl Ende September. Helmut Kohl wusste um die schlechten Aussichten einer Fortsetzung seines Regierungsbündnisses aus CDU/CSU und
tionskapazitäten der Organisation für Afrikanische Einheit auf- und auszubauen“. Diese Pläne wurden jedoch letztlich nicht weiterverfolgt. 897 Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates am 28. Mai 1998 in Luxemburg, in: Bulletin der Bundesregierung vom 15. Juni 1998. 898 Kommuniqué der Tagung des Nordatlantikrats in Brüssel am 11. Juni 1998, in: Press Communiqué M-NAC-D1(98)71, NATO Press Service vom 11. Juni 1998. Auf ihrem Treffen in Brüssel begrüßten die Bündnispartner vor allem die Entscheidung Spaniens, die Integration in die neue militärische Struktur des Bündnisses anzunehmen und hierzu alle erforderlichen Schritte im Einvernehmen mit den NATO-Militärbehörden einzuleiten. 899 „Gemeinsame deutsch-französische Positionen zu aktuellen Themen der Europapolitik“ vorgestellt von Bundesaußenminister Klaus Kinkel und seinem französischen Amtskollegen Hubert Védrine am 2. Februar 1998 in Bonn, in: Bulletin der Bundesregierung vom 9. Februar 1998. 900 Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 7. Februar 1998, in: Bulletin der Bundesregierung vom 2. März 1998.
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FDP und wollte seine Wahlaussichten nicht durch unersprießliche Diskussionen zur GASP weiter schmälern. In Paris wartete man ebenfalls ab, erhoffte sich insgeheim gar einen Regierungswechsel in Bonn, der neue Impulse für das bilaterale Zusammenspiel bringen könnte. Einzig zählbarer Beitrag beider Länder zur Weiterentwicklung der GASP in dieser Zeit war die „Gemeinsame Botschaft“ von Helmut Kohl und Jacques Chirac an den Vorsitzenden des Europäischen Rates, Premierminister Tony Blair, in der sie erklärten: „[Es, MK] steht für uns außer Frage, dass in einigen Bereichen dringend ein Mehr an Integration erforderlich ist, insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.“ 901
Der Wunsch nach einem „Mehr“ an Integration in der GASP traf beim Adressaten auf offene Ohren. Wenige Tage später verkündete Blair, es sei das Anliegen der britischen Regierung, eine Vision für Europa zu entwickeln, die den Fortbestand nationaler Identität gewährleiste und gleichzeitig die Hand zur europäischen Partnerschaft ausstrecke. Dabei nannte er explizit die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als zentralen Bereich.902 Hintergrund dieses Londoner Kurswechsels hin zur GASP/ESVP war – neben einer allgemein flexibleren Haltung der Regierung Blair zu europäischen Fragestellungen – der im Jahresverlauf 1998 eskalierende Konflikt um das Kosovo, dessen Unabhängigkeitsbestreben von der Belgrader Zentralregierung mit systematischer Gewaltanwendung beantwortet wurde. In London wie in anderen europäischen Hauptstädten war man der festen Überzeugung, dass eine ähnlich passive Haltung der Europäer wie im Falle der Bosnienkrise sich nicht wiederholen dürfte. Der hierüber bestehende Konsens zwischen Großbritannien und Frankreich beförderte eine Annäherung – auch weil man militärpolitisch eine identische Entwicklungen durchlief. Beide Nuklearmächte hatten sich nach dem Ende des Kalten Krieges mit dem Bedeutungsschwund ihrer Atombewaffnung und einem hiermit verknüpften Strategiewechsel weg von einer eher reaktiven stratégie d’interdiction auseinander zu setzen: Da für beide Länder militärische Macht eine Säule ihres außenpolitischen Geltungsanspruches war, musste die strategische Neuausrichtung zwangsläufig auf eine stratégie d’action hinauslaufen. Die britische Regierung überblickte hierbei zunehmend die Vorteile einer Überwindung des eigenen strikten atlantischen Konservatismus hin zu einer größeren bündnispolitischen Flexibilität. Einen Schritt, dem das von der Allianz zur Maxime erhobene903 CJTF-Konzept mit seinem „coalitions of the willing“-Gedanken in gewisser Hinsicht den Boden bereitet hatte. Mit Frankreich teilte man, wenn auch aus anderen Prämissen,904 zudem die Überzeu-
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Gemeinsame Botschaft von Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Jacques Chirac an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates, Premierminister Tony Blair vom 5. Juni 1998, in: Bulletin der Bundesregierung vom 15. Juni 1998. 902 Artikel des britischen Premierministers Tony Blair zum Ergebnis des britischen Ratsvorsitzes in der Europäischen Union in der FAZ vom 30. Juni 1998. 903 Kommuniqué der Tagung des Nordatlantikrats in Brüssel am 11. Juni 1998, in: Press Communiqué M-NAC-D1(98)71, NATO Press Service vom 11. Juni 1998. 904 Françoise Manfrass-Sirjacques, Frankreichs neuer „Atlantismus“ oder der Gaullismus im neuen Gewande, Lendemains 82/83, 1996, S.238-247, hier: S.241-244; auch teilte man nicht Jacques Chiracs Reminiszenz an seinen Vorgänger Mitterrand, die NATO sei keine « Sainte Alliance »; vgl. die Ausführungen Jacques Chirac auf der französischen Botschafterkonferenz am 26. August 1998, abgedruckt in: Textes officiels Nr. 16/1998.
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gung, dass die Atlantische Allianz nicht universell einsetzbar sei – sie Gefahr laufe, sich zu überdehnen. Neben diesen strategischen Überlegungen verband London mit Paris ein prinzipielles Einvernehmen über die Zielperspektive der Europäischen Union, da beide Länder im europäischen Einigungsprozess zwischenstaatliche Integration nur bis zu einem bestimmten Grad verwirklichen wollten. Chirac war – ähnlich wie Tony Blair – dann doch eher ein „euro-pragmatique“905, der die Unausweichlichkeit Europas akzeptiert hatte, diese aber für eigene nationale Zielsetzungen nutzen wollte. Auch aus diesem Grund waren beide Länder mehr und mehr bereit, das „verwirrende Bild der europäischen Verteidigungspolitik“ (Lellouche) zu bereinigen und sich auf diejenigen Mittel zu verständigen, die für gemeinsame Einsätze als notwendig erachtet wurden. Im Vergleich dazu schien zum Zeithorizont 1998, trotz der zahlreichen gemeinsamen Projekte, die Schnittmenge der sicherheitspolitischen Grunddisposition zwischen Bonn und Paris gering.906 Dies lag vor allem an der abwartenden Bonner Haltung hinsichtlich konkreter Kapazitätszusagen für die GASP. In Paris war man unverändert damit unzufrieden, dass die Regierung Kohl sich nach dem einschlägigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 zur Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen nicht dazu hatte durchringen können, den Deutschland – nach Auffassung Chiracs907 – zustehenden Platz auf der internationalen Ebene einzunehmen.908 Zudem war der zwischen Kohl und Chirac von Anfang an bestehende Dissens über Rolle und Wirkmächtigkeit der europäischen Institutionen nie überwunden worden. Während Frankreich schon fast traditionell nach einer starken europäischen Politik mit schwachen europäischen Institutionen strebte, hatte die deutsche Seite die Schaffung starker europäischer Institutionen verfolgt.909 Hinzu traten atmosphärische Unstimmigkeiten zwischen beiden Politikern, welche die bilaterale Abstimmung erschwerten. All dies war der Grund dafür, dass den deutsch-französischen Beziehungen der Ära Kohl-Chirac die innere Dynamik fehlte.910 So beendete die Bundestagswahl vom 27. September 1998, bei der die von Kohl geführte Regierungskoalition ihre Mehrheit verlor,911 eine Phase zunehmender deutschfranzösischer Lethargie. Gerade in der Regierung Jospin war man über den Wahlerfolg des Sozialdemokraten Gerhard Schröder hoch erfreut, eröffnete man sich durch ihn doch einen linkspolitischen Dreibund Paris-London-Bonn/Berlin.912 Aber auch der französische Staatspräsident verband mit dem Wechsel im Bonner Regierungsamt die Hoffnung auf eine Erneuerung. In der letzten Zeit, so Chirac in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine 905
Interview mit Jacques Chirac in Le Monde 30. September 2003. Florence Deloche-Gaudez, Frankreichs widersprüchliche Positionen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVPKonzeptionen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002. S.120- 133, hier: S.127. 907 Lellouche, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.75. 908 vgl.: Elfriede Regelsberger, Deutschland und die GASP – ein Mix aus Vision und Pragmatismus, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002. S.28-40, hier: S.34-35. 909 Klaus Hänsch am 12. März 1998 in Paris in einem Vortrag zum Thema „Deutschland und Frankreich – zwei Konzepte für ein Europa?“ in: Internationale Politik 9/1998, S.64-68, hier: S.64. 910 Zu diesem Schluss kommt auch Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.176. 911 Das Wahlergebnis der Bundestagswahl vom 27.September 1998 lautete wie folgt: CDU/CSU 35,1%, SPD 40,9%, B90/Grüne 6,7%, FDP 6,2%, PDS 5,1% (der Zweitstimmen). 912 So der damalige französische Verteidigungsminister Alain Richard in seinem Gespräch mit dem Verfasser am 16. Februar 2009. 906
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Zeitung am 29. September 1998, sei der Eindruck entstanden, die deutsch-französischen Beziehungen hätten an Intensität verloren. Daher müsse sich das bilaterale Verhältnis nunmehr von überkommenden Mustern lösen und neu beseelt werden. Deutschland und Frankreich ständen dabei vor der Herausforderung, eine stetig tiefgreifendere Zusammenarbeit für Europa zu entwickeln.913 Die Reaktion der neuen Bundesregierung hierauf war überaus positiv. Die Bereitschaft zu einer aktiveren Rolle Deutschlands kam auch in dem Beschluss zur deutschen Beteiligung an der NATO-Luftoperation im Kosovo vom Oktober 1998 zum Ausdruck: „Die Bundesregierung hat deswegen beschlossen, […, Luftwaffen-, MK] Kräfte als Beitrag für die von NATO-Mitgliedstaaten gebildete Eingreiftruppe unter Führung der NATO einzusetzen. […] Darüber hinaus werden ggf. Heereskräfte zur Erkundung und Aufklärung, einschließlich erforderlicher Stabs- und Unterstützungskräfte, bereitgestellt; für diese Kräfte ist keine Stationierung im Kosovo vorgesehen.“ 914
3.3 Die Suche nach Alternativen: Die französisch-britische Annäherung In der französischen Politik hatte es immer wieder Bestrebungen gegeben, neben der privilegierten Partnerschaft zu Deutschland weitere intensive Kooperationsverhältnisse zu europäischen Partner aufzubauen. So hatte schon Edouard Balladur in seiner Zeit als Premierminister apodiktisch die Frage in den Raum gestellt: „Sind der Aufbau Europas und der enge deutsch-französische Dialog die einzige uns zur Verfügung stehende Politik? Oder haben wir andere Wege, auf denen wir uns gleichzeitig bewegen können?“915
Gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestand eine hohe Übereinstimmung mit dem Vereinigten Königreich. Verteidigungskonzepte, Militärdoktrin und Struktur der Streitkräfte seien in beiden Ländern vergleichbar, betonte man in Paris: Großbritannien sei ein wichtiger Partner.916 Allerdings hatte sich London französischen Ambitionen zu einer verstärkten sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation im Anbetracht der notorischen Querelen zwischen Paris und Washington immer wieder verweigert. Auch hinsichtlich des Ausbaus einer europäischen Verteidigungsidentität herrschte im Großbritannien der 1990er Jahre zunächst parteiübergreifende Ablehnung. Die Gründe hierfür waren: (I.) das bestehende, um die Atlantische Allianz herum aufgebaute strategische Bündnissystem, welches die britischen Interessen optimal repräsentierte, zumal London in ihm, bedingt durch die special relationship zu den Vereinigten Staaten, eine Lenkungsposition einnahm; (II.) aufgrund mangelnder militärischer Kapazitäten der Europäer erachtete Großbritannien 913
Jacques Chirac in seinem Beitrag für die FAZ am 29. September 1998 mit dem Titel: „Wir müssen unser Verhältnis neu beseelen. Für eine Erneuerung der deutsch-französischen Beziehungen“. 914 Beschluss des Deutschen Bundestages zur Beteiligung an begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen der NATO zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt am 16. Oktober 1998, in: Internationale Politik 5/1999, S.91-93. 915 Eduard Balladur in seinem Interview mit Le Figaro vom 30. August 1994. 916 Außenminister de Charette vor dem IHEDN am 2. April 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info Nr. 17/96 vom 10. April 1996, hier: S.4 ; Michael Jay, France et Royaune-Uni: des relations riches et diversifiées, in : Défense Nationale 7/1997, S.3-11, insbesondere S.6-10.
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diese nicht für fähig, tragfähige Verteidigungsstrukturen aufzubauen, die eine der NATO äquivalente Sicherheitsgarantie bieten könnten; und schließlich (III.) Großbritanniens eigene außen-politische Ambitionen, die man im europäischen Verbund weniger effektiv verwirklicht sah, als wenn man sie alleine verfolgte.917 Dieser Dreiklang hatte auch noch die britische Verhandlungslinie während der Gespräche über die Überarbeitung des Maastricht-Vertrages und über eine etwaige Inkooperierung der WEU in die Europäische Union geprägt. Die Stimme Europas würde in der Welt nicht vernehmlicher werden, wenn beide Organisationen miteinander verschmelzen und eine unrealistischen gemeinsamen Verteidigungspolitik ausarbeiten würden, so Blair noch zu den Ergebnissen des Europäischen Rates von Amsterdam.918 Vielmehr bilde die Atlantische Allianz die Grundlage der gemeinsamen Verteidigung Europas. So waren ausgeprägte Unterschiede zwischen Frankreich und Großbritannien in Bezug auf die Auswirkungen europäischer verteidigungspolitischer Initiativen auf die trans-atlantischen Beziehungen der Grund, dass eine Kooperation wiederholt nicht zustande gekommen war. Dennoch versuchte Paris, alle Optionen auf eine Zusammenarbeit zu wahren. Bereits im Livre blanc sur la Défence aus dem Jahr 1994 war daher von einer bedachten (sensiblement) Annäherung an Großbritannien die Rede gewesen. Nach dem Berliner NATO-Gipfel 1996, der, infolge der Verabschiedung des CJTF-Konzepts und der prinzipiellen Zustimmung Washingtons zur ESVI alle Zeichen auf eine Flexibilisierung des Bündnisses stellte, waren an der Seine die Hoffnungen groß gewesen: „Die Verstärkung unserer Zusammenarbeit mit Großbritannien […] ist ein für die Zukunft sehr wichtiges Element.“919 Gerade die Kooperation britischer und französischer Streitkräfte, die Ausrüstung mit gemeinsamen Waffen im Rahmen der zu schaffenden europäischen Rüstungspolitik sei bedeutend.920 Beide Länder, aufgrund ihrer Geschichte ähnlich, müssten sich das Ziel setzen, ihre diplomatische und verteidigungspolitische Partnerschaft zu verstärken, da sie gemeinsame strategische Interessen teilten.921 „Europa“ würde nicht zustande kommen, wenn es kein Europa der Verteidigung gäbe, betonte die französische Seite wiederholt. Dieses „Europa der Verteidigung“ sei aber ohne Großbritannien nicht denkbar.922 In der zweiten Jahreshälfte 1997 schien diese Sichtweise auch mehr und mehr von den Regierungskreisen in London übernommen zu werden. Der Nationalstaat bleibe zwar das Zentrum der britischen Identität und Loyalität, war aus London zu hören, aber Geschichte, Geographie und wirtschaftliche Realität würden Europa zum natürlichen Ausgangspunkt 917
Hiermit eng verknüpft war eine grundsätzlich differente Sichtweise: Während die französische Regierung die Auffassung vertrat, dass die um Verteidigungspolitik erweiterten Kompetenzen der Europäischen Union die Atlantische Allianz in ein neues inneres Gleichgewicht bringen, und so konsolidieren würden, fürchtete die britische Regierung, dass dadurch isolationistische Kräfte in Washington an Einfluss gewinnen könnten. Vgl. hierzu u.a.: Gerrit F. Schlomach / Hans Stark, Die deutsche Position zu den britisch-französischen Annäherungen innerhalb der ESVP, in: Sicherheit & Stabilität, 01/2004, S.75-84, hier: S.76-78. 918 Erklärung des britischen Premierministers Tony Blair über die Ergebnisse des Europäischen Rats von Amsterdam vor dem House of Commons in London am 18. Juni 1997, in: Internationale Politik 11/1997, S.74-75. 919 Jacques Chirac vor dem IHEDN in Paris am 8. Juni 1996, in: Internationale Politik 10/1996, S.103-106. 920 Staatspräsident Chirac während seines Staatsbesuches in Großbritannien 1996 in seiner Rede vor den beiden Kammern des britischen Parlaments am 15. Mai 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info Nr. 23/96 vom 21. Mai 1996, hier: S.4; vgl. hierzu auch das Interview des damaligen Außenministers de Charette mit den Zeitungen Le Monde und Die Welt am 13. November 1995. 921 Staatspräsident Chirac in seiner Rede vor den beiden Kammern des britischen Parlaments am 15. Mai 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info Nr. 23/96 vom 21. Mai 1996. Chirac nannte in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft beider Länder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und ihren Status als Nuklearmächte. 922 Zitiert nach: Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.282.
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der britischen Interessen bestimmen.923 Diese Interessen würden am besten gewahrt, wenn Großbritannien in Europa stark sei; deshalb verfolge man nun verstärkt auch eine europäische Agenda.924 Anzeichen für eine Wende in der britischen Haltung ließen sich schon im Strategic Defense Review vom Juli 1997 finden. Der Europäischen Union wurde hier eine „vital role“ in der britischen Außen- und Sicherheitspolitik attestiert.925 Gerade im Zusammenhang mit der britischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1998 bemühte sich die Regierung Blair dann um eine Akzentverschiebung – weg vom überkommenden britischen Euroskeptizismus. So überraschte der britische Außenminister Robin Cook etwa im Januar 1998 damit, es sei eines der wichtigsten Ziele seines Amtes, das Vereinigte Königreich wieder an Europa zu beteiligen.926 Markant war dabei die Setzung, die neue britische Sichtweise auf Europa bedeute für die angestammte Freundschaft mit den Vereinigten Staaten „…in keiner Weise“ eine Schmälerung.927 Die britische Ratspräsidentschaft in der Union verstrich dennoch ohne entscheidenden Durchbruch. Erst beim informellen Treffen der Staats- und Regierungschef der EU am 24./25. Oktober 1998 im österreichischen Pörtschach erklärte der britische Regierungschef, sein Land stehe der Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik positiv gegenüber und wolle diese aktiv fördern.928 Nach der Erklärung von Pörtschach kam es am 3./4. November 1998 erstmalig zu einem formellen Treffen der Verteidigungsminister der Europäischen Union in Wien, auf welchem man sich konkret darauf verständigte, für die Union eigenständige militärische Fähigkeiten zu schaffen. Das französisch-britische Gipfeltreffen von St Malo am 3./4. Dezember 1998 bedeutete dann den Durchbruch für das zweite europäische Großprojekt neben der Wirtschafts- und Währungsunion: der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäer beziehungsweise genauer für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Im unmittelbaren Vorfeld des Treffens waren Frankreich und Deutschland auf ihrem 72. bilateralen Gipfeltreffen am 30. November / 1. Dezember 1998 in Potsdam übereingekommen, dass eine Verständigung mit Großbritannien über Eckpunkte der GASP, gerade mit Blick auf das anstehende Gipfeltreffen der Allianz im Frühjahr 1999 in Washington und die parallel erfolgende deutsche EU-Ratspräsidentschaft, für die weitere Entwicklung unabdingbar sei.929 Die Verhandlungen in St Malo begangen am 3. Dezember mit der Bekräftigung Tony Blairs, die Europäische Union müsse in der Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik zukünftig eigene Kompetenzen haben. Im weiteren Verlauf der Gespräche diskutierten beide Seiten, ob diese Kompetenzen in Form einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) innerhalb der NATO verwirklicht werden sollten oder ob die Europäische Union sich nicht zusätzlich auch auf Strukturen der WEU stützen sollte.930 Dabei zeigte die französische Seite – wie von der britischen Delegation 923
Hier bestand weitegehende Übereinstimmung mit der französischen Sichtweise; vgl.: Xavier de Villepin, Souveraineté et système européen de défense, in: Défense Nationale 12/1998, S.5-11. 924 Rede des britischen Schatzkanzlers Gordon Brown am 17. Juli 1997 vor dem Royal Institute of International Affairs in London, in: Internationale Politik 11/1997, S.85-87. 925 Strategic Defence Review, London im Mai 1997 (www.mod.uk). 926 Vgl. die Rede des britischen Außenministers Robin Cook vor de European Institute in Washington vom 15. Januar 1998, in: Internationale Politik 2/1998, S.107-111. 927 Ebenda. Großbritannien sei die Wahrnehmung einer starken Rolle in Europa nun vielmehr ein effektiverer Partner für die Vereinigten Staaten als zuvor. 928 Deutschmann, Die britische Position zur GASP/ESVP, S.66. 929 Le Figaro 3. Dezember 1998 « Londres cherche un créneau entre Paris et Bonn ». 930 Le Figaro 3. Dezember 1998 « Paris et Londres cogitent sur la défense ».
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aufmerksam vermerkt – mit Blick auf die Verzahnung von WEU und NATO-Strukturen größere Flexibilität als noch in den Monaten zuvor.931 Dies verhalf zur Einigung. In der am 4. Dezember vorgestellten „Erklärung über die europäische Verteidigung“ erklärten beide Verhandlungspartner: „Die Europäische Union muß in der Lage sein, ihre Rolle auf der internationalen Bühne voll und ganz zu spielen. Der Amsterdamer Vertrag als Grundlage der Arbeit der Union muß also Realität werden.“ 932
Zur Erreichung dieses Zieles müsse der Europäische Rat befähigt werden, auf einer intergouvernementalen Grundlage Entscheidungen über die ganze Bandbreite der im (GASP-)Titel V des Vertrages über die Europäische Union vorgesehenen Maßnahmen zu treffen. Dazu sei es unabdingbar, so die Erklärung weiter, der Union eine autonome Handlungsfähigkeit zur Verfügung zu stellen. Diese habe sich auf glaubwürdige militärische Kräfte zu stützen und müsse befähigt werden, ihr militärisches Potenzial im Rahmen der Petersberg-Aufgaben einzusetzen. Die kollektive Verteidigung sollte demgegenüber Aufgabe der Atlantischen Allianz bleiben. Gleichzeitig müsse die Bereitschaft der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemehrt werden, militärische Mittel einzusetzen, wenn internationale Krisen dies gebieten würden. Institutionell solle die Europäische Union daher in die Lage versetzt werden, Entscheidungen zu treffen und, „…wenn die [Atlantische, MK] Allianz als Ganzes nicht betroffen ist“, militärische Maßnahmen billigen zu können. Die hierfür zu schaffenden Gremien sollten daher auch über Fähigkeiten zur militärischen Lagebeurteilung, über Aufklärungskapazitäten und über Strukturen zur Strategieplanung verfügen. In diesem Zusammenhang wurde indirekt die Inkooperierung der WEU in die Europäische Union gebilligt. Die Erklärung sprach diesbezüglich unter anderem von der Vermeidung einer „…unnötige[n] Verdoppelung und unter Berücksichtigung der derzeitigen Mittel der Westeuropäischen Union (WEU) und der Entwicklung ihrer Beziehungen zur Europäischen Union.“933 Europa benötige starke Streitkräfte, die es in die Lage versetzten würden, rasch auf neue Gefahren zu reagieren. Diese Streitkräftestrukturen müssten sich auf eine starke und wettbewerbsfähige industrielle und technologische Basis abstützen.934 Die Erklärung schloss mit der Zusicherung, dass Großbritannien ebenso wie Frankreich bereit sei, Kräfte zu bündeln, um es der Europäischen Union zu ermöglichen, bei diesen Zielen konkret voranzukommen.935 931
International Herald Tribune 3. Dezember 1998 « French and British aides discuss EU security role » . „Erklärung über die europäische Verteidigung“ abgegeben anlässlich des französisch-britischen Gipfeltreffens am 4. Dezember 1998 in St. Malo, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.127-128; Hervorhebung durch den Verfasser. 933 Ebenda. 934 In St Malo verständigte man sich – mit Blick auf die Harmonisierung der europäischen Rüstungsindustrie – ebenfalls darauf, das DASA und British Aerospace fusionieren könnten. L’Humanité 5. Dezember 1998 « Déclaration pour une défense européenne ». 935 In einer weiteren Erklärung bekräftigen die französische und die britische Regierung ihren Willen, in allen Gremien, auch jenen der EU, gemeinsam an internationalen Fragen zu arbeiten. Hierzu sollte die Möglichkeit zu einer engeren Zusammenarbeit systematisch geprüft werden. Dies gelte insbesondere mit Blick auf ihre Verantwortlichkeit und Rolle in Afrika. Beide Regierungen verpflichten sich zur Harmonisierung ihrer Politiken gegenüber Afrika. Vgl.: „Gemeinsame Erklärung über die Stärkung der Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ abgegeben anlässlich des französisch-britischen Gipfeltreffens am 4. Dezember 1998 in St. Malo, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.128. 932
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Auf französischer Seite zeigte man sich mit dem Erreichten überaus zufrieden. Zwar hätte die GASP auch ohne ein wirkliches Einverständnis beider Länder durchgeführt werden können, wäre dann aber nicht wirklich das gewesen, was man sich von ihr erhofft hätte: eine effiziente Politik. Die, neben der gemeinsamen Währung, nächste große Herausforderung bei der Umsetzung des Amsterdamer Vertrages, die Bekräftigung Europas auf der internationalen Ebene, habe jetzt alle nötigen Voraussetzungen, so der französische Staatspräsident. Nunmehr seien die Europäer in der Lage, eine eigene Verteidigungsstrategie zu entwickeln und in die Tat umsetzen.936 Premierminister Tony Blair betonte demgegenüber die Konformität der ausgehandelten Übereinkunft mit den bereits bestehenden Bündnisverpflichtungen, insbesondere innerhalb der Atlantischen Allianz.937 Aus britischer Sicht sei die verabschiedete Erklärung gerade für Europa von erheblicher Bedeutung; sie erlaube es der Union der Europäer, „… eine stärkere und kohärentere Schlagkraft und Stimme auf der internationalen Ebene zu haben.“938 Außenminister Cook ging noch einen Schritt weiter und bezeichnete die Erklärung von St Malo als „historisch“.939 Die französisch-britische Übereinkunft von St Malo wäre nicht ohne die vorher erfolgte prinzipielle Verständigung zwischen Washington und London erreicht worden. Beide Partner waren zuvor im Jahresverlauf 1997/98 übereingekommen, dass dem militärischen und sicherheitspolitischen Potenzial Europas eine größere Wirkungskraft verliehen werden müsste, ohne die Bindewirkung der NATO wirklich zu beschädigen.940 Es war daher keine willkürliche Setzung Tony Blairs, wenn er mit Blick auf NATO und ESVP ausführte: «The Two can live together.»941 In der Tat bedeutete das britisch-französische Abkommen keine Schmälerung der NATO, sondern betonte vielmehr dem komplementären Charakter der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegenüber den Beschlussfassungen der Allianz. Krisenentscheidungen der Europäischen Union sollten durch den Europäischen Rat zudem im Einklang mit den Verpflichtungen in der NATO getroffen werden.942 Die Europäer wurden durch die Übereinkunft von St Malo unter Zugzwang gesetzt, da das zuvor häufig monierte Hemmnis der britischen Blockadehaltung gegenüber der GASP wegfiel. Nun galt es, Konkretes zu schaffen. Hinzu trat, dass wie schon das britische white paper „A Partnership of Nations“943 zur Amsterdamer Regierungskonferenz ausgeführt 936
Staatspräsident Chirac auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem britischen Premierminister Tony Blair nach ihrem Gipfeltreffen in St Malo am 4. Dezember 1998, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.128130.Siehe auch: Le Figaro 5. /6. Dezember 1998 « Une vrai « percée » sur la défense ». 937 Premierminister Tony Blair auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Staatspräsident Chirac nach ihrem Gipfeltreffen in St Malo am 4. Dezember 1998, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.128130. 938 Ebenda. 939 „Das Bedeutende an der heutigen Übereinkunft ist, dass Großbritannien und Frankreich zwei Länder in Europa sind, die über die umfassendsten Verteidigungskräfte verfügen. Wenn wir zu einer Einigung über die zukünftigen Leitlinien für die Sicherheit in Europa kommen, dann, denke ich, können wir auch eine Agenda aufstellen, können wir die Initiative ergreifen und in dieser Diskussion eine Führungsrolle einnehmen, und das ist, was wir gemacht haben.“ So der britische Außenminister Robin Cook in einem Interview mit dem Fernsehsender BBC nach den Gipfeltreffen in St Malo am 4. Dezember 1998, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.130131.Weiterführend auch: Financial Times 6. Dezember 1998 „UK and France agree to work on EU defence“. 940 International Herald Tribune 5./6. Dezember 1998 « Britain and France call for EU military capability for crises » . 941 Financial Times 6. Dezember 1998 „UK and France agree to work on EU defence“. 942 Die Welt 5. Dezember 1998 „EU soll eigene Militärmacht bekommen“. 943 Foreign and Commonwealth Office, A Partnership of Nations. The British Approach to the European Union Intergovernmental Conference 1996, London 1996.
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hatte, die GASP lediglich als Ergänzung nationaler Außenpolitik gesehen wurde, nicht als deren Ersatz. Dies kam auch in der Hervorhebung des intergouvernementalen Charakters der GASP in der britisch-französischen Erklärung und in der Beharrung auf dem Einstimmigkeitsprinzip bei Abstimmungen im Ministerrat zum Ausdruck. London betonte später, die gewandelte britische Haltung zur GASP habe eine Reaktion auf die Herausforderungen einer sich wandelnden Welt dargestellt. Es gehe vornehmlich darum, den Europäern – neben den institutionellen Mechanismen aus dem Amsterdamer Vertrag – die benötigten militärischen Fähigkeiten zu verschaffen.944 Aus britischer Sicht musste man sich nach der Etappe von St Malo nun vor allem mit der Beantwortung dreier Fragen befassen: (I.) Haben die Europäer den politischen Willen, ohne die Amerikaner zu handeln? (II.) Sind sie dazu militärisch überhaupt in der Lage? (III.) Sind die einschlägigen Institutionen der EU und der WEU dafür auch politisch befähigt?945 Mit diesen Fragen hatte sich auch schon das 72. deutsch-französischen Gipfeltreffen Ende November/Anfang Dezember 1998 in Potsdam befasst. Neben der bereits angesprochenen deutschen Zustimmung zum britisch-französischen Schulterschluss verabschiedeten der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident hier eine Erklärung zur Vertiefung des europäischen Einigungswerkes.946 Das Papier formulierte den Willen, sich im Zuge der Verwirklichung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und einer Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik noch stärker als bisher auf koordinierte Maßnahmen verständigen zu wollen. Insbesondere sollte dies für die Verhütung und Bewältigung regionaler Krisen gelten, die ein aktives Vorgehen erforderten. Die Stärkung der operativen Fähigkeiten der Europäer müsste dabei neue Wege gehen. Deswegen, so Chirac und Schröder, wolle man die Europäische Union entweder mit eigenen militärischen Mitteln ausstatten (insbesondere über die Westeuropäische Union) oder in Anwendung der Berliner Beschlüsse des Nordatlantikrates mit NATO-Mitteln. 3.4 Klärung des zukünftigen Status der WEU Letztgenannter Punkt war Haupttagesordnungspunkt der Tagung des WEU-Ministerrats am 16./17. November 1998 in Rom. In der hier verabschiedeten „Erklärung von Rom“ 947 begrüßten die teilnehmenden Minister jene Impulse, die von Blairs Initiative in Pörtschach ausgegangen waren. Fragen der gemeinsamen europäischen Sicherheit und Verteidigung seien durch sie „neu beleuchtet“ worden. Im Rahmen der WEU sollte daher ein informeller 944
Weitere Gründe für die Befürwortung europäischer Verteidigung waren zudem die Unsicherheit über ein militärisches Engagement der Vereinigten Staaten gerade bei Krisen in Südosteuropa und die schrumpfenden Verteidigungshaushalte in den europäischen Bündnisstaaten. So betrugen die Verteidigungsausgaben der europäischen NATO-Staaten etwa 60 Prozent der Ausgaben der Amerikaner. Dies entsprach etwa 20 Prozent der verteidigungspolitischen Ausgaben weltweit. Allerdings besaßen die Europäer damit nicht annährend auch 60 Prozent der militärischen Fähigkeiten der Amerikaner; vgl.: Deutschmann, Die britische Position zur GASP/ESVP, S.67. 945 Vgl.: Die Zeit 10. Dezember 1998 „Kann Europa sich verteidigen?“, Interview mit George Robertson, britischer Verteidigungsminister. 946 Gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Frankreich und Deutschland abgegeben anlässlich des 72. deutsch-französischen Gipfels am 1. Dezember 1998 in Potsdam, in: Kimmel/Jardin, Deutschfranzösische Beziehungen, S.378-381, hier: S.379. 947 „Erklärung von Rom“ verabschiedet auf der Tagung des WEU-Ministerrats am 16./17. November 1998 in Rom, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.114-127.
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Diskussionsprozess über die Frage der Sicherheit und Verteidigung Europas mit Blick auf das Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam und des Washingtoner Gipfeltreffen im Frühjahr 1999 angestoßen werden. Hierfür sei es förderlich, dass die Rolle der WEU bei der Krisenbewältigung sich in den letzten Monaten verstärkt hätte. Man sei dabei, wesentliche Schritte zur Konzipierung einer Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik (GEV) zu absolvieren. Diese beruhten auf dem pragmatischen Ansatz, konkrete Bausteine festzulegen und Arbeiten zur Bestandsaufnahme zu berücksichtigen, ohne deren endgültiger Form und inhaltlicher Ausgestaltung vorzugreifen. Die Minister stellten in Rom ferner fest, dass die Einrichtung des Militärausschusses und des militärischen Stabes der WEU ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der operativen Fähigkeiten der Organisation sei.948 Die Schwerpunktbereiche für eine Zusammenarbeit zwischen WEU und NATO würden von diesen einvernehmlich auf der Grundlage früherer Ministerbeschlüsse festgelegt. Insgesamt gelte das Ziel, alle wesentlichen Elemente bis zum Gipfeltreffen der NATO in Washington zu verwirklichen. Man sei dabei, ein Rahmendokument zur gemeinsamen Arbeit von NATO und WEU zu erstellen, in welchem die Grundsätze und Modalitäten für die Übertragung, Überwachung und Rückführung beziehungsweise den Abzug von NATO-Mitteln und -Fähigkeiten für künftige Operationen unter Leitung der WEU festgelegt würden. Aus deutscher Sicht erfreulich war die positive Aufnahme der Erklärung zum Programm für ihre anstehende WEU-Präsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 1999. Dieses sah unter anderem vor, die Diskussion über die Zukunft der europäischen Sicherheit und Verteidigung unter den WEU- und NATO-Partnern zu fördern. Ferner sollte die institutionelle und praktische Zusammenarbeit der Westeuropäischen Union mit dem Atlantischen Bündnis, insbesondere im Hinblick auf die Finalisierung aller wesentlichen Elemente der ESVI im Vorfeld des Washingtoner NATO-Gipfels gestärkt werden.949 Die Ministertagung des Nordatlantikrats in Brüssel am 8. Dezember 1998950 begrüßte die „Erklärung von Rom“ der WEU. Auch die Atlantische Allianz zeigte sich nunmehr an einem zügigen Aufbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb ihrer Strukturen interessiert. Enge Konsultationen über die Planung und Durchführung von WEU-geführten Operationen und Übungen unter Nutzung von NATO eigenen Kräften, so die nun vermehrt geäußerte Überzeugung, seien wichtige Elemente zur Entwicklung der ESVI. Für die erst unlängst erfolgte britisch-französische Annäherung endete das Jahr allerdings mit einem Rückschlag. Mitte Dezember 1998 führte die britische Royal Air Force im Verbund mit amerikanischen Kräften Luftschläge gegen den Irak aus, um diesen zur Befolgung der einschlägigen Resolutionen der Vereinten Nationen zu bewegen. Paris war weder von Washington noch von London im Vorfeld konsultiert, noch gar um militärische Unterstützung gebeten worden. Die Grenzen der neu begründeten britisch-französischen Militärzusammenarbeit wurden so – nur rund zwei Wochen nach Unterzeichnung der St MaloErklärung – überraschend schnell deutlich. Zwar bemühte sich der französische Verteidigungsminister Richard zu betonen, sein Land habe auch gar nicht damit gerechnet, dass 948
Die Minister begrüßen den wachsenden Beitrag des Satellitenzentrums zur Unterstützung der WEU-Missionen; vgl.: „Erklärung von Rom“ verabschiedet auf der Tagung des WEU-Ministerrats am 16./17. November 1998 in Rom, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.114-127. 949 Ebenda. Siehe weiterführend auch: François Heisbourg, L’Europe de la défense dans l’Alliance atlantique. in: Politique Étrangère 2/1999, S.218-232. 950 Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats in Brüssel am 8. Dezember 1998, in: Internationale Politik 2-3/1999, S.131-136.
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Großbritannien nunmehr bei internationalen Krisen ausschließlich im Verbund mit Frankreich handle.951 Dennoch, Paris war nachhaltig irritiert. Sollte sich die überkommende Lehre erneut bewahrheiten, dass nahezu jede französische Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit zunächst entschlossen gewesen war, die deutsch-französischen Beziehungen durch eine größere französisch-britische Zusammenarbeit „auszugleichen“, um dann aber, von den Ergebnissen enttäuscht, schlussendlich wieder zur deutsch-französischen Routine zurückzukehren?952 3.5 Arbeiten an der GASP Kernpunkt der britisch-französischen Erklärung von St Malo war das Anliegen gewesen, den Europäern zu einer selbstständigen, auf tragkräftigen militärischen Fähigkeiten abgestützten Handlungsfähigkeit zu verhelfen. Die Relevanz einer solchen Befähigung wurde direkt zu Beginn des Jahres 1999 von dem sich eskalierenden Konflikt um das Kosovo unterstrichen. Dieser sei, wie der Nordatlantikrat Ende Januar 1999 erklärte, eine akute Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in ganz Südosteuropa. Die NATO verfolgte daher die Strategie, eine politische Interimslösung auf dem Weg zu einer möglichen Unabhängigkeit des Kosovo zu unterstützen und jeglicher Gewalt konsequent entgegenzutreten.953 In den Hauptstädten der Europäischen Union bemühte man sich um eine Konkretisierung einzelner Aspekte der GASP/ESVP. Für Paris und Bonn ging es hierbei auch um eine Rekalibrierung ihres bilateralen Verhältnisses. Die deutsch-französische „relance“, so die beiderseitige Überzeugung, dürfe dabei nicht auf die bloße Schaffung neuer, bilateraler Institutionen hinauslaufen. Vielmehr müsse man „…kritisch überprüfen, was die bisherigen Einrichtungen leisten und in Zukunft leisten können“ erklärte Bundesaußenminister Joschka Fischer am 20. Januar 1999 vor der französischen Nationalversammlung.954 Es galt die Frage zu beantworten, wie sich der deutsch-französische Zweibund mit neuen Inhalten füllen ließ. Deutschland habe sich zu lange, „…selbst nach dem Wiedergewinn der staatlichen Einheit“, auf seine historische Verantwortung an zwei Weltkriegen berufen, um den Einsatz seiner Soldaten außerhalb des Bündnisgebietes abzulehnen, konkretisierte der Bundeskanzler. Seine Regierung sei der Überzeugung, dass die historische Verantwortung es Deutschland genauso auferlege, bei internationalen Krisen – und gerade im Angesicht von Genoziden, wie man sie etwa in Jugoslawien erlebe – mit allen zu Gebote stehenden Mitteln tätig zu werden.955 Deutschland bekenne sich daher explizit zu seinen militärischen Verpflichtungen und mahnte die Definition und Ausgestaltung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Diese sei „unverzichtbar.“956 951
FAZ 23. Dezember 1998 „Frankreichs kurzer Flirt mit Großbritannien“. Vgl.: François Gorand, Frankreichs europäische Sicherheitspolitik seit 1981, in: Karl Kaiser, Pierre Lellouche (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Weg zur Gemeinsamkeit? Bonn 1986, S.201-212, hier: S. 205. 953 Vgl.: Erklärung des Nordatlantikrats zu Kosovo nach seiner Tagung in Brüssel am 30. Januar 1999, in: NATO Press Release (99)12 vom 30. Januar 1999. 954 Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer vor der französischen Nationalversammlung am 20. Januar 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 25. Januar 1999. 955 Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 6. Februar 1999, in: Internationale Politik 4/1999, S.121-124. 956 Ebenda. 952
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Es wurde deutlich, dass Bonn für die Europäische Union nunmehr deutlicher als zuvor eine zentrale Rolle im internationalen Krisen-Management anstrebte. An die Stelle einer „ungesunden Asymmetrie“ sollte eine ausgewogene trans-atlantische Partnerschaft treten. Dennoch: „Europa braucht zu seiner Sicherheit nach außen und innen unverzichtbar die USA.“957 Die kollektive Verteidigung sollte, nach dem Willen der Bundesregierung, weiterhin Aufgabe der Atlantischen Allianz bleiben.958 Derweil bemühte man sich in Paris nach wie vor verstärkt um die Einbindung Großbritanniens.959 Das prinzipielle Einlenken der britischen Seite auf die Linie der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik schien jenes Schlüsselstück zu sein, welches Staatspräsident Chirac schon im Umfeld seiner Annäherung an die NATO in den Jahren 1995-1997 gesucht hatte: Frankreich hatte mit dem Schritt von St Malo erheblichen außenpolitischen Gestaltungsspielraum gewonnen, zumal der deutsche Partner die Pariser Bestrebungen aktiv unterstützte.960 Eine „Triple entente pour la défense européenne »961 erschien jetzt ein erreichbares Ziel. Die Abstimmungen waren jedoch alles andere als einfach. In London tauchten Fragen nach der Sinnhaftigkeit eines sicherheitspolitischen Zusammengehens mit den Europäern auf. Einer der Anknüpfungspunkte war das Eurokorps: Der multi-nationale Militärverband sei nichts anders als ein „Papiertiger“. Die Krise auf dem Balkan habe gezeigt: eine derart gestaltete Streitkraft der Europäer sei nicht viel mehr als ein „nicht arbeitsfähiges Ideal“, zumal sie praktisch über so gut wie keine Einsatzerfahrung verfüge.962 Der gleichen Stoßrichtung folgend mahnte Premierminister Blair die Umstrukturierung der militärischen Verbände in Europa an: diese müssten entsprechend den Anforderungen ihres zukünftigen Aufgabenspektrums in Projektionsarmeen umgewandelt werden.963 Die Mittelbereitstellung für die Europäische Union, der Ausbau ihrer Fähigkeit, als „Kunde für die Produkte der NATO“ auftreten zu können, stand für London ebenso an vorderster Stelle.964 Die Atlantische Allianz bleibe weiterhin vorrangiges Instrument für die Auseinandersetzung mit vielen Krisen auf niedrigerem Niveau und das einzige Instrument
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Außenminister Fischer in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 6. Februar 1999, in: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 3/1999, S.16-19. 958 Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer vor der französischen Nationalversammlung am 20. Januar 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 25. Januar 1999. Ähnliches hatte Fischer am 12. Januar 1999 vor dem Europäischen Parlament ausgeführt; vgl. auch: Hans Stark, Frankreich-Deutschland – die schwierige „relance“, in: Dokumente 1999, S.184-192, hier: S.189. 959 FAZ 15. März 1999 „Der Beginn einer neuen Freundschaft. Doch von einer „special relationship“ sind Paris und London noch weit entfernt“. 960 Die neue Bundesregierung empfand, mit Blick auf die europäische Integration, die deutsch-französische „Exklusivität“ mehr als Bürde denn als „Motor“, da der deutsch-französische Zweibund gerade von den kleineren Mitgliedstaaten der EU beargwöhnt wurde. Daher war man bestrebt, europapolitische Initiativen von vorneherein mit mehreren Partnern zu beraten und als multilaterales und nicht mehr nur bilaterales Anliegen in den europäischen Abstimmungsprozess einzuführen – so der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Gespräch mit dem Verfasser. 961 Daniel Vernet in Le Monde am 20. März 1999. 962 Als Antwort bemühte man von Seite der Eurokorps-Partnerländer die Tatsache, dass das Hauptquartier des Korps seit 1998 Kontingente zur Verstärkung des SFOR-Hauptquartiers in Sarajevo bereitstelle; vgl. Frankfurter Rundschau 8. Februar 1999 „25 plus X, aber Wann? Militärverband Eurokorps“. 963 Premierminister Tony Blair vor dem Royal United Service Institute in London am 8. März 1999. 964 Rede des britischen Verteidigungsministers George Robertson vor dem Royal United Services Institute in London am 10. März 1999, in: Internationale Politik 10/1999, S.88-93. Bei gleichem Anlass sprach Robertson davon, dass Organisationen zwei fundamentale Wahlmöglichkeiten hätten: sie könnten sich anpassen oder sie könnten untergehen.
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für die Territorialverteidigung.965 Letztgenannter Punkt wurde von Paris ähnlich beurteilt, aber mit der bekannten Forderung nach einer größeren Beteiligung der Europäer verknüpft.966 Probleme gab es auch auf dem Rüstungssektor. Frankreich und Deutschland waren schon seit längerem an einem britisch-deutsch-französischen Zusammengehen in der Luftund Raumfahrttechnik interessiert. London signalisierte ebenfalls Interesse, bemühte sich aber zunächst um eine Fusionierung der britischen Unternehmen, wohl um gegenüber möglichen europäischen Partnern später nicht in einer Minderheitsposition zu sein. Dieses Vorgehen schreckte sowohl Bonn wie auch Paris.967 Beiden Partnern konnte nicht daran gelegen sein, den britischen – und den, mit diesen eng kooperierenden amerikanischen – Rüstungskonzernen zu einer marktbeherrschenden Stellung auf dem europäischen und internationalen Markt für Wehrmittel zu verhelfen. Einigkeit stiftete demgegenüber das gemeinsame Vorgehen in der Kosovo-Krise. Die moralische Verpflichtung, wie NATO-Generalsekretär Javier Solana es formulierte,968 ein autoritäres Regime in Europa davon abzuhalten, am Ende des 20. Jahrhunderts sein Volk zu unterdrücken, war den Regierungen in Bonn, London und Paris gemein. Alle drei Partner sahen, angesichts der nicht aus der finanziellen Mittelaufwendung herrührenden Unwucht im militärischen Bereich gegenüber den Vereinigten Staaten, den Bedarf, nicht einfach nur mehr Haushaltsmittel für die eigenen Wehretats aufzuwenden, sondern die vorhandenen Potenziale besser zu bündeln.969 Aus diesem Grund sollte bis zum nächsten EU-Gipfel im Juni 1999 in Köln die GASP/ESVP in ein schlüssiges Konzept gebracht werden. Maßgebliche Etappe auf dem Weg zum Europäischen Rat von Köln im Juni 1999 war der NATO-Jubiläumsgipfel Ende April in Washington, auf dem ein neues Strategisches Konzept verabschieden werden sollte. Die sicherheitsstrategischen Überlegungen in der Allianz hatten sich seit 1990 auf zwei Entwicklungen konzentriert: Zum einen auf die Umwandlung der Streitkräftestrukturen des Bündnisses in künftig, ausgerichtet an einer Bedrohungslage geringerer Intensität bei gleichzeitiger Entgrenzung des Einsatzraums, kleinere, mobilere Einheiten und zum anderen die Erhöhung der Kompatibilität der einzelnen Einheiten, um diese bedarfsgerecht kombinieren zu können. Daran anknüpfend wurde argumentiert, dass nach 1989 die Bedeutung der militärischen Kapazität im internationalen System eher zugenommen habe. Mit dem Zusammenbruch des Ordnungsrahmens des Kalten Krieges wuchs, durch die exproportionale Zunahme staatlicher und vor allem nicht-staatlicher Akteure, der Bedarf nach einer mit universeller Gültigkeit ausgestatten Fähigkeit: militärischer Macht. Hiervon hatte bereits der neue strategische Ansatz des Bündnisses aus dem Jahr 1991 Zeugnis abgelegt ebenso wie der Berliner NATO-Gipfel im Jahr 1996 und der hier angenommene NATO-WEU acquis „trennbarer aber nicht getrennter“ – Fähigkeiten auf Basis des CJTF-Konzepts.
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Ebenda. Hierzu auch: Denise Artaud, Les États-Unis et l’Europe: une nouvelle architecture de sécurité ?, in : Défense Nationale 1/1999, S.8-22. 966 Vgl. die Ausführungen von Alain Richard zur Zukunft des Nordatlantikpakts auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 6. Februar 1999, in: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 3/1999, S.24; auch: Bastien Nivet, De Maastricht à Nice: la laborieuse ascension de l’Union européene, in : La Revue Internationale et Stratégique 41, Printemps 2001, S.135-142, hier : S.139. 967 SZ 22. Januar 1999 „Jospin für deutsch-französisches Rüstungsbündnis“. 968 FAZ 25. März 1999 “Das Programm “Europäische Sicherheitsidentität” soll mit Inhalt gefüllt werden“. 969 Financial Times 13. April 1999 “A bigger European bang”.
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Die Ergebnisse des Berlin-Gipfels galten auch 1999 als Fixpunkt in den Beratungen des Neuen Strategischen Konzepts der Allianz. Die Schlüsselstellung der NATO gegenüber anderen Organisationen kollektiver Sicherheit sollte dabei durch eine Primärstellung in der Entscheidungsabfolge („sequencing“) zum Ausdruck kommen: alle sicherheits- und verteidigungspolitischen relevanten Fragen waren zuerst in der Atlantischen Allianz zu beraten. Hier wurde über Krisenmanagement und/oder Einsatz beziehungsweise Nichteinsatz entschieden. Erst im Falle eines ablehnenden Beschlusses sollten dann die europäischen Partner über ein eigenständiges Handeln entscheiden können. Dieser Geist prägte auch das am 24. April 1999 in Washington vorgestellte neue Strategische Konzept der NATO.970 Zur Zufriedenheit der französischen Delegation bekannte sich das Bündnis mit dem Konzept explizit zur Etablierung neuer Muster der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Verständigung in der euro-atlantischen Region. Wie auch schon in der Gipfelerklärung von 1994 zum Ausdruck gekommen, unterstütze das Bündnis uneingeschränkt die Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb des Bündnisses.971 Im Vorfeld hatte NATO-Generalsekretär Solana darauf hingewiesen, neue Synergien auf Gebieten gemeinsamen Interesses zwischen der Allianz und den Europäern zu schaffen.972 Die NATO werde für künftige EU/WEU-geführte Operationen im Rahmen des Petersberg-Spektrums Mittel und Fähigkeiten bereitstellen. Mit Blick auf die ESVI vermerkte das Strategische Konzept, dass die Vorbereitungen hierzu nahezu abgeschlossen seien. 973 Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten billigten in Washington damit nachdrücklich die Perspektive einer sich entwickelnden Europäischen Sicherheit- und Verteidigungsidentität. Es wurde deutlich, dass Washington auch gegenüber der ESVP nicht mehr prinzipiell negativ eingestellt war. Durch verstärkte europäische Verteidigungsanstrengungen erhoffte man sich vielmehr mittelfristig militärische Entlastung.974 Dieser Punkt wurde in dem ebenfalls in Washington veröffentlichten Kommuniqué „Eine Allianz für das 21. Jahrhundert“ 975 unterstrichen. Hierin heißt es unter anderem, das Bündnis nehme die folgenden grundlegenden Sicherheitsaufgaben wahr: (I.) Sicherheit; (II.) Konsultation; (III.) Abschreckung und Verteidigung. Zudem bekannte man sich zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität des euro-atlantischen Raums durch gemeinsame Krisenbewälti970
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Neues Strategisches Konzept der NATO 1999, vorgestellt auf der Gipfelkonferenz der NATO in Washington am 23./24. April 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Mai 1999. Multinationale Finanzierung, auch durch den Militärhaushalt und das Sicherheits-investitionsprogramm der NATO, würden zudem auch weiterhin eine wichtige Rolle bei der Anschaffung und Beibehaltung der erforderlichen Mittel und Fähigkeiten spielen. Rede des NATO-Generalsekretärs Javier Solana vor dem IHEDN in Paris am 8. März 1999, in: Internationale Politik 10/1999, S.84-88. Neues Strategisches Konzept der NATO 1999, vorgestellt auf der Gipfelkonferenz der NATO in Washington am 23./24. April 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Mai 1999. Als Folge der Erfahrungen aus dem Kosovo-Krieg ermutigte die Clinton-Administration die europäischen Partner vielmehr, besonders auf dem Gebieten der Operationsführung sowie der Verlegefähigkeit möglichst bald zu den amerikanischen Streitkräften aufzuschließen. Die wichtigste Hoffnung der amerikanischen Seite bestand dabei darin, dass die Europäer ihre Verteidigungsan-strengungen nicht nur erhöhten, sondern auch besser koordinierten. Die ESVI sollte in diesem Zusammenhang; die NATO politisch wie militärisch stärken, aber auch das transatlantische Verhältnis enger gestalten. vgl. hierzu auch: Thränert, Die USA und die ESVP, S.219. Kommuniqué „Eine Allianz für das 21. Jahrhundert“ der Staats- und Regierungschefs der NATO, abgegeben nach der Gipfelkonferenz der NATO in Washington am 23./24. April 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Mai 1999.
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gung und Partnerschaft. In diesem Sinne begrüße die NATO die Fortschritte zur Umsetzung der Entscheidungen des Berlin-Gipfels. Die Allianz wolle sich nunmehr noch intensiver für die Stärkung ihres europäischen Pfeilers einsetzen. Mit den Beschlüssen von Washington ermutigte man die europäischen Verbündeten explizit, den von St Malo ausgehenden Impuls zur Stärkung einer gemeinsamen europäischen Politik in Sicherheit und Verteidigung konsequent weiterzuentwickeln.976 Der Ständige NATO-Rat wurde aufgefordert, im Angesicht der engen Kooperation der nunmehr unmittelbar bevorstehenden Kooperation mit der EU/WEU alles Nötige zu unternehmen, um den Erfordernissen von NATO-Einsätzen und der Kohärenz der NATOKommandostruktur Rechnung zu tragen. Vornehmlich sollten diese Vorkehrungen folgende Punkte umfassen:
den gesicherten Rückgriff der Europäer auf Planungskapazitäten der NATO; die Annahme der Verfügbarkeit von vorher identifizierten NATO-Fähigkeiten und gemeinsamen Mitteln zur Nutzung in, von den Europäern geführten Operationen; die Identifizierung einer Reihe von Optionen für ein europäisches Kommando für militärische Operationen, die weitere Anpassung des Verteidigungsplanungssystems der NATO.
Der gleichen Zielsetzung folgten auch die Vereinbarungen zur neuen NATOKommandostruktur.977 Diese neue Struktur sollte die Allianz befähigen, die operative Zusammenarbeit zwischen den Partnern zu verbessern. Gerade mit Blick auf das zukünftig stärkere Engagement der Europäer sollten so Führungskapazitäten bereitgestellt werden, die dazu geeignet waren, WEU-geführte Operationen vorzubereiten und zu unterstützen. Diese Zielsetzung war von Bonn im Vorfeld des Treffens aktiv verfolgt worden. Entsprechend zufrieden war man mit dem Ergebnis. 3.6 Die ESVP als konkrete Perspektive Unter deutscher Präsidentschaft fand am 10. und 11. Mai 1999 in Bremen die halbjährliche Tagung des Ministerrates der WEU statt. Wenige Tage zuvor war am 1. Mai der Amsterdamer Vertrag in Kraft getreten. Aus Sicht des deutschen Vorsitzes lag – nach dem Erfolg von Washington – stand die Westeuropäische Union nunmehr vor der Aufgabe, die Herausbildung einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entscheidend voranzutreiben.978 Das „politische Momentum“ (Joschka Fischer) sei gegeben, um zu substantiellen Ergebnissen zu gelangen. Als klaren Zeithorizont hierfür sah die Bundesregierung, die, begünstigt durch ihre Doppelpräsidentschaft in WEU und EU, eine enge Vertaktung der Diskussionsabläufe in beiden Organisationen betrieb, den für Anfang Juni 1999 vorgesehenen Europäischen Rat von Köln. 976
Kommuniqué „Eine Allianz für das 21. Jahrhundert“ der Staats- und Regierungschefs der NATO, abgegeben nach der Gipfelkonferenz der NATO in Washington am 23./24. April 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 3. Mai 1999. 977 Ebenda. 978 Einführungsstatement des deutschen Außenministers Joschka Fischer zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der Tagung des WEU-Ministerrates in Bremen am 10. Mai 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Mai 1999; auch: FAZ 11. Mai 1999 „Gremien der WEU in die EU überführen“.
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In Abstimmung mit dem französischen Partner legte die deutsche Delegation daher in Bremen den Schwerpunkt auf die Weiterentwicklung jener strategischen und militärischen Fähigkeiten, bei denen die Europäer „…noch zu stark von der Unterstützung anderer abhängig sind.“979 In erster Linie sollte die Europäische Union daher mit einem Militärausschuss und mit einem gemeinsamen Militärstab ausgestattet werden. Beides sei in der WEU vorhanden, es müsse nur überführt werden. In diesem Zusammenhang plädierte Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping explizit für die Integration der WEU in die EU. Der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der WEU, de Puig, meinte weiter, es sei die Schwäche seiner Organisation, noch nie Verantwortung in einer Krise gehabt zu haben; erst ein Kriseneinsatz werde dazu führen, dass die WEU mit den notwenigen finanziellen und logistischen Mitteln ausgestattet werde.980 So weit ging die am 11. Mai vorgestellte „Erklärung von Bremen“ dann zwar nicht, bekannte sich aber zu der Notwendigkeit zügiger substantieller Fortschritte in der ESVP.981 Diese Entwicklung läge im Interesse aller WEU-Staaten: „Die Minister begrüßten die Ergebnisse des NATO-Gipfels von Washington. Sie stellten mit Genugtuung fest, dass die wesentlichen Elemente für die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb des Bündnisses aufbauend auf die in Berlin, Brüssel und Birmingham gefassten Beschlüsse der Minister umgesetzt werden und dass das Bündnis sein nachhaltiges Bekenntnis zur Fortsetzung des Prozesses der Stärkung seines europäischen Pfeilers bekräftigt hat.“ 982
Die Vorbereitung des Gipfels von Köln prägte die 73. deutsch-französischen Gipfelkonsultationen Ende Mai 1999 in Toulouse. Präsident Chirac und Kanzler Schröder bekräftigen hier ihr Bekenntnis zu einer autonomen Verteidigungsfähigkeit der EU. Nunmehr müsse man die notwendigen Beschlüsse fassen, so Chirac am 29. Mai in Toulouse,983 um die bereits im EU-Vertrag von Amsterdam vorgesehene Eingliederung der WEU in die Europäische Union einzuleiten. Dieser Prozess könnte Ende des Jahres 2000 unter französischer Präsidentschaft abgeschlossen sein. Getreu der Vorgabe Javiers Solanas, die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität bräuchte genau so Potenziale wie politischen Willen,984 sollte ferner das Eurokorps dem veränderten strategischen Umfeld angepasst und zu einem Schnellen Krisenreaktionskorps der Europäer umstrukturiert werden.985 Bundeskanzler Schröder sprach in diesem Zusammenhang von einer „Konkretisierung“ des Eurokorps.986 Andere zentrale Punkte europäischer Verteidigungs- und Rüstungspolitik wurden 979
Einführungsstatement des deutschen Verteidigungsministers Rudolf Scharping zur Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik auf der Tagung des WEU-Ministerrates in Bremen am 10. Mai 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Mai 1999. 980 FAZ 10. Mai 1999 „Die Zukunft der Westeuropäischen Union“. 981 „Erklärung von Bremen“ abgegeben anlässlich der Tagung des Ministerrates der WEU am 10./11. Mai 1999 in Bremen, in: Bulletin der Bundesregierung vom 26. Mai 1999. 982 Ebenda. 983 Gemeinsame Pressekonferenz von Staatspräsident Chirac, Bundeskanzler Schröder und Premierminister Jospin am 29. Mai 1999 in Toulouse, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.381-384. 984 Rede des NATO-Generalsekretärs Javier Solana vor dem IHEDN in Paris am 8. März 1999, in: Internationale Politik 10/1999, S.84-88. 985 SZ 31. Mai 1999 „Bonn und Paris für Krisenreaktionstruppe“; Handelsblatt 31. Mai 1999 „Bonn und Paris wollen Eurokorps aufwerten“; sowie: Stuttgarter Zeitung 31. Mai 1999 „Eurokorps soll bei Krisen eingreifen“. 986 Gemeinsame Pressekonferenz von Staatspräsident Chirac, Bundeskanzler Schröder und Premierminister Jospin am 29. Mai 1999 in Toulouse, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.381-384; auch: Jean-
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in Toulouse allerdings weitgehend ausgeklammert. Dies galt insbesondere für das nach wie vor anhängige Thema einer europäischen Satellitenaufklärung.987 In der am Ende des Gipfels vorgelegten Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates forderte dieser lediglich die Entwicklung einer starken, dynamischen und leistungsfähigen industriellen und technologischen Basis, zu der die Umstrukturierung der Rüstungsindustrien beitragen werde.988 In der Kommentierung wurden die Ergebnisse des Treffens von Toulouse kritisch gesehen: die angekündigte große deutsch-französische Initiative für eine autonome europäische Verteidigung stelle der „zweite Atemhauch für das Eurokorps“ in Toulouse nicht dar, auch wenn Chirac wieder einmal von einer „historischen Entscheidung“ gesprochen hätte, kritisierte etwa die Neue Züricher Zeitung.989 Die gute Absicht sei zwar zu erkennen, aber das Eurokorps allein könne wohl kaum irgendwo zum Einsatz gebracht werden. Folglich müsse sich die Übereinkunft von Toulouse erst noch im Verbund mit anderen entsprechenden Entscheidungen bewahrheiten.990 3.7 Der Europäische Rat von Köln Am Vorabend des Europäischen Rates von Köln wurde bekannt, dass die 15 Mitgliedstaaten der EU sich auf Javier Solana, bisher Generalsekretär der NATO, als Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verständigt hätten.991 Einige Mitglieder hatten zunächst gezögert, weil sie Solana als zu sehr den Vereinigten Staaten nahestehend empfunden hatten.992 Erste Hauptaufgabe des neuen Hohen Vertreters solle es sein, die Inkorporierung der WEU in die EU möglichst reibungslos abzuwickeln.993 Auch gelte es die Abstimmungsregeln zwischen dem neuen Amt und den jeweiligen nationalen Chefdiplomaten zu finden.994 Javier Solana hatte sich empfohlen, weil er stets versucht hatte, die Gräben zwischen „Atlantikern“ und „Europäern“ zu überbrücken. Die Zeit konkurrierender Perspektiven sei abgelaufen, so hatte er zuletzt im März 1999 erklärt.995 Bonn und Paris hatten die Berufung Solanas entscheidend unterstützt, auch weil sie den Konsens der Europäer auf dem Feld der GASP/ESVP symbolisierte. Von Anfang an hatte die französische Seite dabei die Hoffnung gehegt, durch die Bestellung eines Hohen Vertreters die Gemeinsame Außen- und SicherYves Haine, L’Eurocorps et les identités européennes de défense : du gage franco-allemande à la promesse européenne, Paris 2001, S.109-114. Die immer wieder angekündigte gemeinsame Finanzierung der Aufklärungssatelliten Horus und Hélios-2 konnte auch in Toulouse nicht abschließend geregelt werden; Handelsblatt 31. Mai 1999 „Bonn und Paris wollen Eurokorps aufwerten“. 988 Erklärung des Deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates vom 29. Mai 1999, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.385. 989 NZZ 31. Mai 1999 „Wiederbelebung des Eurokorps“. 990 Le Monde 1. Juni 1999 « La défense européenne de Saint-Malo à Toulouse, des accord et des nuances » . 991 Financial Times 2. Juni 1999 „A tough task for Solana”; La Tribune 4. Juni 1999 « Javier Solana sera „monsieur PESC“»; Solanas Vize wurde der ständige Vertreter Frankreichs bei der EU, Pierre de Boissieu, werden – ein Neffe Charles de Gaulles. Die Welt 5. Juni 1999 „Solana wechselt von der NATO in Europas Außenamt“. 992 Le Figaro 6. Juni 1999 „Javier Solana change de casquette“. 993 Financial Times 2. Juni 1999 „A tough task for Solana“. 994 Stuttgarter Zeitung 5. Juni 1999 „Europas Außenpolitik hat viele Stimmen“. 995 Rede des NATO-Generalsekretärs Javier Solana vor dem IHEDN in Paris am 8. März 1999, in: Internationale Politik 10/1999, S.84-88. 987
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heitspolitik zu konkretisieren.996 Beide Partner versprachen sich durch die Berufung des amtierenden NATO-Generalsekretär zum Hohen Vertreter beste Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit zwischen EU/WEU und Atlantischer Allianz. Der Europäische Rat von Köln 3. und 4. Juni 1999 war für die institutionelle Ausprägung der GASP/ESVP wesentlich. In ihrer „Erklärung zur Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“997 vom 4. Juni bekannten sich die Staats- und Regierungschefs der Fünfzehn ausdrücklich zu dem Ziel, einer eigenverantwortlichen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Daher begrüßte der Europäische Rat in Köln die Ergebnisse des Washingtoner NATO-Gipfels. Die dort gegebene Zusage, den von der Union eingeleiteten ESVP-Prozess zu unterstützen, sei für die eigenen Bemühungen von hervorgehobener Bedeutung.998 Dieser Prozess erfordere bekanntermaßen autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige militärische Mittel und geeignete Beschlussfassungsgremien stützen. Anders als noch im Amsterdamer Vertrag, der die WEU als Sachwalter der militärischen Aktionen der EU vorsah, führte die Kölner Erklärung aus: „Zu diesem Zweck beauftragen wir den Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, die Voraussetzungen zu schaffen und die Maßnahmen zu treffen, die zur Erreichung dieser Ziele erforderlich sind; hierzu gehört auch die Festlegung der Modalitäten für die Einbeziehung der Aufgaben der WEU, die notwendig sein werden, damit die Union ihrer neuen Verantwortung im Bereich der Petersberg-Aufgaben gerecht werden kann. In diesem Zusammenhang ist es unser Ziel, bis Ende des Jahres 2000 die notwendigen Beschlüsse zu fassen. In diesem Fall würde die WEU als Organisation ihren Zweck erfüllt haben.“ 999
Mit Blick auf die militärischen Fähigkeiten sollten die Mitgliedstaaten ihre Streitkräfte (einschließlich der militärischen Hauptquartiere) so weiterentwickeln, dass sie – bei gleichzeitiger Vermeidung von unnötigen Duplizierungen – auch in Krisenbewältigungsoperationen einsetzbar seien. Zu den Haupteigenschaften derartiger Streitkräfte müssten Dislozierungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Interoperabilität, Flexibilität und Mobilität gehören. Zur effektiven Durchführung der von ihr geführten Operationen beabsichtige die Union, jeweils entsprechend den einschlägigen Erfordernissen, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob sie (I.) die Einsätze unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO oder (II.) ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der Allianz durchführen wolle. Darüber hinaus werde die Union Fähigkeiten zur militärischen Lageanalyse und zur strategischen Planung sowie einen Zugang zu nachrichten-dienstlichen Informationen benötigen. Hierzu plane man zukünftig:
996
Was nicht Verselbstständigung heißen sollte, vgl.: Michael Barnier in seiner Pressekonferenz am 17. September 1996, abgedruckt in: Frankreich-Info vom 23. September 1996: „Monsieur PESC muß die Linie vertreten, die die Staatschefs festgelegt haben. Wenn es keine gemeinsame Linie gibt, kann sie nicht von Monsieur PESC alleine erfunden werden.“ 997 „Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ abgegeben anlässlich des Europäischen Rates in Köln am 4. Juni 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 5. Juni 1999. 998 Anhang III zu den Schlussforderungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 3./4. Juni 1999 in Köln: „Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, in: Internationale Politik 10/1999, S.133-137. 999 Ebenda; Hervorhebung durch den Verfasser.
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Die Relativierung des Duopols Regelmäßige (oder ad hoc durchzuführende) Tagungen des Rates Allgemeine Angelegenheiten; ein ständiges Gremium in Brüssel (Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK)) bestehend aus Vertretern mit politsicher/militärischer Expertise einzurichten ; genauso wie einen EU-Militärausschuss, bestehend aus militärischen Vertretern, die gegenüber dem politischen und sicherheitspolitischen Ausschuss Empfehlungen aussprechen; ferner einen EU-Militärstab einschließlich eines Lagezentrums; sowie andere Mittel, wie ein Satellitenzentrum, ein Institut für Sicherheitsstudien.1000
Wesentlich war in erster Linie die Umwandlung des bestehenden Politischen Komitees in ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK). Das PSK sollte sich in zwei Zusammensetzungen treffen: (I.) auf Botschafterebene zweimal wöchentlich in Brüssel und (II.) auf Ebene der Politischen Direktoren der Mitgliederstaaten. Zentrale Funktion sei die Definition der Politik der Union gegenüber politischen Krisen und die Ausübung von politischer Kontrolle sowie die Maßgabe in strategischen Fragen. Für die militärische Seite standen der Militärausschuss (European Union Military Comitee/ EUMC) und ein Militärstab (European Union Military Staff/ EUMS) zur Verfügung; für die zivilen Aspekte des europäischen Krisenmanagements wurde ein Ziviles Komitee (Civil Comitee/ CIVCOM) vorgesehen. In Köln wandten sich die Europäer ausdrücklich gegen den Aufbau einer europäischen Armee.1001 Die Streitkräfte Europas sollten vielmehr in ihren nationalen Unterstellungsverhältnissen belassen und einem gemeinsamen europäischen Oberbefehl nur für die Dauer eines EU-Einsatz überantwortet werden. Die ESVP erhielt auch hierdurch einen strikt intergouvernementalen Charakter; die Entscheidungsmodalitäten in der Beschlussfassung über einen Einsatz sollten aber, gerade mit Blick auf eine mögliche Erweiterung der Union auf bis zu 25 Mitglieder, überarbeitet werden.1002 Dieser Zielsetzung folgend, vereinbarten Deutschland und Frankreich sowie die anderen am Eurokorps beteiligten Staaten am Rande des Ratstreffens die Weiterentwicklung des Korps zu einem europäischen Krisenreaktionskorps und beauftragten das Gemeinsame Komitee des Eurokorps mit der entsprechenden konzeptionellen Vorbereitung.1003 Die Stärkung der industriellen und technologischen Basis der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik war ein weiterer Verhandlungsgegenstand des Rates von Köln. Man kam überein, die Bedingungen für eine europäische Rüstungspolitik weiter zu verbessern; daher sollten einzelstaatliche Industrie- und Haushaltspolitiken besser harmonisiert und, mit Blick auf Steigerung der Interoperabilität, bei konkreten Rüstungsprojekten 1000
Anhang III zu den Schlussforderungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 3./4. Juni 1999 in Köln: „Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, in: Internationale Politik 10/1999, S.133-137. 1001 La Libération 6. Juni 1999 « L’Europe s’imagine une défense commune »; Le Monde 4. Juni 1999 « Réunis à Cologne, les Quinze veulent faire avancer l’Europe de la défense ». 1002 Eckhard Lübkemeier, The ESDP as a Key Project for European Unification, in: Hans-Georg Ehrhardt (Hrsg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Positionen, Perzeptionen, Probleme, Perspektiven, Baden-Baden 2001, S.9-17, hier: S.11. 1003 Vgl.: Peter-Michael Sommer, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ergebnisse der deutschen Doppelpräsidentschaft in EU und WEU, in: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 12/1999, S.14-18, S.16.
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zwischenstaatliche Entscheidungsprozesse prinzipiell erwogen und vereinfacht werden.1004 Für das Zustandekommen der Kölner Beschlüsse waren die Erfahrungen der europäischen Unzulänglichkeit in den Balkan-Konflikten einschließlich des Kosovo-Krieges1005 – verbunden mit der Einsicht, dass eine hinlängliche Krisenreaktionsfähigkeit die Eskalation jeweils wohl verhindert hätten1006 – mit ausschlaggebend.1007 Fasst man zusammen, orientierte sich die deutsche Gesprächslinie bei den Kölner Verhandlungen an den auf dem Bremer WEU-Gipfel vom Mai 1999 getroffenen Aussagen zur Reichweite der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kompetenzen der Union sowie zur Inkorporierung der WEU in die Europäische Union. Kernaspekt dabei war die Ausrichtung an dem auf dem Berliner NATO-Ratsgipfel angenommenen und im Neuen Strategischen Konzept der Allianz vom April 1999 bekräftigten NATO-WEU acquis („Berlin Plus“) von „trennbaren aber nicht getrennten“ Fähigkeiten.1008 Frankreich hatte seit längerer Zeit danach gestrebt, interne Schwerfälligkeiten in den außen- und sicherheitspolitischen Abstimmungsverfahren der Europäer zu überwinden.1009 Die Inkorporierung der WEU in die EU war für Paris seit St Malo ein fait accompli der ESVP gewesen, weswegen sich sein Blick in den Kölner Verhandlungen auch schon über den Verhandlungsgegenstand der institutionellen Rahmenbedingungen hinaus auf konkrete Mittelzusagen und damit die Folgekonferenzen weitete. Verteidigungsminister Richard forderte daher im Nachgang zu Köln ein Ende der „Lippenbekenntnisse“ zur europäischen Verteidigungspolitik:1010 Vor allem würden den Europäern Kommandostrukturen fehlen, die auch ein von den Vereinigten Staaten unabhängiges Vorgehen erlauben würden.1011 Die wichtigste Entscheidung für die Zukunft der ESVP sei deshalb die Schaffung eines militäri1004
Lothar Rühl, Conditions and options for an autonomous „Common European Policy on Security and Defence” in and by the European Union in the post-Amsterdam perspective opened at Cologne in June 1999, ZEI Discussion Paper C54 1999, S.14. 1005 So titelte Die Welt am 4. Juni 1999 etwas sarkastisch „Erst der Krieg verhilft der EU zu einem militärischen Arm“. 1006 Demgegenüber stand lange der notorische “Mangel an politischem Willen” zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik innerhalb der Europäischen Union. Dieser mangelnde Wille lässt u.a. auf folgende Gründe zurückführen: (I.) den Unwillen einiger Mitglieder eigene autonome außenpolitische Handlungsfähigkeit aufzugeben; (II.) die mangelnde Bereitschaft, die Kosten eine größeren Rolle der Europäer zu tragen; (III.) das Unvermögen zu einer einheitlichen, außenpolitischen Linie zu finden; siehe hierzu: Stephan Keuhmire, European Security and Defence Policy without an European Foreign Policy? in: HansGeorg Ehrhardt (Hrsg.), Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Positionen, Perzeptionen, Probleme, Perspektiven, Baden-Baden 2001, S.231-242. 1007 So hatte etwa die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright in der Financial Times vom 7. Dezember 1998 unter dem Titel “The right balance will secure NATO’s Future” ausgeführt: „We want an Europe that can act. We want an Europe with modern flexible military forces that are capable of putting out fires in Europe’s backyard and working with us through the alliance to defend our common interests.“. 1008 Meiers, Deutschland: Der dreifache Spagat, S.37. 1009 Jacques Chirac vor der Parlamentarischen Versammlung der WEU am 3. Dezember 1996, in: Frankreich-Info vom 6. Dezember 1996, hier: S.5; Pierre Lellouche hatte das französische Bestreben wie folgt umschrieben: „Wenn das Europa von morgen mehr sein will als eine reiche, alternde und schwache Schweiz, dann muss es ohne zu zögern seinen Daseinswillen zum Ausdruck bringen, dann muss es seine Verfahren vereinfachen und sich die Machtmittel zu seiner Verteidigung an die Hand geben, die der größten Wirtschaftsregion der Welt mit 350 Millionen Einwohnern angemessen sind.“ Lellouche, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.101. 1010 FAZ 18. Juni 1999 „ „Europa braucht einen militärischen Führungsstab”; Interview mit Alain Richard. 1011 Zu den französischen Vorstellungen des neuen Rangverhältnisses zwischen den Europäern und den Vereinigten Staaten siehe: Guillaume Parmentier, Après le Kosovo: pour un nouveau contrat transatlantique, in: Politique Étrangère 1/2000, S.9-32, hier: S.17-21.
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schen Führungsstabes, der nicht auf amerikanische Kommandostrukturen angewiesen sei1012 – allerdings: der politische Entscheidungsprozess bleibe strikt intergouvernemental. Ferner hegte man in Paris die Hoffnung, dass künftig, neben Großbritannien und Frankreich auch Deutschland sowie Italien und Spanien ihre Sicherheitsinteressen großflächiger definierten. Dies sah die deutsche Bundesregierung, die sich stärker als ihre Vorgängerin zu einer aktiven Rolle Deutschlands in der ESVP bekannte. In Europa gäbe es nur eine einzige unteilbare Sicherheit.1013 Bundeskanzler Schröder formulierte daher: „Europa darf international nicht Beobachter sein, sondern muss als starker Akteur auftreten, der die Schaffung der globalen Ordnung für das 21. Jahrhundert entscheidend mitbestimmt. Dies setzt voraus, dass wir Europäer in der Welt mit einer Stimme sprechen und unseren Anliegen gemeinsam und wirkungsvoll Geltung verschaffen. […] Wir wollen ein Europa, das selbstbewusst und erfolgreich seine Interessen vertritt und dabei offen für den weltweiten Wettbewerb um die besseren Lösungen für die dringenden Zukunftsfragen ist.“1014
Neu für die deutsche Haltung war in diesem Zusammenhang die zentrale Setzung des Begriffes staatlicher „Interessenpolitik“.1015 Derweil war man sich in Bonn/Berlin bewusst, dass die Voraussetzungen zur Verfolgung dieser Interessenpolitik noch nicht vollends gegeben waren. Dies galt insbesondere für die Struktur der Bundeswehr, die noch sehr auf die Territorialverteidigung zugeschnitten war. Bundesverteidigungsminister Scharping sprach gar davon: „Gäbe es für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Konvergenzkriterien wie für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion, so bliebe Deutschland draußen vor der Tür.“1016 Zwar hatten Deutschland und Frankreich im Juni des Jahres 1999 rund 160 Erdkampfhubschrauber des Typs „Tiger“ mit einem Auftragsvolumen von 1,98 Mrd. € bestellt,1017 auch um damit Schlagkraft und Mobilität der zu bildenden Einsatzverbände zu erhöhen. Dies konnte allerdings wenig mehr als einen ersten Schritt auf einem kostenintensiven Weg bedeuten.1018 Die französische Seite drängte indes zusehends stärker auf konkrete Ergebnisse bei der Mittelbereitstellung für die ESVP noch im Jahr 1999. Im Juli legte Staatspräsident Chirac hierzu einen Aktionsplan vor, der unter anderem vorsah, der Union „europäisch“, also nicht in Analogie zur NATO-Assignierung, organisierte Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, um 1012
Vgl. hierzu: Claude Lachaux, Alliance atlantique et Europe de la défense : les faits sont têtus, in : Défense Nationale 8-9/1999, S.80-86. Rede von Außenministers Joschka Fischer zum deutschen EU-Vorsitzes vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 21. Juli 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 22. Juli 1999. 1014 Rede des deutschen Bundeskanzlers vor der Französischen Nationalversammlung am 30. November 1999 in Paris, in: Internationale Politik 4/2000, S.94-99. 1015 Ebenda. Einen Tag zuvor hatte Bundeskanzler Schröder auf der 37. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Hamburg zum gleichen Themenkomplex ergänzend ausgeführt: „Maßvolles Auftreten, Berechenbarkeit, Dialogfähigkeit und Kompromissbereitschaft, aber auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, werden Markenzeichen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bleiben.“ Vgl.:: Rede des deutschen Bundeskanzlers auf der 37. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 29. November 1999 in Hamburg, in: Internationale Politik 3/2000, S.106-109. 1016 Rede des Bundesverteidigungsministers Scharping an der Führungsakademie der Bundeswehr am 8. September 1999 in Hamburg. 1017 Handelsblatt 21. Juni 1999 „Eurocopter verkauft 160 Helikopter“. 1018 Vgl. hierzu die Ausführungen Alain Richards in seinem Interview mit der FAZ vom 18. Juni 1999 „ „Europa braucht einen militärischen Führungsstab”. 1013
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auf Konflikte, die die Sicherheit Europas beeinträchtigen könnten, eigenständig reagieren zu können. Der Plan hinterbrachte ferner Vorschläge, bestehende Unzulänglichkeiten der Europäer in den für das erweiterte Aufgabenspektrum kritischen Bereichen Strategische Aufklärung, Strategischer Transport und Streitkräfteführung so schnell wie möglich zu beseitigen. Frankreich wollte «…le stade des symboles dans la construction de l’Europe de la défense » (Alain Richard) überwinden.1019 Im Oktober konkretisierte Paris seine Vorschläge weiter. Die Union, so Präsident Chirac vor der Atlantischen Gesellschaft in Straßburg,1020 müsse mit mehr Nachdruck auftreten können. Die politische Stärke der Europäischen Union auf der internationalen Bühne sei die ihrer Mitgliedstaaten; deren Wille und Fähigkeiten würden das neue Streben Europas nach den ihm zustehenden Platz mit Leben erfüllen. Die Union brauche daher ein signifikantes Truppenaufgebot, um weltweit agieren zu können und seiner Politik, wenn nötig, Nachdruck zu verleihen. Dies sei durch Umstrukturierungen und Investitionen erreichbar. Die militärischen Mittel der Fünfzehn seien, was ihre Quantität betrifft, denen der Vereinigten Staaten überlegen. Der Europäische Rat von Helsinki im Dezember könne und müsse sich daher mit konkreten Mittelzusagen befassen.1021 Bereits am 3. Oktober 1999 hatten Chirac und Schröder ein gemeinsames Schreiben an den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates formuliert: „Nach unserer gemeinsamen Überzeugung ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu einem echten Instrument der gemeinsamen Vertretung europäischer Interessen in der Weltpolitik wird.“1022
Deshalb müsse die EU künftig durch einen allgemein respektierten und in der Union fest verankerten Repräsentanten nach außen sichtbar vertreten werden. Der bestimmte Hohe Vertreter für die GASP, Javier Solana, müsse sich daher der vollen Unterstützung und Rückendeckung der Staats- und Regierungschefs der Union für seine Befugnisse und die Ausübung seines Amtes sicher sein.1023 Hierauf indirekt aufbauend, trafen sich die EU-Außen- und die Verteidigungsminister am 14. November in Brüssel, um den Europäischen Rat von Helsinki vorzubereiten. Hierzu verständigte man sich in Brüssel auf „Indikatoren“, welche die Befähigung jedes EUMitglieds ausweisen sollten, Mittel für militärische Maßnahmen im Rahmen der ESVP bereitzustellen.1024 Das Treffen des WEU-Ministerrats am 23. November 1999 in Luxemburg war ebenfalls von Verhandlungen über konkrete Mittelzusagen der Europäer für die GASP/ESVP geprägt (European Capabilities Action Plan/ ECAP). Bundesverteidigungsminister Scharping und sein französischer Amtskollege Richard waren sich darin einig, 1019
Le Monde 14. Juli 1999 „Instaurer des critères de convergence peut inciter efficement des Etats européens à une défense commune » ; sowie: Le Figaro 14. September 1999 « Une défense européenne autonome?». 1020 Ansprache des französischen Staatspräsidenten Chirac vor der Versammlung der Atlantischen Gesellschaft in Straßburg am 19. Oktober 1999, in: Internationale Politik 3/2000, S.88-92. 1021 Ebenda. 1022 Gemeinsames Schreiben des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers an den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates und Ministerpräsidenten der Republik Finnland, Paavo Lipponen vom 3. Oktober 1999, in: Internationale Politik 11/1999, S.100-102. 1023 Javier Solana trat sein Amt als hoher Vertreter für die GASP am 18. Oktober 1999 an. Am 25. November wurde er zum Generalsekretär der WEU ernannt. 1024 Monde 16. November 1999 « L’Europe veut se doter d’une capacité d’intervention dans des crises régionales ».
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dass die WEU bei allen Defiziten „beachtliche“ Fähigkeiten für Kriseneinsätze besitze.1025 Allerdings würden sich diese vornehmlich bei den britischen und den französischen Streitkräften konzentrieren. Demgegenüber müsse die Bundeswehr für Einsätze im Petersbergspektrum erst noch umgerüstet werden, da sie weder eine zeitgemäße Bewaffnung oder hinlängliche Transportkapazitäten besitze, die den Aufgaben gewachsen wären. In Luxemburg wurde seitens der WEU zudem der Beschluss gefasst, der Atlantischen Allianz anzubieten, den Stab des Eurokorps, im Zuge des turnusgemäßen Kommandowechsels im Laufe des Jahres 2000 mit dem Oberbefehl und dem Hauptquartier der multinationalen KFORMission im Kosovo zu betrauen.1026 3.8 Die Weiterentwicklung des Eurokorps zu einem „Europäischen Krisenreaktionskorps“ In unmittelbarer Verbindung hiermit stand der am 22. November 1999 in Luxemburg vom Gemeinsamen Komitee des Eurokorps angenommene „Bericht von Luxemburg bezüglich der Weiterentwicklung des Eurokorps zu einem Krisenreaktionskorps“1027. Auf der Basis entsprechender Vorarbeiten und in Fortführung der Beschlüsse von Toulouse und Köln wurden in diesem Dokument konkrete Umstrukturierungsmaßnahmen im Sinne einer Weiterentwicklung des Eurokorps hin zu einem europäischen Krisenreaktionskorps beschlossen. Die im Bericht von Luxemburg angenommenen Leitsätze bezeugten dabei ausnahmslos die Einsicht, dass eine effektive Aufgabenerfüllung des Korps als europäische Krisenreaktionskraft nur unter Übernahme der entsprechenden NATO-Standards und in enger Kooperation mit der Atlantischen Allianz realisierbar sei. Das unverändert bestehende Anliegen der deutschen Seite,1028 den französischen Partner so nah wie möglich an die Atlantische Allianz anzubinden, wurde so maßgeblich befördert. Im einzelnen führt der Bericht aus, dass vor dem Hintergrund des strategischen Umfelds Missionen des Eurokorps im Rahmen der Krisenbewältigung die wahrscheinlichsten Einsatzszenarien seien. (Punkt 2. c). Dafür solle das Hauptquartier des Korps als (I.) Kern eines Land Component Command (LCC) nach kurzer Vorbereitungszeit oder (II.) der Einsatz des Korps als Ganzes oder in Teilen als Krisenreaktionskorps der Europäer möglich werden. Der Großverband müsse deswegen auch in der Lage sein, andere, ebenfalls unter hoher Verfügbarkeit stehende Truppenteile zu integrieren, einschließlich solcher, die von Staaten gestellt werden, die dem Korps bisher keine Truppen unterstellt hätten.1029 Damit wird implizit die Kompatibilität des Eurokorps mit den bestehenden NATOStandards begründet. Aus dieser Setzung erwächst dann auch die in Punkt 5.a.1. niedergelegte Anforderung an den Stab des Eurokorps, „…bereits im Frieden eine Modifizierung der Strukturen für den Stab und das Stabs- und Versorgungsbataillon [vorzunehmen, MK], 1025
FAZ 24. November 1999 „WEU-Treffen in Luxemburg / Pläne für eine schnelle Eingreiftruppe“. Le Monde 24. November 1999 “L’état-major de l’Eurocorps pourrait prendre le commandement de la KFOR » . Das Angebot wurde von der NATO angenommen. Das Eurokorps führte ab Frühjahr 2000 das Hauptquartier der KFOR-Mission für sechs Monate. 1027 „Bericht von Luxemburg bezüglich der Weiterentwicklung des Eurokorps zu einem Krisenreaktions-korps“ vom 22. November 1999 (unveröffentlicht). 1028 Rudolf Scharping im Gespräch mit dem Verfasser am 18. Mai 2010. 1029 Ferner verlangt der Bericht, dass das Eurokorps als Armeekorps in der kollektiven Verteidigung als solches einsetzbar zu sein habe (Punkt 2.d). 1026
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die alle Schlüsselfunktionen des Kerns eines LCC abbildet.“ Die Einführung von Englisch als verbindliche Arbeitssprache wurde damit zwingend, ebenso wie eine neue der einschlägigen NATO-Gliederung entsprechende Neuordnung der Abteilungen des Korpsstabs. Zugleich sollte ein ständiger Informationsfluss zwischen dem Eurokorps, den jeweiligen nationalen Nachrichtendiensten und potenziellen Auftraggebern wie der NATO oder der EU bereits im Frieden organisatorisch und strukturell sichergestellt werden. Der Bericht legt ferner fest, dass die am Korps beteiligten Staaten sich verpflichten, für zukünftige Einsätze krisenreaktionsfähige Truppenverbände aufzustellen und dem Korps zur Verfügung zu stellen. Jeder Teilnehmerstaat – mit Ausnahme von Luxemburg – verpflichtete sich, sowohl einen Großverband in Stärke einer Brigade für ein Einsatzszenario größeren Umfangs, als auch einen Verband in Bataillonsstärke für ein moderateres Einsatzszenario beizusteuern (Punkt 4). Mit Blick auf die Reaktions- und Verfügbarzeiten des Korps wird eine Orientierung an die „vorgegebenen“ NATO-Standards nahegelegt (Punkt 5.c). In diesem Sinne soll schließlich auch das Ausbildungskonzept des Korps angepasst werden (Punkt 6). Der 74. deutsch-französische Gipfel am 30. November 1999 in Paris stand dann ganz im Zeichen des Europäischen Rat in Helsinki. Beide Partner erwarteten von ihm ein substanzielles Vorankommen bei der Erarbeitung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.1030 Die Benennung von militärischen Potenzialen der Europäer sei vordringlichste Aufgabe. Deutschland und Frankreich entschieden daher, ihre jeweiligen Pläne über Verstärkung der Potenziale für Aufklärung, strategische Mobilität, Führung und Kommunikation anzugleichen. Im Hinblick auf Befehls- und Leitungspotenziale erinnerte man an die Ankündigung des Gipfels von Toulouse und die sich daran anschließende Entscheidung der Europäischen Union in Köln, wonach das Eurokorps – und in erster Linie sein Führungsstab – in eine Krisenreaktionskraft umgewandelt werden sollte. Mit Blick auf das militärische Potenzial sollte insbesondere die Aufklärungskapazität, „…ein zentrales Element der Autonomie der Beurteilung und Entscheidung der Europäischen Union“1031 und die strategische Mobilität verstärkt werden. Zu letztgenanntem Punkt schlugen beide Partner vor, ein europäisches Kommando für Lufttransport zu schaffen. Noch am selben Tag hob Bundeskanzler Schröder in seiner Rede vor der französischen Nationalversammlung die Bedeutung des von Jacques Chirac vorgeschlagenen europäischen Planziels eines Europe Puissance hervor. In längerfristiger Perspektive gelte es für Deutschland und Frankreich gemeinsame Überlegungen anzustellen, wie die im Vertrag über die Europäische Union angelegte Gemeinsame Verteidigung ausgestattet werden müsste.1032 Wenige Tage zuvor war bei einem britisch-französischen Zweiergespräch ebenfalls der Ausbau der Verteidigungspotenziale der europäischen Staaten gefordert worden.1033 Frankreich und Großbritannien riefen bei dieser Gelegenheit die Europäische Union dazu auf:
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Erklärung des Deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungsrats anlässlich der 74. Deutschfranzösischen Konsultationen am 30. November 1999 in Paris, in: Internationale Politik 4/2000, S.93-94. Erklärung des Deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungsrats anlässlich der 74. Deutschfranzösischen Konsultationen am 30. November 1999 in Paris, in: Internationale Politik 4/2000, S.93-94. Rede des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder vor der französischen Nationalversammlung am 30. November 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 6. Dezember 1999. Erklärung des britisch-französischen Gipfeltreffens zur europäischen Verteidigung, abgegeben am 25. November 1999 in London, in: Internationale Politik 4/2000, S.90-93.
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1. Sich das Ziel zu setzen, schnell militärisch eigenständige Streitkräfte bis zur Größe eines Armeekorps bereitzustellen und einzusetzen;1034 2. umgehend Potenzialziele in den Bereichen Befehl und Leitung, Aufklärung und strategischer Transport zu entwickeln.1035 In diesem Zusammenhang erklärten sich Großbritannien und Frankreich bereit, der Europäischen Union eigene Führungsstrukturen, wie etwa die Ständigen Gemeinsamen Führungsstäbe der britischen Streitkräfte oder das französische Operationszentrum der Teilstreitkräfte bei Bedarf zur Verfügung zu stellen. Wie weit sich dabei inzwischen die Einsicht durchgesetzt hatte, dass die Europäer nur dann handeln sollten, wenn die Atlantische Allianz sich nicht engagieren wolle, bekundete auch eine, bei dieser Gelegenheit abgegebene, britischfranzösische Erklärung.1036 3.9 Zahlen und Zeitpläne – das European Headline Goal von Helsinki Am 17. November 1999 führte der neu ernannte Hohe Vertreter für die GASP vor dem Europäischen Parlament aus, auf dem Weg zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seien bereits wesentliche Arbeiten geleistet worden.1037 Nach den Wegmarken von Berlin 1996, St. Malo 1998, Washington und Köln sei es nunmehr an dem Europäischen Rat von Helsinki, Konkretes zu beschließen. In Helsinki sollte es zusätzlich zu den Entscheidungen über militärischen Potenziale der Europäer – vornehmlich nach dem Willen Frankreichs und Großbritanniens1038 – darum gehen, die politischen und militärischen Strukturen so zu definieren, dass es dem Rat als Träger der GASP/ESVP ermöglicht wurde, Entscheidungen über EU-geführte Operationen autonom zu treffen. Überhaupt waren es maßgeblich Paris und London gewesen, die sich um den Vorantrieb des Abstimmungsprozess zu Helsinki bemüht hatten.1039 Auf seiner Tagung am 10./11. Dezember 1999 in Helsinki fasste der Europäische Rat dann Beschlüsse im Sinne dieser Vorgaben.1040 Aufbauend auf den in Köln entwickelten Leitlinien wurde in Helsinki vereinbart: 1034
dass die EU-Mitgliedstaaten spätestens im Jahr 2003 in der Lage sein müssten, für von der Union geführte Militäroperationen innerhalb von sechzig Tagen Streitkräfte im
Diese sollten mit den erforderlichen Komponenten zum Kommando, zur Kontrolle und Überwachung, mit Logistik und Unerstützungseinheiten und andere Kampfeinheiten (ca. 50.000 bis 60.000 Mann) sowie entsprechenden Einheiten der See- und Luftstreitkräfte ausgestattet sein. 1035 Ebenda. 1036 Vgl. auch: La Libération 26. November 1999 « « Moteur franco-britannique » pour la défence européenne »; sowie : Der Spiegel 48/1999 „Europa baut eigene Armee“. 1037 Rede des Hohen Vertreters für die GASP der EU, Javier Solana, vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 17. November 1999, in: Internationale Politik 2/2000, S.78-80. 1038 Großbritannien und Frankreich schlugen hierzu u.a. vor, Rolle und Zusammensetzung des projektierten Militärausschusses, als zuarbeitendes Organ des Rates, entsprechend auszugestalten. Siehe: Erklärung des britischfranzösischen Gipfeltreffens zur europäischen Verteidigung, abgegeben am 25. November 1999 in London, in: Internationale Politik 4/2000, S.90-93. 1039 Michael Stürmer formulierte in seinem Leitartikel für Die Welt „Die Muskeln der WEU“ am 2. Dezember 1999 hierzu: „Briten und Franzosen ritten an der Tete, die anderen, ohne Vision und Geld, folgen im Tross.“ 1040 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 10./11. Dezember 1999 in Helsinki, in: Internationale Politik 2/2000, S.80-104, hier: S. 84.
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Umfang von 50.000 bis 60.000 Personen bereitzustellen und zu verlegen. Diese Streitkräfte sollen imstande sein, den Petersberg-Aufgaben in ihrer gesamten Bandbreite gerecht zu werden und für mindestens ein Jahr im Einsatz gehalten werden können; innerhalb des Rates neue politische und militärische Gremien und Strukturen zu schaffen, welche die Europäer in die Lage zu versetzen, unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens die notwendige politische und strategische Leitung dieser Operationen zu gewährleisten. unter Berücksichtigung der Erfordernisse aller EU-Mitgliedstaaten Regelungen für eine umfassende Konsultation und Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO zu treffen.1041
Mit dem Beschluss bis zum Jahr 2003 Krisenreaktionskräfte mit einem Umfang von bis zu 60.000 Soldaten aufzustellen und die für ein militärisches Krisenmanagement nötigen Gremien bis zum März 2000 (in einer vorläufigen Regelung) einzurichten, goss der Rat in Helsinki damit die Kölner Grundsatzbeschlüsse in konkrete Zahlen um. Frankreich hatte in Helsinki letztlich erfolgreich auf eine Vereinbarung gedrängt, die die Voraussetzungen dafür schuf, dass die Europäische Union außenpolitische und militärische Entscheidungen autonom treffen konnte.1042 Dazu sollte der Rat, als zentrales Beschlussgremium der Union in der GASP/ESVP, über Maßnahmen entscheiden, die die Mitwirkung der EU auf allen Stufen und in Bezug auf alle Aspekte der Krisenbewältigung beträfen – einschließlich der Beschlüsse zur Ausführung der Petersberg-Aufgaben gemäß Art. 23 EU-Vertrag.1043 Diese Setzung entsprach genau der Pariser Verhandlungslinie, die vom deutschen Partner unterstützt worden war. Innerhalb des Rates wurden, als neue ständige politische und militärische Gremien ein Ausschuss für politische und Sicherheitsfragen (APS), ein Militärausschuss (MA) und ein Militärstab (MS) geschaffen. Im Zuge des Implementierungsprozesses wurde zudem ein Katalog verabschiedet, der die maximalen militärischen Erfordernisse und Kapazitäten auflistete, die für eine Erfüllung der Petersberg-Aufgaben erforderlich waren.1044 Im Rahmen dieses European Capabilities Action Plan (ECAP) sollten die identifizierten Defizite in den Bereichen Streitkräfteführung, strategische Aufklärung und Transport überwunden werden.1045 Mit Blick auf die 1041
Ebenda. Zudem sollte ein Mechanismus zur nichtmilitärischen Krisenbewältigung geschaffen werden, um parallel zu den militärischen auch die verschiedenen nichtmilitärischen Mittel und Ressourcen, die der Union und den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, zu koordinieren und ihre Wirksamkeit zu erhöhen. 1042 Vgl.: Anlage I zu Anlage IV (sic) der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 10./11. Dezember 1999 in Helsinki, in: Internationale Politik 2/2000, S.80-104, hier: S.97. 1043 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 10. / 11. Dezember 1999 in Helsinki, in: Internationale Politik 2/2000, S.80-104, hier: S. 99. „Der Generalsekretär des Rates der ja zugleich der Hohe Vertreter für die GASP war, wurde in Helsinki darauf festgelegt, den Rat bei sein Entscheidungsprozessen zu unterstützen, damit „…leistet [er, MK] einen entscheidenden Beitrag zur Effizienz und Kohärenz der GASP und zur Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik. 1044 Die Ziele der in Helsinki festgelegten Headline Goals entsprechen in etwa denen der Initiative zur Verteidigungsfähigkeit (Defence Capabilities Initiative /DCI) der NATO, welche die Kapazitäten der europäischen Bündnispartner in den Bereichen verbessern soll, die auch für die Durchführung von Krisenoperationen von Bedeutung sind. Die DCI ist das Ergebnis des NATO-Gipfels in Washington vom April 1999. Sie sollte garantieren, dass die NATO im gesamten Spektrum von Maßnahmen im Kontext humanitärer Katastrophen über Operationen zur Friedensdurchsetzung bis hin zur Kriegsführung auf jedem Schauplatz weltweit durchführen kann. Vgl.: Lübkemeier, The ESDP as a Key Project, S.12. 1045 Dazu vermerkt Rühl: “The European Council of the Chiefs of State and Government must decide on broad orientations for a truly common defence policy as well as for the application of the CFSP in general and on
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weitere Entwicklung wurde der dem finnischen Ratsvorsitz folgende portugiesische Vorsitz schließlich für das erste Halbjahr 2000 beauftragt, „…Vorschläge für die Grundsätze, die für Konsultationen mit der NATO über militärische Fragen gelten sollen und Empfehlungen für die Entwicklung der Modalitäten für die Beziehungen zwischen der EU und der NATO“1046 zu erarbeiten. In der Helsinki-Vereinbarung wurde so – zur Zufriedenheit der französischen Seite – eine gewisse „Autonomie“ der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegenüber der NATO begründet. So sollten die militärischen Operationen der Europäer ausschließlich der „politischen Kontrolle“ und „strategischen Führung“ des Rates bzw. der ihm zugeordneten politischen und militärischen Gremien unterstehen und für militärische Operationen der Europäer verstärkt nationale oder EU-Planungseinrichtungen genutzt werden. Europäische Streitkräfte sollten zunehmend in eigene Kommandostrukturen, wie etwa dem Eurokorps, eingebunden werden. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäer hatte mithin nun doch die alleinige Monopolstellung der Atlantischen Allianz in der europäischen Sicherheitsstruktur relativiert. Dies wurde auch von der deutschen Seite anerkannt, die zum künftigen sicherheitspolitischen Zusammenspiel im euro-atlantischen Raum infolge der Helsinki-Beschlüsse vermerkte: „Es wird dabei keine Duplizierung geben. […] Wir Europäer […haben nun, MK] eine gemeinsame Antwort auf die Globalisierung und die wirksame Vertretung unserer Interessen nach außen.“1047 In dieser Formulierung deckten sich die ESVP-Bestrebungen der Europäer mit der Sichtweise der Vereinigten Staaten, welche zwischenzeitlich ebenfalls Gefallen an einem Europa gefunden hatte, das eigenständig und effektiv mit bestimmten Sicherheitsherausforderungen umgehen konnte. Mehr noch aber war Washington am Zusammenhalt der Atlantischen Allianz und der Wahrung ihrer sicherheitspolitischen Vorrangstellung interessiert.1048 Es wurde daher mit Erleichterung vermerkt, dass gerade Jacques Chirac, aus Washingtoner Sicht eigentlich ein notorischer Frondeur, im Vorfeld von Helsinki wie bei dem Treffen selber Formulierungen mittrug, die die Rolle der Vereinigten Staaten für die Sicherheit Europas hervorhoben. Die EU kündigte unter anderem an, schnellstmöglich „offizielle“ Beziehungen zur NATO aufnehmen zu wollen. In den in Helsinki gefassten Beschlüssen fand sich allerdings kein Wort von einer möglichen Vetofunktion der NATO gegen ein eigenständiges Vorgehen der EU, wie man es gerade in Washington im Vorfeld gefordert hatte. specific policy objectives. It cannot decide on force structures, operational capabilities and military options in defined contingencies unless it is provided with a common European force planning and budget structure including all national inputs as well as with a common force structure including all equipments and logistical supplies available over time: No national government can make forces ready for use in conflict or prepare such forces unless its has a precise knowledge of the resources, the budgetary outlays and the financing of the expenditure as well as the force goal and procurement planning cycle, which is in general a continuing one over five years as in NATO.” Vgl.: Lothar Rühl, Conditions and options for an autonomous „Common European Policy on Security and Defence” in and by the European Union in the post-Amsterdam perspective opened at Cologne in June 1999, ZEI Discussion Paper C54 1999, S.22. 1046 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 10./11. Dezember 1999 in Helsinki, in: Internationale Politik 2/2000, S.80-104, hier: S. 102. 1047 Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur den Ergebnissen des Europäischen Rates in Helsinki vom 10./11. Dezember 1999 vor dem Deutschen Bundestag am 16. Dezember 1999, in: Bulletin der Bundesregierung vom 20. Dezember 1999. Zur Bewertung der Helsinki-Ergebnisse siehe auch: Alfred Frisch, Auf dem Weg zur europäischen Verteidigung. Erwartungen und Hindernisse, in: Dokumente 2000, S.49-54. 1048 SZ 9. Dezember 1999 „Washington klatscht skeptisch Beifall“.
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Auf dem Treffen des NATO-Ministerrates am 14./15. Dezember in Brüssel beschäftigte sich die Allianz dann mit der Frage ihres Verhältnisses zur den künftigen Einsatzverbänden der Europäischen Union. Im Tenor war man sich einig, diese als sinnvolle Ergänzung zu den bestehenden Kräften der Allianz und als Stärkung der Sicherheit im Bündnisgebiet zu begrüßen.1049 Im Vorfeld hatte der amerikanische NATO-Botschafter Vershbow, als Sprecher jener europäischen NATO-Länder, die nicht oder noch nicht der EU angehören, erklärt, die Europäer dürften nicht erwarten, dass die NATO Mittel auch dann zur Verfügung stellen werde, wenn NATO-Partner bewusst von einer Teilnahme an europäischen Missionen ausschlossen würden. Über eine Überlassung von Mitteln der Allianz würde vielmehr der NATO-Rat, dem auch die Türkei, Island, Norwegen sowie Polen, Ungarn und die tschechische Republik angehörten, jeweils im Einzelfall entscheiden.1050 Demgegenüber versuchte der EU-Kommissar für Außenbeziehungen, Christopher Patten, zu beschwichtigen, die Beschlüsse zur ESVP stellten „…keine Drohung für die NATO dar.“1051 Hierfür stehe allein schon die Personalie des Hohen Vertreters für die GASP, Javier Solana, vormals „…einer der besten NATO-Generalsekretäre“, so Patten, der seinen Namen nie für eine Politik hergeben würde, die der NATO Schaden zufügen könne. Auch sei der Helsinki-Gipfel der Durchbruch für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen EU und NATO gewesen; nun sei der Ausbau von Kapazitäten die Schlüsselaufgabe.1052 Nicht nur der EUKommission war klar, dass eine effektive europäische Politik eine enorm verbesserte Zusammenarbeit und Koordination erforderlich machen würde. Deswegen war die neue portugiesische Ratspräsidentschaft mit der fortlaufenden Arbeit an der Koordination nichtmilitärischen Krisenmanagements als Ergänzung der militärischen Strukturen beauftragt wurden. Nach Helsinki bestanden die Schwächen der GASP, aus deutscher und französischer Sicht übereinstimmend, vor allem noch in: (I.) einer unzureichend präzisen Interessendefinition der EU; (II.) dem nach wie vor dominierenden Einstimmigkeits- oder Konsensprinzip mit nationalem Vetorecht; (III.) der unzureichend geregelten Einsatzfinanzierung. Die Entscheidung des Europäischen Rats von Helsinki (Dezember 1999) zum Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) gestaltete die schon im Vertrag von Maastricht vorgesehene zweite Säule der europäischen Kooperationsprojekte aus. Ähnlich wie bei der gemeinsamen Währung war eine Aufstellungs- bzw. Implementierungsphase vorgesehen. Der European Capabilities Action Plan (ECAP) bildete dabei eine Art Konvergenzrichtlinie. Die militärischen Kräfte der Union sollten über eigene Aufklärungs-, Planungs- und Führungseinrichtungen verfügen – Einrichtungen, die zumeist von der WEU übernommen werden sollten. Allerdings war die einzelstaatliche Assignierung innerhalb des europäischen Verbundes kaum verbindlich festgelegt. Jede Kontribution zu ESVP-Operationen stand unter dem staatlichen Vorbehalt des jeweiligen Mitglieds. Auch waren gerade angesichts der zu erwartenden Erweiterungsrunden der Union und der damit verbundenen Zunahme der Akteure, die Entscheidungsverfahren innerhalb der Gremien nach wie vor zu kompliziert. Es stand zu erwarten, dass die EU in ihrer GASP/ESVP niemals als Ganzes agieren würde, sondern sich immer auf Teilmengen einzelner Mitglieder 1049
SZ 16. Dezember 1999 „NATO will Eingreiftruppe der EU nutzen können“. In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass – wenn die Europäer autonom handeln wollten – eigene institutionelle Strukturen, also auch Befehlsstränge, unabdingbar waren; vgl.: FAZ 22. Dezember 1999 „In Abstimmung mit der NATO“. 1051 Rede des EU-Kommissars für Außenbeziehungen Christopher Patten zur GASP am 16. Dezember 1999 in Berlin, in: Internationale Politik 2/2000, S.115-120. 1052 Ebenda. 1050
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abstützen müsste. Diese würden dann in einer coalition of the willing handeln. Die Zeit fester Kooperationsachsen innerhalb der Europäischen Union ging damit zu Ende. In diesen Zusammenhang passt, dass – wie auch in der Presse aufmerksam vermerkt,1053 – die Kraft für diesen „…großen Schritt vorwärts“, nicht vom deutsch-französischen Motor ausging. Es waren vielmehr Tony Blair und Jacques Chirac gewesen, die nach dem Kosovo-Krieg und der hier erneut gemachten Erfahrung der militärischen Unzulänglichkeit der Europäer das Tempo forciert hatten. 3.10 Mittelbereitstellungen und Führungsfragen Die Planungsziele des Europäischen Rates von Helsinki bestimmten den weiteren Gang des deutsch-französischen Dialogs zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Paris – im engen Verbund mit der britischen Regierung – drängte den deutschen Partner, den investiven Anteil seines Verteidigungshaushaltes auf ein vergleichbar hohes Niveau wie in Frankreich und Großbritannien zu erhöhen. Bei einem Treffen der EU-Verteidigungsminister im portugiesischen Sintra am 28. Februar 2000 schlug Alain Richard vor, jedes Mitgliedsland solle mindestens 0,7% seines Bruttoinlandsproduktes für investive Militärausgaben bereitstellen. Nur so könne der in Köln und Helsinki beschlossene Umfang der ESVP überhaupt erreicht werden.1054 Die deutsche Seite reagierte reserviert, vornehmlich aufgrund einer angespannten Haushaltslage, aber auch, weil man in Berlin eine ausschließliche Fokussierung der ESVP auf militärische Kapazitäten ablehnte.1055 Vielmehr legte man den Schwerpunkt ebenso auf einen parallel-erfolgenden, gleichwertigen Ausbau der nichtmilitärischen Krisenreaktionsfähigkeiten. Dies stand in enger Anbindung an die traditionell von deutscher Seite vertretende Auffassung, die ESVP stelle in erster Linie eine Ergänzung der bestehenden Strukturen der NATO dar – nicht deren Ersatz. Daher sollte sich die ESVP auch nicht allein nur um das bemühen, was in der NATO ohnehin schon vertreten war: militärisches Potenzial.1056 Berlin folgte unverändert der Sichtweise der Atlantischen Allianz, die nach den Worten des NATO-Generalsekretärs George Robertson das neue Koordinationsverhältnis zwischen den Europäern und seiner Organisation als die stärkste „Ergänzung“ der eigenen Fähigkeit bezeichnete, um „…das strategische Umfeld zum Besseren zu beeinflussen.“1057 1053
Die Welt 9. Dezember 1999 „Bis 2002 soll die Eingreiftruppe der EU stehen“; SZ 9. Dezember 1999 „Brüssel bläst zum Sammeln“; sowie: Le Monde 12./13. Dezember 1999 « L’Europe-puisance » . Für Deutschland hätte dies eine Verdopplung der entsprechenden Mittel im Verteidigungshaushalt zur Folge gehabt. 1055 Rudolf G. Adam, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nach dem Europäischen Rat von Nizza, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002. S.134-148, hier: S.141. 1056 Nach der – am Wortlaut der Beschlüsse des Europäischen Rates von Köln orientierten – Berliner Lesart, griff die ESVP, im Gegensatz zur GASP, nur „…in den Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht beteiligt ist“ – also in der Ausnahme. Dies räumte der ESVP geradezu automatisch eine nachgeordnete Stellung ein, zumal eigene militärische Operationen der Europäer ohne den Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO mittel- bis langfristig nur als eine theoretische Option zu sein schienen. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Informationsbroschüre der Bundesregierung, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Mai 2004, S.20. 1057 Ansprache von NATO-Generalsekretär George Robertson vor der Konferenz „Défense Européenne: Le concept de convergence“ am 29. März 2000 in Brüssel, in: Internationale Politik 4/2000, S.131-134. Roberton führte hier aus: „Sie [die Kooperation zwischen NATO und EU, MK] wird uns nicht nur in die Lage verset1054
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Mit dem Voranschreiten der Arbeiten an der ESVP stellte sich für Deutschland und Frankreich mehr und mehr die Frage nach Abstimmungsmodalitäten innerhalb der Europäischen Union – ja, generell nach den Entscheidungsverfahren und dem Rangverhältnis von einzelstaatlichem gegenüber dem koordinierten Vorgehen. Gerade dieser Punkt war dabei eng verknüpft mit der eigentlichen Zielperspektive der EU. Frankreichs Premierminister Lionel Jospin sprach im Mai 2000 in diesem Kontext davon, dass die „europäischen“ Angelegenheiten für sein Land keine „ausländischen“ Angelegenheiten mehr seien; die europäische Debatte stehe nicht mehr außerhalb der nationalen – auch wenn Frankreich weiterhin voll und ganz existieren würde.1058 Gerade deshalb, so der Premierminister weiter, müsse aber über eine tiefgreifende Reform der Institutionen der EU nachgedacht und die Ausarbeitung einer europäischen „Verfassung“ ins Auge gefasst werden.1059 Auch Bundesaußenminister Joschka Fischer befasste sich in seiner Rede vor der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000 mit diesem Thema. Die Erweiterung der EU werde, so Fischer, eine grundlegende Reform der europäischen Institutionen unverzichtbar machen, da der Europäische Rat mit seinen derzeitigen Entscheidungsstrukturen für eine Erweiterung auf bis zu dreißig Teilnehmer nicht geeignet sei.1060 Als Lösung benannte Fischer den Übergang vom bisherigen Zustand der Union hin zu einer vollen Parlamentarisierung der Gemeinschaft. Diese solle sich zu einer Europäischen Föderation weiterentwickeln. Obwohl der deutsche Außenminister in diesem Zusammenhang von einer „Souveränitätsteilung“ sprach, wollte er den von ihm angedachten Schritt nicht als Abschaffung der Nationalstaaten verstanden wissen. Denn auch für das finale Föderationssubjekt bleibe der Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen unersetzlich.1061 Ein möglicher Zwischenschritt hin zur Vollendung der politischen Union könnte aber die Bildung eines Gravitationszentrums sein.1062 Dieser Vorschlag stieß beim französischen Partner auf verhaltene Aufnahme. Fischers französischer Amtskollege Hubert Védrine entgegnete, die Schaffung einer Föderation würde zu den bestehenden drei Gewaltebenen in Europa (I. die Gebietskörperschaften, II. den Nationalstaaten, III. der Europäischen Union) eine vierte hinzufügen und so – wo die zen, bei der Umsetzung europäischer Sicherheit und Verteidigung einen Quantensprung zu machen, sondern sie wird auch einen wohltuenden Einfluss über die ESVI hinaus ausüben, beispielsweise in der Politik dieser beiden Institutionen gegenüber Russland, der Erweiterung oder dem Mittelmeerraum, um nur wenige strategische Interessen zur nennen, die unsere beiden Organisationen teilen.“ 1058 Rede des französischen Premierministers Lionel Jospin zu den Prioritäten der französischen Ratspräsidentschaft vor der Nationalversammlung am 9. Mai 2000 in Paris, in: Internationale Politik 8/2000, S.97-100. Ähnlich argumentierte auch der britische Premierminister Tony Blair, der das Engagement Großbritanniens für Europa als zentrales Anliegen seiner Regierung wertete: „An meiner Meinung, dass es Großbritanniens Schicksal ist, ein führender Partner in Europa zu sein, halte ich fest. Das ist richtig für Großbritannien und das ist richtig für Europa. Das ist ein zentrales Ziel dieser Regierung.“ vgl.: Die Rede des britischen Premierministers Tony Blair am 23. Februar 2000 im belgischen Gent. 1059 Rede des französischen Premierministers Lionel Jospin zu den Prioritäten der französischen Ratspräsidentschaft vor der Nationalversammlung am 9. Mai 2000 in Paris, in: Internationale Politik 8/2000, S.97-100. 1060 Rede von Bundesaußenminister Joschka Fischer vor der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000, in: Internationale Politik 8/2000, S.100-108. 1061 Ebenda. Allerdings war für Fischer der Nationalstaat lediglich eine Art Trägerkonstrukt, „…um eine von den Menschen in vollem Unfang akzeptierte Bürger- und Staatenunion zu legitimieren.“ 1062 Die sich im Gravitationszentrums befindende Staatengruppe würde einen neuen europäischen Grundvertrag schließen, die Vorstufe einer Föderationsverfassung. Auf der Basis dieses Grundvertrages würde sich die zuvor definierte Staatengruppe eigene Institutionen geben, etwa eine Föderationsregierung, die innerhalb der EU zu möglichst vielen Fragen für die Teilnehmerländer sprechen sollte, oder ein starkes Parlament mit einem direkt gewählten Präsidenten.
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Bürger Europas eigentlich mehr Klarheit, Einfachheit und Verständlichkeit verlangen würden – lediglich zusätzliche Strukturen anhäufen und Zuständigkeiten schaffen, „…die wahrscheinlich noch unüberschaubarer wären als heute.“1063 Auch einem Erlöschen der nationalen Bezugsebene, wie sie Fischer indirekt ja doch erwogen hatte, trat Védrine entschieden entgegen: anders als in den Vereinigten Staaten gäbe es in Europa schließlich zutiefst unterschiedliche Nationen.1064 Gewogener zeigte sich Paris allerdings dem im Raum stehenden Vorschlag, innerhalb der Union unter bestimmten Umständen die Bildung einer Art „Avantgarde“ von Mitgliedstaaten zuzulassen, deren politische Kooperation intensiver war als die der übrigen Mitglieder – wohl auch, weil es hier Anknüpfungspunkte an die überkommende französische Vorstellung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten gab. Wieder einmal zeigte sich so, dass – anders als die Bundesrepublik – Frankreich die Politische Union der Europäer ohne den Verzicht auf ihre wichtigsten Souveränitätsrechte betreiben wollte. Derweil hatte das Hauptquartier des Eurokorps die militärische Führung der KFORTruppe im Kosovo vom NATO-Kommandobereich Europa-Mitte (LANDCENT) übernommen. Ein Schritt, der namentlich von Washington als ein Beispiel für die pragmatische neue ergebnisorientierte Arbeitsteilung mit den europäischen Partnern gewertet wurde. Die neue Rolle des Eurokorps als Krisenreaktionskorps der EU war auch Gesprächsgegenstand auf der Tagung des WEU-Ministerrates am 15./16. Mai 2000 in Porto. Die WEU begrüßte hier ausdrücklich die Ende 1999 von den fünf Eurokorps-Mitgliedstaaten im Zuge der Umsetzung der Köln-Beschlüsse durchgeführten Maßnahmen zur Transformation des Korps und vornehmlich seiner Stabskomponenten hin zu einer Europäischen Krisenreaktionstruppe.1065 Zufrieden zeigte man sich hier auch mit dem von der Europäischen Union erzielten Fortschritt bei der Durchführung der Beschlüsse der Europäischen Räte von Köln und Helsinki zur Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik. Die reibungslose Überführung der WEU-Kapazitäten wurde in Aussicht gestellt. Damit übertrug die WEU ein knappes Jahr nach den sicherheitspolitischen Beschlüssen des Kölner Gipfels wesentliche Aufgaben an die Europäische Union. Bei der Umsetzung dieses Prozesses sah man sich nach den Worten von Roland Wegner, dem stellvertretenden Generalsekretär der WEU, genau im Zeitplan.1066 Im Verlauf des Sommers sollten am Sitz der Union in Brüssel der Zivil- und der Militärstab ihre Arbeit aufnehmen; Teile des WEU-Personals wechseln dazu zur Europäischen Union. Eine vollständige Auflösung der WEU war allerdings nicht geplant, da der sie begründende Vertrag – analog dem Washingtoner Grundsatzpapier der NATO – eine Beistandsverpflichtung enthielt, die innerhalb der entsprechenden Vertragswerke der Europäer sonst nicht vorhanden war. Von französischer Seite wurde die Überführung der WEU-Kompetenzen an die EU eng mit der Forderung nach der zeitnahen Errichtung einer europäischen Interventionsstreitmacht verknüpft,
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Schreiben des französischen Außenministers Hubert Védrine an den deutschen Außenminister Joschka Fischer vom 8. Juni 2000, in: Internationale Politik 8/2000, S.108-112. 1064 Ebenda. Zu den französischen Reaktionen vgl. weiterführend: Henri Ménudier, Le discours de Joschka Fischer, in: Documents 3/2000, S.10-17, insbesondere: S.12-16. 1065 Erklärung des WEU-Ministerrats am 15./16. Mai 2000 in Porto, in: Internationale Politik 1/2001, S.85-90. Die Minister begrüßten ferner die, von den fünf Eurokorps-Staaten angebotene Möglichkeit, sich an den Aktivitäten des Korps und an möglichen Einsätzen zu beteiligen. Hierzu sollten u.a. Verbindungsoffiziere in das Eurokorps-Hauptquartier in Straßburg abgeordert werden. 1066 Handelsblatt 15. Mai 2000 „Die Westeuropäische Union gibt wesentliche Aufgaben an die EU ab“.
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wobei als konkretes Einsatzszenario die Balkanregion genannt wurde.1067 In diesem Zusammenhang tauchte abermals auch der Begriff „Europe puissance“ auf. Zur Erreichung dieser Zielsetzung war man in Paris nach wie vor gewillt, den engen Schulterschluss mit Großbritannien zu suchen – zumal der deutsche Partner bei der ESVP augenscheinlich vermehrt eine andere Schwerpunktsetzung verfolgte. Verteidigungsminister Richard ließ unmittelbar vor dem 75. französisch-deutschen Gipfel am 9. Juni 2000 in Mainz verlautbaren, die Frage nach einer bevorzugten Verteidigungspartnerschaft seines Landes mit Deutschland stelle sich nicht. Vielmehr habe sich gerade Großbritannien in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik seit 1998 zu einem „ständigen und zuverlässigen Partner“ Frankreichs entwickelt. Britische und französische Verteidigungsstrukturen würden über zahlreiche gemeinsame Elemente verfügen, was eine Zusammenarbeit erleichtere.1068 Neben der Wiedergabe einer sich verfestigenden französischen Perzeption, sollte diese Kommentierung Richards auch dazu dienen, den deutschen Partner bei den anstehenden Gesprächen zu konkreten Beschlüssen zu drängen. Die in Mainz gefassten Beschlüsse erfüllten dann auch im Wesentlichen die französischen Erwartungen. Die deutsche Seite stimmte hier mit Blick auf das neue militärische Transportflugzeug der Europäer dem EADS-Konzept zu – ähnlich wie dies zuvor schon Großbritannien, Frankreich und Spanien getan hatten. Der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat stellte diese Entscheidung ausdrücklich in die Kontinuität des in Helsinki gefassten Beschlusses, auf längere Sicht eine europäische strategische Luftflotte zu bilden. Die Entscheidung für den Airbus A-400M, von dem beide Länder einen operativen Bedarf von je etwa 75 und 50 Flugzeugen hätten, sollte die gemeinsame Fähigkeit im Bereich des militärischen Lufttransport stärken.1069 Bundeskanzler Schröder betonte, dass dieser Beschluss mit der Hoffnung verbunden sei, dass die Auftragsvergabe an EADS positive Auswirkungen auf den Zivilsektor, konkret auf die Airbus-Gruppe habe.1070 Ebenfalls wurde der Aufbau eines unabhängigen europäischen satellitengestützten Aufklärungsverbundes vereinbart, wobei Deutschland – in Kooperation mit den Vereinigten Staaten – ein allwetterfähiges Radarsatellitensystem beschaffen und Frankreich sein optisches Satellitensystem beisteuern wollte.1071 Hervorgehoben wurden auch die Erfolge bei der Weiterentwicklung des Eurokorps zu ein Krisenreaktionskorps. Der Einsatz von Teilen des Korpsstabes im Rahmen der KFOR-Mission der NATO im Kosovo habe den Nachweis für die Verbesserung der europäischen Fähigkeiten zur Krisenbewältigung erbracht.1072
1067
Financial Times 31. Mai 2000 „Chirac calls for European rapid reaction force“; Le Figaro 31. Mai 2000 « Chirac pour une Europe concrète ». 1068 Demgegenüber seien die Erfahrung der Bundeswehr in internationalen Kriseneinsätzen nur gering; vgl.: FAZ 8. Juni 2000, Interview mit Alain Richard: „Richard: Großbritannien interessanter als Deutschland“ sowie FAZ 9. Juni 2000: „Richard: Inhalt korrekt wiedergegeben“. 1069 Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates vom 9. Juni 2000, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.399-400. 1070 Bundeskanzler Schröder in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Jospin anlässlich des 75. deutsch-französischen Gipfels am 9. Juni 2000 in Mainz, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.395-399. 1071 Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates vom 9. Juni 2000, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.399-400. 1072 Ebenda. Teile des Generalstabes des Eurokorps führten im Jahr 2000 für sechs Monate den NATO-Einsatz im Kosovo. Das Hauptquartier des Korps entsandte hierzu rund 370 Soldaten, überwiegend reines Führungspersonal, in das NATO-Einsatzstab in Pristina.
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Mit Blick auf die institutionellen Aspekte der ESVP kamen Deutschland und Frankreich in Mainz in dem Ziel überein, die Europäische Union sobald wie möglich mit den notwendigen permanenten Strukturen auszustatten. Dabei stelle die Implementierung der beim Europäischen Rat in Helsinki festgelegten Zielsetzungen für die militärischen Fähigkeiten die Priorität dar, auf die sich die Glaubwürdigkeit der Aktionen der Europäischen Union gründen würde. Wichtiger Einzelaspekt hierbei war die Einigkeit darüber, im Rahmen der EU das gemeinsame Verständnis zur ESVP sowie zu einer gemeinsamen Ausbildung zivilen und militärischen Führungspersonals zu fördern. In diesem Sinne sollten konkrete Vorschläge für die Schaffung eines Schulungskollegs erarbeitet werden, die den europäischen Partnern dann zur Abstimmung vorgelegt werden sollten.1073 Insgesamt zeigten sich beide Seiten mit dem in Mainz Erreichtem zufrieden.1074 In den wesentlichen Fragen, gerade jenen, wie man neue Formen der vertieften Zusammenarbeit auf dem Feld der ESVP organisieren könne, sei man sich „ausnahmslos“ einig, so Bundeskanzler Schröder.1075 Diese Bewertung ignorierte jedoch den eigentlich bestehenden Zielkonflikt zwischen Berlin und Paris über den Art, Umfang und Wirkungsrahmen des „Europas der Verteidigung“. Nach französischer Lesart ging es bei diesem Projekt keinesfalls um eine passive Verteidigungsvorsorge in Analogie zum Art. 5 Washingtoner Vertrag, sondern um militärische Interventionsplanung mit weltweitem Geltungsanspruch. Gerade dies stand jedoch dem Interesse Deutschlands entgegen. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000 griff Präsident Chirac diese Zielvorgabe der ESVP unter dem bekannten Stichwort „Europe puissance“ auf.1076 Dieses Europa müsse über solide Institutionen und einen effizienten und legitimen Entscheidungsmechanismus verfügen, bei dem das Mehrheitsvotum seinen angemessenen Platz habe und der zugleich das jeweilige Gewicht der Mitgliedstaaten widerspiegle.1077 Hierzu hatte – wenige Tage zuvor – der Europäische Rat von Feira erklärt, gerade der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten komme im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der GASP/ESVP zentrale Bedeutung zu. Zweites Standbein sei die Sicherstellung der erforderlichen Transparenz im Dialog zwischen der Union und der NATO, da der Rückgriff auf das einschlägige Fachwissen der Allianz unabdingbar sei.1078 Hieran anknüpfend erklärte Frankreichs Außenminister Védrine nun, die Europäische Union müsse außen-
1073
Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates vom 9. Juni 2000, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.399-400. 1074 Handelsblatt 13. Juni 2000 „Paris und Berlin über EU-Reform einig“. 1075 Demgegenüber sprach der deutsche Regierungschef mit Blick auf die institutionellen Reformen, wie beispielsweise die Frage der Zahl der Kommissare oder jene der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, jedoch lediglich nur von „Übereinstimmungen“ zwischen Deutschland und Frankreich; vgl.: die Ausführungen von Bundeskanzler Schröder in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Jospin anlässlich des 75. deutsch-französischen Gipfels am 9. Juni 2000 in Mainz, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.395-399. 1076 Rede von Staatspräsident Jacques Chirac vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000, in: kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.477-481. 1077 Ferner plädierte Chirac vor dem Deutschen Bundestag dafür, mittelfristig einen neuen EU-Vertrag zu erarbeiten, „…den wir dann als erste ‚europäische Verfassung’ bezeichnen könnten“. Dazu sollte unter anderem eine „Pioniergruppe“ (groupe pionier) bestimmter EU-Mitgliedstaaten gebildet werden, welche die Vertiefung der Integration schneller und weiter vorantreiben könnte als die übrigen Mitglieder. Als Zentrum dieser Pioniergruppe sah Chirac Frankreich und Deutschland. 1078 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates am 19./20. Juni 2000 in Feira/Portugal, in: Internationale Politik 8/2000, S.115-123.
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und sicherheitspolitisch eigenständig handeln und so eine Hauptrolle im internationalen System spielen. Denn. Die EU sei sowohl Modell als auch Akteur der Globalisierung.1079 Das am 30. Juni 2000 in Paris vorgestellte Programm für die französische EURatspräsidentschaft im zweiten Halbjahr des Jahres 2000 war ebenfalls von diesem Geist geprägt. Ausgehend von der Grundüberlegung, dass der Aufbau eines politischen Europas ohne eine Dimension der Sicherheit und der Verteidigung unvollständig sei, beabsichtigte der französische Vorsitz mit dem projektierten Unions-Vertrag von Nizza, das bereits zur Verfügung stehende Instrumentarium um eine autonome Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung zu erweitern.1080 Mit Blick auf die militärischen Strukturen der Europäer solle man zügig voranschreiten. Der Eintritt in das angedachte Endstadium, in welchem die Europäer mit einem eigenem Militärstab und einem politischen und militärischen Lagezentrum arbeiteten könnten, sollte so bald wie möglich geschehen.1081 Die Stärkung der militärischen Fähigkeiten der Europäer habe – nach den Worten von Verteidigungsminister Richard1082 – direkte Auswirkungen auf das Atlantische Bündnis und würde zu einer Modernisierung und Neuausrichtung ihres inneren Gleichgewichts führen. Auch hinsichtlich des „Europas der Rüstung“ war man bestrebt, nachhaltige Fortschritte zu erzielen. Die Anstrengungen um eine Koordinierung der einzelstaatlichen Politiken sollten verstärkt, die industrielle und technologische Basis der europäischen Verteidigung ausgebaut werden. Hierzu benannte die französische Seite drei konkrete Handlungsfelder: (I.) Zusammenschlüsse der einzelstaatlichen Industrien: Aufbauend auf den bestehenden Kooperationen in Einzelbereichen der Luft- und Raumfahrt sowie der Elektronik sollten in den Jahren 2001/02 die ersten europäischen Zusammenschlüsse in der „traditionellen“ Rüstungsindustrie entstehen. (II.) Auf Grundlage der gemeinsamen Rüstungsgüter (Hubschrauber Tiger und NH-90, Transportflugzeug A400M, Marine-Fregatten, Raketensysteme etc.) sollten neue gemeinsame Projekte aufgelegt werden. (III.) Dieses sollte schließlich durch eine nach Möglichkeit gesamteuropäisch koordinierte Neuorganisation der Beschaffung von Rüstungsgütern harmonisiert werden.1083 Das Programm der französischen Ratspräsidentschaft belegte so das ungebrochene Bestreben, ein sicherheits- und verteidigungspolitisch autonom handlungsfähiges Europa erreichen zu wollen, welches die Voraussetzung dafür bot, dass das Verhältnis Frankreichs zur NATO und mehr noch zu den
1079
Außenminister Védrine in seinem Pressebeitrag zur französischen Ratspräsidentschaft: “On Course of the French Presidency of the European Union“, veröffentlicht in verschiedenen europäischen Zeitungen, so u.a. in der Financial Times am 28. Juli 2000. 1080 Programm der französischen EU-Ratspräsidentschaft vom 30. Juni 2000 (Auszüge), in: Internationale Politik 8/2000, S.131-136. Überhaupt war es Anspruch der französischen Ratspräsidentschaft, „…alles daransetzen, dass die Konferenz auf der Tagung des europäischen Rates in Nizza im Dezember zu einer befriedigenden Einigung gelangt.“. 1081 Ebenda. 1082 Vgl. das Interview von Alain Richard mit der Tageszeitung Le Monde am 22. September 2000. 1083 Hierzu setzte sich Frankreich für die Schaffung eines gemeinsamen Amts für Rüstungskooperation (ARKO) ein, welches seit Januar 2001 eine juristische Person ist. Das ARKO (Amt für Rüstungskooperation) soll Regularien der Wehrbeschaffung der einzelnen EU-Mitglieder harmonisieren. Zugleich strebte man nach der Schaffung eines gemeinsamen Trägers für die Forschungspolitik. Alain Richard bezeichnete es in diesem Zusammenhang als „erstaunlich“, dass das nichtmilitärische Europa verfügt über gemeinsame Forschungsinstrumente verfüge, das Europa der Verteidigung aber bisher nicht. Vgl. das Interview von Alain Richard mit der Tageszeitung Le Monde am 22. September 2000.
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Vereinigten Staaten als deren Führungsmacht in eine „symmetrische Struktur“ überführt wurde.1084 Große Beachtung in Berlin und Paris fand der am 28. Juli 2000 durch die, im postHelsinki-Prozess installierte „Headline Goal Task Force“ (HGTF) vorgelegte, militärische Bedarfskatalog für die EU. Dieser listete im Detail auf, welche Anforderungen an Soldaten, Material und militärischer Infrastruktur die Europäer für ihre geplante Schnelle Eingreiftruppe benötigten. Die Arbeitsgruppe aus Militärexperten aller 15 Mitgliedstaaten hatte die einzelstaatlichen Auffassungsunterschiede zu dem Themenkomplex weitgehend überwunden. Der gemeinsame Anforderungskatalog stützte sich – zum Aufbau der relevanten Infrastruktur – u.a. auf die bereits in der Umsetzung befindende Installation bisheriger WEUEinrichtungen in Form von Agenturen bzw. Gremien der EU. Zur Koordination war darüber hinaus ein umfassendes Netzwerk von (Ad hoc-)Arbeitsgruppen für die Behandlung von Detailfragen vorgesehen. In Paris wertete man den Anforderungskatalog als dienliches Instrument auf dem Weg zu einer glaubhaften ESVP. Zugleich verwehrte man sich aber gegen den Eindruck, die europäische Verteidigungszusammenarbeit solle als Brüsseler Gemeinschaftsprojekt angelegt werden. Vielmehr, so Verteidigungsminister Richard, müssten militärische Entscheidungen auch auf lange Sicht strikt intergouvernemental gefasst werden.1085 In diesem Zusammenhang wurde vom Elysée-Palast auch ein Konzept vorgetragen, welches Pierre Lellouche schon im Jahr 1995 skizziert hatte: Danach sollten nur Staaten, die zu einem militärischen, aber auch politischen Einsatz in der Lage bereit seien, an Entscheidung zur ESVP teilnehmen. Das so definierte und in Form einer Arbeitsgruppe des Europäischen Rats organisierte Gremium hätte die Aufgabe, die politische Entscheidung für oder gegen einen Kriseneinsatz zu treffen und würde dann ggf. die politische Leitung dieses Einsatzes übernehmen.1086 In Deutschland suchte man mit Blick auf die ESVP im Herbst 2000 ebenfalls nach dem entscheidenden Durchbruch. Verteidigungsminister Rudolf Scharping deutete auf einer Pressekonferenz einen umfassenden deutschen Beitrag zur europäischen Eingreiftruppe an. Bis zu 18.000 Soldaten aus allen drei Teilstreitkräften, also nahezu ein Drittel des gesamten Verbandes, wolle man stellen.1087 Zehn Jahre nach der Indienststellung der DeutschFranzösischen Brigade im Oktober 1990, die zunächst ja vornehmlich als Zeichen des engen Zusammenschlusses beider Länder konzipiert worden war, weitete sich jetzt der Blick merklich über den bilateralen Rahmen hinaus. Hiervon zeugte auch der 76. deutsch-französische Gipfel in Vittel am 10./11. November 2000. Deutschland und Frankreich brachten in der zum Abschluss des Gipfels vorgelegten „Erklärung von Vittel“ des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass es keine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ohne die Entwicklung einer echten europäischen Sicherheitskultur geben könne.1088 Die zur Entwicklung einer solchen gemeinsamen Kultur erforderlichen Mittel – insbesondere für die Ausbildung des zivilen und militärischen Führungspersonals – hatten beide Partner in einem Konzept für ein Europäisches Sicherheitskolleg festgelegt, welches 1084
Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.204. FAZ 22. September 2000 „Die Verteidigungszusammenarbeit nimmt Gestalt an“. Lellouche, Das Eurokorps in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, S.82. 1087 FAZ 25. September 2000 „Fortschritte beim Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe. Scharping: Einsatzfähig bis 2003 / Paris über mögliche Rückgriffe auf Mittel der NATO besorgt“. 1088 Deutsch-Französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat „Erklärung von Vittel“ vom 10. November 2000, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S..405-407. 1085 1086
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den anderen EU-Mitgliedern zeitnah vorgelegt werden sollte. Mit Blick auf die effiziente Inkraftsetzung der zivilen und militärischen Fähigkeiten der ESVP bekräftigten die beiden Partner ihren Willen, darauf hinzuwirken, dass auf dem Europäischen Rat von Nizza im Dezember und in Übereinstimmung mit dem Mandat der Ratsergebnisse von Feira die Entscheidung zur Schaffung der erforderlichen ständigen politischen und militärischen Strukturen für die Krisenbewältigung getroffen werden konnten.1089 Zufriedenheit bestand in diesem Kontext über den Erfolg des Einsatzes des Stabes des Eurokorps in Kosovo: Durch die Bereitstellung des Korpsstabes für einen NATO-Einsatz hätte die militärische Einsatzbereitschaft der Europäer aufgezeigt werden können. Dabei sei auch bestätigt worden, dass die Verbesserung der europäischen Fähigkeit nicht nur der Europäischen Union, sondern auch dem Atlantischen Bündnis diene. Dies käme der Vitalität der transatlantischen Bindungen zugute. Wesentliches Ergebnis von Vittel war also der erneut enge Schulterschluss von Deutschland und Frankreich hinsichtlich der institutionellen Verfestigung der ESVP im projektierten EU-Vertrag von Nizza. Staatspräsident Chirac sprach daher nicht zu unrecht davon, dass von beiden Partnern seit dem bilateralen Gipfel von Toulouse im Frühjahr 1999 bis zum jetzigen Treffen in Vittel und darüber hinaus zum Gipfel in Nizza „…ein ständiger Impuls“ ausgehen würde.1090 Allerdings bestanden auch die tradierten Auffassungsunterschiede zwischen Berlin und Paris über grundlegende Charakteristika der ESVP unverändert fort. Zentrales Unterscheidungsmerkmal war dabei das deutscherseits unvermindert verfolgte Leitprinzip, die Europäische Union nur dann handeln zu lassen, wenn sich das Nordatlantische Bündnis als Ganzes nicht militärisch engagieren wolle.1091 Zwischen dem Gipfel von Vittel und dem Europäischen Rat von Nizza Anfang Dezember einigten sich die EU-Mitgliedstaaten auf ihrer sog. Beitragskonferenz (Capabilities Commitment Conference/CCC) am 20. November 2000 in Brüssel verbindlich darauf, in welchem Umfang sie jeweils militärische Verbände für das in Helsinki beschlossene headline goal bereit stellen wollten.1092 Dieses hatte bekanntermaßen eine Schnelle Eingreiftruppe in der Stäke von 60.000 Mann vorgesehen. Auf der Brüsseler Commitment Conference wurde das in Helsinki veranschlagte Ziel ausdrücklich bestätigt und sogar eine Aufstockung auf 90.000 Soldaten ins Auge gefasst. Hinzu sollte ferner eine entsprechend große Personal-Reserve treten, um einen dauerhaften Einsatz zu garantieren. Der Gesamtumfang der zu stellenden Einheiten wurde jetzt auf rund 150.000 Soldaten beziffert. Berlin bekräftige seine Absicht, rund 30.000 Soldaten beizusteuern, während Paris zunächst keine kon1089
Ebenda. Staatspräsident Chirac in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Premierminister Jospin und Bundeskanzler Schröder anlässlich des 76. deutsch-französischen Gipfels am 10./11. November 2000 in Vittel, in: Kimmel/Jardin, Deutsch-französische Beziehungen, S.401-404. Während der Gipfelkonsultationen wurde zudem die Unterzeichnung einer Verwaltungsvereinbarung vorgenommen, die die Einrichtung des gemeinsamen Ausbildungszentrums für Piloten des Hubschraubers Tiger in Le Luc in der Provence ermöglichte. 1091 So in aller Deutlichkeit auch der Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat in seiner Rede auf der 38. Kommandeurstagung der Bundeswehr am 13. November 2000. Deutsche Streitkräfte blieben demnach unverändert in drei Zusammenhänge eingebettet: (I.) Im Rahmen der im Laufe der 1990er Jahre etablierten, multinationalen Korpsstruktur (CJTF-Konzept) der NATO. (II.) Im europäischen, sowie (III.) im nationalen Verbund. Letzteres manifestierte sich vornehmlich in dem in Potsdam stationierten Streitkräfteführungskommando. Mit der Schaffung dieser „nationalen Führungsfähigkeit“ ist erstmals eine bedeutende Weiterentwicklung in der Kommandostruktur der Bundeswehr unternommen worden. 1092 Council, General Affairs/Defence, Military Capabilities Commitment Declaration, press Release, Brüssel, 20. November 2000, No.: 13427/2/00. 1090
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krete Truppenzahl nannte. Die Commitment Conference identifizierte außerdem noch weitere auszugleichende Defizite in den militärischen Kapazitäten der Europäer1093 und erklärte förmlich, diese mittelfristig überwinden zu wollen. Damit waren wichtige Schritte in Richtung ESVP getan, wenngleich eine konkrete Verortung offen blieb. Sowohl in Berlin und Paris als auch innerhalb der NATO war man mit dieser jüngsten Entwicklung der sich konkretisierenden ESVP merklich zufrieden.1094 3.11 Die deutsch-französische Sicherheitskooperation wird in den europäischen Rahmen überführt Der unter französischer Präsidentschaft vom 7. bis 9. Dezember 2000 in Nizza stattfindende Europäische Rat setzte mit den hier formell beschlossenen Änderungen des Titel V EUVertrag – des GASP-Kapitels – den Schlussstein der Konkretisierungsarbeiten zur GASP/ESVP.1095 Im Vorfeld waren bereits alle wesentlichen Punkte geklärt worden, was die Abstimmung ebenso vereinfachte wie der Umstand, dass in Nizza vornehmlich über die Größe und Zusammensetzung der EU-Kommission sowie über die Stimmengewichtung im Europäischen Rat diskutiert wurde. Alain Richard erklärte daher, die Behandlung der GASP/ ESVP-Punkte hätte in Nizza kaum mehr als „fünf Minuten“ in Anspruch genommen. Mit den in Nizza indossierten neuen ESVP-Strukturen schufen sich die Europäer sicherheitspolitische Handlungskapazitäten, die die Europäische Union – in Verbindung mit den auf dem Gipfel von Feira ebenfalls deutlich ausgebauten nicht-militärischen Konfliktpräventionsstrukturen – von der formellen Grundlage her wie keine andere zwischenstaatliche Organisation zur Krisenbewältigung befähigte.1096 Dabei wurden im Vertrag von Nizza faktisch nur drei Artikel des einschlägigen Titel V EU-Vertrag neu gefasst. Zunächst strich (I.) Art. 17 EUV (Nizza-Vertrag/NV)1097 mit Blick auf ihre faktische Inkorporierung alle operativen Bezüge zur WEU; die EU war nunmehr vollständig selbstständig befähigt, Missionen des Petersberg-Spektrums durchzuführen.1098 In diesem Kontext von Bedeutung ist der Aspekt, dass eine Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung, wie sie Art. V WEUVertrag enthält, nicht in den EU-Vertrag übernommen wurde. Dieses sollte erst mittel- bis langfristige Zielperspektive sein (Art.17 I EUV). Da man aber nicht hinter die bestehende Beistandspflicht zurückfallen wollte, wurde die Westeuropäische Union als vertragliche
1093
Diese lagen vornehmlich in den Bereichen Strategischer Lufttransport, Aufklärung, Führungsfähigkeit und Interoperabilität. Ferner sollten eine Reihe europäischer Führungsoptionen für EU-geführte Operationen unter Fortschreibung der Rolle des DSACEUR identifiziert werden, damit dieser seine europäischen Aufgaben uneingeschränkt und effektiv übernehmen könne; vgl.: Kommuniqué de Treffens des Nordatlantikrats am 5. Dezember 2000 in Brüssel, in: NATO Press Communique M-DPC/NPG-2(2000)115 vom 5. Dezember 2000. 1095 Vgl. hierzu allgemein: Maxim Kleine, Die militärische Komponente der ESVP im Vertrag von Nizza und im Entwurf der Verfassung für Europa, in: Dieter Weingärtner (Hrsg.), Der Einsatz der Bundeswehr im Ausland. Rechtsgrundlagen und Rechtspraxis, Baden-Baden 2007, S.17-27. 1096 Regelsberger, Die GASP, S.42-44. 1097 Klaus-Dieter Borchardt (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag. Textfassung nach dem Vertrag von Nizza, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage, Köln 2001. 1098 Die WEU taucht jetzt nur noch neben der Atlantischen Allianz als Bezugsrahmen für eine engere bilaterale Zusammenarbeit von EU-Mitgliedstaaten auf (Art. 17 IV EUV (NV)). 1094
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Hülle beibehalten.1099 Zentraler Aussagegehalt des neu gefassten Art. 17 EUV war – neben der operativen Befähigung der Union – die Würdigung des „…besonderen Charakters der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“. Hierfür war insbesondere die deutsche Seite eingetreten, da sie sich hiervon eine Wahrung der Beistandsverpflichtung im Atlantischen Bündnis erhoffte. Die angestrebte gemeinsame Verteidigung der Union dürfe entsprechenden anderweitigen Verpflichtung einiger Mitgliedstaaten nicht zuwider laufen, wobei die NATO ausdrücklich genannt wird (Art. 17 I EUV). Neu eingefügt in das europäische Vertragswerk wurden (II.) die Art. 27 a-e EUV zur verstärkten Zusammenarbeit in der GASP/ESVP. Orientiert an früheren deutschfranzösischen Vorschlägen für die Regierungskonferenz von Amsterdam1100 galt bei den Verhandlungen in Nizza eine deutsch-italienische Initiative dem zweifachen Ziel: erstens mögliche Blockadesituationen bei der Umsetzung gemeinsamer Strategien zu entschärfen und zweitens Vorstöße von handlungsbereiten Staaten in der Verteidigungspolitik und Rüstungskooperation in einem kleineren Kreis gemeinschaftskonform voranzubringen.1101 Gemäß Art. 27 b EUV (NV) war nun eine verstärkte Zusammenarbeiten einzelner Mitgliedstaaten bei „Gemeinsamen Aktionen“ und „Gemeinsamen Standpunkten“ möglich. Ausdrücklich ausgeklammert wurden Fragen mit militärischem und verteidigungspolitischem Bezug.1102 Ausbau und Konkretisierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik machten eine Umgestaltung der Arbeitsebenen erforderlich. Daher wurde (III.) in Art. 25 EUV (NV) das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) errichtet. Dem PSK wurde die politische Kontrolle und die strategische Leitung von Operationen zur Krisenbewältigung übertragen, was im Einzelfall allerdings eine Ermächtigung durch den Europäischen Rat voraussetzt (Art. 25 EUV). Damit bleibt die in Art. 4, 13 und 17 EUV errichtete zentrale Funktion des Europäischen Rates als Impuls- und Leitliniengeber der GASP/ESVP ebenso unangetastet wie seine Stellung als oberste Entscheidungsinstanz im Falle unüberwindbarer Meinungsverschiedenheiten der nachgeordneten Gremien. Art. 25 EUV (NV) verleiht dem PSK – nach Ermächtigung durch den Rat – dennoch faktisch eine dem NATORat vergleichbare Handlungsfähigkeit. In Krisenfällen übernimmt der Hohe Vertreter den Vorsitz im PSK.1103 Das PSK tritt in zwei prinzipiell gleichberechtigten Formationen zu1099
Rudolf G. Adam, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nach dem Europäischen Rat von Nizza, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002. S.134-148, hier: S.135. 1100 Schon der Amsterdamer Vertrag hatte – um ein gemeinsames Vorankommen zu erleichtern – der GASP den Rückgriff auf qualifizierte Mehrheitsentscheide ermöglicht. Zwar sollte der Rat in der Außenpolitik nach wie vor generell einstimmig entscheiden; handelte es sich jedoch um Beschlüsse von Gemeinsamen Aktionen und Standpunkten, die auf einer Gemeinsamen Strategie des Rates aufbauten oder um Durchführungsmaßnahmen bereits beschlossener GASP-Aktivitäten, so war nunmehr auch eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit (Art. 23 II EUV) möglich. 1101 Es ging darum, die in einer erweiterten Union vermehrt zu erwartende, vertiefte Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten in Fragen der Sicherheits-, Verteidigungs- und Rüstungspolitik in einen gemeinschaftskonformen Rahmen zu überführen. 1102 Hier schlug sich vor allem der Widerstand Großbritanniens nieder, das unbedingt jegliche von ihm nicht via Veto kontrollierbare eventuelle Eigendynamik in der GASP/ ESVP verhindern wollte. 1103 Überlegungen, wie sie in der Reformdebatte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre von deutscher und französischer Seite angestellt wurden, dem Hohen Vertreter auch den Vorsitz im Politischen Komitee zu übertragen und so mehr Kontinuität zu erzeugen, waren während der Regierungskonferenz zum Amsterdamer Vertrag noch nicht konsensfähig gewesen. Sie erhielten jedoch dann, im Zuge der ESVP - Dynamik und der erfolgreichen Arbeit des Hohen Vertreters ab 1999, vermehrt Zustimmung.
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sammen: Einmal als Brüsseler Runde der Ständigen PSK-Vertreter und zum anderen in seiner klassischen Form als Gremium der Politischen Direktoren aus den Mitgliedstaaten.1104 Im Bericht der französischen Ratspräsidentschaft zu den Ergebnissen des NizzaGipfels wird zum PSK ergänzend aufgeführt, dass dem Komitee eine zentrale Rolle bei der Festlegung der Reaktion der Europäischen Union auf ein Krisenszenario zukommt. Dieses wurde von Paris ausdrücklich begrüßt. Es sei insbesondere Aufgabe des PSK, die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen und auf Ersuchen des Rates oder von sich aus – durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der sicherheitspolitischen Linie der Europäer – Handlungsoptionen zu prüfen. Weitere Aufgabenfelder sollten die Prüfung der Schlussfolgerungen des Rates und die Vorgabe von Leitlinien für die in den Bereich der GASP/ESVP fallenden Fragen für andere Gremien der Union, insbesondere für den Militärausschuss sein.1105 Kurz: Das PSK stellt das im Krisenfall zuständige Gremium des Rates dar. 1106 Das PSK soll sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten im Botschafterrang zusammensetzen, die in den Ständigen Vertretungen bei der Europäischen Union verankert sind. Somit blieb der insbesondere von Frankreich gewünschte intergouvernementale Charakter erhalten. Dennoch eröffnete die Tatsache, dass die unterschiedlichen Aspekte des Krisenmanagements der Europäer in Folge des Nizza-Vertrages zukünftig zentral am Sitz der EU und der NATO in Brüssel erörtert werden konnten, die Perspektive einer höheren Stringenz und Kohärenz des sicherheitspolitischen Profils der Europäer. Im Bericht der französischen Ratspräsidentschaft zu den Ergebnissen des NizzaGipfels wird, ergänzend zu der vertraglich festgehaltenen Einrichtung des PSK, die Aufstellung eines EU-Militärausschusses (European Union Military Comitee/ EUMC), bestehend aus den Generalstabschefs der Mitgliedstaaten sowie die Einrichtung eines, rund 130 Personen umfassenden, EU-Militärstabes (European Union Military Staff/ EUMS) dargelegt. Dabei soll das EUMC für eine konsensgestützte militärische Beratung des Rates, vor allem aber des PSK sorgen. Vorgesehen war ferner, dass der Militärausschuss gegenüber dem PSK Empfehlungen zur Entwicklung eines allgemeinen Krisenbewältigungskonzeptes, zu allgemeinen militärischen Aspekten sowie zur Risikobeurteilung abgeben sollte.1107 Demgegenüber befasst sich der Militärstab mit der Früherkennung militärischer Konflikte, der Lagebeurteilung und der strategischen Planung im Hinblick auf die Ausführung der Petersberg-Aufgaben, einschließlich der Bestimmung der jeweiligen einzelstaatlichen Streitkräfte. Dazu war vorgesehen, Politiken und Beschlüsse gemäß den Vorgaben des Militärausschusses durchzuführen.1108 Mehr noch als das EUMC sollte der Militärstab als Quelle für militärisches Fachwissen und als zentraler Ort für die operative Lagebeurteilung dienen. Im engen Zusammenspiel mit dem Militärausschuss sollten hier im Vorfeld einer Mission die drei operativen Hauptfunktionen: Frühwarnung, Lagebeurteilung und strategische Planung 1104
Hierzu eingehend: Pierre Baudin, Les aspects institutionnels de l’Europe de la défense, in : Défense Nationale 12/2000. S.5-21, hier : S.13-19. 1105 Anlage III zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee, in: Internationale Politik 5/2001, S.83-84. 1106 Ebenda. 1107 Anlage IV zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Militärausschuss der Europäischen Union (EUMC), in: Internationale Politik 5/2001, S.85-87. 1108 Anlage V zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Organisation des Militärstabs der Europäischen Union (EUMS), in: Internationale Politik 5/2001, S.87-89.
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geleistet werden. 1109 Durch das Zusammenwirken dieser beiden, weitgehend nach NATOVorbild modellierten, Gremien mit dem PSK sollte die EU befähigt sein, ihre Verantwortung auf dem Feld der Sicherheitspolitik „…in vollem Umfang gerecht zu werden.“1110 Ganz wie von der französischen Seite angestrebt, unterstrich die EU mit den in Nizza gefassten Beschlüssen ihre Entschlossenheit, selbstständig Reaktionen auf internationale Krisen vornehmen zu können. Die hierzu geschaffenen Gremien und militärischen Fähigkeiten zielten dabei darauf ab, mit Blick auf die Strukturen der Atlantischen Allianz und der EU-Mitgliedstaaten, eine unnötige Duplizierung zu vermeiden. Ausdrücklich wurde auch die Perspektive der Schaffung einer europäischen Armee verneint.1111 Die am 20. November 2000 in Brüssel konkretisierten Fähigkeitsziele des European headline goal, vor allem in den Bereichen Streitkräfteführung, strategische Aufklärung und Transport wurden bekräftigt.1112 Ein Mechanismus zur Beurteilung der militärischen Fähigkeiten sollte es der Europäischen Union fortan ermöglichen, die weitere Realisierung des Planzieles und der hierfür zugesagten Beiträge zu überwachen und zu fördern. Diese Ziele sollten im Lichte veränderter Umstände überprüft und darüber hinaus in Kohärenz zu den im Rahmen der EU oder den im Rahmen der NATO-Verteidigungsplanung zugesagten Beiträgen erarbeitet werden.1113 Die Grundsätze des hiermit verknüpften Konsultationsverfahrens orientierten sich an der Anerkennung des politischen und freiwilligen Charakters der jeweiligen staatlichen Beiträge sowie der stetigen und regelmäßigen Bewertung der erzielten Fortschritte.1114 Ohne in diesem Punkt auf wirklichen Widerspruch zu treffen, hatte Paris zudem seine Sichtweise festschreiben können, dass es für die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik von maßgeblicher Bedeutung war, autonom entscheiden zu können. In diesem Zusammenhang hielt der Bericht der französischen Ratspräsidentschaft zum Nizza-Gipfel an der Zielperspektive eines Ausbaus der militärischen Fähigkeiten der Union fest, die ein Handeln der Union langfristig auch „… ohne Rückgriff auf Mittel der NATO“ ermöglichen sollten.1115 Für den Moment galt der Fokus aber den Vereinbarungen über die Transparenz, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen der EU und der NATO. Hierbei war der Grundsatz der gegenseitigen Verstärkung der Fähigkeitsziele beider Organisationen maßgeblich.1116 Dabei galt, dass die Europäische Union und die Atlantische Allianz sich zwar ge1109
Ebenda. Anlage VI zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza vom 7./8. und 9. Dezember 2000: Bericht über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Internationale Politik 5/2001, S.62-68. 1111 Anlage I zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Erklärung über die Bereitstellung Militärischer Fähigkeiten, in: Internationale Politik 5/2001, S.69-77; hiermit wurde in der zentralen Forderungen der britischen Seite berücksichtigt; vgl.: Emil J. Kirchner, British Perspectives on CFSP and ESDP, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVPKonzeptionen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002. S.41-56, hier: S.45. 1112 Anlage I zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Erklärung über die Bereitstellung Militärischer Fähigkeiten, in: Internationale Politik 5/2001, S.69-77. 1113 Anlage VI zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza vom 7./8. und 9. Dezember 2000: Bericht über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Internationale Politik 5/2001, S.62-68. 1114 Anlage I zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Erklärung über die Bereitstellung Militärischer Fähigkeiten, in: Internationale Politik 5/2001, S.69-77. 1115 Ebenda; Hervorhebung durch den Verfasser. 1116 Anlage I zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Erklärung über die Bereitstellung Militärischer Fähigkeiten, in: Internationale Politik 5/2001, S.69-77. 1110
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genseitig stärkten, aber unterschiedlich geartete Organisationen blieben.1117 Für die betroffenen Mitgliedstaaten wurde hervorgehoben, dass die Allianz das Fundament der kollektiven Verteidigung blieb.1118 Hierdurch und durch die Hervorhebung ihrer weiterhin wesentlichen Rolle bei der Krisenbewältigung1119 wurde ex silentio dem Umstand Rechnung getragen, dass die EU selber nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügte, um eine gleichwertige Beistandsgarantie geben zu können. Auf dem Europäischen Rat von Nizza wurde das Eurokorps als Krisenreaktionskorps der EU offiziell eingesetzt. Der Rat billigte die entsprechenden Dokumente der Außen- und Verteidigungsminister.1120 Trotz des erheblichen Fortschrittes bei der GASP/ESVP schien die Europäische Union nach dem Ratstreffen von Nizza aufgrund des hier offen zutage getretenen Konflikts über die zukünftige Stimmgewichtung und die Erweiterung der Union auch in der Außen- und Sicherheitspolitik um Längen zurückgeworfen. Die schonungslose Verfolgung der jeweiligen einzelstaatlichen Interessen, welche dem Ratstreffen den Ruf eines „Gipfels der Teppichhändler“1121 einbrachten sowie das Nichtfunktionieren des „unersetzlichen“ (Védrine) deutsch-französischen Motors zeigten die Grenzen der zwischenstaatlichen Kooperation innerhalb der EU auf. Zum Dissens trugen nicht nur GASP/ESV-ferne Themenfelder, sondern auch zu ambitionierte Autonomieforderungen der französischen Seite bei.1122 Diese Forderungen umfassten einmal mehr den Wunsch, unabhängige Planungsstrukturen für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen. Hierauf insistierte Staatspräsident Chirac sowohl während des Nizza-Gipfels als auch in der unmittelbaren Folgezeit.1123 Festzuhalten bleibt, dass auch nach dem Vertrag von Nizza dem intergouvernementalen, die einzelstaatliche Souveränität wahrenden Prinzip der GASP eine herausragende Rolle zukam. Dies lässt sich an den primär-rechtlichen Vorgaben zu den Entscheidungsberechtigten und den Entscheidungsregeln ablesen, die dem einstimmig beschließenden Europäischen Rat die zentrale Gestaltung der GASP/ESVP überantworten. Es ist festzuhalten, dass die Institutionalisierung der ESVP in letzter Konsequenz die Rolle der Mitgliedstaaten in der GASP weiter gestärkt hat.1124 So markierte das Treffen des Europäischen Rats von 1117
Anlage VII zu Anlage VI der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza: Dauervereinbarungen über die Konsultation und die Zusammenarbeit EU/NATO, in: Internationale Politik 5/2001, S.94-98; weiterführend: Jacques Walch, La défense européenne, de l’autonomie à l’intégration, in: Politique Étrangère 2/2001, S.341-352, insbesondere: S.346-349. 1118 Anlage VI zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza vom 7./8. und 9. Dezember 2000: Bericht über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Internationale Politik 5/2001, S.62-68; siehe auch: André Dumoulin, Les bases d’un concept stratégique européen, in: Défense Nationale 6/2001, S.108-117, S.112-113. 1119 Anlage VI zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza. 1120 Vgl.: Deutschmann, Die britische Position zur GASP/ESVP, S.72. 1121 Vgl.: FAZ vom 12. Dezember 2000. 1122 Weiterführend : Hans Stark, France-Allemagne :Quel après-Nice ? in : Politique Etrangère 2/2001, S.289-299, insbesondere S.292-296. 1123 Siehe : « Les rapports difficiles de la défense européenne et de l’OTAN » in : Le Monde vom 9. Dezember 2000 ; Daily Telegraph 28. März 2001« EU Force will not need NATO, says French Military Chief »; siehe auch: Henri Ménudier, Discours franco-allemands sur l’Europe. De Nice à Ludwigsburg : des visions communes ? in : Documents 1/2001, S.4-18 ; Françoise Manfrass-Sirjacques, Auf dem Weg zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), in: Helmut Wagner (Hrsg.), Europa und Deutschland – Deutschland und Europa, Münster 2005, S.519-537, hier. S.527; sowie: Jean-Pierre Kelche, Vers uns force européenne de réaction rapide, in : Défense Nationale 2/2001, S.5-22. 1124 Vgl. Hierzu auch : André Dumoulin, Raphael Mathieu, Gordon Sarlet, Six scénarios pour la PESD, in : Revue du marché commun et de l’Union Européenne 2002, S.454-463.
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Nizza das Ende der Formierungsphase der neuen ESVP-Strukturen: Genau innerhalb des vom Europäischen Rat von Köln eröffnetem Zeitfensters wurde eines der ambitioniertesten Gemeinschaftsprojekte der Europäer aus einer eher als provisorisch zu bezeichnenden Phase in endgültige Strukturen überführt.1125 Dieses verbuchte auch Jacques Chirac in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 12. Dezember 2000 nicht ohne Berechtigung als eindeutigen Erfolg der französischen Ratspräsidentschaft. 1126 Die Europäische Union verfüge nunmehr über jene Mittel, die es ihr ermöglichten, in der Weltpolitik ihr Gewicht einzubringen und „…ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und agieren zu können.“
Zwischenfazit Das Scheitern einer Rückkehr Frankreichs in die integrierten Strukturen der NATO im Jahr 1997 traf die sich ohnehin schon in einem reduzierten Zustand befindende deutschfranzösische Sicherheitskooperation als harten Schlag. Die Unflexibilität der Administration Chirac/Jospin in dieser Kernfrage sorgte auf deutscher Seite für nachhaltige Irritationen. Als direkte Folge nahm in Bonn das Unverständnis für die sicherheitspolitischen Rochaden des französischen Partners zu: Ab dem Winterhalbjahr 1997/98 betonte man wieder vermehrt, Auslandseinsätze seien nicht die Hauptaufgabe deutscher Streitkräfte, sondern vielmehr die Landes- und Bündnisverteidigung. Diese Haltung konterkarierte deutlich das französische Streben nach einer weltweit interventionsfähigen ESVP. Zudem thematisierte man – namentlich Helmut Kohl – das andauernde Schisma zwischen den Franzosen und der NATO: Frankreichs Rückkehr in die militärische Integration der NATO sei für die uneingeschränkte sicherheits- und verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit Europas unabdingbar.1127 Unter anderem diese Aufgabe einer in früheren Jahren geübten Zurückhaltung, überhaupt das öffentliche Bekunden konträrer Standpunkte führte die bilaterale Kooperation im Frühjahr 1998 schließlich an einen „toten Punkt“. Die von Sommer 1997 bis Herbst 1998 – also dem Scheitern der Rückkehr Frankreichs in die NATO und dem Ausscheiden Helmut Kohls aus dem Amt des Bundeskanzlers – andauernde Phase deutsch-französischer Entfremdung ließ die französische Seite nach (ergänzenden) Alternativen zur sicherheitspolitischen Achse Bonn-Paris suchen. Als Ansatzpunkt hierfür diente die Überwindung der seit dem Jahr 1992 bestehenden, britischen Blockadehaltung gegenüber einer Konkretisierung der operativen Fähigkeiten der WEU. Der ab Herbst 1997 einsetzende britisch-französische Annäherungskurs gipfelte schließlich in der „Erklärung über die europäische Verteidigung“ von St Malo, die als entscheidender Durchbruch auf dem Weg zu einer institutionellen Verfestigung der ESVP gewertet wird. Wieder einmal – und bezeichnend für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den 1990er Jahren – ging ein entscheidender Impuls von einer bilateralen Initiative auf Regierungsebene aus. Die Analogie zu den Entscheidungsabläufen im 1125
Rudolf G. Adam, Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nach dem Europäischen Rat von Nizza, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.), Europäische Außenpolitik. GASP- und ESVP-Konzeptionen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, Baden-Baden 2002. S.134-148, hier: S.137. 1126 Rede des französischen Präsidenten Jacques Chirac zum Ende der französischen Ratspräsidentschaft vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 12. Dezember 2000, in: Internationale Politik 2/2001, S.100-104. 1127 Kohl, Deutsche Sicherheitspolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, S.10.
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Umfeld der Eurokorps-Entscheidung des Jahres 1991/92 ist augenscheinlich. Für die deutsch-französische Kooperationsachse bedeutete der St Malo-Prozess eine Bedeutungsrelativierung, die aber aufgrund der mehr und mehr divergierenden Vorstellungen über die normativen Leitbilder der ESVP durchaus auch als Erleichterung zu werten ist. Zentraler Aspekt der britisch-französischen Verständigung zur vorläufigen Finalisierung der ESVP war die Festschreibung ihres intergouvernementalen Charakters und die Verpflichtung auf einen weltweiten Einsatzrahmen – letztgenannter Punkt unter deutlicher Betonung der essentiellen Rolle der NATO. Das prinzipielle Einverständnis der britischen Seite zur Schaffung der ESVP schien jenes Schlüsselstück zu sein, welches die französische Sicherheitspolitik schon mit ihrer Neuausrichtung im Jahr 1995 gesucht hatte. Die stets angestrebte Vergrößerung des eigenen außenpolitischen Gestaltungsspielraums wurde erreicht; neben der sicherheitspolitischen Partnerschaft mit Bonn bot sich nun die Option einer zweiten bilateralen Kooperationsachse. Hinzu trat, dass sich mit dem durch die Bundestagswahl im September 1998 vollzogenen Regierungswechsel in Bonn ein neuer Ansatz für die deutsch-französische Sicherheitskooperation andeutete. Anders formuliert: Das Ausscheiden Helmut Kohls aus dem Amt des Bundeskanzlers vollendete den 1995 eingeleiteten Generationswechsel im deutsch-französischen Verhältnis. Hatte Helmut Kohl in der bilateralen Sicherheitskooperation die Vorstellung des deutsch-französischen und auch des europäischen Aussöhnungswerkes noch zentral gesetzt, sah sein Nachfolger Gerhard Schröder – hierin Jacques Chirac sehr ähnlich – dieses eigentlich als vollendet an. Weiterführende Zielsetzungen sollten von nun an die Zusammenarbeit prägen. Damit entband der neue Bundeskanzler die deutsch-französische Sicherheitskooperation aber auch von ihrem bisherigen Status als „Selbstzweck“ und egalisierte sie gegenüber anderen bilateralen Kooperationen. Für das deutsch-französische Verhältnis ist die Bedeutung dieser Zäsur schwer zu überschätzen. Fortan war diese dem praktischen Nutzen – im Sinne ihres Beitrags zur Erreichung übergeordneter außen- und innenpolitischer Zielsetzungen – verpflichtet, sprich auf ihre Instrumentierbarkeit zurückgestuft. Ihrer spezifischen bilateralen Note entbunden, geriet die deutsch-französische Sicherheitskooperation nunmehr immer stärker in das Gravitationsfeld der ESVP. Diese Neuausrichtung des bilateralen Verhältnisses prägte die erste Hälfte des Jahres 1999. Weil die deutsch-französische relance in der Sicherheitspolitik nun nicht mehr primär dem Aussöhnungsgedanken verpflichtet war, ging es fortan weniger um die Schaffung neuer bilateraler Institutionen, sondern vielmehr um die Antwort auf die Frage, wie man den Herausforderungen der ESVP entsprechen könne. Der eigenen Neubewertung folgend, war die deutsche Seite bereit, neue Wege zu gehen: Ein militärischer Interventionseinsatz deutscher Soldaten dürfe nicht mehr mit dem Verweis auf die historische Verantwortung Deutschlands vermieden werden. Die Europäer sollten eine klarere Rolle im internationalen Krisenmanagement an der Seite der Atlantischen Allianz übernehmen. Diese Rolle sollte insbesondere für die Verhütung und Bewältigung regionaler Krisen, die ein aktives Vorgehen erforderten, eingenommen werden. Die Europäer, so waren sich beide Partner einig, sollten so weit wie möglich mit eigenen militärischen Mitteln ausgestattet werden, ohne die Synergieeffekte einer Nutzung von vorhandenen Ressourcen der Atlantischen Allianz zu vernachlässigen. Schon hier deutete sich eine neue Rolle für das Eurokorps an. Ganz im Sinne des französischen Partners plädierte man in Bonn jetzt zudem für eine veränderte, ausgewogene transatlantische Partnerschaft.
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Die weitere Entwicklung der ESVP bis zum Europäischen Rat von Köln bezeugte wiedergewonnenes, bilaterales Einvernehmen – wenn auch in einem veränderten eingeschränkten Rahmen. Dabei beeinflusste der Kosovo-Krieg den Prozessablauf hin zur ESVP nicht unerheblich. Nicht nur Frankreich und Deutschland, alle europäischen Regierungen erkannten durch ihn endgültig sowohl den Bedarf an einer leistungsstarken eigenen militärischen Planungs- und Führungsstruktur, als auch an einer Verzahnung der eigenen Kapazitäten mit jenen der NATO. In diesem Sinne bezeichnend war die beim Jubiläumsgipfel der Allianz im April 1999 bekundete Einhelligkeit über die Primärstellung der NATO in der Entscheidungsabfolge über alle sicherheits- und verteidigungspolitischen relevanten Fragen. Die Zustimmung der Europäer, eigene sicherheitspolitische Maßnahmen erst nach einer Delegierung durch die NATO-Gremien zu überdenken, nahm der ESVP wesentliche Initiativrechte und wies ihr einen gegenüber der NATO komplementären Status zu. Auf Basis des so erzielten transatlantischen Konsens über den weiteren sicherheitspolitischen Kurs fokussierte sich die deutsch-französische Sicherheitskooperation – eigentlich bis zur Festschreibung der ESVP im EU-Vertrag von Nizza – wieder auf ihre Impulsgeberfunktion für die Entwicklung der Europäischen Union. Die Weichenstellungen des WEUMinisterrats von Bremen und des Europäischen Rates von Köln stützten sich ebenso auf die bilaterale Absprache wie die Beschlüsse der Tagungen des WEU-Rats von Luxemburg im November und des Europäischen Rates in Helsinki im Dezember 1999. Die hier vollzogene Inkorporierung der WEU in die Europäische Union war ein von beiden Partnern seit Anfang der 1990er Jahre angestrebtes Ziel. Komplementär hierzu sollte das Eurokorps dem veränderten strategischen Umfeld angepasst und zu einem schnellen Krisenreaktionskorps umstrukturiert werden. Aufbauend auf der beim 73. deutsch-französischen Gipfel getroffenen Übereinkunft, das Eurokorps zu „konkretisieren“, zeugten die hierfür im November 1999 in Luxemburg gefassten Beschlüsse von der Einsicht, dass eine effektive Aufgabenerfüllung als europäische Krisenreaktionskraft nur unter Übernahme der entsprechenden NATO-Standards und in enger Kooperation mit der Atlantischen Allianz zu realisieren sei. Der Korpsstab erhielt die Struktur eines Land Component Commands (LCC) der NATO. Englisch wurde als verbindliche Arbeitssprache eingeführt, Kommunikationsnetzwerke und Ausbildungsgänge an jene der Atlantischen Allianz angebunden. De facto ergab sich so eine Einordnung in die Struktur der NATO – rechtlich stand das Korps nach wie vor außerhalb der NATO-Struktur. Man kann von einer indirekten militärischen Integration sprechen. Hierdurch endete der bündnispolitische Sonderstatus, der das Eurokorps seit seiner Aufstellung 1992 gekennzeichnet hatte. Trotz dieser Anbindung des einstigen Prestigeobjektes sicherheitspolitischer Eigenständigkeit an die NATO rekurrierte Paris im Nachklang zu den Ratstreffen von Köln und Helsinki wieder verstärkt auf die Schaffung eigener operativer Fähigkeiten der Europäer. Die in den Helsinki-Beschlüssen getroffenen Regelungen zur „politischen Kontrolle“ und „strategischen Führung“ des Europäischen Rates bzw. der ihm zugeordneten neuen politischen und militärischen Gremien für EU-Militäroperationen passten in dieses ambivalent anmutende Bild. Handlungsbestimmend für das Verhältnis Berlin-Paris wurde in diesem Zusammenhang mehr und mehr die Frage nach dem Investitionsvolumen für gemeinsame militärische Projekte der Europäer. Die von Frankreich beim Treffen der Verteidigungsminister der Europäischen Union in portugiesischen Sintra am 28. Februar 2000 erhobene Forderung, jedes EU-Mitgliedsland müsse hierfür mindestens 0,7% seines Bruttoinlandsproduktes aufwenden, stieß in der Bundesregierung auf deutliche Zurückhaltung. Der über-
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kommende Zielkonflikt zwischen der deutschen Integrationsorientierung als sicherheitspolitischem Selbstzweck und weiter ausgreifenden französischen Ansprüchen trat nun wieder deutlich hervor. Dass die deutsch-französische Sicherheitskooperation zwischenzeitlich ihre Exklusivität verloren hatte, zeigte sich an dem Willen der Regierung Jospin, zur Erreichung ihrer sicherheitspolitischen Ziele erneut den Schulterschluss mit Großbritannien zu suchen. Großbritannien, so die in Paris im Frühsommer des Jahres 2000 vertretende Auffassung, sei in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik „ständiger und zuverlässiger Partner“ Frankreichs.1128 In der Tat war, verglichen mit den deutschen Strukturen, die Konvergenz zwischen französischer und britischer Streitkräftestruktur und Militärdoktrin ungleich höher. Die Rückstufung der bilateralen Kooperation auf ihre praktische Nutzbarkeit zeigte eine ihrer Auswirkungen. Mit dem Voranschreiten der Arbeiten an der ESVP stellte sich zwischen Paris und Berlin zudem mehr und mehr die Frage nach den Abstimmungsmodalitäten innerhalb der Union und generell nach den Entscheidungsverfahren und dem Rangverhältnis von einzelstaatlichem gegenüber dem koordinierten Vorgehen. Gerade letztgenannter Punkt war dabei eng verknüpft mit der jeweiligen Vorstellung über die Zielperspektive der Europäischen Union. Zwar versuchte die im November 2000 abgegebene, deutsch-französische „Erklärung von Vittel“ durch das Postulat einer genuin europäischen Sicherheitskultur noch einmal, das alte bilaterale Einvernehmen zu beschwören und die beiderseitige Sicherheitskooperation über ihre ESVP-Zulieferfunktion hinauszuführen – letztlich blieb jedoch auch dies Stückwerk ohne dauerhaften Bestand. Der in Vittel beschworene, aber ja schon seit Anfang 1999 bestehende Konsens über eine effiziente Inkraftsetzung der zivilen und militärischen Fähigkeiten der ESVP durch das Vertragswerk von Nizza konnte nicht über die eigentliche Lethargie hinwegtäuschen. Durch das größere Ganze der mit dem NizzaVertrag geschaffenen ESVP relativierte sich die Bedeutung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation noch weiter. Gegenüber der auf eine hohe wechselseitige Konvergenz angewiesenen bilateralen Kooperationsachse stand das sicherheitspolitische Forum der Europäischen Union, das dem coalition of the willing-Gedanken verschrieben war. Innerhalb des Mantels dieses multiplen Gefüges war die bilaterale Zusammenarbeit naturgemäß anfälliger für ihr nicht immanente Einflüsse. Auch erhöhte sich so die Wahrscheinlichkeit alternativer, den bilateralen Rahmen überwindender Kooperationsmuster. Insgesamt lässt sich mithin festhalten, dass, einhergehend mit dem Prozess der institutionellen Konkretisierung der ESVP in den Jahren 1999-2000 die deutsch-französische Sicherheitspartnerschaft ausgehöhlt wurde. Die mit dem Vertrag von Nizza formalisierte GASP/ESVP ermöglichte den Europäern, über das gesamte Spektrum außenpolitischer Instrumente zu verfügen. Auch für die sich ab diesen Zeitpunkt in diesem Rahmen einbettende deutsch-französische Sicherheitskooperation bedeutete dies einen einschneidenden Statuswechsel: die die Dekade seit 1990 prägende sicherheitspolitische Formierungsphase war durchschritten, fortan musste es um konkrete Maßnahmen, wie etwa die Formulierung strategischer Leitsätze, gehen. Dabei stand der seit Mitte der 1990er Jahre diagnostizierbare bilaterale Zielkonflikt über Einsatzschwelle, Aktionsradius und Umfang des eigenen Streitkräftepotenzials nach wie ungelöst auf der Agenda. Die französische Regierung plädierte nach wie vor für einen rascheren und bei Bedarf umfangreicheren Einsatz eigener militärischer Kräfte auch im globalen Rahmen 1128
Interview mit Alain Richard in der FAZ vom 8. Juni 2000,: „Richard: Großbritannien interessanter als Deutschland“
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als dies der deutsche Partner tat. Zwar hatte man sich in Bonn/Berlin nach dem Regierungswechsel 1998 konzeptionell und rhetorisch der französischen und auch der britischen Perzeption angenähert, an dem Willen zur praktischen Umsetzung mangelte es freilich. Die Suche nach dem einheitlichen politischen Willen in der bilateralen und in der europäischen Sicherheitskooperation sollte daher prozessbestimmend bleiben.
III. Schlussbetrachtung
Schlussbetrachtung
Mit der im EU-Vertrag von Nizza festgeschriebenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) endete die mit der Auflösung des Ostblocks zehn Jahre zuvor einsetzende Übergangsphase der europäischen Sicherheitsstrukturen. Der in der Dekade seit 1990 zu beobachtende Formierungsprozess hatte, aufbauend auf einem deutschfranzösischen Impuls, schließlich in ein neues, multi-laterales Sicherheitsgefüge geführt. Die Jahre 1990-2000 als eine einheitliche sicherheitspolitische Etappe zu begreifen, ist deswegen sinnvoll. Allerdings waren Deutschland und Frankreich – die Europäer überhaupt – auch nach Nizza von ihrem angestrebten Ziel, bei zwischenstaatlichen Krisen und innerstaatlichen Konflikten wirkungsvoll und militärisch sowie zivil effizient agieren zu können, noch weit entfernt. Richtet man den Blick über den Untersuchungszeitraum hinaus, treten die Auswirkungen der Einbettung der deutsch-französischen Sicherheitskooperation in den Mantel der zwischenzeitlich geschaffenen ESVP deutlich hervor. Ebenso charakteristisch für die weitere Entwicklung ist die Erweiterung des bilateralen Zusammenspiels durch die Hinzuziehung Großbritanniens. Das sich aus diesen Ländern formierende Führungsdreieck bestimmte gerade in den Jahren 2001 – 2003 maßgeblich die weiteren Arbeiten an der ESVP. Diese waren zunächst von den Irritationen des Nizza-Gipfels gekennzeichnet. Weder das deutschfranzösische Treffen von Blaesheim im Januar 2001, noch das sich anschließende britischfranzösische Treffen von Cahors brachten hier Abhilfe. Berlin und London sperrten sich gegen das namentlich von Jacques Chirac erneut formulierte Ansinnen, eine möglichst große europäische Eigenständigkeit gegenüber der Atlantischen Allianz zu erreichen. Fast schien es so, als müsste der innereuropäische Diskurs um die ESVP in oszillierenden Kreisen immer wieder zu seinen Ursprüngen zurückkehren. Gerade bei der Ausgestaltung des politischen Krisenmanagements der Europäer gab es anhaltend dissentierende Auffassungen. Nicht nur das erweiterte Helsinki-Ziel einer Schnellen Eingreiftruppe von bis zu 150.000 Soldaten gelte es zu berücksichtigen, sondern außerdem den Grundsatz, dass „…in einer idealen Welt militärische Fähigkeiten am besten ungenutzt blieben“, wie dies EUAußenkommissar Patten exemplarisch formulierte.1129 Die nicht-militärischen Fähigkeiten der Europäer zur Bewältigung von Konflikten müssten ebenso gut weiterentwickelt werden wie die militärischen, so die vorherrschende Meinung in Berlin. Demgegenüber mühte sich Paris weiter um den Abbau der operativen Fähigkeitsdefizite der Europäer. Dass man sich dabei nicht immer auf dem Boden des Machbaren bewegte, hatte sich schon in der Vergangenheit gezeigt. Chiracs Forderung nach einem taktischen Raketenabwehrsystem für ESVP-Missionen belegte diesen Schluss jetzt einmal mehr.1130 Im Schwerpunkt ging es zudem unverändert um den Aufbau der europäischen Rüstungskooperation. Im Sommer 2001 bedeutete dies vor allem, letzte Hindernisse auf dem Weg zur Auftragserteilung für den europäischen Militärtransporters A-400M zu überwinden. Die schließlich auf Drängen Frankreichs zustande gekommene Einigung sah vor, dass 1129 1130
FAZ 12. April 2001 „Krisenverhütung zentrale Aufgabe der EU-Außenpolitik“. NZZ 10. Juni 2001 „Chirac für taktische Raketenabwehr. Europäisierung von Frankreichs Verteidigungsinstrument“.
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Deutschland insgesamt 73 Exemplare des A-400M-Transporters beschaffen sollte; Frankreich selbst beabsichtigte, 50 Maschinen zu kaufen.1131 Auch auf dem Feld der Luftkampffähigkeit zukünftiger Einsatzkontingente musste die Modernisierung der europäischen Streitkräfte vorangetrieben werden. Bereits im Jahr 2000 hatten die Europäer daher beim Hubschrauberhersteller EUROCOPTER eine erste Tranche über 243 Transporthubschrauber NH 90 für rund 2,8 Mrd. € abgegeben.1132 Der Bereitstellungszeitraum von jeweils nahezu zehn Jahren beleuchtete jedoch exemplarisch, dass eine effektive Inkraftsetzung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf Basis geeigneter eigener Ausrüstung noch in weiter Zukunft lag. Überhaupt stellten die EU-Verteidigungsminister auf der Capability Improvement Conference im November 2001 mehr als 40 ESVP-Fähigkeitslücken vornehmlich in den notorischen Bereichen militärische Planung, Operationsführung und Verlegefähigkeit fest.1133 Demgegenüber verlief der Transformationsprozess des Eurokorps, dass den Kern der EU-Krisenreaktionstruppe bilden sollte, planmäßig. Im Herbst 2001 wurde in Südspanien erstmals dessen künftige Rolle als „schnelles Krisenreaktionskorps“ in einem Manöver getestet.1134 Hemmnisse ergaben sich allerdings aus der anhaltenden Zurückhaltung Berlins, eine eigene operative Militärstrategie zu entwickeln und dadurch zu den Partnern Frankreich und Großbritannien aufzuschließen. Der 11. September 2001 marginalisierte bestehende, transatlantische Querelen. Die Europäer solidarisierten sich an der Seite der Vereinigten Staaten in der Atlantischen Allianz. Die ab dem Oktober 2001 einsetzende Intervention in Afghanistan führte vor Augen, wie wenig abstrakt der für die ESVP-Missionen angenommene, weltweite Einsatzrahmen war. Deutschland und Frankreich erklärten die Stärkung der internationalen Handlungsfähigkeit der Europäischen Union für dringlicher denn je und sprachen sich im Verbund mit Großbritannien für die Forcierung der Arbeiten an den Helsinki-Zielen aus.1135 Daneben wirkte sich die Debatte über die Finalität der EU weiterhin wesensbestimmend auf die sicherheitspolitische Entwicklung aus. Die französische Seite favorisierte hier nach wie vor einen überwiegend intergouvernementalen Ansatz und plädierte, wie Chirac dies in seiner Straßburger Rede vom 6. März 2002 tat, für das Konzept eines starken Europas, welches auf der internationalen Ebene Wirkmächtigkeit entfalte. Die Stimme Europas sei die des Friedens, da der Kontinent den Krieg zu gut kenne. Europa müsse für die Schaffung einer multipolaren Weltordnung sorgen.1136 Konsens herrschte mit dem deutschen Partner vor allem darüber, dass das im Nizza-Vertrag angelegte Instrument der verstärkten Zusammenarbeit für die ESVP genutzt werden müsse. Die von den Außenministern beider Länder am 22. November 2002 vorgelegten „Gemeinsamen deutsch-französischen Vorschläge zum Bereich Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ bezeugten gerade diesen An1131
Des weiteren plante Spanien 27 und Großbritannien 25 Maschinen zu erwerben. Weiter an dem Projekt beteiligt waren Italien, Portugal, die Türkei, Belgien und Luxemburg. 1132 Der geplante Gesamtbedarf lag demnach bei knapp 600 Maschinen. Allein Deutschland wollte zunächst bis zu 219 Maschinen bestellen. Financial Times Deutschland 24. Januar 2001 „Militärbestellung lastet Eurocopter zehn Jahre aus“. 1133 Les Echos 20. November 2001 « Paris réévalue sa contribution à la force de réaction rapide européenne » . 1134 SZ 16. August 2001 „Eurokorps bereitet erstes Manöver vor“. 1135 La Libération 30 November 2001 « Blair et Chirac, moteurs de la défense européenne. Paris et Londres veulent rendre effective la force de réaction rapide dans les délais prévus. » ; sowie : Le Figaro 30. November 2001 « La défense européenne au menu du sommet franco-britannique » . 1136 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S.242; FR 23. November 2002 „Paris und Berlin fordern Kern-EU. Bei Sicherheit und Militär soll kleinere Staatengruppe der Union vorangehen“.
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satz. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden amerikanischen Militäraktionen gegen den Irak, die Berlin und Paris gleichsam beargwöhnten, rückten beide Partner noch einmal enger zusammen. Das Grundschema der angestammten Arithmetik im Dreieck mit Washington bewahrheitete sich abermals. Grundgedanke des Papiers vom 22. November war die Überzeugung, dass ohne verbesserte eigene militärische Fähigkeiten ein „voll handlungsfähiges Europa“ nicht möglich sein werde. Die verstärkte Zusammenarbeit sollte bei integrierten Führungskapazitäten, bei der Erarbeitung gemeinsamer Doktrinen und bei der Rüstung gelten.1137 Weiter wurden die Gründung einer Europäischen Rüstungsagentur und die schrittweise Schaffung eines gemeinsamen Rüstungsmarktes gefordert.1138 Bei der Beschlussfassung über die Durchführung militärischer Operationen im Rahmen der ESVP sollte jedoch das Einstimmigkeitsprinzip weiterhin gelten, wenn auch mit der Option einer konstruktiven Enthaltung. Der Dissens zwischen Paris/Berlin und Washington im Vorfeld des Irakkrieg 2003 zeigte abermals, dass das transatlantische Beziehungsgeflecht sich auf verschiedenen Ebenen vollzog: Während man sich im Politisch-Abstrakten abhold war, ging man gleichzeitig auf dem Feld der Militärkooperation enger zusammen. Auf dem Prager NATO-Gipfel vom November 2002 beschlossen die Bündnispartner ein umfangreiches Programm zur Transformation der NATO, welches, neben der Verabschiedung des „Prague Capabilities Commitment“ (PCC), vor allem die Kommandostrukturen des Bündnisses nochmals straffte.1139 Daneben beschlossen die NATO-Partner in Prag die Aufstellung eines hochmobilen militärischen Einsatzverbandes zur weltweiten Krisenreaktion, die NATO Response Force (NRF). Diese sollte sich aus spezialisierten, kurzfristig verlegefähigen Einheiten aller Teilstreitkräfte zusammensetzen, die, je nach Einsatzszenario, im Modulverfahren maßgeschneidert kombiniert werden konnten. Als Führungskomponente fungierte – im halbjährlichen Rotationsverfahren – eines der großen europäischen Hauptquartiere der Allianz. Es ist bezeichnend für den, seit dem „Bericht von Luxemburg“ aus dem Jahr 1999 zu beobachtenden, stillschweigenden Annäherungskurs an die NATO, dass Deutschland und Frankreich – im Verbund mit den anderen Partnerländern – das Eurokorps als turnusgemäßes Hauptquartier für die bis zum Jahr 2006 einsatzfähige NRF meldeten. Mit diesem Schritt reihten sich die militärischen Institutionen der deutsch-französischen Militärkooperation endgültig in die NATO-Gliederung ein. Das Eurokorps und die Deutsch-Französische Brigade standen im Falle einer Überschneidung von NRF-Assignierung und einem etwaigen operativen Bedarf der ESVP fortan nicht mehr für Missionen der Europäer zur Verfügung.1140 Auf der politischen Ebene hingegen verschärfte sich das transatlantische Zerwürfnis im ersten Halbjahr 2003. Innerhalb der Europäischen Union zeigte sich infolge des Irakkrieges eine tiefe Spaltung. Die alte Forderung nach mehr europäischer Eigenständigkeit 1137
Vgl.: Internationale Politik 3/2003, S.103-105. Hierzu: FAZ 26. November 2002 „Berlin und Paris für „Sicherheits- und Verteidigungsunion“. „Prager Erklärung“ des Nordatlantikrates vom 21.november 2002, In: internationale Politik 3/2003, S.90-97. 1140 Demgegenüber war die endgültige Formulierung der „Berlin Plus“-Vereinbarungen auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen am 12./13. Dezember 2002 nur eine geringe Kompensation. Die „Berlin Plus“Vereinbarungen sahen die Etablierung dauerhafter Beziehungen zwischen der Atlantischen Allianz und der EU vor. Dieses schloss einen permanent gesicherten Zugang der Europäischen Union zu den Planungskapazitäten und die Verfügbarkeit vorab identifizierter Ressourcen der Allianz ein. Siehe auch die Kommentierung in : La Libération 5. September 2003 « L’Eurocorps sous la coupe de l’OTAN » ; sowie : Le Figaro 5. September 2003 « L’Eurocorps en panne » . 1138 1139
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wurde von Paris – einem Mantra gleich – wieder einmal zentral gesetzt.1141 Der deutsche Partner und andere folgten und so wurde auf dem sogenannten „Minigipfel“ in Brüssel im April 2003 durch Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg die Forderung formuliert, der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine neue Qualität zu geben.1142 Ähnlich dem SHAPE-Hauptquartier der NATO sollten bis 2004 nunmehr autonome Planungs- und Befehlsstrukturen der Europäer geschaffen werden.1143 Die vorgesehene Errichtung eines entsprechend verantwortlichen EU-Generalstabs im Brüsseler Vorort Tervuren stieß erwartungsgemäß auf verfestigten Widerstand aus den Vereinigten Staaten. Angesichts der eklatanten Fähigkeitsdefizite der ESVP und der faktischen Integration der deutsch-französischen Militärkooperation im Korsett der Atlantischen Allianz sah man in Washington in der in Brüssel formulierten Forderung kaum mehr als eine politische Farce eines „Klubs der Unwichtigen“.1144 In Paris hingegen gefiel man sich augenscheinlich in der Rolle des Frondeurs und unterstellte den Amerikanern im Gegenzug – wie schon so oft – die Spaltung der Europäer betreiben zu wollen.1145 Schlussendlich blieb es aber bei einem erneuten Strohfeuer. Das am 28. November 2003 von Großbritannien, Frankreich und Deutschland beim trilateralen Treffen von Neapel verabschiedete Non-Paper „European Defence: NATO/EU consultation, planning and operations“ setzte einen Schlusspunkt unter das französisch-deutsche Aufbegehren und führte Europäer und Amerikaner wieder enger zusammen. Das Non-Paper, welches als Beschlussgrundlage für den Europäischen Rat in Brüssel am 12./13. Dezember 2003 diente und dort weitgehend angenommen wurde,1146 sah für die Weiterentwicklung der ESVP-Kommandostrukturen die Einrichtung einer EU-Zelle beim NATO-Hauptquartier SHAPE vor. Die Einrichtung eines veritablen ESVP-Hauptquartiers unter dem Stichwort „Tervuren“ wurde nicht weiter verfolgt. Ferner sollte der Brüsseler ESVP-Militärstab um eine Planungsstelle mit rund 50 Offizieren aufgestockt werden. Letztgenanntes Gremium war dazu bestimmt, im Bedarfsfall autonome EU-Operationen vorzubereiten, bei denen die NATO nicht als Ganzes involviert sein sollte. Demgegenüber sollte die, beim SHAPE geschaffene EU-Zelle für die bessere Vertaktung von NATO und EU sorgen und den Europäern die Planungskapazitäten der Allianz im vollen Umfang zugänglich machen. Durch diese Lösung, die der tatsächlichen Ressourcenlage entsprach, wurde zugleich das Prinzip „NATO first“ deutlich bestätigt. Ebenfalls in Brüssel wurde die EU-Sicherheitsstrategie (ESS)1147 angenommen, die wenige Monate zuvor von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens beim Hohen Vertreter für die GASP in Auftrag gegeben worden war. Angedacht als erster Ansatz für die Entwicklung 1141
Vgl. exemplarisch das Interview mit der französischen Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie in: Die Welt 6. Mai 2003 „Europa muss militärisch stärker werden“. Gemeinsame Erklärung Deutschlands, Frankreichs, Luxemburgs und Belgiens zur ESVP abgegeben in Brüssel am 29. April 2003, in: internationale Politik 3/2003, S.85-88. 1143 Françoise Manfrass-Sirjacques, Auf dem Weg zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), in: Helmut Wagner (Hrsg.), Europa und Deutschland – Deutschland und Europa, Münster 2005, S.519-537, hier. S.529. 1144 Vgl.: Financial Times Deutschland 8. April 2003: „Der Klub der Unwichtigen“. 1145 Dies tat etwa Guy Teissier, damaliger Präsident des Verteidigungsausschusses der Französischen Nationalversammlung; vgl.: SZ 17. September 2003 „Frankreich fordert enge militärische Kooperation in Europa“. 1146 Beschluss des Europäischen Rates von Brüssel am 12./13. Dezember 2003; www.auswaertigesamt.de/www/de/infoservice/download/pdf/publication/ap2004/02europa.pdf. 1147 The European Institute for Security Studies (Hrsg.), A secure Europe in a better World. European Security Strategy (ESS); unter: http.//europa-eu-un.org/articles/it/article_2449_lt.htm. 1142
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einer strategisch-konzeptionellen Eigenständigkeit der Europäer enthielt die ESS, neben einer akzentuierten Bedrohungsanalyse, Ansätze für konkrete politische Strategien, Instrumente und Handlungsoptionen zur Bewältigung der beschriebenen Herausforderungen und Bedrohungen an. Dabei handelte es sich allerdings weniger um ein konkretes Programm, sondern eher um eine Art „Manifest“,1148 dessen Wirkung gering bleiben sollte. Letztendlich hatten die im Jahresverlauf 2004 abklingenden, transatlantischen Meinungsverschiedenheiten eher die Bedingtheit denn die Autarkie der Europäer in der Sicherheitspolitik hervorgehoben. Dass am Ende selbst dieser Fronde gegen die NATO und die, vornehmlich von Paris empfundene, Hegemonie der Amerikaner die erneute Bestätigung des NATO-first-Prinzips stand, spricht für sich. Fortan wurde der Anspruch der ESVP weitaus nüchterner formuliert. So definierte der Europäische Rat im Juni 2004, auf einen deutsch-französisch-britischen Vorschlag hin, ein neues Streitkräfteziel (European headline goal 2010). Anders als noch in Helsinki 1999 wollten die Europäer nunmehr kleinere Gefechtsverbände (EU battle groups) zur schnellen Krisenreaktion in einer Größenordnung von jeweils etwa 1.500 Soldaten aufstellen.1149 Die EU-Verteidigungsminister hoben zwar hervor, dass damit das Helsinki-Ziel einer ESVP-Krisenreaktionsstreitkraft von bis 90.000 Mann nicht obsolet würde; Aufgabenspektrum und Verantwortlichkeiten der battle groups aber ließen genau diesen Schluss zu. Diese Weichenstellung zeigte zudem: Insgesamt führte in der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik und damit auch in ihrer deutschfranzösischen Ausprägung gerade im Bereich der Planung und Operationsführung letztlich kein Weg an der Atlantischen Allianz vorbei. Hierdurch wurde auch die französische Haltung von nun an grundlegend beeinflusst. Man erkannte in Paris endgültig, dass man Entscheidungsprozesse innerhalb der NATO nicht mehr würde beeinflussen können, wenn man eine externe Sonderrolle spielte. Nur eine wie auch immer geartete Integration in die atlantische Organisation versprach größeren Einfluss. Die laufenden Einsätze der Allianz – etwa in Afghanistan oder im Kosovo – boten Ansatzpunkte für ein verstärktes Engagement. Wohl auch daher übernahmen der französische General Py an der Spitze des EurokorpsKommandostabs ab September 2004die Führung des ISAF-Kontingents in Afghanistan und sein Kollege, General Kermabon die Leitung des KFOR-Einsatzes im Kosovo. Eine Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration der NATO war von nun an mehr eine Frage des „Wie“ und nicht länger des „Ob“. Dass diese formell erst auf dem Jubiläumsgipfel anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Allianz im Jahr 2009 vollzogen wurde, war vornehmlich allgemeineren politischen Motiven geschuldet. Militärisch war man spätestens seit 2004 konform gelaufen. Fasst man nun die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zusammen, ergibt sich für die deutsch-französische Sicherheitskooperation in den Jahren 1990-2000 folgendes Bild: Aufbauend auf einer, schon in den 1980er Jahren begonnenen Intensivierung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit setzten Deutschland und Frankreich nach dem Ende des Kalten Krieges auf die Fortentwicklung zuvor bereits in Blaupausen entwickelter Kooperationsprojekte. Zentrales Vorhaben dabei war Anfang der 1990er Jahre die Aufstellung eines Europäischen Korps, welches den in der Deutsch-Französischen Brigade angelegten 1148 1149
Stefan Fröhlich, Die Europäische Union als globaler Akteur, Wiesbaden 2008, S.110. Dreiviertel der insgesamt projektierten 13 battle groups sollen nach Beendigung der Aufstellungsphase im Jahr 2007 innerhalb von zwei Wochen für Einsätze der Konfliktverhütung und zur Befriedung von Krisenregionen zur Verfügung stehen. Die Gefechtsverbände sollten von einem Mitgliedsland alleine, einer „lead nation“ im Verbund mit anderen Staaten oder von mehreren Staaten zu jeweils gleichen Teilen als multinationale Einheiten nach dem CJTF-Prinzip aufgestellt werden.
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Gedanken ausdifferenzieren und über den bilateralen Rahmen hinaus führen sollte. Die grundsätzlich differenten Zielsetzungen französischer und deutscher Sicherheitspolitik wurden hierbei nahezu gänzlich ausgeklammert: Der französischen Konzeption einer tatkräftigen, durchaus auch unilateral agierenden Sicherheitspolitik mit weltweitem Anspruch, die zu ihrer Interessenwahrung auch bereit war, militärische Mittel einzusetzen, stand die Vorstellung der deutschen Seite gegenüber, Sicherheitspolitik in multilateralen Kooperationen und auf gegenseitigen Ausgleich hin zu organisieren. Eine Antwort auf diese Diskrepanz lieferten die Beschlussfassungen zum Korps nicht. Wie dargestellt wurde die deutsche Sicherheitspolitik nach 1990 dann auch von folgenden Prämissen beherrscht: (I.) Wahrung der eigenen Handlungsmöglichkeiten, (II.) Verhinderung einer Renationalisierung und (III.) Einhegung der Bedeutung militärischer Macht. Die Sicherheitspolitik Deutschlands war daher weiterhin primär institutionell orientiert. Gerade die sich nun vermehrt stellende Frage nach der Sicherheit Europas sollte in dieser Form beantwortet werden. Durch die institutionelle und damit verstetigte Zusammenarbeit im bi- und multilateralen Rahmen hoffte man auf den Erwerb gegenseitigen Vertrauens und auf ein nahezu unauflösliches Netz gegenseitiger Interdependenzen.1150 Frankreich setzte demgegenüber unverändert auf das schon von Charles de Gaulle entwickelte außen- und sicherheitspolitische Konzept, welches von einer multipolaren Weltordnung ausging, in der das eigene Land an der Spitze eines geschlossen auftretenden (West-)Europa eine hervorgehobene Rolle spielen sollte. Dieses setzte naturgemäß die Relativierung der Schlüsselstellung der Vereinigten Staaten in der europäischen Sicherheitspolitik voraus. Identisch für beide Partner waren daher Fragestellungen zur Vereinbarkeit des atlantischen und des europäischen Sicherheitsrahmens, zum konzeptionellen Spagat zwischen Modernisierung der Streitkräfte und schrumpfenden haushaltspolitischen Mitteln sowie – hiermit eng verwoben – zwischen Berufs- und Wehrpflichtarmee. Schlägt man den Bogen über den gesamten Betrachtungszeitraum, lassen sich – neben der in im Untersuchungsaufbau angelegten Einteilung in drei große Abschnitte und mit Blick auf den jeweiligen Zustand des bilateralen Abstimmungsprozesses – fünf Phasen der deutsch-französischen Sicherheitskooperation in der Dekade zwischen dem Ende des Kalten Krieges und der Festschreibung der ESVP im Vertrag von Nizza ausmachen. Diese fünf Phasen gliedern sich wie folgt: 1990 – 1991 1991 – 1995 1995 – 1997 1997 – 1998 1999 – 2000
Neuorientierung Harmonie Dissens Ausweglosigkeit Überführung
In der (I.) Phase der Neuorientierung der bilateralen Sicherheitskooperation lässt sich auf deutscher Seite eine hohe Kontinuität ausmachen. Überkommende Leitmotive werden überwiegend weiterverfolgt. Wie bereits erwähnt, blieb es bei dem zentralen Aspekt, Sicherheitspolitik nicht nur auf militärische Aspekte beschränkt zu begreifen. Vielmehr sollten Möglichkeiten zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte vornehmlich auf politi-
1150
Exemplarisch: Kohl, Deutsche Sicherheitspolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, S.12.
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schem und wirtschaftlichem Wege gefunden werden.1151 Ebenso wurde das Leitmotiv der „Stabilität“ infolge der Unzulänglichkeiten traditioneller Gleichgewichtspolitik – und damit anders als im französischen Verständnis des „équilibre européen“ – nicht mehr nur als der bloße Ausgleich von Gewicht und Gegengewicht gesehen.1152 Weiteres Charakteristikum der deutschen Haltung war die Sorge vor einer „Wiederkehr der Geschichte“ der europäischen Staatenwelt vor 1914 mit ihren zwischenstaatlichen Antagonismen. Daher war man in Bonn in den Jahren nach 1990 bestrebt, der deutschen Einheit die Einheit Europas folgen zu lassen. Die Schaffung der Europäischen Union – von Interdependenzen und zwischenstaatlichen Verflechtungen gerade in der Sicherheitspolitik geprägt – erhielt so ihre eigentliche Begründung. Rüstungskontrolle und Abrüstung waren weitere sicherheitspolitische Versatzstücke, die an Gewicht gewannen. In diesem Sinne lässt sich dann auch für die deutsche Seite von einer Phase der Neuorientierung sprechen. Demgegenüber war die sicherheitspolitische Zielsetzung Frankreichs klaren Änderungsanforderungen unterworfen. In erster Linie lag dies an der hohen Spezifikation, welche die französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Ära de Gaulle gekennzeichnet hatte. Die Anpassungsleistung an das sich verändernde Umfeld müsste daher ungleich höher ausfallen. Insgesamt kann man die französische Sicherheitspolitik in dieser ersten Phase als Neuausrichtung auf der Basis überkommender Leitbilder klassifizieren. Zentraler Faktor blieb dabei die (national-)staatliche Ebene. Der Staat war maßgeblicher Akteur im zwischenstaatlichen System und hier – Kraft seiner Souveränität – befähigt, autonom zu handeln. Auf dieser Basis glaubte namentlich François Mitterrand 1990 zunächst an eine Wiederkehr des équilibre européen als zwischenstaatliches Ordnungsmodell Europas. Erst die Verhandlungen über den Vertrag zur Europäischen Union im Jahr 1991 führten schließlich zur Aufgabe dieses Leitbildes. Die (II.) Phase der sicherheitspolitischen Harmonie zwischen Deutschland und Frankreich in den Jahren 1991 bis 1995 ist von den Arbeiten an der Europäischen Union und der Gründung des Eurokorps geprägt. Die zentrale Setzung des Aussöhnungsgedankens verstärkte den deutsch-französischen Bilateralismus, der in jener Phase noch einmal einen guten Teil seines pathetischen Gepräges erhielt. Hinzu tritt – gerade für die Jahre 1991 bis 1993 – eine gewisse sicherheitspolitische Entfremdung zu Washington. Im Umfeld der Eurokorps-Entscheidung erschien es fast so, als ob die Achse Paris-Bonn die strategische Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit Europas würde relativieren können. Zudem erfüllte die deutsch-französische Kooperation in jener Zeit ihre Motorfunktion für die europäische Entwicklung exemplarisch. Paris wie Bonn setzten auf die Schaffung einer europäischen Verteidigungspolitik im Rahmen der Westeuropäischen Union und der EG/EU. Handlungsbestimmend war die Einsicht, dass Europa eigener, tragfähiger Sicherheitsstrukturen bedürfe. Für Paris galt zudem, dass Europa nun nicht mehr von dem „Wohlwollen“ Anderer abhängig bleiben sollte. Ab 1993 geriet der bilaterale Abstimmungsprozess aber mehr und mehr ins Stocken – vornehmlich deshalb, weil der von der 1151
1152
Peter Schmidt, Deutsche Sicherheitspolitik im Rahmen von EU,WEU und NATO, in: Außenpolitik 3/1996, S.211-222, hier: S. 211. Internationale Organisationen wurden als Dialogforen zur politischen Lösungen wiederstrebender Interessen begriffen. Ungebundenheit und autonome Handlungsfähigkeit von Staaten wurden als Sicherheitsrisiko angesehen und sollte daher von einem übergeordneten Integrationsnetz überlagert in das möglichst viele alle Staaten eingewoben waren. Die subjektive Interessenpolitik der Staaten sollte gegenüber einer am gemeinsamen Interesse aller Staaten orientierten Politik zurücktreten, vgl.: Alain Carton/ Hans-Dieter Heumann, Deutschland, Frankreich und die Sicherheit in Europa, in: Dokumente 1991, S.10-16.
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Eurokorps-Initiative zunächst überdeckte Zielkonflikt über den Zweck der bilateralen Kooperation wieder deutlicher hervor trat: Während Bonn die geschaffenen integrierten Institutionen als Endpunkt und nicht als Basis für neue Vorhaben erachtete, rückte für Frankreich mehr und mehr die Frage ins Zentrum, welche sicherheitspolitischen Schritte auf eben diesem Sockel unternommen werden konnten. Paris verstand die europäische Integration eben nicht als Selbstzweck, sondern als dienlichen Bündelungsprozess einzelstaatlicher Ressourcen zur Erlangung größeren gestaltungspolitischen Einflusses. In Folge dessen geriet – nach dem nahezu synchronen Auftritt in den Jahren 1991 und 1992 – die bilaterale Sicherheitskooperation im Jahresverlauf 1993 mehr und mehr aus dem Takt. Da hierbei auch die sich wieder intensivierte Abstimmung zwischen Bonn und Washington eine Rolle spielte, zeigte sich erneut, dass sich das deutsch-französische Bedingungsfeld einfacher entschlüsseln lässt, wenn man die Rolle der Vereinigten Staaten als externen Faktor berücksichtigt. Dass mit Beginn des Jahres 1994 zur konkreten Perspektive werdende dauerhafte Militärengagement Washingtons in Europa sowie das im ESVI-Konzept der NATO zu Ausdruck kommende Bekenntnis der Militärallianz zu einem europäischen Pfeiler, relativierten – insbesondere aus Bonner Sicht – das Bedürfnis, im bilateralen Verbund politisch, aber vor allem militärisch Neues zu schaffen. Diese Zurückhaltung korrelierte mit einer sich im Jahresverlauf 1994 intensivierenden innerfranzösischen Debatte über den eigenen sicherheitspolitischen Kurs und die Zielstruktur der Europäischen Union. All dies führte schließlich zu einer Einengung des Bedeutungsgehaltes der beiderseitigen Sicherheitskooperation auf den Aussöhnungsaspekt. Durch diesen Fokussierungsprozess erhielt auch das Truppen-Defilée vom 14. Juli 1994 zu guten Teilen seine ganz eigene Bedeutung. Die 1995 beginnende (III.) Phase des Dissens zwischen beiden Partnern über zentrale sicherheitspolitische Themen ist eng mit dem Ausscheiden François Mitterrands aus dem Amt des französischen Staatspräsidenten verbunden. Die Wende von Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac hin zu einer französischen Außenpolitik mit wieder deutlicherem weltweiten Anspruch erfolgte schon in den ersten Monaten nach dessen Amtsantritt im Mai 1995. Dabei sollte die deutsch-französische Sicherheitskooperation als eine der möglichen Grundlagen dienen. In Paris mühte man sich deswegen zunächst, die Bindung an Bonn zu intensivieren – doch über eine Professionalisierung der Armee und eine erneute Atomofferte war dies nicht zu erreichen. Gerade letztgenannter Punkt – ein bilateraler Klassiker – zeugte dabei von dem Willen der neuen französischen Administration, die Fragen der Territorialverteidigung zu überwinden und den Fokus verstärkt auf die Steigerung der militärischen Projektions- und damit der Interventionsfähigkeit zu richten. Zur Entfremdung trug ferner bei, dass Chirac wieder stärker auf gaullistische Maximen rekurrierte als dies die Vorgänger-Administration in den Jahren 1993-1995 getan hatte: Sicherheitspolitische Fragen wurden fortan zunächst unilateral entschieden und erst in einem nachgeordneten Schritt den Partnern erläutert. Die Entscheidungsabläufe im Rahmen der Beschlüsse zur Wiederaufnahme der französischen Atomtests, der Annäherung an die NATO oder der Aussetzung der Wehrpflicht belegen dies exemplarisch. Dies sorgte für nachhaltige bilaterale Verstimmung. Bei der so unternommenen Generalüberholung der französischen Sicherheitspolitik spielten die Betonung von politischem Willen und Flexibilität – ganz im Sinne de Gaulles1153 – eine wesentliche Rolle. Der ab Herbst 1995 einsetzende Annäherungskurs an die 1153
Charles de Gaulle in seiner Rundfunk- und Fernsehansprache vom 19. April 1963: „[…] es genügt nicht, freie Hände zu haben, um handlungsfähig zu sein. Es bedarf der Kraft.“ zitiert nach: Alfred Grosser, Frankreich und seine Außenpolitik. 1944 bis heute, München 1989, S.223.
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NATO wird durch die sich durchgesetzte Erkenntnis erklärlich, dass man als Außenstehender beim Transformationsprozess der Atlantischen Allianz nahezu kein Mitspracherecht besaß. Die französische NATO-Annäherung war also nicht radikaler Bruch mit der bisherigen Politiklinie, sondern eher ein modifizierter Ansatz im Sinne einer auf sicherheitspolitische Eigenständigkeit bedachten übergeordneten Zielsetzung. Hiervon legte auch die Tatsache Zeugnis ab, dass man in Paris den Annäherungskurs an klare Bedingungen knüpfte. Im Kern ging es – wenn auch wenig konkret – um eine stärkere Teilhabe der „Europäer“ an den transatlantischen Entscheidungen. Diese Forderung wurde von Bonn prinzipiell unterstützt – trotz oder gerade weil man um die eigenen mangelhaften militärischen Einsatzkapazitäten wusste. Der Fixpunkt einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik war so gesetzt. Im Umfeld der Arbeiten am Vertrag von Amsterdam in den Jahren 1996/97 wurde dann mehr und mehr deutlich, dass die deutsch-französische Sicherheitskooperation ohne den größeren Rahmen der ESVP Stückwerk bleiben würde. In diesem Zusammenhang ist richtigerweise darauf verwiesen worden, dass das deutschfranzösische Einvernehmen zunehmend unter einem sich immer stärker ausdifferenzierten Sicherheitsbegriff litt, der die Definition einer kohärenten, gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beider Länder mehr und mehr erschwerte.1154 Hierfür bezeichnend ist auch das deutsch-französische Sicherheitskonzept vom Dezember 1996. Der durch das Konzept unternommene Versuch, der bilaterale Motorfunktion in der Sicherheitspolitik neuen Schub zu verleihen, blieb in seinen Ansätzen stecken. Wenig hilfreich war zudem, dass sich Frankreich letztendlich erfolglos an seiner Reintegration in die NATO und vor allem an der damit verknüpften Südkommando-Frage abarbeitete. Auf deutscher Seite war das Haupthindernis die mangelnde Bereitschaft, beherzt in Richtung Interventionsfähigkeit voranzuschreiten. Anders formuliert: Die sicherheitspolitische Impulsgeberfunktion, die den deutsch-französischen Bilateralismus in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gekennzeichnet hatte, war spätestens im Sommer 1997 erloschen. Die deutsch-französische Sicherheitskooperation stagnierte. Die (IV.) Phase des Jahres 1997/1998 muss als ein Stadium bilateraler Ausweglosigkeit begriffen werden. Zugleich sagt sie viel über die Charakteristik der deutschfranzösischen Sicherheitskooperation in den 1990er Jahren aus. Für die deutsche Seite war eine europäische Sicherheitsordnung ohne eine maßgebliche Einbeziehung der Atlantischen Allianz und der Amerikaner schlichtweg nicht erstrebenswert. Schon bei der EurokorpsEntscheidung 1992 war es Bonn unter anderem darum gegangen, Paris und Washington wieder zueinander zu bringen. Den französischen Wiederannäherungskurs an die Atlantische Allianz hatte man daher mit ausdrücklichem Wohlwollen begleitet. Für die Regierung Kohl war eine Rückkehr Frankreichs in die Allianz eigentlich alternativlos – sowohl weil dies dem eigenen, auf umfassende Integration angelegten Sicherheitsverständnis entsprach, als auch wegen des Bestrebens, kostenintensive und uneffektive Doppelstrukturen zu vermeiden. Entsprechend konsterniert, ja verärgert, war man über das Scheitern der Verhandlungen. Diese Reaktion verdeutlicht, dass der sicherheitspolitische Schulterschluss mit Paris für die Bonner Seite immer nur so praktikabel schien, inwieweit er sich mit der atlantischen Bindung vereinbaren ließ. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges galt unverändert, dass Bonn, vor die Wahl gestellt, sich sicherheitspolitisch wohl immer eher für Was1154
Michael Meimeth, Welche Rolle für die USA und die NATO? in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-WestKonflikts, Opladen 1997, S.83-90, hier: S.89.
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hington und gegen Paris entscheiden würde. Eine europäische Eigenständigkeit war für die deutsche Seite nicht denkbar. Weiterer Aspekt war der Umstand, dass für das Gelingen der deutsch-französischen Kooperation viel vom persönlichen Verhältnis der maßgeblichen Akteure zueinander abhing – das deutsch-französische Verhältnis war traditionell eben „Chefsache“. Nach den Querelen der beiden vorangegangenen Jahre hatten Kohl und Chirac spätestens im Sommer 1997 ihre sicherheitspolitischen Gemeinsamkeiten aufgebraucht. Zudem beherrschten nun verstärkt haushaltspolitische Erwägungen die bilaterale Kooperation – wohl auch deshalb, weil die neue Sicherheitslage nicht im gleichen Maße als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurde wie der ideologische Konflikt des Kalten Krieges. Davon abgesehen zeigte die weitere Entwicklung, dass Frankreich in seinem Bund mit dem deutschen Partner kein Band unverwundener Treue sah, sondern vornehmlich Interessenpolitik mit ihm verband: Als die deutsch-französische Kooperation stagnierte, suchte Paris den Zusammenschluss mit Großbritannien, welches ihm ohnehin in Militärdoktrin und militärischen Einsatzverständnis näher stand als Deutschland. Erleichtert wurde dieser Schritt von einer eigentümlichen Unbeweglichkeit auf deutscher Seite, die sich in gewisser Form mit dem fin de règne der Kanzlerschaft Helmut Kohls erklären lässt. Als Ansatzpunkt für den französisch-britischen Annäherungskurs diente die Überwindung der seit dem Jahr 1992 bestehenden britischen Blockadehaltung gegenüber einer Konkretisierung der operativen Befähigung der WEU. Der ab dem Herbst 1997 einsetzende, britisch-französische Annäherungskurs muss sich für seine Anfänge jedoch den Vorwurf einer gewissen Planlosigkeit gefallen lassen. Erst nach dem im Sommer 1998 abgegebenen Bekenntnis Tony Blairs zur Eigenverantwortlichkeit der Europäer in der Sicherheitspolitik war der Weg frei für die schließlich in St Malo abgefasste „Erklärung über die europäische Verteidigung“. Diese ist als entscheidender Durchbruch auf dem Weg zu einer institutionellen Verfestigung der ESVP zu werten. Dass dabei – genau wie bei der Eurokorps-Entscheidung – der entscheidende Impuls von einer bilateralen Initiative auf Regierungsebene ausging, unterstrich die ungebrochene Wirkmächtigkeit des intergouvernementalen Gedankens in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäer und war eine erneute Absage an etwaige Vergemeinschaftungsbestrebungen. Gegen Ende des Jahres 1998 trat die deutsch-französische Sicherheitskooperation dann in die (V.) Phase ein. Diese war gekennzeichnet von der Überleitung der bilateralen Zusammenarbeit hin zu einer Einbettung in die ESVP. Formell wurde dieses Überführungsstadium mit dem im Dezember des Jahres 2000 indossierten EU-Vertrag von Nizza abgeschlossen. In seinen Anfängen dominierten zunächst die Auswirkungen des St MaloProzesses auf die deutsch-französische Kooperationsachse. Die Bedeutungsrelativierung, die diese durch die französisch-britische Annäherung erfuhr, zeigte zugleich aber auch den Weg aus sicherheitspolitisch-bleiernen Zeiten. Die katalytische Wirkung dieser neuen Konstellation auf die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde durch den Kosovo-Krieg noch verstärkt. Überhaupt kann man für das Jahr 1999 von einer eigentümlichen Einhelligkeit in der Zielsetzung zwischen den Europäern untereinander und innerhalb der Atlantischen Allianz sprechen. Die Erklärungen des Washingtoner NATO-Gipfels vom April 1999 bezeugen dies ebenso wie die zeitlich parallel erfolgende, stringente Entwicklung innerhalb von WEU und EU. Auf Basis dieser Konstellation funktionierte die deutschfranzösische Absprache im Umfeld der einschlägigen Gipfeltagungen des Jahres 1999 auch deshalb wieder, weil sich die neue deutsche Bundesregierung stärker zum europäischen Krisenmanagement bekannte. Dadurch wurde der auf dem Europäischen Rat von Helsinki
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erzielte Erfolg der Einbettung der WEU in die Europäische Union – einem, von Deutschland und Frankreich lange angestrebtem Ziel – erst möglich. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die deutsch-französische Sicherheitskooperation gerade durch den Erfolg der ESVP immer mehr in ihrer Bedeutung relativiert wurde. Diese Bedingtheit trat im Verlauf des Jahres 2000 immer deutlicher hervor. Zwar versuchte die, anlässlich des deutschfranzösischen Gipfels vom November 2000 abgegebene „Erklärung von Vittel“ noch einmal, die bilaterale Sicherheitskooperation über ihre ESVP-Zulieferfunktion hinauszuführen. Letztlich blieb dieser Ansatz jedoch in seinen Anfängen stecken. Das Vertragswerk von Nizza setzte dann in gewisser Hinsicht den Schlusspunkt unter die Exklusivität der deutschfranzösischen Sicherheitskooperation. Das markanteste Einzelprojekt der deutsch-französischen Sicherheitskooperation der 1990er Jahre war jenes des „Europäischen Korps“ oder „Eurokorps“. In den Entscheidungsabläufen rund um seinen Aufstellungsbeschluss und in seiner weiteren Entwicklung bündelten sich exemplarisch prägende Charakteristika der bilateralen Zusammenarbeit. Auch ermöglicht die Analyse der sich verändernden Stellung des Korps gegenüber WEU und NATO zugleich den Rückschluss auf die jeweiligen bündnispolitischen Parameter beider Länder. Die mit dem Korps geschaffene dauerhafte Militärallianz gab den deutschfranzösischen Beziehungen eine neue Qualität im europäischen Rahmen.1155 Durch das Eurokorps wurde die bilaterale militärische Zusammenarbeit unumkehrbar und emanzipierte sich von der jeweiligen tagespolitischen Konstellation beider Länder. Eine Abkehr Deutschlands oder Frankreichs vom Eurokorps würde die Hand an die Grundfesten der beiderseitigen Kooperation legen. Rekapituliert man wesentliche Aspekte, so kann es als bezeichnend gelten, dass die europäische Sicherheitsstruktur, nach schleppendem Anlauf, mit der Ankündigung Frankreichs und Deutschlands, einen militärischen Großverband zu gründen, erst Fahrt aufnahm. Die Schlüsselstellung des deutschen-französischen Motors in der Europapolitik der achtziger und der frühen neunziger Jahre wird so nahezu plastisch greifbar. Die bilaterale Initiative zu dem militärischen Großverband ging dabei auf einen im Winterhalbjahr 1990/91 im deutschen Kanzleramt ausgearbeiteten Vorschlag zurück. Die Ankündigung des Abzuges der französischen Streitkräfte aus Deutschland hatte hier Befürchtungen geweckt, das Zweier-Verhältnis könnte einen integratorischen Rückschritt erleiden. Mit der Korps-Initiative wollte man diese Gefahr abwenden und auch den Anstoß zu einer dauerhaften, da institutionalisierten Aussöhnung der ehemaligen Gegner geben. In diesem Punkt waren die deutsche und die französische Sichtweise deckungsgleich. Damit stand der Anspruch des Korps auch deutlich über jenem der Deutsch-Französischen Brigade, die 1988 vornehmlich aus Gedanken der militärischen Interoperabilität ins Leben gerufen worden war. Helmut Kohl und François Mitterrand verstanden das „Euro-Korps“ gleichsam aber auch als Auftakt zu einer gemeinsamen Armee der Europäer. Die KorpsInitiative ging in ihrer Bedeutung damit deutlich über eine in der deutsch-französischen Zusammenarbeit ja häufig zu findende Geste1156 symbolischer Rückversicherung hinaus. 1155
Diesen Schluss vertritt auch Karl-Heinz Bender; vgl.: Ders., Der besondere Beitrag Deutschlands und Frankreichs zum Aufbau Europas: Eine historische, politische und militärische Sicht, in: Ernst Martin (Hrsg.), Eurokorps und Europäische Einigung, Bonn 1996, S.213-241, hier: S.240. 1156 Vgl.: Greif, Sicherheitspolitik in der Ära Mitterrand, S.68; Wichard Woyke, Gesellschaftliche Grundlagen der französischen Sicherheitspolitik und ihre Auswirkungen auf die deutsch-französischen Beziehungen, in: Wolfgang Asholdt und Heinz Thoma (Hrsg.), Frankreich. Ein unverstandener Nachbar (1945-1990), Bonn 1990, S.87-99, hier: S.94; Ziebura, Deutsch-französische Beziehungen, S.346-347.
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Schlussbetrachtung
Das Korps, welches in der Tradition der Entscheidungen des Londoner NATO-Gipfels des Jahres 1990 stand, bedeutete für die europäische Sicherheitspolitik den Nukleus einer von der Atlantischen Allianz unabhängigen Struktur. Dieser Umstand war gerade für Frankreich von erheblichem Gewicht, zeigte er doch den Weg aus einer bündnispolitischen Sackgasse. Dem durch die in den Jahren nach 1990-1992 beginnende Funktionsausweitung der NATO aufgebauten Integrationsdruck konnte man nun eine eigene Struktur entgegenstellen, die als mögliche Keimzelle einer tragfähigen europäischen Sicherheitsstruktur über das Potenzial verfügte, bündnispolitische Alternativen aufzuzeigen. Mit dem noch im Sommer 1992 bekundeten Interesse Belgiens, Italiens oder Spaniens an einer Beteiligung am Korps bewahrheitete sich diese Kalkulation noch deutlicher. Die Vereinigten Staaten waren jetzt dazu genötigt, sich mit den französischen Vorstellungen zur europäischen Sicherheit auseinander zu setzen – und sei es nur aus dem Grund, das Rangverhältnis zwischen WEU-Unterstellung und NATO-Assignierung der betroffenen europäischen Militäreinheiten zu lösen. Das Eurokorps ist so auch aus der Perspektive einer sich verbessernden Verhandlungsposition Frankreichs gegenüber der NATO zu bewerten. Die Befürchtung, das Korps könne den Zusammenhalt in der Atlantischen Allianz gefährden, rief die Kritik einiger europäischer Partner und vor allem der Vereinigten Staaten hervor. Dieses negative Echo führte, nach dem förmlichen Beschluss zur Aufstellung des Korps im Mai 1992, zu einer – gerade auf deutscher Seite – erheblichen Relativierung der zunächst mit dem Großverband assoziierten Euphorie. Dennoch hatte das Korps Substanz auf das bisher spärlich bestellte Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer gebracht. Schon von jeher hatte es zu den Wesenszügen der deutsch-französischen Sicherheitspolitik gehört, stark auf Symbolkraft fixiert zu sein – auch weil die sensible Dreierkonstellation Paris-Bonn-Washington sonst drohte, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Für diese Symbolfixierung war die Parade deutscher Truppenverbände des Eurokorps auf den Champs Elysées am 14. Juli 1994 und mehr noch das zu diesem Anlass bemühte bilaterale Pathos ein beredeter Beleg. Neben der Indienststellung der Deutsch-Französischen Brigade 1990 und dem Beschluss von La Rochelle zur Gründung des Eurokorps 1992 stellte das Truppendefilée einen der Kulminationsmomente der bilateralen Sicherheitskooperation dar. Das von Helmut Kohl und François Mitterrand zehn Jahre zuvor in Verdun begonnene Aussöhnungswerk vollzog seinen Zirkelschluss. Allerdings begann nach diesem Höhepunkt die Katharsis. Das Spannungsfeld wurde fortan deutlich, in dem das Eurokorps Mitte der 1990er Jahre stand. Auf der einen Seite war es Symbol der deutsch-französischen Versöhnung und damit „Schauverband“, zum anderen dazu vorgesehen, Exekutivorgan der WEU zu werden. Ganz der letztgenannten Zielsetzung verpflichtet war das Verständnis, welches ab dem Jahr 1995 die neue französische Administration Chirac-Juppé dem Eurokorps entgegenbrachte. Ab Oktober 1995 formell voll einsatzbereit, sollte dieses seine tatsächliche Einsatzfähigkeit möglichst bald unter Beweis stellen. Dies scheiterte jedoch am Widerstand Bonns, wo man trotz des einschlägigen Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1994 zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr vor den Unwägbarkeiten militärischer Operationen zurückschreckte. Zudem wusste man in der deutschen Bundesregierung um die, entgegen der Papierform, noch rudimentär entwickelten Operationsfähigkeit der Korpsverbände. Nicht übersehen werden darf auch der sich hemmend auswirkende Wille Helmut Kohls, in dem Eurokorps etwas anderes zu sehen als ein Projekt der deutschfranzösischen und der europäischen Aussöhnung. Durch die Integration von Streitkräften,
Schlussbetrachtung
263
so der Leitgedanke, würden zwischenstaatlichen Antagonismen die Geschäftsgrundlage genommen – zumindest militärisch. Ob Jacques Chirac diese Überlegung teilte oder nicht, sei dahingestellt. Sein sicherheitspolitischer Schwerpunkt lag jedenfalls nicht mehr auf der zuvor noch zentral gesetzten Aussöhnung (West-) Europas. Der Fokus der von Chirac formulierten französischen Sicherheits- und vor allem der Streitkräftepolitik verlagerte sich ab 1995 vielmehr auf die Felder Effektivität/Professionalisierung und Projektionsfähigkeit. Der sich hieraus für Paris logisch ergebende Schluss, die Wehrpflicht auszusetzen, beendete auch die Überlegungen zu einer gemeinsamen Armee der Europäer, die gerade bei Helmut Kohl bis zuletzt Sympathie genossen hatte. Vom operativen Gesichtspunkt her hatte eine gemeinsame Armee von Anfang an wenig Sinn gehabt. Nun fiel zudem auch der Aspekt der „Völkerverständigung“ weg, den man einer gemeinsamen Armee europäischer Wehrpflichtigen noch hätte attestieren können. Die vereinzelt geäußerte These,1157 die Entscheidung Chiracs, die Wehrpflichtarmee in eine Berufsarmee umzugestalten, stelle mittelfristig den Zusammenhalt des Eurokorps in Frage, bewahrheitete sich nicht. Auch die mit der Eurokorps-Initiative von deutscher Seite verknüpfte Hoffnung, eine umfangreiche Stationierung französischer Streitkräfte in Deutschland dauerhaft zu erhalten, erfüllte sich nicht. Die Gründung des Korps bedeutete hier lediglich eine Art Moratorium. Im Zuge der von der Administration Chirac/Juppé angestoßenen Armeereform wurde auch der Abzug eines Großteils der Forces Françaises en Allemagne vollzogen und bereits im Jahr 1999 abgeschlossen. Die Tendenz zur Repatriierung eigener Militärverbände aus dem Partnerland wirkte sich in der Folgezeit dann vermehrt auch auf die Deutsch-Französische Brigade aus. Spannt man den Bogen über den gesamten Untersuchungszeitraum, tritt die Frage nach den Einsatzrichtlinien des Eurokorps deutlich hervor: Zwei Partnerländer könnten eventuell zu gemeinsamen Beschlüssen über einen Einsatz kommen; bei fünf oder sechs gestaltet sich dies ungleich schwieriger. Die Verwendung des Korps erfordert integrierte militärische Führungsstrukturen auf der Kommandoebene und setzt eine effektive politische Entscheidungsebene voraus. Gerade diese zweite Ebene wurde aber nur unzureichend entwickelt. Zu stark waren anderweitige Querverbindungen und Verpflichtungen – etwa innerhalb der WEU, vor allem aber innerhalb der Atlantischen Allianz. Versuche, die Entscheidungsstrukturen rund um das Korps in diesem Sinne weiter zu entwickeln, scheiterten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Dass die französische Seite, die dieses Unterfangen vornehmlich betrieb, dennoch am Eurokorps festhielt, hatte seine Gründe in dem Umstand, dass man mit Hilfe des Militärverbandes europäische Eigenständigkeit demonstrieren und die Monopolstellung der NATO relativieren konnte. Eigentlich war die Funktion des Korps während des gesamten Untersuchungszeitraumes so mehr eine politische denn eine konkret-militärische. Das Eurokorps war niemals das „scharfe Schwert“ in der Hand des bewaffneten WEU-Arms der Europäer. Die 1999 erfolgte Umwidmung des Korps zum „Europäischen Krisenreaktionskorps“ läuft diesem Schluss nicht zuwider, da hier vornehmlich Umstellungen hin zu einer Übernahme des NATOStandards für multinationale Hauptquartiere getätigt wurden. Komplementär hierzu sollte das Eurokorps dem veränderten strategischen Umfeld angepasst und zu einem schnellen Krisenreaktionskorps umstrukturiert werden. Aufbauend auf der beim 73. deutsch1157
So etwa: Achim Lippold, Außenpolitische Entscheidungsprozesse. Die Institutionen in den deutschfranzösischen Beziehungen, in: Dokumente 1997, S.300-308, hier: S.304.
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Schlussbetrachtung
französische Gipfel getroffenen Übereinkunft, das Eurokorps zu „konkretisieren“, zeugten die im November 1999 in Luxemburg gefassten Beschlüsse von der Einsicht, dass eine effektive Aufgabenerfüllung als europäische Krisenreaktionskraft nur unter Übernahme der entsprechenden NATO-Standards und in enger Kooperation mit der Atlantischen Allianz zu verwirklichen sei. Durch den „Bericht von Luxemburg“ ergab sich so faktisch eine Einordnung in die Struktur der NATO – rechtlich stand das Korps nach wie vor außerhalb dieser Struktur. Man kann von einer indirekten militärischen Integration sprechen. Hierdurch endete der bündnispolitische Sonderstatus, der das Eurokorps seit seiner Aufstellung 1992 ausgezeichnet hatte. Eine höhere Einsatzfähigkeit und Kompatibilität mit den entsprechenden NATOStellen des Stabes des Eurokorps ab diesem Zeitpunkt war ohne Zweifel gegeben – zur Erhöhung der Einsatzfähigkeit der ihm zugeordneten Einheiten erfolgte allerdings keine Beschlussfassung. Das konkrete Unterstellungs- bzw. Zuordnungsverhältnis militärischer Verbände zum Korps, welches charakteristisch für die Phase bis 1999 gewesen war, löste sich dagegen mehr und mehr auf. Hierfür verantwortlich war das im ESVI-Prozess zentral gesetzte dem CJTF-Konzept entlehnte Prinzip militärischer Modularität. Fasst man zusammen, so lassen sich für das Eurokorps die folgenden Punkte als wesentlich festhalten:
Der Beschluss zur Aufstellung des Eurokorps erklärt sich aus der Übergangsphase, in der sich die europäische Sicherheitslandschaft nach 1990 befand. Hinzu trat die Unsicherheit über das weitere militärische Engagement Washingtons in Europa. Auch das gute persönliche Einvernehmen zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand – ihr beiderseitiges Eintreten für die europäische Idee sowie ihr Verständnis für die besondere Rolle der deutsch-französischen Partnerschaft innerhalb derselbigen – beförderten den Aufstellungsbeschluss. Das Eurokorps war Schlussstein der deutsch-französischen Aussöhnung, aber auch Initiator für eine Konkretisierung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Durch das Korps wurde die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik beschleunigt; der Verband gab den Anstoß für eine Ab- bzw. Angleichung der einzelstaatlichen Rahmenbedingungen militärischer Operationen und für die Standardisierung der Rüstungsvorhaben. Die insbesondere von der deutschen Seite gehegte Hoffnung, durch das Korps eine sehr enge Verflechtung der einzelstaatlichen Streitkräftekulturen zu erzielen, erfüllte sich dennoch nicht. Zielsetzungen und Durchführungsgrundsätze der Sicherheitspolitik und besonders die Streitkräftepolitik blieben dem jeweiligen staatlichen Interesse verpflichtet. Frankreichs Abschied von der Wehrpflicht und die Repatriierung seiner militärischen Verbände aus Deutschland sind hierfür Beispiele. Das Eurokorps erfüllte in den 1990er Jahren vornehmlich eine politische Funktion; demgegenüber fiel die militärische deutlich ab. Dies lag auch daran, dass dem Korps ein konkreter Überbau fehlte, der Leitlinien festlegte oder etwa über konkrete Einsätze entschied. Erst mit den Beschlüssen der Europäer zur ESVP in den Jahren 1999-2000 sowie dem „Bericht von Luxemburg“ (1999), der eine Verflechtung des Korps mit der NATO vorsah, wurden die Weichen hin auf eine militärisch-operative Ausrichtung des Verbandes gestellt.
Schlussbetrachtung
265
Festzuhalten bleibt ferner, dass das Eurokorps als genuiner Militärverband der Europäer und als möglicher Nukleus einer militärischen Eigenständigkeit der Europäer letztlich Etappe geblieben ist. Das Korps ist vielmehr in der NATO-Struktur aufgegangen. Die im Jahr 2009 erfolgte Rückkehr Frankreichs in die integrierten Strukturen der Nordatlantischen Allianz setzte dann den Schlussstein unter die spezifisch europäische Funktion des Korps. Zugespitzt kann man davon sprechen, dass der Name „Eurokorps“ heute nur noch Traditionspflege ist. Richtet man den Blick auf den integrationstheoretischen Aussagegehalt der deutschfranzösischen Sicherheitskooperation im Untersuchungszeitraum so treten die Belege für eine Bestätigung des intergouvernementalen Ansatzes deutlich hervor. Die vornehmlich von französischer Seite konsequent verfolgte Linie, den Staat als maßgeblichen Bezugspunkt in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu erhalten, ließ einer sich verselbstständigen Integrationsdynamik, etwa im Sinne eines spill-over-Prozesses, letztlich keinen Raum. Verlässt man den bilateralen Kooperationsrahmen und betrachtet europäischen Ausdifferenzierungsprozess in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird die zentrale Stellung der Regierung und somit der Staaten gleichfalls unterstrichen. Gerade der spezifische Verlauf des ESVP-Prozesses – sein anfängliches Stocken und sein später rasant beschleunigter Verlauf – hebt dabei die Bedeutung der Einwilligung der staatlichen Akteure hervor. Dies ist umso evidenter da die Ausdifferenzierung der ESVP keineswegs zwingend war – bestand doch durch die parallel erfolgende Errichtung der ESVI innerhalb der Atlantischen Allianz eine potenzielle Alternativstruktur. Stellt man sich abschließend die Frage nach der Funktion der deutsch-französischen bilateralen Sicherheitskooperation nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, so lassen sich auf Basis der vorliegenden Untersuchung folgende Wirkungsfelder klassifizieren: 1. 2. 3. 4.
Aussöhnungsfunktion Impulsfunktion für die Sicherheitspolitik der Europäer Brückenfunktion für Frankreichs Annäherung an die NATO Reformfunktion für die Umgestaltung der NATO
Eine besondere Dynamik entfaltete die bilaterale Sicherheitskooperation dabei vor allem in ihrer Impulsfunktion für die Sicherheitspolitik der Europäer. Deutschland und Frankreich hatte sich Anfang der 1990er Jahre die Option eröffnet, zu einer Art sicherheitspolitischer Avantgarde der Europäer zu werden. Dieses Ziel wurde im Wesentlichen nicht erreicht, auch wenn beide Partner in bestimmten Phasen immer wieder an die Spitze der europäischen Entwicklung traten. Dabei war die Strahlkraft der bilateralen Kooperation gerade in den Jahren 1991 bis 1995 hoch. Insbesondere der Beschluss zur Aufstellung des Eurokorps führte – vor dem Hintergrund der sich verändernden europäischen Sicherheitslandschaft – die bilaterale Zusammenarbeit über die angestammten Kooperationsmuster hinaus.1158 Dass es dabei in der Folge nicht zu einer substantiellen Vertiefung kam, lag in erster Linie an den divergierenden sicherheitspolitischen Zielsetzungen in Bonn und Paris. Über diese konnte,
1158
Anderer Auffassung ist: Christoph Neßhöver & Holger Schrader, Frankreich auf dem Weg zu einer „Multilateralisierung“ seiner Deutschlandpolitik? in: Hanns Maull, Michael Meimeth, Christoph Neßhöver (Hrsg.) Die verhinderte Großmacht. Frankreichs Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Opladen 1997, S.68-82, hier: S.80
266
Schlussbetrachtung
betrachtet man den gesamten Untersuchungszeitraum, nie Einvernehmen hergestellt werden. Mit dem französischen Regierungswechsel 1995, den von nun an vermehrt auftretenden bilateralen Dissonanzen relativierten sich die Möglichkeiten der bilateralen Sicherheitskooperation. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre konnte, trotz der weitreichenden Beschlüsse des Berliner NATO-Gipfels 1996 zu einer europäischen Sicherheitsidentität, der Spannungsbogen EU-WEU-NATO zunächst nicht entlastet werden. Gerade diese Konstellation, die dem deutsch-französischen Sicherheitstandem seine Grenzen aufzeigte, bedingte schlussendlich dann jedoch die ESVP-Beschlüsse. Sowohl die Möglichkeiten als auch die Limitiertheiten der deutsch-französischen Sicherheitskooperation haben so die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in gewisser Hinsicht befördert. Dabei setzte sich der von der deutschen Seite präferierte – und von Paris niemals explizit abgelehnte – strategische Grundsatz durch, dass einerseits die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung Europas im transatlantischen Rahmen organisiert bleiben sollte, während andererseits die Europäer in die Lage versetzt werden müssten, auf ihrem Kontinent und darüber hinaus militärisch handlungsfähig zu sein. Mit der ESVP wurde eine sicherheitspolitische Zielstruktur geschaffen, in die die deutsch-französische Zusammenarbeit überführt wurde. Gegenüber der auf eine hohe wechselseitige Konvergenz angewiesenen bilateralen Kooperationsachse entstand nun innerhalb der EU ein sicherheitspolitisches Forum, das dem coalition of the willing-Gedanken verschrieben war. Innerhalb des Mantels dieses multiplen Gefüges war die bilaterale Zusammenarbeit naturgemäß anfälliger für ihr nicht immanente Einflüsse. So erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit alternativer, den bilateralen Rahmen hinter sich lassender Kooperationsmuster.
IV. Anhang
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Anlage 1:
M. Kotthoff, Die Entwicklung der deutsch-französischen Sicherheits-kooperation seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, DOI 10.1007/978-3-531-93204-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Anhang
Anhang
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Anlage 2: Aufstellungszeitplan des Eurokorps Auf Basis einer Übereinkunft des deutschen und des französischen Verteidigungsministers vom 28. November 1991 benannte der „Bericht von La Rochelle“ für die Aufstellung des Eurokorps folgenden Zeitplan: Juli 1992 - September 1992
Einrichtung des Planungsstabes (état-major de montée) Eurokorps
Oktober 1992 - Juni 1994
Aufbau des Hauptquartiers / Herstellung der vorläufigen Arbeitsbereitschaft
Oktober 1993
Kommandoübernahme durch den 1. Kommandierenden General des Eurokorps
Oktober 1993 - September 1995 Unterstellung weiterer Deutscher und französischer Truppenverbände Januar 1994
Einsatzbereitschaft der D/F-Brigade für humanitäre Missionen im Rahmen des Korps
Juli 1994
Volle Einsatzbereitschaft des Hauptquartiers
1. Oktober 1995
Abschluss der Errichtungsphase. Operationsbereitschaft zumindest der assignierten deutschen und französischen Verbände
270
Anlage 3:
Anhang
Anhang
Anlage 4:
271
272
Anlage 5:
Anhang
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Verzeichnis der Nachrichtendienste und Zeitungen Actualités Agence Europe Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung International Herald Tribune The Economist Europäische Zeitung Europa L´Express Le Figaro Financial Times Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau (FR) Frankreich – Info General-Anzeiger Géopolitique: Revue de l´Insitut international de Géopolitique Handelsblatt L´Humanité International Herald Tribune La Libération Le Nouvel Observateur Le Monde Neue Zürcher Zeitung (NZZ)
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Das Parlament Revue francaise de Droit constitutionel Rheinischer Merkur Der Spiegel Stuttgarter Nachrichten Stuttgarter Zeitung Süddeutsche Zeitung (SZ) Washington Post Die Welt Westdeutsche Zeitung Die Zeit
Hintergrundgespräche Während der Recherchen zur vorliegenden Untersuchung wurden zahlreiche Gespräche mit den unterschiedlichsten Beteiligten geführt. Das Spektrum reichte von einem reinen FrageAntwort-Dialog bis hin zu einem explorativ angelegten Hintergrundgespräch. Diese Gespräche, gerade jene mit den Mitarbeitern der einschlägigen Forschungseinrichtungen und Archivbestände oder jene mit den beim Eurokorps Dienst tuenden Militärs, alle zu rekapitulieren, würde den Rahmen jeder Aufzählung überschreiten. Für diesen Personenkreis seien hier dennoch – in gewisser Hinsicht auch stellvertretend – Madame Marie-Helene Terier, Archivarin am Institut des Hautes Etudes de Défense Nationale in Paris und Herr Sebastian Nix vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg genannt. Ohne ihre Geduld bei der Beantwortung meiner Fragen wäre der Erkenntnisfortschritt der vorliegenden Arbeit nicht denkbar gewesen. Bedeutend für die vorliegende Untersuchung waren zudem eine Reihe explorativ angelegter Hintergrundgespräche mit maßgeblichen Akteuren der deutsch-französischen Sicherheitskooperation. Diese Gespräche wurden u.a. mit folgenden Personen durchgeführt: Joachim Bitterlich, 1993-1998 Leiter der Abteilung für Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt, am 27. Februar 2009 in Paris. David Gompert, Europapolitischer Berater von Präsident George Bush sen., 1991-1993 Senior Director for Europe & Eurasia on the staff of the National Security Council, am 25. März 2009 in Berlin. Hans-Ulrich Klose, Mitglied des Bundestages seit 1983, 1991-1993 Vorsitzender der SPDBundestagsfraktion, 1998-2002 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, am 16. März 2009 in Berlin. Karl Lamers, Mitglied des Bundestages 1980-2002, 1990-2002 Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, am 9. Januar 2009 in Kircheib-Neuenhof.
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Jacques Lanxade, Admiral a.D., 1989-1991 Sicherheitspolitischer Berater von Staatspräsident François Mitterrand und Leiter des Sicherheitskabinetts im Elysée-Palast, Chef des französischen Generalstabs 1991-1995, am 24. September 2008 in Paris. Klaus Naumann, General a.D., Generalinspekteur der Bundeswehr 1991-1996, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses 1996-1999, am 26. August 2008 in Hamburg. Alain Richard, Französischer Verteidigungsminister 1997-2002, am 16. Februar 2009 in Paris. Rudolf Scharping, Deutscher Verteidigungsminister 1998-2002, am 18. Mai 2010 in Frankfurt am Main.